Verfassungsstaatlichkeit im Wandel: Festschrift für Thomas Würtenberger zum 70. Geburtstag [1 ed.] 9783428539185, 9783428139187

Am 27. Januar 2013 feiert Prof. Dr. jur. Thomas Würtenberger seinen 70. Geburtstag. Den Grundstein seiner wissenschaftli

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Verfassungsstaatlichkeit im Wandel: Festschrift für Thomas Würtenberger zum 70. Geburtstag [1 ed.]
 9783428539185, 9783428139187

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Verfassungsstaatlichkeit im Wandel Festschrift für Thomas Würtenberger zum 70. Geburtstag

Herausgegeben von Dirk Heckmann Ralf P. Schenke Gernot Sydow

Duncker & Humblot · Berlin

Verfassungsstaatlichkeit im Wandel Festschrift für Thomas Würtenberger zum 70. Geburtstag

Verfassungsstaatlichkeit im Wandel Festschrift für Thomas Würtenberger zum 70. Geburtstag

Herausgegeben von Dirk Heckmann Ralf P. Schenke Gernot Sydow

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2013 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Konrad Triltsch GmbH, Ochsenfurt Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Berlin Printed in Germany ISBN 978-3-428-13918-7 (Print) ISBN 978-3-428-53918-5 (E-Book) ISBN 978-3-428-83918-6 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Am 27. 1. 2013 feiert Thomas Wîrtenberger seinen 70. Geburtstag. Ihm zu diesem Anlass eine Festschrift zu widmen und damit einen Rechtswissenschaftler zu ehren, der sowohl dem ©ffentlichen Recht, aber auch den Grundlagenf•chern viel gegeben hat, war uns als seinen Schîlern eine Herzensangelegenheit. Aber auch wer eingeladen wurde, an der Festschrift mitzuwirken, befand sich in einer angenehmen Position: Das wissenschaftliche Werk des Jubilars weist so ungewçhnlich viele Facetten auf, dass es denkbar leicht f•llt, einen Bezug zu eigenen Arbeiten herzustellen. Dies gilt umso mehr, als Thomas Wîrtenberger den rechtswissenschaftlichen Diskurs nicht selten durch eigene Begriffe (mit-)gepr•gt hat, wobei beispielhaft fîr viele andere nur an die Akzeptanz des Verwaltungshandelns, die Normerlassklage, Zeitgeist und Recht oder die Resilienz erinnert sei. Thomas Wîrtenberger wurde 1971 mit einer Dissertation îber „Die Legitimit•t staatlicher Herrschaft“ promoviert, die Konrad Hesse betreut hat und die zugleich das Fundament fîr die rechts- und ideengeschichtliche Tiefe gelegt hat, die alle seine sp•teren Arbeiten auszeichnet. In seiner Geburtsstadt Erlangen war er 1972 bis 1978 Wissenschaftlicher Assistent von Reinhold Zippelius am Institut fîr Rechtsphilosophie und Allgemeine Staatslehre. In dieser Zeit hat er sich mit einer Arbeit îber „Staatsrechtliche Probleme politischer Planung“ fîr die F•cher Staats- und Verwaltungsrecht, Verfassungsgeschichte und Verwaltungswissenschaft habilitiert. Bereits 1979 wurde er an der Universit•t Augsburg zum Professor fîr ©ffentliches Recht ernannt, 1981 auf einen Lehrstuhl fîr ©ffentliches Recht, Verwaltungswissenschaft, Staatsphilosophie und Verfassungsgeschichte an der Universit•t Trier berufen. Einen Ruf an die Universit•t Regensburg lehnte er ab, nahm hingegen den 1987 erteilten Ruf auf die Nachfolge Hesse nach Freiburg an. Seit 1988 hatte er dort den Lehrstuhl fîr Staats- und Verwaltungsrecht inne, der mit der Funktion eines Direktors des Instituts fîr ©ffentliches Recht verbunden war. Der Universit•t Freiburg ist er trotz eines weiteren, ehrenvollen Rufes an die Universit•t zu Kçln treu geblieben. Seit seiner Emeritierung leitet er die çffentlich-rechtliche Abteilung der Freiburger Forschungsstelle fîr Hochschulrecht und Hochschularbeitsrecht. Die Bezeichnung seines frîheren Lehrstuhls an der Universit•t Trier hatte bereits vier Arbeitsbereiche explizit hervorgehoben: ©ffentliches Recht, Verwaltungswissenschaft, Staatsphilosophie und Verfassungsgeschichte. Auch diese Aufz•hlung deutet die Breite des wissenschaftlichen Arbeitens von Thomas Wîrtenberger nur an, ohne sie zu erschçpfen: Das ©ffentliche Recht hat er breit ausgef•chert bearbeitet, vor allem im Staatsrecht, im Recht der Inneren Sicherheit, im Hochschulrecht sowie im Verfahrens- und Prozessrecht. ›ber das deutsche ©ffentliche Recht hinaus

VI

Vorwort

galt und gilt sein Interesse der Verfassungsvergleichung und der Freiheits- und Verfassungssymbolik. Monographische Studien hat er unter der Fragestellung von „Zeitgeist und Recht“ und zur „Akzeptanz von Verwaltungsentscheidungen“ vorgelegt. Auf der Tagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer referierte er 1998 zum Thema „Rechtliche Optimierungsgebote oder Rahmensetzungen fîr das Verwaltungshandeln?“. In den vergangenen Jahren lag einer seiner Forschungsschwerpunkte auf dem Sicherheitsrecht, was sich auch in zahlreichen Beitr•gen in dieser Festschrift widerspiegelt. Eine Generation von Studenten hat Thomas Wîrtenberger durch seine Lehrbîcher gepr•gt: ein in drei Auflagen erschienenes Lehrbuch „Verwaltungsprozessrecht“, erg•nzt um einen ebenfalls in drei Auflagen verlegten Band „Verwaltungsprozessrecht“ in der Reihe „Prîfe Dein Wissen“; eine Darstellung des „Polizeirechts in Baden-Wîrttenberg“ in sechs Auflagen; mehrere Neuauflagen und Bearbeitungen der „Einfîhrung in das juristische Denken“ von Karl Engisch; schließlich das von Theodor Maunz begrîndete und von Reinhold Zippelius fortgefîhrte Studienbuch „Deutsches Staatsrecht“, das er in zwei Neuauflagen zu einem eigenen Werk fortentwickelt hat. In den ersten Augsburger Jahren gehçrte auch die Vorlesung Europarecht zu seinen Lehrverpflichtungen. Die europarechtlichen Bezîge der von ihm bearbeiteten Rechtsgebiete hat er stets im Blick behalten. Mehr noch als die Auslegung einzelner Richtlinien und Verordnungen aussagen kann, hat er in einer Tiefendimension zum Verst•ndnis der europ•ischen Einigung beigetragen und sich als ein weltoffener Europ•er erwiesen. Schon in seinem Studium gehçrte neben Freiburg und Berlin auch Genf zu seinen Studienorten. Im Anschluss an die juristischen Staatsexamina verbrachte er ein Jahr als Stipendiat an der Êcole nationale dÏadministration in Paris und hat so die Grundlage fîr eine intime Kenntnis der franzçsischen Rechtsordnung gelegt. Die Verfassungsgeschichte hat er in einer europ•ischen Dimension betrieben, die Verfassungs- und Freiheitssymbolik Frankreichs auch einem deutschen Leserkreis erschlossen. Als Gastprofessor hielt er Vorlesungen an den Universit•ten Paris I (Sorbonne), Straßburg, Lausanne und Istanbul (BahÅes¸ehir). Immer wieder hat er junge Wissenschaftler aus dem Ausland an seinen Lehrstuhl geholt und ihnen die Mçglichkeit geboten, sich mit deutscher Rechtsdogmatik vertraut zu machen. Zahlreiche Kontakte unterhielt er insbesondere in den asiatischen Rechtsraum, besondere Erw•hnung verdient aber auch sein selbstloses Engagement fîr die Transformationsstaaten Osteuropas. ›ber viele Jahre hinweg war er Rechtsberater des Rektors der Universit•t Freiburg und hat îber seine Teilnahme an den Rektorats- und Senatssitzungen die Entwicklung der Universit•t mitgepr•gt. Mehrere Jahre gehçrte er dem Vorstand des Frankreichzentrums der Universit•t Freiburg an. Thomas Wîrtenberger kennzeichnen eine bildungsbîrgerliche Weltl•ufigkeit und ein waches Interesse an den Pr•gungen und Sichtweisen anderer. Sein Lehrstuhl – wie sein Haus in der Freiburger Wiehre – wurden so zu einem idealen Ort des wis-

Vorwort

VII

senschaftlichen Austausches, sei es mit Fachkollegen aus Ostasien, sei es mit Humboldt-Stipendiaten und anderen ausl•ndischen Nachwuchswissenschaftlern, sei es mit Studenten, denen er und seine Frau im Anschluss an die schon legend•ren Seminarveranstaltungen ebenso oft ihre Gastfreundschaft haben zuteil werden lassen. Zeugnis von seiner F•higkeit, andere fîr die wissenschaftliche Arbeit zu begeistern, gibt nicht zuletzt die hohe Zahl seiner Doktoranden. Weit îber 90 Dissertationen hat er betreut und drei Schîler zur Habilitation gefîhrt. Wer Thomas Wîrtenberger kennt, weiß genau, dass er an seinem 70. Geburtstag nur einen Moment innehalten wird, um dann seine wissenschaftliche Arbeit mit ungebremstem Eifer und Begeisterung fortzusetzen. Hierzu wînschen wir ihm alles Gute und freuen uns schon jetzt auf die Denkanstçße und Impulse, die hiervon auch in Zukunft ausgehen werden. Dirk Heckmann

Ralf P. Schenke

Gernot Sydow

Inhaltsverzeichnis

I. Methodenlehre, Rechtsphilosophie, Rechtssymbolik Chongko Choi Staats- und Rechtssymbolik in geteilten Staaten: Ehemaliges Deutschland und Korea . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3

Dirk Heckmann Cloud Computing im Zeitgeist. Juristische Hürden, rechtspolitische Unwägbarkeiten, unternehmerische Gestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17

Erk Volkmar Heyen Verfassungswandel im Bild: Werner Tübkes „Herbst ’89“ . . . . . . . . . . . . . . . .

43

Martin Hochhuth Die Aufgaben der Moderne und der Stachel der Postmoderne . . . . . . . . . . . . .

63

Joseph Jurt Die Nationalsymbole in Brasilien: Vom Kaiserreich zur Republik . . . . . . . . . .

83

Stephan Kirste Kairós – Zeitgeist – Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

103

Rudolf Wendt Verfassungsorientierte Gesetzesauslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

123

Reinhold Zippelius Probleme der Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

137

II. Staatslehre, Verfassungsgeschichte, Politikwissenschaft Richard Bartlsperger Der Verfassungsstaat als Staatsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

149

X

Inhaltsverzeichnis

Bernd Grzeszick Pluralismus und Föderalismus in der deutschen Staatslehre an der Wende zum 20. Jahrhundert. Zum möglichen Ertrag verfassungshistorischer Vergleiche für Fragen der europäischen Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

193

Wolfgang Jäger Die Bundesversammlung – Ein unterschätztes Verfassungsorgan . . . . . . . . . . .

213

Matthias Jestaedt Verfassungstheorie als Referenz für Verfassungsanwendung, Verfassungsänderung und Verfassunggebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

221

Peter Krause Warum haben wir ein öffentliches Recht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

235

Joachim Lege „Die richtige Meinung vom Schrecklichen“. Platon über das Staats- und Verwaltungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

271

Hans-Peter Schneider Staatszielbestimmungen und Lebensordnungen. Zur Entstehung der Verfassung des Freistaats Thüringen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

281

Christian Starck Die Entwicklung der Sozialversicherungsgesetzgebung in Deutschland und die europäische Sozialunion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

293

Rudolf Steinberg Das Volk und Gegenstände und Formen direkter Demokratie . . . . . . . . . . . . . .

305

Dieter Wyduckel Gemeinschaft, Recht und Souveränität in der Politischen Theorie des Johannes Althusius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

323

III. Akzeptanzforschung und Mentalitätsgeschichte Ivo Appel Frühe Bürgerbeteiligung und Vorhabenakzeptanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

341

Johannes Masing Die deutsche Polenbegeisterung der Jahre 1830 bis 1832 . . . . . . . . . . . . . . . . .

359

Ulrich Rommelfanger Akzeptanz und Legitimität parlamentarischer Entscheidungen. Erforderlichkeit einer Neujustierung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

377

Inhaltsverzeichnis

XI

Reiner Schmidt Anmerkungen zur Akzeptanz von Gesetzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

397

Jens-Peter Schneider Akzeptanz für Energieleitungen durch Planungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . .

411

IV. Europarecht, internationales, ausländisches Recht Stephan Breitenmoser Art. 6 EMRK und Art. 47 GRC in Verfahren der internationalen Amts- und Rechtshilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

425

Benito Aláez Corral Ciudadanía democrática en la constitución española de 1978: Entre la potenciación y la limitación del ejercicio multicultural de los derechos fundamentales. Demokratische Staatsbürgerschaft in der spanischen Verfassung von 1978: Zwischen Förderung und Einschränkung der multikulturellen Ausübung der Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

449

Klaus W. Grewlich „Governance“ und europäisches Regulierungsrecht in Netzwerkindustrien . . .

479

Jörg Gundel Die Stellung des Europäischen Bürgerbeauftragten im Rechtsschutzsystem der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

497

Dieter Kugelmann Datenschutz in der europäischen Innenpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

517

Chien-hung Liu Die Entwicklung des Widerspruchsverfahrens in Taiwan . . . . . . . . . . . . . . . . .

533

Johannes W. Pichler Europas Identität im Selbstbestimmungsrecht. Eine Behauptung . . . . . . . . . . .

545

Gernot Sydow Die britische Verfassung im Stadium der Präkodifikation . . . . . . . . . . . . . . . . .

575

Silja Vöneky Rechtlich begrenzte Zukunftsforschung? Die Totalsequenzierung des menschlichen Genoms aus der Perspektive des internationalen und nationalen Rechts

591

Ulrich Vosgerau Die Mobilisierung der Verbände zur Durchsetzung des Europarechts . . . . . . . .

609

XII

Inhaltsverzeichnis

Feridun Yenisey Die Videoüberwachung des öffentlichen Raumes in der Türkei . . . . . . . . . . . .

629

V. Grundrechte, Staatsrecht Hartmut Bauer Demokratisch inspirierte Petitionsrechtsmodernisierungen. Zugleich ein Beitrag zur Elektronisierung des Petitionswesens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

639

Christoph Enders Grundrechtseingriffe durch Datenerhebung? Am Beispiel der Videobeobachtung insbesondere von Versammlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

655

Michael Fehling Mittelbare Diskriminierung und Art. 3 (Abs. 3) GG: Vom europäischen Recht lernen!? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

669

Michael Kloepfer Laufzeitverlängerung bei Kernkraftwerken und Bundesratszustimmung. Zur Frage der Zustimmungsbedürftigkeit des 11. Änderungsgesetzes zum AtG . . .

689

Ursula Köbl Von der Gleichstellung nichtehelicher Kinder zur Gleichstellung nichtverehelichter Eltern im Unterhalts- und Rentenrecht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

707

Heiner Kühne Zeitgeist und Menschenrechte – Das Beispiel der Diskussion um die Folter . .

725

Hartmut Maurer Volksabstimmung und Volksgesetzgebung in Baden-Württemberg . . . . . . . . . .

731

Detlef Merten Die Landrechts-Freiheiten als Schritt auf dem Weg in den grundrechtsgeprägten Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

757

Dietrich Murswiek Der Umgang mit verfassungswidrigen Vereinigungen nach dem Grundgesetz

775

Meinhard Schröder Varianten, Ausmaß und Stil der Änderungen des Grundgesetzes . . . . . . . . . . .

791

Indra Spiecker gen. Döhmann Die Online-Durchsuchung als Instrument der Sicherheitsgewährleistung . . . . .

803

Inhaltsverzeichnis

XIII

Rainer Wahl Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit: Ausgangslage und Gegenwartsproblematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

823

Thomas Würtenberger Eigentumsschutz im Rahmen von Politikänderungen – am Beispiel von § 29 Abs. 4 des Ersten GlüÄndStV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

855

VI. Prozessrecht Friedhelm Hufen Eine Brücke über die Lücke: Die Normerlassklage im System verwaltungsgerichtlicher Klagearten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

873

Michael Ronellenfitsch Zum ausgewogenen vorläufigen Rechtsschutz bei Fernstraßenprojekten . . . . .

883

Friedrich Schoch Das gerichtliche „in camera“-Verfahren im Informationsfreiheitsrecht . . . . . . .

893

Udo Steiner Der sog. funktionslose Bebauungsplan im Rechtsschutzkonzept des § 47 VwGO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

911

Rolf Stürner Europäisches und US-amerikanisches Grundverständnis der Verfahrensöffentlichkeit im Zivilprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

921

Arnd Uhle Das Recht auf wirkungsvollen Rechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

935

VII. Sicherheitsrecht und Sicherheitsforschung Wolfgang Frisch Das Bundesverfassungsgericht und die Sicherungsverwahrung . . . . . . . . . . . . .

959

Hans-Helmuth Gander Das Verlangen nach Sicherheit. Anthropologische Befunde . . . . . . . . . . . . . . .

983

Christoph Gusy Resilient Societies. Staatliche Katastrophenschutzverantwortung und Selbsthilfefähigkeit der Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

995

XIV

Inhaltsverzeichnis

Stefan Kaufmann Die Stadt im Zeichen ziviler Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1011 Ralf Poscher Öffentliche Ordnung und Grundgesetz. Zur verfassungsrechtlichen Einhegung eines rechtsstaatlichen Risikos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1029 Franz Reimer „… einfach wieder die Folgerungsweise des Polizeistaates“. Zur Unterscheidung von Aufgaben und Befugnissen im Polizeirecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1047 Gisela Riescher Resilienz: Demokratietheoretische Überlegungen zu einem neuen Sicherheitskonzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1067 Ralf P. Schenke Konstitutionalisierung: Vorbild für die Europäisierung des Sicherheitsrechts?

1079

Andreas Voßkuhle Das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit – Hat der 11. September 2001 das deutsche Verfassungsrecht verändert? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1101

VIII. Verwaltungsrecht, Planungsrecht, Hochschulrecht Dirk Ehlers Die Geltungsdauer von Planfeststellungsbeschlüssen und Plangenehmigungen 1123 Max-Emanuel Geis Die Verfasste Studierendenschaft – eine unendliche Geschichte . . . . . . . . . . . . 1137 Johannes Hellermann Städtische Kulturarbeit – eine Pflichtaufgabe auch unter den Bedingungen leerer Kassen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1147 Manfred Löwisch Tarifverträge für das Hochschulpersonal. Zum Verhältnis von Koalitionsfreiheit, Wissenschaftsfreiheit und staatlichem Organisationsrecht . . . . . . . . . . . . . 1165 Manfred Rehbinder Von der gerätebezogenen Rundfunkgebühr zum geräteunabhängigen Rundfunkbeitrag. Zum Wechsel im Finanzierungssystem des öffentlich-rechtlichen Rundfunks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1177

Inhaltsverzeichnis

XV

Wolf-Rüdiger Schenke Die maßgebliche Sach- und Rechtslage bei einer Entscheidung der Widerspruchsbehörde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1185 Jürgen Schwarze Die Rechtsprechung des EuGH zur Relevanz von Fehlern im Verwaltungsverfahren. Zugleich eine Anmerkung zur Entscheidung des EuGH vom 25. 10. 2011 in der Rechtssache C-110/10 P, Solvay SA/Kommission . . . . . . . . . . . . . 1203 Julian Würtenberger Strategische Steuerung in staatlichen Mittelbehörden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1219 Schriftenverzeichnis Prof. Dr. Thomas Würtenberger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1239 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1255

I. Methodenlehre, Rechtsphilosophie, Rechtssymbolik

Staats- und Rechtssymbolik in geteilten Staaten: Ehemaliges Deutschland und Korea Von Chongko Choi, Seoul Die Angelegenheiten von Staat und Recht werden nicht immer ausschließlich über das Medium der Schrift repräsentiert, denn das menschliche Auge verlangt auch nach etwas Anschaulicherem. Daher wurden Staat und Recht manchmal auch durch die Werke von Malern und Bildhauern veranschaulicht. Dies nennt man die Staats- und Rechtssymbolik.1 Ich habe mich für dieses Forschungsgebiet, das ich auch mein Hobby nennen kann, schon seit langem interessiert. Für mich war dabei das Jahr 1995 wichtig und bedeutsam. Damals zog der Oberste Gerichtshof Koreas in das gegenwärtige Justizgebäude um. Dabei mussten einige Justizsymbole aufgebaut bzw. installiert werden. Weil niemand in Korea über dieses Gebiet geforscht hatte, musste ich schnell ausländische Beispiele hierüber sammeln und publizierte das Buch Recht und Kunst (Sikongsa/Seoul, 1995).2 Ich hatte das Glück, den verehrten Herrn Professor Thomas Würtenberger (sen.) in Freiburg kennenzulernen. Sein Haus erschien reich an Kunstwerken von seinem Vater, dem Maler Ernst Würtenberger und von anderen Künstlern. Auch sein Sohn Thomas Würtenberger (jun.) betreibt Hobbyforschung über die Medaillenkunst und die Staats- und Rechtssymbolik. Wir beide referierten gemeinsam über Staatssymbolik am Seoul-Freiburger Seminar Recht-Kultur-Globalisierung am 14.–15. September, 2010 in Seoul. Mein Thema lautete „Staats- und Rechtssymbolik in Korea“. Nun möchte ich mein Referat um eine vergleichende Untersuchung mit Deutschland erweitern.3 1 Otto Kissel, Die Justitia, München, 1984; Wolfgang Schild, Bilder von Recht und Gerechtigkeit, Köln, 1994; Costas Douzinas & Synda Nead (ed.), Law and the Image, Univ. of Chicago Press, 1999. 2 Eine englische Zusammenfassung in: Chongko Choi, Korean Image of Law and Justice, in: Law and Justice in Korea: South and North, Seoul National University Press, 2007, S. 23 – 33 3 Thomas Würtenberger referierte damals über „Die Verbindung von Freiheits- und Verfassungssymbolik: Ein Beitrag zu historischen Formen der Globalisierung von Rechtskultur“. Hier danke ich ihm nochmals für seine Organisation meines Vortrags „Recht und Gerechtigkeit in Ost und West“ in Freiburg im August 2008 und seine Vernissage-Begrüßung zur Ausstellung meiner Gedichte und Zeichnungen im Freiburger UNISEUM am 5. September 2008 während meiner dortigen Gastprofessur. Thomas Würtenberger, Vernissage-Begrüßung, in: So schön ist Freiburg: Gedichte und Zeichnungen von Chongko Choi, Hyeon Verlag/Seoul, 2009, S. 10 – 11.

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Chongko Choi

I. Staats- und Rechtssymbolik in Deutschland In Deutschland ist die Rechtssymbolik besonders durch die Pionierarbeiten von Hans Fehr, Gustav Radbruch und Thomas Würtenberger (sen.) weit bekannt. Mittlerweile gibt es ziemlich viele Forschungsarbeiten über dieses Feld, etwa Otto Kissels Die Justitia (München, 1984) und Wolfgang Schilds Bilder von Recht und Gerechtigkeit (Köln, 1994). Allgemein gesagt bleibt die Rechts- und Gerechtigkeitssymbolik im Wesentlichen immer noch der Justitia-Figur treu. Das gilt nicht nur für Deutschland, sondern auch für ganz Europa und Amerika. Dabei versuchen sich auch gegenwärtige Künstler an ganz modernen und kreativen Interpretationen der Justitia-Figur entsprechend ihren jeweiligen künstlerischen Vorstellungen. Die Staatssymbolik ist demgegenüber sehr viel stärker offiziell und von der politischen Lage des Staates bestimmt. Staatsflagge Die heutige Bundesflagge der BRD ist bekanntlich eine Trikolore mit den Farben Schwarz, Rot und Gold. Diese Farbenwahl geht mindestens auf das frühe 19. Jahrhundert, in die Zeit der Entwicklung eines gesamtdeutschen Nationalbewusstseins angesichts der napoleonischen Expansionspolitik zurück. Die heutige Flaggengestaltung wurde jedoch erst 1848 im Zuge der verfassungsgebenden Nationalversammlung festgelegt und ist somit untrennbar mit dem modernen nationalen Selbstgefühl und der Überwindung der alten ständischen und absolutistischen Ordnung verbunden. Nachdem während der Weimarer Zeit diese Flagge erstmals vorübergehend zur deutschen Staatsflagge bestimmt worden war, wurde sie schließlich nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges im Jahre 1949 zur offiziellen Bundesflagge sowohl der BRD als auch der DDR. Zehn Jahre später, im Jahre 1959, wurde in der DDR jedoch eine Änderung der Flaggengestaltung durch das Hinzufügen des damaligen Staatswappens (siehe unten) vorgenommen. Das Zurschaustellen dieser Flagge wurde in der BRD vor allem während der 1960er Jahre bei Strafe untersagt. Aus DDR-Sicht vereinte diese neue Flagge in sich durch die Beibehaltung von Schwarz-Rot-Gold die nationale Tradition und durch die Einfügung des Staatswappens die symbolische Verbundenheit mit dem sozialistischen Projekt der Warschauer-Pakt-Staaten.

Staats- und Rechtssymbolik in geteilten Staaten

Abb. 1: Bundesflagge (seit 1949)

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Abb. 2: Flagge der DDR (1959 – 1990)

Nationalhymne Die Melodie der heute gültigen deutschen Nationalhymne wurde bereits Ende des 18. Jahrhunderts von Joseph Haydn komponiert, der ursprüngliche Text war jedoch auf das Habsburgerreich bezogen und mit „Gott erhalte Franz, den Kaiser“ betitelt. 1841 dichtete Heinrich Hoffmann von Fallersleben den später verwendeten Text des „Deutschlandlieds“, das 1922 zur offiziellen Nationalhymne des Weimar-Deutschlands wurde. In der BRD wurde die dritte Strophe dieses Liedes zum allein gültigen Text der deutschen Nationalhymne bestimmt und die beiden anderen Strophen ausgeschlossen, weil man sie für zu nationalistisch und nicht zur Politik Nachkriegsdeutschlands passend erachtete. In der DDR wollte die Staatsführung mit der alten Hymne gänzlich brechen und ließ eine neue Staatshymne dichten und komponieren. Das Resultat war das Lied „Auferstanden aus Ruinen“, welches von Hanns Eisler komponiert, von Johannes R. Becher gedichtet und 1949 per Gesetz zur neuen Nationalhymne bestimmt wurde. Interessanterweise wurde der Text auf staatliche Anordnung hin ab 1970 nicht mehr öffentlich gesungen, da die in ihm beinhaltete Idee des einigen Vaterlandes nicht mehr unterstützt wurde. Statt deutsches Nationalbewusstsein zu fördern, sollten die DDR-Bürger eher eine Identität als neue sozialistische Nation entwickeln. Staatswappen Das Wappen der Bundesrepublik Deutschland besteht aus einem schwarzen Adler vor goldenem Hintergrund. Es handelt sich um ein Motiv, das bereits seit dem Mittelalter das Reichsbanner des Heiligen Römischen Reichs zierte. Das Staatswappen der DDR wies keinen solchen historischen Bezug auf, sondern orientierte sich an den auch in anderen sozialistischen Ländern gebrauchten Symbolen der kommunistischen Bewegung. Der Ährenkranz stand für die Bauern, der Hammer für die Arbeiter und der Zirkel für die Intelligenz (im Sinne der sowjetischen intelligenzija).

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Abb. 3: Staatswappen der BRD

Abb. 4: Staatswappen der DDR

II. Staatssymbolik im traditionellen Korea Die im modernen Korea genutzte Schrift ist das Hangu˘l, welche eine Alphabetschrift mit 14 Konsonanten und 10 Vokalen ist. Daher unterscheidet sich das Hangu˘l ganz deutlich von den chinesischen Schriftzeichen, welche die Objekte als ein Ganzes nachbilden. Es kommt wohl darum nicht von ungefähr, dass es die Koreaner waren, die zum ersten Mal in der Weltgeschichte die Druckkunst der Schrift mit beweglichen Lettern erfanden. Die Staatsidee in den traditionellen Dynastien war identisch mit der Idee des Königtums. Die Malerei hinter dem Königsthron im Kyo˘ngbok-Palast stellt Sonne, Mond und eine Anzahl von Berggipfeln dar. Dies verdeutlichte, dass der König das ganze Land wie die vollkommene Natur repräsentierte.

Abb. 5: Königskrone der Shilla-Dynastie

Abb. 6: Darstellung der Berge, der Sonne und des Mondes

Staats- und Rechtssymbolik in geteilten Staaten

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III. Rechtssymbolik im traditionellen Korea Das gemeinsame Schriftzeichen für Recht in Ostasien ist 法, ausgesprochen Fa in China, Ho in Japan, Po˘b in Korea. Dieses Zeichen ist eine Verkürzung des ursprünglichen Schriftzeichens 灋,4 welches aus drei Elementen besteht; 水 (Su, Wasser), 廌 (Haetae, Einhorn) und 去 (Ko˘, Gehen). Beim Gottesurteil im alten China wurde auf das Haetae (auf Chinesisch: Hsiezai) zurückgegriffen. Dieses Fabeltier suchte den Schuldigen heim und stürzte ihn mit seinem Horn. Mithin ist dieses Fabeltier ein Gerechtigkeitssymbol und wird gern seit den alten Zeiten bis heute hier und dort in Form von Plastiken errichtet. Hierbei besteht insofern ein Kontrast gegenüber Europa, wo die Justitia durch eine weibliche Figur repräsentiert wird.5

Abb. 7: Haechi von Korea

Abb. 8: Hsechai von China

4 Nach dem amerikanischen Philologen Roy A. Miller lautete das ursprüngliche altaische Wort biab. In China machte es die Umwandlung biab-fab-fa durch, in Japan biab-fob-ho und in Korea biab-biob-bob. Nur in der koreanischen Aussprache ist, folgt man dieser Rekonstruktion, die Endung mit dem gleichen Konsonanten wie im Original erhalten geblieben. Roy A. Miller, Chinese fa in Altaic: A further Note, Journal of the American Oriental Studies, Vol. 118, No. 2, S. 268 – 273. Näheres hierzu in Chongko Choi, East Asian Jurisprudence, Seoul National University Press, 2009, S. 8 – 9. 5 Das Haetae ist auch unter dem Namen Haechi bekannt. Das Haechi wurde im Jahre 2008 als Symboltier von Seoul bestimmt. So sieht man die Tierdarstellung heute überall in Seoul.

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Abb. 9: Sitte (Li) und Gerechtigkeit (Ui)

Zusammengefasst enthält das Schriftzeichen (oder der Begriff) des Rechts mindestens drei Elemente: Natürlichkeit, Maßgeblichkeit und Gerechtigkeit.6 In Europa wurde die Gerechtigkeit nicht nur durch die Justitia-Skulptur, sondern auch durch Gerechtigkeits- oder Mahnbilder dargestellt. Die Rechtssymbolik oder –Ästhetik ist deshalb ein großes Forschungsgebiet, wie es Hans Fehr und G. Radbruch wunderschön gezeigt haben.7 Vielleicht weil das chinesische Schriftzeichen selbst schon ein Figursymbol ist, wurde die Abstraktionskunst außerhalb der Kalligraphie in Ostasien nicht weiterentwickelt. Man konnte ja stattdessen die Schriftmalerei (Munjado) in Anwendung bringen. Der Konfuzianismus in Korea ist ziemlich ikonoklastisch. Man kann eigentlich in keiner Weise von konfuzianischer Kunst sprechen. Im Konfuzius-Tempel (So˘ngkyunkwan) in Seoul findet man nur die mit einer Inschrift versehenen Ahnentafeln, jedoch keine Skulptur und keine Malerei. Andererseits hat der koreanische Buddhismus eine schöne und reiche Kunst der Malerei entwickelt. Wir sehen die eindrucksvollen Gerichtsinstanzen der Erde in den koreanischen buddhistischen Tempeln. Das Strafbildnis an der Wand bezweckte, die Menschen in hohem Maße zu erschrecken. 6

Chad Hansen, Fa (standards: Laws) and Meaning Changes in Chinese Philosophy, Philosophy East & West, Vol. 44, No. 3, 1944, S. 435 – 488; Chongko Choi, East Asian Jurisprudence, Seoul National University Press, 2009, S. 317 – 324. 7 Hans Fehr, Das Recht im Bilde, S. 195; Gustav Radbruch, Aesthetik des Rechts, in Rechtsphilosophie, übersetzt in das Koreanische von Chongko Choi, Popcholhak, Seoul, 1975, S. 151 – 155.

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Abb. 10: Höllenkönig als Richter

IV. Staats- und Rechtssymbolik in Südkorea 1. Die Nationalflagge Die Nationalflagge der Republik Korea wird Taegu˘kgi genannt. Taegu˘kgi veranschaulicht die Kosmologie der Yin- und Yang-Philosophie. So ist die südkoreanische Flagge in ihrer Symbolik traditionell und sehr philosophisch. Sie besteht aus der Yin- und Yang-Kugel und vier Trigrammen, die den Himmel, das Wasser, die Erde und das Feuer nach dem I-Ching-Orakel andeuten. In den offiziellen Diskussionen der Regierung im Jahre 1948 wurde von manchen diese traditionelle, kosmologische Flagge kritisiert. Aber die herrschende Meinung war von der Erinnerung geprägt, dass diese Taegu˘kgi-Flagge von den koreanischen Patrioten im Zuge der Unabhängigkeitsbewegung während der japanischen Kolonialherrschaft (1910 – 45) benutzt wurde.8 2. Die Nationalhymne Es ist hochinteressant, dass die erste moderne Nationalhymne Koreas von einem deutschen Musiker namens Franz Eckert (1852 – 1916) komponiert wurde. Am 27. Februar 1901 wurde der deutsche Marine-Kapellmeister Franz Eckert als Hofkapellmeister nach Korea eingeladen. Zuvor hatte er die japanische Nationalhymne (Kimikayo) komponiert. Nun komponierte er 8 Näheres hierzu vgl. Chongko Choi, Eine Studie über Staatssymbole in Süd- und Nordkorea (koreanisch), Nordkoreanische Rechts-Forschung, Bd. 3, 1996.

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Abb. 11: Nationalflagge Südkoreas

die Nationalhymne des damaligen koreanischen Kaiserreichs und dirigierte sie persönlich bei ihrer Aufführung zum 50. Geburtstag des Kaisers Kojong. Der Text der Eckert-Nationalhymne lautet: Der Himmelskaiser möge unserem Kaiser helfen! Dieser möge hochleben und die edlen Perlen Wie Berge aufgehäuft haben! Seine Macht und Würde möge sich aufs idealste Entwickeln und sein Glück gedeihe aufs Ewigste! Der Himmelskaiser möge unserem Kaiser helfen! (상제는 우리 황제를 도우쇼셔 성수무강하사 해옥주를 산같이 쌓으쇼셔 위권이 환영에 펼치사 어천만세에 복녹이 무궁케 하쇼셔 상제는 우리 황제를 도우쇼셔.)

In Anerkennung seiner Verdienste um die Komposition der koreanischen Nationalhymne und um den hiesigen Musikunterricht wurde ihm die höchstrangige Taegok-Medaille von Kaiser Kojong verliehen. Am 11. Mai 1904 erklärte das Erziehungsministerium des Kaiserreichs, dass die Studenten aller Schulen diese Nationalhymne lernen sollten. Die Marine-Kapelle wurde mit der erzwungenen Abdankung des Kaisers durch die japanische Kolonialmacht im Juli 1907 aufgelöst und infolgedessen wurde die Eckert-Nationalhymne nicht weiter benutzt.9 Franz Eckert starb nach einem langen Leben in Korea. Er wurde im Ausländerfriedhof von Seoul begraben. Im Jahre 1906 verfasste der Politiker Yun Chiho (1865 – 1946) einen anderen Text und ließ ihn nach der Melodie von Old Lang Syne singen. Im Jahre 1936 komponierte der koreanische Komponist Ahn Iktae (1906 – 1965) die Melodie der jetzigen koreanischen Nationalhymne.

9 Näheres hierzu vgl. Chongko Choi, Vom Han bis zum Rhein: Geschichte der deutsch-koreanischen Beziehungen, Euro-Verlag/Seoul, 2005, S. 173 – 176.

Staats- und Rechtssymbolik in geteilten Staaten

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Abb. 12: Das Staatswappen (Kukjang) Bis das Wasser des Ostmeers ausgetrocknet sein wird Und der Paektu-Berg zur flachen Ebene abgerieben wird, der liebe Gott im Himmel schütze unser Land bis in alle Ewigkeit! In dieser schönen Landschaft von dreitausend Li (Strecke), wo die Blume der Unendlichkeit aufblüht, Wollen wir Koreaner auf Ewigkeit leben! (동해물과 백두산이 마르고 닳도록 하느님이 보우하사 우리나라 만세 무궁화 삼천리 화려강산 대한사람 대한으로 길이 보전하세.)

Heutzutage wird diese Nationalhymne sehr hoch geschätzt. Aber auch sie bleibt nicht ohne Kritik, weil der Komponist Ahn angeblich ein Befürworter der japanischen Kolonialherrschaft gewesen sein soll.10 3. Das Staatswappen (Kukjang) Das Staatswappen wird nach dem Gesetz über das Staatswappen von 1970 bei einer Reihe von Gelegenheiten benutzt, etwa auf diplomatischen Dokumenten, nationalen Medaillen, auf den Diplomen der nationalen Universität usw. Die Taegu˘k-Symbolik ist in der Mitte der Nationalblume (Hibiskus) enthalten. Darunter steht der Name der Republik Korea auf koreanisch (Taehan Minguk) geschrieben. Nach der Tradition benutzt die Regierung ein Staatssiegel, das vier große Hangu˘l-Schriftzeichen zeigt: Dae-Han-Min-Kuk (대한민국), also die Republik Korea. Hier ist die Republik als Min-Kuk (also, auf die chinesische 10 Das Biographische Lexikon der Pro-Japanischen (Chinilpa Inmyongsajon) von 2009 enthält seinen Namen. Infolgedessen wurde der Ruf danach laut, dass die von ihm komponierte Nationalhymne nicht mehr weiter gebraucht werden soll.

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Abb. 13: Das Staatssiegel (Kukse)

Weise, nicht als Konghwa-Kuk) genannt. Hierüber sollte wohl nach der Wiedervereinigung Koreas erneut nachgedacht werden11. 4. Die Straße der Staatssymbole (Kukga Sangjing Ko˘ri) Neuerdings diskutiert die Regierung über eine Staatssymbolstraße in Seoul, vergleichbar etwa der National Mall in Washington DC, den Champs-Elyse´es in Paris oder der Straße um das Brandenburger Tor in Berlin. Nach diesen Plänen sollte die Straße von Kwanghwamun bis zum Han-Fluss die Staatssymbolstraße der Republik Korea werden. 5. Justizsymbolik In der heutigen koreanischen Gesellschaft wird Haetae immer beliebter. Im Garten des Parlamentsgebäudes in Seoul steht ein Paar Haetae, das dem Vorschlag des berühmten Schriftstellers Park Chonghwa folgend 1975 errichtet wurde. Wir sehen so viele Haetae-Statuen hier und dort, wie etwa bei der Präsidentenresidenz (Chongwadae), am Polizeipräsidium, an den Grenzen zwischen den verschiedenen Provinzen, sogar im Umfeld von Kinderspielplätzen usw. Es gibt auch einige private Haetae-Statuen-Betriebe. Vor dem Justizgebäude steht ein abstrakteres Haetae-Denkmal.

11 Neulich passierte diesbezüglich ein Skandal. Ein Schmied des Staatssiegels behauptete, dass er die 500-jährige traditionelle geheime Methode seiner Herstellung beherrschen würde. Dies erwies sich jedoch als eine Lüge. Aufgrund dessen forderten manche, dass das Staatssiegelsystem insgesamt abgeschafft werden sollte.

Staats- und Rechtssymbolik in geteilten Staaten

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Abb. 14: Koreanisierte Justitia

Die europäische Justitia wurde auch in Korea eingeführt, allerdings meistens in gewisser Weise koreanisiert. Zwei hierfür typische Justitia-Skulpturen sind am Gebäude des Rechtsanwaltsvereins und am Obersten Gerichtshof zu sehen. V. Staats- und Rechtssymbolik in Nordkorea 1. Nationalflagge Die Nationalflagge Nordkoreas ist als Inkonggi (in Südkorea), Konghwaguk Ku˘kgi (in Nordkorea), oder Hongnam Ogakbyolgi (홍남오각별기, Rot-Blau-Fünfsterneflagge) bekannt. Die rote Farbe symbolisiert die Revolution und die blaue Farbe soll den Frieden und das Gemeinwohl repräsentieren. Der Stern auf dem weißen Hintergrund ist schlicht das viel verwendete Symbol des Kommunismus. Nach einer offiziellen Erklärung wollten die beteiligten Designer eigentlich eine weiße Kugel nach der Yin-Yang-Philosophie malen. Aber Kim Ilso˘ng selbst soll den Stern angebracht haben, und alle beteiligten Künstler sollen vor Freude geweint haben.12 Aber es gibt auch andere Erklärungen, etwa dass die Benutzung des Sterns von der Sowjetunion erzwungen worden wäre.13 12

Kim Jukyong, Die Geschichte unseres Staatswappens und unserer Staatsflagge (koreanisch), Koreanische Literatur, Pyongyang, Sept., 1978. Zitiert aus dem in der Fußnote genannten folgenden Buch von Yim Chae-Uk. 13 Yim Chae-Uk, Bukhan ui Sangjing (Symbole Nordkoreas), Seoul, 1995, S. 30 ff.

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Abb. 15: Nationalflagge Nordkoreas

2. Die Nationalhymne Die nordkoreanische Nationalhymne wird wie in Südkorea Aegukga genannt. Die Text der nordkoreanischen Aegukga lautet wie folgt: Leuchtend schön ist der Morgen dieses Landes! Schön ist mein Vaterland von dreitausend Li (Strecken), Voll von Naturalien, von Gold und Silber, Mit der Geschichte der Hälfte von zehntausend Jahren! Mit der Weisheit, überliefert von der glänzenden Kultur, Wollen wir die Ehre und den Glanz des Volkes Mit allen Kräften auf ewig bewahren, Unser Vaterland Choso˘n beschützen! (아침은 빛나라 이 강산 은금에 자원도 가득한 삼천리 아름다운 내 조국 반만년 오랜 력사에 찬란한 문화로 자라난 슬기로 인민의 이 영광 몸과 맘 다 바쳐 이 조선 길이 받드세) Mit dem Edelmut des Paektu-Bergs, Mit dem energischen Geist der Arbeit Und mit dem unbeugsamen Willen zur Wahrheit Gehen wir voran vor aller Welt! Mit Kräften, die auch die andrängenden Wellen bezähmen, Haben wir als Volk errichtet Dieses Land Choso˘n, Das unbegrenzt stark und reich werde, Das wollen wir mit Glanz und Gloria schmücken! (백두산 기상을 다 안고 근로의 정신은 깃들어 진리로 뭉쳐진 억센 뜻 온 세계 앞서 나가니 솟는 힘 노도도 내밀어 인민의 뜻으로 선 나라 한없이 부강하는 이 조선 길이 빛내세.)

Staats- und Rechtssymbolik in geteilten Staaten

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Abb. 16: Staatswappen Nordkoreas

Diese Hymne wurde im Jahre 2002 anlässlich der Asiatischen Olympiade in Pusan gesungen, da Nordkorea auch offiziell daran teilnahm. Im Februar 2008 spielte The New York Philharmonic in Pyongyang diese Hymne. Allerdings ist es verboten, die nordkoreanische Nationalhymne in Südkorea zu singen. 3. Staatswappen Das Staatswappen wurde gleichzeitig mit der Nationalflagge von der nordkoreanischen Regierung festgelegt. Das Staatswappen zeigt die Reisähre und die Elektrizität durch Wasserkraft als Symbole des Reichtums und der Entwicklung des Landes. Im Himmel strahlt der „kommunistische“ Stern. 4. Justizsymbolik

Über die Realität der nordkoreanischen Justiz ist außerhalb des Landes noch nicht viel bekannt. Ich habe noch nicht einmal Fotos von den nordkoreanischen Gerichten sehen können. Vermutlich ähnelt die Justizsymbolik Nordkoreas jener der anderen sozialistischen Länder. VI. Aufgabe: Staats- und Rechtssymbolik im wiedervereinigten Korea Zum Glück ist die DDR dem Territorium der BRD beigetreten und Deutschland dadurch wiedervereinigt. Die ehemalige DDR wurde als solche Teil der Geschichte. Deshalb gab es keine ausführlichere Diskussion über eine neue Staats- und Rechtssymbolik im wiedervereinigten Deutschland. Die Lage ist in Korea völlig anders. Wie wird die Staats- und Rechtssymbolik im wiedervereinigten Korea sein? Das wird davon abhängen, wie Korea wiedervereinigt wird. Die Wiedervereinigung Koreas ist eine äußerst schwie-

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rige Thematik. Wenn Korea vielleicht nach dem deutschen Modell vereinigt würde, dann könnte die südkoreanische Taegu˘kgi als gemeinsame Nationalflagge weiter wirken. Aber auch in diesem Fall wird wohl ernsthaft die Frage gestellt werden müssen, ob die traditionelle östlich-philosophische Flagge weiter benutzt werden sollte. Es gibt hierzu bereits eine Reihe von privaten Vorschlägen. Diverse Gruppen und Einzelpersonen haben Vorschläge für die Nationalflagge des vereinigten Korea gemacht. Interessanterweise gibt es sogar einen Vorschlag für eine noch verstärkte Drei-Taegu˘k (Samtaegu˘kgi)-Flagge. Auch die Nationalhymne wird wohl ernstlich neu zu diskutieren sein. Was können wir über die Rechtssymbolik im Zusammenhang mit der Globalisierung sagen? Wir haben oben gesehen, dass das Gerechtigkeitssymbol in Europa eine Personifizierung (Justitia) zeigt, während das Koreanische (und das Ostasiatische insgesamt) eine Naturalisierung (Haetae) zeigt. Vielleicht kann man diesen Kontrast als eine zivilisatorische Differenz charakterisieren. Mit der Globalisierung besuchen die ausländischen Juristen die verschiedenen Länder häufiger als bisher. Ob wir ein „globales“ Gerechtigkeitssymbol schaffen sollen? Wenn ja, aber wie? Das wäre wohl eine Aufgabe zukünftiger Forschungen über die Rechtssymbolik von Ost und West.

Cloud Computing im Zeitgeist Juristische Hürden, rechtspolitische Unwägbarkeiten, unternehmerische Gestaltung Von Dirk Heckmann, Passau I. Einleitung Die „Cloud“ kommt und sie verändert alles:1 Sei es die IT-Organisation der Unternehmen und Behörden, das Verständnis von „Datenbesitz“ und „Datenherrschaft“ oder die Geschäftsmodelle großer Teile der IT-Branche. Cloud Computing revolutioniert z. B. die Arbeitsorganisation, indem Informationen in verteilten Systemen von Akteuren verarbeitet werden, die sich nicht kennen und doch einander vertrauen – und zwar weltweit. Gleiches gilt für die Bereitstellung und Nutzung von Applikationen. So fördert Cloud Computing die Globalisierung und prägt letztlich ein neues Verständnis der ITals „Geschäft auf Gegenseitigkeit“. Umso stärker gilt es, die rechtliche Dimension2 dieser innovativen Entwicklung im Auge zu behalten. Das geltende deutsche und europäische Datenschutzrecht kennt zwar Rahmenbedingungen für die sog. Auftragsdatenverarbeitung (zum Beispiel in § 11 BDSG). Diese sind auf das Konzept des Cloud Computing allerdings nur ansatzweise anwendbar. Umgekehrt formuliert: Wenn man die hohen rechtlichen, technischen und organisatorischen Anforderungen, die etwa § 11 Abs. 2 BDSG für die Auftragsdatenverarbeitung im Sinne eines klassischen IT-Outsourcing formuliert, „formaljuristisch“ zum Maßstab an Cloud-Lösungen anlegt, beenden Datenschutz-Bedenken die Annäherung an solche Innovationen, ohne dass eventuelle Vorteile von Cloud Computing, nämlich Überle1 So lautete das Credo auf der Cebit 2012. Einen Überblick über die rechtlichen, technischen und wirtschaftlichen Aspekte des Cloud Computing bietet Heckmann, in: Heckmann, jurisPK Internetrecht, 3. Aufl. 2011, Kap. 9, Rn. 577 ff. 2 Es gibt nicht „das“ Cloud Computing, so dass sich pauschale rechtliche Bewertungen verbieten. Dessen kennzeichnende Elemente (wie Flexibilität, Skalierbarkeit, Ressourcenteilung, Elastizität oder nutzungsorientierte Abrechnung) lassen sich mit unterschiedlichen Diensten und Services (Infrastructure as a Service, Software as a Service, Platform as a Service etc.) und unterschiedlicher Reichweite der Auslagerung von Daten und Diensten (Bereitstellungsformen: Public Cloud, Private Cloud, National Cloud, Community Cloud u. a.) mit entsprechender technischer Ausgestaltung und passenden Geschäftsmodellen verwirklichen. Ausführlich dazu vgl. Hennrich, CR 2011, 546 ff. Zum Cloud Computing in der öffentlichen Verwaltung vgl. Heckmann, in: Hill/Schliesky, Innovationen im und durch Recht, 2010, S. 97 ff.; ders., Der Bayerische Bürgermeister 9/ 2011, S. 302 ff.; Maisch/Seidl, VBlBW 2012, 7 ff.

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gungen der Effizienz, der Wirtschaftlichkeit und auch der IT-Sicherheit, überhaupt Gehör finden. In diesem Sinne raten derzeit neben Datenschützern auch viele Anwaltskanzleien davon ab, personenbezogene Daten in eine „Cloud“ auszulagern, weil das Haftungsrisiko unüberschaubar sei.3 Das ist allerdings nicht die einzige Hürde, der sich Anbieter von Cloud-Lösungen stellen müssen. Die Geschichte technischer Innovationen zeigt immer wieder, dass es zu Beginn zahlreiche Widerstände, Hindernisse und vermeintlich unüberschaubare Risiken gibt, die sich solchen Veränderungen entgegenstellen. Aus Sicht anbietender Unternehmen sind das sog. „Sales Blocker“, also Entwicklungs- und Vertriebshindernisse, die eine Etablierung selbst hoch nützlicher Produkte erschweren, was umso ärgerlicher erscheinen mag, je stärker sich das Unternehmen an einem internationalen Markt orientieren muss, auf dem auch die Produkte ausländischer Konkurrenz Abnehmer finden. Was aber sind die Sales Blocker beim Cloud Computing und gibt es umgekehrt auch Enabler? Mit dieser wissenschaftlich bislang nicht näher untersuchten Fragestellung befasst sich der Beitrag zu Ehren von Thomas Würtenberger, einem Wissenschaftler, der in seiner Forschung stets auch den Blick über die Grenzen der Rechtsdogmatik hinaus gerichtet hat, besonders im Hinblick auf die Einflüsse des Zeitgeistes auf die Rechtsentwicklung. II. Beharrungstendenzen der Rechtsordnung „Sales Blocker“ ergeben sich beim Cloud Computing in erster Linie aus den Beharrungstendenzen juristischer Kreise gegenüber (technischen) Innovationen, insbesondere durch die Scheu mancher Juristen, das Recht zeitgemäß auszulegen und anzuwenden. 1. Technische Innovation trifft auf konservierendes (konservatives) Recht Das BSI bezeichnet Cloud Computing als „das dynamisch an den Bedarf angepasste Anbieten, Nutzen und Abrechnen von IT-Dienstleistungen über ein Netz.“4 Angebot und Nutzung dieser Dienstleistungen erfolgen dabei ausschließlich über definierte technische Schnittstellen und Protokolle. Die Spannbreite der im Rahmen von Cloud Computing angebotenen Dienstleistungen umfasst das komplette Spektrum der Informationstechnik und beinhaltet unter anderem Infrastruktur (z. B. Rechenleistung, Speicherplatz), Plattformen und Software.“5 Cloud Computing zählt 3 Vgl. etwa die Stellungnahme des Deutschen Anwaltvereins gegenüber der EU-Kommission http://www.anwaltverein.de/downloads/Stellungnahmen-11/43-2011-SN-Cloud-Com puting.pdf. Kritisch auch Weichert, DuD 2010, 679; Becker/Nikolaeva, CR 2012, 170 ff. 4 https://www.bsi.bund.de/DE/Themen/CloudComputing/Grundlagen/Grundlagen_node. html. 5 BSI Eckpunktepapier zum Cloud Computing, https://www.bsi.bund.de/SharedDocs/ Downloads/DE/BSI/Mindestanforderungen/Eckpunktepapier-Sicherheitsempfehlungen-Cloud Computing-Anbieter.pdf?__blob=publicationFile.

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im Kontext der informationstechnologischen Entwicklung, auf ihr beruhender ITAngebote und entsprechender Geschäftsmodelle zu den herausragenden Innovationen des ersten Jahrzehnts im 21. Jahrhundert.6 Auch wenn es aktuell noch relativ konturenlos erscheint (zum „hohen Abstraktionsniveau“ der Cloud-Computing-Diskussion weiter unten IV.), wird die Fortschrittlichkeit des Cloud Computing nirgends bestritten. Im Gegenteil: Auch – und gerade – die Kritiker heben das Innovationspotential hervor.7 Gerade hier knüpfen dann aber auch deren Bedenken an: Cloud Computing sei – zumindest in bestimmten Erscheinungsformen – rechtlich fragwürdig, nicht datenschutzkonform oder wegen unkalkulierbarer Haftungsrisiken nicht empfehlenswert.8 Wenn man nach „Sales Blockern“ (im Sinne von Hürden für den Absatz von Cloud-Computing-Angeboten) fragt, sind vorrangig die Beharrungstendenzen der Rechtsordnung zu nennen. Technische Innovation trifft auf konservatives Recht – und auf konservative Juristen. Dies zeigt sich in aller Deutlichkeit bei der Auslegung der maßgeblichen Vorschrift des § 11 BDSG. Diese Norm regelt die Auftragsdatenverarbeitung und enthält auch die bislang für IT-Outsourcing-Verträge wesentlichen Anforderungen. Flankierend sind die §§ 4b, 4c sowie 9 BDSG und seine Anlage zu beachten. 2. Konventionelle Auslegung des § 11 BDSG a) Sicherungsmechanismen für die Auftragsdatenverarbeitung (§ 11 BDSG) Kommt es bei der Nutzung cloud-basierter Dienste – wie es regelmäßig der Fall sein wird – zur Verarbeitung personenbezogener Daten (§ 3 Abs. 1 BDSG), so ist im Verhältnis des Anwenders zum Diensteanbieter von einer Auftragsdatenverarbeitung i.S.d. § 11 BDSG auszugehen, bei der der Auftraggeber als „Herr der Daten“ datenschutzrechtlich verantwortlich bleibt.9 § 11 BDSG verlangt, dass in einem CloudComputing-Vertrag unter anderem Festlegungen hinsichtlich Art, Ort und Umfang der Verarbeitung der personenbezogenen Daten durch den Anbieter sowie Regelungen zum Schicksal der Daten im Fall der Beendigung des Vertrages als auch konkrete technische und organisatorische Maßnahmen zum Schutz der Daten gem. § 9 BDSG 6

Zu den technischen Grundlagen des Cloud Computing vgl. Heckmann, in: Hill/Schliesky, Innovationen im und durch Recht, S. 97 ff.; Maisch, AnwZert-ITR 15/2009, Anm. 4; Niemann/Hennrich, CR 2010, 686 ff. 7 Siehe beispielhaft die Darstellung zu dem Zweck des Cloud Computing bei Weichert, DuD 2010, 679. 8 Vgl. Weichert, DuD 2010, 679 ff. 9 Schulz, MMR 2010, 75 (78); Pohle/Ammann, CR 2009, 273 (277); Maisch, AnwZert-ITR 15/2009, Anm. 4; allgemein zu § 11 BDSG: Ehmann, in: Abel (Hrsg.), Praxiskommentar Bundesdatenschutzgesetz, 5. Aufl. 2009, S. 228 ff.; zur Auftragsdatenverarbeitung in der Kommunalverwaltung: Lübking/Zilkens, Datenschutz in der Kommunalverwaltung, 2. Aufl. 2008, Rn. 487 ff.

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und seiner Anlage aufgenommen werden.10 Dabei müssen dem Auftragnehmer die technischen und organisatorischen Maßnahmen zur Sicherstellung des Datenschutzes und der Datensicherheit – abgestimmt mit dem Auftraggeber auf die Bedürfnisse des konkreten Auftragsverhältnisses – vorgegeben und deren Realisierung vertraglich abgesichert werden.11 Beim Cloud Computing gestaltet sich schon die konkrete Wiedergabe der Maßnahmen als schwierig. Dies gilt nach dem Verständnis vieler nationaler Datenschutzaufsichtsbehörden insbesondere für Public Clouds.12 Zu beachten ist weiterhin, dass die Unkenntnis vom Ort der Verarbeitung oder Speicherung der Daten beispielsweise durch technische Mittel wie geeignete Reporting- oder Monitoring-Tools mit einem entsprechenden Onlinezugriff für den Kunden vermieden werden könnte.13 Diese Lösung dürfte technisch ohne übermäßige Schwierigkeiten umsetzbar sein, da die erforderlichen Informationen auf technischer Ebene ohnehin verfügbar sein müssen, um dem Kunden jederzeit Zugang zu den Daten zu ermöglichen.14 Mit Blick auf die Besonderheiten des Cloud Computing in weltweit verteilten Rechenzentren ist schließlich zu berücksichtigen, dass sich der Auftraggeber Gewissheit über die Gewährleistung des zu sichernden Schutzstandards verschaffen muss.15 Dies kann schon bei der Auswahl des Anbieters, beispielsweise durch Heranziehung von Zertifizierungen qualifizierter Dritter16 oder Informationen von Referenzkunden geschehen. Bei der Überwachung etwa durch entsprechend vereinbarte Berichtspflichten und regelmäßige Auditierungen des Auftragnehmers sowie durch ergänzende Kontrollrechte des Auftraggebers (vgl. § 11 Abs. 2 S. 2 Nr. 7, 9 BDSG).17 Insgesamt ist es unterdessen kaum vorstellbar, dass im Bereich der aktuell bekannten Cloud-Computing-Modelle die Formulierung eines IT-Outsourcing-Vertrages gelingen mag18, der alle Anforderungen des § 11 Abs. 2 BDSG einhält. Im Üb-

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Klinger, AnwZert-ITR 25/2009, Anm. 3. Klinger, AnwZert-ITR 25/2009, Anm. 3; Wedde, in: Däubler/Klebe/Wedde/Weichert, BDSG, 3. Aufl. 2010, § 11 Rn. 41; Gabel, in: Taeger/ders. (Hrsg.), Kommentar zum BDSG, 2010, § 11 Rn. 44. 12 Niemann/Paul, K&R 2009, 444 (449); auch der Nutzer des Cloud Computing weiß häufig gerade nicht, an welche geografischen Orte seine personenbezogenen Daten übermittelt werden, Schulz, MMR 2010, 75 (78). 13 Gabel, in: Taeger/ders. (Hrsg.), Kommentar zum BDSG, 2010, § 11 Rn. 18; ebenfalls für eine hohe Verfahrenstransparenz: Maisch, AnwZert-ITR 15/2009, Anm. 4. 14 Reindl, in: Taeger/Wiebe, Inside the Cloud – Neue Herausforderungen für das Informationsrecht, 2009, S. 444. 15 Gabel, in: Taeger/ders. (Hrsg.), Kommentar zum BDSG, 2010, § 11 Rn. 33 ff. 16 Vgl. Maisch, AnwZert-ITR 15/2009, Anm. 4. 17 Reindl, in: Taeger/Wiebe, Inside the Cloud – Neue Herausforderungen für das Informationsrecht, 2009, S. 449. 18 Sofern eine Auftragsdatenverarbeitung scheitert, richtet sich die erfolgende Datenübermittlung nach den Vorgaben des BDSG. Sie wäre dann nur beim Vorliegen einer konkreten 11

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rigen ist eine strikte Daten- und Verfahrensherrschaft des Auftraggebers nach dem Geschäftsmodell des Cloud Computing weder möglich noch erwünscht. b) Datenschutzniveau bei der Datenverarbeitung in Drittländern (§ 4b BDSG) Mit Hinblick auf die weltweite Datenverarbeitung in der Cloud stellen sich Rechtsfragen der Anwendbarkeit nationaler Rechtsregime. aa) Die Anwendbarkeit deutschen Datenschutzrechts richtet sich nach § 1 Abs. 5 BDSG. Für den EU-grenzüberschreitenden Datenverkehr normiert § 1 Abs. 5 S. 1 BDSG in Einklang mit Art. 4 der EU-Datenschutzrichtlinie das Sitzlandprinzip. Für auf den Anwendungsbereich der EU-Datenschutzrichtlinie beschränkte Cloud-Dienste bedeutet dies, dass das insoweit anzuwendende nationale Recht sich nicht nach dem Ort der Erhebung, Verarbeitung oder Nutzung personenbezogener Daten richtet, sondern nach dem Recht des Ortes, an dem die hierfür verantwortliche Stelle ihren Sitz hat. Für ein in Deutschland ansässiges Unternehmen, das als Auftraggeber i.S.v. § 11 BDSG Cloud-Dienste in Anspruch nimmt, hat dies bei „europäischen Clouds“ regelmäßig die Anwendung deutschen Datenschutzrechts zur Folge. Anders ist die Lage gemäß § 1 Abs. 5 S. 2 BDSG bei der Datenverarbeitung durch eine verantwortliche Stelle, die außerhalb des Anwendungsbereichs der EUDatenschutzrichtlinie belegen ist. Für die Frage, ob bei einer „innereuropäischen“ oder „außereuropäischen“ Cloud das Privileg der Auftragsdatenverarbeitung – im Unterschied zur Funktionsübertragung – angenommen werden kann, enthält § 3 Abs. 8 BDSG eine wichtige Weichenstellung. Eine Auftragsdatenverarbeitung liegt nach der Grundkonzeption des § 11 BDSG nur vor, wenn der Auftragnehmer (Cloud-Dienstleister) weisungsgebunden ist, d. h. ohne eigenen Wertungs- und Entscheidungsspielraum für den Auftraggeber (Cloud-Nutzer) tätig wird. Fehlt es hieran (bspw. weil dem Auftragnehmer die Daten für eigene Geschäftszwecke überlassen werden), so ist der Auftragnehmer als Dritter i.S.d. § 3 Abs. 8 S. 2 BDSG anzusehen. Die Datenverarbeitung durch einen Dritten ist jedoch nicht von § 11 BDSG erfasst und bedarf als sog. Funktionsübertragung eines eigenen Erlaubnistatbestandes gem. § 28 ff. BDSG. Nach der Konzeption des § 3 Abs. 8 BDSG ist als Dritter auch eine solche Stelle einzustufen – unabhängig von der Entscheidungsfreiheit –, die außerhalb des Geltungsbereichs der EU-Datenschutzrichtlinie tätig wird.19 bb) Personenbezogene Daten dürfen nicht ohne Weiteres an Drittstaaten außerhalb der EU übermittelt werden. Dies ist gem. § 4b Abs. 2 und 3 BDSG nur dann zulässig, wenn in diesen Drittstaaten ein angemessenes Schutzniveau, das dem hei(informierten) Einwilligung des Betroffenen oder einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage zulässig; Schulz, MMR 2010, 75 (78). 19 Kritisch zur Auslegung des § 3 Abs. 8 BDSG, Erd, DuD 2010, 275 ff.

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mischen vergleichbar ist, sichergestellt ist.20 Bislang wurde dies z. B. für Kanada, Argentinien oder die Schweiz angenommen. Grundlage dieser von der EU-Kommission getroffenen Einschätzung21 sind sowohl materielle als auch verfahrensrechtliche Kriterien. Die Hürde des angemessenen Schutzniveaus kann – außerhalb der von der EU als Staaten mit angemessenem Datenschutzniveau festgelegten Staaten – auch dadurch überwunden werden, dass die in § 4c BDSG geregelten Ausnahmen gegeben sind.22 Danach ist der Datenexport u. a. dann zulässig, wenn die empfangende Stelle im Ausland durch EU-Standardvertragsklauseln oder verbindliche Unternehmensregelungen ausreichende Garantien hinsichtlich des Schutzes des Persönlichkeitsrechts und der Ausübung der damit verbundenen Rechte gibt, § 4c Abs. 2 S. 1 BDSG.23 Die Datenübermittlung ist dabei von der zuständigen Aufsichtsbehörde zu genehmigen, es sei denn, es werden die von der Europäischen Kommission veröffentlichten EU-Standardvertragsklauseln24 unverändert verwendet.25 Was die Datenübermittlung in die USA – welche als Land des „inadäquaten Datenschutzes“ gelten26 – betrifft, so ist anerkannt, dass das Datenschutzniveau dadurch gesichert werden kann, dass sich das entsprechende Unternehmen den sog. „Safe Harbor Principles“ auf der Basis eines Abkommens zwischen dem amerikanischen Handelsministerium und der EU-Kommission unterwirft.27 Diese Safe-Harbor-Prinzipien und die damit verbundene Zertifizierung erwecken Vertrauen und sind damit einer der Garanten für Rechtssicherheit.28 Gleichwohl werden sie in jüngster Zeit stark kritisiert.29

20 Schulz, MMR 2010, 75 (78); Pohle/Ammann, CR 2009, 273 (277); Gabel, in: Taeger/ ders. (Hrsg.), Kommentar zum BDSG, 2010, § 4b Rn. 10 ff. 21 Vgl. Entscheidungen der Kommission zur Angemessenheit des Schutzes persönlicher Daten in Drittstaaten, http://ec.europa.eu/justice_home/fsj/privacy/thirdcountries/index_ de.htm. 22 Vertiefend zu den Ausnahmetatbeständen des § 4c BDSG: Gabel, in: Taeger/ders. (Hrsg.), Kommentar zum BDSG, 2010, § 4c Rn. 5 ff. 23 Hennrich/Maisch, AnwZert ITR 15/2011, Anm. 2. 24 Art. 26 Abs. 2, 4 RL 95/46/EG. 25 Reindl, in: Taeger/Wiebe, Inside the Cloud – Neue Herausforderungen für das Informationsrecht, 2009, S. 447. 26 Spies, MMR 2009, XI (XII). 27 Hennrich/Maisch, AnwZert ITR 15/2011, Anm. 2; Karger/Sarre in: Taeger/Wiebe, Inside the Cloud – Neue Herausforderungen für das Informationsrecht, 2009, S. 435. 28 Ausführlich Hennrich/Maisch, AnwZert ITR 15/2011, Anm. 2. 29 Vgl. nur Erd, K&R 2010, 624 ff.; Hennrich/Maisch AnwZert ITR 15/2011, Anm. 2 m.w.N.

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c) Gewährleistung von IT-Sicherheit (§ 9 S. 1 BDSG) Gemäß § 9 S. 1 BDSG haben öffentliche Stellen, die selbst oder im Auftrag personenbezogene Daten erheben, verarbeiten oder nutzen, diejenigen technischen und organisatorischen Maßnahmen zu treffen, die erforderlich sind, um die Ausführung der Vorschriften des BDSG zu gewährleisten. Hinsichtlich der automatisierten Verarbeitung oder Nutzung personenbezogener Daten wird die zentrale Datensicherheitsvorschrift des BDSG durch die Anlage zu § 9 S. 1 BDSG konkretisiert, welche – nicht abschließende – Maßnahmen enthält, die die Einhaltung der besonderen Anforderungen des Datenschutzes im Rahmen der innerbehördlichen Organisation sicherstellen sollen. § 11 BDSG stellt dabei auf klassische Datenverarbeitungsstrukturen ab. Seine Vorgaben eignen sich nur begrenzt für moderne und sich wandelnde Formen der Datenverarbeitung wie Cloud Computing.30 Dies darf jedoch nicht zu einem Verzicht auf ausreichende Datensicherungsmaßnahmen führen.31 Die vorzunehmenden Maßnahmen sollten nicht statisch, sondern vielmehr dynamisch geprüft und weiterentwickelt werden.32 3. Innovative Auslegung des BDSG Die formaljuristische Betrachtung der datenschutzrechtlichen Vorschriften, wie sie in den Eckpunktepapieren der politischen Akteure, allen voran der Datenschutzbehörden zum Ausdruck kommt, ist allerdings nicht zwingend. Sie leidet vor allem unter einem erheblichen methodischen Mangel, weil sie zwingende Subsumtionsergebnisse auf Grundlage defizitärer Wertungsmaßstäbe ermittelt und damit mit mehreren Unbekannten rechnet. So spricht § 11 Abs. 2 S. 1 BDSG davon, dass „der Auftragnehmer … unter besonderer Berücksichtigung der Eignung der von ihm getroffenen technischen und organisatorischen Maßnahmen sorgfältig auszuwählen“ ist. Hierbei werden wiederum die Maßnahmen und Maßgaben des § 11 Abs. 2 S. 2 BDSG als Minimum (!) zur Ausübung einer Datenherrschaft angesehen, die dem Auftraggeber als Ausdruck seiner Verantwortlichkeit im Sinne des § 11 Abs. 1 S. 1 BDSG verbleiben muss. Auf diese Weise entsteht durch die Forderung nach maximaler Datenherrschaft (§ 11 Abs. 1 S. 1 BDSG), maximaler Auswahlsorgfalt (§ 11 Abs. 2 S. 1 BDSG) und maximaler technisch-organisatorischer Vorkehrungen (§ 11 Abs. 2 S. 2 BDSG) ein quasi unerfüllbarer Anspruch gegenüber den Vertragspartnern im Cloud Computing. Weder kann der Auftraggeber die ihm zugedachte Rolle der Ausübung von Datenherrschaft noch der Auftragnehmer jene der Gewährleistung von Datensicherheit erfüllen. Von mehreren „Unbekannten“ ist hier deshalb zu sprechen, weil 30

Wedde, in: Däubler/Klebe/Wedde/Weichert, BDSG, 3. Aufl. 2010, § 9 Rn. 30. Zur Erforderlichkeit der Datensicherungsmaßnahmen Schultze-Melling, in: Taeger/ Gabel (Hrsg.), Kommentar zum BDSG, 2010, § 9 Rn. 19 ff. 32 Wedde, in: Däubler/Klebe/Wedde/Weichert, BDSG, 3. Aufl. 2010, § 9 Rn. 30. 31

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– die Herleitung von Datenherrschaft aus dem Prinzip der Verantwortlichkeit insofern willkürlich ist, da sie den Aspekt der notwendigen Verlagerung von Kompetenzen bei der Auftragsdatenverarbeitung übersieht. – die Anforderungen an die „sorgfältige Auswahl“ des Auftraggebers formuliert werden, ohne den Sorgfaltsmaßstab – auch unter Berücksichtigung der notwendigerweise fehlenden bzw. unzureichenden Expertise des Auftraggebers – zu ermitteln. – die Eignung und Erforderlichkeit von technischen und organisatorischen Maßnahmen zur Gewährleistung von Datenschutz und Datensicherheit behauptet und zugrunde gelegt wird, ohne den Risikomaßstab zu diskutieren, der beim Cloud Computing als einem im Prinzip herkömmlichen Datenverarbeitungsvorgang auch wegen § 9 S. 2 BDSG (Erwägungen der Wirtschaftlichkeit) unter Beachtung der Verhältnismäßigkeit zu ermitteln ist. – Kontrollrechte des Auftraggebers bis hin zu einer nachhaltigen Compliance-Kontrolle gefordert werden, ohne die Kontrolldichte zu ermitteln, die solche Maßnahmen erst verhältnismäßig und zumutbar erscheinen lassen. – die Begründung von Unterauftragsverhältnissen unter Aspekten der Datenherrschaft in Frage gestellt wird und Weisungsbefugnisse des Auftraggebers in einem Umfang als zwingendes Recht gefordert werden, ohne die Autonomie des Cloud-Anbieters als beauftragtem Experten auch in Anbetracht unzureichender fachlicher Kompetenz des Auftraggebers zu berücksichtigen. Die dem Cloud-Nutzer bei der Auftragsdatenverarbeitung obliegende Kontrolle der technischen und organisatorischen Maßnahmen nach § 11 Abs. 2 S. 2 Nr. 3, § 9 BDSG i.V.m. der Anlage zu § 9 BDSG sollte die Eigenheiten des Cloud Computing berücksichtigen. Eine enge und wortlautgetreue Auslegung des Begriffs „Festlegung der Maßnahmen“ in § 11 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 BDSG wird mit der Realität des Cloud Computing unvermeidlich kollidieren.33 Diese Auslegung geht vom (bisher für den Bereich des Datenschutzes vorherrschenden) Fall der zentralen Datenverarbeitung aus und setzt damit in Inhalt und Reichweite eine Kontrollmöglichkeit des Auftraggebers voraus, welche sich beim Cloud Computing nicht durchhalten lassen wird. Bei territorial begrenzten Cloud-Diensten mag für den einzelnen Auftraggeber noch die Kontrolle jedes einzelnen Rechenzentrumsstandorts möglich erscheinen. Schon hier mutet dieser Aufwand aber nicht praxisgerecht an und kollidiert mit dem in § 9 S. 2 BDSG normierten Erforderlichkeitsgrundsatz. Je weiter die Diversifizierung der Cloud reicht, umso mehr wird zugleich der faktische Zugriff der datenverarbeitenden Stelle (Cloud-Nutzer) reduziert. In vielen Fällen – vor allem bei weltweit verteilten Standorten – stößt daher eine realistische Kontrollmöglichkeit aller in Betracht kommender Rechenzentrumsstandorte, die in Inhalt und Reichweite derje-

33 So auch Niemann/Hennrich, CR 2010, 686 (690), die für eine dem technischen Fortschritt und der Realität des Cloud Computings angepasste, weite Auslegung plädieren.

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nigen bei zentraler Datenverarbeitung entspricht, an ihre Grenzen bzw. wird schlicht unmöglich.34 Stimmt man allerdings einer teleologischen, an den Erfordernissen und Eigenheiten dezentraler Datenverarbeitungsprozesse orientierten Auslegung der „Festlegung der Maßnahmen“ in § 11 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 BDSG zu, kann auch bei Cloud Computing eine ausreichende Kontrollmöglichkeit des Auftraggebers vorliegen. Eine mögliche cloud-spezifische Lösung wird z. B. darin gesehen, dass die Kontrollpflichten des Auftraggebers bereits durch regelmäßige Prüfberichte des Auftragnehmers erfüllt werden können.35 Im Rahmen standardisierter Leistungen für kleinere Unternehmen müsste der Auftraggeber seinen Kontrollpflichten zudem durch standardisierte Prüfberichte des Auftragnehmers nachkommen. 4. Fazit Die skizzierten Beharrungstendenzen der Rechtsordnung – im Sinne eines formaljuristischen, unzeitgemäßen Festhaltens an überkommenen (weil technisch, wirtschaftlich oder gesellschaftlich überholten) Regulierungskonzepten – ist der erste „Sales Blocker“ für die Verbreitung von Cloud-Computing-Angeboten, insbesondere solchen von global agierenden Anbietern. Dies ist aus Anbietersicht auch deshalb kritisch zu betrachten, weil die daraus resultierende Rechtsunsicherheit noch weitere potentielle Kunden abhalten wird, derartige Dienste in Anspruch zu nehmen. Bei einer technisch-funktionalen Innovation wie dem Cloud Computing wird das Problem offensichtlich, dass das BDSG immer noch als Ausfluss des Volkszählungsurteils unter dem Aspekt des Persönlichkeitsschutzes ausgelegt wird. Und das, obwohl es im Jahr 2011 längst um professionelles Datenmanagement geht, welches im Rahmen einer (eigentlich durch § 9 S. 2 BDSG bereits angelegten) Wirtschaftlichkeitsbetrachtung nur durch ein Sicherheitskonzept reguliert werden kann, in das Kriterien eines sachadäquaten Risikomanagements einfließen.36 III. Pauschalisierungstendenzen im politischen Diskurs Durch das hohe Abstraktionsniveau, in dem sich sowohl das „Cloud Computing“ als Marketingbegriff als auch die darauf bezogenen politischen Aussagen bewegen, ergeben sich Chancen und Risiken für den Vertrieb entsprechender Produkte bzw. 34

Vgl. auch Niemann/Hennrich, CR 2010, 686 (691). Vgl. Niemann/Hennrich, CR 2010, 686 (691) m.w.N. 36 Die Politik interessiert in erster Linie nur, dass (!) bestimmte Technologien bzw. technologische Konzepte als „Innovation“ gelten (sic!), weniger, was daran das Innovative ist. Vor allem aber scheut sich die Politik vor dem konsequenten Gedanken, dass Innovationen auch unvorhersehbare (!) Risiken mit sich bringen können. Es wäre eigentlich die Aufgabe der Politik, dies zu erklären, nicht aber, eine „Quadratur des Kreises“ anzustreben, etwa im Sinne einer „sicheren Unsicherheit“. 35

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Dienstleistungen. Das spezifische Risiko besteht darin, dass pauschale Bedenken wie jene unzureichender Datensicherheit eine ganze Angebotspalette in Verruf bringen können, von der allenfalls bestimmte einzelne Dienste kritisch zu betrachten wären. Umgekehrt besteht für Cloud-Anbieter die Chance, das Profil ihrer Angebote in der Weise zu konkretisieren, dass die im politischen Raum formulierten rechtlichen und technischen Anforderungen erfüllt werden oder zumindest als erfüllbar erscheinen. 1. Wolkige Aussagen zum Cloud Computing Analysiert man die zahlreichen Publikationen aus den Ministerien und anderen verantwortlichen Stellen, aus fachlichen Eckpunktepapieren und politischen Konzepten, so fällt auf, dass sämtliche Aussagen zum Cloud Computing auf einem sprachlich und inhaltlich signifikant hohen Abstraktionsniveau getroffen werden. Daraus ergeben sich spezifische Risiken für den Vertrieb von Cloud Services („Sales Blocker“). Allerdings bietet dieser Umstand auch Chancen. a) Beispiel 1: Aktionsprogramm Cloud Computing des Bundeswirtschaftsministeriums Das „Aktionsprogramm Cloud Computing“ kann geradezu als kennzeichnend genannt werden für das hohe Abstraktionsniveau und die darin zum Ausdruck kommende Unverbindlichkeit der damit verbundenen politischen Aussagen. So begrüßt der ehemalige Bundeswirtschaftsminister Brüderle „die gemeinsame Initiative von Wirtschaft, Wissenschaft und Politik, die Entwicklung, Verbreitung und Nutzung von Cloud Computing in Deutschland zu fo¨ rdern.“37 Er spricht von „Zukunftschancen“ und der Erschließung großer „Potenziale des Cloud Computings fu¨ r den Wirtschaftsstandort Deutschland.“ Dies gelinge nur mit einer „Sta¨ rkung von Sicherheit und Vertrauen im Cloud Computing“38, denn „vor allem kleinere Anwenderunternehmen, die nicht selbst aus dem IT-Bereich kommen“, hätten noch „Hemmschwellen, Software oder Hardware in der „Wolke“ des Internets zu nutzen.“ Sie würden sich fragen, „welchen Angeboten sie vertrauen und wohin sie Daten oder deren Verarbeitung sicher auslagern ko¨ nnen. Ein kaum u¨ berschaubares Angebot, sta¨ ndige Neuerungen, ungenu¨ gende Standardisierung und komplizierte Gescha¨ ftsmodelle erschwer(t)en oftmals die Entscheidungsfindung.“ 37

Aktionsprogramm BMWi, Grußwort, S. 4 (auch folgende Zitate), http://www.bmwi.de/ BMWi/Redaktion/PDF/Publikationen/Technologie-und-Innovation/aktionsprogramm-cloudcomputing,property=pdf,bereich=bmwi2012,sprache=de,rwb=true.pdf. 38 In ähnlicher Weise nennt der ehemalige BITKOM-Präsident Scheer den Aspekt der Kostensenkung für Unternehmen, um zugleich die „hohen Anforderungen an Datenschutz, Informationssicherheit und Integrationsfähigkeit“ zu betonen (Grußwort, S. 5). Auch der Präsident des CIOcolloquiums Endres greift hoch, wenn er von einer „zukunftsweisenden Technologie mit großem Entwicklungspotenzial“ spricht. Voraussetzung hierfür sei aber wiederum die „Gewährleistung der Rechts- und Datensicherheit“ (Grußwort, S. 6).

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Deshalb solle der Technologiewettbewerb „Trusted Cloud“ des Bundesministeriums fu¨ r Wirtschaft und Technologie einen wichtigen Beitrag leisten, „Nutzbarkeit und Akzeptanz von Cloud-Technologien durch u¨ berzeugende Anwendungsbeispiele deutlich zu erho¨ hen.“ Bei Themen wie „Datenschutz, Interoperabilita¨ t und Sicherheit“ sollen sich „traditionelle Standortsta¨ rken deutscher IT-Anbieter in die Entwicklung von Cloud Computing in Deutschland als Markenzeichen einbringen und so das Vertrauen in diese Technologie sta¨ rken.“ Bereits in diesem Grußwort wird ein typisches Argumentationsschema deutlich: Im ersten Schritt wird eine positive Grundhaltung erzeugt (Chancen und Potenziale). Diese Vorteile erfordern, so der zweite Schritt, Sicherheit und Vertrauen, also Attribute, deren Berechtigung wohl niemand in Zweifel ziehen kann. Ähnlich pauschal werden im dritten Schritt Risiken (zum Beispiel ungenügende Standardisierung oder komplizierte Geschäftsmodelle) benannt, die für sich sprechen sollen und deshalb jeder empirischen Beweiswürdigung entzogen werden. Besonders problematisch ist schließlich der vierte Schritt, wonach wiederum eine Lösung auf der Grundlage der im zweiten Schritt konstatierten Grundbedingung („Sicherheit und Vertrauen“) so ins Spiel gebracht wird, dass Alternativen entbehrlich erscheinen. Wenn dort nämlich von den „traditionellen Standortstärken deutscher Anbieter“ im Sinne der Marke „made in Germany“ die Rede ist39, werden bestimmte Geschäftsmodelle mit der Erfüllung abstrakter Anforderungen gleichgesetzt, was weder in der Sache zwingend noch vor dem Hintergrund einer Diskriminierung ausländischer Anbieter gerechtfertigt ist. b) Beispiel 2: BSI-Eckpunktepapier 2011 Das signifikant hohe Abstraktionsniveau im politischen Diskurs zeigt sich freilich nicht nur auf der politischen, sondern auch auf der fachlichen Ebene. Beispielhaft seien hierfür Passagen aus dem Eckpunktepapier des BSI40 genannt. „Obwohl weltweit IT-Dienstleistungen aus der „Wolke“ immer stärker in Anspruch genommen werden, zeigen fast alle Umfragen und Studien, dass es auch eine Vielzahl von Bedenken gibt, die Anwender vor der Nutzung von Cloud Computing Diensten zurückschrecken lassen. Als eines der größten Hindernisse wird immer wieder mangelndes Vertrauen in die Sicherheit der bereitgestellten Services genannt. Als zentrale Stelle des Bundes für die In-

39

Aktionsprogramm BMWi S. 19: „Besonders wichtige Alleinstellungsmerkmale des deutschen IT-Sektors sind dabei Zuverlässigkeit, Sicherheit und Datenschutzkonformität der angebotenen Cloud-Lösungen“, http://www.bmwi.de/BMWi/Redaktion/PDF/Publikationen/ Technologie-und-Innovation/aktionsprogramm-cloud-computing,property=pdf,be reich=bmwi2012,sprache=de,rwb=true.pdf. 40 Siehe BSI, Eckpunktepapier „Sicherheitsempfehlungen für Cloud Computing Anbieter“. https://www.bsi.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/BSI/Mindestanforderungen/Eckpunktepa pier-Sicherheitsempfehlungen-CloudComputing-Anbieter.pdf;jsessionid=32FD3C8BD85 C0219423B90660EC5A4DD.2_cid286?__blob=publicationFile.

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Dirk Heckmann formationssicherheit ist es dem BSI wichtig, die Aufbauphase von Cloud Services aktiv mitzugestalten.“41 „Aufgrund der erwarteten technischen und wirtschaftlichen Potenziale wird sich Cloud Computing voraussichtlich am Markt durchsetzen können, allerdings nur, wenn die Anbieter es schaffen, die Fragen der Kunden zur Informationssicherheit und zum Datenschutz zu klären. Mit zunehmender Verbreitung in der Fläche werden allerdings Cloud Computing Angebote für Angreifer attraktiver, auch aufgrund der Konzentration vieler geschäftskritischer Ressourcen in zentralen Rechenzentren sowie der erforderlichen Standardisierung der Komponenten und Schnittstellen. Daher wird es auf lange Sicht nötig sein, internationale Standards für Informationssicherheit zu erarbeiten und zu etablieren, auf deren Grundlage Plattformen für das Cloud Computing überprüft und zertifiziert werden können. Eine der zentralen Aufgaben in den nächsten Jahren wird es daher sein, internationale Standards für die Informationssicherheit im Bereich Cloud Computing zu erarbeiten und zu etablieren, auf deren Basis die Sicherheit von Cloud Computing Anbietern zertifiziert werden kann. Nur durch international anerkannte Zertifizierungen von Cloud Computing Anbietern bzw. deren Services wird ein ausreichendes Vertrauen auf Seiten der Kunden geschaffen werden können.“42

2. Spezifische Risiken der Pauschalisierung und Abstrahierung Pauschalurteile, wie man sie im Hinblick auf die (gerade auch rechtliche) Beurteilung des Cloud Computing häufig vorfindet, können zum „Sales Blocker“ avancieren. Störungen des Vertriebs entsprechender Angebote sind in zweifacher Weise denkbar: Zum einen nimmt eine pauschale Distanzierung zu „Cloud Computing“ (etwa durch Datenschützer) den Anbietern die Chance, die Angemessenheit und Rechtskonformität des eigenen Angebots werbend nach außen zu tragen. Insoweit muss auch die subtile Wirkung von Aussagen wie „mangelndes Vertrauen in Sicherheit und Datenschutz“ berücksichtigt werden. Derartige Äußerungen rücken Cloud Computing in das Licht von etwas „Verbotenem“ oder „Unzulässigem“. Ebenso wenig werden die einzelnen Angebote eines „Cloud Computing“ näher spezifiziert (meist bleibt sogar gänzlich unerwähnt, welche Differenzierungen es überhaupt gibt) bzw. wird bei den Bedenken im Hinblick auf Datenschutz, Datensicherheit und Vertrauen nicht näher unterschieden, welche Daten auf welche Weise überhaupt gefährdet sind. Auf diese Weise erscheint der „Datenschutz“ für das „Cloud Computing“ wie ein Angst verbreitendes Schreckgespenst, dessen konturenlosen Gefahren kaum entgegengetreten werden kann. Zum anderen verhindert die Abstrahierung der Aussagen zu „Cloud Computing und Compliance“ im politischen Diskurs, dass Unternehmen sich auf richtungswei41

Aktionsprogramm BMWi, S. 8, http://www.bmwi.de/BMWi/Redaktion/PDF/Publikatio nen/Technologie-und-Innovation/aktionsprogramm-cloud-computing,property=pdf,be reich=bmwi2012,sprache=de,rwb=true.pdf. 42 Aktionsprogramm BMWi, S. 68.

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sende Entscheidungen der Regierung bzw. des Parlamentes einstellen und ihre Geschäftsmodelle auf entsprechende Weichenstellungen abstimmen können. Die politischen Entscheidungsträger scheuen jedwede Festlegung und überlassen das Feld damit jenen Instanzen, die sich aus heterogenen Motiven vereinzelter „Mutiger“ positionieren, wie etwa den Datenschutzbehörden.43 Diese Instanzen aus dem Verwaltungsvollzug sind aber nicht unmittelbar demokratisch legitimiert. Somit kann ihre Haltung nicht als Handlungsmaßstab dienen. 3. Chancen der Pauschalisierung und Abstrahierung Wie bereits aufgezeigt bergen pauschale Urteile und stark abstrahierende politische Aussagen zu technischen Innovationen Risiken für die Etablierung von Geschäftsmodellen, die auf eine verlässliche politische Weichenstellung angewiesen sind. Unternehmen, die auf diese Weise verunsichert werden, können von diesen Umständen aber auch profitieren: Ihnen bietet sich die Chance, das Profil ihrer Angebote in einer Weise zu konkretisieren, dass die im politischen Raum formulierten rechtlichen und technischen Anforderungen erfüllt werden oder zumindest als erfüllbar erscheinen. Im Grunde genommen geht es hier wie da um die normative Kraft des Faktischen:44 Unternehmerisches Marketing trifft auf politisches Marketing. Innovative Produkte und Dienstleistungen werden in ihren Compliance-Anforderungen auf jener Abstraktionshöhe als rechtskonform dargestellt, die die Politik in ihren Aussagen „eingestellt“ hat. Man greift also die politisch formulierten Ansprüche in ihrer pauschalen und abstrakten Form auf und subsumiert das eigene Datenschutzkonzept darunter. Das fällt aufgrund des hohen Abstraktionsgrades nicht schwer. Die unternehmerische Chance liegt hier in der Deutungshoheit: Wann genau ist ein Cloud-Computing-Dienst rechtskonform? Soweit dies nicht in verbindliche Regeln gefasst ist, können eigene Konzepte kaum widerlegt werden. Denkbar ist, dass genau diese Vorgehensweise die Politik veranlasst, „nachzulegen“. Dies kann in einem Dialog zwischen Politik und Unternehmen münden, der zur Konkretisierung bisheriger bloß formulierter Ansprüche führt. Diese „dialogische Konkretisierung“ trägt dazu bei, die als „Sales Blocker“ angeführte Rechtsunsicherheit zu beseitigen. 4. Fazit Neben den Beharrungstendenzen der Rechtsordnung de lege lata (oben II.) erweisen sich die Pauschalisierungs- und Abstrahierungstendenzen de lege ferenda im politischen Diskurs als weiterer „Sales Blocker“, soweit dadurch verhindert wird, not43

Beispielhaft vgl. Weichert, DuD 2010, 679 ff. Darauf stellt im Ergebnis auch Roger Albrecht in einem Artikel vom 19. Mai 2011 ab: http://www.enterprisecioforum.com/de/article/cloud-computing-–-daran-führt-kein-weg-vorbei. 44

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wendige Schutzmechanismen zum Ausgleich divergierender Interessen nach verlässlichen Vorgaben in die angebotenen Produkte und Dienstleistungen zu integrieren. Ergreifen Anbieter innovativer Dienste jedoch die Chance, Deutungshoheit und Konkretisierungsmacht bei der Formulierung der Compliance-Anforderungen zu übernehmen, dann avanciert das Zögern und Zaudern der politischen Entscheidungsträger möglicherweise zum „Enabler“ solcher Innovationen. Für die Etablierung von Angeboten am Markt genügt es dann nämlich, eine Rechtskonformität ohne plausiblen Widerstand zu behaupten. IV. Abschottungstendenzen der Wirtschaftsordnung Beim Cloud Computing zeigt sich in besonders starker Weise für außereuropäische Anbieter das Problem, dass industriepolitische Präferenzen durch rechtliche Bedenken verbrämt werden. Signifikanter Ausdruck dessen ist die „Cloud made in Germany“. 1. IT-Politik als Industriepolitik Wenn man die „Sales Blocker“ ermitteln will, die den Cloud-Computing-Anbietern in den nächsten Jahren den Vertrieb ihrer Produkte und Dienstleistungen erschweren könnten, ist neben den rechtsdogmatischen und rechtspolitischen Hürden auch zu bedenken, dass Cloud Computing innerhalb der IT-Innovationen geradezu paradigmatisch für „grenzüberschreitende Angebote“ steht und damit eine natürliche Affinität zum Weltmarkt aufweist. Solche Globalisierungstendenzen werden regelmäßig durch Abschottungstendenzen der Wirtschaftsordnung beantwortet: IT-Politik ist Industriepolitik. Selbst wenn es eindeutige Regeln zur Datenverarbeitung in Cloud-Umgebungen gäbe und keine politischen Vorbehalte oder Verzögerungen vorhanden wären, wäre der globale Wettbewerb um die besten Angebote trotzdem nur bedingt eröffnet. So paradox es auch erscheinen mag: Gerade die vielfach attestierte hohe Attraktivität der Cloud Services verhindert den Eintritt in nationale Märkte, weil diese sich gegen internationale Konkurrenz abzuschotten versuchen. In diesem Sinne forderte etwa Harald Lemke 2005, seinerzeit noch CIO des Landes Hessen, eine „knallharte IT-Industriepolitik“:45 „Wenn wir unsere Produkte in aller Welt verkaufen wollen, müssen wir auch der Showcase für diese Innovationen sein.“46 2. „Cloud made in Germany“ Und so werden die bereits vorstehend im Rahmen des politischen Diskurses zitierten Vorbehalte im Sinne von Datenschutz und Datensicherheit strategisch zur 45 46

http://www.gfaller.de/index.php?id=117. http://www.gfaller.de/index.php?id=117.

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Stärkung der eigenen Produkte verwendet. Sehr deutlich wurde dies auf der Cloud Computing Conference, die am 6. Oktober 2010 auf Einladung des BITKOM in Köln durchgeführt wurde.47 Dort ging es – schon wegen der Keynotes von Microsoft-Chef Steve Ballmer und Werner Vogels, CTO Amazon – zunächst um die internationale Dimension des Cloud Computing und dessen revolutionäre Kraft: „Die Cloud verändert alles.“ Weil allerdings die „Vertrauensfrage“ buchstäblich im Raum stand und es bei allen Visionen doch galt, der permanenten Datenschutz-Kritik zu begegnen, tat sich Telekom-Chef Obermann sehr leicht, beides vermeintlich in Einklang zu bringen. Vor allem Firmen, die geschäftskritische Anwendungen aus der Cloud beziehen wollen, verlangten nach Rechtssicherheit und garantierten Standards für Qualität und Stabilität, so Obermann. Das gelte gerade für die Datensicherheit. Deshalb seien die strengen deutschen Bestimmungen zum Datenschutz ein Standortvorteil für die „Cloud Made in Germany“.48 Natürlich mag diese Deutung auslegungsfähig sein.49 Es ist aber bezeichnend, dass ausgerechnet die vermeintlichen „Sales Blocker“ der „strengen Bestimmungen zum Datenschutz“ zum „Verkaufsschlager“ verkehrt werden. Wenngleich der Gedanke vom „Datenschutz als Geschäftsmodell“ einer gängigen Denkweise im Datenschutzrecht entspricht50, geht es aus Sicht eines deutschen Unternehmens doch eher um eine Abschottungsstrategie, wie dies etwa auf dem Markt sozialer Netzwerke schon länger von Unternehmen wie XING oder der VZ-Gruppe gegenüber dem amerikanischen Marktführer Facebook gepflegt wird.51 3. Fazit IT – zumal in einem globalen Markt – ist ein Milliardengeschäft. Eine Innovation wie Cloud Computing beflügelt Märkte und verheißt insbesondere durch die immanenten Skalierungsmöglichkeiten eine hohe Marktdurchdringung. Dies macht Cloud Computing zu einem volkswirtschaftlichen Faktor von unschätzbarer Größe. Dass dies aus Sicht nationaler Staaten industriepolitische Implikationen mit sich bringt, ist nicht näher erläuterungsbedürftig. So mag eine im Aufbau begriffene Marke „Cloud made in Germany“ nicht mehr als eine Fußnote in der weltweiten Compliance-Diskussion sein. Der darin sichtbare Trend zur Abschottung nationaler bzw. re47

Auf dieser Konferenz referierte der Verfasser dieser Studie zu „Cloud Computing zwischen Verantwortung und Vertrauen“, hierzu http://www.cloud-practice.de/news/cloud-computing-zwischen-vertrauen-und-verantwortung. Hierzu auch http://www.welt.de/print/welt_ kompakt/webwelt/article10147880/Revolution-aus-den-Wolken.html. 48 http://www.telekom.com/dtag/cms/content/dt/de/931006?printversion=true. 49 Differenzierend im Sinne einer Standortunabhängigkeit Heckmann, LTO v. 15. 11. 2010, http://www.lto.de/de/html/nachrichten/1929/cloud-made-in-germany-als-vertrauensgarant/ . 50 Vgl. Assion, Telemedicus v. 01. 04. 2010, http://www.telemedicus.info/article/1691-DasZeitalter-des-Datenschutzes-keinesfalls-vorbei.html. 51 Siehe zum Datenschutz in sozialen Netzwerken Erd, NVwZ 2011, 19 ff.

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gionaler Märkte ist unterdessen ein „Sales Blocker“ jedenfalls für solche Dienste, die, wie das Cloud Computing, ihren entscheidenden Effekt gerade in der grenzüberschreitenden Datenverarbeitung haben. Diese Hürde ist auch deshalb ernst zu nehmen, weil bestimmte Geschäftsmodelle nicht ihrer Konkurrenz willen, sondern aus vordergründigen Compliance-Erwägungen diskreditiert werden können. V. Ideologisierungstendenzen der fachlichen Ebene Für Cloud Dienste besteht ein erhöhtes Risiko einer „kalten Enteignung“ durch Standardisierung. Cloud Computing zeichnet sich durch eine hohe Skalierbarkeit (insbesondere durch Anpassung an unterschiedliche Bedarfe) und die damit einhergehende Innovationsoffenheit aus. Besonders autoritativ gesetzte (staatliche) Standards wirken als Störfaktor, unabhängig davon, ob sie bewusst oder unbewusst gegen bestimmte Erscheinungsformen des Cloud Computing gerichtet sind. 1. Standardisierung als erwartungssteigernde „Zauberformel“ „Standardisierung“ zählt zu jenen technisch-organisatorischen Vorkehrungen in heterogenen (IT-) Systemen, deren Begrifflichkeit durchweg positiv besetzt ist. Sie gelten als erstrebenswert und nützlich und dienen geradezu als „Zauberformel“, die Funktionsfähigkeit von Systemen (wieder-)herzustellen. Wesentliche Wachstums- und Servicepotentiale lassen sich durch eine Abstimmung von Standards und Interoperabilität erreichen.52 So übernimmt auch die Politik gerne Forderungen nach (IT-) Standardisierung in ihr Regulierungskonzept, um (vermeintliche) Missstände durch „Lösungen am Reißbrett“ zu beseitigen. Begriffe wie „Standard“ und „Interoperabilität“ werden immer häufiger genannt und finden zunehmend Eingang in die Gesetzessprache.53 Ein Beispiel für die rechtlich durchaus bedenkliche IT-Standardisierung im öffentlichen Sektor bietet SAGA.54 So plausibel die Forderung nach Standardisierung oft klingt (und zuweilen auch tatsächlich berechtigt ist), führt sie doch zu Problemen, die von der Rechtswissenschaft bislang kaum beachtet wurden. Dies liegt daran, dass sowohl der Begriff des „Standards“, insbesondere jener des IT-Standards, als auch seine rechtliche Einordnung und (Eingriffs-)Wirkung ungeklärt sind. Obwohl es bereits seit vielen Jahrzehnten Standardisierungsverfahren und -gremien auf nationaler und internationaler Ebene gibt, existiert bis heute kein anerkann-

52

Vgl. Kühn/Riedl/Spichiger, in: Schweighofer, Semantisches Web und Soziale Netzwerke im Recht, 2010, S. 131 ff. 53 Vgl. Art. 91c GG „Standards“, § 2 BSI-Gesetz „Sicherheitsstandards“; § 2 EGovG Schleswig-Holstein. 54 Hierzu aus verfassungsrechtlicher Sicht grundlegend Heckmann, CR 2006, 1 ff.

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ter bzw. einheitlich gebrauchter Rechtsbegriff des Standards.55 Dies liegt nicht zuletzt daran, dass „Standard“ sowohl im Kontext von Normen als auch im Zusammenhang mit Qualitätsmerkmalen verwendet wird. Bezogen auf Informationstechnik wird Standard56 zuweilen auch mit Interoperabilität57 gleichgesetzt oder verwechselt. Im Rahmen einer noch auszubildenden „Rechtstheorie der Standardisierung“ sollte unterschieden werden: Was sind Standards (Produktstandards, Verfahrensstandards, normierte Formate und Spezifikationen), wer ist zur Festlegung solcher Standards berufen und was soll mit dem Setzen von Standards rechtlich bewirkt werden? Diese Begriffs- und Abgrenzungsschwierigkeiten werden noch verstärkt, wenn man den Begriff „Interoperabilitätsstandard“ hinzunimmt: Zum Teil wird dieser Begriff für Softwarestandards verwendet, die aufgrund ihrer technischen Eigenheiten, einer etwaigen Lizenzfreiheit („offene Standards“) oder anderer Vertriebs- und Einsatzbedingungen ein besonderes Maß an Interoperabilität in einer vorgegebenen ITUmgebung gewährleisten. Genau genommen ist ein solcher Begriff entbehrlich, zumindest aber irreführend. Denn im Prinzip sorgt jeder Standard für Interoperabilität bezüglich jener IT-Komponenten, deren Verknüpfung sich an genau diesem Standard orientiert.58 Wenn man den Begriff „Interoperabilitätsstandard“ (IO-Standard) jedoch nicht in dieser redundanten Weise verwenden will, darf man ihn nicht als „Interoperabilität von Standards“ oder „Interoperabilität durch Standards“ verstehen, sondern im Sinne einer Standardisierung von Interoperabilität. Dann aber geht es um Standards im Sinne von Regeln (Normen), deren Einhaltung Interoperabilität (hier: das funktionale Zusammenwirken von Informationssystemen zum unmittelbaren Datenaustausch) sicherstellt. Das können technische oder Verfahrensstandards sein. Als technische 55

U.a. zum Begriff „Standard“ im allgemeinen Verständnis Steinmetz, IT-Standardisierung und Grundgesetz, 2010, S. 25 ff. 56 Von einem Standard kann man (allgemein) sprechen bei einer „Vereinbarung, welche für die Nutznießer eines Objekts in Bezug auf bestimmte Eigenschaften dieses Objekts von einer anerkannten Stelle als verbindlich getroffen wird“. Eine gesetzliche Definition von Standards findet sich nunmehr in § 2 Nr. 2 des E-Government-Gesetzes Schleswig-Holstein: „Im Sinne dieses Gesetzes sind Standards technische und prozessuale Standards. Ein technischer Standard ist die Festlegung einer technischen Vorgehensweise auf einem bestimmten Gebiet. Hierzu zählen insbesondere die Definition von Schnittstellen, die Festlegung von Datenschemata und von Daten- und Dateiformaten für die Speicherung, den Austausch sowie für die Beund Verarbeitung von Daten. Ein prozessualer Standard ist die Festlegung von organisatorischen Bedingungen oder der Vorgehensweise hinsichtlich des Verfahrens auf einem bestimmten Gebiet. Hierzu zählt insbesondere die Festlegung von zeitlichen und fachlichen Prozessschnittstellen.“ 57 Interoperabilität (für sich) ist die Eigenschaft eines heterogenen Systems, dessen Komponenten funktional zusammenwirken zu lassen. 58 In diesem Sinne konnte man den Standard für Videokassetten VHS auch als Interoperabilitätsstandard bezeichnen, weil er nämlich die Interoperabilität dieser Videokassetten mit VHS-Videorekordern gewährleistete. In ähnlicher Weise wird der Softwarestandard ODF auch als Interoperabilitätsstandard gehandelt, weil seine Verwendung Interoperabilität von Office Dokumenten verspricht.

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Spezifikation kommen besonders die Definition von Schnittstellen und die Festlegung einheitlicher Übertragungsprotokolle oder Konvertierungsprogramme in Betracht. Die Festlegung derartiger IO-Standards ist ein Signal an den Markt, die Weiterverwendungsmöglichkeiten von Informationen durch Schaffung technischer Übergänge zu erweitern, d. h. die (latente) Abschottungswirkung „proprietärer“ Systeme zu vermeiden oder zu überwinden. In einem Satz: Ein IO-Standard beschreibt die Normierung von Übergängen in einem heterogenen System. Die politische (und auch administrative) Forderung einer IT-Standardisierung weckt Erwartungen, die kaum erfüllbar sind. Komplexe heterogene IT-Systeme sind durch IT-Standards nur bedingt regulierbar. Vor allem können autoritativ (extern) gesetzte IT-Standards wie ein Fremdkörper wirken, der zu unerwünschten Anpassungen und Veränderungen des regulierten IT-Systems führt, ohne dass dies durch die erstrebten Schutzwirkungen zwingend veranlasst wäre. 2. Risiken einer unbedachten Standardisierung von Cloud-Technologien Unnötige oder sachfremd motivierte IT-Standards wirken sich in zweifacher Hinsicht negativ auf den Vertrieb aus: Zum einen haben es Cloud-Anbieter, deren Angebote in einem oder mehreren Punkten nicht standardkonform erscheinen, schwer, sich gegenüber Konkurrenzangeboten zu behaupten, die ihrerseits mit ihrer Standardkonformität werben werden. Zum anderen führen diffuse IT-Standards (soweit diese nicht „Gesetzeskraft“ haben) zu einer Verunsicherung der Entwicklungsabteilungen auf Anbieterseite, weil unklar bleibt, welchen Verbindlichkeitsgrad und welche „Halbwertszeit“ diese Cloud-Standards haben. Weiter können Risiken auch dahingehend bestehen, dass ein marktführender „Player“ Leistungen nach seinen Vorstellungen standardisiert und andere Unternehmen aufgrund der Marktdominanz dazu zwingt, diesen Standard auch zu akzeptieren. Cloud-spezifisch kann auf die Gefahr eines „Vendor-Lock-Ins“ verwiesen werden, also einer Herstellerabhängigkeit: Leistungen sind so spezifisch konfiguriert, dass ein Wechsel nur mit großem Aufwand durchführbar wäre. 3. Fazit Cloudbezogene IT-Standards wirken sich mittelbar auf die Verwirklichung von Cloud-Computing-Geschäftsmodellen aus. Sie haben – anders als gesetzliche Datenschutzbestimmungen – keine unmittelbare Verbots- oder Gebotswirkung. Vielmehr wirken sie im Regelfall wie eine Empfehlung an die Kunden, (nur) standardkonforme Angebote in Anspruch zu nehmen.

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Allerdings ist auch eine solch bloße Empfehlung nicht frei von rechtlichen Voraussetzungen. So kann IT-Standardisierung in Konflikt mit Verfassungs- und Vergaberecht geraten:59 IT-Standards haben eine erhebliche marktregulierende Wirkung, indem sie all jene IT-Produkte und Dienstleistungen vom Beschaffungsmarkt, insbesondere jenem der öffentlichen Hand, abkoppeln, die sich als nicht „standardkonform“ erweisen. Damit wird die unter Bedarfsgesichtspunkten notwendige Interoperabilität ohne Not durch einen Standardisierungsprozess gesteuert, der zudem mangels kohärenter Delegations- und Entscheidungsstrukturen intransparent bleibt. Der damit einhergehende faktische Grundrechtseingriff zu Lasten der verdrängten Marktteilnehmer bedarf der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung. Diese scheitert bereits am Fehlen einer gesetzlichen Grundlage für marktorientierte Technologievorgaben behördlicher Standardisierungsstellen. Die Empfehlung an die Kunden, (nur) standardkonforme Angebote in Anspruch zu nehmen, kann sich negativ auf Cloud-Angebote auswirken. Gerade weil die Forderung nach „Standardisierung“ positiv besetzt ist (die Marktteilnehmer assoziieren damit vielfach technisch notwendige Interoperabilität), wird ein – möglicherweise sachlich nicht gerechtfertigtes – Vertrauen in diese Standards gesetzt, was gerade vor dem Hintergrund der Datenschutzdiskussion beim Cloud Computing Kaufentscheidungen beeinflussen kann. Umgekehrt ist aber auch zu betonen, dass Cloud Computing in einem bestimmten Umfang Standards braucht. Es kommt nur darauf an, wer diese setzt bzw. in welchem Verfahren diese zustande kommen (autoritativ oder marktorientiert). Der „Sales Blocker“ ist deshalb nicht die Cloud-Standardisierung als solche, sondern sind gewisse Ideologisierungstendenzen bei dieser Standardisierung. Ähnlich wie dies schon bei der Open-Source-Debatte60 und bei SAGA (.NET vs. J2EE)61 zu beobachten war, ist das Risiko gegeben, dass Entscheidungsträger aus einer intransparenten und rechtlich schwer begründbaren Haltung heraus bestimmte Hersteller, ihre Produkte oder Geschäftsmodelle kritisieren und – eine offene Abwägung scheuend – das gewünschte Ergebnis in die Form „passender“ Standards kleiden. Dem müsste entgegengewirkt werden. VI. Destabilisierungstendenzen des Cloud Marketing Der Erfolg von „Cloud Computing“ steht und fällt mit der Gewinnung des Vertrauens der Marktteilnehmer. Vertrauensverlust ist der definitive „Sales Blocker“, Vertrauensstiftung dementsprechend der wesentliche Erfolgsfaktor. Aus Anbietersicht kommt es darauf an, die Definitionshoheit über die Vertrauenserwartungen zu erhalten. 59

Hierzu näher Heckmann, CR 2006, 1 ff. Hierzu Heckmann, CR 2004, 401 ff. 61 Hierzu Heckmann, CR 2006, 1 ff. 60

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1. Vertrauensverlust und Vertrauensvorschuss beim Cloud Computing Wenn es ein Wort gibt, das im Kontext der IT-Entwicklung in letzter Zeit geradezu inflationär gebraucht wird, dann ist es „Vertrauen“, das in diesem Kontext gar als Zauberwort62 bezeichnet wird. Je nach Standpunkt und Intention geht es einmal um das fehlende und einmal um das notwendige Vertrauen in Cloud-Angebote. Im Prinzip spitzt sich die gesamte Diskussion um Cloud Computing auf die „Vertrauensfrage“ zu: So bringt beispielsweise Katja Friedrich in ihrem Blogeintrag vom 30. 6. 201163 die Debatte auf den Punkt: „Cloud dreht sich nicht mehr nur um Infrastruktur und Software, sondern vielmehr um Mehrwerte, die über ein Cloud-Angebot geschaffen werden müssen. Laut Gartner wird sich der Nutzen eines Cloud-Angebotes von „Capacity on demand“ zu „Capability on demand“ verschieben. Wir schließen uns dieser Einschätzung an. Im Umkehrschluss bedeutet das für Unternehmen, dass sie einem Cloud-Partner großes Vertrauen entgegen bringen müssen. Vertrauen ist im Moment aber noch ein Hindernis für klassische Off-shoring-Cloudanbieter in Deutschland. In Synergie jedoch können deutsche und indische Cloud-Anbieter und IT-Dienstleister die Vertrauensfrage lösen. … Security, Safety, Privacy – diese Schlagworte sind nach wie vor große Herausforderungen beim Thema Cloud. Diese Überlegungen sind bei weitem nicht mehr theoretischer Natur, …. Auch hier gilt für Unternehmen: Vertrauen wird der Schlüssel sein müssen. Hundertprozentige Sicherheit gibt es nicht, aber vertrauenswürdige Partner.“

Und die PWC-Studie „Cloud Computing im Mittelstand“ formuliert: „Anbieter sollten daher alle zur Verfügung stehenden Zertifizierungen und Nachweise unabhängiger Dritter nutzen, um das zu tun, was offenkundig am meisten fehlt: Vertrauen schaffen.“64

In der Studie „XaaS Check 2010 – Status Quo und Trends im Cloud Computing“ kommen die Autoren der TU Darmstadt, IT Research und Wolfgang Martin Team zum Fazit: „Hindernisse für die Nutzung von Cloud Computing sind und bleiben die Themen Sicherheit, Vertraulichkeit, rechtliche Aspekte sowie Compliance-Anforderungen.“65

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http://www.ishpc.de/2011/05/31/zauberwort-vertrauen-die-cloud-im-mittelstand/. http://www.cirquent-blog.de/2011/06/30/cloud-was-zahlt-sind-vertrauen-und-mehr wert/. 64 http://www.pwc.de/de_DE/de/mittelstand/assets/Cloud_Computing_Mittelstand.pdf, Studie S. 33. 65 http://www.xaas-check.eu/download.php?cat=00_Willkommen&file=2010-XaaSCheck-Report.pdf. 63

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So resümiert auch Dr. Guido Möllering, Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Köln, in seiner Untersuchung über Cloud Computing aus der Sicht der Vertrauensforschung66 unter der Überschrift „Verantwortung zeigen“: „So wird es auch im Cloud Computing über alle Bemühungen um fehlerfreie Technologien, lückenlose Rechtsapparate, konsequente Aufsichtsinstanzen und vorsorgliche Versicherungen hinaus immer nötig sein, dass die Beteiligten signalisieren, dass sie Verantwortung für das System tragen wollen – auch über ihre individuellen Verpflichtungen hinaus. Geschieht dies, werden sich viele weitere Akteure in die Wolke hineinwagen. Ich habe in meinem Vortrag herausgestellt, dass es in der Internet Cloud vor allem auf generalisiertes Vertrauen und Vertrauen in abstrakte Systeme ankommt. Wo technische Sicherungsmechanismen an Grenzen stoßen, müssen die verbleibenden Lücken durch soziale Mechanismen geschlossen werden. Daher gilt es, Gelegenheiten zu schaffen und zu nutzen, bei denen die das System tragenden Akteure in Erscheinung treten, ihre Verantwortungsbereitschaft beweisen und auch gegen die vorgehen, die verantwortungslos handeln – egal, ob diese auf der Seite der Anbieter, der Nachfrager oder der Behörden stehen. Es geht nicht um absolute Sicherheit, sondern um den guten Willen. Der allein reicht wiederum auch nicht aus – das wäre ja weltfremd – aber er muss stets erkennbar sein, wenn Cloud Computing mit Vertrauen effizienter oder überhaupt erst in der Breite möglich werden soll.“

Auch auf der Cebit 2011, die Cloud Computing als herausragendes Thema platzierte, wurden Vertrauensdefizite hervorgehoben.67 2. Definitionshoheit über die Vertrauenserwartungen Vertrauen hängt mit Erwartungen zusammen.68 Wenn etwa Cloud-Kunden den Diensten und Services ihrer Anbieter Vertrauen schenken, dann verknüpfen sie damit eine bestimmte Erwartung, etwa im Hinblick auf deren fachliche Kompetenz oder dahingehend, wie ihr Vertragspartner mit ihren Daten und den damit verbundenen Interessen (im Krisenfall) umgeht.69 Wer wiederum bestimmten Anbietern oder Angeboten misstraut, drückt damit auch eine (negative) Erwartung aus, nämlich dass jene Akteure die (vielleicht hochgesteckten) Anforderungen an die Verfügbarkeit, Vertraulichkeit oder Integrität der ausgelagerten Daten nicht erfüllen. Wenn Vertrauen also der wesentliche (Miss-) Erfolgsfaktor für Cloud Computing ist und die Investition von Vertrauen im Wesentlichen mit der Erfüllbarkeit von Vertrauenserwartungen zusammenhängt, ist es für einen Anbieter von entscheidender Bedeutung, die Definitionshoheit über diese Vertrauenserwartungen nicht zu verlieren. Welche Erwartungen bzw. Anforderungen an Cloud-Computing-Dienste gestellt werden, hängt auch damit zusammen, wie der Anbieter den Inhalt seines Angebots, 66

http://www.mpifg.de/people/gm/downloads/MK_Moellering_VernebeltesVertrauen_Do kumentation_100209.pdf. 67 http://www.welt.de/wirtschaft/webwelt/article12660443/Auf-der-Cebit-kaempfen-dieKonzerne-um-Vertrauen.html. 68 Luhmann, Vertrauen, 4. Aufl. 2000, S. 103 ff. 69 Zu Vertrauen in virtuellen Räumen, Heckmann, K&R 2010, 1 ff.

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die eigene Kompetenz zu dessen Erfüllung und den Umgang mit verbleibenden Risiken kommuniziert. Hier wird es besonders darauf ankommen, keine übertriebenen und damit praktisch unerfüllbaren Erwartungen aufkommen zu lassen. So ist es eine große Herausforderung an das Cloud Marketing, die Vorzüge, den Mehrwert und damit verbundene Leistungsversprechen zu verbreiten, ohne die jeweiligen Risiken und Einschränkungen im Portfolio zu verschweigen. 3. Fazit Die Diskussion um fehlendes Vertrauen, Vertrauensdefizite oder Misstrauen in Cloud Computing erweist sich als wesentlicher „Sales Blocker“. Man kann insoweit von Destabilisierungstendenzen sprechen. Innovationen haben es per definitionem ohnehin schwer, Vorbehalte gegenüber dem Neuen, dem Unbekannten, dem Riskanten auszuräumen. Das wird noch gesteigert, wenn solche Vorbehalte mit einem diffusen, generalisierenden „Misstrauen“ gegenüber Geschäftsmodellen begründet werden, die bestimmte Risiken implizieren und diese über einen dezidierten Mehrwert der Transaktion zum Ausgleich bringen.70 Alleine schon der Umstand, dass die „Vertrauensfrage“ im Kontext des Cloud Computing permanent aufgeworfen wird, verhindert die Etablierung eines stabilen Cloud-Marktes, in dem es nicht – wie bei anderen Produkten und Dienstleistungen – um Qualität, Preis und Service, sondern um die Legitimität der Innovation als solche geht. VII. Ausblick: Compliance- und Risikomanagement als Enabler des Cloud Computing Betrachtet man die wesentlichen „Sales Blocker“ für Cloud-Computing-Angebote, nämlich die – Beharrungstendenzen der Rechtsordnung, – Pauschalisierungstendenzen im politischen Diskurs, – Abschottungstendenzen der Wirtschaftsordnung, – Ideologisierungstendenzen der fachlichen Ebene, – Destabilisierungstendenzen des Cloud Marketing, dann sind es letztlich die Risiken, die Teile der Politik, Medien und Gesellschaft in der Veränderung der IT-Strukturen durch das Cloud Computing sehen bzw. prognostizieren. Diese – zumindest subjektiv wahrgenommenen – Risiken führen zu einem Abwehr- bzw. Vermeidungsverhalten der Juristen in der Anwendung und Fortent70

Dieses Phänomen könnte eventuell über eine Einbeziehung von Erkenntnissen der spieltheoretischen Vertrauensforschung erklärt werden, was an dieser Stelle nur angedeutet werden kann. Vgl. zum Einstieg Peng-Keller, Vertrauen verstehen, Hermeneutische Blätter 1/ 2 – 2010, S. 12 (http://www.vertrauen-verstehen.uzh.ch/personen/peng-keller/HBl2010_1_ 2_Peng_Keller.pdf).

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wicklung des Rechts gegenüber Innovationen. Sie bringen die Politik dazu, die notwendige Diskussion um Auswirkungen der neuen Services auf einer so hohen Abstraktionsebene zu führen, dass eine wirkliche Entscheidung vermieden wird, damit in diesem Kontext keine eigene Verantwortung übernommen werden muss. Es sind aber nicht nur technische Unsicherheiten im Hinblick auf die Verfügbarkeit, Vertraulichkeit und Integrität von Daten, die als Risiko wahrgenommen werden. Vielmehr wird der Einfluss bestimmter international agierender Player auf heimische Märkte als weiteres Risiko gesehen, was einen Schutzinstinkt gegenüber nationalen Anbietern auslöst. Schließlich kann man die Kommunikation dieser Risiken als weiteres, eigenes Risiko, nämlich jenem der Destabilisierung, begreifen. Nachdem diese Risiken auf einer rein fachlichen und rationalen Basis nicht beseitigt werden können, und jedwede Regulierung des Cloud Computing (außerhalb eines unsinnigen und ohnehin nicht erwünschten Totalverbots) nur unvollkommene Verbindlichkeiten begründen kann, geht es aus Sicht der Cloud-Anbieter letztlich um ein adäquates Compliance- und Risikomanagement. Dieses kann Enabler des Cloud Computing sein. 1. Netzpolitisch: Schaffung neuer Vertrauensstrukturen Die kurze Analyse der Rechtslage und der rechtspolitischen Implikationen der aktuellen Cloud-Diskussion hat gezeigt, dass Cloud Computing auf längere Sicht mit dezidierten Unsicherheitsfaktoren behaftet sein wird. Weder eine eindeutige „Öffnungsklausel“ für weitergehende IT-Outsourcing-Dienste (etwa im Sinne einer Novellierung oder Ergänzung des § 11 BDSG) noch der Versuch einer strengen Regulierung zur Minimierung (etwa im Sinne einer konkretisierenden Verschärfung des § 11 Abs. 2 BDSG) sind zu erwarten. Das deshalb aus Anbietersicht vorzugswürdige Compliance- und Risikomanagement-Konzept sollte – gleichsam proaktiv – kurzfristig auf neue Vertrauensstrukturen und langfristig auf eine neue Vertrauenskultur setzen. Vertrauen bedeutet, trotz Ungewissheit und Verwundbarkeit zu erwarten, dass andere ihre Freiräume kompetent und verantwortungsvoll nutzen.71 Erst Vertrauen macht die Akteure in einem komplexen System wie der Cloud-Infrastruktur handlungsfähig. Notwendig ist ein generalisiertes Vertrauen, eine vertrauensvolle Grundeinstellung, die nicht Anbieter gegen Nachfrager ausspielt, sondern eine „Koalition der Verantwortungsvollen gegen Betrüger und Trittbrettfahrer“ bildet.72 Ebenso gehört eine gewisse Fehlertoleranz und eine „Kultur des konstruktiven Problemlösens“ zu einer neuen Vertrauenskultur: Vertrauen wird nämlich „nicht schon dadurch zerstört, dass ein Problem auftritt, sondern erst dadurch, dass die betreffenden Akteure 71

Möllering, Vernebeltes Vertrauen? Cloud Computing aus Sicht der Vertrauensforschung, 2011, S. 4, http://www.mpifg.de/people/gm/downloads/MK_Moellering_VernebeltesVertrauen_Dokumentation_100209.pdf. 72 Möllering, Vernebeltes Vertrauen?, a.a.O., S. 5.

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das Problem nicht lösen, sondern sich als inkompetent erweisen oder sich gar ihrer Verantwortung entziehen“.73 Flankiert wird ein solches System durch Kontrollen, die aber den Freiraum der Akteure des vertrauenswürdigen Systems nicht in Frage stellen dürfen, sondern im Gegenteil das Vertrauen darin stärken, indem sie (alleine) den Vertrauensmissbrauch im Visier haben. Dass die Kontrolleure ihrerseits um Vertrauen werben müssen, widerspricht diesem Prinzip nicht, sondern bestätigt es. 2. Formaljuristisch: Entwicklung neuer Einwilligungsprozesse Datenschutzrechtlich umgemünzt wird ein Compliance- und Risikomanagement beim Cloud Computing auf die Entwicklung neuer Einwilligungsprozesse setzen müssen.74 Will man nämlich nicht alleine auf eine Rechtfertigung durch gesetzliche Ermächtigung angewiesen sein, lässt sich eine (gar hohe) Legitimation der Verlagerung von persönlichen und geschäftlichen Daten „in die Wolke“ am ehesten durch Einwilligung jener erreichen75, um deren Daten bzw. Interessen es bei dieser Datenverarbeitung geht. Weil man de lege lata aber bezweifeln kann, ob eine wirksame informierte Einwilligung durch konventionelle Datenschutzpolicies oder AGBs erzielt werden kann, gilt es, die Vorteilhaftigkeit und Vertrauenswürdigkeit der eigenen Cloud-Infrastruktur, ihrer Akteure und Prozesse, gegenüber den Betroffenen so zu verdeutlichen, dass diese ernsthaft bereit sind, die offen gelegten (Rest-)Risiken einzugehen. Die Schaffung von Transparenz ist der maßgebliche Legitimationsfaktor für eine daraufhin erteilte Einwilligung zum IT-Outsourcing. 3. Dogmatischer Rechtfertigungsansatz: Risikoabwägung i.S.d. § 9 S. 2 BDSG Rechtsdogmatische Grundlage für das Konzept des Compliance- und Risikomanagements ist § 9 S. 2 BDSG. Danach sind Maßnahmen zur Gewährleistung von ITSicherheit nur erforderlich, „wenn ihr Aufwand in einem angemessenen Verhältnis zu dem angestrebten Schutzzweck steht“. Das Datenschutzrecht verdeutlicht mit dieser Regelung, dass es keinen „Datenschutz um jeden Preis“ gibt.76 So ist auch bei der 73

Möllering, Vernebeltes Vertrauen?, a.a.O., S. 6. Neuartige Einwilligungsprozesse werden auch bei der allgegenwärtigen Datenverarbeitung im Smart Life gefordert, vgl. dazu den Ansatz des Smart Privacy Managements, Heckmann, K&R 2011, 1 (5). 75 Kritisch Niemann/Hennrich CR 2010, 686 (688), die davon ausgehen, dass die Einwilligung von Datensubjekten cloud-spezifisch nicht von Relevanz sein kann. Nicht nur kann diese jederzeit widerrufen werden, sondern bestehen auch Schwierigkeiten, diese durch AGB und abstrakt für alle möglichen Datenverarbeitungen in einer Cloud herbeizuführen. 76 Dies entspricht auch der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung, wonach der „Einzelne nicht ein Recht im Sinne einer absoluten, uneinschränkbaren Herrschaft über „seine“ Daten [hat]“ vgl. BVerfGE 65, 1, 43 f. 74

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Auftragsdatenverarbeitung im Rahmen von Cloud-Computing-Diensten zur Sicherung sowohl der personenbezogenen Daten selbst als auch ihrer Verarbeitungsprozesse (nur) jenes Schutzniveau zu „gewährleisten, das den von der Verarbeitung ausgehenden Risiken und der Art der zu schützenden Daten angemessen ist.“77 Dabei sind der Stand der Technik und die bei der Durchführung von Sicherungsmaßnahmen entstehenden Kosten zu berücksichtigen. Leitlinien für die Abwägung sind der konkrete Schutzbedarf und das Schadenspotenzial.78 Dies läuft im Ergebnis auf eine Risikoanalyse heraus, weil „absolute Sicherheit in vernetzten Systemen selbst mit erheblichem Aufwand kaum erreichbar ist. Es gilt stattdessen, ausreichende Hürden gegen einen Missbrauch der Systeme und angemessene Vorkehrungen gegen Störungen zu planen, umzusetzen und regelmäßig im Hinblick auf ihre Wirksamkeit zu kontrollieren“.79 Am Ende gilt es, ein adäquates Schutzniveau80 für den Schutz konfligierender Interessen und Rechtsgüter zu erreichen. Dies beginnt mit einer politisch überzeugenden und rechtsdogmatisch konsistenten Bestimmung des richtigen Maßes von IT-Sicherheit bzw. Datenschutz. Das darauf aufbauende Risikomanagement-Konzept schafft Transparenz, Vertrauen und Dispositionssicherheit. Dies löst auf lange Sicht die hier vorgestellten „Sales Blocker“ auf.

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Schultze-Melling, in: Taeger/Gabel, BDSG, 2010, § 9 Rn. 19. Schultze-Melling, in: Taeger/Gabel, BDSG, 2010, § 9 Rn. 21 ff. 79 So zutreffend Schultze-Melling, in: Taeger/Gabel, BDSG, 2010, § 9 Rn. 28. 80 Hierzu grundsätzlich Heckmann/Seidl/Maisch, Adäquates Sicherheitsniveau in der elektronischen Kommunikation, 2012, passim. 78

Verfassungswandel im Bild: Werner Tübkes „Herbst ’89“ Von Erk Volkmar Heyen, Greifswald I. Über Verfassungswandel läßt sich nicht nur sprechen und schreiben, man kann ihn auch ins Bild setzen. Das Erste machen Staatsrechtler gern, das Zweite ist ihre Sache nicht, sollte aber ihr Interesse wecken, sobald sie sich vergegenwärtigen, daß im Bild etwas veranschaulicht sein kann, über das sich zwar auch sprechen und schreiben ließe, aber nicht in der dem Bild eigenen, ästhetisch komprimierten Weise. Die Verfassungsikonographie ist freilich kaum entwickelt1 und nur vergleichsweise wenig mit auch künstlerisch bedeutsamen Werken der Malerei verbunden. Diese erhalten ihren Verfassungsbezug teils aus der Schilderung von Ereignissen, die im Zusammenhang mit einer bestimmten Verfassungsgebung stehen, teils aus der inhaltlichen Kennzeichnung der in den Blick genommenen Verfassung. Bekannte, ja berühmte Bildbeispiele für eine Ausrichtung auf verfassungsrelevante Ereignisse sind „Der Schwur im Ballhaus“ von Jacques-Louis David (1748 – 1825)2 und „Die Freiheit führt das Volk“ von Eugène Delacroix (1798 – 1863)3, zwei Werke mit Bezug auf die französischen Revolutionen von 1789 bzw. 1830. Nennen läßt sich hier aber auch „Die Proklamierung des Deutschen Kaiserreiches“ von Anton von Werner (1843 – 1915).4 Die erste Fassung dieses Werkes, die im Berliner Stadtschloß Aufnahme fand, aber dort im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde, feiert zusammen mit der Reichsproklamation im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles die siegreiche deutsche Waffenbrüderschaft als Voraussetzung der Reichsgründung, jedoch als eine Angelegenheit nicht des Volkes, sondern der 1 Vgl. jüngst U. Fleckner u. a. (Hg.), Handbuch der politischen Ikonographie [hinfort: HPI], 2 Bände, 2011. Um den Verfassungsbezug dieses verdienstvollen Handbuchs zu erschließen, darf man sich nicht auf M. G. Müller, Art. „Verfassung“, Bd. II, 514 – 520, beschränken, vielmehr muß man noch unter weiteren Stichworten nachschlagen, die freilich ebenfalls nur aspekthaft abgehandelt werden. 2 „Le Serment du Jeu de Paume“, 1790 begonnen, 1792 unvollendet aufgegeben; W. Kemp, Das Revolutionstheater des Jacques-Louis David. Eine neue Interpretation des „Schwurs im Ballhaus“, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft, 1996 (21), 165 – 184. 3 „La Liberté guidant le peuple“, vollendet 1831; N. Hadjinicolaou, „Die Freiheit führt das Volk“ von Eugène Delacroix. Sinn und Gegensinn, 1991. 4 Vollendet 1877; Th. W. Gaehtgens, Anton von Werner „Die Proklamierung des Deutschen Kaiserreiches“. Ein Historienbild im Wandel preußischer Politik, 1990.

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Fürsten, eine Sicht, die sich ja auch in der Ausgestaltung der Reichsverfassung von 1871 niedergeschlagen hat. Für den zweiten, auf eine inhaltliche Verfassungskennzeichnung zielenden Bildtyp läßt sich als Beispiel vor allem ein Werk von Jean-Baptiste Regnault (1754 – 1829) anführen, das in der Kunsthalle Hamburg ausgestellt ist und daher nicht wenigen Staatsrechtlern aus eigener unmittelbarer Anschauung bekannt sein dürfte: „Freiheit oder Tod“.5 Es handelt sich um die kleinformatige Fassung eines sehr viel größeren Werkes, das von 1799, noch unter der Direktorialverfassung, bis 1804, als Napoléon Bonaparte seine inzwischen durch Staatsstreich und Plebiszit durchgesetzte Konsulatsherrschaft in ein Kaisertum überführte, in den Räumlichkeiten der Legislative, dem Palais Bourbon, zu sehen war, dann aber aufgrund politischer Inopportunität in den Louvre abgeschoben wurde, von dort 1872 in ein Provinzmuseum gelangte und heute als verschollen gilt, wahrscheinlich aber durch Kriegseinwirkung zerstört wurde. Die Anfänge der Bildfindung, insbesondere die staatliche Anregung dazu, fallen noch in die Zeit vor der Ausrufung der Republik, doch erfolgte die erste öffentliche Ausstellung erst im September 1795, also nach dem Sturz Robespierres. Das Bild reflektiert nicht nur, wie man angesichts seines auf den Maler selbst zurückgehenden Titels zunächst annehmen könnte, die revolutionären Straßenparolen der sans-culottes, jener die aristokratische Bundhose verachtenden Kleinbürger, die mit Pike und Säbel bewaffnet auf der Straße den Forderungen der intellektuellen Jakobiner drastischen Nachdruck gaben und zum Durchbruch verhalfen, sondern vielmehr die Verfassung von 1793, die als Folge der von ihr anerkannten Menschenrechte ein Widerstandsrecht gegen Unterdrückung, ja sogar unter Umständen eine Aufstandspflicht kannte (Art. 33, 35) und sich darüber hinaus der Obhut aller Tugenden anvertraute (Art. 123).6 Von den drei bildbestimmenden allegorischen Personifikationen sei hier nur auf jene kurz eingegangen, die in junger weiblicher Gestalt die revolutionäre Republik verkörpert. In entspannter, volkstümlicher Haltung hat sie auf einem Thron Platz genommen, verklärt durch das überweltliche Leuchten eines Sterns über ihrem Kopf. Charakterisiert wird ihre Herrschaftsweise durch die zwei Maßstabszeichen, die sie mit ihren Händen in die Höhe hält: eine rote Jakobinermütze, als Zeichen der Freiheit (liberté), und ein Richtscheit (Dreieck mit Lot), als Zeichen der Gleichheit (égalité), insbesondere – da auch in der tradierten Gerechtigkeitsikonographie geläufig – der Gleichheit im Recht. Den Verfassungshistoriker wird es nicht wundern, daß ein Zeichen der Brüderlichkeit (fraternité) fehlt, denn anders als Freiheit und Gleichheit wird die Brüderlichkeit ja erst in der französischen Verfassung von 1848, 5 „La Liberté ou la mort“, vollendet 1794; G. Walczak, Jean-Baptiste Regnault (1754 – 1829), [Inventarnummer] 510: „Freiheit oder Tod“, in: U. M. Schneede / M. Sitt (Hg.), Die Sammlungen der Hamburger Kunsthalle, Bd. I, 2007, 266 – 269; A. Stolzenburg, Freiheit oder Tod – ein mißverstandenes Werk Jean-Baptiste Regnaults?, in: Wallraf-Richartz-Jahrbuch, 1987/88 (48/49), 463 – 472. Zum ikonographischen Umfeld s. K. Herding / R. Reichardt, Die Bildpublizistik der Französischen Revolution, 1989. 6 M. Duverger, Constitutions et documents politiques, 13. Aufl. Paris 1992, 81 und 88.

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Abb. 1: Werner Tübke, „Herbst ’89“, 1990 (© VG Bild-Kunst, Bonn 2012)

also für die Zweite Republik, zum tragenden Prinzip. Es besteht daher kein Anlaß, das neben die Thronwange gelegte und mit einem Band in den Farben der Trikolore umwickelte Rutenbündel zum Zeichen der Brüderlichkeit zu erklären, wie es des öfteren in der kunsthistorischen Literatur geschehen ist und noch immer geschieht.7 Das Rutenbündel war grundsätzlich nur ein Herrschaftszeichen und als solches schon dem ancien régime vertraut. Eine gewisse Maßstabsfunktion konnte es allenfalls insofern erlangen, als es die unteilbare Einheit der Republik (la République une et indivisible) evozieren half, um damit den konterrevolutionären Bestrebungen einer Föderalisierung Frankreichs entgegenzutreten. Von einer solchen, auf Lesbarkeit achtenden Visualisierung verfassungsrechtlicher Prinzipien ist das hier zu besprechende, zweihundert Jahre nach der französischen Revolution von 1789 entstandene Werk von Werner Tübke (1929 – 2004), einer der großen Namen in der Malerei der DDR und nun auch des wieder verei7 So jüngst erst wieder Walczak (Fußn. 5), 266 f., und leider auch schon, in einem sonst vieles klärenden Beitrag, Stolzenburg (Fußn. 5), 464. Bei H. Meller, Liberté, Égalité, Fraternité: Revolutionäre und Konterrevolutionäre Dreifaltigkeiten, in: D. Harth / J. Assmann (Hg.), Revolution und Mythos, 1992, 104 – 127 (105), wird das Bild sogar in seinem Titel verändert („Liberté, Égalité, Fraternité ou la Mort“), um es der angeblich verfassungsmäßig verankerten Prinzipientrias gefügig zu machen. Zu deren Geschichte s. M. Borgetto, La devise „Liberté, Égalité, Fraternité“, Paris 1997.

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nigten Deutschland, offensichtlich weit entfernt. „Herbst ’89“ (Abb. 1)8 – ein eher kleines Bild, von einer lichten, gedämpften Farbigkeit, welche der detailreichen, zarten Zeichnung die Wirkung beläßt – betrifft zwar ebenfalls eine große politische Revolution: die „friedliche Revolution“, die zum Ende der DDR führen sollte, jedoch scheint es von dem Ereignis nur erzählen zu wollen. Bildbeherrschend ist eine hohe Betonmauer, die den natürlichen Horizont verbirgt, aber an einer Stelle eingerissen worden ist, dadurch hier nunmehr den Blick freigibt in eine offene Landschaft und einem breiten Menschenstrom freie Bahn gewähren muß, vorbei an jenen, die mit Demonstrationsschildern, Mahn- und Gedenkkerzen sowie Leitern versehen soeben diesen Mauerdurchbruch erreicht haben9. Auch ohne Einfügung staatlicher Hoheitszeichen ist die Anspielung auf die DDR und die den Mauerfall herbeiführenden Ereignisse im Oktober und November 1989 eindeutig. Sie wird in ihrem politischen Gehalt noch dadurch verstärkt, daß neben dem umgestürzten Mauerstück eine ebenfalls umgestürzte Denkmalsbüste liegt. Zugleich zeigt sich darin aber auch ein sinnbildlicher, die bloße Ereigniserzählung übersteigender Gehalt. Auffällig ist insofern weiterhin, daß auf der Mauer, die ohne Grenzsicherungspersonal und ohne Wachttürme, Stacheldraht sowie andere sie begleitende Grenzsicherungsanlagen erscheint, geflügelte Engel plaziert sind und einige bunt kostümierte Theaterfiguren das umgestürzte Mauerstück als Bühne nutzen, zu höchst ausgelassenem Treiben, aber auch nachdenklichem Innehalten. In solchen eigensinnigen Akzenten stets nur künstlerische Freiheit ohne semantische Relevanz zu vermuten, hieße Tübke zu unterschätzen. Er ist ein Maler, dessen bildnerisches Gestalten sich insbesondere in der Auseinandersetzung mit den Meistern frühneuzeitlicher Malerei entwickelt hat und der in seine Bilder gern kunsthistorische Zitate hat einfließen lassen, die der Interpretation Denkanstöße vermitteln, indem sie den Augenschein des Gegenwärtigen durch Erinnerung an ein Vergangenes kommentierend überlagern, freilich ohne daß diese Denkanstöße zur Herausarbeitung eines klaren, geschlossenen Sinnganzen führen müßten.10 Für 8 Vollendet 1990; Mischtechnik auf Holz, 59,5 x 75,5 cm (Leipzig, Sammlung der Verbundnetz Gas AG); Farbabbildung bei B. Tübke-Schellenberger / G. Lindner (Hg.), Werner Tübke. Das malerische Werk. Verzeichnis der Gemälde 1976 bis 1999 [Ausstellungskatalog (hinfort: AK) Bad Frankenhausen], 1999, 212, und H.-W. Schmidt (Hg.), Tübke. Die Retrospektive zum 80. Geburtstag [AK Leipzig und Berlin], 2009, 190, sowie in dem vom Bildeigentümer herausgegebenen Katalog: Sammlung Zeitgenössische Malerei und Grafik, 2006, 271. 9 Man könnte meinen, daß ein derartiges Bild im HPI (Fußn. 1), insbesondere von W. Kemp, Art. „Volksmenge“, in: Bd. II, 521 – 529, berücksichtigt wird, doch ist dies nicht der Fall. 10 Zur Einschätzung von Maler und Werk s., neben Tübke-Schellenberger / Lindner (Fußn. 8), H. Behrendt, Die Leipziger Malschule und Werner Tübke, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte, 2008 (71), 101 – 120; U. Garvert, Werner Tübke und die Verläßlichkeit der Diskontinuität, in: Museum Giersch (Hg.), Mattheuer, Tübke, Triegel. Eine Frankfurter Privatsammlung [AK Frankfurt a.M.], 2007, 101 – 125; E. Beaucamp, Die Macht der Erinnerung – Geschichtsphantasie und Geschichtsreflexion im Werk Werner Tübkes, in: M. Zuckermann (Hg.), Geschichte und bildende Kunst (= Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte, Bd. 34), 2006, 293 – 308; G. Meißner, Werner Tübke – Leben und Werk, 1989.

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„Herbst ’89“ gibt es bislang keine eindringlichen Besprechungen.11 Die folgende erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern beschränkt sich auf drei Aspekte des im Mauerfall angedeuteten grundlegenden Verfassungswandels, der die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten ermöglichte. Sie betreffen sämtlich das Denken und Handeln des Volkes, nämlich seine Verblendung und Aufklärung (II.), seine Einmütigkeit im Verlangen nach Wandel (III.) und seine bleibende Verführbarkeit (IV.).12 II. Der Aspekt der Verblendung und Aufklärung des Volkes verbindet sich mit der Mauer, den in ihrem Schatten stehenden, Kerzen tragenden Demonstranten und den Engeln auf ihr.13 Daß die Mauer den Blick verstellt und dadurch die Orientierung einschränkt, ihre Öffnung daher wie eine Befreiung des Denkens und Handelns wirkt, wurde bereits festgehalten. In welchem Zusammenhang aber stehen damit Kerzenträger und Engel? Da die Engel links und rechts der Maueröffnung plaziert sind, mögen sie zunächst an dekorative Statuen erinnern, wie man sie – z. B. als Fanfarenbläser, allegorische Personifikationen oder Wappenträger – auf den frühneuzeitlichen Ehrenpforten findet, mit denen bedeutende Städte bei Gelegenheit von Krönungen, Friedensschlüssen und ähnlich wichtigen Ereignissen den Einzug ihrer Landesherren feierten. Aber hier geht es nicht um Fürsten oder andere höchste Würdenträger, sondern um das gemeine Volk. Auch hat der Einzug der Menschenmenge selbst nichts sonderlich Festliches, geschweige denn Triumphales an sich, vielmehr wirkt er zwar neugierig, aber bedächtig, nicht begeistert, sondern erstaunt. Ferner fällt auf, daß die Engel auf das menschliche Geschehen unter sich Einfluß nehmen. Sie halten große, goldumrandete Schalen in den Händen, mit denen sie aus himmlischer Sphäre eine geheimnisvolle Kraft, die als Lichtstrom in Erscheinung 11 Ein nur kurzer Kommentar findet sich in dem von der Verbundnetz Gas AG herausgegebenen Katalog (Fußn. 8): M. Michael, Bildsuche in Transiträumen: VNGart – Sammlung Zeitgenössische Malerei und Grafik, 11 – 16 (16): „Sieben Engel stehen und knien auf der Mauer, empfangen göttliche Sendung und geben sie nach unten weiter. Dort aber ist heillose Verwirrung entstanden: Denkmalssturz und Folter, Sturz und Verzückung, Ratlosigkeit im Gedränge. Tübke holte sich das Personal aus den Tumulten früherer Bilder. Unordnung und Fieber dominieren die Welt.“ Eine Folterszene kann ich nicht entdecken. 12 Für eine anregende Diskussion danke ich meinem Kollegen Kilian Heck vom CasparDavid-Friedrich-Institut unserer Greifswalder Universität. 13 Mauern sind in der politischen Ikonographie ein eigenes Thema, insbesondere die Berlin und Deutschland teilende Mauer. B. Drechsel, Art. „Mauer“, in: HPI (Fußn. 1), Bd. II, 130 – 136, konzentriert sich auf die Photographie und nennt keine Gemälde. Ein frühes Beispiel stammt von Franz Radziwill, eine bittere, entschlossen antikommunistische Anklage: „Die Berliner Mauer“, vollendet 1962; W. Seeba, Franz Radziwill: Magie der Städte [AK Bremen], 1995. Die umfangreiche Bestandsaufnahme von A. Kuhrmann, An der Grenze. Künstler aus Ost und West sehen die Berliner Mauer, in: dies. u. a., Die Berliner Mauer in der Kunst. Bildende Kunst, Literatur und Film, 2011, 13 – 198, erwähnt leider weder Radziwills noch Tübkes Bild.

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Abb. 2: Tübke, Detail aus Abb. 1

tritt, einfangen und in die irdische Sphäre weiterleiten, nämlich zu den Kerzenträgern und anderen Demonstranten am Fuß der Mauer (Abb. 2). Solche Schalen in Engelhand finden sich bereits, wenngleich in einem apokalyptischen Zusammenhang, in Tübkes monumentalem Panoramabild „Frühbürgerliche Revolution in Deutschland“14, dem im thüringischen Bad Frankenhausen ein eigenes Museum gewidmet ist, das kurz vor Beginn der Leipziger Montags-Demonstrationen eröffnet wurde. Sie sind aber nicht Tübkes eigene Erfindung, sondern lassen sich auf barocke religiöse Malerei zurückführen, wo sie die Ausstrahlung des Heiligen Geistes veranschaulichen helfen.15 Ihre Aufnahme in „Herbst ’89“ bedeutet, daß die 14 1987 vollendet; Farbabbildungen bei Tübke-Schellenberger / Lindner (Fußn. 8), 167 – 170 (Gesamtansicht) und, für das hier interessierende Detail, 181 (Sektor IV: Große Wiese). Zum Werk selbst s. H. Behrendt, Werner Tübkes Panoramabild in Bad Frankenhausen. Zwischen staatlichem Prestigeobjekt und künstlerischem Selbstauftrag, 2006. 15 Ein herausragendes Beispiel findet sich in dem 1694 vollendeten Deckengemälde von Andrea Pozzo (1642 – 1709) im Langhaus von S. Ignazio di Loyola in Rom, einer Allegorie der weltweiten Mission der Jesuiten; Farbabbildungen bei C. Strinati, Gli affreschi nella chiesa di Sant’Ignazio a Roma, in: V. De Feo / V. Martinelli (Hg.), Andrea Pozzo, Mailand 1996, S. 66 – 93 (72 – 73 Gesamtansicht, 77 Detail). Pozzo selbst nennt das von Gnadenstrahlen getroffene Gerät freilich nicht Schale oder Spiegel, sondern Wappenschild („scudo“) und schmückt es mit dem von einem Kreuz überhöhten Christusmonogramm, wie es den Jesuitenorden kennzeichnet; s. Ch. Hecht, Die Glorie. Begriff, Thema, Bildelement in der

Verfassungswandel im Bild: Werner Tübkes „Herbst ’89“

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Abb. 3: Jan Saenredam, „Antrum Platonicum“, 1604 (aus van Thiel [Fußn. 17], Abb. 115)

Maueröffnung hier nicht nur als Menschenwerk angesehen wird, sondern auch als glückliche Fügung einer übergeordneten Macht, die aufgrund der verwendeten Ikonographie christlich konnotiert erscheint. Der Kontrast zwischen den schüchternen irdischen Kerzenträgern und den schwungvollen himmlischen Lichtträgern wird noch dadurch verstärkt, daß die Kerzenträger im Schatten einer Mauer verbleiben, die nicht streng bildparallel verläuft, sondern abknickend eine Ecke ausbildet und somit nicht nur ein Abgrenzen und Abweisen, sondern auch ein Einschließen zum Ausdruck bringt.16 Diese besondere Konstellation gibt Anlaß zu der Vermutung, daß Tübke sich hier von europäischen Sakralkunst vom Mittelalter bis zum Ausgang des Barock, 2003, 256 ff. (257, 259 f.). Eine aufklärerische Variante in der Form einer Linse bietet der 1744 angefertigte Kupferstich „Die Wahrheit erleuchtet die Blinden“ von Francesco Cepparuli, abgebildet bei Rolf Reichardt, „Lumières“ versus „Ténèbres“. Politisierung und Visualisierung aufklärerischer Schlüsselwörter in Frankreich vom XVII. zum XIX. Jahrhundert, in: ders. (Hg.), Aufklärung und Historische Semantik. Interdisziplinäre Beiträge zur westeuropäischen Kulturgeschichte (= Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 21), 1998, 83 – 170 (106). 16 In einem anderen Bild, ebenfalls 1990 entstanden, hat Tübke die den Horizont verstellende Mauer zu einem Verlies mit zugemauertem Eingang umgeformt: „Die Vergessenen“; Farbabbildung bei Tübke-Schellenberger / Lindner (Fußn. 8), 214. Dabei mag er die Gefängnis- und Irrenhausbilder von Francisco de Goya im Kopf gehabt haben, z. B. „Hof der Irren / Corral de locos“, vollendet 1794; Farbabbildung bei W. Seipel / P.-K. Schuster (Hg.), Francisco de Goya 1746 – 1828. Prophet der Moderne [AK Wien], 2005, 138.

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einem Kupferstich hat anregen lassen, den der Holländer Jan Saenredam (1565 – 1607) im Jahre 1604 nach einem inzwischen verloren gegangenen Ölgemälde von Cornelis Cornelisz. van Haarlem (1562 – 1638) angefertigt hat (Abb. 3).17 Thema ist das berühmte Höhlen(gefängnis)gleichnis, mit dem Platon im Rahmen eines Hauptwerks seiner Philosophie des Politischen, „Politeia“ (514a–517a), zugleich seine Ideenlehre und den Bildungsweg des zur Übernahme politischer Verantwortung aufgerufenen Philosophen veranschaulicht.18 Der Kupferstich erläutert sich durch eine intensive lateinische Beschriftung selbst. Der unterhalb der oberen Randzeile mittig ins Bild gesetzte Titel, „ANTRVM PLATONICVM“, weist ausdrücklich auf Platons Höhlengleichnis hin. Man erkennt unschwer einige seiner wesentlichen Züge: eine in der nur wenig erleuchteten Höhle errichtete hohe Mauer, welche die in deren Schatten lebenden Höhlenbewohner – abweichend von Platons Text sind sie nicht gefesselt – von der Wirklichkeit der ihren Blicken verborgenen Höhlenseite allenfalls die an das Höhlengewölbe geworfenen Schatten wahrnehmen läßt, ohne daß sie sich indes solcher Beschränkung bewußt werden; des weiteren eine Gruppe von Philosophen, die sich darüber im Klaren sind, daß es ohne die Flammen des über ihren Köpfen von Menschenhand aufgehängten und entzündeten Feuers diese Schatten nicht gäbe; schließlich einen schmalen Gang, der ins Freie führt, wo eine noch kleinere Gruppe von Philosophen das eigentliche, alles übertreffende Licht der Sonne schaut. Auf dem unteren Rand des Kupferstichs findet sich, neben Angaben zum Auftraggeber, Maler und Stecher sowie einer Widmung, ein dreistrophiges Gedicht, das Platons Höhlengleichnis paraphrasiert. Es sei hier in einer deutschen Übersetzung wiedergegeben:19 „Der größte Teil der Menschen, in geistiger Blindheit befangen, wird unablässig umgetrieben und freut sich an nichtigem Streben: Siehe wie der Blick hängen bleibt an geworfenen Schatten, wie alle die Trugbilder des Wahren anstaunen und lieben, [/] und die Toren getäuscht werden vom leeren Schattenbild der Dinge. Wie wenige sind aus besserem Stoff, die im klaren Licht, getrennt von der törichten Menge, die Schatten der Dinge als Blendwerk erkennen und alles richtig beurteilen: [/] diese können den bestehenden Nebel des Irrtums sehr wohl durchschauen, und sie versuchen, die anderen, die in unwissender Nacht befangen sind, in das klare Licht hinauszuführen, aber von denen hat keiner den Drang zum Licht, so groß ist die Dürftigkeit ihrer Denkweise.“

17 32,7 x 45 cm (u. a. Berlin, Staatliche Museen, Kupferstichkabinett); Abbildung bei P. J. J. van Thiel, Cornelis Cornelisz. van Haarlem 1562 – 1638. A Monograph and Catalogue Raisonné, Doornspijk 1999, Abb. 115 (Kommentar 202 ff. und 435 ff.). Zur Zusammenarbeit von Stecher und Maler s. J. L. McGee, Cornelis Corneliszoon van Haarlem (1562 – 1638). Patrons, friends and Dutch humanists, Nieuwkoop 1991, 289 ff. 18 R. Rehn (Hg.), Platons Höhlengleichnis. Das Siebte Buch der Politeia. GriechischDeutsch, 2005; W. Blum, Höhlengleichnisse. Thema und Variationen, 2004. 19 H. Mielke (Bearb.), Manierismus in Holland um 1600. Kupferstiche, Holzschnitte und Zeichnungen aus dem Berliner Kupferstichkabinett, 1979, 59. Englische Übersetzungen finden sich bei van Thiel (Fußn. 17), 435 (begleitet vom lateinischen Original), und McGee (Fußn. 17), 247.

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Daß in diesem Gedicht indes noch etwas anderes als Platons Höhlengleichnis mitschwingt und bei der Visualisierung doch auch mit nicht unerheblichen Abweichungen zu rechnen ist, läßt die auf den oberen Rand gesetzte, das Johannes-Evangelium zitierende Textzeile vermuten: „LVX VENIT IN MVNDVN [!] ET DILEXERVNT HOMINES MAGIS TENEBRAS QVAM LVCEM. IO.3.19.“ Diese Zusammenschau von antiker Philosophie und Christentum, die auf einen neostoizistischen Verständnishintergrund deutet, verdankt sich dem Auftraggeber des Bildes: Hendrik Laurensz. Spiegel (1549 – 1612), einem humanistisch gebildeten Amsterdamer Kaufmann, der sich als Philologe, Rhetoriker und Poet einen Namen machte und von dem auch das Gedicht stammt20. Die christliche Überlagerung des Höhlengleichnisses wird an zwei Stellen sichtbar. Zum einen haben sich, auffälligerweise im Vordergrund mittig plaziert, zwei Männer der Menge im Schatten der Mauer zugewandt, die als Jesus Christus (stehend) und Johannes der Täufer bzw. der Evangelist (sitzend) gedeutet worden sind. Zum anderen finden sich auf der Mauer Tugend- und Lasterpersonifikationen. Man erkennt vorneweg einen geflügelten Amor und dahinter die Gruppe der drei christlichen Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe; gut zu erkennen ist auch noch ein Wein trinkender Bacchus und eine ihre Doppeltrompete blasende geflügelte Fama, die hier wohl negativ, als Ruhmsucht zu verstehen ist. Sie sind es, welche die Schatten werfen, und nicht, wie im Höhlengleichnis, hinter der Mauer vorbeigetragene Geräte und Bildwerke. Tübke folgt dem Kupferstich insoweit, als er auf der Mauer allegorische, von christlicher Ikonographie inspirierte Figuren plaziert, die zum menschlichen Leben im Schatten dieser Mauer in Bezug stehen. Auch der Durchblick auf einen Ort unverstellten Lichts jenseits der Mauer fehlt nicht. Die Botschaft freilich unterscheidet sich. Während nämlich bei Platon die Philosophen, die beim Verlassen der Höhle das wahre Licht haben schauen und so Erkenntnis haben gewinnen können, nach ihrer Rückkehr die übrigen Höhlenbewohner nicht zur Einsicht in die Beschränktheit ihrer bisherigen Denk- und Daseinsweise zu bringen vermögen, und auch der Kupferstich mit seiner Verbindung von Platon und Christentum von keiner größeren Kehrtwendung zu berichten weiß, bleibt es in Tübkes Bild zwar ebenfalls bei einer Kontrastierung von himmlischem und irdischem Licht, aber es ist doch eine erhebliche Veränderung der Lage eingetreten und dies, ohne daß dafür das Wirken einer elitären Gruppe von Lehrern und Führern verantwortlich gemacht wird. Insofern zeugt das Bild von der Selbstaufklärung und Selbstbefreiung des Volkes. Diese Sicht findet Bestätigung in der umgestürzten Denkmalsbüste, auf die der Bildbetrachter durch den ausgestreckten Arm einer Theaterfigur mit Maske besonders 20 Für die Interpretation des Kupferstichs von unmittelbarer Bedeutung ist, daß Spiegel, wiederum in Versform, einen moralischen Traktat verfaßt hat: Hertspiegel, 1614 posthum veröffentlicht und dann bis ins 18. Jahrhundert hinein mehrfach nachgedruckt; s. dazu ausführlich P. J. J. van Thiel, H. L. Spiegel en het Orgel van Euterpe: een Hertspiegel-probleem, in: J. Bruyn (Red.), Album amicorum J. G. van Gelder, Den Haag 1973, 312 – 320. Zur Persönlichkeit Spiegels, seinem Freundes- und Korrespondentenkreis sowie seiner Zusammenarbeit mit dem Maler s. McGee (Fußn. 17), 127 ff., 239 ff.

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Abb. 4: Tübke, Detail aus Abb. 1

aufmerksam gemacht wird (Abb. 4). Die Büste ist nämlich nicht, wie man auf den ersten Blick annehmen möchte, eine Marx-, Engels- oder Leninskulptur, sondern zeigt den specknackigen Hinterkopf und gedrungenen Oberkörper eines anscheinend bewußt anonym gelassenen Mannes. Diesem gesichtslosen Säulenheiligen des bisherigen politisch-administrativen Systems ist die zum sozialistischen Gruß geballte rechte Faust beim Umsturz abgebrochen und vor Stirn und Augen geraten. Darin liegt nicht nur ein Hinweis darauf, daß der Staatssozialismus kraftlos geworden ist, sondern auch, daß er Sicht und Einsicht behindert hat. Wie schon bei den Kerzenträgern zu beobachten, zeigt die Reaktion der vor der Büste vorbeiziehenden Menge keinen Enthusiasmus. Einige Männer, darunter ein Blinder mit kennzeichnender Armbinde, erkunden das vor ihr liegende Mauerwerk, als wollten sie sich eine neue, verwirrende Wahrheit erschließen.21 Es herrscht offenbar nicht der Eindruck, einer bereits vollendeten Selbstaufklärung und Selbstbefreiung beizuwohnen. Die Frage nach Schein und Wahrheit stellt sich nach wie vor. III. Das tugendethische Moment, das in Saenredams Kupferstich in den allegorischen Figuren auf der Mauer deutlich hervortritt, scheint in Tübkes Bild zu fehlen. Doch läßt sich in ihm ein zweites Bildzitat entdecken, das der faktischen Gemeinschaftlichkeit der Demonstranten eine tugendethische Konturierung verleiht. Unter den Demonstranten, die mit dem Rücken zum Bildbetrachter an der Kante des umgestürzten Mauerstücks stehen, auf ihre Demonstrationsschilder gestützt und der 21 1991 hat Tübke diese Szene der Inaugenscheinnahme in leichter Variation zu einem Bild mit dem Titel „Verwirrung“ verselbständigt; Farbabbildung bei Tübke-Schellenberger / Lindner (Fußn. 8), 218.

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einströmenden Menschenmenge entgegenblickend, findet sich ein Mann mit auffällig kraftvoller, entschlossener Körperhaltung: seitwärts herausgestelles Bein, in die Hüfte gestemmter Arm, durchgedrücktes Kreuz (Abb. 5). Er ist dem Figurenrepertoire des Schweizer Malers Ferdinand Hodler (1853 – 1918) entliehen, und zwar dessen monumentalem Wandbild „Einmütigkeit“, das einen Sitzungssaal im Rathaus von Hannover schmückt und 1913 fertiggestellt wurde.22 Wegen der leichteren Reproduzierbarkeit wird es hier in seiner kleineren und helleren Museumsfassung wiedergegeben (Abb. 6 – 7).23

Abb. 5: Tübke, Detail aus Abb. 1

Abb. 6: Hodler, Detail aus Abb. 7

Abb. 7: Ferdinand Hodler, „Einmütigkeit II“, 1913 (aus Brüschweiler u.a. [Fußn. 23], 360) 22

Öl auf vier Leinwänden, 475 x 1517 cm; Farbabbildung bei W. Steinweg, Das Rathaus in Hannover. Von der Kaiserzeit bis in die Gegenwart, 1988, 92. Zum Werk selbst s. B. von Waldkirch, Ferdinand Hodler. Zeichnungen der Reifezeit 1900 – 1918 aus der Graphischen Sammlung des Kunsthauses Zürich [AK Zürich], Zürich 1992, 166 ff., und H. G. Gmelin, Zur Entstehung von Ferdinand Hodlers Wandbild „Einmütigkeit“ in Hannover, in: Niederdeutsche Beiträge zur Kunstgeschichte, 1968 (7), 219 – 246. 23 „Einmütigkeit II“, ebenfalls 1913 vollendet; Öl auf Leinwand, 314 cm x 1000 cm (Zürich, Kunsthaus); Farbabbildung bei J. Brüschweiler u. a., Ferdinand Hodler [AK Berlin u. a.], Bern 1983, 360.

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Historischer Anlaß dieses Bildes ist der Reformationsschwur vom 26. Juni 1533 in Hannover. Vorausgegangen war ihm ein Streit zwischen dem Rat der Stadt, der an der überkommenen Glaubensfassung festhalten wollte, und der Bürgerschaft, die mehrheitlich für die evangelische Lehre Martin Luthers und die Zulassung protestantischer Gottesdienste eintrat. Als der Rat die Vorstände der Handwerker und Kaufleute auf seine Seite zu ziehen versuchte, forderte Dietrich (Dirck) Arnsborg als „Worthalter“, d. h. Vorsitzender und Sprecher der Vertreter der Bürgerschaft, dazu auf, sich auf dem Marktplatz vor dem Rathaus „durch Handerheben“ gemeinsam und offen zur lutherischen Reformation zu bekennen und darin unter Einsatz von Leib und Gut beständig zu bleiben. Auf diese Weise gelang es der Bürgerschaft, ihr Anliegen gegenüber dem Rat durchzusetzen. Die Aufgabenstellung erinnert an das bereits eingangs erwähnte Bild „Der Schwur im Ballhaus“ von David. Gibt es auch darüber hinaus noch gewisse Gemeinsamkeiten im Bildaufbau und hinsichtlich des theatralischen Charakters der Inszenierung, so wirkt doch Hodlers Bild schon auf den ersten Blick viel konzentrierter, dadurch auch dynamischer und radikaler. Auf einem mittig plazierten Podest steht der rostrot gewandete „Worthalter“ in trotziger Breitbeinigkeit, die rechte Hand mit herrisch mahnendem Zeigefinger nach oben gereckt, die linke pathetisch ans Herz gedrückt. Um ihn drängt sich eine große Schar von Männern in teilweise landsknechtsartiger, in den Primärfarben Gelb, Rot und Blau gehaltener Kleidung. Obwohl sie eigentlich in einer ellipsenförmigen Rundung angeordnet sind, überwiegt der Eindruck einer friesartigen und dabei durch spiegelbildliche Beinstellungen symmetrisch gegliederten Reihung, die sie als standhaften Block erscheinen läßt – ein starkes Beispiel für Hodlers figürlichen „Parallelismus“, der mit farblicher Rhythmisierung und schwacher räumlicher Tiefe einhergeht. Die Arme der Männer strecken sich wie aufgestellte Lanzen, so daß die Abstimmungsgeste sich zu einer Geste des Durchsetzungswillens wandelt. Die Entschlossenheitspose des Anführers der Bürgerschaft scheint auf seine Anhänger wie ein Signal zu wirken, das sie schaudernd, in einer erhebenden, wenn nicht gar berauschenden Erfahrung der Willensverschmelzung zusammenrücken läßt. Wäre Hodler nicht ein Schweizer mit freiem Bürgersinn und ginge es mit Hannover nicht um die Residenzstadt des ehemaligen welfischen Königreichs, sondern um Preußen oder das Deutsche Reich, könnte man hier den Geist eines nur reformationsgeschichtlich vordergründig verbrämten Nationalismus vermuten. Das Bild weckte denn auch bereits bei seiner öffentlichen Vorstellung gemischte Gefühle. Tübkes Bild teilt zwar mit Davids und Hodlers Schwurbildern die bühnenartige Präsentation seiner Szenerie, verzichtet dabei aber, wie schon festgestellt, auf die Hervorhebung einzelner Protagonisten des politischen Geschehens und begnügt sich damit, das einmütig handelnde Volk in einer lockeren Reihung von Demonstranten zu zeigen. Gleichwohl fällt in dieser Reihung, durch mittige Plazierung vor dem Mauerdurchbruch hervorgehoben, die auch ohne hoch erhobenen Arm gut wiedererkennbare Hodler-Figur ins Auge. Tübkes Rückgriff darauf wird man so verstehen dürfen, daß er die Demonstranten in ihrem Verlangen nach politischem

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Wandel durch die alte politische Tugend der Einmütigkeit (concordia) zusammengehalten und bewegt sieht. Die gegen das herrschende politisch-administrative System der DDR in Anspruch genommene Meinungs- und Demonstrationsfreiheit erscheint dabei nicht als ein wesentlich individuelles, sondern als ein kollektives Grundrecht, ein Recht, das seine höchste politische Wirksamkeit nicht im Eigensinn, sondern im Gemeinsinn findet, nicht in der Vereinzelung, sondern im Bündnis, begünstigt doch dessen Einmütigkeit die Beharrlichkeit und Standhaftigkeit in der Freiheitsausübung, insbesondere unter schwierigen Umständen. IV. Der dritte und letzte Aspekt verbindet sich mit einer Figuration, die bereits bei der Betrachtung der Kerzenträger im Schatten der Mauer aufgefallen sein könnte (Abb. 2). Man erkennt dort einen hell gekleideten, nach vorn gebeugten Demonstranten, der sein Schild so hält, als müßte er eine schwere Last auf seiner Schulter tragen, und dadurch Christi Kreuztragung evoziert, zumal – bei farbiger Abbildung deutlicher sichtbar – das Schild von dem Lichtstrom eines Engels gekreuzt wird. Wie die rechts neben ihm stehende Gruppe von drei Frauen, die durch die besondere Farbgebung ihrer Kleidung (Rosa, Weiß und Grün) hervorgehoben werden, schaut er in Richtung der umgestürzten Denkmalsbüste. Diese Konstellation lädt dazu ein, in der Anspielung auf die Kreuztragung ein Interpretament für das ganze Bild zu sehen. In welchem Sinne, ist jedoch unklar, denn für sich genommen ergibt die christlich konnotierte Leidenshaltung eines einzelnen Demonstranten noch keinen Sinn. Es könnte aber auch hier ein weiterführendes Bildzitat vorliegen. Es gibt viele Bilder aus der Frühen Neuzeit, die Christi Kreuztragung inmitten einer Menschenmenge darstellen.24 Unter ihnen befindet sich aber eines, das über die Kreuztragung hinaus noch zwei weitere Elemente aufweist, die in Tübkes Bild aufgegriffen werden, so daß man annehmen darf, der Maler habe genau dieses Bild im Blick gehabt. Es entstand 1564 aus der Hand des flämischen Malers Pieter Bruegel d.Ä. (um 1527/28 – 1569), dem Tübke auch in anderen Bildern verpflichtet ist, und ist sowohl unter dem Titel „Die Kreuztragung Christi“ als auch unter dem Titel „Der Aufstieg zum Kalvarienberg“ bekannt (Abb. 8).25 Obwohl der unter der Last des Kreuzes zusammengebrochene Christus das Bildzentrum einnimmt, bemerkt man ihn erst auf den zweiten Blick (Abb. 9). Ihm voraus werden die beiden anderen zur Kreuzigung verurteilten Delinquenten in einem Fuhrwerk zur Hinrichtungsstätte gefahren. An der Spitze dieses kleinen Zuges, der von berittenen, durch einheitliche rote Kleidung hervorgehobenen Wa24 1983 hat Tübke eine „Kreuzabnahme“ gemalt, deren Komposition belegt, daß ihm diese Darstellungstradition vertraut war; Farbabbildung bei Tübke-Schellenberger / Lindner (Fußn. 8), 143 (kleine Fassung), 149 (große Fassung). 25 Öl auf Holz, 124 x 170 cm (Wien, Kunsthistorisches Museum); Farbabbildung bei W. Seipel (Hg.), Pieter Bruegel d.Ä. im Kunsthistorischen Museum Wien, Wien 1997, 71.

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Abb. 8: Pieter Bruegel d. Ä., „Die Kreuztragung Christi“, 1564 (aus Seipel [Fußn. 25], 71 – 83)

chen begleitet wird, erhebt sich ein Banner im Wind. Zwei solcher Banner finden sich auch in Tübkes Bild, und zwar inmitten der Menschenmenge, welche die Maueröffnung noch nicht passiert hat (Abb. 10). Sie werden durch besondere Farbgebung (Gelb und Rosa) hervorgehoben und bleiben rätselhaft, wenn man sie nicht als frühneuzeitliche Banner erkennt.26 Im selben Bildausschnitt, links von den Bannern, gibt es noch etwas, das auf befremdende Weise auffällt und ohne den Bezug zu Bruegels Bild unverständlich bliebe: ein Hubschrauber vor dem Hintergrund eines Gebirges. Überrascht schon der Hubschrauber an sich, so noch mehr seine Gestaltung. Während die zweigeteilte Frontscheibe des Cockpits und die darüber liegenden Öffnungen zweier Gasturbinen nichts Ungewöhnliches bieten, verwirrt die Stellung der Rotorblätter, denn wenigstens ein Blatt ist dermaßen steil gestellt, wie es eigentlich nicht sein kann, auch wenn die Bauweise des Rotorkopfs nicht erkennbar ist. In dieser Stellung aber erinnern die Rotorblätter an die Flügel einer Windmühle, wie sie Bruegels Bild oberhalb von Christi Kreuztragung auf einem hohen Felsen zeigt. Eine solche herausragende Stellung einer Windmühle findet sich in keiner anderen niederländi-

26 Solche Banner finden sich auch schon in Tübkes Panoramabild, vor allem in Sektor II (Die Schlacht), wo sie freilich nicht überraschen; Farbabbildung bei Tübke-Schellenberger / Lindner (Fußn. 8), 176 – 177.

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Abb. 9: Bruegel, Detail aus Abb. 8

Abb. 10: Tübke, Detail aus Abb. 1

schen Darstellung einer Kreuztragung.27 Sie ist kaum minder unwahrscheinlich als die Stellung der Rotorblätter in Tübkes Bild, denn mögen die Windverhältnisse auf 27 Ihr in dieser Hinsicht am nächsten kommt eine „Kreuztragung“, die dem im zweiten Viertel des 16. Jahrhunderts in Antwerpen wirkenden Maler Jan van Amstel zugeschrieben

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Abb. 11: Bruegel, Detail aus Abb. 8

dem Felsen auch gut sein, so wären doch die Errichtung einer inneren Treppe, wie sie das Bild andeutet, viel zu aufwendig und der Sacktransport über diese Treppe viel zu mühsam (Abb. 11). Eine sinnbildliche Sicht drängt sich daher auf, zumal der Felsen mit der Windmühle als Scheidelinie zwischen dem hellen Himmel über der in grünender Natur liegenden Stadt und dem dunkel bewölkten Himmel über den in ödem Gelände liegenden Hinrichtungsstätten figuriert. Wie Bruegels Bilder zu verstehen sind, ist recht umstritten. Dies gilt auch für den vorliegenden Fall.28 Die jüngeren, anspruchsvollen Interpretationen, welche die zeitgenössische Philosophie und Theologie feinsinnig erschließen, um Bruegels besondere Bildsprache herauszuarbeiten, darf man Tübke nicht unterstellen. Vielmehr ist von einem Verständnis auszugehen, das ihm zur Entstehungszeit von „Herbst ’89“ ohne weiteres zugänglich war und das er für dieses Bild nutzen und durch Transformation der Windmühlenflügel in Rotorblätter sichtbar machen konnte. Zwei Aspekte von Bruegels Bild sind insofern wichtig. wird; schwarz-weiße Abbildung bei W. S. Gibson, „Mirror of the Earth“. The World Landscape in Sixteenth-Century Flemish Painting, Princeton (NJ) 1989, Abb. 2.28 (Kommentar 23 f.). Das Bild zeigt einen großen Felsen in der Mitte und eine große Windmühle am rechten Rand. Es gehört zu einer Amsterdamer Privatsammlung und dürfte Tübke nicht bekannt gewesen sein. 28 Vgl. insbesondere L. Silver, Pieter Bruegel, New York / London 2011, 15 ff.; J. F. Gregory, Contemporization as polemical device in Pieter Bruegel’s biblical narratives, Lewiston (NY) 2005, 29 ff.; J. Müller, Das Paradox als Bildform. Studien zur Ikonologie Pieter Bruegels d.Ä., 1999, 136 ff. (Farbtafel 3 zeigt das Bild leider seitenverkehrt); R. L. Falkenburg, Pieter Bruegels „Kruisdraging“: een proeve van ,close-reading‘, in: Oud Holland, 1993 (107), 17 – 33.

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Zum einen mischt es verschiedene Zeiträume. Das im Neuen Testament bezeugte Kreuzigungsgeschehen im römischen Jerusalem wird in das niederländische 16. Jahrhundert verlagert. Die Stadt hat einen antiken jüdischen Tempel in ihrer Mitte, ist aber nach frühneuzeitlichen Gesichtspunkten befestigt. Außer den bereits von einer wartenden Menschenmenge umringten Kreuzen auf Golgatha zeigen sich auf dem öden Gelände auch noch zeitgenössische Galgen und Räderungspfähle in erschreckender Zahl.29 Die Christus im Fuhrwerk begleitenden Delinquenten halten ein Kruzifix in der Hand und lassen sich von Mönchen die Beichte abnehmen. Die Menschen tragen die im zeitgenössischen Flandern übliche Kleidung, aber in der abgesonderten Beweinungsszene des Bildvordergrunds, die der Kreuztragung vorausgreift, nämlich zur Kreuzigung oder Kreuzabnahme Christi gehört, bildet Bruegel sie in Gewändern ab, wie man sie aus der Malerei des 15. Jahrhunderts kennt. Diese Mischung der Zeiträume läßt das Kreuzigungsgeschehen als ein sich wiederholendes Geschehen erscheinen. Man darf davon ausgehen, daß Bruegel hier nicht zuletzt an die konfessionellen Verfolgungen in seiner Zeit dachte. Zum anderen stellt das Bild heraus, daß das Kreuzigungsgeschehen von den weitaus meisten in seiner Bedeutung als Heilsgeschehen nicht erkannt wird. Die Menge strömt zur Hinrichtungsstätte, nimmt aber nur äußerlich Anteil, nicht innerlich. Zu den wenigen Ausnahmen gehören, zwischen der vom wahren Glauben geprägten Beweinungsszene und dem hohen Räderungspfahl am rechten Bildrand plaziert, zwei Ordensschwestern, die verzweifelt die Hände ringen (Abb. 12). Sie scheinen gerade beobachtet zu haben, daß Christus unter der Last des Kreuzes zusammengebrochen ist. Doch hat sich eine von ihm abgewendet, so daß ihre Aufrichtigkeit bezweifelt werden kann. Eindeutiger kommt die Distanzierung in einer Szene der linken Bildhälfte zum Ausdruck, welche die von den synoptischen Evangelien nur kurz erwähnte Episode des Simon von Kyrene variiert (Abb. 13): Ein Mann wird ergriffen, um Christus das Kreuz zu tragen, aber er sträubt sich; seine Frau kommt ihm zur Hilfe und versucht ihn zurückzuhalten, so daß sich ihre im Rosenkranz am Schürzenbund zur Schau getragene Frömmigkeit als oberflächlich erweist. Nicht nur das Kreuzigungsgeschehen wiederholt sich über die Jahrhunderte, auch die Blindheit gegenüber seiner Bedeutung. In Tübkes Bild geht es nicht um das Christentum als solches, wohl aber – im Rahmen einer christlichen Ikonographie, wie schon der Bezug auf Saenredams Kupferstich hat deutlich werden lassen – um Schein und Wahrheit und die andauernde Unfähigkeit, zwischen beidem zu unterscheiden, damit aber auch die fortbestehende Gefahr, durch den Schein verführt zu werden und sich gedankenlos oder selbstgerecht von der Wahrheit abzuwenden. Für die daraus sich ergebende Wechselhaftigkeit des menschlichen Lebens dienen die Flügel der Windmühle in Brue29

Räderungspfähle prägen auch Bruegels „Triumph des Todes“, entstanden um 1566; Farbabbildung bei Silver (Fußn. 28), 290 – 291. In Tübkes Panoramabild findet sich eine Räderung in Sektor I (Winterlandschaft); Farbabbildung bei Tübke-Schellenberger / Lindner (Fußn. 8), 174. Deutlicher ist derselbe Abschnitt in der 1:10-Fassung, die bereits 1981 fertiggestellt wurde; ebd., 122.

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Abb. 12: Bruegel, Detail aus Abb. 8

Abb. 13: Bruegel, Detail aus Abb. 8

gels Bild und die ihnen nachempfundenen windmühlenartigen Flügel des Hubschraubers in Tübkes Bild als Zeichen. In Bruegels Bild ist zwar die Windmühle auf dem Felsen auch noch in einem betont christlichen Sinn gedeutet worden (der Felsen als Zeichen für den steilen Weg christlicher Tugendhaftigkeit; die Kornmühle als Zeichen für Christus, das Brot des Lebens), doch läßt sich diese Deutung nicht auf Tübkes Bild übertragen. Anders steht es mit der dadurch nicht ausgeschlossenen Deutung, welche die Windmühle, wie in anderen Werken der nieder-

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ländischen Malerei des 16. Jahrhunderts, als Zeichen für den sich ständig wiederholenden Lauf des Lebens sieht, als Rad der Zeit, das den Zusammenhang von Werden und Vergehen veranschaulicht, und als Zeichen für die Unstetigkeit der Orientierung.30 V. „Herbst ’89“, eines der wenigen Bilder von Tübke, das einen klaren Bezug auf ein politisches Ereignis seiner eigenen Zeit hat, erschließt sich nicht so schnell und sicher, wie man auf den ersten Blick glauben mag. Weder beschränkt es sich darauf, von den Ereignissen zu erzählen, noch verwendet es leicht deutbare Allegorien, vielmehr spielt es mit verfremdeten Bildzitaten, von denen hier drei mit semantischer Relevanz besprochen worden sind. Was läßt sich zusammenfassend festhalten? Das Bild trauert der sich einmauernden DDR nicht nach. Es begrüßt, daß der gegen den Westen im allgemeinen und die Bundesrepublik im besonderen gerichtete, aber vor allem das eigene Volk behindernde „antifaschistische“ und „antiimperialistische Schutzwall“, wie die staatsoffizielle Rhetorik lautete, eingerissen wurde. Es sieht den Mauerfall als Rückgewinnung eines weiten Horizonts, als Lösung aus Verblendung und Ermöglichung von Aufklärung, und feiert dies als Leistung des Volkes, das in Einmütigkeit seine Meinungs- und Demonstrationsfreiheit behauptet hat und damit einen Verfassungswandel herbeiführt, der sich nicht mehr nach den Vorgaben des politisch-administrativen Systems der DDR richtet, sondern eine systemsprengende moralische und rechtliche Normativität in Anspruch nimmt, die für Demokratie maßgeblich sein soll. Insofern bezieht Tübke hier einen ganz anderen Standpunkt als in seinem sehr viel bekannteren, für die Universität Leipzig bestimmten Auftragswerk „Arbeiterklasse und Intelligenz“31, in dem Einmütigkeit im Denken und Handeln ebenfalls ein Thema ist, aber einer vorgegebenen Orientierung unterworfen wird. Da Wissenschaft eine „Hauptproduktivkraft des Sozialismus“ war, mußten ihre universitären Vertreter, die aus marxistisch-leninistischer Sicht zur klassenmäßig nicht determinierten Schicht der „Intelligenz“ gehörten, im Interesse der anvisierten harmonischen Entwicklung der „sozialistischen Menschengemeinschaft“ unbedingt ein dauerhaftes Bündnis mit der „Arbeiterklasse“ und deren führendem Kopf – in der DDR die SED – eingehen. Wenn Tübke diesen 30 Zur Interpretation der Windmühle s. Silver (Fußn. 28), 24; Gregory (Fußn. 28), 43 ff.; M. F. Gibson, The Mill and the Cross: Pieter Bruegel’s „Way to Calvary“, Lausanne 2000, 60 ff.; Gibson (Fußn. 27), 68 f. 31 Vollendet 1973; Farbabbildung bei R. Hiller von Gaertringen (Hg.), Werner Tübkes „Arbeiterklasse und Intelligenz“. Studien zu Kontext, Genese und Rezeption, 2006, 11 – 14. Zum weiteren kunstpolitischen Hintergrund s. P. Kaiser, „Hofkünstler“ im „Arbeiter- und Bauernstaat“? Zur Sozialfigur des bildenden Künstlers in der DDR, in: J. Fischer / H. Joas (Hg.), Kunst, Macht und Institution. Studien zur Philosophischen Anthropologie, soziologischen Theorie und Kultursoziologie der Moderne. Festschrift für Karl-Siegbert Rehberg, 2003, 622 – 639, m.w.N.

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Standpunkt in „Herbst ’89“ völlig aufgegeben hat, dann formuliert er hier wohl auch ein Stück politischer Selbstkritik. Wenngleich die beschwingten Theaterfiguren und Engel auf den ersten Blick heiter stimmen, ist der Ton des Bildes nicht ungetrübt. Es stellt die Selbstgewißheit und Selbstgerechtigkeit der „friedlichen Revolution“ in Frage. Es thematisiert das Erfreuliche als etwas Gefährdetes. Es sieht das Mitläufertum der großen Menschenmenge, ihre beschränkte Einsichtsfähigkeit, ihre Faszination für die Oberfläche der Ereignisse. Tübke war Revolutionen gegenüber skeptisch; ihn interessierten die in der Menschheitsgeschichte anzutreffenden „Grundmuster“32 und von daher auch die ihnen Ausdruck gebende alte Malerei. Insofern stehen seine beiden Bilder „Frühbürgerliche Revolution in Deutschland“ und „Herbst ’89“ in einem engen Zusammenhang. Der Mauerfall ist ein glücklicher Moment im Welttheater, aber eben nur ein Moment.

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Vgl. die bei Beaucamp (Fußn. 10), 297 f., aufgeführten wörtlichen Zitate.

Die Aufgaben der Moderne und der Stachel der Postmoderne Von Martin Hochhuth, Freiburg I. Einleitung Beide philosophischen Bücher Thomas Würtenbergers stehen auf dem Boden der abendländischen Moderne.1 Sie wurzeln dort so selbstverständlich wie seine dogmatischen Werke im Recht des freiheitlichen, demokratischen Staates, den diese Neuzeit sich schuf. Die folgenden Überlegungen gelten dem Begriff eben dieser Neuzeit oder Moderne und dem bislang neuesten ihrer vielen Gegenbilder. Untersucht wird die Strömung, die sich anheischig macht, die Moderne zu überwinden: die Postmoderne. Es soll dargelegt werden, dass die Postmoderne einerseits weitestgehend überflüssig ist; dass aber ihre Verbreitung und Beliebtheit andererseits ein Stachel werden kann, um das Gute an der Moderne immer von neuem wieder wachzurufen. Dieses Wiedererwecken kann notwendig sein, wenn die Moderne sich selbst untreu wird. Die Postmoderne ist also, so die obige, erste These, weithin überflüssig. Soweit aber nicht überflüssig, bildet sie nur eine Fortsetzung und Ergänzung der (recht verstandenen) Normativität der Moderne. – Das Schwergewicht der nachvollziehbaren Ideen der Postmoderne fügt sich also jener anderen Bewegung oder Großepoche ein, gegen die sie sich richtet oder zu richten meint. Soweit die Postmoderne allerdings keine Ergänzung und Fortsetzung der Moderne ist, aber trotzdem etwas Sinnvolles, soweit, so lautet die weitere These, ist sie gerade deswegen überflüssig, weil sie nur andere vor- oder nachmoderne Strömungen wiederholt: Zivilisationskritik und Kulturpessimismus, Phänomenologie, Mystik, Romantik, Existenzphilosophie. Oder, das ist eine weitere Möglichkeit (und eine weitere These), die Postmoderne wiederholt in manchen ihrer Züge nichts dergleichen und lässt sich weder jenen genannten Strömungen noch der Moderne im weitesten Sinne einordnen. Dann aber ist sie Spielerei. Spielerei mag mitunter erfreuen oder auch fruchtbar erschrecken und dadurch zum Denken anregen, wie es dem heiteren Schrottplastiker Jean Tinguely mit seinen Meisterwerken glückte. Als Theorie aber taugt Postmoderne in dieser Variante nichts, ist Unsinn. 1 Thomas Würtenberger, „Zeitgeist und Recht“, 2., ergänzte Aufl. 1991 und ders., „Die Legitimität staatlicher Herrschaft. Eine staatsrechtlich-politische Begriffsgeschichte“, 1973.

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II. Zum Begriff der Postmoderne Zunächst aber: Was ist Postmoderne? Der Artikel „Postmoderne“ im Historischen Wörterbuch der Philosophie beginnt mit einem eleganten, ironischen Schachtelsatz: „Seit Anfang der achtziger Jahre erfahren der Begriff ,Postmoderne‘ und das Prädikat ,postmodern‘ steigende Konjunktur innerhalb einer auf den verschiedenen Gebieten der Literaturwissenschaft, Kunst-, besonders Architekturtheorie und Philosophie geführten Debatte, zu deren Hauptanliegen die Klärung der Frage gehört, was ,postmodern‘ eigentlich bedeutet.“2

Das zweite Zitat stammt aus der Zeitung Guardian und steigert die Ironie. Es fragt zunächst, welcher Art jene als Postmoderne bezeichnete „moderne französische Philosophie“ denn wohl sei: „Euklidisch, spinozistisch oder existenzialistisch?“ Und dann folgt die Antwort: „Nein, es ist einfach ein Haufen alter Quatsch“, „a load of old tosh“.3 Aber kann diese britische Frechheit auf die gemeinten Autoren zutreffen, „ein wahres Pantheon der zeitgenössischen ,Französischen Theorie‘“4 : „Gilles Deleuze, Jacques Derrida, Félix Guattari, Luce Irigaray, Jacques Lacan, Bruno Latour, Jean-François Lyotard, Michel Serres, Paul Virilio“… „Jean Baudrillard und Julia Kristeva“?5

Auch nach Jahrzehnten noch ist der Begriff im Streit: Diejenigen Kunst- und vor allem Architekturhistoriker, die die Postmoderne auf die beiden Dekaden von 1970 bis 1990 einschränken möchten, liefern zu wenige Anhaltspunkte für gerade diese 2 So S. Meier, „Postmoderne“, im HistWBPhil Band 7, 1989, Sp. 1141 ff., 1141 f.; vgl. auch Albrecht Wellmer, zur Dialektik von Moderne und Postmoderne, Vernunftkritik nach Adorno, 5. Aufl. 1993, der 1985 den „Begriff der Postmoderne oder des Postmodernismus“ einen der „schillerndsten Begriffe in der kunst-, literatur- und gesellschaftstheoretischen Diskussion des letzten Jahrzehnts“ nennt; das bestätigen auch die Umkreisungen des Begriffs in zwei Arbeiten von Dennis Patterson: in der Einführung zu seinem Band „Postmodernism and Law“, S. XI ff., 1994 und in dem Abschnitt „Postmodernism“ im von ihm selbst herausgegebenen Companion to Philosophy of Law and Legal Theory, 2. Aufl. 2010. 3 So der „Guardian“-Autor Jon Henley in der Ausgabe vom 1. 10. 1997, auf Deutsch teilweise zitiert im Vorwort zur deutschen Ausgabe von Alan Sokal/Jean Bricmont, „Eleganter Unsinn, wie die Denker der Postmoderne die Wissenschaften mißbrauchen“, 2001, S. 9. und (die ganze englische Sequenz) S. 337.: „Euclidean, Spinozist or existentialist? Er, no. It’s simply a load of old tosh.“; offenbar handelt es sich um die resümierende Überschrift zu einem Artikel Henleys über das Werk dieser beiden Postmoderne-Kritiker. 4 So nennen Sokal und Bricmont zutreffenderweise ihre Gegner, und zählen sodann, ebenso zutreffend die entscheidenden Protagonisten auf. 5 So die Liste in Sokals und Bricmonts Einführung ihres Werkes, S. 19, der erste Teil der Liste im Text, Baudrillard und Kristeva in der Fußnote; in ihrer Fußnote 5, S. 19, belegen Sokal und Bricmont überdies noch aus der amerikanischen und der französischen Literatur, was ohnehin jeder weiss, dass nämlich der größere Teil der von ihnen angegriffenen Autoren weit verbreitet als die Spitze, die Crème de la crème dieses Faches angesehen wird. Sokal und Bricmont kritisieren, m. E. in vielen Hinsichten überzeugend, auch Thomas Kuhn und Paul Feyerabend.

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Abgrenzung.6 Im Gegenteil beginnen ja die Experimente mit vergangenen Stilen, die man Historizismus nennt, bereits in den 1960er Jahren und dauern bis heute an.7 Kennzeichnen wir die Postmoderne also nicht formal und zeitlich, sondern von ihren Zielen her. Welcher Impuls treibt sie? — In der Architektur der Widerwille gegen die „Orthodoxie der Moderne“ und ihren „zunehmend als totalitär empfundenen Purismus“.8 Dem entspricht in der Philosophie „eine mehr oder minder ausdrückliche Ablehnung der rationalistischen Tradition der Aufklärung […] und […] ein kognitiver und kultureller Relativismus, der die Wissenschaft lediglich als ,Erzählung‘, als ,Mythos‘ oder als eine gesellschaftliche Konstruktion unter vielen betrachtet.“9 Diese Opposition zur Aufklärung, dem Inbegriff der Moderne, erklärt denn auch ihren Namen. Auch die prinzipielle Schwierigkeit des Postmoderne-Begriffs erklärt sich so: Er ist negativ, nämlich nur vom Abgelehnten her bestimmt. Darum gilt es, sich diese abgelehnte Moderne anzusehen. III. Die Moderne und ihre Normativitäten: Fortschritt, Kritik, Recht 1. Zeitliche Eingrenzung Die Neuzeit oder Moderne ist die Geschichtsperiode von etwa 1500 bis heute. Bekanntlich kann man sie auch später oder früher beginnen lassen und überdies weiter aufteilen, etwa die frühe Neuzeit, also die Epoche bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieges, von der eigentlichen Hochmoderne abgrenzen. Für unser Untersuchungsthema genügt jedoch, dass die Moderne der Gegenbegriff zu Altertum und Mittelalter ist. 6

Vgl. 2011/2012 die Ausstellung des Londoner Victoria-and-Albert-Museums, die erweitert vom Landesmuseum Zürich übernommen wurde: „Postmodernism. Style and Subversion 1970 – 1990“. Sie zeigt als – m. E. zutreffende – Essenz zwei Charakteristika der Postmoderne: Erstens die Ablehnung der Moderne als insgesamt „koyaanisqatsi“ (was in der Hopi-Sprache „schräg“ im Sinne von „ver-rückt“ bedeutet und dem zivilisationskritischen Filmklassiker Godfrey Reggios von 1982 den Titel gibt); zweitens, als Reaktion auf dieses im neudeutschen Sinne „schräge“ moderne Leben: eine Künstlichkeit ohne Funktion, die darum offen für alles ist, insb. für Hedonismus, Pop, Punk aber mangels Inhalts auch für strategische Kommerzialisierung. 7 Auch der Kampf um das Ende der klassisch modernen „Guten Form“, das die Ortsgruppe Bern des Schweizerischen Werkbundes im November 1967 mit ihrer Ausstellung teilweise hochprovokativer „Sitzmöglichkeiten“ einläutete, ist bis heute nicht entschieden. 8 So resümiert m. E. überzeugend die Internetreklame für die oben (Fußn. 6) zitierte Zürcher Ausstellung: www.musee-suisse.ch/d/zuerich/wechselausstellungen/2012/postmodernism.Php (letzter Abruf am 13. 7. 2012). 9 So charakterisieren Sokal/Bricmont (aaO., wie Fußn. 3) S. 17, die von ihnen kritisierte postmoderne Strömung; zur Postmoderne als dem „Jenseits der Erzählungen“ auch Matthias Mahlmann, „Rechtsphilosophie und Rechtstheorie“, 2. Aufl. 2012, § 15, Rdnrn. 73 ff., insb. 74 mit Bezug auf Lyotard und Rorty.

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2. Fortschrittsoptimismus Die Normativität dieser Epoche prägt nicht zuletzt ein umfassender Fortschritt10, in dessen Dienst eine zunehmend generelle und vorurteilslose Kritik steht. Die Entdecker Kolumbus und Magellan, die Forscher Galilei und Newton, der Erfinder Gutenberg charakterisieren die Moderne. Doch im Blick auf die normative Frage nach den Aufgaben sind Revolutionäre wie Kopernikus und Luther wichtiger. Für die Wende im Äußeren steht Kopernikus, der das mittelalterliche astronomische Weltbild ablöst; für die Wende im Inneren Luther, der die Religion vom Einzelmenschen her erneuert, der sie selbst – ob kritisch oder unkritisch – interpretieren muss und darf.11 Der Fortschritt hat zwei Richtungen: Mit dem wissenschaftlich-technischen Fortschritt macht die Menschheit sich die Außenwelt untertan, im moralischen Fortschritt strebt sie, sich selbst zu vervollkommnen. Auch diese Vervollkommnung bedeutet wiederum zweierlei: Individuelle Selbstvervollkommnung verkörpern Benjamin Franklin oder Goethe, der „die eigene Lebenspyramide immer höher hinaufspitzen“ wollte. Und auch schon Goethes berühmtester Stoff gehört weniger ans Ende des Mittelalters als beispielhaft gerade in die anbrechende Moderne: Der schon zu Lebzeiten legendäre, aber keineswegs erfundene12 Arzt, Astrologe und Schwarzkünstler „Doktor“ Faust. Die Menschheit kann sich aber auch als Gattung vervollkommnen. Der Optimismus Leibnizens, der meinte, wir hätten hienieden schon die beste aller möglichen Welten, legt das nahe, ebenso, wenn auch indirekt, später Hegels alles aussöhnende Geschichtsphilosophie.

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Vgl. etwa Condorcets „Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes“ („Esquisse d’un tableau historique des progrès de l’esprit humain“, Übersetzung und zweisprachige Ausgabe von Wilhelm Alff, 1963). Condorcet schrieb ihn 1793/94 auf der Flucht vor seinen blutigen Mitrevolutionären, deren Wüten bereits manche Moderneskeptiker zu bestätigen scheint. Sein Optimismus war nicht zu brechen. 11 Inhaltlich wären hier auch Zwingli, Melanchthon und Calvin zu nennen, nicht Luther allein. Geschichtlich steht jedoch Luther am Anfang der Bewegung; vgl. dazu, im Anschluss an Hegels Einschätzung der Lutherischen Wende etwa Friedrich Wilhelm Graf, „Der Protestantismus, Geschichte und Gegenwart“, 2006, S. 15 f.; hingegen bestreitet Luise SchornSchütte, „Die Reformation, Vorgeschichte, Verlauf, Wirkung“, 4., aktualisierte Aufl. 2006, S. 108, dass Luther am Anfang der Moderne stehe, allerdings mit Zweifeln an dieser Epochenzäsur überhaupt. 12 Laut der Brockhaus-Enzyklopädie (Band 9, „Fasz-Frier“, 21., völlig neubearbeitete Aufl. 2006) ist Georg (oder Johann) Faust um 1480 in Knittlingen geboren und 1536 oder kurz vor 1540 in Staufen im Breisgau – möglicherweise gewaltsam – umgekommen.

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3. Der Mensch als Kriterium der Erkenntnis, des Fortschritts, des Rechts Wichtig für die Charakterisierung der Moderne oder Neuzeit im Blick auf ihre heutigen Gegenbewegungen ist, dass sie den Menschen als Kriterium nimmt. Er ist es sowohl für die Aufklärung (die den Gipfel der Moderne bildet), als auch für das Recht, für das Naturrecht (Gerechtigkeit), aber auch für Wahr und Falsch: Diese Bedeutung erlangt er auch durch die moderne Erkenntnistheorie, nicht zuletzt durch die kritische Wende, die dieser Zweig der Philosophie, nach zahlreichen Vorbereitungen, mit Kant endgültig nimmt. 4. Doppelte Kritik an „Objektivem“ Kants Theorien – als ein Inbegriff der Moderne – sind im Blick auf die Postmoderne besonders wichtig, weswegen hier in Erinnerung gerufen wird: Das Kritische im System Kants hat zwei Richtungen. Es bedeutet einerseits Demut, wissenschaftlich tastende Vorsicht aus dem Bewusstsein der Vorläufigkeit aller Behauptung von Objektivität.13 Zum anderen legt Kants System den absoluten Wert des individuellen menschlichen Subjekts logisch nahe, weil dieses Subjekt der Dreh- und Angelpunkt der ganzen, „kopernikanisch gewendeten“ Philosophie-Konstruktion ist. Dass Kant dies in den Formulierungen des Kategorischen Imperativs ausspricht, ist daher folgerichtig.14 – Wenn Kant hier hervorgehoben wird, dann aber nicht um einzelner Meinungen dieses geschichtlich-konkreten Autors Willen, sondern wegen des Einheitskerns seiner Leistung. Es geht um sein kritisches Grundprinzip als Paradigma.15

13 Diese Behutsamkeit verkörpert das mit dem „Ding an sich“ gesetzte selbstkritische, nämlich erkenntnis-skeptische Prinzip. 14 Wegen des gleichen Selbstwerts eines jeden Menschen liegt es auch nahe, über Kants Philosophie nicht nur – fast selbstverständlich – zur „Republik“ zu gelangen sondern, über Kant hinaus, folgerichtig auch seine kritischen Äußerungen zur Demokratie zu relativieren, da sie ersichtlich von Voraussetzungen ausgehen, die keineswegs notwendig vorliegen; vgl. etwa die Bestimmungen im ersten Definitivartikel zum „Ewigen Frieden“, in der Ausgabe von Theodor Valentiner (1983) S. 25 ff., insb. 27 ff. 15 In diesem Sinne schrieb Klaus Natorp in seinem Aufsatz „Kant und die Marburger Schule“ (Kant-Studien XVII, 1910): „Auf Kant konnte man nur zurückgehen wollen, um in der Richtung der durch ihn unverlierbar der Philosophie gewonnenen Grunderkenntnis, in der reinen Konsequenz der durch ihn errungenen Vertiefung ihrer ewigen Fragen dann weiterzugehen… Ein schlechter Schüler Kants, der es anders verstände!“; hier zitiert nach Ernst Cassirers Vorrede zu seinem „Determinismus und Indeterminismus in der modernen Physik, historische und systematische Studien zum Kausalproblem“, Göteborg 1937 (Göteborgs Högskolas Arsskrift, Band XLII, 1936, S. VIII.

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Auch Kants Definition, Aufklärung sei „der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“16, stellt den Menschen ins Zentrum. Dieser mündige Mensch soll die Welt aber vernünftig nicht nur deuten, sondern auch gestalten. Das bedeutet Fortschritt im Bereich des Rechts und Staates. Solcher Fortschritt wiederum heißt: Vernünftigkeit, Berechenbarkeit und Gerechtigkeit des geltenden, also des positiven Rechts. An diese hohen Ansprüche der Moderne gerade auch im Normativen war zu erinnern. Sowohl hinsichtlich des Menschenrechts, von dem Kant sagt, es sei der „Augapfel Gottes“ auf Erden,17 als auch hinsichtlich des Naturrechts und der vernünftigen Gesamteinrichtung der Welt. – Und normativ sind nicht nur Recht und Gerechtigkeit. Normativ sind auch die Begriffe „Fortschritt“ und „Kritik“. Fortschritt, weil er dem Menschen, und „Kritik“, weil sie der Wahrheit dient. Ein so optimistischer Anspruch stimmt allerdings nicht erst heute, im Rückblick, manchen bedenklich. Widerlegen ihn nicht zahlreiche Brüche und Probleme der Wirklichkeit? Die Skepsis hiergegen war und ist denn auch eine Quelle der zahlreichen Angriffs- und Überwindungsversuche gegen die Moderne, denen sich später auch die Postmoderne einordnen wird. IV. Brüche der Moderne – Genealogie der Postmoderne Die Massen von Einwänden gegen die Moderne und ihren Optimismus lassen sich nach ihren Brennpunkten gruppieren: Skepsis im Geschichtlich-Großen und Skepsis im Persönlich-Individuellen. 1. Programmwidriges Versagen der Moderne: „Betriebsunfälle“ des Fortschritts? Zunächst im Großen: Nahrung für Fortschrittszweifel bieten die bekannten und unleugbaren Verheerungen, die es in der Geschichte der Moderne ebenso gibt, wie im Mittelalter oder der Antike. Kann man es wirklich als „Betriebsunfälle“ innerhalb einer Aufwärtskurve schönreden, wenn noch immer Millionen verhungern, wenn noch immer ständig Krieg geführt wird, der auch Unschuldige verschlingt? – Noch deutlichere Beispiele hat die Neuzeit in Gestalt der Atombombe und erst recht des industriemäßigen Massenmordes von 1941 – 1945 geliefert, den ja nur moderne 16 Kant, „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ in: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 1, Band XI 1977, S. 53. Kant hat den gesamten oben im Text zitierten Satz, mit dem er seine kleine Abhandlung eröffnet, gesperrt drucken lassen. 17 Dieses Bild gebraucht Kant in einer Anmerkung seiner oben [Fußn. 14] zitierten Schrift „Zum ewigen Frieden“: „…das Heiligste, was Gott auf Erden hat, das Recht der Menschen…[dieser] Augapfel Gottes…“ S. 29 (kursiv bei Kant).

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Technik und Verwaltungsorganisation so ermöglichten. Für viele, nicht nur für Adorno und Horkheimer, widerlegen sie jeglichen Fortschrittsoptimismus. 2. Das Verfehlen des Eigentlichen Die Geschichtsphilosophie der Aufklärung18 und der ihr nachfolgenden Epochen denkt in der Regel aufs Allgemeine und Objektive hin. Das Allgemeine aber ist notwendig abstrakt und übergeht Einzelheiten, die u. U. wesentlich sein können. So wird es schon dem frühen 19. Jahrhundert fraglich, ob die reale, schutzwürdige Subjektivität und das Konkrete wirklich mit derart optimistisch-menschenfreundlichen Objektivitätsvorstellungen, wie sie in jener Epoche am wirksamsten Hegel19 darlegt, zusammenpassen. Für das Verfehlen des konkret-Individuellen, des Leidens und des Einzelnen in seiner Zerrissenheit scheint ein bestimmter anti-Hegelianischer Angriff aus dieser Frühzeit besonders wichtig. Ihn führt Sören Kierkegaard.20 In seinem Einwand gegen die sich objektivistisch gebärdende Hegelsche Philosophie stecken unabweisliche Fragen an die Moderne. Solange diese Fragen nicht beantwortet sind, hat aller Fortschrittsoptimismus etwas Oberflächliches. Und auch nach dem Verebben der existentialistischen Bewegung lebt diese Gruppe von Anliegen fort. Auch sowohl die kommunitaristischen Einwände gegen den von ihnen so genannten liberalism wie auch gender-Philosophien wollen diesem Anliegen gerecht werden. Es sind unterschiedliche Arten von Besonderssein, subjektivem Verkanntwerden, Scheitern- oder Verfehlen-Können, unabhängig von – vorgeblich oder wirklich – gelingender „Objektivität“.21 Kierkegaard wendet sich gegen die objektivistische, an der gesamten Welt und Weltgeschichte orientierte Betrachtung, weil sie, bei Hegel (und nicht nur bei Hegel), dem Individuum bestenfalls Seitenblicke schenkt. „In der Sprache der Abstraktion kommt eigentlich nie das vor, was die Schwierigkeit der Existenz und des Existierenden ausmacht, geschweige daß die Schwierigkeit erklärt wird.“22 Insofern berührt sich Kierkegaards Kritik schon mit dem spä-

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Für die etwa der oben auf S. 66, Fußn. 10 zitierte Condorcet stehen mag. Vgl. zu diesem Objektivitätsanspruch das Hegel-Kapitel in Thomas Würtenbergers gründlicher Legitimitätsstudie (wie oben, Fußn. 1) vor allem S. 178 ff. 20 Vgl. zunächst die oft wiederabgedruckte kurze, klassische Darstellung „Kierkegaard“ (ursprünglich von 1951) von Jaspers; hier zitiert nach seinem Sammelband „Mitverantwortlich / Ein philosophisch politisches Lesebuch“, o. J., S. 239 – 253 sowie sehr knapp aber mit zahlreichen neuesten Nachweisen Reiner Wimmer, „Kierkegaard“ in der 2. Aufl. der Mittelstraßschen „Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie“, Band 4, 2010, S. 201 – 208. 21 Vgl. Sören Kierkegaard, Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den philosophischen Brocken. Zweiter Teil, 1958, übersetzt von Hans Martin Junghans, 16. Abteilung der Gesammelten Werke, insb. S. 5 – 35. 22 So Kierkegaards Einleitungssatz zu Kapitel III, § 1 der „Abschließenden unwissenschaftlichen Nachschrift“, hier nach der Übersetzung von H. Gottsched (1910) S. 1 zitiert. 19

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teren Vorwurf Adornos23. Es ist, kurz gesagt, die Unaufgehobenheit des konkret wirklichen Individuellen und Persönlichen, das bis in die äußerste Verzweiflung reichen kann, in der Abstraktion etwa eines gerechten und vernünftigen Staates oder einer guten Weltordnung. Jener Streit Kierkegaards gegen Hegel ist im Kern und zunächst ein theologischer, innerchristlicher. Doch reichen Hegels System und Kierkegaards Angriff weit darüber hinaus. Man kann Kierkegaards Einwand und Hegels Optimismus auch juristisch aktualisieren. Wenn etwa die Welthandelsorganisation, die Weltbank und andere mit dem Anspruch objektiv geltenden Rechts auftretende Institutionen im Namen eines Prinzips – etwa des freien Welthandels – die Interessen bestimmter Individuen, vielleicht ganzer Weltgegenden oder wenigstens kleinerer und mittlerer schwächerer Staaten unter sich begraben: Angenommen, die heute in jenen Institutionen geglaubten ökonomischen Rezepte wären richtig, wäre es selbst unter dieser Prämisse zumutbar, ganze Volkswirtschaften, die vorher – wenngleich isoliert – zumindest einigermaßen funktioniert haben, zu zerstören? Oder, aufs innerstaatliche Recht gewendet: Angenommen, ein Justizbediensteter weiß, dass der rechtskräftig Verurteilte in Wahrheit unschuldig ist, es gibt aber keine Möglichkeiten der Wiederaufnahme für diesen Fall.24 Ist er moralisch verpflichtet, den Strafgefangenen zu befreien? Oder muss er im Interesse der Verlässlichkeit der rechtsstaatlichen Gesamtstruktur die weitere Vollstreckung einer vielleicht langen, jahrzehntelangen Freiheitsstrafe, zulassen? Muss er gar an ihr mitwirken? – Dass die objektive Struktur das subjektive Recht verfehlt, ist keine hypothetische Erfindung.25 Kierkegaards Verzweiflung an der wirklichen Welt, an dem, was er „Existenz“ nennt, und was später einer breiten philosophischen Schule den Namen geben wird, ist der Gegenpol zu Benjamin Franklins individuellen Glücksoptimismus. Jener unermüdliche, geniale und witzige wissenschaftliche Journalist, Schriftsteller, Verleger, Verfassungsvater, Erfinder, Politiker und Diplomat lebte in der Zuversicht, wer in seinem Gewerbe fleißig sei und ein anständiger Mensch, der könne auch auf die Vorsehung vertrauen. (Die vorliegende Abhandlung bringe ich dem produktiven Autor, erfolgreichen Prozessvertreter und Politikberater, liberalen, menschenfreundlichen und angenehmen Kollegen Thomas Würtenberger auch

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Vgl. etwa Max Horkheimer / Theodor W. Adorno, „Dialektik der Aufklärung/Philosophische Fragmente“, 9. bis 13. Tausend, 1989, S. 18, 22, 217. 24 „Die Problematik des Wiederaufnahmerechts wird freilich in noch drängenderer Weise an den gescheiterten Wiederaufnahmeverfahren deutlich“, schreibt Karl Peters (S. V) im Vorwort zum dritten Band seiner seit 1970 erschienenen „Fehlerquellen im Strafprozeß / Eine Untersuchung der Wiederaufnahmeverfahren in der Bundesrepublik Deutschland“, 1974; es gilt: „Rechtsprobleme können erdacht werden. Auf dem Gebiet des Wiederaufnahmerechts bedarf es dessen nicht.“ aaO. 25 Vgl. die Peters-Zitate in der vorigen Fußn. und vor allem die Fälle in seinen ersten beiden Bänden.

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deshalb dar, weil in ihr Franklin auftritt, als Verkörperung der Stärken und des Optimismus der Moderne. Er passt zu Herrn Würtenberger.)26 Demgegenüber streift Kierkegaards bewusste Sonderbarkeit und auch seine damit verknüpfte Verzweiflung an allem mitunter fast ans Komische. Und gewiss ist es ein Fehlschluß, wegen der Möglichkeit individuellen Scheiterns und Verfehlens auch gleich den modernen Optimismus insgesamt zu verwerfen. So einfach darf die Kritik es sich nicht machen. Aber auch umgekehrt darf man es sich mit der Kritik pauschaler Harmonievorstellungen nicht einfach machen. 3. Die Erschütterung der Wert-Fundamente Die innere, rein subjektive Zerrissenheit, die mit dem problematischen Denker Kierkegaard zur philosophischen Sprache kommt, behält der wohlintegrierte Erwachsene damals wie heute für sich. Doch zu ihr gehört ein anderer Strang, der die literarische, philosophische und politische Kritik an der Moderne seit ihrem Anbeginn durchzieht. Er gilt der Freisetzung des Menschen durch das Denken der Moderne. Diese Kritik übt nicht nur die Gegenaufklärung, wie etwa Carl Schmitt oder auch der dennoch wohlmeinende Papst und ehemalige Theologieprofessor Benedikt XVI.27. Auch der Freiheitsphilosoph und Erzliberale Bertrand Russell schreibt: „Die Emanzipation von der Autorität der Kirche verstärkte den Individualismus bis an die Grenze der Anarchie.“28 Dostojewski lässt seinen Großinquisitor sagen, was Carl Schmitt später zustimmend so formuliert: Der Mensch sei „ein feiger Rebell, der eines Herren bedarf“.29 Es ist das Problem der Wertordnung und ihrer Durchsetzung. Kritik, die der Moderne und insbesondere dem aufklärerischen Denken ihr Gepräge gibt, führt, wie erwähnt, zum Individuum zurück, zum einzelnen Menschen mit seiner subjektiven Wahrnehmung und seinem subjektiven Denken. Alle „Objektivität“, soweit wir vernünftigerweise und verallgemeinerbar überhaupt von so 26

Das zeigt sich, je mehr man sich in Franklin einliest: Vgl. speziell zum aufklärerischepochentypischen Optimismus etwa die Erinnerungen („The Autobiography and Other Writings“. Selected and edited by and with an introduction by L. Jesse Lemisch, with a new afterword by Carla Mulford, New York 2001) passim; insb. S. 25, wo er im Rückblick auf seine Eltern schreibt: „From this instance, Reader, Be encouraged to diligence in thy calling, And distrust not Providence.“ In der deutschen Ausgabe, „Lebenserinnerungen“, hrsg. v. Manfred Pütz, übersetzt von Gottfried August Bürger, Zürich 1985, S. 18. 27 Vgl. die Regensburger Vorlesung des Papstes, vom Bayerischen Rundfunk übertragen am 13. 9. 2006. 28 Bertrand Russell, „Philosophie des Abendlandes. Ihr Zusammenhang mit der politischen und der sozialen Entwicklung“, 10. Aufl., 2001, 501; es handelt sich um seine Einleitung zu den Kapiteln über die neuzeitliche Philosophie. 29 Vgl. Carl Schmitts Kampfschrift „Römischer Katholizismus und politische Form“ von 1923, S. 44, hier nach der 2. Aufl. (München, Theatiner, 1925) zitiert.

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etwas wie Objektivität sprechen können, ist unser „Entwurf“. Für die Naturwissenschaft ist dies gewiss kein Problem. Karl Popper, der Fortsetzer der Erkenntniskritik Kants, hat klargemacht, dass allein Falsifizierbarkeit möglich ist. Obwohl letztlich nur unsere – allerdings übereinstimmenden und gut bewährten – Entwürfe vorliegen, handelt es sich doch um etwas, was so verlässlich ist, dass man im Allgemeinen durchaus von „Objektivität“ sprechen und auf sie vertrauen darf.30 Gleichwohl liegt ein Problem in der Einsicht, das Gute und Richtige, das wir, wenn es verrechtlicht ist, sogar mit Polizeigewalt durchsetzen, beruhe letztlich nur auf gedachten Übereinkünften, sei also nicht etwas von Gott in hinreichend erkennbarer Weise Vorgegebenes, das wir nur ohne eigenen Entscheidungs- und Deutungsakt zu übernehmen hätten. In dieser Schwierigkeit kann man eine Erschütterung der Fundamente sehen. Ein Missverständnis ist jedoch die sehr verbreitete Annahme, die Erschütterung der Fundamente durch die moderne Erkenntnistheorie (also vor allem durch Kant) sei Ursache des Nihilismus. Für manche Philosophen mag die Kausalkette so sein, etwa Nietzsche ist ohne Kant nicht denkbar. Faktisch hat es aber nihilistische Praxis auch in Epochen lange vor der modernen Erkenntniskritik, also vor Descartes und Kant, gegeben. Und faktisch gibt es Ruchlosigkeit auch heute in Kreisen, denen moderne abendländische Theorie fernliegt: Am 11. September 2001 begingen fromme, gottesfürchtige Verbrecher mit entführten Flugzeugen Massenmord im Einklang mit dem, was sie aus religiöser Unterweisung glaubten folgern zu können. Und der Rassenwahn Hitlers, Himmlers usw. hielt sich für etwas Objektives, war also gerade nicht aus jener Skepsis und Behutsamkeit erwachsen, die die Frucht kritischer Erkenntnistheorie ist. Er konnte sich gerade in der Gewissheit und dem Unbedingtheitsvertrauen einwurzeln und verwirklichen, das Menschen droht, die an eine Objektivität ohne distanzierende Anführungsstriche glauben. Seit David Hume und Immanuel Kant ist jedoch klar und seit Max Weber auch allgemein bekannt: Es gibt keine im naiven Sinne objektiven Werte, und auch hierin liegt eine Erschütterung des Fundaments. Der radikale Subjektivismus des Willens, der bei Nietzsche und flach verstandenem Nietzscheanismus zu schlimmen Ergebnissen bis hin zur „blonden Bestie“ führen kann, ist keineswegs aus Kant abzuleiten. Es bedarf zumindest noch der Umwege über Fichte und Stirner. Konsequent ist er jedoch auch mit Hilfe dieser Zwischenglieder nicht. Für unser Problem der Postmoderne sei jedoch festgehalten: In der akademischen Debatte, aus der die Postmoderne auch stammt, ist die moderne, skeptische Philosophie durchaus eine Mitursache für Nihilismus und Haltlosigkeit geworden.

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Vgl. die differenzierende Darstellung der modernen Erkenntnistheorie im Blick auf die Naturwissenschaften bei Sokal und Bricmont (wie oben, Fußn. 3) S. 68 ff.; dort auch der Spott, wenn ein Geisteswissenschaftler darauf bestehe, dass es sich auch bei der Physik bloß um ein Thesengebäude handle, dann könne er im Büro von Herrn Sokal, das im 21. Stock liegt, aus dem Fenster springen und es überprüfen.

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4. Eindimensionalität, oder das Problem des störenden Rauschens Die wissenschaftlich-technische Moderne hat in vielen Hinsichten Perfektion erreicht. Auch die Organisations- und Verwaltungssysteme, die regierende, teilweise ja sogar demokratisch zustande gekommene Repräsentationsaristokratie, die fürsorglichen Bürokratien und Organisationen, die für Strom und Wasser, für Wärme, Bequemlichkeit, Transport und Gefahrenabwehr sorgen, dann der akademische Betrieb, – gewiß könnte all dies noch besser sein; dass es aber insgesamt recht gut ist, beschwört die Gefahr der Immunisierung herauf. Der Optimismus der Aufklärung will vernünftig und praktisch die Welt nicht nur gestalten, sondern strebt auch nach möglichst richtiger Wahrnehmung der Welt. Obwohl Scharfsinn sich seit Jahrhunderten müht, diese Erkenntnisse zu verbessern, zu verfeinern, und die Apparatur immer offenzuhalten, verstummt auch der Zweifel an den Erkenntnismöglichkeiten nicht. Adorno hat bestritten, dass es möglich sei, dass der Begriff sich den Dingen, die durch ihn zu begreifen sind, anschmiege. Stattdessen wohne dem Denken die Tendenz inne, das sich gleichzumachen, was es eigentlich nur anschmiegend umfassen solle. Luhmann hat gezeigt, dass Systeme, also auch soziale und politische Systeme, gegen solche Eingaben, die nicht genau in ihr Schema passen, die nicht im richtigen „Code“ verschlüsselt übermittelt werden, taub sind. Sie nehmen sie nur als „störendes Rauschen“31 wahr. Wenn wir auf die vorigen Gliederungspunkte in diesem Kapitel zurückschauen, dann erkennen wir, welch fatale Folge diese Selbstimmunisierung des Systems der Moderne hat. Wir sahen oben (1.), dass das System immer unvollkommen ist, dass an den Rändern Brüche auftreten. Ist das System nun in der Tat taub, so dass es das Schreien von den Unfallstellen dieser Brüche nicht als Schreien begreift, sondern bloß als störendes Rauschen abtut, dann hilft es dort nicht, dann bessert es nicht nach, sondern stampft weiter. Die große Maschine droht dann aber, Schäden anzurichten, die alles übertreffen, was ohne die Moderne und ihre überlegenen fortschrittlichen Mittel je möglich war. Kommt in der Moderne eine Schar Verbrecher an die Macht, wie 1933, so hat sie Möglichkeiten, die das Projekt insgesamt in Frage stellen können. Diese Infragestellung ist keine nur scheinbare. Wenn wir nämlich vom Einzelmenschen aus denken, so kann schon die existentielle Verletzung von nur einem, etwa seine Ermordung, eine Infragestellung des Ganzen sein. Das Schlagwort des Ironikers Luhmann versinnbildlicht, was Herbert Marcuse, also die andere, die kritische Seite als eine Facette des Problems der „Eindimensionalität“32 des in der Spätzeit der technischen Moderne, der der positivistischen 31

Vgl. Luhmanns „Ökologische Kommunikation/Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen?“, 3. Aufl. 1990, S. 128. 32 Vgl. die „Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft“, die Marcuse unter dem Obertitel „Der eindimensionale Mensch“ 1964 in den USA (Boston, Beacon Press, „The One-dimensional Man. Studies in the Ideology of advanced Industrial Society“) und 1967 auf Deutsch veröffentlicht hat.

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Ideologie, herausgezüchteten Menschen anprangert. – Trotz dieser Gefahren des Positivismus ist er natürlich in weiten Bereichen der Wissenschaft unverzichtbar. 5. Interne und externe Kritik an der Moderne (vor allem an der Aufklärung) von früh an Seit Anbeginn ist, wie gesagt, das moderne Denken kritisiert worden. Innerhalb dieser Kritiken lässt sich auch noch eine andere Differenzierung treffen als im vorigen Kapitel. Kritik ist ja überhaupt ein wesentliches Prinzip der Moderne. Aber obwohl die Moderne mit Hilfe der Kritik arbeitet, gibt es auch eine Kritik, die nicht in die Fortschrittsrichtung geht, die diese Epoche charakterisiert. Seit Anbeginn gab es die entschiedene Gegenmoderne, die die Macht des Klerus (der sich gegenüber dem Glauben und den Gläubigen verselbständigenden Kirche), und die demokratisch nicht legitimierte Herrschaft der Fürsten zu erhalten strebte. In der Gegenreformation, später auch in der Gegenaufklärung, wird sie deutlich. Der Faschismus ist ihr Spross. Dennoch überwiegt insgesamt solche „Kritik“, die sich aus dem Ungenügen am bisher erreichten Fortschritt speist. Schon gerade in der Aufklärungszeit selbst hat man sich über Ideen der Aufklärung lustig gemacht. Etwa über Leibnizens Optimismus, die Welt, in der wir leben, sei die beste aller möglichen Welten. Schon Voltaire verhöhnt das in seinem Roman Candide. Angesichts grundloser bestialischer Hinrichtungen und anderer Unglücke und Katastrophen fragt sich der Held: „Wenn das die beste aller möglichen Welten ist, wie müssen dann erst die anderen sein?“33 Und als Sturm und Drang und Klassik auftraten, da wollten sie die Aufklärung und Empfindsamkeit, also die Programmbegriffe der Epoche vor ihnen, zwar abwerten: In der Aufklärung sahen sie eher die Bevorzugung der „platten Vernünftigkeit […], in der Empfindsamkeit den Ausdruck eines künstlichen und unwahren Gefühls.“ Aber sie begingen jene vielfach so ungerechte Abwertung um größerer Wahrhaftigkeit und Echtheit Willen.34 Solche Kritik an Einzelphasen der Moderne trifft im Einzelnen oft zu, wird ihr als Ganzer aber keineswegs gerecht.35 In diesen Kritikbeispielen steckt etwas Verallgemeinerbares. Oft wird innerhalb der Moderne ein früherer Abschnitt oder gar ein gleichzeitiger dieser selben Moderne kritisiert, indem man ihn nur von seinen Fehlern und Schwächen her versteht. 33

„Si c’est ici le meilleur des mondes possibles, que sont donc les autres?…“; vgl. Voltaire, „Candide ou l’ optimisme, traduit de l’allemand de Mr. le docteur Ralph, avec les additions qu’on a trouvées dans la poche du docteur, lorsqu’il mourut à Minden, l’an de grâce 1759“ in: Voltaire, „Candide et autres contes“ hrsg. v. Frédéric Deloffre avec la collaboration de Jacques van den Heuvel, 1992, S. 9 ff.; das Zitat findet sich im sechsten Kapitel, S. 24. Deutsch in „Candid und andere Erzählungen“ (ohne Jahr), in der hier nicht ganz perfekten Übersetzung von Ernst Sander, S. 179 ff., S. 202. 34 Vgl. Walter Flemmer, „Einführung zu Friedrich Gottlieb Klopstock. Dichtungen und Schriften, Eine Auswahl aus dem Gesamtwerk“, ohne Jahr, S. 7 ff. 35 Flemmer, aaO., legt dar, inwiefern dies eine Verzerrung des Bildes jener Epochen ist.

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Dabei wollen die Kritiker aber oft ähnliches wie das, was jene Vorgänger auch anstrebten. Wenn wir uns die Postmoderne ansehen, gilt es, das im Sinn zu behalten. Von hierher löst sich das Problem der Normativität in der Postmoderne.36 V. Dekonstruktion oder: Das Scheitern postmoderner Wissenschaft 1. Déconstruction statt Destruktion Auf diesem Wege wird zum Beispiel aus der Kritik, die die Moderne, und insbesondere die Aufklärung, so nützlich auf ihre Höhen geführt hat, die Dekonstruktion oder der „Abbau“ (so lautet das Wort bei Heidegger) und dann die déconstruction bei Jacques Derrida. Es wurde oben Kierkegaard zitiert, der in der Philosophie der Moderne Verfehlung des Eigentlichen des Menschen sah. In die Denkschule Kierkegaards gehört Heidegger, und er folgt ihm hier, wie viele andere Existenzphilosophen auch. Das abendländische Denken habe, so rügt er noch radikaler als Kierkegaard, das eigentlich Wesentliche überhaupt nicht bearbeitet. Indes: dieses Wesentliche, die Existenz, kann man möglicherweise im wissenschaftlich-philosophischen Denken gar nicht bearbeiten. Heideggers Sprache nähert sich denn auch oft dem Dichterischen sowie der Mystik an. Das „Seinsdenken“ ist keine im herkömmlichen Sinne wissenschaftliche Philosophie. Heidegger nimmt das für sich auch nicht in Anspruch. Für unsere Frage der Normativität der Moderne und der Normativität einer Epoche, die sie abzulösen behauptet, hat er das klar in seinem „Brief über den Humanismus“ ausgesprochen. Sein Denken liege, so behauptet er, sogar schon der Trennung von Sein und Sollen voraus,37 ohne die aber, so meine ich, Normativität nicht gedacht werden kann. Nun kommt gefährliche Dialektik ins Spiel. Weil er die zurückliegenden Epochen unterschätzt, meint er, in vielem ganz neu ansetzen zu müssen oder zu können.38 Dieses Neuansetzen, das etwa die Trennung von Sein und Sollen vernach36

Vermutlich ist auch ein Gutteil der Kritik des scharfsichtigen Nietzscheaners Michel Foucault hier einzuordnen; vgl. zu ihm vor allem zwei Darstellungen: sehr wohlwollend Hans-Helmuth Gander, „,Ich weiß nicht, ob wir jemals mündig werden‘, Anmerkungen zu Foucaults Aufklärungskritik“ in: Monika Fludernik / Ruth Nestvold / Vera Alexander (Hrsg.), „Das 18. Jahrhundert“, 1998, S. 199 – 213 und kritisch Hans-Ulrich Wehler, „Die ,Disziplinargesellschaft‘ als Geschöpf der Diskurse, der Machttechniken und der ,Bio-Politik‘“ in: „Die Herausforderung der Kulturgeschichte“, 1998, S. 45 – 95. 37 „Dieses Denken ist weder theoretisch noch praktisch…“ schreibt Heidegger (S. 354) in seinem „Brief über den Humanismus“ (in: ders., „Wegmarken“, 2., erweiterte und durchgesehene Aufl., 1978, S. 311 – 360). 38 Für den Hinweis auf Briefstellen, aus denen sich ergibt, dass Heidegger erst spät, also nach „Sein und Zeit“, sah, wie nahe er in vielen Hinsichten dem unerhört radikalen Kant war, danke ich Gerold Prauss; die Seiten des Humanismusbriefes, in denen sich die eben (vorige Fußn.) zitierte Passage findet, zeigen andererseits, dass auch noch der reife Heidegger Kants Denken in zentralen Punkten nicht kannte oder missverstand.

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lässigt, ebenso wie auch das von der wissenschaftlichen Philosophie hinsichtlich Subjektivität und Objektivität und hinsichtlich Erkenntnistheorie Erreichte, muss zu Rückfällen führen. Das zeigt sich an Heideggers Begriff des Abbaues oder der Destruktion, die dann bei Jacques Derrida zur Dekonstruktion wird.39 — „Abbau“ ist im Deutschen mehrdeutig und entsprechend im Französischen: Derrida schreibt dazu, schon im Französischen sei das Wort déconstruction keineswegs klar und unzweideutig. Diese Hoffnung sei naiv. Schon in „meiner“ Sprache, schreibt Derrida, habe er ein ernsthaftes (sombre) Problem mit der „Übersetzung“ dessen, was mit déconstruction gemeint sei, je nach Zusammenhang wechsle das schon im Französischen. Noch mehr aber sei es so in deutschen und englischen und vor allem amerikanischen Kontexten.40 Als ich dieses Wort wählte, fährt Derrida fort, und dann korrigiert er sich: oder als vielmehr „sich dieses Wort mir selbst auferlegte“ – in der Grammatologie – da sei nicht klar gewesen, welch große Rolle ihm einst zukommen würde. U.a. habe er damals die Heideggerschen Worte Destruktion oder Abbau übersetzen und zu seinen eigenen Zwecken anpassen wollen.41 Man kann hier nicht den ganzen Brief,42 der diese Wortgeschichte erzählt, in der Ausführlichkeit durchsprechen, die er für die Frage der Postmoderne von seiner Bedeutung her verdienen würde. Aber auf zwei Aspekte sei hingewiesen. Erstens erklärt Derrida im Folgenden, das französische Wort déstruction habe er nicht nehmen wollen, denn es sei zu nah an Nietzsches Zerstörung (démolition), an der Vernichtung, an der negativen Reduktion gewesen, und dafür nicht nah genug an Heideggers Stil von Auslegen oder Interpretieren und damit nicht nah genug an der Lektüreart, die er, Derrida vorschlagen wolle. Es soll also nicht nietzscheanisch radikal zerstörend, sondern heideggerisch abgebaut werden. Spontan fiel ihm dafür die Übersetzung déconstruction ein, was gutes Französisch ist.43 Es ging also darum, Heidegger zu übersetzen, wenn auch abwandelnd, und Nietzsche dabei zu vermeiden. Das ist ein Merkposten. Was aber war – in Derridas Auffassung – jenes Heideggersche Erbgut, das einerseits (bei Heidegger) Destruktion und andererseits (ebenfalls bei Heidegger) Abbau heißt? Derrida sagt es in einer Weise, die mir gut heideggerisch scheint (jedenfalls für manche Heidegger-Phasen): „Each [also so39 Zu Derridas „Dekonstruktion“ und ihrer Entstehung aus Heideggers „Abbau“-Konzept vgl. im Einzelnen: „Nüchtern und klar trotz Postmoderne / Drei wissenschaftstheoretische Fragen zu Dietrich Murswieks Sechzigstem“ in „Nachdenken über Staat und Recht“, 2010, S. 11 ff., S. 14 ff. 40 Alle Zitate in Jacques Derrida, Letter to a Japanese Friend, datiert 10. Juli 1983, abgedruckt in dem Sammelband von David Wood und Robert Bernasconi (Hrsg.), Derrida and Différance, Evanston, Il., 1988, Northwestern University Press, 1 ff. (bisherige Zitate alle S. 1). 41 Bei Wood/Bernasconi ebd. Die Wörter Destruktion oder Abbau sind kursiv gesetzt und auf Deutsch geschrieben. 42 Lettre à un ami japonais, in: Jacques Derrida, Psyché, Inventions de l’ autre, Band II, nouvelle édition revue et augmentée, Paris 2003, S. 9 – 14. Der Freund ist (wie es in der Fußnote 1 bei Derrida aaO. S. 9 heißt) „der berühmte japanische Islamkundler“. 43 So zumindest sagt es Derrida, aaO., S. 1.

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wohl Destruktion als auch Abbau] signified in this context an operation bearing on the structure or traditional architecture of the fundamental concepts of ontology or of Western metaphysics.“44 2. Metaphysik oder Ontologie? a) Heideggerische, nicht Hartmann’sche Gleichsetzung bei Derrida In dem Zitat ist etwas wichtig, was Derrida ganz nebenbei hineingeschrieben hat: Es ist die Gleichsetzung von „de l’ontologie ou de la métaphysique occidentale“, also von „Ontologie oder abendländischer/westlicher Metaphysik“. Wer die Philosophie nicht nur bei unkritischen Heidegger-Fortsetzern kennengelernt hat oder direkt in die Postmoderne geraten ist, der sieht hier den fundamentalen Rückfall. Seit der Kritik der reinen Vernunft, also seit Kants erkenntnistheoretischem Hauptwerk, ist die Gleichsetzung von western metaphysics und ontology einfach nur falsch. Sie passiert zwar auch seither vielen. Aber sie verleugnet das revolutionäre und zugleich freiheitliche Erbe dieses Gipfels der Aufklärung. Wenn Derrida glaubt, die abendländische Philosophie treibe noch immer – er hat diesen Brief 1983 geschrieben – sie treibe noch zweihundert Jahre nach Erscheinen der Kritik der reinen Vernunft jene Seinswissenschaft (das ist die Bedeutung von Ontologie), so hat er die skeptische Wende dieser Philosophie, das radikal Kritische an ihr, übersehen. Auch Heidegger hatte dies am Anfang seines Schaffens und jedenfalls noch bei „Sein und Zeit“ nicht gesehen. Ein bis heute verbreiteter Irrtum macht aus Kant eine Art psychologisch ausgeklügelten Platon. Dieses Missverständnis verkennt aber das Radikale, Subjektivistische, Revolutionäre und potentiell Anarchische, die Wende zum Subjekt und zur autonomen Erkenntnis, die in Kants „kopernikanischer Drehung“ liegt. Zweiter Punkt ist jener angesprochene Abbau, die Dekonstruktion, die Derrida lieber ist als das Demolieren, mit dem Nietzsches Philosophie gewissermaßen als Abrissbirne gegen alles etablierte Denken vorgegangen war. Der nachlesenswerte Brief Derridas macht klar, wie nah das deutsche Wort Abbau, das Heidegger gewählt hatte, tatsächlich an dem ist, was Derrida mit déconstruction meint, und was tatsächlich zumindest zu einem guten Teil dem normalen französischen Wort déconstruction entspricht. Abbau oder déconstruction bedeutet in einem Satz: das Durcheinanderbringen der Wörter durch Zerstörung der Satzstruktur, oder auch: das Umbauen eines Satzes der Poesie, also der gebundenen Dichtung, in bloße Prosa, oder auch, und das scheint mir (wie auch für Derrida in seiner Selbstinterpretation) der Schwerpunkt zu sein: Es hat einen maschinentechnisch-mechanischen45 Sinn, und zwar, das ist das Beispiel, das Derrida dem Littré entnimmt und zitiert: Das Abbauen einer Maschine, ihre Zerlegung, um die einzelnen Teile dann 44 45

AaO., S. 1. „Une portée ,machinique‘“ (lettre aaO., S. 10).

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besser transportieren und an einer anderen Stelle die Maschine wieder aufbauen zu können – also wie etwa den Kran am Ende der Bauzeit. Dieser Abbau ist etwas anderes als Kritik, als Analyse, auch wenn er auf den ersten Blick einiges mit ihr gemeinsam zu haben scheint. Derrida betont in jenem Brief sogar selbst, dass Kritik, gerade die Kantische, etwas anderes sei.46 Im Gegenteil, erklärt er, die Kantsche Kritik selbst sei Gegenstand der Dekonstruktion, also des Abbaues. Gewiss, das kennen wir aus Derridas Texten, soll das, was wieder aufgebaut wird, nachdem es abgebaut worden ist, nicht dasselbe Gerät sein, das die Einzelbestandteile früher zusammen ausgemacht hatten. So wie Derrida sagt, das Wort habe sich ihm auferlegt, anstatt dass er selbst es gewählt habe, so wird auch der Wiederaufbauplan dem Text selbst, den Versatzstücken selbst zugeschrieben. — Auch der mittelbar (über Popper, Sartre und andere) wirkmächtig gewordene Nicolai Hartmann nennt sein Philosophieren zwar wieder Ontologie. Aber diese seine „Neue Ontologie“ ist kein Rückfall ins Vorkritische, sondern erkenntnistheoretisch geläutert. Hartmann ortet die erkenntniskritische Skepsis lediglich anders. Bei Derrida hingegen fehlt sie. b) Dekonstruktion im Unterschied zu Kritik Erinnern wir uns an die Gegenseite, an die gnadenlose Genauigkeit der Kritik bei Johannes Duns Scotus und Wilhelm von Ockham, bei Kant und Feuerbach, bei Stirner und Nietzsche, und schließlich bei den Autoren des zwanzigsten Jahrhunderts, wie Popper. – Stellen wir dem die Postmoderne gegenüber. Wolfgang Welschs einflussreiches Werk über die Postmoderne geht zu recht von der Architektur aus.47 Jeder kennt seit Jahrzehnten die Häuser, in denen sich Stilelemente vieler Epochen unverfremdet oder auch verfremdet mischen. Oft muss der Geschmack sich erst daran gewöhnen – mitunter kann er das nicht, oft ist es auf eigene Art auch „schön“.48 Hier waltet kein Prinzip, sondern es waltet Freiheit. Es ist aber nicht die Freiheit Kants, die die – anstrengende – Eigenschaft hat, möglicherweise gleich zu verlangen, dass ich mich ganz und gar der Vernunft unterordne. Die es mitunter sogar so weitgehend zu verlangen scheint, dass sich die Frage aufdrängt, ob man überhaupt noch von Freiheit reden soll und nicht gleich von Vernünftigkeit und dem Zwang der Vernunft. Es ist eine andere Freiheit in der postmodernen Architektur. Es ist Beliebigkeit. Nietzsche erkannte schon im neunzehnten Jahrhundert das Zeichen seiner Epoche als etwas Buntscheckiges, ein systemloses SichZusammensuchen von Versatzstücken früherer Epochen. Dies scheint mir ein Bild 46 Das tut er, obwohl er sich anderswo wohl durchaus als einen Kantianer bezeichnet oder zumindest mittelbar bekennt, nicht nur durch die oft in bejahender Absicht vor seine Texte gestellten Kant-Motti. 47 Wolfgang Welsch, „Unsere postmoderne Moderne“, 6. Aufl., 2002. 48 Das Bemühen um mehr Gefälligkeit (im Vergleich zur Strenge der Moderne) wird in vielen der Schaustücke, Videos, Filme usw. der oben (Fußn. 6) zitierten Londoner und Zürcher Ausstellung deutlich.

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der Dekonstruktion, des Abbaues im Sinne von Derrida zu sein: wie bei Heidegger eine Weigerung, auf den Errungenschaften der neueren Philosophie aufzubauen. Sie sind für Derrida nur „Text“, den man dekonstruieren und beliebig wieder zusammenfügen kann. Dieses Verfahren erklärt wohl auch die praktische Unbrauchbarkeit solchen Denkens, wie sie sich in Derridas Versuch offenbart, den modernen Terrorismus zu analysieren.49 Es handelt sich um ein (meist uneingestanden) spielerisches Denken, um Tinguely-Philosophie.50 c) Bedenklichkeit des Verfahrens Das Problem ist, dass bei diesen mehr ästhetischen als analytischen Verfahren auch die Allgemeinheit, der Anspruch des Denkens auf intersubjektives Zwingen, verloren geht. Nicht erst Derrida, sondern weitgehend auch schon Heidegger ebnet den Unterschied zwischen Literatur und Philosophie ein.51 „Philosophisches Denken hat überhaupt nicht mehr die Pflicht, Probleme zu lösen.“52 Die beschränkte Brauchbarkeit solchen Denkens wird klar, wenn wir Giorgio Agamben lesen. Er beschreibt unsere Epoche nicht unzutreffend, mit Anklängen an Carl Schmitt und an Kafka, als eine Welt von Lagern, des Krieges; aber ist es noch Kritik, die er übt? Heidegger kann man das solange nicht vorwerfen, wie er nicht praktisch wird. Sagt er nicht in jenem Zitat aus dem Humanismus-Brief, sein Denken liege jeder Praxis voraus, übertreffe sie gar?53 Doch wenn Mystik, so wie bei Heidegger, den Platz der Philosophie einnimmt oder eine Poesie-ähnliche Selbstreferenz von Sprache wie bei Derrida, dann muss der an Normativität Interessierte sich klarmachen, dass seine Themen hier nicht mehr verhandelt werden. Und weiter: er muss sich auch darüber klar sein, dass schon die Grundlagen alles dessen, was seine Themen betrifft, hier durch etwas anderes ersetzt worden sind.

49 Vgl. Jürgen Habermas und Jacques Derrida, „Philosophie in Zeiten des Terrors“, zwei Gespräche, geführt, eingeleitet und kommentiert von Giovanna Borradori, 2006. Zu den Ansätzen von Karl-Heinz Ladeur, „Postmoderne Rechtstheorie“, 2. Aufl. 1995, auf die hier aus Raumgründen nicht eingegangen werden kann, vgl. Thomas Vesting, „Die Sprengkraft des Heterogenen. Über Karl-Heinz Ladeurs „Entwurf einer post-modernen Rechtstheorie“ in: ARSP 81 (1995), S. 92 – 101. 50 Das ist kein Vorwurf gegen Tinguely. Oben (S. 63) ist gesagt geworden, dass Tinguelys Kunst eine sinnvolle, weil erheiternde oder auch fruchtbar befremdende Art von spielerischer Rekonstruktion aus spielerisch Dekonstruiertem sein kann. Theorie hingegen ist weder Kunst noch Spiel. 51 Vgl. dazu Jürgen Habermas, „Der philosophische Diskurs der Moderne. 12 Vorlesungen“, 4. Aufl. 1985, 219 f. In dem Kapitel davor wird auch deutlich, wie Rückfälle Edmund Husserls den Rückfällen von Heidegger und Derrida vorarbeiten. 52 So Habermas, aaO., 246. 53 Vgl. erneut Heideggers oben (Fußn. 37) zitierten „Brief über den Humanismus“, S. 354 ff.

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Wenn alle Grundlagen der aufklärerischen Konzepte, also etwa auch der Freiheitsbegriff, nur noch als „große Erzählungen“ / „grands récits“54 gelten, die sich so verknüpfen, wie die freien Assoziationen des Analysanden auf der Couch des Psychoanalytikers, dann erscheint auch ein konsequentes, etwa diszipliniert Ziele verfolgendes Ich nur noch als eine fragwürdige sprachliche Möglichkeit. Der Unernst im altmodischen Sinne, der hier konstatiert wird, ist kein Vorwurf. Diese Art von Philosophie strebt etwas anderes an. Und zweitens sei auch zugestanden, dass auch jene Konzepte, die der Moderne ihre analytische Schärfe gaben, nicht vor aller Kritik geschützt werden dürfen. Vielmehr sind auch sie permanent in Frage zu stellen. Zurückweisen möchte ich jedoch die Meinung, solche postmodernen Theorien überwänden die Moderne. Ähnlich wie die vermeintliche Überwindung, die Heidegger für sich in Anspruch nahm, dem sie viel verdanken, scheitern sie. Dieses Scheitern ist aber kein Zufall. Es liegt an der Unverzichtbarkeit eben jener Instrumente des Denkens, insbesondere der Freiheits- und Kritikvorstellungen, denen die Moderne zum Sieg verholfen hat und die ihrerseits die Aufklärung zum Sieg geführt haben. 3. Dekonstruktion als Parodie Zur Veranschaulichung sei von einer Parodie berichtet. Die Parodie heißt: Transgressing the boundaries55 und macht sich über die postmoderne Philosophie lustig. Sie erschien 1996 in der renommierten amerikanischen postmodernen Zeitschrift Social Text56. Das Copyright liegt noch immer beim Verlag jenes damals auf den Arm genommenen Fachblattes, der Duke University Press.57 Der amerikanische Physiker und Mathematiker Alan Sokal wagte ein Experiment, und es gelang: Er veralberte den postmodernen Schreibstil und verkaufte seine Parodie an ein Flaggschiff dieser Strömung, das ihn ernstnahm. Als er den Irrtum einige Zeit später aufdecken wollte, in einem weiteren Artikel, weigerte Social Text sich, diese Entlarvung zu drucken. Die Begründung war, er entspreche nicht dem Niveau der Zeitschrift … Daraufhin, 1997, veröffentlichte Sokal zusammen mit einem anderen Physiker, Jean Bricmont jenes Buch, dem wir einleitend schon begegnet sind. In Frankreich hieß es „intellektuelle Hochstapeleien“, „impostures intellectuelles“58, in den USA Fashionable Nonsense, wie auch auf Deutsch: Eleganter Unsinn. 54

Vgl. dazu die knappe, überzeugende Kritik von Mahlmann (oben Fußn. 9). Der vollständige Titel lautet: „Transgressing the Boundaries: Towards a Transformative Hermeneutics of Quantum Gravity“. /Die Grenzen überschreiten: Unterwegs zu einer transformativen Hermeneutik der Quantengravitation. 56 In der Nr. 46/47 von Social Text, 1996, S. 217 – 252. Mein Bericht stützt sich auf Sokal/ Bricmonts Buch (vgl. oben, Fußn. 3). 57 Wiederabdruck in dem Buch von Sokal/Bricmont aaO. (oben, Fußn. 3), S. 262 – 309. 58 Éditions Odile Jacob, Paris, Oktober 1997. Vgl. Sokal/Bricmont aaO, S. 9. 55

Die Aufgaben der Moderne und der Stachel der Postmoderne

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Man warf ihnen vor, sie seien „humorlose, wissenschaftsgläubige Pedanten, die grammatikalische Fehler in Liebesbriefen korrigieren“.59 Pedanterie war aber nicht der Grund. Sokal und Bricmont ärgern sich über die postmoderne Mode, weil sie, wie sie in dem Buch schreiben, politisch gesinnt sind und folglich möchten, dass die Philosophie sich mit der wirklichen Welt und wirklichen Problemen beschäftigt, damit sie auch etwas nützt. „Dekonstruktion“ verringert die Möglichkeiten, Sinn von Unsinn zu unterscheiden.

VI. Der Name der Parodie Jene Parodie Alan Sokals ist noch wegen einer zufälligen Kleinigkeit bemerkenswert. Ihr Name, „Transgressing the boundaries“ veranschaulicht indirekt das Gefährliche der sogenannten Postmoderne: Transgressing (in etwa „Überschreitend“) gemahnt an den Kernsatz kritischen Denkens bei Ernst Bloch: „Denken heißt Überschreiten“. Denken hieß aber für Bloch, einen ernsthaft ringenden Fortsetzer der Modernen Philosophie, nicht irgendein Überschreiten, sondern mit zwei Zielen: in Erkenntnisabsicht und Befreiungsabsicht. Bloch hat die klassische Moderne, insbesondere Kant, durchaus auch überschritten. Er ergänzte die bürgerliche Befreiung durch die soziale und, wie er meinte, sozialistische. Er ersetzte die Errungenschaften der Moderne also nicht, sondern führte sie kritisch weiter.60 Dass zwei kritische Physiker das zum kritischen Fortschritt aufrufende Wort eines der letzten kritischen Philosophen, Ernst Bloch, über ihre Parodie setzten, kann irritieren. Zeigt es, wie weit der postmoderne Philosophiebetrieb die Geistesund Gesellschaftswissenschaften in Verruf gebracht hat? Zeigt es, wie ihr Fortschrittswille unter Spielereien verweht, unter einer Flut von Texten, die die Grenzen von Sprachwissenschaft, Literaturwissenschaft, Geschichte, Soziologie, Mystik, Dichtung und „Freier Assoziation“ (im Sinne von Freuds Psychoanalyse) überschreiten? Aus der unbefriedigenden Geschichte der Postmoderne ergibt sich als Fazit: Wir müssen stets neu zurück zum „Überschreiten“ im Stil der Moderne, damit wir nicht auf postmoderne transgressions hereinfallen. Das bedeutet: Die klassische, freiheitliche Moderne darf Brüche und Kritik nicht als „störendes Rauschen“ ausblenden. Sie muss dann vielmehr, um Luhmanns schöne Bildsprache aufzunehmen nachjustieren, das gestörte „Programm“ ergänzen.61 D.h. sie hat sich um noch wissenschaftlichere („objektivere“) Erkenntnis zu bemühen, muss folglich noch sorgfältiger nach Gerechtigkeit und Fortschritt auch für Schwache und Außenseiter streben. Insbesondere dann, wenn sie auch das Randständige und „Sonderbare“ 59

So Robert Maggiori in Libération, zitiert aaO., S. 9. Das wird besonders im Kapitel 19 seines rechtsphilosophischen Hauptwerkes „Naturrecht und menschliche Würde“ (1985) deutlich, das den Titel trägt: „Aporien und Erbe an der Trikolore: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ (S. 175 ff.). 61 Vgl. Luhmann aaO. (Fußn. 31), S. 128. 60

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ernstnimmt, dann entzieht sie der Idee, sie müsse abgelöst werden, von vorneherein die Legitimation. Die ständige Bereitschaft, das bisher Erreichte in Frage zu stellen und bei Bedarf kritisch und selbstkritisch zu überschreiten, wohnt der aufklärerischen Neuzeit schon selbst inne.

Die Nationalsymbole in Brasilien: Vom Kaiserreich zur Republik Von Joseph Jurt, Basel/Freiburg „Symbole sind Bestandteil der Identität der Staaten. Ihre Bedeutung beruht auf der Tatsache, dass Gewaltmonopol und juristische Instrumente nicht ausreichen, um die Legitimität der Regierung zu garantieren. So stellen sich Staaten über ein System von Zeichen und Emblemen dar, die ihre politischen Werte und Ideale übersetzen. Sie behaupten sich auf der symbolischen Ebene und schaffen ein Umfeld, das eine dauerhafte soziale Ordnung fördert und legitimiert.“ Das kann man auf einer Schautafel im Saal der Symbole im Museum der Republik in Rio de Janeiro lesen, das während 63 Jahren Sitz der Regierung der Republik Brasiliens war.1 I. Verfassungsstaat und politische Symbolik In der Tat waren Nationalsymbole mit der Bildung der Nationalstaaten seit der Amerikanischen Revolution im 18. Jahrhundert zu einer Notwendigkeit geworden. Die Staaten definierten sich nicht mehr über eine Dynastie (und deren Wappen), der gegenüber Loyalität Pflicht war. Entscheidend war der Transfer der Souveränität von der Person des Monarchen auf die Nation (das Volk) und die Garantierung der fundamentalen Rechte über eine Verfassung. Für die Nationalstaaten drängte sich darum die Schaffung eines Zusammengehörigkeitsgefühls auf, wofür man eine ganze Reihe von Instrumenten einsetzte: den Bezug auf eine geschichtliche Kontinuität, auf Heldenfiguren, eine gemeinsame Sprache und Kultur, auf Erinnerungsorte und eben eine Staatssymbolik.2 Den Nationalsymbolen kommt darum eine zentrale Funktion zu, weil sie wichtige politische Werte und Inhalte des politischen Selbstverständnisses eines Gemeinwesens in einprägsamer Weise visualisieren, in denen die Staatsbürger ihre politische Identität erkennen und anerkennen. Mit diesen leicht identifizierbaren omnipräsenten Symbolen werden, so der brasilianische Historiker José Murilo de Carvalho, „die Seelen geformt“.3 Auch in den Augen von Thomas Würtenberger sind politische 1

http://www.museudarepublica.org.br/principal2.html (Übersetzung des Textes J.J.). Siehe dazu Anne-Marie Thiesse, La création des identités nationales. Europe XVIIIe–XXe siècle. Paris, 1999. Joseph Jurt, Die Konstruktion nationaler Identitäten in Europa (18. bis 20. Jahrhundert), Francia, (28/3), 2001, S. 1 – 14. 3 José Murilo de Carvalho, A Formação das Almas: O Imaginário da República na Brasil, São Paulo, 1990. 2

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Symbole „ein wichtiges Medium politischer Kommunikation“: „Sie repräsentieren die geistigen Grundlagen und zentralen Prinzipien der politisch-rechtlichen Ordnung. Damit schaffen sie die Identität einer Gemeinschaft und beanspruchen um der politischen Kontinuität willen Geltung für die Zukunft.“4 Thomas Würtenberger hat in seinen Publikationen häufig über die Legitimation von Herrschaft gearbeitet und kam dabei immer wieder auf die politische Symbolik zu sprechen, etwa in der Studie Verfassung als Gegenstand politischer Symbolik im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert5 oder im eben genannten Aufsatz über Die Verfassungssymbolik der Revolution von 1848/49. Er untersucht dabei diese Symbolik in den Medien der politischen Publizistik und vor allem auch in der Kunstform der Medaillen, in denen die Erinnerung an die „unterschiedlichsten privaten oder politischen Ereignisse zumeist auf hohem künstlerischem Niveau wach gehalten werden“.6 Verfassungen sind indes relativ abstrakte Gebilde; visualisiert werden vor allem einzelne Verfassungsprinzipien, wie Recht auf Arbeit, Freiheit, Solidarität, die die Verfassung durch Symbole für den Bürger erfahr- und sichtbar machen. Als ich Anfang der 1990er Jahre angesichts der eminenten Bedeutung der Verfassung und der Verfassungsgerichtsbarkeit in der Bundesrepublik nachfragte, ob nicht das Bundesverfassungsgericht zu einem neuen politischen Symbol Deutschlands geworden sei, wies man in den Antworten auf das Problem der schwierigen Visualisierung hin. Ernst-Wolfgang Böckenförde, einst selbst Bundesverfassungsrichter, unterstrich dieses hohe Ansehen des Bundesverfassungsgerichts, das bei der Bevölkerung gleich hinter, einige Jahre vorher noch vor dem Bundespräsidenten rangierte. Er bezweifelte aber, dass dieses Ansehen schon einen Symbolcharakter begründe: „Die Verfassung als solche ist zunächst ein Abstraktum. Sie gewinnt Leben in den Institutionen, die die Verfassung begründet und organisiert und im konkreten staatlichen Leben.“7 Das Grundgesetz zu den sozial akzeptierten Symbolen zu zählen greift, so auch ein damaliger Sprecher des Bundesministeriums des Innern, teils zu kurz teils zu weit: „Zu kurz deshalb, weil die Verfassung natürlich von ihrer Aufgabenstellung und ihrem Regelungscharakter her weit mehr ist als nur ein Symbol. Zugleich aber auch zu weit, weil das Grundgesetz wegen seines erklärten Übergangscharakters […] ohne den Anspruch auftrat, Symbol zu sein. Wenn die Verfassungswirklichkeit heute auch anders aussieht, so wird man den Symbolcharakter gleichwohl vermissen, weil das Grundgesetz eine für Symbole kennzeichnende Eigenschaft nicht hat: Es reduziert seine Aussagekraft nicht auf einen für jeden Bürger erfass- und überschaubaren Kern, sondern bleibt für das breite Publikum zwar beruhigende aber weitgehend un-

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Thomas Würtenberger, Die Verfassungssymbolik der Revolution von 1848/49 im deutsch-französischen Vergleich, FS Jurt, 2005, S. 627. 5 Thomas Würtenberger, Verfassung als Gegenstand politischer Symbolik im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert, FS Rehbinder, 2002, S. 617 – 632. 6 Thomas Würtenberger (Fußn. 4), S. 629. 7 Persönlicher Brief von Ernst-Wolfgang Böckenförde vom 12. August 1991.

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bekannte Rechtsmaterie.“8 Die obigen Schreiben antworteten auf die Frage, ob es neue Symbole für das neue Deutschland gebe, die ich für ein Kolloquium in Genf zu beantworten hatte.9 Ich habe mich danach noch mehrfach mit der Bedeutung der Nationalsymbole vor allem im deutsch-französischen Vergleich befasst, unter anderem auch anlässlich eines von Thomas Würtenberger angeregten Kolloquiums über den Wandel von Recht und Rechtsbewusstseins in Deutschland und Frankreich.10 Der Bereich der Nationalsymbole ist so ein Gebiet, wo sich die Forschungsinteressen von Thomas Würtenberger mit den meinen treffen. Unlängst legte Thomas Würtenberger eine umfangreiche Arbeit zur „Verbindung von Freiheits- und Verfassungssymbolik“ vor, die er als einen „Beitrag zu historischen Formen der Globalisierung von Rechtskultur“ versteht.11 Nach einer umfassenden Analyse kommt er zu dem Fazit, dass in der Phase der Entstehung des Verfassungsstaats seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert länderübergreifend teilweise sehr ähnliche Symbolformen entwickelt wurden, die die neue politisch-rechtliche Ordnung repräsentierten. „Dabei war diese Symbolik das Scharnier, die das, was staatsrechtlich und staatstheoretisch auf den Weg gebracht wurde, dem Volk vermittelte. Die Freiheits- und Verfassungssymbolik diente der Konsekrierung politischer Werte und einem gemeinsamen politisch-rechtlichen Bewusstsein.“12 Wenn der Ursprung der Freiheitssymbolik in dieser Arbeit in der Antike verortet wird, so wird das frühe Aufgreifen dieser Symbolik in den jungen Vereinigten Staaten von Amerika unterstrichen, aber auch die Verbreitung im republikanischen Frankreich sowie die kritische Rezeption in England untersucht. Die globale Verbreitung dieser Symbolik wird über argentinische und mexikanische Beispiele belegt, die sich stark an französischen, nordamerikanischen Vorbildern orientieren.

8 Persönlicher Brief des Bundesministeriums des Innern (Sennewald) vom 16. April 1991; zum Problem der Visualisierung der Verfassung siehe auch Marion G. Müller, Verfassung, in: Uwe Fleckner / Martin Warnke / Hendrik Ziegler (Hrsg.), Handbuch der politischen Ikonographie, Band II, 2011, S. 514 – 520. 9 Internationales Kolloquium „Le symbolique et la formation des identités nationales européennes“, Institut universitaire d’études européennes, Genf 3.–4. Mai 1991; Joseph Jurt, „La nouvelle Allemagne: quels symboles?“, Actes de la recherche en sciences sociales, 98, 1993, S. 45 – 58. 10 Joseph Jurt, Die Rolle der Nationalsymbole in Deutschland und Frankreich, in: J. Jurt / G. Krumeich, Th. Würtemberger (Hrsg.), Wandel von Recht und Rechtsbewusstsein in Frankreich und Deutschland, 1999, S. 67 – 90; Id., Symbolische Repräsentation nationaler Identität in Frankreich und Deutschland nach 1789, in: Ruth Florack (Hrsg.) Nation als Stereotyp. Fremdwahrnehmung in deutscher und französischer Literatur, 2000, S. 115 – 140. 11 Thomas Würtenberger, Die Verbindung von Freiheits-und Verfassungssymbolik. Ein Beitrag zu historischen Formen der Globalisierung von Rechtskultur (Vortragsmanuskript 2010). 12 Ibidem, 55.

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II. Die Verfassungsrealität im Kaiserreich Brasilien An diesen letzteren Aspekt möchte ich anknüpfen und die Ausführungen von Thomas Würtenberger weiterführen durch die Analyse der politischen Symbolik Brasiliens. Brasilien stellt einen Sonderfall dar, denn die Republik wurde im Unterschied zu den anderen Nationen in Lateinamerika nicht gleichzeitig mit der Unabhängigkeit zu Beginn des 19. Jahrhunderts ausgerufen, sondern erst 1889 – genau hundert Jahre nach der Französischen Revolution. Brasilien war zunächst ein Kaiserreich. Als das napoleonische Frankreich sich anschickte, Portugal zu besetzen, um den Ring der Kontinentalsperre gegen Großbritannien zu schließen, übersiedelten 1807 der gesamte Hofstaat und die Verwaltung Portugals von Lissabon nach Rio. Zum ersten und einzigen Mal verlagerte eine Kolonialmacht die Hauptstadt ihres Reiches in die Kolonie. Der Prinzregent Dom João regierte ab 1808 das Königreich von Brasilien aus.13 Nach dem Fall Napoleons kehrte der Prinzregent nicht nach Portugal zurück, beendete den Kolonialstatus von Brasilien, dessen Verwaltung in der Zwischenzeit stark zentralisiert worden war, und dekretierte Ende 1815 das Vereinigte Königreich von Portugal, Brasilien und Algarve (Reino Unido). Nachdem in Portugal 1821 die Durchsetzung einer konstitutionellen Monarchie gefordert worden war, kehrte João VI. nach Portugal zurück und ernannte seinen Sohn Pedro zum Regenten des Königreichs Brasilien. Als das portugiesische Parlament versuchte, den Kolonialstatus Brasiliens wieder herzustellen, brach der Konflikt zwischen den alteingesessenen Weißen, den Kreolen, und den Neuzuwanderern aus Portugal aus. Im August 1822 wurde ein Unabhängigkeitsmanifest ausgearbeitet, mit dem sich auch Dom Pedro identifizierte, der zum Kaiser Pedro I. ausgerufen wurde.14 Es zeichnete sich so eine monarchische Lösung des Unabhängigkeitsprozesses ab, durch die „jene Legitimitätskrise vermieden werden konnte, der in Spanisch-Amerika alle neuen Regierungen ausgesetzt waren.“15 Träger der Unabhängigkeitsbewegung war die Schicht der einheimischen Großgrundbesitzer gewesen, die wohl die staatliche Unabhängigkeit erringen, aber die bestehenden Wirtschafts- und Sozialstrukturen wahren wollten. Die Person des Monarchen fungierte als „Identifikationssymbol und Garant der sozialen Stabilität.“16 Während der Zeit der Verfassungsgebenden Versammlung 1823 und später im Parlament bildeten sich drei politische Strömungen aus: die exaltados, die der Person des Kaisers und der Monarchie kritisch gegenüberstanden, die aber keine große Rolle spielten. Die Regierungen des Kaiserreiches wurden abwechselnd durch die moderados und die conservadores bestimmt. Die Ersteren bejahten wohl die Monarchie, 13 Nach Walther L. Bernecker / Horst Pietschmann / Rüdiger Zoller, Eine kleine Geschichte Brasiliens, 2000, S. 127. 14 Nachdem die portugiesischen Cortes Don Pedro zum Aufrührer erklärt hatten, kam es zum berühmten Ausruf Don Pedros am Fluss Ipiranga in der Nähe von São Paulo: (,grito de Ipiranga‘): „Unabhängigkeit oder Tod“. 15 Ibidem, S. 135. 16 Ibidem, S. 139.

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setzten sich aber für die verfassungsmäßige Begrenzung der kaiserlichen Prärogativen ein; die Konservativen unterstützten die breite Machtfülle, wie sie in der von Pedro I. 1824 erlassenen Verfassung vorgesehen war.17 Wenn sich nach Eckhard Rumpf das politische Denken im Kaiserreich stark am britischen Modell der konstitutionellen Monarchie orientierte, so wurde doch dem Kaiser eine herausragende Funktion zugeschrieben. Die Verfassung stattete – unter dem Einfluss der Theorie von Benjamin Constant18 – den Monarchen mit der sogenannten ,Ausgleichenden Gewalt‘ (,Poder Moderador‘) aus, die seine Rolle als Wahrer des Gleichgewichts der übrigen Gewalten legitimieren sollte. Diese Kontrollgewalt stellte de facto eine vierte Gewalt neben den klassischen drei Gewalten dar. Der Kaiser konnte Senatoren ernennen, das Abgeordnetenhaus auflösen, Minister einsetzen. Wenn Pedro I., der sich für die portugiesische Thronfolge interessierte, 1831 abdankte und die Regierungsgeschäfte zunächst von zwei Regentschaften wahrgenommen wurden, so übte dann sein Sohn Pedro II. während seiner 49-jährigen Herrschaft ab 1840 diese Prärogativen intensiv aus.19 Die Ausrichtung der beiden dominanten Parteien wurde nicht nur durch das jeweilige Verständnis der kaiserlichen Prärogativen bestimmt, sondern auch durch die Haltung zum Zentralstaat. Die traditionellen Wirtschaftszweige (der exportorientierten Latifundienwirtschaft und des Handels) sowie die gehobene Bürokratie favorisierten das zentralistische Staatskonzept der Konservativen. Die binnenmarktorientierte Landwirtschaft sowie die Kaffeepflanzer von São Paulo und Minas Gerais setzten mehr auf regionale Autonomie, um ihre Interessen durchzusetzen und standen darum der Liberalen Partei näher; Intellektuelle und Vertreter der Freien Berufe, die städtische Mittelschicht, optierten ebenfalls für die Liberalen, weil diese sich für die individuellen Freiheitsrechte einsetzten.20 Wenn zwischen den beiden Lagern immer wieder Machtkämpfe ausbrachen, so setzte sich 1853 eine Koalition (conciliação) durch, die bis 1862 hielt, innerhalb der die Konservativen tonangebend blieben. III. Die politische Symbolik des Kaiserreiches Brasilien Wenn Brasilien ab 1815 nicht mehr unter dem Kolonialstatus stand und 1822 unabhängig wurde, so bildete sich so eine neue Nation aus, die ihren Status auch durch Symbole zum Ausdruck bringen musste und wollte. Erstaunlicherweise spielte hier der französische Einfluss eine nicht geringe Rolle. Unter Napoleon war Joachim Le17

Nach Eckhard Rumpf, Unterentwicklung der politischen Parteien und Dominanz der Eliten in Brasilien, Diss. Berlin, 2004, S. 24. 18 Zur Konzeption des pouvoir royal als eine pouvoir neutre als Schiedsrichter der drei Gewalten siehe Benjamin Constant, Écrits politiques. Hrsg. v. Marcel Gauchet, Paris, 1997, S. 322 – 337: „De la nature du pouvoir royal dans une monarchie constitutionelle“. 19 Eckhard Rumpf (Fußn. 17), S. 25 – 30; zur Regierungszeit von Pedro II. siehe auch Lilia Moritz Schwarcz, As barbas do imperador. D. Pedro II, um monarca nos trópicos. São Paulo, 1999. 20 Ibidem, S. 29 – 30.

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breton zum Premier secrétaire der Pariser Académie des Beaux-Arts ernannt worden. Mit dem Sturz Napoleons waren er und viele andere Mitglieder der Kunstakademie in Paris nicht mehr genehm. Lebreton bot dem portugiesischen Hof in Rio seine Dienste an. Im Januar 1816 kam eine relativ große Gruppe von Akademie-Mitgliedern in Rio an; dazu zählten unter anderem Lebreton, der Historienmaler Jean-Baptiste Debret, der Landschaftsmaler Nicolas-Antoine Taunay, der Architekt Auguste Grandjean de Montigny, der Bildhauer Auguste-Marie Taunay. Die Aktivität dieser Gruppe, die unter der Bezeichnung Missão Artística Francesa in die Geschichte einging, spielte für die kulturelle Entwicklung Brasiliens eine zentrale Rolle. Sie führte in Brasilien, das bisher durch den Kolonialbarock geprägt war, den neoklassischen Stil ein.21 Wenn nach 1815 der wirtschaftliche Einfluss Großbritanniens in Brasilien dominant wurde, so sollte diese Dominanz durch die kulturelle Tätigkeit der Franzosen etwas ausgeglichen werden. Im August 1816 unterzeichnet João VI. das Dekret der Gründung einer Kunst- und Wissenschaftsakademie (Escola Real de Ciências, Artes e Ofícios), innerhalb der die genannte Gruppe der Franzosen eine wichtige Rolle spielte. Die französische Kunstmission prägte den Stil wichtiger dynastischer Ereignisse in Rio, so die Proklamation Joãos VI. zum König (1817), die Ankunft der Erzherzogin Leopoldine aus dem Hause Habsburg, der künftigen Gattin Pedros I., sowie die Krönung Pedros I. zum Kaiser des unabhängigen Brasiliens 1822.22 Der französische Maler Jean-Baptiste Debret (1768 – 1848), Schüler von David und dann ab 1816 wichtiges Mitglied der Missão Artística Francesa, war mit dem Aufbau der Kunstakademie betraut, stand schon vor der Kaiserkrönung in engem Kontakt mit Pedro I., wurde dann zu einem bedeutenden Lehrer an der Akademie. Als bevorzugter Maler des kaiserlichen Hofes wurde er des öfteren beauftragt, deren Mitglieder zu portraitieren.23 Pedro I. betraute Debret dann damit, eine Flagge für das unabhängige Kaiserreich Brasilien zu entwerfen, die Symbol der entstehenden Nation sein sollte. Die entworfene Fahne bestand aus einer gelben Raute in einem grünen Feld. Grün war die Farbe der Dynastie Pedros, des portugiesischen Hauses Bragança, und Gelb die Farbe der Dynastie seiner Frau, der Habsburger. Die Flagge griff so auf eine dynastische Tradition zurück und meinte keineswegs das Grün des Amazonas und das Gelb des Goldes, wie man es später zu reinterpretieren versuchte.24 Die Rautenform ging offenbar auf die Regimentsfahnen von Napoleons Armee zurück, wie man sie etwa auf Davids Bild Le Serment de l’armée fait à l’Empereur après la distribution des Aigles au Champ de Mars le 5 décembre 1804 sehen kann.25 Auf der 21

Siehe hierzu Julio Bandeira / Pedro Martins Caldas Xexéo / Roberto Conduru, A Missão Francesa, Rio de Janeiro, 2003. 22 Zu den damals erstellten Kunstbauten (Triumphbogen) siehe die Abbildungen, ibidem, S. 48 – 55. 23 Viele dieser Bilder sind im Band A Missão Francesa (Fußn. 21) abgebildet, S. 25 – 41. 24 Der Entwurf von Debret ist im Band A Missão Francesa (Fußn. 21), S. 60 abgebildet. 25 Musée National du Château de Versailles, siehe ibidem, S. 116. Debret verdanken wir nicht nur Porträts der Hofmitglieder und den Entwurf der Flagge, sondern auch zahllose ,ethnographische‘ Bilder mit Bräuchen, Personen, vor allem auch Sklaven aus dem alltäglichen Leben Rios zwischen 1816 – 1831, die sich im dreibändigen Werk Voyage pictoresque et

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gelben Raute der Bandeira Imperial fand sich ein blauer Schild mit dem karmesinroten Kreuz des Christusordens und der Armillarsphäre, ein stilisierter Sternenglobus, den man auf der Flagge des portugiesischen Principado do Brasil seit 1645 fand. Der Wappeninhalt verwies so ebenfalls wie die typische Form der kaiserlichen Krone auf die portugiesische Tradition. Die 19 Sterne innerhalb des Wappens erinnerten indes an die brasilianische Realität – die 19 Bundesstaaten – ebenso wie die grünen Kaffee- und Tabakzweige, die das Wappen umgaben. Die Flagge Brasiliens wies so schon seit der Unabhängigkeit ein spezifisches Profil mit den Farben Grün und Gelb und der Rautenform auf, die sich zumindest in ihrem Grundmuster nicht mehr wesentlich verändern wird. Die Geschichte der Landeshymne zeichnet nicht dieselbe Kontinuität aus. Der Kaiser Pedro I. hatte 1822 selber eine Hymne komponiert mit einem Text von Evaristo da Veiga zunächst unter dem Teil Hino constitucional Brasiliense, der dann zur Hino da Independência do Brasil wurde. Als Pedro I. 1831 abdankte, wurde auch seine Hymne nicht mehr gesungen. Einer der bekanntesten brasilianischen Komponisten, Francisco Manoel da Silva, der auch Schüler des Komponisten Sigismund Neukomm war, einem Mitglied der Missão Artística Francesa, legte 1831 eine neue Hymne vor zu einem Text von Ovídio Saraiva. Diese Hymne, die im Stil der italienischen Romantik komponiert war, von der einige berichten, sie sei schon 1822 entstanden, wurde sehr beliebt. Sie wurde aber nicht zur Nationalhymne; man nannte sie Hino 7 de abril mit Bezug auf den Abdankungstag von Pedro I., oder Marcha Triunfal. Unter Pedro II. wurde die Hymne bei feierlichen Anlässen gespielt, aber ohne den Text, den man als zu portugalfeindlich einstufte. Die Melodie blieb beliebt und wurde auf Drängen des Volkes, wie wir sehen werden, auch nach der Ausrufung der Republik beibehalten. IV. Positivistische, liberale und jakobinische Konzepte der Republik Die Zeit des Kaiserreiches war relativ symbolarm, weil der Kaiser selber als Garant der nationalen Einheit wichtigstes Symbol war. Diese Einheit war aber auch gefährdet durch die große soziale Ungleichheit und die Fortdauer des Sklavensystems. Während des Tripelallianz-Krieges von Brasilien, Argentinien und Uruguay gegen Paraguay (1865 – 1870), der über 50.000 Tote forderte, wurden die Reformprojekte, die auch der Kaiser hegte, eingestellt; die Liberalen verschärften ihre Opposition. Der Krieg zeitigte aber auch nachhaltige Folgen für die brasilianische Gesellschaft. Innerhalb der Streitkräfte schafften Vertreter aus der Mittelschicht den Aufstieg zum Offizierskorps und wandten sich republikanisch-liberalen Ideen zu. Die Truppen rekrutierten sich weitgehend aus (ehemaligen) Sklaven, die durch den Wehrdienst ihre Freiheit erlangten, was das Sklavenhaltersystem unterminierte. „Durch den Parahistorique au Brésil, ou Séjour d’un Artiste Français au Brésil (1834 – 1839) wiederfinden, das er nach seiner Rückkehr nach Paris (1831) veröffentlichte (siehe ibidem, S. 100 – 109).

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guaykrieg erfolgte der eigentliche Aufstieg des Heeres; aufgrund seiner besonderen Situation und seines messianischen Sendungsbewußtseins der Nation gegenüber wurde das Militär zum entscheidenden machtpolitischen Faktor. Es sah sich als Garanten der nationalen Integrität und als eine Institution, in der Brasilianer unabhängig von ihrer ethnisch-kulturellen Herkunft vertreten waren, was zur Vorstellung einer Identität zwischen Heer und Volk führe.“26 Das Heer war aber keineswegs eine kohärente Einheit. Es hatten sich innerhalb der Armee zwei wichtige Fraktionen ausgebildet. Auf der einen Seite gab es die traditionellen Militärs, die in der Truppe groß geworden waren, die von ihren Rivalen ,Pritschenleute‘ (tarimbeiros) genannt wurden, und die jüngeren Offiziere, die sich über die Wissenschaft definierten, die aus der Militärakademie der Praia de Vermelha in Rio hervorgingen, die sich als ,Tabernakel der Wissenschaft‘ bezeichnete.27 Hier wurde mehr Philosophie und Mathematik gelehrt als Militärstrategie. Die dort ausgebildete ,militärische Jugend‘ (mocidade militar) vertrat zum größten Teil republikanische und positivistische Ideen. Der eigentliche Meister der jungen Militärgeneration war Benjamin Constant Botelho de Magalhães (1836 – 1891), der Chef der Militär-Akademie, der als Ingenieur des Heeres im Paraguay-Krieg ein Kommando inne gehabt hatte. Er war ein sehr guter Kenner der positivistischen Philosophie von Auguste Comte. 1876 gründet er die Positivistische Gesellschaft Brasiliens. Da er sich ähnlich wie die ,Pritschenleute‘ der traditionellen Armee vom kaiserlichen Hof vernachlässigt fühlte, rief er mit deren Anführer, dem Marschall Manuel Deodoro da Fonseca den ,Clube Militar‘ ins Leben. Das Bündnis der beiden Tendenzen war eine Vorstufe für die Ausrufung der Republik. Die Positivisten waren nach Murilo de Carvalho gegen die Monarchie, weil diese gemäß der Drei-Stufen-Theorie Comtes der theologischen Phase entsprach, während die Republik die Staatsform der dritten, der positivistischen Phase sei. Mit Comte plädierten sie für eine starke Exekutive, die den Fortschritt befördern sollte. Bei der Ausbildung der jungen Offiziere wurde das Schwergewicht auf die technisch-naturwissenschaftliche Kompetenz gelegt im Unterschied zur mehr literarischen Bildung der zivilen Elite; der militärischen Elite stand darum die Idee einer ,republikanischen Diktatur‘, die die industrielle Entwicklung des Landes voranbringen würde, nahe.28 Die positivistische Bewegung zählte aber auch in dem südlichen Drittel Brasiliens von Rio de Janeiro bis Rio Grande do Sul viele Anhänger, vor allem in der Mittelschicht und an den Hochschulen und Akademien. Es gab aber daneben in der Zivilgesellschaft zwei Gruppen, die dem republikanischen Gedanken ebenfalls nahe standen. Auf der einen Seite war es die Kaffeeoligarchie des Bundesstaates São Paulo, die ihre Interessen vom Zentralstaat zu wenig gewahrt sah. Ihr Hauptpostulat war eine föderalistische Staatsstruktur. Ihre Philosophie war wirtschaftsliberal: das Gemeinwohl wurde als Summe der Privatinteressen bestimmt. Wenn diese Grup26

Walther L. Bernecker et alii (Fußn. 13), S. 165. Edouardo Bueno, Brasil: uma História. São Paulo, 2003, S. 239 – 240. 28 José Murilo de Carvalho (Fußn. 3), S. 27 – 29.

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pe vorgab, sich an den Vereinigten Staaten von Amerika zu orientieren, dann wurde vergessen, dass die dortige Kolonialgesellschaft viel egalitärer war, während hier die ,Republik‘ eine extrem ungleiche Gesellschaft zementieren sollte. In dem 1873 gegründeten Partido Republicano Paulista war so die Mehrheit der Mitglieder Großgrundbesitzer.29 Eine erste republikanische Partei (Partido Republicano) war indes 1870 in Rio mit einem republikanischen Manifest lanciert worden. Die Parteigänger stammten vor allem aus Vertretern der Freien Berufe und der Presse. Sie orientierten sich am jakobinischen Konzept der Republik, der relativ abstrakt gefassten Prinzipien von Gleichheit und Freiheit. Der starke Staat war für sie ein wichtiges Instrument, um die politischen Ziele zu realisieren. Diese relativ kleine Gruppe war die einzige, die eine Beteiligung des Volkes am politischen Geschehen vorsah.30 V. Der Kampf um die politische Symbolik der Republik Es war aber die Gruppe der Militärs, die eigentlich mit der Republik nicht viel am Hute hatten, aber ihre korporatistischen Interessen gegenüber der Regierung verteidigen wollten, die im Verein mit oligarchischen ,Republikanern‘ von São Paulo, die sich wegen der Sklavenbefreiung der Monarchie entfremdet hatten, die die Monarchie in einem Putsch in der Nacht vom 14. auf den 15. November 1889 stürzten. Der Marschall Deodoro da Fonseca war zu diesem Schritt überredet worden, als er hörte, sein Intimfeind sollte Premierminister werden. Beim Sturz der Monarchie war kein Blut geflossen. Ein paar hundert Offiziere waren zum kaiserlichen Palast gezogen und ihr Anführer ließ über einen Major mitteilen, dass die neue Provisorische Regierung vom Kaiser erwarte, dass er den brasilianischen Boden mit seiner Familie aufs schnellste verlasse. Der Kaiser, der eine Woche zuvor auf der Zollinsel (Ilha Fiscal) eine rauschende Ballnacht gegeben hatte,31 ging mit seiner Familie zwei Tage später, am 17. November ins Exil, zuerst nach Portugal und dann nach Paris, wo er 1891 starb. Ein anonymer Maler aus Bahia stellte die Abreise der kaiserlichen Familie am frühen Morgen dar. Während im Vordergrund der Marschall Deodoro da Fonseca die Nationalflagge einer Allegorie der Republik übergibt, über die eine Hand eine Jakobinermütze hält, besteigt die kaiserliche Familie ein Schiff. Das Bild, das schon 1889 entstand, belegt schön die Idealisierung und Mythisierung des Staatsstreiches.32

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Ibidem, S. 24 – 25 und Edouardo Bueno (Fußn. 27), S. 238. Ibidem, S. 25 – 26. 31 Ein großes Ölbild des letzten Balles der Monarchie von Aurélio Figueiredo findet sich im vormaligen Sitzungszimmer der Regierung im heutigen Museum der Republik in Rio. Das Gemälde findet sich abgebildet in Eduardo Bueno (Fußn. 27), S. 234 – 235. 32 Das Bild ist wiedergegeben in Lilia Moritz Schwarcz (Fußn. 19), Farbtafel Nr. 15. 30

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Die Ausrufung der Republik durch ,Republikaner‘ der 12. Stunde ohne Beteiligung des Volkes musste nun ihre Legitimität durch neue Symbole zum Ausdruck bringen. Offizielle Symbole waren Flagge und Hymne, die zu einem bestimmten Zeitpunkt auch gesetzlich festgelegt werden mussten.33 Hier entbrannte eine eigentliche ,Symbolschlacht‘, ein Kampf um die Deutung sowie um das Programm, das man der ausgerufenen Republik geben wollte. Die aufständischen Militärs trugen am 15. November keine Fahnensymbole mit sich. Akustisches Symbol war die französische Marseillaise, die bei der Republikanischen Gruppe der Hauptstadt schon vorher als Zeichen eines republikanisch-revolutionären Aufbruchs gesungen wurde, und als universelle und nicht nationale Hymne der Revolution galt, was für die (französische) Trikolore nicht zutraf.34 Es tauchte aber am 15. November ein brasilianisches Sternenbanner auf, dessen horizontale Streifen in den traditionellen brasilianischen Farben Gelb und Grün gehalten waren mit zwanzig Sternen auf dem schwarzen Innenviereck.35 Diese Fahne, die später ,Proklamationsfahne‘ genannt wurde, wehte zumindest bis zum 19. November am Gebäude der Câmara Municipal von Rio de Janeiro.36 Das Modell der Republikaner von Rio war eher die französische Republik; aber vielleicht ging es auch darum, die Liberalen aus São Paulo für die Sache zu gewinnen, die sich am nordamerikanischen Modell orientierten. Murilo de Carvalho berichtet von einigen analogen Exemplaren einer solchen amerikanischen Flagge.37 Die Positivisten waren mit diesem Flaggenkonzept nicht einverstanden. Sie beauftragten den bekannten Künstler Décio Villares, ein alternatives Modell zu entwickeln, das sie durch die Vermittlung ihres Meisters Benjamin Constant der Provisorischen Regierung übergaben. Sie folgten hier fast wörtlich den Vorstellungen von Auguste Comte. Wolf Paul hat sehr präzise darauf hingewiesen, wie Comtes positivistische Staatsphilosophie in die brasilianische Staatssymbolik einging. Nach Comte befand sich der Westen im ,organischen Übergang‘ vom metaphysischen zum wissenschaftlich industriellen Stadium der Geschichte; er konzipierte die politische Ikonographie, die diesem Übergang zu entsprechen habe. Er schlug einen grünen Grund vor, die „natürliche Farbe der Hoffnung, die dem Emblem der Zukunft eigen ist“. Auf den beiden Seiten der Fahne sollte einmal „die politische und wissenschaftliche Devise ,Ordnung und Fortschritt‘“, auf der andern „die moralische und ästhetische Devise ,Leben für den Andern‘“ stehen.38

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José Murilo de Carvalho (Fußn. 3), S. 109. Zu den beiden französischen Nationalsymbolen siehe Joseph Jurt (Fußn. 10), S. 72 – 77, S. 87 – 90. 35 Siehe dazu Wolf Paul, Ordem e Progresso. Entstehung und Deutung des brasilianischen Fahnensymbols, FS Kübler, 1997. 36 Nach José Murilo de Carvalho (Fußn. 3), S. 111. 37 José Murilo de Carvalho (Fußn. 3), S. 112; wir folgen seiner Darstellung. 38 Auguste Comte, Système de Politique Positive, zitiert nach der Übersetzung von Wolf Paul, (Fußn. 35), S. 119 – 120. 34

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Das positivistische Modell übernahm ,Ordem e Progresso‘ und verstand sich so „ideologisch als Fahne des nationalen Aufbaus und der zivilisatorischen Evolution, nicht als Fahne des revolutionären Umbruchs.“39 Von der Flagge des Kaiserreichs wurden die Farben so wie die Rautenform übernommen, aber die kaiserlichen Insignien, das Christuskreuz, die Armillarsphäre, der Sternenkranz, die Kaiserkrone sowie die Kaffee-und Tabakzweige (die auf die wichtigsten Produkte der Großgrundbesitzer verwiesen) wurden entfernt.40 An deren Stelle trat ein blauer Globus, der mit Sternen besetzt und von einem weißen Umschriftband mit der Devise, Ordem e Progresso‘ umgeben ist. Mit den Begriffen blauer Globus mit Sternen ist das Zentrum der Flagge nur rudimentär beschrieben. Die Sterne sind nicht etwa symmetrisch angeordnet, wie auf dem Sternenbanner der USA, sondern stellen genau die Sternenkonstellation über Rio de Janeiro am 15. November 1889 zwischen sechs und sieben Uhr, dem Tag der Ausrufung der Republik dar. Wir verdanken Jens Soentgen eine genaue Beschreibung und Deutung dieser Konstellation. Wenn man auch einen Astronomen als Berater herbeizog, so wurde doch die Konstellation leicht stilisiert. Der Fahnenhimmel ist spiegelverkehrt. Gewisse Sternenzeichen sind verkleinert, andere vergrößert. Vergrößert ist das Sternzeichen, das in der Sphärenmitte steht: das Kreuz des Südens (der Cruzeiro do Sul).41 Das Kreuz des Südens war für die portugiesischen und die spanischen Seefahrer von alters her ein Orientierungszeichen im südlichen Meer. Wegen der ersten ausführlichen Beschreibung des Sternzeichens durch einen portugiesischen Kapitän im 16. Jahrhundert, aber auch wegen seiner Lobpreisung im großen Seefahrerepos von Camões, den Luisiaden, galt der cruzeiro als das „portugiesische Sternenzeichen schlechthin.“42 Sowohl für Wolf Paul wie für Jens Soentgen erinnert der zentrale Platz des Sterns des Südens an Portugal, an den Ursprung Brasiliens in der portugiesischen Entdeckung, an deren „Drang nach fernen unbekannten Horizonten“.43 Die Sterne verweisen aber nicht bloß auf die Sternenkonstellation am Tag der Ausrufung der Republik; sie symbolisieren gleichzeitig die einzelnen Teilstaaten je nach ihrer Größe und Position. Das weiße Band mit der Aufschrift ,Ordem e Progresso‘, erscheint gleichzeitig auch als Sinnbild des Äquators. Das Band suggeriert die Dreidimensionalität eines Himmelsglobus; der Nachthimmel erscheint wie durch ein Fernrohr betrachtet, was sowohl an die nautischen Instrumente der Entdeckungszeit erinnert als auch an Instrumente der modernen Wissenschaft – Embleme der Comteschen dritten Phase.44 Gerade mit der Entsprechung Makrokosmos und dem (geogra39

Ibidem, S. 120. „Der Fortschritt Brasiliens begründete der Schöpfer der republikanischen Fahne Raimundo Teixeira Mendes, liege nicht mehr in der Pflanzung von Tabak und Kaffee, sondern in der Industrie, in der industriellen Ausbeutung der überreichen Naturschätze des Landes, als deren Symbol das Grün-Gelb erhalten geblieben sei.“ Wolf Paul (Fußn. 37) S. 115. 41 Jens Soentgen, Die Bandeira Brasileira, FS Gernot Böhme, 2002, S. 158. 42 Wolf Paul (Fußn. 35), S. 118. 43 Jens Soentgen (Fußn. 41), S. 158. 44 Jens Soentgen (Fußn. 41), S. 165. 40

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phischen) Mikrokosmos entspricht die Flagge der Philosophie Comtes, die von „organischem“ Geschichtsdenken geprägt ist. Die Sterne als Symbole der einzelnen Bundesländer fanden sich schon auf der Bandeira Imperial, als Kreis aufgereiht und nicht in ihrer wissenschaftlich ,genauen‘ Disposition. Auch die Farben wurden von der Kaiser-Flagge übernommen. Die Raute wurde verkürzt; sie berührt die Ränder der Flagge nicht mehr. Trotz der neuen Konzeption des neuen Zentralsymbols auf der Flagge, fällt die Kontinuität auf. Das Kreuz des Südens verweist auf die portugiesische Seefahrertradition, könnte aber auch als Verweis auf die religiöse Tradition gelesen werden. Die Farben Grün-Gelb und die Rautenform wurden von der brasilianischen Kaiserflagge übernommen, die jetzt nicht mehr dynastisch, sondern als Verweis auf die brasilianische Natur und ihre Reichtümer gelesen wurden. Nach Jens Soentgen ist diese Bemühung um Kontinuität kein Zufall: „denn für die evolutionäre Geschichtsphilosophie Comtes kommt alles auf einen sanften Übergang zwischen den Epochen an. Abrupte Umbrüche sind zu vermeiden, so lautet die Lehre, die Comte aus den blutigen Wirren der französischen Revolution gezogen hatte“.45 In der Tat findet man auch auf der Flagge Brasiliens nichts, was an die Symbol-Tradition der Französischen Revolution erinnern würde. Wie wir schon unterstrichen haben, vereint die Flagge der Republik eine vorgängige Tradition; aber es ist die positivistische Philosophie, die das Symbol am meisten geprägt hat. Das erstaunt, weil die Positivisten bei der Ausrufung der Republik nicht die bedeutendste Rolle gespielt hatten. Die Offiziere unter der Führung von Deodoro plädierten für die neue Staatsform, damit das Heer wieder in seine Rolle eingesetzt werde: „Die Republik ist das Heil der Armee“, so eine Aussage Deodoros am Vorabend des 15. November46 – eine sehr magere und ganz und gar partikularistische Legitimation der neuen Staatsform. Für diesen Regimewechsel, der letztlich auf kontingenten Motiven beruhte, hatten die Positivisten mit ihrem Stufenkonzept eine Theorie bereit, die das Vorgefallene einordnen konnte, und darum gelang es ihnen, trotz vieler Einwände, auch namentlich gegen die Devise ,Ordem e Progresso‘, ihre Deutung auf der Ebene der zentralen politischen Symbolik durchzusetzen.47 Erstaunlich war dann aber, dass die Verfassung Brasiliens von 1891 sich am Modell der Vereinigten Staaten orientierte48 und nicht an Comtes Konzept einer ,republikanischen Diktatur‘. Das Staatswesen nannte sich darum logischerweise ,Repúb45

Jens Soentgen (Fußn. 41), S. 163; vgl. auch Wolf Paul (Fußn. 35), S. 114: „Die Fahne erinnert an dieses Ereignis [Proklamtion der Republik], doch nicht allein daran, sie bekennt sich zur alten wie zur neuen Zeit, symbolisiert Vergangenheit und Gegenwart.“ 46 Nach José Murilo de Cavalho (Fußn. 3), S. 40. 47 Wolf Paul (Fußn. 35), S. 124. 48 Brasilien wurde nun zu einem Bundesstaat mit 20 Teilstaaten; die früheren Provinzen erhielten nun umfangreiche Kompetenzen. In der Verfassungstheorie herrschte Gewaltenteilung zwischen dem Obersten Gerichtshof (Judikative) dem Abgeordnetenhaus und dem Senat (Legislative) und dem Präsidenten, der die Exekutive repräsentiert. Die vorherige ,vierte Gewalt‘, die Schiedsrichterrolle eines Kaisers entfiel, doch in der Praxis griff immer wieder das Militär ein als „ausgleichende Macht“. (Walther L. Bernecker et alii, Fußn.13), S. 216.

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lica dos Estados Unidos do Brasil‘49, ein Name der bis 1968 blieb und dann in ,República Federativa do Brasil‘ geändert wurde. Die Fahne der Republik von 1889 blieb jedoch trotz allen Regimewechseln bis heute unverändert. Die meisten assoziierten wohl mit, Ordem e Progresso‘ nicht so sehr die Comtsche Idee einer republikanischen Diktatur sondern eher ein politisch ökonomisches Programm, das ein rechtes Programm der ,Ordnung‘ mit einer optimistischen Option für den ,Fortschritt‘ in Einklang zu bringen schien. Die allgemeine Akzeptanz der Republik-Flagge wird auch belegt durch das Monumental-Gemälde ,A Pátria‘ von Pedro Bruno aus dem Jahre 1919, das im ehemaligen Regierungssaal des heutigen Museums der Republik hängt.50 Die Fahne liegt in der Mitte, zwei Frauen sticken am Fahnentuch; (das mag auch ein Hinweis auf die Bandeira sein, die die beiden Töchter von Benjamin Constant in der Tat gestickt haben und die heute im Museum der Republik zu sehen ist.)51 Zwei weitere Frauen erscheinen in ihrer Funktion als Mütter, die eine stillt ihr Kind, die andere tröstet eine Tochter. Ein junger Bub, der den Betrachter anschaut, streichelt das Fahnentuch und ein Säugling, der auf einem Kissen liegt, spielt mit einem Stern, der aufgenäht werden soll. Im Schatten im Hintergrund sieht man eine ältere Person. Auf einem Tisch erkennt man eine kleine Marienstatue, an der Wand hängen Bilder von Tiradentes – dem Helden des ersten Aufstands im 18. Jahrhundert – sowie von Marschall Deodoro da Fonseca. Die Flagge wird nicht mit einem kriegerischen oder offiziellen Anlass in Verbindung gebracht, sie ist Gegenstand einer friedlich-bürgerlichen Szene, die durch das einfallende Licht bestimmt wird. Über die Präsenz von Personen aller Lebensalter wird das politische Symbol im Sinne von Comte ,naturalisiert‘. Der ganze Aufbau des Bildes entspricht der Philosophie Comtes, für den ,Individualismus‘ oder ,volonté générale‘ Begriffe des ,metaphysischen‘ Zeitalters sind. Der Mensch muss eintauchen in soziale Einheiten, die dazu beitragen, seinen sozialen Sinn zu entwickeln zunächst in der Familie, dann im Vaterland und schließlich in der Menschheit, der Comte einen geradezu religiösen Kult widmet. Das Vaterland erscheint als das Bindeglied zwischen der Familie und der Menschheit. So ist es bezeichnend, dass das Bild von Bruno, in dem stickende und sorgende Mütter im Zentrum stehen, ,A Pátria‘ heißt. Einzig die Marienstatue und das Bild von Deodoro entsprechen nicht dem positivistischen Programm, sollten aber vielleicht dessen Integrationsfähigkeit belegen.52 Die Bandeira Brasileira ist seit 1889 zum zentralen Symbol Brasiliens geworden. Das zweite offizielle Symbol ist die Hymne. Dass die Kaiser-Hymne von Manuel da Silva aus dem Jahre 1831 (ohne Text) sehr populär war, haben wir schon erwähnt. Im 49 Wenn das Sternenbanner abgelehnt wurde, so scheint doch das Emblem des Adlers aus dem amerikanischen Symbolarsenal mindestens partiell übernommen worden zu sein (als Verkörperung von Stärke und Liberalismus). So finden sich mehrere Adlerfiguren auf dem Regierungspalast, dem heutigen Museum der Republik in Rio. 50 Pedro Bruno ,A Pátria‘, abgebildet in José Murilo de Carvalho, (Fußn. 3), S. 106 – 107. 51 Abgebildet ibidem, S. 105. 52 Dazu ibidem, S. 22, S. 119 – 121.

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kleinen Kreis der Republikaner von Rio war indes die ,Marseillaise‘ sehr beliebt, und ihre Klänge ertönten auch am Tag der Proklamation der Republik.53 Medeiros e Albuquerque entwarf einen Text, der zur Hymne der Republikanischen Partei werden sollte. Im Refrain wurde die Freiheit beschworen, aber auch Gleichheit und Brüderlichkeit mit einer expliziten Distanzierung gegenüber der (nun abgeschafften) Sklaverei. Die Provisorische Regierung eröffnete noch Ende November einen Wettbewerb, um die beste Melodie zu diesem Text zu küren. 36 bekannte Komponisten beteiligten sich am Wettbewerb, aus dem Leopoldo Miguez mit seiner Version als Sieger hervorging. Das Volk hatte aber offen seine Anhänglichkeit an die alte Kaiserhymne manifestiert. So wurde mit dem Dekret 171 vom 20. Januar 1890 die alte Hymne von Francisco Manuel da Silva erstmals zur Nationalhymne und diejenige von Miguez zur Hymne der Proklamation der Republik (Hino da Proclamação da República) erklärt. Als offizielle Hymne galt, wie gesagt, diejenige von 1831. Joaquim Osório Duque-Estrada (1870 – 1927) hatte zur Melodie von Manuel da Silva 1908 einen neuen Text geschrieben, der anlässlich der Jahrhundertfeier der Unabhängigkeit 1922 auch als offiziell erklärt wurde. Hier wird auch die „Sonne der Freiheit“ beschworen, die Freiheit der Nation, die das „heroische Volk“ durch den ,Schrei von Ipiranga‘ mit der Unabhängigkeit erlangt habe. Im Zentrum steht die „hochverehrte geliebte Heimat“ („Pátria amada, Idolatrada“), die für ihre Kinder eine „fürsorgliche Mutter“ ist. Auch von Gerechtigkeit ist die Rede, vom „Kreuz des Südens“, von der „Standarte, stolz gehisst und voller Sterne im Lorbeergrün“. Wenn in der offiziellen Hymne so die Flagge erwähnt wird, so entwarfen Francisco Braga und Olavo Bilac 1906 noch eine eigentliche Hymne auf die Landesfahne (Hino à Bandeira). Dadurch wird wiederum die Zentralität der Bandeira als Nationalsymbol unterstrichen.54 VI. Eine Allegorie der Republik? Neben diesen offiziellen Symbolen gab es aber weitere Versuche einer politischen Symbolik. In der Monarchie verkörpert der Monarch sein Land. In der Republik übernehmen Personifizierungen oder Nationen-Allegorien diese Funktion. In Frankreich war es die Figur der Frau, die als Emblem der Freiheit galt, die zur Verkörperung der Nation wurde, deren Verankerung im Bildgedächtnis des Volkes durch den populären Namen der ,Marianne‘ ab Mitte des 19. Jahrhunderts noch verstärkt wurde. Die revolutionäre Deutung der Figur wird dabei durch die Jakobinermütze, die konsensuelle durch den Strahlenkranz angezeigt. In Frankreich ist in der Tat die Freiheitsfigur zur exklusiven Allegorie der Nation geworden, gerade auch weil die Re-

53

Zur Marseillaise siehe auch Joseph Jurt, (Fußn. 10), S. 87 – 89. Alle vier Hymnen sind auf der CD ,Hinário Nacional‘ (Manaus, Festa Irineu Garcia) vereint. 54

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publik und nicht die Verfassung, die sich wandelt, der eigentliche Ausdruck der nationalen Identität ist.55 Auch in Brasilien gab es einige Versuche, die Republik als Frau darzustellen. Aber meistens war es bloß ein Abklatsch von Marianne-Figuren in Bronze. Es entstand keine brasilianische eigenständige Bild-Tradition, die in einer Figur Freiheit, Nation und Republik vereint hätte. Es gab wohl bei den Positivisten eine Tradition der Allegorisierung der Frau; sie war aber die Verkörperung der Menschheit. So entwarf der schon genannte Künstler Décio Villares 1890 für die positivistische Kirche eine Prozessionsfahne, auf der eine Mutter mit den Zügen der Inspiratorin von Comte, Clotilde de Vaux, die Menschheit darstellen sollte.56 Kunstwerke wie die Sabinerinnen von David, oder Delacroix’ ,Die Freiheit führt das Volk‘ (1831) oder Daumiers ,La République‘ (1848) entstanden im brasilianischen Kontext nicht. Die Republik als Frau tauchte vor allem in Karikaturen auf, in denen die Enttäuschung über die neue Staatsform zum Ausdruck kam, welche einzelne Zeichner als Prostituierte darstellten. Wenn sich in Brasilien keine eigentliche Tradition einer weiblichen Allegorie der Republik entwickelte, so gab es dafür nach Murilo de Carvalho mehrere Gründe. Einerseits war die Funktion der Frau als Symbol in dem durch die katholische Religion geprägten Land schon durch die Figur der Maria besetzt. Die Republik hatte im Sinne des positivistischen Programms die Trennung zwischen Staat und Kirche durchgesetzt; kirchliche Kreise stellten der Figur der Republik die der Maria entgegen. Bei der Französischen Revolution aber auch bei den späteren Aufständen in Frankreich hatten Frauen eine aktive Rolle gespielt. In Brasilien wurde den Frauen nur eine Funktion im Hause, aber keine in der Öffentlichkeit zugeschrieben. Selbst in der relativ radikalen Republikanischen Partei waren keine Frauen aktiv. So ist es auch bezeichnend, dass auf dem schon genannten Bild ,A Pátria‘ Frauen nur in ihrer häuslichen Rolle als Mütter und Stickerinnen dargestellt werden, im Übrigen alles weiße Frauen; farbige Frauen kamen überhaupt nicht ins Bild. In die französische Bildtradition der Frau als Symbol der Republik ging auch die Bildtradition der Freiheit ein. In einer Republik, die vom Militär getragen wurde, – fast alle Stellen der vormaligen zivilen kaiserlichen Verwaltung wurden mit Offizieren besetzt – konnte die Freiheit nicht im Vordergrund stehen, sondern eben Ordnung und Disziplin. So ist es auch kein Zufall, dass in Frankreich zur selben Zeit der Positivismus Comtes, der vom Primat sozialer Einheiten vor dem Individuum ausgeht, zum Meisterdenker autoritärer politischer Richtungen wie der Action Française wurde.57 55 Siehe dazu Thomas Würtenberger, Die Verbindung von Freiheits-und Verfassungssymbolik, (Fußn. 11); Joseph Jurt, Die Allegorie der Freiheit in der französischen Tradition, in: Klaudia Knabel / Dietmar Rieger / Stephanie Wodianka (Hg.), Nationale Mythen-kollektive Symbole, 2005, S. 113 – 126. 56 Nach José Murilo de Carvalho, (Fußn. 3), S. 77 – 96. 57 Siehe dazu Wolf Lepenies, Die drei Kulturen, 1985, S. 41 – 48.

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Eine Frau, die in der Realität für die Freiheit hätte stehen können, war die Prinzessin Isabelle, Regentin des Kaiserreiches während der krankheitsbedingten Abwesenheit ihres Vaters. Unter ihrer Regentschaft wurde das sogenannte ,goldene Gesetz‘ (Lei Aurea) erlassen, das die sofortige Aufhebung der Sklaverei am 13. Mai 1888 besiegelte. Sie wurde als ,Isabelle die Erlöserin‘ (Isabel a Redentora) gefeiert und Gedenkmünzen der Abolitionsbewegung stellen sie ins Zentrum mit zerbrochenen Ketten in der einen und dem Abschaffungsdekret in der anderen Hand.58 Auf eine bedeutende Figur der Monarchie wollten sich die Vertreter der neuen Republik nicht beziehen. VII. Die Erfindung des Helden der Republik: Tiradentes Bei der Konstruktion der nationalen Identität spielen oft auch Heldenfiguren eine Rolle; für die Schweiz ist es etwa die Figur von Wilhelm Tell,59 für die USA die „founding fathers“. Für die Republik in Brasilien gab es natürlich auch Gründerväter; die Anführer der Gruppen, die die Proklamation der neuen Staatsform trugen. Sie vertraten aber ein jeweils ganz unterschiedliches Verständnis der Republik: Deodoro eine Militärrepublik, Benjamin Constant eine soziokratische und Guintino Bocaiúva eine liberale Republik. Bezeichnenderweise blieben die radikalen Republikaner ohne Vertretung in der Regierung. In der Verfassung wurde Benjamin Constant der führende Positivist und Leiter der Militärschule, der die Funktion eines Kriegsministers, dann die eines Bildungs- und dann Postministers wahrnahm, ausdrücklich als ,Gründer der Republik‘ gewürdigt60; erster Präsident der Provisorischen Regierung war aber Deodoro da Fonseca, der sich mit Benjamin Constant nicht verstand; der Konflikt mit seinem Minister eskalierte bis zu einer Aufforderung zum Duell. Deodoro da Fonseca scheiterte mit seinem Versuch eines Staatsstreichs „von oben“, trat zurück und starb schon 1892; Benjamin Constant war schon ein Jahr zuvor gestorben. Die drei genannten Politiker, die ganz unterschiedliche Republikvorstellungen vertraten, eigneten sich nicht als ,Gründerväter‘. Zu deren Substitut wurde eine historische Figur über den klassischen Prozess der ,invention of tradition‘ (Hobsbawm). Diese Figur, die zu einer Art Ursprungsmythos stilisiert wurde, war Joaquim José da Silva Xavier, der unter dem Namen ,Tiradentes‘ bekannt wurde. Der Genannte stammte aus bescheidenen Verhältnissen und verdiente sich sein Geld mit Zahnziehen (darum der Name ,Zahnzieher‘). Die Provinz Minas Gerais, aus der er stammte, drohte in den 1760er Jahren wegen der hohen Abgaben an Portugal zu verarmen, weil die Goldfunde zurückgingen. Es kam zu einer Verschwörung, der sogenannten ,Inconfidência Mineira‘ (1789), die nach dem Vorbild der Vereinigten Staaten von Ame58

Siehe Lilia Moritz Schwarcz (Fußn. 19), S. 438 – 439. Siehe Joseph Jurt, Guillaume Tell ou la question du héros, in: Gérard Peylet (Hrsg.), L’Apogée, Bordeaux, 2005, S. 201 – 218. 60 Walther L. Bernecker et alii (Fußn. 13) S. 216. 59

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rika die Unabhängigkeit erlangen und die Sklaverei abschaffen wollte. Tiradentes wurde zu ihrem Führer. Er wurde verraten und am 21. April 1792 als einziger der Gruppe hingerichtet. Der Verwalter der Provinz, der Visconte de Barbacena, gab den Befehl, „ihn zu hängen, zu vierteilen und Teile des blutigen Leichnams als warnendes Beispiel auf die Straßen und Dörfer der Umgegend zu werfen“.61 Die Erinnerung an ihn wurde durch das Buch eines Forschers, Joaquim Norberto de Souza e Silva, Historiá da conjuração mineira (1872) wieder wachgerufen. Der Historiker betonte aber, dass die Rolle von Tiradentes nicht so zentral war und dass sein patriotisches Engagement sich im Gefängnis in ein religiöses verwandelte. Dem widersprachen republikanische Kreise, für die Tiradentes zu einem Mythos, zum politischen Helden geworden war, der für seine Ideen starb. In Rio hatte sich ein Tiradentes-Club gebildet; Tiradentes wurde als ,Christus der Massen‘ bezeichnet. Nach der Ausrufung der Republik intensivierte sich der Prozess der Kanonisierung. Der Todestag von Tiradentes, der 21. April, wurde 1890 zum offiziellen Feiertag erklärt. Auf einer anonymen Grafik, die zum Unabhängigkeitstag des ersten Jahres der Republik erschien, sieht man über den Wolken einen Engel, der seine Hand über den Märtyrer Tiradentes hält und der mit der anderen auf eine Indianerin verweist, die eine Gedenktafel an dem Datum der Unabhängigkeit hochhält.62 Während einer Kundgebung zu Ehren von Tiradentes im Jahre 1890 verteilte der schon öfters genannte positivistische Künstler Décio Villares eine Lithographie, die Tiradentes, von dem es keine zeitgenössischen Bilder gab, als einen Christus mit Bart und langen Haaren und der Märtyrerpalme neben einem Lorbeerzweig darstellt. Die Sakralisierung des ,Helden‘ ist noch offensichtlicher im Ölbild von Aurélio de Figuereido ,O martírio de Tiradentes‘, die den Helden auf einer Barke zeigt, dem ein Mönch ein Kruzifix entgegenhält, während der Scharfrichter seine Augen mit den Händen bedeckt.63 Noch eindrücklicher ist das Bild ,Tiradentes esquartejado‘ (1893) von Pedro Américo, das realistisch den gevierteilten Helden auf dem Schafott zeigt64, mit dem Kopf unmittelbar unter einem Kruzifix, was die Analogie mit der Passionsgeschichte sichtbar machen will. Die Betonung dieser Analogie zur Passionsgeschichte, die in diesem katholischen Land jedem bekannt war, trug, nach Murilo da Cavalho, zum Erfolg der Heroisierung von Tiradentes als einem republikanischem Helden bei.65 Er war gerade als ,Märtyrer‘, als ,Opfer‘ für die Republik ein idealer Held, weil er so nicht einen möglichen Widerstand gegen eine autoritäre Republik suggerieren konnte.66

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Siehe dazu Edouardo Bueno (Fußn. 27) S. 124 – 131. Abgebildet in Lilia Moritz Schwarcz (Fußn. 19), S. 474. 63 Abgebildet in Lilia Moritz Schwarcz (Fußn. 19), S. 473 und in Edouardo Bueno (Fußn. 27), S. 130. 64 Siehe ibidem, S. 131. 65 José Murilo ea Carvalho (Fußn. 3), S. 67. 66 Ibidem, S. 68. 62

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Die Figur verband überdies den Kampf für die Unabhängigkeit und die Abschaffung der Sklaverei mit der Republik, die Vergangenheit mit der Gegenwart. Über diese Sakralisierung hatte Tiradentes aufgehört, bloß mehr der politische Held der radikalen Republikaner zu sein. Schließlich konnten sich auch die Monarchisten auf sein Erbe berufen, weil die Monarchie seine beiden Zielvorstellungen – Unabhängigkeit und Abschaffung der Sklaverei – realisiert hatte. Das Geheimnis des Weiterlebens des Heldenkultes um Tiradentes liegt vielleicht, so Murilo de Carvalho, in seiner Ambiguität, da die Figur, von der man letztlich nicht so viel historisch Gesichertes wusste, sich als ideale Projektionsfläche eignet und sich gleichzeitig jeder einseitigen Vereinnahmung entzieht.67 VIII. Fazit José Murilo de Carvalho stellt in der Schlussfolgerung seiner Untersuchung fest, dass die Positivisten bei fast allen Symbol-Schöpfungen für die Republik in Brasilien präsent waren, bei der Flagge, beim Versuch einer Allegorie der Republik, beim Tiradentes-Mythos. Nach ihrer Vorstellung sollte eine kleine gebildete politische Elite die Gesetzmäßigkeiten der historischen Entwicklung erkennen und danach handeln „unabhängig von der Zustimmung wankelmütiger Volks- oder zufälliger Parlamentsmehrheiten“.68 Es ging ihnen darum, zu erreichen, dass das Volk diese Regierungsform akzeptieren, ja lieben lerne. Um das zu erreichen, engagierten sie sich so stark bei der Schaffung der Symbole der neuen Republik, die über ihre visuelle Form eine Bevölkerung ansprechen sollte, die zum größten Teil nicht alphabetisiert war.69 Das Volk „von der Wahrheit ihrer Doktrin zu überzeugen, war für die Positivisten die unabdingbare Voraussetzung für den endgültigen Erfolg der Aufgabe, die sie sich selbst gestellt hatten“.70 Die Republik hatte aber bei ihrem Versuch, eigene, neue Symbole zu schaffen, wenig Erfolg; die Symbole, die sich durchsetzten, so die Flagge, beruhten auf der Tradition des Kaiserreiches, der Tiradentes-Mythos war die Adaption einer religiösen Ikonographie. Die Symbole hätten sich zu wenig auf das Bildgedächtnis des Volkes gestützt. In der Tat war der Sturz der Monarchie „ohne Beteiligung des Volkes“ erfolgt: „was als ,republikanische Revolution‘ propagiert wurde, war nichts als der symbolische Verschwörungsakt einer kleinen Schar idealistischer Politiker und pragmatischer Militärs […]“.71 Die neue Verfassung – die immerhin 43 Jahre gültig blieb – regelte wohl das Verhältnis der politischen Gewalten; die Beteiligung des Volkes war aber minimal: Nur männliche Bürger über 21 Jahre, die Vermögen besaßen und keine Anal-

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Ibidem, S. 73. Wolf Paul (Fußn. 35), S. 122. 69 José Murilo de Carvalho (Fußn. 3), S. 129. 70 Ibidem, S. 140. 71 Wolf Paul (Fußn. 35), S. 120. 68

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phabeten waren, durften wählen: das waren 1894 2,2 % der Gesamtbevölkerung!72 Wenn die Symbole der Republik in Brasilien von einer politischen Elite (und beauftragten Künstlern) entworfen wurden, dann handelte es sich letztlich um Staats- und nicht um Nationalsymbole.73 Dadurch, dass diese Symbole überdauerten, die Hymne von 1831 bis heute, die Flagge seit 1889, der Tiradentes-Mythos ebenfalls bis heute, wurden sie zu Nationalsymbolen. Die intensive Suche nach Symbolen, um die sich eine (aus unserer Sicht sehr unvollendete) Republik bemühte, belegt ihre immense Bedeutung für die politische Kommunikation. Diese Symbol-Politik äußerte sich in Brasilien erneut mit der (voluntaristischen) Gründung von Brasilia vor fünfzig Jahren, eine Hauptstadt, deren Grundriss gleichzeitig ein Kreuz – das ,Kreuz des Südens‘ – und ein Flugzeug (,progresso‘) markiert, mit einem Platz der drei Gewalten (,Praça dos Três Poderes‘), um den sich das Parlament (Senat und Abgeordnetenhaus), das oberste Gericht und der Regierungssitz gruppieren. Eine beeindruckende symbolische Ordnung, aber gleichzeitig ein so massiv geordneter Stadtraum, der das Leben für den einzelnen Bürger in dieser Stadt nicht gerade leicht macht. Aber das ist eine andere Geschichte …

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S. 6.

Walther L. Bernecker et alii (Fußn. 13), S. 217. Siehe dazu Renilson Rosa Rebeiro, Republica(s) imaginada(s), Revista Aulas, 2, 2006,

Kairós – Zeitgeist – Verfassung Von Stephan Kirste, Salzburg Zeitgeist und Kairós (kaiq|r) beziehen sich auf unterschiedliche Aspekte von Zeit. Der Zeitgeist betrifft einen Aspekt von Dauer und Fluß der Zeit, der Kairós hingegen hebt besondere Momente in diesem Fluß hervor. Die Akzentuierung des einen oder anderen Elements der Zeit steht hinter unterschiedlichen Konzeptionen von Verfassung und ihrer Interpretation. Dem soll im Folgenden nachgegangen werden, um Möglichkeiten einer Vermittlung beider Positionen auszuloten. I. Zeitgeist und Verfassung 1. Der Begriff des Zeitgeistes Thomas Würtenberger1 hat sich wie kein anderer Jurist2 mit dem Thema Zeitgeist und Recht auseinandergesetzt. Er hat es auch gegen kritische Stimmen3 ver1

Das Thema wurde umfassend erarbeitet in: Würtenberger, Zeitgeist und Recht, 1987, 2. Aufl. 1991; vgl. hierzu auch die positive Rezeption etwa bei Rüthers, Zeitgeist und Recht, in: ZRP 1988, 283 – 285; Rezensionen auch von Klippel, FamRZ 1989, 580 f.; Sellert, ZRGGermanistische Abteilung 1989, 550 f.; Vormbaum, Goltdammer’s Archiv für Strafrecht 1989, 534 f.; Zippelius, AöR 1989, 308 f.; Wassermann, Recht und Politik 1990, 125 f.; Hasseln, DRiZ 1992, 228 f.; weiter ausgeführt wurden die Untersuchungen in: Würtenberger, Zeitgeist und Recht – die Verantwortung der Parteien, in: Eisenmann/Rill (Hg.), Rechtsbewußtsein und Staatsverständnis der Parteien, 1991, S. 12 – 34; Würtenberger, Beständigkeit und Wandel: Unser Rechtsstaat und der Zeitgeist, in: Politische Studien, 1993 (Sonderheft 5), 13 – 21; Würtenberger, Zeitgeist und Rechtsbewußtsein, in: Pädagogische Arbeitsstelle für Erwachsenenbildung in Baden-Württemberg (Hg.), Arbeitshilfen für die Erwachsenenbildung, 1994 (H. 29), S. 126 – 136; Würtenberger, Zeitgeist-Metaphorik und Recht in Frankreich und in Deutschland im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert, in: Jurt/Krumeich/Würtenberger (Hg.), Wandel von Recht und Rechtsbewußtsein in Frankreich und Deutschland, 1999, S. 91 – 106; Würtenberger, Zivilcourage gegen Zeitgeist, in: Meiche u. a. (Hg.), Anstiftung zur Zivilcourage, 2000, S. 54 – 66. 2 Vgl. kürzlich: Schmidt, Intellektuelle Moden in Recht und Rechtswissenschaft – Ein Versuch über den Zeitgeist, in: Harrer/Honsell/Mader (Hg.), Gedächtnisschrift für MayerMaly zum 80. Geburtstag, 2011, 423 ff.; Redeker, Zeitgeist und Werteordnung, in: NJW 1999, 3687 ff.; Schulze-Fielitz, Das Bundesverfassungsgericht in der Krise des Zeitgeistes, in: AöR 1997 (122), 1 ff.; Kutscha, Das Bundesverfassungsgericht und der Zeitgeist, in: NJ 1996, 171 ff.; Guggenberger, Der Zeitgeist und das Zeitgeistige, in: DRiZ 1993, 49 – 57 – aus der Zeit nach dem Erscheinen der 2. Aufl. von Würtenbergers Zeitgeist und Recht. 3 Küchenhoff, Geschichtlichkeit des Rechts oder Naturrecht, in: Speculum historiale, 1965, 395 – 407 (397): In der Nachfolge von Savignys wurde „der ,Volksgeist‘ zum ,Zeitgeist‘ und

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teidigt und damit konkreter und nachhaltiger gewirkt als die philosophischen Versuche der Zeitgeistforschung.4 Seit seinem Aufkommen etwa bei Wilhelm von Ockham (1288 – 1347), dann bei John Barclay (1582 – 1621) und anderen Konzeptualisten bezeichnet der Begriff des Zeitgeistes eine Qualität und später den Genius der Zeit.5 Im Fokus des Begriffsverständnisses steht also weniger der eigentlich temporale Aspekt, sondern vielmehr dasjenige, womit die Zeit „erfüllt“ ist. Der „genius animis et temporibus“ (Barclay) scheint an die Stelle des griechischen Aion (b aQ~m) getreten zu sein, der Lebenszeit, die antiken Denkern zufolge Menschen, wie menschlichen Werken von den Göttern verfügt war.6 Die Griechen hatten im Zeitlichen ein mangelhaftes Abbild der von den Göttern geordneten Zeit gesehen.7 Mit der beginnenden Neuzeit drückt der Zeitgeist den zeitlichen Möglichkeitshorizont für menschliches Handeln aus, die Bedingung des Fortschritts.8 Ob in diesem Sinne fortschrittsorientiert wie die Enzyklopädisten des 18. Jahrhunderts oder vergangenheitsorientiert wie etwa die Historische Schule des 19., immer wird die Gegenwart der jeweiligen Gesellschaft – verstanden im Sinne der Bergsonschen Longue Durée – mit ihrer Vergangenheit oder Zukunft, nicht mehr mit einem transzendenten Maßstab verglichen: Der Zeitgeist ist keine Zeit des Geistes oder Geistesgegenwart mehr. Ihr Geist hat sich „verzeitlicht“ und die treibenden Kräfte seines Flusses, sind immanente politische oder kulturelle Kräfte. Bei Arnold Ruge und Moses Hess wird der endliche Zeitgeist schließlich selbst zum handelnden Subjekt der Geschichte. Schien das politische Geschehen unter den Vorzeichen des Historismus der Macht des jeweiligen Zeitgeistes unterworfen zu sein, so wurde doch in der Nachfolge der Hegelschen Philosophie zugleich verlangt, daß die Philosophie ihre Zeit überschreite und unter den Neukantianern: von diesem Standpunkt aus auch kritisch prüfe und impulsiere.9 die Unklarheit erreicht ihren Höhepunkt. Denn ,der Zeitgeist‘ zeichnet sich dadurch aus, daß es ihn nicht gibt; Geist hat nur der Mensch, nicht ,die Zeit‘“. 4 Schoeps, Was ist und was will die Geistesgeschichte. Über Theorie und Praxis der Zeitgeistforschung, 1959; vgl. auch die zweibändige Untersuchung von de Boor und Meurer, Über den Zeitgeist – aus den Jahren 1918 – 1995, besonders Bd. 2: „Justiz in Deutschland“, 1995. 5 Hierzu und zum folgenden auch: Konersmann, Zeitgeist, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, 2004 (Bd. 12), Sp. 1266 f. 6 Kirste, Die Zeitlichkeit des positiven Rechts und die Geschichtlichkeit des Rechtsbewußtseins, 1998, S. 41. Bei Platon hat sowohl Gott eine Lebenszeit, wenn auch eine vollkommene, als auch der Mensch und seine Werke (Kirste, S. 69 f.). Aristoteles versteht es als Ableitung aus „ewig“ und sieht sie als Lebenszeit sowohl der Himmelskörper als auch der irdischen Wesen. Während Plotin und die altchristliche Lehre Aion auf den Aspekt der Ewigkeit beschränken, greift die Romantik den Begriff wieder auf und verwendet ihn insbesondere in der Lehre von den Weltaltern bei Schelling, Wieland, Aion, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, 1971 (Bd. 1), Sp. 117 f. 7 Platon, Timaios 39c/d. 8 Konersmann (Fußn. 5), Sp. 1266 f. 9 Konersmann (Fußn. 5), Sp. 1269.

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Würtenberger hat die vielfältigen Bedeutungsgehalte des Begriffs des Zeitgeistes geordnet und begrifflich erfaßt: „Zeitgeist ist das Gemeinsame im individuellen Bewußtsein, d. h. Gemeinsamkeit in den Wertungen und Einstellungen, kurzum kollektives Bewußtsein. Individuelles Bewußtsein und Einstellungen werden durch den Zeitgeist geprägt und sind in dem Zeitgeist verhaftet.“10

Er umfaßt also die Menschen einer zu bestimmenden Gegenwart gemeinsamen Wertüberzeugungen, ihr Ethos11und ihre Einstellungen12, bringt sie auf einen gemeinsamen Nenner und prägt umgekehrt das Bewußtsein des Einzelnen.13 Es besteht danach ein interdependenter Wirkungszusammenhang von geistiger Strömung, Bewußtsein und Rechtsordnung.14 Die geistige Strömung wird inhaltlich durch die „politischen und kulturspezifischen Ideen, Weltbilder, Leitbilder, Wertvorstellungen, religiös-weltanschaulichen Ansichten, moralisch-ethischen Überzeugungen“ usw. geprägt.15 „Wandel ist das einzig Beständige im Zeitgeist“.16 Das mit dem Zeitgeist angesprochene dynamische Element ist nicht durch revolutionäre, sprunghafte Veränderungen, sondern eher durch kontinuierlichen Wandel gekennzeichnet.17 Hervorgebracht werden Wandlungen des Zeitgeistes aus sozialen und ökonomischen Gründen, historischen Schlüsselereignissen, wenn Grenzen eines bestimmten Paradigmas aufgezeigt werden, wesentliche neue Ideen aufkommen oder sich die Kommunikationsmedien ändern. Allerdings kann der Zeitgeist auch sei10

Würtenberger 1991 (Fußn. 1), S. 43. Feindt, Beamtenethos und Zeitgeist, in: DöD 1981, 1 ff. 12 Vgl. auch Hommes, Zeitgeist, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, 1931, Sp. 1522. Anders als Würtenberger versteht freilich Hommes den Zeitgeist ausschließlich als „Kollektiverscheinung“ und übersieht die individuellen Einflüsse darauf. 13 Würtenberger 1991 (Fußn. 1), S. 23; In diesem Sinne auch schon Windelband, Einleitung in die Philosophie, 1920, S. 91: „Wir sind gewohnt, vom Volksgeist oder vom Zeitgeist, von der Kultur oder dem Kulturbewußtsein zu reden: welche geistige Wirklichkeit denken wir uns darunter? Wir meinen doch bei nüchterner Überlegung nicht, daß solch ein Volksgeist usw. eine eigene substantielle Wirklichkeit bedeute, ein Wesen, das für sich außerhalb der Individuen und über ihnen bestünde: sondern wir meinen damit einen einheitlichen Lebensbestand, der einer Masse vorstellender und wollender Individuen gemeinsam ist“, vgl. auch S. 176, 305 u. 350. 14 Leitend ist die These, „daß die dominanten geistigen Strömungen einer Epoche individuelles wie kollektives Bewußtsein prägen, daß ein Wandel in den dominanten geistigen Strömungen zugleich auch Wandel von individuellem und kollektivem Bewußtsein bedeutet und daß sich mit änderndem Bewußtsein auch die Rechtsordnung verändert“, Würtenberger 1991 (Fußn. 1), S. 11. 15 Würtenberger 1991 (Fußn. 1), S. 12. 16 Würtenberger 1991 (Fußn. 1), S. 28. 17 Wenn auch Würtenberger zu Recht davon Abstand nimmt, den Wandel des Zeitgeistes an einen Rhythmus, etwa der Generationenfolge festzumachen, so jedoch Hommes (Fußn. 11), Sp. 1224 f. 11

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nerseits durch gezielte Maßnahmen beeinflußt werden, wenn es gelingt, Orientierungsmuster menschlichen Verhaltens zu formulieren und ein Gespür für die bis dahin latenten Orientierungsmuster, Bedürfnisse und Hoffnungen zu entwickeln. Nicht nur in totalitären Systemen,18 sondern auch in liberalen Gesellschaften kann der Zeitgeist durch wirtschaftliche Kräfte, technische Neuerungen, Eliten, Peergroups, Öffentlichkeitsarbeit von Regierungen etc. beeinflußt werden.19 Der Zeitgeist ist danach nicht nur eine quasi natürlich wirkende Kraft, sondern Manifestation kultureller Überzeugungen.20 Wichtige gesellschaftliche Funktionen des Zeitgeistes sind Orientierung, Stabilisierung und Legitimation. Der Zeitgeist vermittelt Werte, Lebenseinstellungen, Trends und ermöglicht so dem Einzelnen eine Orientierung für sein Verhalten. Damit hat der Zeitgeist zugleich eine konservative und stabilisierende Funktion: Wer sich verändernd gegen den Zeitgeist stellt, gilt als Außenseiter, auch wenn er vielleicht die Grundlage für eine neue Epoche mit ihren besonderen geistigen Qualitäten legt. Wer sich am Zeitgeist orientiert, scheint sich für sein Verhalten auch nicht besonders recht-fertigen zu müssen. Er scheint mit der Kraft des Normalen zugleich legitimiert. In diesem Sinne wirkt der Zeitgeist auch als „normative Kraft des Faktischen“ im Sinne Georg Jellineks.21 2. Zeitgeist und Recht a) Zeitgeist und Rechtsbewußtsein Im Verhältnis von Zeitgeist und Rechtsordnung ist dann die Frage leitend, „inwiefern geistige Faktoren die Fortentwicklung der Rechtsordnung beeinflussen können“.22 Damit ist der dynamische Aspekt von Phänomenen wie dem Rechtsbe-

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Würtenberger 1991 (Fußn. 1), S. 31. Würtenberger, Schwankungen und Wandlungen im Rechtsbewußtsein der Bevölkerung, in: NJW 1986, 2281 – 2287 (2285 f.). 20 Ein jedoch nicht ganz leichtes Unterfangen: „Die großen epochalen Wandlungen des Zeitgeistes können den in einer Epoche Lebenden nur selten in ihrer ganzen Tragweite bewußt werden. Wandlungen des Zeitgeistes lassen sich eben erst mit der wünschenswerten Sicherheit erfassen und feststellen, wenn sich das Neue durchgesetzt hat, also erst im Nachhinein“, Würtenberger 1991 (Fußn. 1), S. 49 f. 21 Jellinek beruft sich auf die „Einsicht, daß den tatsächlichen Verhältnissen selbst normative Kraft innewohnt, d. h. daß aus ihnen die Überzeugung hervorgehen muß, daß die tatsächlichen Herrschaftsverhältnisse als rechtliche anzuerkennen seien. Wo diese ausbleibt, kann die faktische Ordnung nur durch äußere Machtmittel aufrechterhalten werden, was auf die Dauer unmöglich ist … Wo … das einmal Gegebene durch die in Form der Gewohnheit sich äußernde Anerkennung zur Norm erhoben ist, da werden die dem außen Stehenden selbst noch so unbillig dünkenden Zustände als rechtmäßig empfunden“, Jellinek, Allgemeine Staatlehre, 1959, S. 341. 22 Würtenberger 1991 (Fußn. 1), S. 10. 19

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wußtsein23 oder auch Akzeptanz und Anerkennung24 angesprochen. Das Rechtsbewußtsein erfaßt „kollektive Wert-, Gerechtigkeits- und Richtigkeitsvorstellungen“.25 Es kann individuell oder kollektiv sein.26 Seine Vorstellungen mag es kritisch an das Recht herantragen oder umgekehrt von ihm geprägt sein.27 Über das Rechtsbewußtsein prägt der Zeitgeist Rechtskultur, die die Rechtsordnung insgesamt trägt, sie durchdringt und ihre Anwendung beeinflußt.28 Er wirkt über das Rechtsbewußtsein die Normsetzung, -anwendung und die Rechtsprechung.29 Wegen der Wandelbarkeit des Zeitgeistes und des durch ihn geprägten Rechtsbewußtseins, wird auch an das Recht als Norm die Forderung herangetragen, es soll wandelbar und in diesem Sinne „geschichtlich“ sein.30 Im Zentrum des kollektiven Rechtsbewußtseins steht nach Würtenberger der Verfassungskonsens.31 Er stabilisiert die normative Verfassung.32 So berief sich etwa das VG Neustadt in seiner vielzitierten Entscheidung zum „Zwergenweitwurf“ auf den Verfassungskonsens zur Konkretisierung der „Guten Sitten“ in § 33a II 23 Würtenberger (Fußn. 19), S. 2281; Würtenberger, Schwankungen und Wandlungen im Rechtsbewußtsein der Bevölkerung, in: Jakob/Rehbinder (Hg.), Beiträge zur Rechtspsychologie, 1987, S. 197 – 214; Würtenberger, Rechtsbewußtsein und verfassungsrechtlicher Handlungsspielraum des Gesetzgebers in Deutschland, in: Konrad-Adenauer-Stiftung (Hg.), Schutz des ungeborenen Kindes, 1991, S. 42 – 55; Würtenberger, Rechtsprechung und sich wandelndes Rechtsbewußtsein, in: Hoppe/Krawietz/Schulte (Hg.), Rechtsprechungslehre, 1992, S. 545 – 558; Würtenberger, Die Wechselwirkung zwischen Rechtsbewußtsein im Umweltschutz und Umweltrecht in Industriestaaten, in: Kroeschell/Cordes (Hg.), Vom nationalen zum transnationalen Recht, 1995, S. 239 – 250; Würtenberger, Gesetz, Rechtsbewußtsein und Schutz des ungeborenen Kindes, in: Schriftenreihe der Juristen-Vereinigung Lebensrecht, 1998 (Nr. 5), 31 – 52; Würtenberger, Rechts- und Verfassungsbewußtsein in Frankreich und in Deutschland, in: Le Forum Franco-Allemand, 1998 (numéro spécial mai/juin), 147 – 150. 24 Würtenberger, Akzeptanz als Leitlinie des Verwaltungsermessens, in: Pichler (Hg.), Rechtsakzeptanz und Handlungsorientierung, 1998, S. 287 – 291; Würtenberger, Gemeinschaftsrecht als Akzeptanz-Neuland, in: Pichler (Hg.), Rechtsakzeptanz und Handlungsorientierung, 1998, S. 307 – 312; Würtenberger, Die Akzeptanz von Gesetzen, in: Soziale Integration, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 1999 (Sonderheft 39), 380 – 397. 25 Würtenberger 1986 (Fußn. 19), S. 2282 f., Würtenberger 1991 (Fußn. 1), S. 13 f. u. 93 ff. 26 Demgegenüber beschränkt sich Kirste (Fußn. 6), S. 392 ff. auf das individuelle Rechtsbewußtsein. 27 Würtenberger 1991 (Fußn. 1), S. 104 f. 28 Würtenberger 1991 (Fußn. 1), S. 34. 29 Würtenberger 1991 (Fußn. 1), S. 157. 30 Llompart, Die Geschichtlichkeit in der Begründung des Rechts im Deutschland der Gegenwart, 1968, S. 134. 31 Würtenberger 1986 (Fußn. 19), S. 2282. 32 Würtenberger 1991 (Fußn. 1), S. 143 f.; ders. 1986 (Fußn. 19), S. 2281 u. 2287; ders., Wiedervereinigung und Verfassungskonsens, in: JZ 1993, 745 ff. (746). Kritisch zur Kompensation von Legitimationsdefiziten bei der Verfassungsgebung des Grundgesetzes: Murswiek, Präambel, in: Dolzer (Hg.), Bonner Kommentar, 2005, Rn. 154 f.

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Nr. 2 GewO33 und folgte damit dem BVerwG in seiner – wegen paternalistischer Argumente34 – problematischen ersten Peepshow-Entscheidung35. b) Zeitgeist und Normsetzung Da sich der Zeitgeist zumeist allmählich wandelt und jedenfalls die Entstehung neuer Paradigmen Zeit benötigt, ist die normative Orientierung an ihm einfacher, als an der Gesetzgebung, die eher in einer abrupten Veränderung besteht. Die Folge zeitgeistgetragener rechtlicher Entscheidungen von Gerichten, Verwaltungen und Legislativen ist – auch ohne ausdrückliche Mitwirkung des Volkes – die demokratische Legitimation durch Akzeptanz der Normen36 und damit die Vermeidung von Krisen. Verfassungen unterschiedlicher Zeiten verhalten sich anders zum jeweiligen Zeitgeist. Die klassischen liberalen Verfassungen versuchten die natürlichen Rechte und ein philosophisch more geometrico begründetes Verhältnis der Staatsgewalten und ihre Ordnung zu etablieren. Das Grundgesetz sollte zunächst in seinem Artikel 1 Abs. 3 zum Ausdruck bringen, daß die neue Verfassung nicht nur vorübergehend (Präambel und Art. 146), sondern auch „für unser Volk aus unserer Zeit geformt und niedergelegt“ sei.37 Neuere Verfassungen – man denke etwa an den Grundrechtskatalog der Verfassung der Bundesrepublik Brasilien von 1988 – wollen sehr konkrete Antworten auf Anfragen des Zeitgeistes geben.38 Der Zeitgeist kann selbst nach förmlichen Verfassungsänderungen verlangen39. Die förmliche Rechtsänderung hat aber nicht nur den Vorteil für die Rechtssicherheit, daß die neue Rechtslage klar markiert wird; sie bringt vielmehr auch die häufig unklaren Strömungen des Zeitgeistes zum Bewußtsein und damit zur Klärung. c) Zeitgeist und Verfassungsinterpretation Das Bundesverfassungsgericht hat in der Soraya-Entscheidung und hierauf aufbauenden Urteilen immer wieder die Bezugnahme auf den Zeitgeist gerechtfertigt. Insbesondere dann, wenn es das subjektive Auslegungsziel der Ermittlung des 33

VG Neustadt, NVwZ 1993, 98 f. (99): „Den Kern des maßgeblichen sozialethischen Ordnungsgefüges bilden die wertethischen Prinzipien, über deren Verbindlichkeit die Rechtsgemeinschaft im Verfassungskonsens befunden hat“. 34 Vgl. hierzu Kirste, Harter und Weicher Rechtspaternalismus unter besonderer Berücksichtigung der Medizinethik. In: JZ 2011, 805 ff. (805). 35 BVerwGE 64, 274 ff. (277). 36 Würtenberger, Legitimität, in: Evangelisches Soziallexikon, 2001, Sp. 607 – 609. 37 JöR N.F., 1951, S. 50 mit Fußn. 19. 38 Wieser, Vergleichendes Verfassungsrecht, 2005, S. 100. 39 Würtenberger, Verfassungsänderung und Verfassungswandel: Von der nationalen zu einer globalen Perspektive, in: Wahl (Hg.), Verfassungsänderung, Verfassungswandel, Verfassungsinterpretation, 2008, S. 49 ff. (S. 50).

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Willens des historischen Gesetzgebers als nachrangig gegenüber einer objektiven Auslegung des „Willens des Gesetzes“ ansieht,40 eröffnet es die Möglichkeit der Einbeziehung von zeitgeistorientierten Argumenten. Bei der Sinnermittlung von Verfassungsnormen komme es auf die aktuelle Funktion im Anwendungszeitpunkt an und nicht auf die Entstehungszeit. Wegen der Interdependenz von Norm und sozialen Verhältnissen und Anschauungen müsse sich die Verfassung mit diesen ändern.41 In seiner Entscheidung zum Existenzminimum aus dem Jahre 2010 hat das BVerfG dem Gesetzgeber einen Entscheidungsspielraum zur Berücksichtigung dieser „gesellschaftlichen Anschauungen“ bei der Konkretisierung des Rechts auf ein Existenzminimum eingeräumt.42 Es liegt auf der Linie dieser zeitgeistorientierten Rechtsprechung, daß das Gericht Gesetze als „Alterungsprozessen unterworfen“ ansieht.43 Bei der Rechtfertigung verfassungsrichterlicher Rechtsfortbildung des Verfassungsrechts spielen gewiß auch die sich immer schneller ändernden gesellschaftlichen Verhältnisse eine Rolle, die den Motor der Gesetzgebung ins Stottern bringen können.44 Auch die Verfassungsgerichte anderer Staaten haben sich mit der Zulässigkeit einer zeitgeistorientierten Rechtsprechung auseinandergesetzt. So schreibt der Supreme Court von New Jersey 1845 in The State v. Post, es sei nicht seine Aufgabe „dem gültigen Zeitgeist“ zu folgen und zu entscheiden, ob „Gesetze weise, klug oder gerecht sind; oder inwieweit sie mit Prinzipien der Menschlichkeit sowie natürlicher und angeborener Rechte übereinstimmen“.45 Stattdessen habe es den zur Zeit des Inkrafttretens der Verfassung geltenden Sinn seiner Interpretation zugrunde zu legen. Im zu entscheidenden Fall ging es um Sklaverei, die im Zeitpunkt des Inkrafttretens der Verfassung weithin anerkannt gewesen war. Anders – und ebenfalls unter Berufung auf den Zeitgeist – nahm der Supreme Court von Massachu40 Dazu Würtenberger treffend: „Bei dem Streit, ob eine subjektive oder objektive Auslegungsmethode bei der Interpretation gesetzlicher Texte vorzugswürdig sei, geht es letztlich um die Rolle der Zeit, d. h. ob das historische oder heutige Rechtsbewußtsein bei der Norminterpretation zugrunde zu legen sei“, Würtenberger 1991 (Fußn. 1), S. 164. 41 So die bekannte Stelle aus der Soraya-Entscheidung, BVerfGE 34, 269 ff. (288). 42 BVerfGE 125, 175 ff. (224): „Der Umfang dieses Anspruchs kann nicht unmittelbar aus der Verfassung abgeleitet werden …, sondern hängt von den gesellschaftlichen Anschauungen über das für ein menschenwürdiges Dasein Erforderliche, der konkreten Lebenssituation des Hilfebedürftigen sowie den jeweiligen wirtschaftlichen und technischen Gegebenheiten ab“. 43 Als Voraussetzung der Rechtsfortbildung bestimmt das Gericht zutreffend die Lückenhaftigkeit und Ergänzungsbedürftigkeit des Rechts und beschränkt die Veränderung auf die Anwendung, nicht auf die Norm selbst: „Eine tatsächliche oder rechtliche Entwicklung kann eine bis dahin eindeutige und vollständige Regelung lückenhaft, ergänzungsbedürftig und zugleich ergänzungsfähig werden lassen. Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Lückensuche und -schließung findet ihre Rechtfertigung unter anderem darin, dass Gesetze einem Alterungsprozess unterworfen sind. Die Gerichte sind daher befugt und verpflichtet zu prüfen, wie das Gesetzesrecht auf neue Zeitumstände anzuwenden ist…“. 44 BVerfGE 96, 376 ff. (394). 45 20 New Jersey Law Reports (N.J.L.) 368 (1845), S. 371, zit. nach Brugger, Recht und Rasse in der amerikanischen Verfassungsrechtsprechung, in: JZ 1989, 809 ff. (810).

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setts – zu einem vergleichbaren Wortlaut der dortigen Verfassung an, daß die dort geduldete Sklaverei verfassungswidrig sei.46 Interpretivistische Theorien etwa von Ronald Dworkin rechtfertigen die Einbeziehung des Zeitgeistes, denn dies kann dazu beitragen, die Rechtsordnung vom Standpunkt einer „political morality“ bestmöglich zu gestalten.47 Sie rechtfertigen ihre Ansicht damit, daß häufig der revolutionäre Verfassungsgeber unzureichend demokratisch legitimiert sei,48 so daß der jetzige demokratische Gesetzgeber sogar über eine höhere Legitimation für angemessene Entscheidungen verfüge als der historische Verfassungsgeber. Auch Würtenberger sieht derartige Rechtsfortbildung über den entstehungszeitlichen Sinn der Normen hinaus als demokratisch gerechtfertigt an.49 Sie harmonisiert zeitgeistgeprägtes Rechtsbewußtsein und geltendes Recht und läßt letzteres nicht mehr als eine heteronome, sondern autonome Ordnung erscheinen. So hält in der Tat, wie Zippelius feststellt, der Zeitgeist das Recht in Bewegung.50 II. Kairós und Verfassung Ein ganz anderes Bild ergibt sich, wenn die Verfassung aus der zeitlichen Perspektive des Kairós betrachtet wird. 1. Der Begriff des Kairós Vielleicht noch mehr als die Neuzeit hatte die Antike ein Gespür für den besonderen Augenblick, das „Itzt“, wie Hegel sagen würde51. In der Festschrift für

46 Vgl. Brugger (Fußn. 45), S. 811, der die Position des Gerichts im hier interessierenden Punkt zusammenfaßt: „Verfassungsrichter sind nicht auf die Achtung der überkommenen Tradition verpflichtet, sondern können auf die Anerkennung und Fortschreibung des Zeitgeistes drängen, die im Vordringen befindliche Meinung absegnen“. 47 Das Ziel seines „Law as integrity“-Konzepts ist es, daß „the community’s legal record the best it can be from the point of view of political morality“, Dworkin, Law’s Empire, 1986, S. 53, 228 – 232, 380 u. 411. Entsprechend werden Verfassungen moralisch und politisch verstanden und interpretiert, um „political morality into the heart of constitutional law“ zu implantieren, Ronald, Freedom’s Law, 1996, S. 3 f. 48 Dworkin (Fußn. 47), S. 363. 49 Würtenberger1991 (Fußn. 1), S. 192: „Zeitgeistorientierte Rechtsetzung und Rechtsfortbildung kommt, vorausgesetzt, die sich wandelnden Vorstellungen sind richtig erkannt, unmittelbare demokratische Legitimität zu.“ 50 Zippelius, Recht und Gerechtigkeit in der offenen Gesellschaft, 1994, S. 156 f. 51 Hegel, Die Vernunft in der Geschichte. Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, Hg. v. Hoffmeister, 1955 (Bd. 1), S. 182: „Was wahr ist, ist ewig an und für sich, nicht gestern und nicht morgen, sondern schlechthin gegenwärtig, ,itzt‘ im Sinne der absoluten Gegenwart. In der Idee ist, was auch vergangen scheint, ewig unverloren“.

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Fikentscher zitiert Johannes Gründel den griechischen Epigrammdichter Poseidippos aus Pella52 : „Wer bist du? Ich bin Kairós, der alles bezwingt! Warum läufst du auf Zehenspitzen? Ich der Kairos, laufe unablässig. Warum hast du Flügel am Fuß? Ich fliege wie der Wind. Warum trägst du in deiner Hand ein spitzes Messer? Um die Menschen daran zu erinnern, dass ich spitzer bin als ein Messer. Warum fällt dir eine Haarlocke in die Stirn? Damit mich ergreifen kann, wer mir begegnet. Warum bist du am Hinterkopf kahl? Wenn ich mit fliegendem Fuß erst einmal vorbeigeglitten bin, wird mich auch keiner von hinten erwischen so sehr er sich auch bemüht. Und wozu schuf Euch der Künstler? Euch Wanderern zur Belehrung.“

Der personifizierte Kairós berührt die Erde nur punktuell und ist gleich wieder verschwunden. Er kann nur kurz ergriffen werden. Wenn er vorbeigezogen ist und die Gelegenheit nicht „beim Schopf gepackt“ wurde, gibt es kein Halten mehr. Dann ist die Zeit vertan. Allegorisch wird er auch mit Schwert und Waage in der Hand dargestellt, zum Zeichen, daß er nicht für den bloßen äußeren Zeitpunkt steht, sondern für den richtigen, den gerechten Augenblick oder auch die Situationsgerechtigkeit und Rechtzeitigkeit.53 Der Ausdruck wurde jedoch nicht nur allegorisch in der Dichtkunst, sondern hier wie auch in der Rhetorik (etwa bei Gorgias) als Ausdruck dafür genommen, „das Rechte zur rechten Zeit zu [Hinzufügung, SK] sagen“54. Dabei kulminieren nicht nur die Ereignisse in einem bestimmten Zeitpunkt; hier werden auch viele Stränge der Erzählung oder der Argumentation zusammengeführt: Kairós ist ein Moment, der besonderen Aussagen vorbehalten ist.55 Aristoteles bezeichnet mit Kairós auch die Kulmination einer Entwicklung oder Handlung.56 Im jüdisch-christlich Verständnis ist die Zeit des Kairós eine herausgehobene, eine Hoch-Zeit. Hier zeigt sich, daß die Zeit erfüllt ist (Mk 1.15: fti pepk^qytai b jaiq|r)57. Mit Kairós wird 52 Gründel, Der „Kairos“ ärztlichen Handelns heute: Ganzheitliche Therapie, in: Großfeld u. a. (Hg.), FS Fikentscher, 1998, 70 – 90 (89). 53 Wolf, Griechisches Rechtsdenken I. Vorsokratiker und frühe Dichter, 1950, S. 184 f. 54 Theunissen, Pindar, 2000, S. 840. 55 Zum Begriff der Kairós in der griechischen Antike: Kerkhoff, Zum antiken Begriff des Kairós, in: ZPhf 1973 (Bd. 27), 256 – 274. 56 Vgl. auch zur Situativität des richtigen Handelns aufgrund von geeigneten und weniger geeigneten Augenblicken: Aristoteles, Nikomachische Ethik, III, 1, 1110a 13. 57 Theunissen (Fußn. 54), S. 872.

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eine Zeit bezeichnet, die „näher zum Heil“, (Rö 13,11), eine „Zeit der Gnade“ (2 Kor 6,2) und damit eine Zeit ist, die wegen ihres geistlichen Gehalts nicht vertan, sondern genutzt werden sollte (Eph 5,15 – 17)58 : Carpe diem! Der protestantische Theologe Paul Tillich hat aber auch die Problematik des Kairós angesprochen:59 Der Kairós bedeutet zwar das Einbrechen des Ewigen in die Zeit und somit ihre Erfüllung. Diese historisch einmalige Erfüllung ist jedoch ein vorübergehendes Phänomen. Der Moment ist so flüchtig, wie ihn schon die griechische Allegorie vorstellte. In diesem Sinn wird der Begriff des Kairós zum Gegenbegriff des Zeitgeistes. Während Kairós als besonderer Augenblick den Charakter der Ausnahme hat, des Ereignisses, des Existentiellen besitzt, ist der Zeitgeist gewissermaßen die Normallage. Kairós bedeutet die Diskontinuität, die im Einbrechen des Neuen begründet ist. Der Zeitgeist ist Ausdruck einer – wenn auch wandelbaren – Dauer. 2. Kairós und Verfassunggebung Der herausragende Augenblick, die Geistesgegenwart der Verfassungsgeber und die von ihnen nicht selten erhoffte und invozierte Gegenwart des Geistes in einem besonderen Moment der Geschichte ist der Zeithorizont der Schaffung und auch wesentlicher Veränderungen von Verfassungen. Dies zeigt sich besonders in ihren Präambeln. Gewiß enthalten Präambeln von Verfassungen mythologische Elemente.60 Sie sollen mit einem gewissen feierlichen Pathos auf den nachfolgenden, verbindlichen Teil der Verfassung einstimmen61 und unterwerfen sich somit nicht derselben juristischen Rationalität wie die übrigen Abschnitte der Verfassung. 58

Gründel (Fußn. 52), S. 90. Tillich, Der Widerstreit zwischen Raum und Zeit. Gesammelte Werke VI. Hg. v. Albrecht, 1963, S. 35: Die Idee des K. „enthält das Hereinbrechen der Ewigkeit in die Zeit, den unbedingten Entscheidungs- und Schicksalscharakter dieses geschichtlichen Augenblicks, aber sie enthält zugleich das Bewußtsein, daß es keinen Zustand der Ewigkeit in der Zeit geben kann, daß das Ewige wesensmäßig das in die Zeit Hereinbrechende, aber nie das in der Zeit Fixierbare ist“. 60 Dworkin (Fußn. 47), S. 348. Ausführlich auch Roellecke, Verfassungsgebende Gewalt als Ideologie, in: JZ 1992, 929 f.: Präambeln und verfassungsgebende Gewalt als Ideologie. Dies gilt gerade auch dann, wenn sie auf den Moment des Anfangs der Verfassung verweisen; vgl. dazu allgemein, Henke, Staatsrecht, Politik und verfassungsgebende Gewalt, in: Der Staat 1980, 181 – 211 (195); zu Mythos und Realität der Präambel des Grundgesetzes in bezug auf die verfassungsgebende Gewalt, vgl. Murswiek, Die verfassungsgebende Gewalt nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 1978, S. 56 ff. (S. 88): Die Behauptung, das Volk habe bei der Verfassungsgebung gehandelt sei historisch unrichtig. 61 Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 1998, S. 920; sie stehen so zwischen der Alltags- und einer technischen Rechtssprache, ders., Präambeln im Text und Kontext von Verfassungen, in: ders.: Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, S. 176 – 212 (S. 190 f.). 59

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In ihren Einleitungen und Präambeln drücken viele Verfassungen die Chance oder gar Notwendigkeit aus, daß sich das Volk gerade in diesem Augenblick eine Verfassung gibt.62 Sie heben den besonderen historischen Moment hervor63, der gekommen sei64, die letzte Gelegenheit für eine lange Zeit65, eine geschichtliche Lage, die nicht lange anhalten66 und vielleicht nicht wiederkommen wird, um über die generellen Strukturen des Gemeinwesens zu entscheiden. Die Verfassung von Kroatien etwa spricht ausdrücklich von einem „Wendepunkt“ in der Geschichte des Landes.67 Andere Verfassungsväter heben hervor, daß Verfassungen immer in gefährlichen Momenten der Geschichte geschaffen würden. Nur diese besonderen Gefahren würden die Kräfte und einen entsprechend ausgeprägten Willen zur Einheit über Parteigrenzen hinweg mobilisieren, die zu einem solchen Projekt erforderlich seien.68 In der ungesicherten Lage der Verfassungsgebung ist es die Not oder die Krise,69 die die Einheit dadurch stiftet, daß sie die Leidenschaften bändigt und sich auf das Neue der zu etablierenden Ordnung konzentriert. Weil in der Perspektive der Verfassungsgeber diese einigende Kraft für die Zukunft nicht zu erwarten ist, muß eine Ordnung geschaffen werden, deren dauerhafte Geltung selbst die Autorität hervorbringt, die aufkommenden Änderungswünsche zu steuern. Die Präambeln beruhigen mit diesen Formulierungen nicht nur Skeptiker, die gegenüber der Verfassungsgebung einwenden mögen, daß die Zeit für die Ausarbeitung und Verabschiedung einer Verfassung noch nicht gekommen sei – wenn sie denn je käme. Friedrich Carl von Savigny gab bekanntlich den Gesetzgebern zu 62 Ein anschauliches Beispiel ist die „Declaration of Independence“ (1776): „When in the Course of human Events, it becomes necessary for one People to dissolve the Political Bands which have connected them with another, and to assume among the Powers of the Earth, the separate and equal Station to which the Laws of Nature and of Nature’s God entitle them, a decent Respect to the Opinions of Mankind requires that they should declare the causes which impel them to the Separation.“ 63 Dies wird auch durch die Akzentuierung der eigenen Zeitrechnung wie etwa in der Verfassung Thailands von 1997 deutlich: „Today is the tenth day of the waxing moon in the eleventh month of the year of the Ox under the lunar calendar, being Saturday, the eleventh day of October under the solar calendar, in the 2540th year of the Buddhist Era.“ 64 Die Iranische Verfassung von 1979 betont dies: „Now, at the threshold of this great victory [the Islamic revolution of Iran], our nation, with all its beings, seeks its fulfilment“. 65 Wie etwa im Fall der Amerikanischen Revolution, Ackerman, We the People I. Foundations, 1993, S. 169 u. 179. 66 Ackerman (Fußn. 65), S. 288, “Nothing lasts forever, least of all a mobilized majority of private citizens. Soon enough, the popular mind will return to other things”. 67 „Am historischen Wendepunkt der Verwerfung des kommunistischen Systems und der Änderung der internationalen Ordnung in Europa, hat das kroatische Volk bei den ersten demokratischen Wahlen (im Jahre 1990), den frei zum Ausdruck gebrachten Willen, seine tausendjährige staatliche Eigenständigkeit und Entschlossenheit, die Republik Kroatien als souveränen Staat zu errichten, bestätigt“. 68 So Madison No. 49, in: Hamilton/Jay/Madison, Die Federalist-Artikel, 1994, S. 307. 69 Die „Not der Gegenwart“ erwähnt etwa die Präambel der Verfassung von NordrheinWestfalen vom 28. Juni 1950.

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bedenken, daß wenige Zeiten überhaupt in der Lage gewesen seien, ihr Recht zu kodifizieren. Der Anfang von Staaten gehörte nicht dazu. Nur eine mittlere Zeit verfüge über die entsprechenden Fähigkeiten.70 Sie knüpfe an das Herkommen an, sichere es für die Zukunft und schaffe so Kontinuität des Rechts. Kontinuität ist jedoch nicht die Entwicklungsvorstellung von Verfassungsgebern. von Savignys Skrupel fechten sie folglich auch nicht an. Sie beziehen sich auf historische Notwendigkeiten, die Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung im Interesse des Gemeinwohls oder ihren heroischen Willen und außergewöhnliche Tugenden,71 um sich gerade in diesem historischen Augenblick von den Rechtsbindungen der Vergangenheit loszusagen, eine Verfassung zu entwerfen und in Kraft zu setzen. Den Revolutionären der französischen Revolution etwa war dieser besondere Augenblick durchaus bewußt. Robespierre beklagt in seiner letzten Rede: „Wir werden untergehen, weil wir in der Geschichte der Menschheit den Augenblick für die Gründung der Freiheit verpaßten.“72 Das tatsächliche Moment der Gefahr, der Krise – eine Revolution, ein verlorener Krieg –, die eine Selbstvergewisserung und eine daraus entspringende demokratische Selbstbestimmung erfordern, sind die Momente, die die erforderliche Kraftanstrengung für einen rechtlichen Neubeginn freisetzen.73 Die Verfassungsgebung überführt im besonderen revolutionären Moment die vereinigten politischen Kräfte als historische Ausnahme in die Normalität der beständigen Autorität der Verfassung. Der besondere Augenblick der Verfassunggebung wird als Chance gesehen, das große Problem der Bildung eines einheitlichen Willens ohne die der Staatsgewalt dabei zur Verfügung stehenden verfassungsrechtlichen Verfahren zu lösen. Was als zeitliche Einheit der im Willen zum Neubeginn vereinigten Macht bei der Verfassunggebung ungetrennt auftritt, differenziert sich im Normalfall des Verfassungsalltags in das geordnete „Gegeneinander rivalisierender Interessen“74 durch unterschiedene Gewalten, in denen die Exekutive idealtypisch das Moment der Gegenwart, die Gesetzgebung das Moment der Zukunft und die Rechtsprechung das der Vergangenheit entfaltet.75 Dieses Gegeneinander der Funktionen steht jedoch unter der ordnenden Kraft verbindlicher Normen.

70 von Savigny, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Wissenschaft, 1814. Wiederabgedruckt in: Thibaut und Savigny, Ihre programmatischen Schriften, 1973, S. 95 ff. (S. 112). Im späteren „System des heutigen Römischen Rechts“ hat er dann eine etwas freundliche Ansicht gegenüber Kodifikationen vertreten, vgl. 1840 (Bd. 1), S. 41 f. 71 Ackerman (Fußn. 66), S. 170. 72 Zitiert nach Arendt, Über die Revolution, 2000, S. 75. 73 Vgl. zum Zusammenhang von Revolution und Verfassungsgebung Murswiek (Fußn. 60), S. 17 ff. 74 The Federalist Papers (Fußn. 68), No. 51, dt.S. 315. 75 Kirste (Fußn. 6), S. 253, 362 u. 377.

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So überrascht es nicht, daß einige Vorsprüche eine „Invocatio Dei“ oder „Nominatio Dei“ für dieses Projekt enthalten.76 Dies ist mehr als nur die rhetorische Überspielung der Willkür des Anfangs in der Verankerung von etwas Unbeliebigen, die menschliche Vernunft Übersteigenden77. Andernfalls hätte es bei der Diskussion um die Präambel der Europäischen Grundrechtecharta kaum eine Kontroverse um die Berufung auf ein „geistig-religiöses und sittliches Erbe“ Europas (deutsche Fassung) oder „its spiritual and moral heritage“ (britische Fassung) bzw. „son patrimoine spirituel et moral“ (französische Fassung) zwischen dem traditionell laizistischen Frankreich und Deutschland gegeben.78 Fremdverantwortung und Verantwortung für das eigene Werk, die gleichwohl nicht positiv-rechtlicher Natur sind, kommen hier zusammen und werden anerkannt.79 Es ist die Berufung auf eine Immanenz Gottes im Werk der Verfassungsgebung, ein Hineinrufen.80 Im Grunde könnte damit die „Anwesenheit“ oder mit Heidegger das „Anwesen“ Gottes angesprochen werden81. Die zeitliche Perspektive, die darin zum Ausdruck gebracht wird, ist nicht die des gemächlich sich wandelnden Rechtsbewußtseins; hier geht es um die Zeit des Geistes und nicht den Zeitgeist. In seiner Gegenwart soll ein Neuanfang der Verfassung gewagt werden.82 III. Der Zeithorizont der Verfassung: Kairós und Zeitgeist Lassen sich nun beide Zeitperspektiven, die des stillen und allmählichen Wandels des Zeitgeistes und die schrille, diskontinuierliche, exzeptionelle des Kairós miteinander vermitteln? 76

Etwa die Verfassung von Griechenland von 1975: „In the name of the Holy and Consubstantial and Indivisible Trinity, the Fifth Constitutional Assembly of Greece votes… .“ oder die Präambel der Schweizer Verfassung von 1999; Präambel der Verfassung von Brasilien; aber auch Pakistans Verfassung von 1973: „In the name of Allah, the Beneficent, the Merciful – The constition of the Islamic republic of Pakistan – Preamble: Whereas sovereignity over the entire Universe belongs to Almighty Allah alone …“. 77 Arendt (Fußn. 72), S. 265. 78 Zur Diskussion Heinig, Die Religion, die Kirchen und die europäische Grundrechtscharta. In: ZevKR 2001 (Bd. 46), 440 – 461 (457 f.) – und dabei handelt es sich bei dieser Formel noch nicht einmal um eine förmliche invocatio dei! 79 Hollerbach, Grundlagen des Staatskirchenrechts. In: Isensee/Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1989 (Bd. 6), § 138, S. 471 – 555 (S. 517); Häberle (Fußn. 61), S. 958 f. 80 Es muß also nicht notwendig bei einer strikten Transzendenz Gottes bleiben. 81 Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, 1973, S. 233: Die Anwesenheit des Seins oder in den Invocationes: des Gottes als „Beständigkeit und Ständigkeit“ der Verfassungen. Die Verfassungsgeber würden damit auf die gegenwärtige Einheit der drei Zeitdimensionen als „Anwesenheit“ hinweisen. Heidegger, Holzwege, 1994, S. 346 f. 82 Ausführlich hierzu: Kirste, Die Zeit der Verfassung. In: Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, 2008 (Bd. 56), S. 35 – 74.

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Inhaltlich stellt die Verfassung nicht notwendig einen Neuanfang dar. Sie mag an frühere Verfassungen anknüpfen oder ist etwa an Eigenarten der betreffenden Verfassungskultur gebunden. Formal jedoch ist sie eine „creatio ex nihilo“. Sie bezieht ihre rechtliche Geltung und Legitimation nicht aus einer vorhergehenden Verfassung, die etwa ihr Zustandekommen geregelt hätte.83 Denn verfassungsrechtlichnormativ ist sie ein Neuanfang. Verfassunggebung bedeutet mit anderen Worten eine Transformation von politisch moralischen Überzeugungen, Bindungen der verschiedensten Art und eben auch des Zeitgeistes in die rechtliche Form der Verfassung.84 Diese tatsächlichen Überzeugungen von moralischen und sonstigen Bindungen gehen dadurch nicht notwendig verloren; sie erhalten jedoch nach Maßgabe ihrer rechtlichen Rezeption und in ihrem Umfang rechtliche Verbindlichkeit. Auch ihr Inhalt als rechtliche Prinzipien oder Regeln richtet sich nun nach dem systematischen Zusammenhang, in den sie durch die Kodifikation gestellt worden sind. Der Kairós behält seine Funktion als Moment der Transformation – und der Zeitgeist? 1. Ein Modell der Vermittlung von Kairós und Zeitgeist: Constitutional Moments Bruce Ackerman ist bemüht, beide zeitlichen Momente zu berücksichtigen. Ausgangspunkt ist die Frage, ob, warum und inwiefern man sich in den USA auf 200 Jahre alte verfassungsgebende Entscheidungen verlassen soll.85 Zur Antwort entwickelt Ackerman ein prozedurales Verständnis der Verfassung, unterscheidet aber die Verfahren der verfassungsgebundenen Rechtsanwendung von der höheren Gesetzgebung als Rechtsveränderung, die nur in besonderen historischen Augenblicken stattfinden kann. Die Verfassung habe einen Mittelweg zwischen permanenter Revolution und „revolutionärer Amnesie“ gewählt, indem sie Änderungsregeln einbaut, die darauf angelegt sind, den Prozeß der Verfassunggebung fortzusetzen, indem sie das Volk zu Wort kommen lassen.86 83

Hannah Arendt beschreibt diese Situation als petitioprincipii. Sie liege darin, daß „diejenigen, die zusammenkommen, um den neuen Verfassungsstaat zu errichten, … selber keine verfassungsrechtlichen Befugnisse“ haben; Arendt (Fußn. 72), S. 238 u. S. 263, Dies sei „eine theoretisch unlösbare „petitio principii …, in die jeder Anfang gerät, weil er das auf ihn Folgende bedingt, gerade darum aber selbst als etwas Unbedingtes, Absolutes in Erscheinung tritt“. 84 Zum Konzept der Transformation im Recht: Kirste, Recht als Transformation, in: Brugger/Neumann/Kirste (Hg.), Rechtsphilosophie im 21. Jahrhundert, 2008, S. 134 – 156; auch Murswiek (Fußn. 60), S. 259 spricht von Transformation: „Die verfassungsgebende Gewalt ist der für die Praxis zwar nicht bedeutendste, aus theoretischer Perspektive jedoch evidenteste Punkt, wo praktische Politik in rechtliche Normativität transformiert wird.“ 85 Ackerman, We the People II. Transformations, 1998; Ackerman (Fußn. 65), S. 166: „What can hundreds of millions of men and women living in a postindustrial and polyglot America learn about governing a world power from these imperfectly liberated English men of long ago?“ 86 Ackerman (Fußn. 65), S. 171.

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Er sieht die Rechtsetzung auf verschiedenen Hierarchieebenen gewissermaßen immer dem Ansturm der „rights-foundationalists“, der Moralisten à la Dworkin, ausgesetzt. Während sich diese jedoch in Normalzeiten in den verfassungsrechtlichen Verfahren und im Rahmen der Spielräume von Gerichtsentscheidungen artikulieren sollen, kommt es in den Augenblicken des higher lawmaking zu einer Veränderung der sozialen Verfassungsgrundlagen selbst. Dieser Wandel wird zwar formal, nicht aber in der Sache durch die Regeln zur Veränderung der Verfassung eingefangen.87 Es geht um Paradigmenwechsel innerhalb des formalen Verfassungsrahmens. Die Momente dieses „higher lawmaking“ sind jedoch selten.88 Sie erfordern eine Anstrengung der besten Qualitäten eines Volkes, um einen Neuanfang ins Werk zu setzen und außerordentliche Leidenschaften,89 um die Risiken und Unbequemlichkeiten des Wandels zu überwinden.90 In derartigen historischen Situationen soll es nach Ackerman nur an der trüben Sicht der Verfassungstheoretiker liegen, daß sie den Prozeß der Verfassungsergänzung als verfassungsgebunden ansehen. Diese Änderungsregeln sind zwar nicht vollständig zu vernachlässigen, die verändernden Kräfte arbeiten jedoch um sie herum.91 Worauf Ackerman also abzielt, ist Verfassung als einen evolutionären Prozeß der Transformation der verfassungsrechtlichen Bestimmungen zu verstehen. Die ursprüngliche Verfassunggebung ist nur die Etablierung eines Rahmens für diesen Prozeß92 und kein historischer Moment „wie die Kreuzigung des inkarnierten Gottes in der christlichen Religion“.93 Seiner Auffassung nach kann man sich nicht vollständig auf diese Gründungsmomente verlassen, weil sie beeinträchtigt sein können und „imperfectly liberated people“ einer Gesellschaft, die auf einem geringeren Stand ihrer Entwicklung stand als der, den sie in der Gegenwart der Rechtsanwendung erreicht hat, an ihnen wirken.94 Obwohl Ackerman so einen Weg zwischen den beiden Polen der „permanenten Revolution“ und der „revolutionären Amnesie“ zu entwerfen versucht, indem er 87 Ackerman identifiziert in diesem Prozeß der höheren Gesetzgebung vier Phasen: (1.) „signaling phase“ eine politische Bewegung zeigt, daß „its reform agenda should be placed at the center of sustained public scrutiny“; (2.) „Proposalphase“ für eine verfassungsrechtliche Reform; (3.) „mobilized popular deliberation phase“; (4.) „codification phase“, Ackerman (Fußn. 65), S. 267. 88 Vor allem drei derartige Paradigmen identifiziert Ackerman (Fußn. 65), S. 40: Founding, Amendments infolge des Bürgerkriegs, New Deal. 89 Ackerman (Fußn. 65), S. 22. 90 Ackerman (Fußn. 65), S. 220. 91 Ackerman (Fußn. 65), S. 40. 92 Ackerman (Fußn. 65), S. 165: „… Founding as the beginning of a dialogue between past and present.“ 93 Ackerman (Fußn. 65), S. 160. 94 Ackerman (Fußn. 65), S. 166 u. 315.

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dem Volk die Fähigkeit zur Selbstbestimmung erhalten will,95 präsentiert er doch nur ein differenziertes Modell des tatsächlichen Verfassungswandels und Erklärungen für eine Veränderung von politischen Paradigmen innerhalb der Verfassung, und keine Erklärung der Zukunftsbindung, die sich ein Volk durch die Verfassung (verstanden als geschriebener Text) auferlegt.96 Die verfassungsrechtliche Vergangenheit, die eingerissen werden soll, um eine bessere Zukunft aufzubauen97, ist dann auch nicht die Gesamtverfassung. Dennoch hilft seine Perspektive zu einem differenzierten Verständnis zwischen normaler und richtungsgebender Verfassungsgesetzgebung und -interpretation zu unterscheiden und damit zu verdeutlichen, daß es auch unter Beachtung der Geltung der Verfassung Einflußmöglichkeiten gegenwartsorientierter Überzeugungen geben kann. 2. Kairós, Zeitgeist und Verfassungsinterpretation a) Möglichkeit des Einwirkens auf den Zeitgeist Die Einwirkung von Zeitströmungen auf das Recht ist jedoch keine Einbahnstraße. Schon Georg Jellinek nimmt bekanntlich nicht nur eine „Normative Kraft des Faktischen“, sondern auch eine „faktische Kraft des Normativen“ an. Zwar werden die Normen durch die Anerkennung der Normunterworfenen getragen und durch ihren Willen hervorgebracht; sie wirken aber auch auf die Erzeugung von Normalität und tatsächlicher Ordnung.98 In diesem Sinn nimmt auch Würtenberger an, daß der Zeitgeist nicht nur via Rechtsbewußtsein die Verfassung und ihr Verständnis prägt, sondern umgekehrt auch von ihr geprägt werden kann. Beeinflußbar ist der Zeitgeist etwa als „kulturelles Gedächtnis“.99 Dem Recht kommt hier eine erhebliche Aufgabe der Steuerung des Umgangs mit der Vergangenheit zu. Es stellt etwa Instrumente zur Aufarbeitung von Vergangenheit dar oder entscheidet über die Speicherung von Daten oder ihre Löschung und damit über die Vergegenwärtigung von Vergangenheit. Das zeigt, daß sich die Verfassung dem Zeitgeist nicht nur beugen muß, sondern sich – faktisch – ihm auch entgegenstellen kann.100 95

Ackerman (Fußn. 65), S. 171 u. 181. Zu berücksichtigen ist dabei, daß Artikel V der amerikanischen Verfassung nur minimale materiale Anforderungen an den Prozeß der Verfassungsänderung stellt. 97 Ackerman (Fußn. 65), S. 315. 98 Jellinek, Die sozialethische Bedeutung von Recht, Unrecht und Strafe, 1908, S. 12. Die politische Verfassung und das Wehrsystem tragen das ihrige dazu bei, die Ordnungsliebe und die Achtung vor dem Gesetze in den Bürgern zu heben und dadurch die Summe sozialer Gefühle und Denkungsart zu vergrößern. 99 Kirste, Der Beitrag des Rechts zum kulturellen Gedächtnis. In: ARSP 2008 (Bd. 94), 47 – 69. 100 Isensee, Der antiplebiszitäre Zug des Grundgesetzes – Verfassungsrecht im Widerspruch zum Zeitgeist, in: Akyürek u. a. (Hg.), Verfassung in Zeiten des Wandels. Demokratie – Föderalismus – Rechtsstaatlichkeit. Symposion zum 60. Geburtstag von Heinz Schäffer, 2002, 53 – 83 (64). 96

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b) Wieviel Einfluß darf die Verfassungsinterpretation dem Zeitgeist einräumen und inwieweit hat sie auf ihn zu wirken? Inwiefern soll sie dies auch? Da Gerichte nicht über den demoskopischen Apparat oder andere Möglichkeiten der Ermittlung von Zeitgeist verfügen, wird ihre Einschätzung häufig dem subjektiven Belieben anheim gestellt bleiben. Wenn es „guten“ und „bösen“ Zeitgeist gibt, sich die verschiedensten weltanschaulichen Strömungen, Modisches und Fundamentales, Fortschrittliches und Konservierendes im Zeitgeist mischen, dann ist allzuleicht die Berufung auf ihn willkürlich.101 Angesichts der Heterogenität der öffentlichen Meinung in einer pluralistischen Gesellschaft wird seine Ermittlung die hermeneutischen Fähigkeiten der Gerichte noch stärker fordern, als die Interpretation der Normen selbst. Schließlich ist auch die Minderheit zu schützen, die sich mit verfassungsrechtlichen Argumenten etwa aus den Grundrechten gegen den Zeitgeist stellt. Faktisch interpretiert die Öffentlichkeit, wie Häberle immer wieder betont hat, an der Verfassung mit.102 Darin ist sie rechtlich durch Art. 5 I GG geschützt. Über pluralistische Artikulationsmöglichkeiten und den parlamentarischen Gesetzgebungsprozeß artikuliert sie sich normativ verbindlich. Den Verfassungsgerichten kommt es jedoch zu, innerhalb dieser Interpretationsansätze diejenigen auszuwählen, die seinen Entscheidungsvoraussetzungen am besten entsprechen und ggf. neue hinzuzufügen. „Ein Gericht kann eben nicht klüger sein als der Zeitgeist“, schreibt Gerd Roellecke103, aber es muß sich ihm doch entgegenstellen, wenn die normativen Grundlagen seiner Entscheidung dies gebieten. Dazu ist es durch Art. 20 III GG verpflichtet. Wie sehr sich die Norminterpretation dem Zeitgeist öffnen darf, hängt also maßgeblich von ihren engeren oder weiteren normativen Bindungen ab. Hierbei sind zunächst formale Aspekte wie etwa die gegenüber dem Gesetzgeber geringere demokratische Legitimation und die Gewaltenteilung zu berücksichtigen. Neben die personelle tritt die über die verfassungsrechtlichen Regelungen jedenfalls eines Verfassungsgerichts vermittelte institutionelle Legitimation. Bei Verfassungsgerichten bleibt auch zu berücksichtigen, daß sie gerade die Verfassungsmäßigkeit des Handelns auch der anderen Gewalten zu überprüfen haben. Auch institutionelle Aspekte sind zu berücksichtigen: Gerichte sind zwar in unterschiedlicher Weise ausgestattet, um in die Öffentlichkeit oder nur zwischen den Parteien zu wirken; Möglichkeiten der Ermittlung der öffentlichen Meinung stehen ihnen aber regelmäßig nicht zu Gebote. Sie sind auf die Auffassungen der Parteien, die allenfalls durch Gutachten ergänzt werden, angewiesen. 101

Schulze-Fielitz (Fußn. 2), S. 16. Häberle, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, in: JZ 1975, 297 – 305. 103 Roellecke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: Starck (Hg.), Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, 1976 (Bd. 2), S. 49. 102

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Neben diese formalen Aspekte treten inhaltliche Aspekte aus dem Charakter der entsprechenden Normen: Sind Normen offen formuliert, etwa als Prinzipien, so will der Normsetzer offenbar, daß ihre Anwendung einer Vielzahl von Sachverhalten und auch historischen Entwicklungen gerecht wird. Somit öffnet er selbst ihre Konkretisierung dem Zeitgeist. Dies gilt in ganz besonderer Weise für die Grundrechte. Grenzen ergeben sich freilich aus dem Charakter jeder Rechtsetzung als Transformation: Der Normsetzer hat moralische Prinzipien, Werte und Rechte in einen neuen systematischen Zusammenhang versetzt, aus dem heraus sie verstanden werden müssen. Der ungefilterte Rekurs auf Moral(en) ist damit ausgeschlossen. Sowohl die Alltagssprache als auch die Rechtssprache sind erheblichen Wandlungen ausgesetzt. Sofern der Normsetzer hier nicht durch Legaldefinitionen Beschränkungen vorgenommen hat, kann der sprachliche Wandel auch Ausfluß auf die Interpretation haben. Auch muß begrenzend sein Wille jedenfalls insofern berücksichtigt werden, als sich aus Materialien eindeutig rekonstruieren läßt, daß er bestimmte Auslegungen ablehnt. Hat er sich hingegen in Finalnormen auf Ziele festgelegt, sind jedenfalls diejenigen Mittel, die er nicht explizit ausgeschlossen hat und die nicht im Widerspruch zu sonstigen Normen stehen, rechtlich zulässig und offen für Herausforderungen des Zeitgeistes. Somit stellt nicht nur der Wortlaut die Grenze des Einflusses des Zeitgeistes auf die Verfassungsinterpretation dar104, sondern alle klaren Entscheidungen des Verfassungsgebers. Er war es, der in einem herausgehobenen Moment der Geschichte, außerrechtliche Normen in Recht transformiert hat, d. h. ihnen in der Sprache und im System einen neuen Zusammenhang gegeben hat. Diese limitierende Entscheidung kann auch durch das An-branden des Zeitgeistes nicht abgeschliffen werden. Generalklauseln wirken gerade hier als Öffnungen gegenüber dem Zeitgeist.105 Paradebeispiel hierfür ist die „öffentliche Ordnung“ in der polizeilichen Generalklausel. Sie verweist geradezu auf den – lokalen – Zeitgeist, wenn sie jene ungeschriebenen Verhaltensregeln erfaßt, „deren Befolgung nach den jeweils herrschenden sozialen und ethischen Anschauungen als unentbehrliche Voraussetzung für ein gedeihliches Zusammenleben … angesehen wird.“ Auch die „Sittenwidrigkeit“ (§ 138 BGB) und „Treu und Glauben“ (§ 242 BGB) sind solche Tore.106 Bei aller Bedeutung der Verfassungsgerichte für die Fortentwicklung der Gehalte des Verfassungsrechts, bleiben sie also der Verfassung untergeordnet und durch sie gebunden. Sie können nicht verbindlich „neue Grundrechte“ erfinden, sondern nur neue Konkretisierungen bestehender Grundrechte – und seien es solche auf „informationelle Selbstbestimmung“107 oder der „Integrität informationstech-

104 So aber Hesse, Grenzen der Verfassungswandlung, FS Scheuner, 1973, auch in: Hesse, Ausgewählte Schriften, 1984, 28 ff. (42). 105 Würtenberger 1991 (Fußn. 1), S. 161. 106 Schmidt (Fußn. 2), S. 427. 107 BVerfGE 65, 1 ff.

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nischer Systeme“108. Ein entsprechender Federstrich des verfassungsändernden Gesetzgebers bei Art. 2 I GG könnte die „neuen Grundrechte“ zu Makulatur werden lassen. Hier liegt – wie Christian Walter gezeigt hat – ein unechter Verfassungswandel, bei dem lediglich geänderte Sachverhalte bei gleichem Verfassungsgehalt zu unterschiedlichen Lösungen führen und kein echter, den Inhalt der Verfassung modifizierender Verfassungswandel vor.109 Generell gilt: soweit sich Interpret oder Gesetzgeber im Rahmen der normativen Vorgaben halten und lediglich ihre Spielräume zur Interpretation und zur Konkretisierung nutzen, können sie den Zeitgeist interpretierend handeln, ohne dadurch einen Normwandel herbeizuführen. Verlassen sie diesen Bereich und verändern den Norminhalt selbst, liegt eine grundsätzlich unzulässige Änderung vor110 und ebenfalls kein Verfassungswandel. IV. Schluß Von Heraklit sind bekanntlich zwei Aussprüche über Wandel und Veränderung überliefert. Platon berichtet, „Heraklit sagt doch wohl, alles sei in Bewegung und nichts habe Bestand“ und vergleiche „die Dinge mit der Strömung eines Flusses“ (P\mta wyqe? ja· oqd³m l]mei).111 So ist auch der Zeitgeist und sein Einfluß auf Rechtsbewußtsein und Recht im permanenten, allmählichen Wandel zu begreifen. Platon erwähnt aber auch den anderen Gedanken Heraklits, daß man nämlich „den Fuß nicht zweimal in den nämlichen Fluß setzen“ könne.112 Jeder Schritt in den Fluß ist einmalig, zu dieser Zeit, in diesem Moment des Fließens. Der Fluß wird dadurch nicht gestoppt, aber doch eine Zäsur eingefügt, ein Ereignis hat stattgefunden. Nur wenn in besonderen Momenten eine Verfassung geschaffen werde, so schrieb Hamilton, entspringe der „Strom nationaler Macht … direkt aus jener reinen, ursprünglichen Quelle aller legitimen Autorität“.113 Die verfassungsgebende Gewalt steigt in den Fluß des Zeitgeistes und errichtet in einem besonderen Augenblick Schleusen für seine weitere rechtliche Wirkung: 108

BVerfG v. 27. 2. 2008, BvR 370/07, 1 BvR 595/07, NJW 2008, 822. Walter, Hüter oder Wandler der Verfassung? Zur Rolle des Bundesverfassungsgerichts im Prozeß des Verfassungswandels, in: AöR 2000 (125), 517 – 550, (525 u. 526): „Abstrakt formuliert, liegt bei Normen, die auf eine Ausgestaltung durch den einfachen Gesetzgeber ausgelegt sind, nur dann ein echter Verfassungswandel vor, wenn die Grenzen der Ausgestaltungsbefugnis verändert werden. Als unechter Verfassungswandel lassen sich dagegen diejenigen Veränderungen erfassen, die innerhalb des von der Verfassung vorgegebenen Rahmens stattfinden“. 110 Böckenförde, Anmerkungen zum Problem des Verfassungswandels, in: Badura/Scholz (Hg.), Wege und Verfahren des Verfassungslebens. FS Lerche, 1993, 3 – 14 (4). 111 Platon, Kratylos 402 A, in: Apelt (Hg.), Platon. Sämtliche Dialoge, 1993 (Bd. 2), S. 37 ff. (S. 68) – Platon bringt hier übrigens das Bild des fließenden Wassers bei Heraklit in einen engen Zusammenhang mit Kronos (und Rhea), also des Gottes, der oft mit Chronos, der Zeit, gleichgesetzt wurde. 112 Platon (Fußn. 111), S. 68. 113 Hamilton/Madison/Jay (Fußn. 68), Art. 22, S. 132. 109

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Verfassungs- und Gesetzesänderungen zur Anpassung an ihn werden Regeln unterworfen. Die Interpretation wird formal und inhaltlich begrenzt. Um die Schleusen bauen zu können, muß der Fluß für einen Moment gestaut werden. Sein Fließen wird dadurch nicht beendet; es vollzieht sich danach jedoch in anderen Bahnen114. Der künstliche Fluß mag nicht so schön sein, wie der natürliche, der Schiffsverkehr vermeidet in ihm aber die Untiefen, die ihn im alten Bachbett ausbremsen. Im Moment der Verfassungsgebung hört auch die Rechtsentwicklung nicht vollständig auf oder beginnt die Rechtsordnung inhaltlich in einer Stunde Null. Aber danach vollzieht sie sich doch in anderen, künstlicheren, aber auch geordneteren Bahnen. Schleusen müssen repariert, ggf. einer veränderten Schiffsgröße angepaßt werden; dann muß eben der Fluß – zu einer geeigneten Jahreszeit – durch parallele Schleusentore bewegt werden. Und auch die Verfassung kann dann, ohne sie vollständig neu zu errichten, bei laufendem Betrieb repariert werden. Den Schleusenwärtern steht es aber ebensowenig zu, den Fluß wieder komplett umzuleiten und seinem alten Bett anzuvertrauen, wie die Schleusen auf beiden Seiten zu öffnen und den Fluß einfach durchrauschen zu lassen. Das alte Bett wäre damit längst überfordert. So, wie ein Fluß nicht alle Tage angehalten wird, sondern außergewöhnlicher Anstrengungen bedarf, wird auch die Verfassung nicht laufend neu geschrieben, sondern bedarf der außergewöhnlichen Mobilisierung moralischer und rechtstechnischer Fähigkeiten, um die weitere Rechtsentwicklung in eine geordnete Form überzuleiten, einen Kairós eben, den richtigen Augenblick.

114 Schmidt (Fußn. 2), S. 433: „Zeitgeist im Recht muss sich der versachlichten rechtspolitischen Kontrolle stellen, gegebenenfalls auch rechtspolitischen Kraftproben“.

Verfassungsorientierte Gesetzesauslegung Von Rudolf Wendt, Saarbrücken* I. Einleitung Sieht sich der Jurist zum ersten Mal mit für ihn ungewohnten fachspezifischen Begrifflichkeiten konfrontiert, so gilt sein Weg der (Universitäts-)Bibliothek. Hier arbeitet er sich durch die vorhandene Fülle an Büchern und Bänden und wird im Normalfall auch schnell fündig, denn er weiß, wo er suchen muss („Wissen heißt, wissen, wo es steht!“). Betrifft nun die Erstkonfrontation den Begriff der „verfassungsorientierten“ Auslegung, greift der geübte Jurist zunächst zielsicher zu hermeneutischer Literatur, da es ja, was die Begrifflichkeit nahe legt, um die Auslegung von Gesetzen geht. Darüber hinaus ist ihm die „verfassungskonforme“ Auslegung selbstverständlich ein Begriff, weshalb er daneben verfassungsrechtliche Literatur zu Rate zieht. Nach konzentrierter Durchsicht der einschlägigen Literatur macht sich allerdings bei unserem Wissensdurstigen eine gewisse Ernüchterung breit. Er stößt zwar immer wieder einmal auf die ihm schon leidlich bekannte „verfassungskonforme“ Auslegung, der Begriff der „verfassungsorientierten“ Auslegung wird jedoch von den zu Rate gezogenen Autoren entweder gänzlich ausgespart oder – wenn er denn ausnahmsweise einmal gebraucht wird – überaus uneinheitlich verwendet. Für den Juristen ist dies dann fast schon ein untrügliches Zeichen dafür, dass es bei der Unterscheidung beider Phänomene entweder nur um mehr oder weniger belanglose, zu vernachlässigende terminologische Feinheiten geht oder aber dass sich diejenigen Autoren, die neben der allerorts erwähnten „verfassungskonformen“ Auslegung zusätzlich noch von der „verfassungsorientierten“ Auslegung sprechen, jeweils ihre ganz eigene, von anderen nicht geteilte Meinung zur Besonderheit des Phänomens der „verfassungsorientierten“ Auslegung gebildet haben – die in Relation zur literarischen Mehrheit in der Jurisprudenz dann auch gerne mit dem Präfix „Minder“ versehen wird. Es wird sich in der Tat zeigen, dass die erstere Sichtweise ihre dezidierten Anhänger hat und im Lager der Befürworter einer Eigenständigkeit der „verfassungsorientierten“ Auslegung höchst individuelle Ansichten vertreten werden. II. Die Auslegung von Gesetzen Begibt man sich zunächst einmal auf eine allgemeinere Ebene und blendet gedanklich die Attribute „verfassungsorientiert“ und „verfassungskonform“ aus, so *

Der Verfasser dankt seinem Assistenten Martin Frank für wertvolle Mitarbeit.

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wird klar, was den eigentlichen Rahmen der hiesigen Bemühungen bildet. Es geht um Auslegung und konkret natürlich um die Auslegung von Gesetzen, also die eigentliche Arbeit des Juristen. Weil nun die einzelnen Probleme der juristischen Auslegungslehre mit zu den „meisterörterten Themen der rechtswissenschaftlichen Literatur“1 gehören und sich eine fast schon unüberschaubare Anzahl von Schriften detailliert mit hermeneutischen Fragestellungen befasst, reicht es für die vorliegend anzustellenden Überlegungen aus, kurz zu umreißen, was gemeinhin unter der Auslegung von Gesetzen zu verstehen ist. Orientiert man sich hierfür an Zippelius, kann man feststellen, dass „Gesetze konkrete rechtliche Vorstellungen in Worte fassen und erst die Einkleidung in Worte solche Vorstellungen mitteilbar werden lässt und ihnen eine feste Gestalt gibt (…). Daher heißt es ein Gesetz auszulegen, die eigentliche Bedeutung der Gesetzesworte zu ermitteln, also jene Tatsachen-, Wert- und Sollensvorstellungen zu gewinnen, die durch sie bezeichnet werden sollen.“2 Es geht also bei der Gesetzesauslegung um die Interpretation des Gesetzes durch den Gesetzesanwender. In der Hermeneutik haben sich bekanntlich wenigstens vier Kategorien der Gesetzesinterpretation herausgebildet: die grammatische, die historische, die systematische und die teleologische Auslegung.3 In dieser Aufzählung fehlen zunächst einmal die „verfassungskonforme“ und die „verfassungsorientierte“ Auslegung. Die Frage ist also: Wie reihen sich diese Auslegungsmethoden in die genannten Methoden ein? Haben sie überhaupt eigenständigen Charakter? Und wenn ja: Worin liegt dieser? III. Die „verfassungskonforme“ Auslegung von Gesetzen Die „verfassungskonforme“ Auslegung gilt als „gesicherter Bestand“4 unter den anerkannten Auslegungssätzen. Vom Bundesverfassungsgericht schon frühzeitig als solche benannt,5 kommt sie immer dann zum Tragen, wenn sich bei der Auslegung einer Norm, die im Rang unterhalb der Verfassung steht, herausstellt, dass diese Norm mehrere Deutungen zulässt und mindestens eine mögliche Auslegung der Norm den verfassungsrechtlichen Vorgaben entspricht und mindestens eine mögliche Auslegung diesen Vorgaben widerspricht. Ist die Norm mehrdeutig in diesem Sinne, fordert der Grundsatz der „verfassungskonformen“ Auslegung des unterverfassungsrechtlichen Rechts, dass diejenige Auslegungsmöglichkeit gewählt wird, die mit der Verfassung in Einklang steht. Damit fungiert die Verfassung nicht nur als Erkenntnis-, sondern zugleich als Kontrollnorm.6

1

Burmeister, Die Verfassungsorientierung der Gesetzesauslegung, 1966, S. 1. Zippelius, Juristische Methodenlehre, 2006, S. 19 und 42. 3 Engisch, Einführung in das juristische Denken, 2010, S. 136. 4 Skouris, Teilnichtigkeit von Gesetzen, 1972, S. 96; Burmeister (Fußn. 1), S. 4. 5 BVerfGE 2, 266 (281 f.). 6 Voßkuhle, AöR 125 (2000), 177 (181).

2

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Die übrigen Normdeutungen, die sich als verfassungswidrig herausgestellt haben, sind vom konkreten Gesetzesanwender zu verwerfen.7 Der „verfassungskonformen“ Auslegung kommt demnach vor allem die Aufgabe zu, die Verfassungswidrigkeit einer Norm zu vermeiden8 und dient damit mittelbar auch dem Schutz der parlamentarischen Autorität. Die „verfassungskonforme“ Auslegung von einfachem Recht wird demgemäß von einigen Autoren9 der methodologischen Kategorie der systematischen Auslegung, als „der Auslegung (…) der Norm (…) aus ihrem Zusammenhang“10, zugerechnet. Andere Autoren konstatieren demgegenüber im deutschen verfassungsrechtlichen Schrifttum eine Tendenz, die Eigenständigkeit der „verfassungskonformen“ Auslegung im Rahmen des Auslegungskanons stärker zu betonen.11 Inhalt, Aufgabe und Kategorisierung der „verfassungskonformen“ Auslegung sind aber im Übrigen im Großen und Ganzen in der Literatur unstreitig, wenn auch immer wieder über die zu extensive Anwendung dieser Auslegungsmethode durch das Bundesverfassungsgericht geklagt und dem Gericht vorgeworfen wird, es betreibe „Verfassungspolitik“ und überschreite die vom Grundgesetz gesetzten Grenzen, vor allem im Hinblick auf den Gewaltenteilungsgrundsatz.12 Hinsichtlich der dogmatischen Verankerung existieren unterschiedliche literarische Strömungen. Die „verfassungskonforme“ Auslegung soll sich entweder aus dem Prinzip der Einheit der Rechtsordnung erklären, auf der Vermutung zugunsten der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes beruhen oder als Ausfluss des Grundsatzes der Normerhaltung – favor legis – zu betrachten sein, nach dem Normen so weit wie möglich aufrechterhalten werden müssen und nicht für nichtig erklärt werden dürfen.13

7

Skouris (Fußn. 4), S. 96; Bettermann, Die verfassungskonforme Auslegung, 1986, S. 18: „Die Denkfigur der verfassungskonformen Auslegung prüft, ob die Vorschrift in dieser oder in jener Auslegung mit der Verfassung vereinbar ist, und verwirft die unvereinbare(n) Auslegung (en). Sie prüft die mehreren Auslegungsergebnisse auf ihre Verträglichkeit mit der Verfassung.“ Zur Frage, ob die Auslegung einer Norm noch zur Norm selbst mitzurechnen ist und es sich demnach bei der verfassungskonformen Auslegung in der Sache um eine teilweise Nichtigerklärung ohne Normtextreduzierung handelt, vgl. Voßkuhle, AöR 125 (2000), 177 (182 f.) m. w. N. 8 Canaris, FS Ernst A. Kramer, 2004, S. 141 (153). 9 Skouris (Fußn. 4), S. 115: „(…) Teil systematischer Hermeneutik.“; vgl. zudem Voßkuhle, AöR 125 (2000), 177 (181) m. w. N. 10 BVerfGE 11, 126 (130); vgl. hierzu auch Weyreuther, DÖV 1982, 173 (178): „Zusammenhang in diesem Sinne umfasst die Beziehung der Rechtssätze zueinander.“. 11 Canaris, FS Ernst A. Kramer, 2004, S. 141 (142); von Arnim/Brink, Methodik der Rechtsbildung unter dem Grundgesetz, 2001, S. 239. 12 Näher hierzu Wendt, in: Europäische Integration und Globalisierung, FS zum 60-jährigen Bestehen des Europa-Instituts, hrsg. von W. Meng/G. Ress/T. Stein, 2011, S. 625 (626). 13 Vgl. hierzu Voßkuhle, AöR 125 (2000), 177 (182 f.) m. w. N.; Wendt, in: Europäische Integration und Globalisierung, FS zum 60-jährigen Bestehen des Europa-Instituts, hrsg. von W. Meng/G. Ress/T. Stein, 2011, S. 625 (628).

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IV. Die „verfassungsorientierte“ Auslegung von Gesetzen Im Gegensatz dazu ergibt sich bei Durchsicht der einschlägigen Literatur zur „verfassungsorientierten“ Auslegung ein doch sehr uneinheitliches Bild. Oft oder sogar meist findet diese Auslegungsmethode überhaupt keine Erwähnung. Von einigen Autoren wird sie mit Nachdruck von der „verfassungskonformen“ Auslegung abgegrenzt,14 von wiederum anderen Autoren als deren eigentlicher Oberbegriff verstanden.15 Die in der rechtswissenschaftlichen Literatur anzutreffende Ausgangslage macht eine Umschreibung und Einordnung der „verfassungsorientierten“ Auslegung somit nicht gerade zu einem leichten Unterfangen. Daher ist ein genauerer Blick notwendig. Stern16 geht davon aus, dass die „verfassungsorientierte“ Auslegung aus der Bedeutung der Verfassung für die gesamte Rechtsordnung resultiere und daher jedem (!) rechtsanwendenden Organ, das Recht anwende, aufgegeben sei; dagegen sei die „verfassungskonforme“ Auslegung ein spezifisches Instrument allein der Verfassungsgerichte im Normüberprüfungsverfahren. Nach ihm liegt also das eigentliche Unterscheidungskriterium zwischen der „verfassungsorientierten“ und der „verfassungskonformen“ Auslegung im Adressaten der Auslegungsverpflichtung – dem Gesetzesanwender – begründet. Im Anschluss an Stern sieht Wesser im Ergebnis die verfassungsorientierte Auslegung – ohne dass sie jedoch den Terminus selbst gebrauchen würde – als die Selbstverständlichkeit an, dass jede Norm des einfachen Rechts im Einklang mit den Wertentscheidungen der Verfassung auszulegen sei. Mit der „verfassungskonformen“ Auslegung ist dagegen auch nach ihrer Auffassung ein besonderer Typus von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts gemeint, in denen das Gericht selbst einem Gesetz eine bestimmte Auslegung gebe, um dadurch die Nichtigkeit des betreffenden Gesetzes zu vermeiden.17 In diesem Sinn bezeichnet Simon die „verfassungskonforme“ Auslegung als akzessorisches Element des Normenkontrollverfahrens.18 Dem kann aus hiesiger Sicht allerdings nicht gefolgt werden. Es ist nicht recht einzusehen, warum man den Begriff der „verfassungskonformen“ Auslegung exklusiv für die Normüberprüfung durch die Verfassungsgerichte reservieren sollte. Die Interpretationsverfahren, mittels derer Wertentscheidungen der Verfassung im einfa14

Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 8. Aufl. 2010, Rn. 448; Krauß, Der Umfang der Prüfung von Zivilurteilen durch das Bundesverfassungsgericht, 1987, S. 183; Dreier, Verw. 36 (2003), 105 (111 f.); Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 2011, § 31 Rn. 262; Bumke, Verw. 45 (2012), 81 (85 ff.). 15 Lüdemann, JuS 2004, 27 (28); Bettermann (Fußn. 7), S. 20; Voßkuhle, AöR 2000 (125), 177 (180); Bumke/Voßkuhle, Casebook Verfassungsrecht, 2008, S. 41; Lembke, Einheit aus Erkenntnis?, 2009, S. 247, spricht in diametralem Gegensatz hierzu von der verfassungsorientierten Auslegung als Unterfall der verfassungskonformen Auslegung. 16 Stern, Das Staatsrecht der BRD, Band I, 2. Aufl. 1984, S. 136. 17 Wesser, NJW 2001, 475 (477), dort in Fußn. 18 expliziter Rekurs auf Stern (Fußn. 16), S. 136. 18 Simon, EuGRZ 1974, 85 (87).

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chen Recht zur Geltung gebracht werden, mögen unterschiedlich bezeichnet werden, soweit sachliche Differenzierungen zwischen ihnen ausgemacht werden können. Unterscheidungen der Interpretationsverfahren nach der Person oder Institution, die die Interpretation vornimmt, führen in der Sache zu keinem Erkenntnisgewinn. Vielleicht auch deshalb findet sich in der Literatur auch ein andersgearteter Umgang mit den hier in Rede stehenden Begrifflichkeiten.19 Es wird folgende Unterscheidung getroffen: Während die „verfassungskonforme“ Auslegung es verbiete, einer Norm im Wege der Auslegung einen Inhalt zu geben, der nicht mit der Verfassung vereinbar sei, bestehe das Wesen der „verfassungsorientierten“ Auslegung darin, den Richter oder sonstigen Gesetzesinterpreten zu der Prüfung zu veranlassen, welche von mehreren nach den allgemeinen Regeln mögliche Auslegungen, die sämtlich, als Norm mit ausdrücklichem entsprechenden Inhalt gedacht, mit der Verfassung vereinbar seien, der Verfassung näher kämen.20 Nach dieser Ansicht ist das Ergebnis der Auslegung nach den üblichen Methoden – also der grammatischen, historischen, systematischen und teleologischen Auslegung – der eigentliche Anknüpfungspunkt der Unterscheidung. Voraussetzung für die Anwendung der „verfassungsorientierten“ Auslegung ist, dass alle (!) nach diesen Methoden gebildeten Auslegungsvarianten der Norm mit der Verfassung vereinbar sind. Ist das zunächst nicht für alle nach diesen Methoden ermittelten möglichen Auslegungsvarianten der Norm der Fall, werden diese nicht mit der Verfassung vereinbaren Auslegungsvarianten im Wege der „verfassungskonformen“ Auslegung vorab ausgeschieden. Die verbleibenden verfassungskonformen Auslegungsvarianten der Norm werden sodann daraufhin überprüft, welche von ihnen der Verfassung am nächsten ist. Eine Stellungnahme, die in die Richtung dieses Modells weist, ist z. B. diejenige von Manssen, der erklärt: „Auch bei mehreren verfassungsmäßigen Varianten ist diejenige Interpretation zu wählen, die den Schutzauftrag des Grundrechts am weitestgehenden erfüllt.“21 Es wird auch darauf hingewiesen, dass die „verfassungsorientierte“ Auslegung im letztgenannten Sinne gewisse Parallelen zum europarechtlichen effet utile aufweise, also zu dem Gebot, bei der Auslegung mitgliedstaatlicher Gesetze die Regelungsziele einer europarechtlichen Norm bestmöglich zur Geltung zu bringen.22

19

Lüdemann, JuS 2004, 27 (28 f.); Seetzen, NJW 1997, 1997 (1998); Krauß (Fußn. 14), S. 183: „Das Unterlassen einer verfassungsorientierten Auslegung führt (…) zu einem Obersatz, der mit der Verfassung (noch) vereinbar ist, ihr (nur) ferner steht als andere Auslegungsvarianten. Als Rüge des Unterlassens einer verfassungsorientierten Auslegung sind daher die Entscheidungen des BVerfG zu werten, die eine Auslegung für verfassungswidrig erklären, obwohl gegen entsprechende gesetzliche Regelungen keine Bedenken bestünden.“; Manssen, Staatsrecht II, Grundrechte, 2012, Rn. 63. 20 Pieroth/Schlink, Grundrechte Staatsrecht II, 27. Aufl. 2011, Rn. 103, sehen es inhaltlich zwar genauso, bezeichnen dies aber als „verfassungskonforme“ Auslegung. 21 Manssen (Fußn. 19), Rn. 63. 22 Armbrüster, NJW 2007, 1494 (1496).

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Es fällt mithin bei der Durchsicht der Stimmen in der Literatur auf, dass in Abgrenzung zur „verfassungskonformen“ Auslegung unter der „verfassungsorientierten“ Auslegung sachlich grundlegend Unterschiedliches verstanden wird. Es trifft daher nicht zu, wenn Canaris von einer „nur wenig anderen“ Akzentsetzung der Auffassungen spricht.23 Um dem ganzen Verwirrspiel noch die Krone aufzusetzen, wird die „verfassungsorientierte“ Auslegung darüber hinaus auch als Synonym zur „verfassungsfreundlichen“ Auslegung gebraucht,24 oder aber man stellt gar einer „verfassungskonformen“ Auslegung im engeren Sinne – womit dann üblicherweise der Normalfall der „verfassungskonformen“ Auslegung gemeint ist – eine „verfassungskonforme“ Auslegung im weiteren Sinne gegenüber, die dann zum angeblichen Zweck der „Verdeutlichung“25 (!) als „verfassungsorientierte“ Auslegung bezeichnet wird. Der interessierte Beobachter der Szene gewinnt bei alledem den nachhaltigen Eindruck, dass absolute Uneinheitlichkeit in der Terminologie und in der Sache selbst herrscht.26 Auffällig ist, dass sich dieser unbefriedigende Zustand auf den ersten Blick auf den literarischen Binnenbereich zu beschränken scheint. Denn das Bundesverfassungsgericht gebraucht zwar fortwährend die Begrifflichkeit der „verfassungskonformen“ Auslegung, nicht aber diejenige der „verfassungsorientierten“ Auslegung.27 Die Beobachtung, dass das Bundesverfassungsgericht den Terminus nicht explizit verwendet, sollte man allerdings nicht überbewerten. Denn die gebotene Verfassungsorientierung jedweder Gesetzesauslegung ist „in der umfänglichen Judikatur (des Bundesverfassungsgerichts) unter den Stichworten „Ausstrahlungswirkung“, „Wertordnung“, „Verfassungsmäßigkeit der Auslegung“ und neuerdings „interpretationsleitende“ Berücksichtigung u. a. präsent [!]“.28 Gleichwohl könnte man den Schluss ziehen, dass die von Teilen der Literatur vorgenommene Unterscheidung zwischen den Begriffen der „verfassungskonformen“ und der „verfassungsorientierten“ Auslegung überflüssig sei, da die Literatur hiermit nicht etwa eine problematische uneinheitliche Handhabung durch das oberste Gericht systematisiere oder vereinfache – was ja vielfach der eigentliche Sinn der Bildung von terminologischen Kategorien ist –, sondern im Gegenteil selbst durch uneinheitlichen Gebrauch nur Verwirrung stifte. 23

Canaris, FS Ernst A. Kramer, 2004, S. 141 (143). Lüdemann, JuS 2004, 27 (28). 25 Wank, JuS 1980, 545 (548). 26 Bezeichnend: Bumke/Voßkuhle (Fußn. 15), S. 41 f., die im Rahmen der „verfassungsorientierten“ Auslegung die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Ehegattennachzug vom 12. Mai 1987 [BVerfGE 76, 1 (49 f.)] anführen, in der das Bundesverfassungsgericht eine bestimmte Auslegung des § 2 Abs. 1 S. 2 Ausländergesetz (a.F.) als mit Art. 6 Abs. 1 GG unvereinbar (!) ansah, sodann allerdings im Rahmen der „verfassungskonformen“ Auslegung ausführen, dass sich die Notwendigkeit einer ebensolchen Auslegung gerade dann stelle, wenn ein Gesetz in verschiedener Weise ausgelegt werden könne, aber nicht alle Auslegungsvarianten mit der Verfassung vereinbar seien. 27 Schlaich/Korioth (Fußn. 14), Rn. 448; vgl. die Nachweise bei Krauß (Fußn. 14), S. 179, dort Fußn. 11. 28 Dreier, Verw. 36 (2003), 105 (111 f.), dort Fußn. 43. 24

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Darüber hinaus kann man zu Recht sagen, dass es doch selbstverständlich ist, dass eine an der Verfassung „orientierte“ Auslegung im Ergebnis zu einem mit der Verfassung „konformen“ Ergebnis führt und umgekehrt eine „verfassungskonforme“ Auslegung zwingend auch „verfassungsorientiert“ sein muss.29 Wer gerade diese letztere Einsicht in den Vordergrund stellt, mag weiter argumentieren, dass es unverständlich sei,30 wenn trotz des Umstandes, dass die Begriffe der „verfassungskonformen“ und der „verfassungsorientierten“ Auslegung als solche keine Trennschärfe im Verhältnis zueinander aufwiesen und jeweils umgekehrt verwendet werden könnten,31 von nicht wenigen Autoren doch an der unterschiedlichen Kategorisierung festgehalten werde. Dementsprechend wird denn auch gefordert, auf den Terminus der „verfassungsorientierten“ Auslegung zu verzichten, da insoweit kein Auslegungsmodus erkennbar sei, der einen eigenen Begriff verdiene.32 Es könne auch nicht sein, dass die „verfassungsorientierte“Auslegung allein zu dem Zweck verwendet werde, eine Abgrenzung gegenüber der „verfassungskonformen“ Auslegung zu markieren und eine etwaige Vorrangstellung derselben innerhalb der üblichen anerkannten Auslegungsmodi – der grammatischen, historischen, systematischen, teleologischen Auslegung – zu dokumentieren.33 Die Verfolgung dieses Ziels gehe, sagt man, insgesamt unverhältnismäßig zu Lasten terminologischer Übersichtlichkeit und Einheitlichkeit in einem der unstrittig wichtigsten und meist diskutierten Bereiche der Jurisprudenz. Man solle daher einheitlich nur von „verfassungskonformer“ Auslegung sprechen.34 Für ein solch übergreifendes Verständnis des Instituts der „verfassungskonformen“ Auslegung wird denn auch geworben, wenn erklärt wird: „Verfassungskonforme Auslegung (…) ist jede auf judizielle Vermittlung von Verfassung und gesetzli-

29

Canaris, FS Ernst A. Kramer, 2004, S. 141 (143). Krauß (Fußn. 14), S. 183, der den materiell-rechtlichen Grund für die Unterscheidung von „verfassungskonformer“ und „verfassungsorientierter“ Auslegung in dem Umstand suchen will, dass ein Gericht nach der Wechselwirkungstheorie ein Gesetz, das ein Grundrecht einschränke, aus der Erkenntnis der wertsetzenden Bedeutung dieses Grundrechts selbst wiederum einschränken müsse und somit weniger einschränken dürfe als der Gesetzgeber. 31 Simon, EuGRZ 1974, 85 (86), formuliert denn auch, obgleich er eine saubere Trennung von „verfassungsorientierter“ und „verfassungskonformer“ Auslegung fordert: „Die Unterscheidung zwischen verfassungsorientierter Auslegung (…) und (…) verfassungskonformer Auslegung (…) dürfte allerdings heuristischer Natur sein. Im Verfahren (…) gehen beide Arten oft ineinander über. Rechtsdogmatische Unterschiede lassen sich nicht feststellen.“; ähnlich Schlaich/Korioth (Fußn. 13), Rn. 448. 32 Canaris, FS Ernst A. Kramer, 2004, S. 141 (154); Lembke (Fußn. 15), S. 248: „Es darf (…) gefragt werden, welchen Sinn die Etablierung einer verfassungsorientierten Auslegung als Methode oder Institut haben soll“. 33 So wohl Canaris, FS Ernst A. Kramer, 2004, S. 141 (143 ff.). 34 Göldner, Verfassungsprinzip und Privatrechtsnorm in der verfassungskonformen Auslegung und Rechtsfortbildung, 1969, S. 47. 30

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cher Rechtsordnung gerichtete Interpretation, gleichviel, ob sie der Konservierung einer verfassungsrechtlich zweifelhaften Norm dient oder nicht.“35 Diese Kritik überzeugt nicht. Das Institut der „verfassungskonformen“ Auslegung sollte auf das Verwerfen von per se nicht mit der Verfassung zu vereinbarenden Auslegungsvarianten einer Norm und das Herausfiltern von an sich mit der Verfassung zu vereinbarenden Auslegungsvarianten beschränkt werden. Hat man es nach der Anwendung dieses Verfahrens nur noch mit „verfassungskonformen“ Auslegungsvarianten einer Norm zu tun oder gibt es von vornherein nur „verfassungskonforme“ Auslegungsvarianten, so hat man im Rahmen der „verfassungsorientierten“ Auslegung – nur noch – danach zu fragen, welche dieser Auslegungsvarianten der Verfassung am nächsten ist, und diese Auslegungsvariante vorzuziehen. Eine sachliche Trennung zwischen beiden interpretatorischen Vorgehensweisen ist möglich und auch sinnvoll. Der Rahmen, innerhalb dessen man sich jeweils bewegt, ist nämlich ein unterschiedlicher. Das im Rahmen der „verfassungskonformen“ Auslegung im befürworteten Sinne verworfene Verständnis der Norm könnte nicht einmal vom Gesetzgeber zum Norminhalt gemacht werden, selbst wenn dieser sich ausdrücklich zu diesem Inhalt zu bekennen versuchte. Dagegen werden ja bei der „verfassungsorientierten“ Auslegung bestimmte Normverständnisse deswegen ausgeschieden, weil im Vergleich zu ihnen ein verfassungsnäheres Normverständnis möglich und geboten ist; die verworfenen Norminhalte könnten aber durchaus möglicher Gegenstand einer gesetzlichen Regelung sein, wenn der Gesetzgeber dies wollte und sich ausdrücklich und unmissverständlich zu ihnen bekenne. Das Problem der mangelnden begrifflichen Abgrenzungsschärfe von „verfassungskonformer“ und „verfassungsorientierter“ Auslegung ist damit noch nicht gelöst. Es lässt sich aber lösen, indem man den beiden Auslegungsmethoden per Definition den genannten Inhalt gibt. Die Schwierigkeit, hinreichend abgrenzungsscharfe Begriffe für unterschiedliche Phänomene zu finden, kann nicht dazu führen, dass man auf die sachlich gebotene Distinktion verzichtet und die Phänomene in eins setzt. Zur Illustration des gefundenen Ergebnisses mögen drei Beispiele dienen, für die in der Literatur ausdrücklich eine „verfassungsorientierte“ Auslegung des einfachen Rechts gefordert wird.36

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Göldner (Fußn. 34), S. 47; dem folgen wohl auch Pieroth/Schlink (Fußn. 20), Rn. 103. Die nachfolgend genannten Beispiele beruhen auf der in der Literatur vertretenen und auch vorliegend befürworteten Auffassung, dass das Ergebnis der Auslegung nach den üblichen Methoden – der grammatischen, historischen, systematischen und teleologischen Auslegung – der eigentliche Anknüpfungspunkt der Unterscheidung zwischen der „verfassungskonformen“ und der „verfassungsorientierten“ Auslegung ist, vgl. oben IV. 36

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V. Beispiele 1. Zivilrecht37 Die Normierung des so genannten Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG)38 vom 18. August 2006 hat eine wichtige Frage offen gelassen, die schon während des gesetzlichen Entstehungsprozesses Gegenstand heftigster Diskussionen im Bundestag und in der Wissenschaft war. Nämlich die Frage: Kann eine Person, der wegen eines der durch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz geschützten Merkmale – Rasse/ethnische Herkunft, Geschlecht usw. – der Abschluss eines Vertrages verweigert wurde, den Vertragsabschluss gerichtlich erzwingen, d. h. besteht ein Kontrahierungszwang? Während der einfache Gesetzgeber im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz diese konkrete Fragestellung für das arbeitsrechtliche Benachteiligungsverbot expressis verbis verneint hat (vgl. § 15 Abs. 6 AGG), wurde dies für das allgemein-zivilrechtliche Benachteiligungsverbot (§ 19 AGG), das ebenfalls in diesem Gesetz enthalten ist, gerade nicht eigens geregelt. In der Literatur besteht nun weitestgehend Einigkeit dahingehend, dass es die Frage eines Kontrahierungszwanges durch Auslegung der Regelung des § 21 Abs. 1 S. 1 AGG zu beantworten gilt. Diese Norm gewährt bei einem Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot dem Benachteiligten einen Anspruch auf Beseitigung der Beeinträchtigung, also einen Beseitigungsanspruch.39 Um die Auslegung dieser Vorschrift rankt sich nun der eigentliche literarische Diskurs. Bei Durchsicht der in der zivilrechtlichen Literatur für und gegen einen Kontrahierungszwang vorgetragenen Argumente lässt sich im Hinblick auf die hier interessierende Frage feststellen – ohne dass darauf im Detail eingegangen werden müsste –, dass mit Blick auf Grammatik, Systematik, Telos und Gesetzesgeschichte sowohl für als auch gegen einen Kontrahierungszwang quantitativ und qualitativ einiges vorgebracht werden kann; hinsichtlich der vertretbaren Auslegungsmöglichkeiten kommt es damit zu einem „non liquet“.40 Da aber – jedenfalls nach (Teilen) der Literatur – keine der nach den üblichen Auslegungsregeln möglichen und denkbaren Auslegungsvarianten von § 21 Abs. 1 S. 1 AGG dem Verdikt der Verfassungswidrigkeit unterliegt, bedarf es auf dem Boden der vorliegend zugrunde gelegten Unterscheidung gerade keiner „verfassungskonformen“, sondern – wenn man so will – lediglich41 einer „verfassungsorientierten“ Auslegung des § 21 Abs. 1 S. 1 AGG. Nimmt man diese vor, hat man zu berücksichtigen, dass sich bei der Frage nach dem Kontrahierungszwang die negative Abschlussfreiheit des Anbieters von Waren 37

Hierzu umfassend: Armbrüster, NJW 2007, 1494 ff. In der Fassung der Bekanntmachung vom 14. August 2006 (BGBl. I S. 1897), zuletzt geändert durch Gesetz vom 5. Februar 2009 (BGBl. I S. 160). 39 Armbrüster, NJW 2007, 1494 (1495) m. w. N. 40 Armbrüster, NJW 2007, 1494 (1495). 41 Das „weichere Konzept“, Dreier, Verw. 36 (2003), 105 (112). 38

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und Dienstleistungen und die positive Abschlussfreiheit der von der Ungleichbehandlung Betroffenen gegenüberstehen. Beide Seiten, der Anbieter und der Nachfragende, fallen also unter den Schutz der allgemeinen Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG. Damit ist klar, dass § 21 Abs. 1 S. 1 AGG hinsichtlich der konkreten Frage nach einem etwaigen Kontrahierungszwang im Lichte der allgemeinen Handlungsfreiheit auszulegen ist. Auf der verfassungsrechtlichen Grundlage der allgemeinen Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG gelangt die Literatur sodann mittels des Topos der praktischen Konkordanz mit einigem argumentativen Aufwand dazu, dass der negativen Abschlussfreiheit des Anbieters von Waren und Dienstleistungen der Vorzug gebühre. Das auf der einfachgesetzlichen Auslegungsebene bestehende „non liquet“ wird von der Literatur folglich im Wege einer „verfassungsorientierten“ Auslegung, genauer: einer auf Art. 2 Abs. 1 GG ausgerichteten und damit „grundrechtsorientierten“ Auslegung, dahingehend aufgelöst, dass ein Kontrahierungszwang auszuscheiden hat. Dieses konkrete Ergebnis ist damit – um im Bild zu bleiben – „näher an der Verfassung“42, sprich: näher am Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG. Die Auslegungsvariante des § 21 Abs. 1 S. 1 AGG, nach der vom Nachfragenden kein Vertragsschluss gerichtlich erzwungen werden kann, erfüllt nach Ansicht der Literatur den Schutzauftrag des Art. 2 Abs. 1 GG am weitestgehenden. 2. Strafrecht43 Nach § 29 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 des Betäubungsmittelgesetzes (BtMG)44 wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, „wer Betäubungsmittel unerlaubt anbaut, herstellt, mit ihnen Handel treibt, sie, ohne Handel zu treiben, einführt, ausführt, veräußert, abgibt, sonst in den Verkehr bringt, erwirbt oder sich in sonstiger Weise verschafft“. Im Mittelpunkt des strafrechtswissenschaftlichen Diskurses stand diesbezüglich stets die Frage, wie das hier und später immer wieder im Gesetz (vgl. §§ 29a, 30, 30a BtMG) auftauchende Tatbestandsmerkmal des „Handeltreibens“ auszulegen ist. Nach überkommener Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs fällt unter diesen Begriff jede eigennützige auf Umsatz gerichtete Tätigkeit, wobei es rechtlich unerheblich sein soll, ob es zu eigenen Umsatzgeschäften oder auch nur zur Anbahnung bestimmter Geschäfte gekommen ist.45 Diese weite Auslegung des Tatbestandsmerkmals „Handeltreiben“ führt nun dazu, dass als Handeltreiben auch solche Handlun42

Krauß (Fn. 14), S. 183. Zum Folgenden umfassend von Heintschel-Heinegg, in: BeckOK StGB, § 1 Rn 21; BGH, NStZ 2004, 105 ff.; Kuhlen, Die verfassungskonforme Auslegung von Strafgesetzen, 2006, S. 2 ff. [„Ein instruktives Beispiel verfassungsorientierter Auslegung (…)“]. 44 In der Fassung der Bekanntmachung vom 1. März 1994 (BGBl. I S. 358), zuletzt geändert durch Gesetz vom 22. Dezember 2010 (BGBl. I S. 2262). 45 Ständige Rechtsprechung, vgl. BGHSt 29, 239 f.; 30, 359 (361). 43

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gen abgeurteilt werden können, die weit im Vorfeld der eigentlichen Umsatzgeschäfte liegen, diese nur als Hilfstätigkeiten begleiten oder ihnen im Rahmen des Geldflusses nachfolgen. Daher ist es nicht verwunderlich, dass diese Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs – die das Ergebnis einer langen Entwicklung ist – heftiger Kritik vor allem in der Literatur ausgesetzt ist.46 Vor allem werden Bedenken unter dem Blickwinkel des Art. 103 Abs. 2 GG vorgebracht, der den Gesetzgeber seinem unmittelbaren Regelungsinhalt nach verpflichtet, die Voraussetzungen der Strafbarkeit so konkret zu umschreiben, dass Anwendungsbereich und Tragweite der Straftatbestände sich aus dem Wortlaut ergeben oder jedenfalls durch Auslegung ermitteln lassen. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts47 will Art. 103 Abs. 2 GG neben der Bindung der Rechtsprechung an die Gesetze vor allem auch sicherstellen, dass die Normadressaten vorhersehen können, welches Verhalten verboten und mit Strafe bedroht ist. Nach Auffassung in der Literatur wird die geschilderte Definition des „Handeltreibens“ den Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG nur unzureichend gerecht. Wollte man, wird moniert, tatsächlich jede eigennützige auf Umsatz gerichtete Tätigkeit als „Handeltreiben“ auffassen, würden vom eigentlichen Rauschgiftgeschäft ganz entfernte Aktivitäten ein vollendetes „Handeltreiben“ darstellen – wie etwa die Beschaffung eines Mobiltelefons, eines Transportfahrzeuges oder gar nur von Verpackungsmaterial und ähnliches. Da aber, soweit ersichtlich, trotz aller unter dem Blickwinkel des Art. 103 Abs. 2 GG geäußerten Kritik die Auslegung des Merkmals „Handeltreiben“ durch den Bundesgerichtshof nicht dem Verdikt der Verfassungswidrigkeit unterworfen wird, geht es nach Ansicht der Literatur gerade nicht um die Notwendigkeit einer „verfassungskonformen“ Auslegung des Tatbestandsmerkmals, sondern allein um eine „verfassungsorientierte“ Auslegung – bei der es gerade geboten ist, sich zwischen mehreren an sich verfassungsgemäßen Auslegungsvarianten für diejenige zu entscheiden, die die verfassungsrechtlichen Vorgaben am meisten berücksichtigt48, hier eben die Vorgaben des Art. 103 Abs. 2 GG. Vorgeschlagen wird daher u. a. folgende Definition: Mit Betäubungsmitteln treibt Handel, wer diese eigennützig und in der Absicht, ihren Umsatz zu ermöglichen oder zu fördern, ankauft, erwirbt, sich in sonstiger Weise verschafft, einführt, ausführt, feilhält, Bestellungen entgegennimmt oder aufsucht, veräußert, anderen überlässt, sonst in den Verkehr bringt oder den Erwerb, den Vertrieb oder das Überlassen ver46

Vgl. nur Krack, JuS 1995, 585 (586); Roxin, StV 1992, 517 (518). E 92, 1 (12). 48 von Heintschel-Heinegg, in: BeckOK, StGB § 1 Rn. 21; Kuhlen (Fußn. 43), S. 3 f. [„So wird in dem erörterten Beschluss die Frage, ob die dort verworfene weite Auslegung verfassungsgemäß oder verfassungswidrig ist, offen gelassen. Das wird hier als Fall der verfassungsorientierten Auslegung begriffen, weil die negative Komponente der verfassungskonformen Auslegung, also die Verwerfung einer bestimmten Verständnisvariante als verfassungswidrig, fehlt.“]. 47

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mittelt. Diese Auslegung des Tatbestandsmerkmals „Handeltreiben“, findet die Literatur, sei „näher an der Verfassung“. 3. Öffentliches Recht49 Nach § 11 Abs. 1 S. 1 der Allgemeine Schulordnung Nordrhein-Westfalens (ASchO NRW50) kann eine Schülerin oder ein Schüler nur in besonderen Ausnahmefällen und in der Regel zeitlich begrenzt auf Antrag der Erziehungsberechtigten vom Unterricht in einzelnen Fächern oder von einzelnen Schulveranstaltungen befreit werden. Einen ebensolchen Antrag hatte der Vater einer zwölfjährigen Klägerin türkischer Staatsangehörigkeit gestellt, um seine Tochter aus Gründen ihres islamischen Glaubens vom koedukativ erteilten Sportunterricht befreien zu lassen. Dieser Antrag wurde vom Beklagten jedoch – in der Folge bestätigt durch die Instanzgerichte – u. a. mit der (von den Instanzgerichten ausgeführten) Begründung abgelehnt, dass ein „besonderer Ausnahmefall“, der eine Befreiung nach § 11 Abs. 1 S. 1 ASchO NRW rechtfertige, gerade nicht vorliege. Bei der Klägerin habe vielmehr das Recht der Glaubens- und Religionsfreiheit gemäß Art. 4 Abs.1 und 2 GG hinter dem in Art. 7 Abs. 1 GG normierten staatlichen Bildungsauftrag zurückzutreten. Das Bundesverwaltungsgericht, zu dem die Sache schlussendlich ging, bemängelte die Auflösung des Spannungsverhältnisses im Wege der „praktischen Konkordanz“ durch die Instanzgerichte und entschied die Sache genau entgegengesetzt. Nach den Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichts war nämlich im konkreten Fall das Spannungsverhältnis dahingehend aufzulösen, dass Art. 4 Abs. 1 und 2 GG Vorrang vor Art. 7 Abs. 1 GG zukomme. Damit konnte das Gericht einen „besonderen Ausnahmefall“ im Sinne des § 11 Abs. 1 S. 1 ASchO NRW annehmen und der Klägerin einen Befreiungsanspruch nach dieser Vorschrift zuerkennen.51 Die dahingehende Auslegung müsste mithin vom Standpunkt derjenigen aus, die hier einen 49 BVerwGE 94, 82. – Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts wird von Schlaich / Korioth (Fußn. 14), Rn. 448, und von Dreier, Verw. 36 (2003), 105 (113), als Beispiel einer „verfassungsorientierten“ Auslegung angeführt. Der Entscheidungsbegründung des Bundesverwaltungsgerichts lässt sich indes nicht klar entnehmen, ob es die Auslegung der Instanzgerichte für verfassungswidrig (womit dann eigentlich eine „verfassungskonforme“ Auslegung vorläge) oder seine Auslegung des einfachen Rechts nur für „der Verfassung näher“ hielt. – Eine Gleichsetzung der Begrifflichkeiten „verfassungsorientierte“ und „verfassungskonforme“ Auslegung durch das Bundesverwaltungsgericht findet sich in der Entscheidung vom 22. Oktober 2008 – 8 C 1/08 – , BVerwG 132, 166, hier zitiert nach juris Rn. 46 f.: Der Aussage: „Der Senat kann allerdings auf der Grundlage einer verfassungskonformen Auslegung des § 7 Abs. 2 KWG LSA zwar grundsätzlich in der Sache selbst entscheiden (…)“ folgt die Feststellung: „Eine sachgerechte, am Bundesverfassungsrecht orientierte Auslegung des. § 7 Abs. 2 KWG LSA ergibt Folgendes (…)“; Hervorhebung hinzugefügt. 50 In der Fassung der Bekanntmachung vom 8. November 1978 (GV.NRW. S. 552), zuletzt geändert durch Verordnung vom 18. Mai 2002 in der ab 1. August 2002 geltenden Fassung (GV.NRW. S. 172). 51 BVerwGE 94, 82 (83 f.).

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Fall der „verfassungsorientierten“ Auslegung gegeben sehen, als „näher an der Verfassung“ liegend angesehen werden. Die dahingehende Auflösung dieses letzten Falles erscheint jedoch aus hiesiger Sicht mehr als zweifelhaft. Wenn Gerichte – wie im hiesigen Fall die Instanzgerichte – unter Verwendung der Maßstäbe der praktischen Konkordanz die Reichweite einer Grundrechtsgewährleistung verkennen,52 dann ist die entsprechende Auslegung verfassungswidrig. Und wenn das Bundesverwaltungsgericht als letzte Instanz diese Auslegung dann auch konsequenterweise verwirft und allein die entgegengesetzte Auslegung bestehen lässt, dann nimmt es eine „verfassungskonforme“ Auslegung vor. Man sieht, dass noch viel Aufklärungsarbeit zu leisten ist.

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So die Formulierung des Bundesverwaltungsgerichts, vgl. BVerwGE 94, 82 (83).

Probleme der Rechtsfortbildung Von Reinhold Zippelius, Erlangen I. Die Frage der Rechtsfortbildung liegt, wie das Problem des Rechts überhaupt, in dem Spannungsfeld zwischen einer soziologischen und einer normativen Betrachtung, von denen keine in ihrer Einseitigkeit verharren kann. Selbst die Reine Rechtslehre Kelsens konnte das Recht nicht rein in Begriffen des Sollens erfassen, sondern mußte in ihren Begriff von Recht dessen tatsächliche Wirksamkeit aufnehmen, weil nicht geleugnet werden kann, „daß eine Rechtsordnung als Ganzes, ebenso wie eine einzelne Rechtsnorm, ihre Geltung verliert, wenn sie aufhört, wirksam zu sein“; weil von einer geltenden Rechts- und Verfassungsordnung nur gesprochen werden kann, wenn ihre „Normen im Großen und Ganzen angewendet und befolgt werden.“1 Unangetastet bleibt dabei aber die Erkenntnis, daß die Legitimität (die Rechtfertigung und der Geltungsanspruch) solcher „wirksamen“ Normen nicht in dieser Wirksamkeit selbst gefunden, sondern nur normativ begründet werden kann. Geltende Rechtsvorschriften sind also wirksame Verhaltensnormen, Gebote, welche die hohe Chance haben, das vorgeschriebene Verhalten zu bewirken, „law in action“.2 Das Sein des Rechts, so hat es Binder formuliert, „besteht in seiner Geltung […,] darin […], daß es als Recht gewußt, beobachtet und angewendet wird.“3 Oder, wie Larenz sagte: „Es ist das in der Anwendung befindliche […] Ganze von Normen, Entscheidungsmaximen und als richtungweisend angesehenen Urteilen.“4 Ähnliche Gedanken fanden sich in der Integrationslehre, für welche die lebendige Rechts- und Verfassungsordnung des Staates vorhanden ist in den einzelnen Le1 Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. 1960, S. 216 (214). Die Wirksamkeit der Rechtsordnung als Ganzes und die Wirksamkeit der einzelnen Rechtsnorm sei Bedingung der Geltung (S. 218); diese Wirksamkeit sei als Bedingung der Geltung in der Grundnorm statuiert (S. 212). Die als transzendental-logische Voraussetzung angenommene Grundnorm (S. 196 ff.) erhält dadurch den Inhalt, daß man derjenigen Rechts- und Verfassungsordnung gehorchen soll, die im Großen und Ganzen angewendet und befolgt wird (vgl. S. 219). Wie man allerdings jeder einzelnen Rechtsordnung ihre eigene „transzendental-logische“ Grundnorm – gleichsam als transzendental-logischen „Hausgeist“ – zugestehen kann (S. 197, 213 f.), ist schwer nachvollziehbar. Der „reine“ transzendental-logische Geltungsgrund (eines Positivismus Kelsenscher Prägung) kann doch nur sein, daß man der je wirksamen Rechtsund Verfassungsordnung folgen solle. Das heißt, er kann nur eine allgemeine normlogische Legitimierung allen je wirksamen Rechts sein. 2 Zippelius, Rechtsphilosophie, 6. Aufl. 2011, § 4. 3 Binder, Grundlegung zur Rechtsphilosophie, 1935, S. 132 (136 f.). 4 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1960, S. 148.

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bensäußerungen, sofern sie Betätigungen eines geistigen Gesamtzusammenhanges sind, was nach Smends Worten ebenfalls auf eine Zusammenordnung von objektivem Sinngehalt und zeitlich realem Leben abzielt.5 II. Nicht nur die Rechtsgeltung hat „faktische“ Komponenten. Auch die Rechtsinhalte werden in hohem Maße durch die Wirklichkeit beeinflußt. Das zeigt sich nicht nur bei der Gesetzgebung, sondern auch bei der Rechtsfortbildung. Denn Rechtsanwendung ist keine nur vollziehende Aktualisierung exakt vorgegebener Rechtsnormen. Vielmehr nehmen verbreitete Gerechtigkeitsvorstellungen und andere Ideen, Interessen, politische, wirtschaftliche und andere gesellschaftliche Kräfte auch darauf Einfluß, wie Gesetze ausgelegt6 oder wie Gesetzeslücken ausgefüllt werden: 1. Wichtige Ansatzpunkte für die Rechtsfortbildung bietet bereits die Gesetzesauslegung. Diese wird auch durch gesellschaftliche Faktoren, insbesondere durch politische Bestrebungen beeinflußt. Zum Beispiel ist die föderative Struktur des Bundes weitgehend mitbestimmt durch die Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen zwischen Bund und Ländern: Der Bund und die Länder versuchen in der Regel, nicht nur ihre Gesetzgebungkompetenzen auszuweiten, sondern auch größtmöglichen Einfluss auf das Verfahren der Bundesgesetzgebung zu nehmen. So werden in dieser Verteilung Tendenzen zum Einheitsstaat oder aber zum föderalistischen Staat wirksam. Das Bestreben, die Gesetzgebungskompetenzen des Bundes auszudehnen, zeigt sich besonders in der konkurrierenden Gesetzgebung. Es findet seinen dogmatischen Ansatzpunkt vor allem in der Interpretation der Begriffe, die die Gesetzgebungsmaterien bezeichnen (z. B. die in Art. 74 GG enthaltenen Begriffe: bürgerliches Recht, gerichtliches Verfahren, öffentliche Fürsorge, Recht der Wirtschaft). An der Unschärfe dieser Begriffe können Auslegungen ansetzen, in die auch politische Konzeptionen und Kräfte Eingang finden. So hüllt sich der Kampf um die Verstärkung oder die Eindämmung zentralistischer Tendenzen nicht selten in das Gewand eines Streites um Auslegungen. Ein in der Sache bedeutungslos gewordenes, methodisch aber interessant gebliebenes Beispiel bot der Streit darüber, ob das Beschußgesetz zum Recht der Wirtschaft (Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG) gehöre und deshalb als Bundesrecht fortgelte (Art. 125 GG) oder ob es dem Recht der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zuzurechnen und daher Landesrecht sei. Das Bundesverfassungsgericht (Art. 126 GG) 5 Smend, Staatsrechtliche Abhandlungen, 1955, S. 136 (138). Die Integration läßt sich also nicht auf eine durch wechselseitige Verständigung zustande kommende Verschränkung subjektiver Bewußtseinsprozesse verengen. Es handelt sich nicht nur um ein Einheitsgefüge von Erlebnissen (mißverständlich: S. 126). „Jeder geistige Austausch führt unvermeidlich in die Bereiche des zeitlosen Sinnes hinein, die er zugleich voraussetzt, und umgekehrt werden Sinn und Wert nur im geistigen Gemeinschaftsleben zur Sinn- und Wertwirklichkeit“ (S. 139). 6 Auch hier geht es also nicht um einen rein kognitiven Nachvollzug gesetzlicher Vorgaben.

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entschied sich für die erste Auffassung. Das Beschußgesetz zähle zum Recht der Wirtschaft; denn das Gebot, Schußwaffen auf ihre Haltbarkeit und insbesondere auf Fehler zu prüfen, bevor sie gewerbsmäßig feilgehalten oder anderen überlassen werden, diene vor allem der Gewerbeförderung; der gleichzeitig verfolgte Ordnungs- und Sicherheitszweck sei hier Annex des Rechts der Wirtschaft und sei diesem Sachbereich zuzurechnen, mit dem er in einem notwendigen Zusammenhang stehe.7 Mit gleichem Recht hätte man aber die Gegenmeinung vertreten können, daß die Waffenprüfung vor allem der Sicherheit wegen vorgeschrieben wurde, während die Gewerbeförderung allenfalls eine Nebenfolge sei. Die Lösung des Bundesverfassungsgerichts war also weder zwingend noch eindeutig berechenbar. Die Interpretation ließ die eine und die andere Lösung zu. So blieb dem Gericht ein Spielraum, die eine oder die andere zu wählen. Ein früheres Mitglied des Bundesverfassungsgerichts hat das so beschrieben:8 In allen Fällen, die ernstlich zweifelhaft seien, handle es sich gerade in der Verfassungsgerichtsbarkeit nicht nur um eine Konkretisierung des Rechts durch Auslegung, sondern um eine selbständigere, schöpferische Tätigkeit – wozu lediglich zu bemerken ist, daß das schöpferische Moment gerade in der Konkretisierung der abstrakten Norm liegt. Auch das gegenläufige Bestreben der Länder, ihren Einfluß auf das Gesetzgebungsverfahren zu stärken, kann sich über eine Gesetzesauslegung verwirklichen. So ging früher das Tauziehen um Kompetenzen auch darum, wie weit der Kreis zustimmungsbedürftiger Gesetze zu ziehen sei: Ob unter den Voraussetzungen des früheren Art. 84 Abs. 1 GG die Zustimmungsbedürftigkeit sich auf den einzelnen Gesetzesparagraphen beschränke, der diese Zustimmungsbedürftigkeit begründe, oder ob schon ein einziger zustimmungsbedürftiger Paragraph das ganze Bundesgesetz zustimmungsbedürftig mache. Dogmatisch ging es um die Frage, wie das in einem Nebensatz des Art 84 GG enthaltene Wort „Bundesgesetz“ auszulegen sei. In dieser Zweifelsfrage hat der Bundesrat mit Nachdruck die Auffassung vertreten, daß nicht nur die einzelne Norm, sondern das ganze Gesetz der Zustimmung bedürfe. Er hat diese Rechtsauffassung mit Billigung des Bundesverfassungsgerichts9 durchgesetzt und damit jahrelang einen bemerkenswerten Einfluß auf die Bundesgesetzgebung erlangt.

Solche Auseinandersetzungen um die Kompetenzen oberster Organe sind überhaupt ein ergiebiger Boden für die Fortbildung des Verfassungsrechts und für die Herausbildung ungeschriebenen Verfassungsrechts. Gerade hier ist nicht nur die Judikatur, sondern in starkem Maße auch die Verfassungspraxis an der Rechtsbildung und -fortbildung beteiligt: Hier bestimmen nicht zuletzt die Standfestigkeit und der Durchsetzungswille der beteiligten Organe die Richtung der Verfassungsentwicklung. Diese Feststellung gilt heute nicht zuletzt auch für das Europarecht; hier kann sich durch einen stillen Wandel des Rechts die Regelungsmacht von den Mitgliedstaaten hin zu den supranationalen Organisationen verschieben, wenn die Mitgliedstaaten es hinnehmen, daß diese Organisationen ihre Kompetenzen exten7

BVerfGE 8, 148. Drath, VVDStRL 9 (1952), S. 94. 9 BVerfGE 55, 319 mit weiteren Nachweisen. 8

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siv beanspruchen. Wollen die Mitgliedstaaten „Herren der Verträge“ bleiben, müssen sie also darauf achten, daß ihre Kompetenzen nicht durch solch stillen Wandel zu den supranationalen Organen abwandern.10 Die Beispiele, in denen die Rechtsfortbildung ihren Ansatzpunkt in der Interpretation der Gesetze fand oder findet, bestätigen, was bereits Philipp Heck festgestellt hatte: Die Unbestimmtheit gesetzlicher Begriffe erlaubt es nicht, für alle Anwendungsfälle genau bestimmte Ergebnisse zu liefern.11 Wo Gesetzesbegriffe mehrere Auslegungen offenlassen, kann dem Gesetz keine sichere Entscheidung entnommen werden. Wo das Gesetz es offenläßt, welche Ausdeutung die Rechtsanwendung zu wählen hat, steht diese fast ebenso vom Gesetz verlassen da, wie bei der Ausfüllung von Gesetzeslücken. Man hat daher nicht ganz zu Unrecht auch in den „schwimmenden Konturen“ der Rechtsbegriffe ein Lückenproblem gesehen.12 Kelsens Scharfsinn bewährte sich auch hier: „In der Anwendung des Rechtes durch ein Rechtsorgan verbindet sich die erkenntnismäßige Interpretation des anzuwendenden Rechtes mit einem Willensakt, in dem das rechtsanwendende Organ eine Wahl trifft zwischen den durch die erkenntnismäßige Interpretation aufgezeigten Möglichkeiten.“13

Selbstverständlich wäre das keine Rechtfertigung dafür, vor Ausschöpfung aller zu Gebote stehenden Mittel der Rechtserkenntnis den bequemen Weg der „Dezision“ zu gehen. Auch darf deren Spielraum nicht überschätzt werden. Das durch sie zu schließende Feld der Ungewißheit ist in die Interpretation eingefügt; dadurch sind durch das Gesetz Richtlinien und Grenzen vorgezeichnet.14 Aber die Konkretisierung des Maßstabs birgt eben doch Entscheidungen, die in der Gleichung Rechtsanwendung = Subsumtion keinen Platz finden.15 Das trifft sich übrigens mit der Beobachtung Hegels, daß in der „Zuspitzung des Allgemeinen […] zur Vereinzelung, d.i. zur unmittelbaren Anwendung“ nicht immer mit „einer aus dem Begriffe herkommenden Bestimmtheit“ entschieden werden kann. „Die Begriffsbestimmtheit gibt nur eine allgemeine Grenze, innerhalb deren […] eine […] zufällige und willkürliche (?) Entscheidung eintritt.“16 10

BVerfGE 123, 349 (353 f.). Heck, Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz, 1914, S. 46, 173. 12 Kantorowicz, Der Kampf um die Rechtswissenschaft, 1906, S. 15; Heck (Fußn. 11), S. 100, 161 f., 173 f.; Ehrlich, AcP 115 (1917), S. 338 ff., 362 f., 374. Zu den gleichwohl bestehenden Unterschieden s. Engisch, Einführung in das juristische Denken, 11. Aufl. 2010, bearbeitet von Würtenberger/Otto, S. 240 f. 13 Kelsen (Fußn. 2), S. 351. Mit Recht distanziert er sich von der einst weit verbreiteten „Fiktion […], daß eine Rechtsnorm stets nur eine, die ,richtige‘ Deutung zuläßt“ (S. 353); s. Zippelius, Juristische Methodenlehre, 11. Aufl. 2012, § 16 III a; und auch schon Bülow, Gesetz und Richteramt, 1885, S. 6, 29 f.; Rümelin, Werturteile und Willensentscheidungen im Civilrecht, 1891, S. 29, 46. 14 Wie Engisch (Fußn. 12), für die unbestimmten Begriffe bemerkt hat. 15 Engisch, Die Idee der Konkretisierung, 1953, S. 212 ff.; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl., 1991, S. 110, 367. 16 Hegel, Rechtsphilosophie, § 214. 11

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2. Oft geht die Rechtsbildung ihren Weg ohne enge interpretatorische Anknüpfung an geschriebenes Recht. So hat z. B. das Bundesverfassungsgericht aus dem „ungeschriebenen Verfassungsgrundsatz von der wechselseitigen Pflicht des Bundes und der Länder zu bundesfreundlichem Verhalten“ eine Reihe konkreter Rechtspflichten entwickelt,17 und zwar unter weitgehender Berücksichtigung der aktuellen politischen Erfordernisse und Kräfte. Andere Entscheidungen haben ihre Ausgangspunkte in solchen Normenkollisionen, die nicht durch Kollisionsnormen geregelt sind. Ergiebig sind die Grundrechtskollisionen. Wenn z. B. ein Mieter seine Meinung dadurch kundtut, daß er gegen den Willen des Hauseigentümers die Außenwand des Mietshauses für eine Wahlkampagne mit einem Wahlplakat18 oder für eine Prozession mit einem großen Heiligenbild schmückt, dann kollidiert sein Grundrecht auf freie Meinungsäußerung (im zweiten Fall auch seine Bekenntnisfreiheit) mit dem Eigentumsrecht des Hauseigentümers. Es sind Kollisionen, die das Gesetz nicht geregelt hat. Auch hier werden gesellschaftliche Faktoren (wie z. B. Gepflogenheiten und Brauchtum) in den Kollisionsentscheidungen berücksichtigt. Bei der Lösung solcher Fragen, die das Gesetz offengelassen hat,19 sind die rechtlichen Entscheidungen darauf angewiesen, mehr oder minder unscharfe Richtlinien im System und Geist des Gesetzes und, soweit es sich um Wertungen handelt, in mehrheitlich konsensfähigen Gerechtigkeitsvorstellungen20 zu finden, die in aller Regel einen Entscheidungsspielraum lassen. Kurz, auf Schritt und Tritt lassen die gesetzlichen Tatbestände Fragen offen, die sich mit Mitteln der Erkenntnis nicht eindeutig aus den Rechtsnormen beantworten lassen, immer wieder finden sich in den Gesetzen offene Auslegungsfragen und Lücken, und mit der Fülle der Gesetze wächst zudem die Summe der Kollisionsprobleme, die ihrerseits oft ungelöste Fragen aufgeben. 3. Der „reale“ Faktor des lebendigen Rechts ist aber nicht nur dort wirksam, wo die abstrakte Normenordnung Fragen offenläßt, wie bei der Auslegung und der Lückenausfüllung. Mitunter setzt sich die Wirklichkeit auch gegen eine eindeutige Gesetzesnorm durch. Auch diese Rechtsentwicklungen (die nicht unter den herkömmlichen, engen Begriff der Rechtsfortbildung fallen und die hier gleichfalls nur beschrieben und nicht bewertet werden sollen) sind, wenn sie sich gegen das bisherige Recht durchgesetzt haben, gegen eine nachfolgende juristische „Rüge“ recht gleichgültig. Man denkt bei der Verdrängung rechtlicher Normen durch die Wirklichkeit zunächst wohl an die Derogation. Bei ihr treten Rechtsnormen allein dadurch außer Kraft, daß sie nicht mehr angewandt werden. Ein berühmtes Beispiel ist das einstige 17

BVerfGE 12, 254 ff. s. BVerfGE 7, 234 ff. 19 Zippelius (Fußn. 13), § 11. 20 Zippelius (Fußn. 2), §§ 11 II 4, 20 III, 21. 18

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Recht des englischen Königs, Gesetzen die Zustimmung zu verweigern, das zum letztenmal im Jahre 1707 von der Königin Anna ausgeübt wurde und deshalb, wie man gesagt hat, heute „so tot ist wie die Königin Anna“. Neben diesen Fällen eines sanften Todes einer Norm stehen solche, in denen die Lebenswirklichkeit sich über die Rechtserkenntnis hinwegsetzt, nicht nur dort, wo eine Revolution die alte Verfassungsordnung hinwegfegt, sondern meist in sehr viel harmloserer und kaum sichtbarer Gestalt. So kann z. B. die Macht der politischen Notwendigkeit starke Gründe der Interpretation überwinden. Ein bekanntes Beispiel bot Art. 48 Abs. 2 Satz 1 der Weimarer Reichsverfassung. Nach dieser Vorschrift durfte der Reichspräsident die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötigen Maßnahmen treffen, wenn im Deutschen Reiche die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich gestört oder gefährdet wurde. Die Vorgeschichte der Bestimmung sprach dafür, daß der Verfassungsgeber hier nur ein Maßnahmerecht zur Wiederherstellung der in einem engeren (wenn auch nicht unbedingt streng polizeilichen) Sinne verstandenen öffentlichen Sicherheit und Ordnung schaffen wollte.21 Die gleiche Konzeption kam auch in den Verhandlungen der Nationalversammlung zum Ausdruck. Doch in kurzer Zeit verstand es die Verfassungspraxis, dieser Vorschrift einen anderen Sinn zu geben, als sie nach ihrer Geschichte, nach der traditionellen Bedeutung ihrer Begriffe und nach der Absicht des Verfassungsgebers ursprünglich hatte. Durch die Nöte der Zeit gedrängt, entfaltete sich in kürzester Frist auf Grund des Art. 48 eine ausgedehnte Verfassungspraxis, die unter „Maßnahmen“ auch gesetzesvertretende Verordnungen verstand; auch die Voraussetzungen, unter denen solche „Maßnahmen“ zulässig waren, deutete man kurzerhand um und verstand unter „erheblichen Störungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung“ auch wirtschaftliche und soziale Nöte, finanzielle Schwierigkeiten, ja selbst Störungen in der Funktion des parlamentarischen Regierungssystems, darunter sogar die Unmöglichkeit, die notwendige Mehrheit im Parlament zu bilden.22

Im „wirksamen“ Recht bleiben also Entscheidungsspielräume, nicht nur da, wo keine sichere Rechtserkenntnis gewonnen werden kann, sondern auch dort, wo starke Motive, etwa die herrschenden Gerechtigkeitsvorstellungen oder starke politische Notwendigkeiten, dazu drängen, sich über das geschriebene Recht und seine „kunstgerechte“ Auslegung hinwegzusetzen. III. Bisher galt die Aufmerksamkeit vor allem dem ersten Schritt der Rechtsfortbildung: der Konkretisierung gesetzlicher Vorschriften zu lebendigem Recht. Dabei hat sich gezeigt, daß und in welcher Weise das Gesetz die Anlage zu verschiedenen Möglichkeiten des angewandten Rechts enthält: Es ist gleichsam nur die Skizze für das volle Bild des lebendigen Rechts, eine Skizze, welche die Praxis verschieden ausfüllen und in manchen Fällen sogar korrigieren kann. 21

Vorläufer dieser Befugnis des Reichspräsidenten war die Regelung des „Kriegszustandes“ (Art. 68 RV 1871), in dem die vollziehende Gewalt auf die Militärbefehlshaber überging. Die Ausdrücke „öffentliche Sicherheit und Ordnung“ stammten aus dem Polizeirecht. 22 Vgl. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, 14. Aufl. 1932, Art. 48 Anm. 6 – 8, 13; Schätzel, VVDStRL 10 (1952), S. 51, mit weiteren Beispielen für Rechtsentwicklungen contra legem.

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Mit dieser Konkretisierung ist aber die Rechtsforbildung nicht ans Ende gelangt. Sondern die konkreten Rechtsentscheidungen können ihrerseits die Normenordnung modifizieren und gestalten: Insbesondere die Funktion der Rechtsprechung, zumal der höchstrichterlichen Judikatur, erschöpft sich nicht darin, Auslegungen und Lückenausfüllungen nur für den Einzelfall zu finden; denn Gründe der Gleichbehandlung und der Rechtssicherheit verlangen, die gefundenen Gesetzesauslegungen und Lückenausfüllungen auf gleichartige Fälle in gleicher Weise anzuwenden, wenn nicht triftige Gründe entgegenstehen. Auf diese Weise wirkt die Rechtsprechung über den Einzelfall hinaus und führt für den Falltypus zu einem Richterrecht,23 das mit Wiederholungen dieser Auslegung oder Lückenausfüllung schrittweise an Wirksamkeit und Bindungskraft gewinnt.24 Dadurch können aus Rechtsanwendungen neue Normen erwachsen. So galt im Jahre 1900 eine andere bürgerlich-rechtliche Normenordnung als heute, oft auch dort, wo der Wortlaut des Bürgerlichen Gesetzbuches unverändert blieb.25 Es stellt sich also die Frage, wann und auf welche Weise eine in konkreter Entscheidung gefundene Entscheidungsregel allgemeine Geltung erlangt. Dabei liegt die Annahme nahe, daß von der Rechtsprechung entwickelte Auslegungen und Lückenausfüllungen nur dann Rechtsgeltung als ungeschriebenes „Recht“ erlangen, wenn sie zu Gewohnheitrecht geworden sind, also nach klassischem Verständnis von der Rechtsgemeinschaft befolgt werden und vom „tacitus consensus omnium“, vom herrschenden Rechtsbewußtsein, getragen sind.26 Damit würde nicht nur ein Gedanke fortgeführt, der in der historischen Rechtsschule eine zentrale Rolle spielte: Daß die lebendige Rechtsentwicklung im Volksgeist wurzeln solle; auch eine rigorose demokratische Rechtstheorie müßte dazu neigen, eine breite Fundierung der Rechtsfortbildung im allgemeinen Rechtsbewußtsein zu verlangen. Nach all dem dürfte ein Gerichtsgebrauch allein nicht ausreichen, geltendes Recht hervorzubringen. Doch gibt es ganz offensichtlich auch verläßlich verwirklichte Rechtsentwicklungen, von denen die Rechtsgemeinschaft kaum den Schatten eines Bewußtseins, geschweige denn eine gefestigte Rechtsüberzeugung besitzt. Man braucht etwa nur an Normen des ungeschriebenen Verfassungsrechts zu denken, die nicht im Blickfeld der Öffentlichkeit liegen, Normen vielleicht, die etwas entlegenere Zuständigkeiten von Verfassungsorganen fixieren und gegeneinander abgrenzen. Und auch sonst liegt die Fortbildung der als „Recht“ verläßlich praktizierten Normen weitgehend außerhalb des Blickfeldes und damit auch jenseits einer aktuellen Billigung der Rechtsgemeinschaft. Für weite Gebiete unseres Rechts geben heute nicht 23

BVerfGE 66, 138. Zu diesen beiden Komponenten – Wirksamkeit und Verbindlichkeit – s. Zippelius (Fußn. 13), § 13 I und II. 25 Zippelius (Fußn. 13), §§ 4 III und 13. 26 Larenz (Fußn. 15), S. 433; aus ältere Zeit etwa Enneccerus-Nipperdey, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 15. Aufl. 1959, Bd.1, § 42. 24

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mehr die im Volke herrschenden Rechtsauffassungen, sondern nur noch die Kommentare Auskunft, wohin die Rechtsentwicklung gegangen ist. Je undurchschaubarer die Rechtsordnung wird, desto ungenierter geht die Bildung der durch eine feste Praxis der Staatsorgane entwickelten und gewährleisteten Normen ihren Weg ohne Rückhalt in der opinio iuris des Volkes, dem das Gewirr seiner Rechtsordnung immer mehr zu einem Buch mit sieben Siegeln wird. Je perfekter und unübersichtlicher die Normenordnung wird, um so mehr verblaßt jedenfalls für Detailfragen des Rechts die These vom consensus omnium zu einer romantischen Mär. Für die Frage, auf welche Weise durch die Praxis der Rechtsanwendung „geltendes“ Recht entsteht, kommt es darauf an, was man unter der „Geltung“ von Normen und ihrer Auslegung versteht.27 Zur Geltung rechtlicher Normen gehört jedenfalls auch deren Wirksamkeit, d. h. die faktische Chance, das Bezweckte zu bewirken, insbesondere willig befolgt oder in rechtlich geordneter Weise durchgesetzt zu werden.28 In diesem Sinne sprach der Bundesgerichtshof einmal davon, daß ein seit langer Zeit herrschender Gerichtsgebrauch „faktische“ Rechtsgeltung erlange.29 Diese empirische Geltung einer Auslegung oder Lückenausfüllung, d. h. ihre Durchsetzungschance, hängt ab vom Rang des Gerichts, das die Entscheidung trifft, und sie wächst in dem Maße, wie die Wahrscheinlichkeit, sie durchzusetzen, durch Wiederholungen zunimmt. Unter der „Geltung“ einer Auslegung oder Lückenausfüllung kann man aber auch deren Verbindlichkeit verstehen, die besagt, daß und warum man sie beachten solle.30 Daß eine Auslegung oder eine Lückenausfüllung, für welche die Gerichte sich entschieden haben, auch solche Verbindlichkeit gewinnt, folgt aus den Prinzipien der Gleichbehandlung und der Rechtssicherheit. Denn diese gebieten es der Staatsgewalt, einer einmal gewählten und um so mehr gefestigten Rechtsauffassung treu zu bleiben, wenn nicht vorrangige Gründe es rechtfertigen, den eingeschlagenen Weg wieder zu verlassen.31 Und ähnlich, wie es Abstufungen der tatsächlichen Durchsetzungschance gibt, gibt es auch Abstufungen der Verbindlichkeit: Die Kontinuitätserwartung hängt ab vom Rang des Gerichts, das die Entscheidung fällt, und sie festigt sich durch Wiederholungen einer bestimmten Judikatur bis hin zu einer „ständigen Rechtsprechung“. In vielen Fällen finden wir also einen fließenden Übergang, eine allmähliche Zunahme nicht nur der Durchsetzungschance, sondern auch der Legitimitätsbindung einer bestimmten Auslegung oder Lückenausfüllung. Sie kann jene Verläßlichkeit und Verbindlichkeit erreichen, die einer Legalinterpretation oder einer sonstigen Gesetzesnorm zukommt; das ist die Stufe, die man 27

Zu den unterschiedlichen Geltungsbegriffen s. Zippelius (Fußn. 2), § 5 I. Zippelius, Grundbegriffe der Rechts- und Staatssoziologie, 3. Aufl. 2012, § 11. 29 Er setzt diese in nicht sehr glücklicher und wenig aufschlußreicher Weise in Gegensatz zu einer normativen Geltung, BGHZ 23, 189. 30 Über das Verhältnis der beiden Geltungsbegriffe zueinander s. Zippelius, Das Wesen des Rechts, 6. Aufl. 2012, Kap. 1 c, 2 f, 9 f. 31 Zippelius (Fußn. 13), § 13 II. 28

Probleme der Rechtsfortbildung

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herkömmlicherweise mit dem Wort „Gewohnheitsrecht“ bezeichnet. Ein Beispiel bot der Schadensersatzanspruch aus positiver Forderungsverletzung, lange, bevor er in das Bürgerliche Gesetzbuch aufgenommen wurde.

II. Staatslehre, Verfassungsgeschichte, Politikwissenschaft

Der Verfassungsstaat als Staatsbegriff Von Richard Bartlsperger, Erlangen Das umfangreiche Werk des Jubilars greift mehrfach verfassungsgeschichtliche sowie staats- und verfassungstheoretische Themen auf. Einen bedeutenden Rang können dabei diejenigen seiner Abhandlungen beanspruchen, in denen er seine Aufmerksamkeit auf die Idee des Verfassungsstaates in deren epochaler Entstehungsund frühen Entwicklungsgeschichte richtet. Die erörterte Thematik umspannt die dabei wesentlichen Vorgänge, die Artikulation verfassungsstaatlicher Vorstellungen schon während des achtzehnten Jahrhunderts, die Rezeption „westlicher“ Staatsbzw. Verfassungslehren sowie einer im Zusammenhang mit dortigen revolutionären Ereignissen hervorgetretenen politischen Gedankenwelt, die frühkonstitutionelle Verwirklichung verfassungsstaatlicher Verhältnisse durch Bundes-Glieder des Deutschen Bundes sowie die nationweiten politischen Verfassungsbewegungen bis zum Vormärz.1 Es geht um jene ideengeschichtlich wirkungsträchtige Epochenwende, in deren Verlauf Deutschland sich seine Vorstellungen von einer Nation und von einer zu schaffenden konstitutionellen Ordnung als zusammengehörigen Errungenschaften „erfunden“ hat.2 Die epochale verfassungsgeschichtliche Bedeutung der seinerzeitigen politischen Bewegungen, ideengeschichtlichen Entwicklungen und staatsrechtlichen Vorgänge liegt im grundsätzlichen historischen Ende der Legitimationsund Existenzvoraussetzungen für die überkommene feudale Monarchie, ihr landesherrliches Regime und ihre ständische Ordnung3 sowie in einer Neubegründung der staatlichen Verhältnisse und Ordnungen durch deren Konstitutionalisierung,4 auch 1

Zu den frühkonstitutionellen Verfassungen Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. I, 2. Aufl., Nachdr. 1975, §§ 19 – 22 und Bd. II, 2. Aufl., Nachdr. 1975, §§ 3 – 9; Engelbert, Der Konstitutionalismus in den deutschen Kleinstaaten, Der Staat, Bh. 1, 1975, 103 ff.; Stolleis, Geschichte des Öffentlichen Rechts in Deutschland, Zweiter Band, 1992, 187 ff., Schulze, Frühkonstitutionalismus in Deutschland, 2002; zu den damaligen Verfassungsbewegungen Huber, Bd. II, §§ 27 – 33. Zu jener Epoche Stolleis, a.a.O., 42 ff.; zum Vormärz Huber, Bd. II, §§ 27 – 36; Frotscher/Pieroth, Verfassungsgeschichte, 4 Aufl. 2003, § 8 Rn. 248 ff. m.w.Nachw. 2 Zur „Erfindung der Nation“ Langewiesche, Hist. Zschr. 277 (2003), 593 ff.; zur Nation als ein „geistiges Prinzip“ ders., a.a.O., 604 ff. 3 Zum Begriff der feudalen Monarchie Brunner, „Feudalismus“, in: Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, 2. Aufl. 1968, 128 ff.; aus der Sicht des nachfolgenden Übergangs in die bürgerliche Gesellschaft Luf, Freiheit und Gleichheit, 1968, 65. 4 Konstitutionalismus in der allgemeinsten Bedeutung als „System wirksamer Beschränkungen für das Handeln der Regierung“ (Friedrich, Der Verfassungsstaat der Neuzeit, 1953, 26 ff.), als „Idee der Machteinschränkung“ (Gangl, Der Staat, Bh. 1, 1975, 23 f./29). Ferner

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wenn sich die Verwirklichung derselben mit ihren partikularen, sukzessiven und konzeptionellen Unterschieden über eine längere Zeit hinziehen sollte, teilweise weit bis in das Jahrhundert hinein.5 Der Verfassungsstaat war als Idee eine geschichtliche Realität geworden. I. Verfassungsstaat epochal – Die Vernunftbegründung des Staates 1. In konkreter und fassbarer Weise sichtbar gemacht haben die epochale, grundlegende verfassungsgeschichtliche Veränderung das Ende des alten Reichsstaatsrechts6 sowie die teils durch fremde Macht und Einflussnahme erzwungenen, teils aus eigenen Initiativen und Arrangements hervorgegangenen territorialen, organisatorischen und rechtlichen Umgestaltungen der partikularstaatlichen Zustände, in den Partikularstaaten unternommene Staatsreformen7 sowie schließlich die konstitutionellen Maßgaben des Deutschen Bundes und deren Verwirklichung in Konstitutionen zunächst der süddeutschen und nachfolgend mittlerer Bundes-Glieder.8 Das „äußere“ Erscheinungsbild des damaligen Epochenwandels erscheint hiermit im Wesentlichen erfasst. In spezifisch staatsrechtlicher Hinsicht lassen sich die seinerzeitigen Vorgänge und Ereignisse zur Neubegründung der Herrschaftsgrundlagen und der Herrschaftsordnung sowie der Herrschaftsbeziehungen im frühen Konstitutionalismus auf eine bloß formale, von ihrer sinnbegründeten und geschichtlichen Realität abstrahierende Weise mit dem Begriff einer rechtlichen Machtbeschränkung politischer Herrschaft zusammenfassen.9 Es gilt denn auch durchaus als gebräuchlich, Grundlage und Wesensgehalt des Verfassungsstaates in der Konstituierung und Formierung einer rechtlich geordneten, gebundenen und begrenzten Staatsgewalt zu sehen, in einer „Koppelung von Politik und Recht“, in einer unter einer „VerBadura, Der Staat, Bh. 11 (1996), 133 ff., Di Fabio, Der Staat als Institution, in: Isensee u. a. (Hg.), Freiheit und Eigentum 1999, 225/230 f.; ders., Die Staatsrechtslehre und der Staat, 2003, 14 ff.; zur Genese des Verfassungsstaates Würtenberger, Der Staat, Bh. 10, 1993, 85 ff. und ders., Der Staat, Bh. 37, 1998, 165 ff. 5 Zu angenommenen drei „Verfassungswellen“ (1816 – 1820; 1830 – 1833; 1848 – 1850) bei Gangl, a.a.O., 15 ff. 6 Zur Reichsauflösung von 1806 Huber (Fußn. 1), Bd. I, § 5 III, Frotscher/Pieroth (Fußn. 1), § 6 m.w.Nachw. 7 Beispielhaft zu den bekannten Reformen in Preußen E. R. Huber (Fußn. 1), Bd. I, §§ 8 – 17; Frotscher/Pieroth, a.a.O., § 7 sowie in Bayern Weis, in: Spindler, Bayerische Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert, Erster Teilband 1974, § 3. Zu den wesentlichen Gebietsänderungen für die deutschen Partikularstaaten Huber, a.a.O., § 6 (Rheinbund) und a.a.O., § 32 II und III (1814/15 und 1819). 8 Zum Deutschen Bund und zu seiner Verfassung Huber, a.a.O., §§ 33 – 37, Frotscher/ Pieroth, a.a.O., Rn. 228 ff.; zu den konstitutionellen Maßgaben, insb. zu Art. 13 Bundesakte (Verfassungshomogenität aufgrund landständischer Verfassungen) Huber, a.a.O., § 36; Gangl, Der Staat, Bh. 1, 1975, 23/49; Frotscher/Pieroth, a.a.O., Rn. 240 ff.; zu den betreffenden frühkonstitutionellen Verfassungen Nachw. in Fußn. 1. 9 So die Nachw. in Fußn. 4.

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fassung“ dauerhaft angelegten Verbindung des politischen Funktionssystems mit demjenigen des Rechts.10 Damit allein jedoch soll der Verfassungsstaat wohl nicht auch schon als geschichtlich reale Idee beschrieben sein. Zum einen wäre er nicht in seiner generellen ideengeschichtlichen Grundlegung erfasst sowie zum zweiten und vor allem nicht in der besonderen Ursprungsbegründung, die er unter den originären kulturgeschichtlichen Voraussetzungen in Deutschland erfahren hat. 2. Bei der Neubegründung der staatlichen Verhältnisse durch deren Verrechtlichung war es wesentlich um eine sinnbestimmte und sinngebende Konstituierung und Formierung aus Vernunft gegangen. Dieses Verständnis der Verfassungsstaatlichkeit zielte auf eine staatsorganisationsrechtliche Rationalisierung der politischen Macht aus dem Geiste der Aufklärung, auf die Ermöglichung von Vernunft im rechtlichen und politischen Funktionssystem.11 In der staatsrechtlichen Ausgestaltung verlangte dies nach den zeitgeschichtlichen Anschauungen vor allem eine Verwirklichung der aus der vernunftrechtlichen Staatstheorie kommenden Verfassungsstrukturen von formeller Gesetzgebung durch repräsentative Körperschaften, von Gesetzesvorbehalt und von Gewaltenteilung. In der betreffenden ideengeschichtlichen Grundlegung bedeuteten solche Verfassungsstrukturen die staatsrechtliche Verwirklichung von individueller Autonomie, Freiheit und Gleichheit, allerdings in einem noch vernunftnaturrechtlichen Verständnis bzw. auch in staatsvertraglicher Tradition. Ausgangspunkt der betreffenden Vernunftbegründungen waren also noch empirische Annahmen zu einem angeblich vorgefundenen Zustand. Die darauf gestützten vernunftgeforderten Folgerungen und Forderungen hatten eine Verfassungsstaatlichkeit im Sinne, deren Idee die organisatorische Gewährleistung von individueller Autonomie, Freiheit und Gleichheit war. Die Rezeption jener wegen ihrer historischen und ideengeschichtlichen Zuordnung sogenannten „westlichen“ Vernunftbegründungen des Verfassungsstaates in Deutschland stellt in ihrer wirkungsgeschichtlichen Bedeutung ein eigenes historiographisches Thema dar.12 Im verfassungsge-

10 Di Fabio, Der Staat als Institution (Fußn. 4), 230 f.; als „fruchtbare Paradoxie“ wird die rechtliche Bindung der Herrschaft bei gleichzeitiger Herrschaft über das Recht bezeichnet (Di Fabio, Die Staatsrechtslehre und der Staat, Fußn. 4, 15 f.). 11 Zu den vernunftnaturrechtlichen Staatsvertragstheorien Stolleis, Geschichte des Öffentlichen Rechts in Deutschland, Erster Band, 1988, 323 ff.; Dreier, ARSP 1988;Würtenberger, Der Staat, Bh. 10, 1993, 85/86 ff.; ders., Der Staat 37, 1998, 165/176, P. Unruh, Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes. Eine verfassungstheoretische Rekonstruktion, 2002, 86 f. m. Nachw.; Kersting, Kant über Recht, 2004, 99 ff. (Hobbes), 101 ff. (Locke), 104 ff., (Rousseau). 12 Zu Einfluss und Rezeption „westlicher“ Verfassungsideen Gangl, Der Staat, Bh. 1, 1975, 23/30 ff. und 36 ff., Stolleis (Fußn. 1), 42 ff. und 99 ff., Würtenberger, Der Staat 37, 1998, 165/176 ff. Zu den wesentlich anderen politischen Voraussetzungen des Konstitutionalismus in Deutschland Gangl, a.a.O., 36 ff. und Würtenberger, Der Staat, Bh. 10, 1993, 85/102 f. („Verfassungspatriotismus“). Zur konstitutionellen Monarchie in Deutschland als einer monarchischen Reform „von oben“ im Unterschied zu der Entstehung in Frankreich aus einer Revolution Böckenförde, Der deutsche Typ der konstitutionellen Monarchie im 19. Jahrhundert (1967), abgedr. in: Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit, 1991, 273 ff.; Gangl, a.a.O., 50;

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schichtlichen, insbesondere verfassungstheoretischen Zusammenhang beurteilbar und wesentlich erscheint aber jedenfalls, dass jene vernunftnaturrechtlichen bzw. auch staatsvertraglichen Begründungen des Verfassungsstaates sich erkennbar auf die strukturelle Rationalisierung desselben in entsprechenden staatsrechtlichen Organisationsformen und Entscheidungsverfahren gerichtet und konzentriert haben. Es ging diesen also um eine staatsrechtliche Rationalisierung als „Prozess“, nicht um eine „Institutionalisierung“ von Staatlichkeit als objektiver und eigenständiger geschichtlicher Realität, d. h. um „Verfassung“ und nicht um einen „Staat“. Demgegenüber hat die Idee des Verfassungsstaates in Deutschland während ihrer dortigen epochalen Entfaltung um die Wende vom achtzehnten zum neunzehnten Jahrhundert13 eine Prägung durch eine kulturgeschichtlich eigene und originäre Vernunftbegründung erfahren.14 Zwar hat diese ihren spezifisch rationalistischen und verfassungstheoretischen Ansatzpunkt und Aussagegehalt ebenfalls in den Prinzipien von individueller Autonomie, Freiheit und Gleichheit. Aber diese verfassungstheoretischen Prinzipien erklären sich und begründen sich bei ihr nicht als „vertraglich“ zu verstehende Gegenpositionen gegen einen sie gefährdenden empirischen Naturzustand.15 Vielmehr sind sie apriorische elementare Prinzipien der praktischen Philosophie eines transzendentalphilosophischen Subjektivismus jener seinerzeitigen philosophiegeschichtlichen Epoche, der kritischen Philosophie und der an sie anschließenden praktischen Philosophie des Deutschen Idealismus.16 Jene für die KulDietrich, Der Staat, Bh. 1, 1975, 7 ff.; Stolleis, a.a.O., 42 und 102 ff.; Robbers, Der Staat, Bh. 11, 1996, 103/106 ff. 13 Zu jener kulturgeschichtlichen Wende Würtenberger, a.a.O, 25 ff.; ders., Der Staat 37 (1998), 165 ff. 14 Ausgangspunkt für die Vernunftbegründung des Verfassungsstaates war die Ablösung der vernunftnaturrechtlichen Staatsvertragslehren (Nachw. Fußn. 11) in der betreffenden transzendentalphilosophischen Kritik, d. h. in der praktischen Philosophie Kants; dazu Riedel, Studien zu Hegels Rechtsphilosophie, 1969, 14 ff.; Luf, Naturrechtskritik im Lichte der Transzendentalphilosophie (1983), in: ders., Freiheit als Rechtsprinzip, 2008, 21 ff. und ders., Souveränität bei Rousseau und Kant (2004), in: ders., Freiheit als Rechtsprinzip, 2008, 217/ 228 ff.; Unruh, Die Herrschaft der Vernunft. Zur Staatsphilosophie Immanuel Kants, 1993, 86 ff., 107 ff., 111 ff., 116 ff.; Würtenberger, Der Staat, Bh. 10, 1993, 105 f.; Kersting, Kant über Recht, 2004, 106 ff., 121 ff. Abgesehen von der staatstheoretischen Ablösung der Staatsvertragslehren richtet sich die kantische Vernunftbegründung des Staates selbstredend auch gegen die seinerzeit überkommenen feudalstaatlichen Verhältnisse (Luf, Feiheit und Gleichheit, 1978, 65). 15 Zu Freiheit und Gleichheit in den vorangegangenen vernunftnaturrechtlichen, von empirischen Annahmen zum Naturzustand ausgehenden Staatsvertragslehren Somek, Rechtssystem und Republik, 1992, 48 ff.; zu den Ursprüngen des Konstitutionalismus schon in den Naturrechtslehren des 18. Jahrhunderts Stolleis (Fußn. 12, 50) und Link, Herrschaftsordnung und Bürgerliche Freiheit. Grenzen der Staatsgewalt in der älteren deutschen Staatslehre, 1979. Ideengeschichtlich zur frühen Entstehung des Gegensatzes von Empirismus und Rationalismus bei Leibniz siehe Windelband, Die Geschichte der neueren Philosophie, Erster Band, 6. Aufl. 1919, 469 ff., 495 f. 16 Zur praktischen Philosophie Kants im Hinblick auf Rechts- und Staatslehre siehe schon die Nachw. bei Bartlsperger, Wertdenken in der Staatsrechtslehre des Verfassungsstaates, in:

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turgeschichte Deutschlands umwälzende Veränderung und Entwicklung des philosophischen Denkens musste auch zu einer grundlegenden staatstheoretischen Erneuerung der verfassungsstaatlichen Ideengeschichte führen. An die Stelle der angesprochenen vernunftnaturrechtlichen bzw. staatsvertraglichen Gedankenkonstruktionen des Verfassungsstaates vermochte eine unmittelbare Vernunftbegründung desselben zu treten. Verständlicherweise hiervon unberührt erlebten zwar die schon vernunftnaturrechtlich bzw. staatsvertraglich begründeten, auch für die künftige verfassungsstaatliche Entwicklung grundlegenden rechtsstaatlichen Prinzipien, insbesondere die Gewaltenteilungslehre, eine Rezeption und Inkorporierung; dieses verfassungsstaatliche Gedankengut konnte seine ursprüngliche ideengeschichtliche Bedeutung auch ausdrücklich behaupten.17 Aber im Übrigen und im Grunde konnte mit der originären Vernunftbegründung des Verfassungsstaates die generelle transzendentalphilosophische Erneuerung theoretischer und praktischer Philosophie auch für die Staats- und Verfassungstheorie vollzogen werden. Die staatstheoretische Bedeutung dieses kulturgeschichtlichen Vorganges lässt sich anhand der expliziten Konsequenzen für Rechts- und Staatslehre innerhalb der betreffenden praktischen Philosophie präziseren, in dem hier möglichen Rahmen wenigstens in zusammengefasster Weise. 3. Mit der Ablösung der Staatsvertragslehre durch die unmittelbare transzendentalphilosophische Vernunftbegründung von Rechts- und Staatslehre in der kritischen Philosophie ist der Verfassungsstaat a priori zum „Staat“ geworden. Denn wie die Staatsvertragslehre ihren gedanklichen Schritt von individueller Freiheit zu deren staatlicher Gewährleistung über eine Vertragskonstruktion tut, so geschieht in der kritischen Philosophie der konstruktiv vergleichbare Schritt in transzendentalphilosophischer Weise zu einer Idee des Staates, „wie dieser nach reinen Rechtsprinzipien sein soll“,18 über das hierbei folgerichtige allgemeine Prinzip des Rechts. Das a priori Apel u. a. (Hg.), Öffentliches Recht im offenen Staat, FS Wahl, 2011, 23/35 ff.; ferner Windelband, Die Geschichte der neueren Philosophie, Zweiter Band, 6. Aufl. 1919, 112 ff.; H. Krüger, Kant und die Staatslehre des 19. Jahrhunderts. Ein Arbeitsprogramm, in: Blühdorn/Ritter (Hg.), Philosophie und Rechtswissenschaft, 1969, 49 f., 58 ff.; Bärsch, Der Staatsbegriff in der neueren deutschen Staatslehre und seine theoretischen Implikationen, 1974, 135 ff.; Unruh (Fußn. 14), 41 ff., 47 f.; Luf, Freiheit und Gleichheit, 1992, 65 f.; Stolleis (Fußn. 12), 324 ff.; Kersting (Fußn. 14), 13 f., 16, 21 ff. Zum Deutschen Idealismus in rechtsund staatstheoretischer Hinsicht, d. h. zu Fichte und Hegel, vorweg und statt vieler die einschlägigen Beiträge mit Lit. von Siep, in: Siep, Praktische Philosophie im Deutschen Idealismus, 1992; ferner Bärsch, a.a.O., 132 ff., 135 ff., 147 ff.; speziell zu Hegel bei Riedel (Fußn. 14), 11, 16 f., 37 f. 17 Dazu schon Bartlsperger, a.a.O., 36 m. Fußn. 55 f. und ders., Das subjektive öffentliche Recht als Apriori des Verfassungsstaates, in: Baumeister u. a. (Hg.)., Staat, Verwaltung und Rechtsschutz, FS W.-R. Schenke, 2011, 17/47 m. Fußn. 122 f. 18 Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre. Metaphysik der Sitten (1797), Philosophische Bibliothek Band 360, 3. Aufl. 2009, Rechtslehre Zweiter Teil, § 45; zu den staatsphilosophischen Schriften Kants Unruh (Fußn. 14), 17 ff. und zur Einordnung von dessen Staatstheorie in seine kritische Philosophie ders., 41 ff.; insofern zum Unterschied gegenüber der vernunftnaturrechtlichen Staatsvertragslehre Luf (Fußn. 14), 22 ff., 25 f.; Kersting (Fußn. 14), 121.

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notwenige allgemeine Gesetz, nach dem „die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach dem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann“,19 macht die betreffende Vereinigung von Menschen zum Staat. Dessen Form ist „die Form eines Staates überhaupt, d.i. der Staat in der Idee.“20 Allerdings zu einer Staatslehre des wirklichen Staates kommt es in dieser für die weitere Ideengeschichte der Staatstheorie fundamentalen Vernunftbegründung der Idee des Staates nicht mehr. Zwar wird dieser insofern die Bedeutung beigemessen, dass sie “jeder wirklichen Vereinigung zu einem gemeinen Wesen (also im Inneren) zur Richtschnur (norma) dient.“21 Aber mit einer solchen Feststellung enden auch schon die betreffenden staatstheoretisch relevanten Aussagen jener in der kritischen Philosophie transzendentalphilosophisch begründeten Staatslehre und es beginnt das staatstheoretisch Unfertige an ihr.22 Sie gelangt bei ihrem ideengeschichtlich fundamentalen Schritt zu einer Staatslehre des Verfassungsstaates lediglich noch bis zu einem „ethischen Staat“ als staatstheoretisch und staatsrechtlich regulativer Idee.23 Aber offenbar nicht mehr innerhalb ihres nachweislichen thematischen Blickfeldes dagegen, vielleicht überhaupt nicht mehr innerhalb der Möglichkeiten ihres apriorisch „reinen“ transzendentalphilosophischen Denkens, liegt der Gesichtspunkt, dass auch apriorische Freiheit im Zusammenhang mit der ihr entsprechenden Vernunftbegründung des Staates reale Bedürfnisse und Zwecke empirischer Objekte kennt, dass deshalb auch der vernunftbegründete Staat eine Kontingenz und Effizienz gegenüber seiner Idee und bloßen „Form“ aufweisen muss, also nicht ohne eine geschichtliche 19

Kant, a.a.O., Einleitung in die Rechtslehre, § C; dazu Unruh, a.a.O., 53. Kant, a.a.O., Rechtslehre Zweiter Teil, § 45. 21 A.a.O. 22 Dazu schon Bartlsperger (Fußn. 16), 35 ff.; Luf (Fußn. 14, 30) bezeichnet die Geschichtlichkeit der Rechtsverwirklichung bei Kant „relativ unentfaltet“. Grundsätzlich zum Unfertigen der kantischen Rechts- und Staatlehre hinsichtlich des Elements der Geschichtlichkeit Luf, Aspekte einer deontologischen Rechtstechnik in der Tradition Kants (2004), in: ders (Fußn. 14), 151/152 ff. 23 Unruh (Fußn. 14), 52 und Heller (Hegel und der nationale Machtstaatsgedanke in Deutschland, 1921, Neudr. 1963, 8 f.), der Kants Interesse am Staat als „ein überwiegend ethisches“ bezeichnet. Ferner dazu Dreier, Rechtsbegriff und Rechtsidee. Kants Rechtsbegriff und seine Bedeutung für die gegenwärtige Diskussion, 1986, 9 ff., 19 ff.; Kersting (Fußn. 14), 36, 51, 121. Kant verkennt zwar keineswegs, dass Recht und Staat zur Vermittlung und zur Verwirklichung der Idee der Freiheit als praktischer Vernunftidee und transzendentalem Rechtsprinzip notwendig sind. Aber er vermag die Differenz zwischen beiden nur noch mit einer normativen Beziehung zu beschreiben; es handelt sich um eine „typisierende Qualifikation“ des konkreten wirklichen Rechts sowie von dessen Rechtsanwendung durch einen möglichen vereinigten Willen aller (Kant, Fußn. 18, §§ 44 und 47; dazu dann Unruh, a.a.O., 164 ff. und insb. Luf, Die „Typik der reinen praktischen Urteilskraft“ und ihre Anwendung auf Kants Rechtslehre, 1975, in: ders., Fußn. 14, 133 ff.). In gleicher Weise ist die staatliche Souveränität bei Kant dahin definiert, dass sie von den staatlichen Repräsentativorganen bzw. auch in Wahrnehmung der Volkssouveränität nur gemäß dem vereinigten Willen des ganzen Volkes wahrgenommen werden kann (Luf, Souveränität bei Rousseau und Kant, 2004, in: ders., a.a.O., 217/228 ff.). Dies bedeutet eine Verfassungstheorie, wonach auch demokratische Institutionen bzw. Verfahren einer materiellen Rechtsbegrenzung und Rechtsbindung unterliegen. 20

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Realisierung und objektive Wirklichkeit verstanden werden kann.24 Auch transzendentalphilosophische praktische Philosophie vermag daher ungeachtet ihrer subjektivistischen Grundannahme jedenfalls in rechts- und staatstheoretischer Hinsicht nicht davon abzusehen, dass man es mit empirischen Subjekten zu tun hat, dass deshalb eine intersubjektive Objektivierung stattfindet und dass dementsprechend ihre Staatslehre nicht an einer diese Objektivität repräsentierenden realen Institutionalisierung im „Staat“ vorbeigehen kann. Mit der bloßen erwähnten Annahme allein, dass der Staat die einer Vereinigung von Menschen unter a priori notwendigen Rechtsgrundsätzen entsprechende Form sei und dass diese als „Form eines Staates überhaupt, d.i. der Staat in der Idee“ als Richtschnur „jeder wirklichen Vereinigung zu einem Gemeinwesen“ diene, ist es für eine Staatslehre nicht getan. Eine normative Staatsphilosophie ist noch keine Staatslehre. Für diese kommt es erst einmal darauf an, eine konstruktive Grundlage für Staatstheorie und Staatsrechtslehre zu schaffen. Danach hat die kritische Philosophie mit der dargelegten, zu ihrer praktischen Philosophie gehörenden transzendentalphilosophischen Vernunftbegründung des Staates den für die Ideengeschichte des Verfassungsstaates in Deutschland originären und grundlegenden Schritt getan, die Staatsvertragslehre und die in deren Rahmen entstandenen bloßen Verfassungslehren durch eine Staatslehre im eigentlichen Sinne abzulösen und in der Verfassungsstaatlichkeit den „Staatsbegriff“ zu erkennen. Allerdings ist sie hierbei über einen bloßen Begriff des Staates als apriorische „Form eines Staates“, über den „Staat in der Idee“ hinaus nicht zu einer substanziellen Aussage gekommen. Namentlich für Staatstheorie und Staatsrechtslehre stellt sich zur Vernunftbegründung des Staates die eigentlich erst grundlegende Frage einer eigenen und objektiven geschichtlichen Wirklichkeit desselben. In einer ideengeschichtlich gleichzeitigen praktischen Philosophie des transzendentalen Subjektivismus ist die Frage zutreffend aufgegriffen worden.25 4. Die kritische Philosophie verlangte nicht nur in der spezifischen Hinsicht ihrer dargelegten transzendentalphilosophischen Vernunftbegründung von Recht und Staat einer Fortentwicklung, um die Deduktion von Recht und Staat als Ideen a priori auch zum Ausgangspunkt und zur Grundlage einer einsichtigen und brauchbaren „äußeren“ Rechts- und Staatslehre machen zu können. Vielmehr bedurfte es zu einer solchen Vermittlungsleistung einer veränderten Grundlegung in einer anderen, allgemeinen Wissenschaftslehre und zu einer solchen war es in ideengeschichtlicher Gleichzeitigkeit auch bereits gekommen.26 Diese hat die transzendentalphilosophi24 Kersting, a.a.O., 16 f., 51 f. Zu der die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts insofern beherrschenden Frage des Verhältnisses von Vernunft und Geschichte sowie zur Bewältigung dieser Frage bei Kant und Hegel s. Jaeschke, Immanuel Kant und G.W.F. Hegel: Vernunftrecht und Geschichte, in: Siep u. a. (Hg.), Von der religiösen zur säkularen Begründung staatlicher Normen, 2012, 119/129 ff., 132 ff., 136 f.; ferner Städtler, Immanuel Kant und G.W.F. Hegel: Vernunftrecht und Geschichte, in: Siep, u. a. (Hg.), a.a.O., 141 ff. 25 Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre (1726), Neudr. 1960 der 2. Aufl. 1922, hgg. von Manfred Zahn. 26 Fußn. 25.

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sche Subjektivität und das transzendentalphilosophische Bewusstsein in eine Begegnung mit deren realen, empirischen Bedingungen gebracht. Damit ist keineswegs auch schon eine Theorie empirischer Erfahrung in Raum und Zeit an die Stelle einer transzendentalphilosophischen theoretischen und praktischen Vernunft gesetzt worden. Vielmehr sind die letzteren lediglich insofern zu einem auch empirisch beachtlichen Vorgang verändert worden, als sie bewusstseinsmäßig in einen Zusammenhang mit der begegnenden Sinnenwelt gebracht worden sind.27 Im Bereich praktischer Philosophie bedeutet dies, dass die auch in der kritischen praktischen Philosophie dem Begriff der „apriorischen Verallgemeinerung und des apriorischen allgemeinen Gesetzes“ innewohnende Kategorie der Intersubjektivität nunmehr als eine „empirische Intersubjektivität“28 zwischen Individuen verstanden werden sollte. Die betreffende, in umfassender Weise auch der praktischen Philosophie zugrunde gelegte Wissenschaftslehre besagt für eine „äußere“ Rechtslehre, dass die in dem Zusammenhang als bloße Fiktion anzunehmenden, einem Jeden zustehenden sogenannten „Urrechte“ nicht ohne eine intersubjektive, gegenseitige Einschränkung gedacht werden können und dass sie sich daher zu Rechten in einem Gemeinwesen verwandeln.29 Zur Veranschaulichung dieses rechtstheoretischen Ansatzes dient das Bild eines sogenannten „Staatsbürgervertrages“ zwischen den Einzelnen.30 Hieraus folgt indessen strukturnotwendig auch eine „äußere“ Staatslehre. Da die intersubjektiven, wechselseitigen Rechtsbeschränkungen sich stets erst zukünftig aktualisieren und gegebenenfalls erst in der Zukunft einen entsprechenden rechtlichen Schutz verlangen, stellen sie sowohl als rechtliche Beschränkungen wie als hiermit auf der anderen Seite konstituierte, unbeschränkt verbleibende rechtliche Freiheiten ein reelles Ganzes dar, nicht bloß eine Rechtsstellung aller, sondern eine rechtliche „Allheit“.31 Die rechtliche Vernunft ist „Eine“; „und ihre Darstellung in der Sinnenwelt ist auch nur Eine.“32 Sie ist im Staat vereinigt. Für die Veranschaulichung einer solchen transzendentalphilosophischen Deduktion realer Staatlichkeit dient das zweite Bild eines

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Fichte (Fußn. 25), § 1. Erster Lehrsatz (S. 17 ff.), § 4 Dritter Lehrsatz (S. 40 ff.). Dazu schon Bartlsperger (Fußn. 17), 49; ferner Siep, Philosophische Begründung des Rechts bei Fichte und Hegel (1983), in: ders. (Fußn. 16), 65 ff.; Rohs, Johann Gottlieb Fichte, 2. Aufl. 2007, 79 ff. 28 Kant (Fußn. 18), Einleitung in die Rechtslehre, § C. Dazu Luf, Zum Problem der Anerkennung in der Rechtsphilosophie von Kant und Fichte (1992), in: ders (Fußn. 14), 165/174 f., 178 f. 29 Zu den „Urrechten“ im Sinne der Fichteschen Rechtslehre sowie zu deren Heraustreten aus einer bloßen Fiktion in die Wirklichkeit ihrer intersubjektiven Beschränkung Fichte (Fußn. 25), §§ 9 ff. (S. 110 ff.). 30 A.a.O., § 17 (S. 185 ff.). Der „Staatsbürgervertrag“ wird verstanden als ein Vertrag zwischen dem Einzelnen und allen anderen als kontrahierenden Parteien; er garantiert jedem Einzelnen Schutz und gilt als Bedingung für den Eintritt des Einzelnen in den Staat (§ 17 IV, S. 195 f.). 31 A.a.O., § 17 IV (S. 196). 32 A.a.O., § 17 IV (S. 197).

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sogenannten „Vereinigungsvertrages“,33 der diesmal also ein Vertrag zwischen den Individuen und dem Staat ist. Zufolge dieses „Vereinigungsvertrages“ wird der Einzelne „ein Teil eines organisierten Ganzen, und schmilzt so mit demselben in Eins zusammen“.34 Rechtlich gebunden ist der Einzelne, soweit er im Wege intersubjektiver Rechtsbeschränkung einen Beitrag zum Ganzen des Staates, zum Staatszweck geleistet hat. Rechtlich frei und in individuellen Rechten durch den Staat geschützt bleibt er, soweit er nicht durch seinen betreffenden Beitrag zum Staatszweck „in das Ganze des Staatskörpers verwebt“ ist und dementsprechend seine apriorischen sogenannten „Urrechte“ als eine materielle Freiheit behalten hat.35 Zusammengefasst ist das Prinzip einer solchen vernunftbegründeten, bewusstseinsmäßig realen Rechts- und Staatslehre ein Prinzip der wechselseitigen „Anerkennung“ von Vernunftwesen, kraft deren diese ein gemeinschaftliches Rechtsbewusstsein ausbilden, zur Verbindlichkeit einer solchen Rechtsordnung gelangen und sich als Glieder einer Rechtsgemeinschaft sowie einer entsprechenden staatlichen Gemeinschaft verstehen, dabei sich aber auch ihrer „ursprünglichen“ subjektiven Rechte gegenüber dem Staat gewahr bleiben.36 Für eine Staatstheorie des Verfassungsstaates ergeben sich jedenfalls zwei grundlegende Folgerungen: Zum einen ergibt sich aus der vernunftbegründeten intersubjektiven Anerkennungslehre von Recht und Staat eine staatsrechtliche Theorie und Dogmatik subjektiver öffentlicher Rechte. Danach hängen diese entgegen einer gesetzesstaatlich überkommenen und lange Zeit maßgeblichen sogenannten Schutznormtheorie nicht von einer gesetzlichen Statusverleihung bzw. Rechtsbegründung ab. Vielmehr sind sie originär bestehende, vernunftbegründete Rechte a priori.37 Von dieser staatstheoretischen Grundlegung aus kann auch einer Grundrechtstheorie subjektiver öffentlicher Rechte nachgegangen werden.38 Zum zweiten und unmittelbar im vorliegenden Zusammenhang bedeutet die intersubjektive Anerkennungslehre eine vernunftbegründete Staatslehre des Verfassungsstaates, die den Staat nicht nur als Form und Idee a priori der „Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen“ zu begreifen vermag, ihn vielmehr als eine dem Bewusstsein empirisch begegnende objektive und eigene geschichtliche Realität kennt. Auch stehen die subjektiven Freiheiten der Einzelnen unbeschadet ihrer „ursprünglichen“ Vernunftbegründung und ihrer wechselseitigen Be33

A.a.O., § 17 V (S. 198 ff.). A.a.O. (S. 98 und 200). 35 A.a.O. (S. 199 f.). 36 Zu dieser sogenannten Anerkennungslehre in der praktischen Philosophie des deutschen Idealismus Siep, Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie, 1979, insb. 22 f. und 32 ff.; Luf (Fußn. 28), 165 ff.; ders., Überlegungen zur Theorie der Anerkennung in der gegenwärtigen Rechtsphilosophie (2000), in: ders. (Fußn. 14), 181 ff. 37 Dazu Bartlsperger (Fußn. 17), insb. 46 ff. 38 In der Richtung und in dem Sinn, dass Apriorität und „Primat“ subjektiver öffentlicher Rechte eine ideengeschichtliche, staatstheoretische Perspektive für die Grundrechtstheorie sein können. 34

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schränkung auf der intersubjektiven Ebene dem Ganzen der staatlichen Gemeinschaft gegenüber, weil sie diese mit ihrem Beitrag zur intersubjektiven Freiheitsbeschränkung notwendigerweise konstituieren und hinsichtlich des ihnen verbleibenden Teiles einer dementsprechenden materiellen Freiheit eines Schutzes von Seiten dieser staatlichen Gemeinschaft bedürfen.39 Es handelt sich um das später in der Staatsrechtslehre mit dem sogenannten rechtsstaatlichen „Verteilungsprinzip“ bezeichnete Gegenüber von Staat und individueller Freiheit.40 Die staatstheoretisch wesentliche Bedeutung der intersubjektiven Anerkennungslehre liegt also darin, dass sie auf der Grundlage einer originär vernunftbegründeten Rechts- und Staatslehre die Rechtsbildungsprinzipien der Verallgemeinerung bzw. der Intersubjektivität mit einer empirischen Realisierung verbindet und in einem dabei notwendigerweise entstehenden reellen Ganzen die staatliche Gemeinschaft bzw. den Staat als geschichtliche Realität erkennt. Die vernunftmäßige Intersubjektivität als Rechtsbildungsprinzip und die Institutionalisierung der hierbei entstehenden materiellen Rechtsbeschränkungen und verbleibenden Rechtsfreiheiten in dem Ganzen einer staatlichen Rechtsgemeinschaft bilden eine notwendige Einheit. So kennt der Verfassungsstaat den Staat als vernunftbegründete Idee a priori und als vernunftbegründete objektive und eigenständige geschichtliche Realität. 5. Allerdings hat das vernunftmäßige Rechtsbildungsprinzip einer intersubjektiven Begründung von materiellen Rechtsbeschränkungen „ursprünglicher“ Freiheiten und von verbleibenden materiellen Freiheiten in der Zwischenzeit auch eine andere theoretische Ausgestaltung erfahren. Ein diskurstheoretisches Rechtsverständnis versagt sich einer intersubjektiv begründeten Staatslehre, einer dementsprechend auf eine Staatsgewalt bezogenen staatsrechtlichen Ordnung und einem sogenannten „liberalen Rechtsparadigma“ von der Gewährleistung subjektiver öffentlicher Rechte gegenüber dem Staat. Danach soll die in der kritischen Philosophie zugrundegelegte Vereinbarkeit der Freiheit eines jeden mit den gleichen subjektiven Freiheiten aller erst im Zuge des sogenannten „liberalen Rechtsparadigmas“, also im Zuge einer angeblich durch die Interessenlage des liberalen Bürgertums bestimmten historischen Situation, zu einer Freiheitsgewährleistung gegenüber dem Staat „verkürzt“ worden sein. Den staatsbezogenen Abwehrrechten wird danach ein nur hinzugekommener derivativer Charakter zuerkannt. Erst mit der Konstituierung einer Staatsgewalt soll der zunächst intersubjektive Sinn wechselseitiger Anerkennung horizontal vergesellschafteter, freiwillig assoziierter Rechtsgenossen auf das Verhältnis zu 39 Siep (Fußn. 36), 22 f., 33 ff. „Anerkennung“ als transzendentalphilosophisches Vernunftprinzip von Rechts- und Verfassungsstaat ist danach ein „Prozess der gegenseitigen Konstitution von individuellem und allgemeinem Bewusstsein“ (a.a.O., 22). Sie ist sowohl Voraussetzung als auch Resultat von Recht und Staat. Es besteht eine Reziprozität von Legalität und Legitimität (Luf, Überlegungen zur Theorie der Anerkennung in der gegenwärtigen Rechtsphilosophie, Fußn. 36, 183 f.), eine Gleichrangigkeit von Freiheitgewährleistung und Kollektivwerten (a.a.O., 192 ff.), ein Verhältnis von Vereinigung und Distanz zwischen einzelnen und dem Staat (Luf, Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie, Fußn. 36, 297). 40 Dazu Isensee, HStR II, 3. Aufl. 2004, § 15 Rn. 174.

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einem Ganzen realer Staatlichkeit übertragen worden sein.41 In vergleichbarer Weise können fundamentaldemokratische Rechtstheorien, die sich durch eine angenommene Unvereinbarkeit von Demokratie und Staat definieren, eine konstruktive Bestätigung in bloß horizontalen subjektiven Beziehungen der Rechtsgenossen suchen wollen, soweit ihre Auffassungen sich nicht überhaupt nur aus politischen Motivationen erklären.42 Alle angesprochenen Fälle einer Diskurs- bzw. fundamentalen Demokratietheorie weisen eine Beziehung zum erörterten Prinzip intersubjektiver Anerkennung auf, werden aber von ihm in seinem ideengeschichtlichen, staatstheoretischen Aussagegehalt nicht getragen. Jene dargelegte ideengeschichtlich nachweisbare Rechtslehre auf der spezifischen Grundlage intersubjektiver Anerkennung jedenfalls kann weder für jene Diskurstheorie noch gegebenenfalls für jenes angesprochene fundamental-demokratische Rechtsverständnis als theoretische Grundlage beansprucht werden. Vielmehr gehört es gerade zur Kernaussage jener für die praktische Philosophie des Deutschen Idealismus wesentlich gewordenen Rechtslehre, dass die Vernunftbegründung des Rechts aus einer bewusstseinsmäßig empirischen intersubjektiven Anerkennung der Rechtsgenossen mit ebensolcher bewusstseinsmäßiger Notwendigkeit verbunden ist mit der Konstituierung zu einem Ganzen einer betreffenden Rechtsgemeinschaft und staatlichen Rechtsordnung sowie mit der Institutionalisierung einer zu deren Schutz erforderlichen Staatsgewalt. Solche ideengeschichtlichen Klarstellungen erlauben eine Zusammenfassung zu einer Staatslehre des vernunftbegründeten Verfassungsstaates, wie sie für dessen originäres kulturgeschichtliches Verständnis am epochalen Beginn in Deutschland kennzeichnend ist. Danach ist Verfassungsstaatlichkeit vernunftmäßig aus der in der Idee verallgemeinerten, unter empirischen Bewusstseinsbedingungen intersubjektiv ermöglichten apriorischen Freiheit der Einzelnen begründet und über den „Staat“ als einer dementsprechend konstitutionell verfassten Rechtsgemeinschaft vermittelt. Die betreffenden verfassungsrechtlichen Strukturen, Organisationsformen, Verfahren und Entscheidungen sind solche eines derartigen Staates. Den in der intersubjektiven Anerkennung materiell verbleibenden „ursprünglichen“ Frei41

Zusammengefasst bei Habermas, Faktizität und Geltung (4. Aufl. 1994), Taschenbuchausgabe 1998, 306. Zu der betreffenden Diskurstheorie auch die Beiträge in: Schaal (Hg.), Das Staatsverständnis von Jürgen Habermas, 2009. Kritik dazu bei Luf (Fußn. 14), 29 ff. und Zippelius, Rechtsphilosophie, 6. Aufl. 2011, § 26 I; zutreffend wird dort jene Auffassung angesichts der gesellschaftlichen Pluralität und von dementsprechend fehlenden Realbedingungen als „ideologische Anmaßung“ beurteilt (Luf) bzw. liberale Freiheit gegen demokratische Freiheit ins Feld geführt (Zippelius). 42 Bärsch (Fußn. 16), 7, 17 ff., 102 ff., 122 ff. Maus, Die Trennung von Recht und Moral als Begrenzung des Rechts, Rechtstheorie 20 (1989), 191 ff. und abgedr. bei ders., Zur Aufklärung der Demokratietheorie, 1994, 308 ff.; dies., Zur Theorie der Institutionalisierung bei Kant (1990), abgedr. bei ders., Zur Aufklärung der Demokratietheorie, 1994, 249 ff.; dies., von der Metaphysik des Widerstandsrechts zum nachmetaphysischen Prinzip der Volkssouveränität: Die Demokratietheorie Kants, in: dies., Zur Aufklärung der Demokratietheorie, 1994, 15 ff. Uhlenbrock, Der Staat als juristische Person, 2000, 167 ff., 176.

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heiten der Einzelnen einschließlich von deren sozialer Gewährleistung steht eine damit konforme objektive und eigenständige Gemeinwohl- bzw. Wertordnung des betreffenden staatlichen Ganzen gegenüber und die so vorhandene materielle Verfassungsordnung bindet und begrenzt die in den staatsrechtlichen Organisationsformen und Verfahren zustande kommenden Entscheidungen. Das vernunftmäßige Rechtsbildungsprinzip einer bewusstseinsmäßig empirischen, intersubjektiven Anerkennung zwischen den individuellen Rechtsträgern „ursprünglicher“ Freiheiten ist also in der Lage, für die Verfassungsstaatlichkeit eine Staatsvorstellung zu vermitteln. Sie vermag für einen solchen Verfassungsstaat auch in dessen geschichtlicher, verwirklichter Staatlichkeit seine Vernunftbegründung zu veranschaulichen und einen apriorischen Maßstab für jede seiner geschichtlichen Verwirklichungen zu liefern. Es ist die nachhaltige Leistung der dargelegten ideengeschichtlichen Grundlegung des Rechtsbildungsprinzips einer bewusstseinsmäßig empirischen, intersubjektiven Anerkennung, den Verfassungsstaat in einer vernunftbegründeten Staatstheorie erfasst zu haben, nach deren Rechtsvorstellung die Individuen nicht ohne Staat denkbar sind und der Staat nicht ohne die Individuen. Weder die einen noch der andere erscheinen dabei verabsolutiert.43 In diesem letzteren Punkt allerdings hat das Rechtsbildungsprinzip intersubjektiver Anerkennung schließlich in der praktischen Philosophie des Deutschen Idealismus noch eine wesentliche und wirkungsträchtige Akzentuierung erfahren.44 Folgerichtig musste auf der Grundlage der intersubjektiven Anerkennungslehre die Einsicht zur Geltung kommen, dass bei einer geschichtlichen Verwirklichung dieses rechts- und staatstheoretischen Prinzips anstatt einer völligen intersubjektiven Wechselwirkung zwischen den Individuen schließlich doch die hierbei konstituierten Institutionen des Staates einen „Primat“ der in ihnen verwirklichten Allgemeinheit erzeugen, dass sich also eine „Asymmetrie“ zugunsten des im Staat institutionalisierten allgemeinen Willens im Verhältnis zu den Individuen einstellt.45 Es kann dahingestellt bleiben, ob es sich bei dieser ideengeschichtlichen Konsequenz um eine immanente Fortentwicklung innerhalb der genannten, also der ideengeschichtlich vorangegangenen praktischen Philosophie gehandelt hat oder um eine originäre Erneuerung derselben. Jedenfalls hat sich mit jenem Gedankenschritt die praktische Philosophie gänzlich der Frage einer Verwirklichung im Bereich eines objektiven geschichtlichen Geistes zugewandt.46 Sie ist dadurch in eine Philosophie bzw. Phäno43

Siep (Fußn. 36, 1979), 22. In der Staatslehre Hegels; zu diesem Entwicklungsschritt der Anerkennungslehre, d. h. von Fichte zu Hegel, siehe Siep, a.a.O, 22 f., 34 f. 45 Siep, a.a.O, 23, 278 ff. 46 Dazu schon Bartlsperger (Fußn. 16), 50 m. Nachw. in Fußn. 109. Es handelt sich um den Schritt zur „Wirklichkeit der konkreten Freiheit“ (N. Hartmann, Die Philosophie des deutschen Idealismus, II. Teil – Hegel, 1929, 339 ff.), vom individuellen bzw. vom gemeinsamen Willen zum Allgemeinen oder von der „Moralität“ zur „Sittlichkeit“; dazu Brie, Der Volksgeist bei Hegel und in der historischen Rechtsschule, 1909, 16 f., 20; Kaufmann, Kritik der neukantischen Rechtsphilosophie, 1921, in: ders., Rechtsidee und Recht, Gesammelte 44

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menologie des Geistes eingegangen, speziell was dessen geschichtliche Verwirklichung in einem objektiven und eigenständigen geistigen Gebilde angeht.47 Infolgedessen hat sie sich zu einer Geschichtsphilosophie entwickelt und ist, was die konkrete geschichtliche Verwirklichung betrifft, gerade zu einer Rechts- und Staatslehre geworden.48 Bekanntlich sollte sie als solche dann zum Gegenstand prinzipieller, noch in der gleichen Epoche einsetzender Auseinandersetzungen um eine politische Philosophie des Verfassungsstaates werden.49 In der Staatsrechtslehre ist sie über die Zeiten hin zu einem stets gegenwärtigen, wesentlichen ideengeschichtlichen Ausgangspunkt für staatstheoretische Kontroversen um den Staatsbegriff im Verfassungsstaat geworden sowie in Verbindung damit für einen grundlegenden Methodenstreit um ein staatsrechtliches „Denken vom Staat her“.50

II. Verfassungsstaat geschichtsphilosophisch – Der Staat als Verwirklichung konkreter Freiheit und Vernunft 1. Die genannte und bekannte Entwicklung jener von der kritischen Philosophie ausgehenden und dann den Deutschen Idealismus prägenden praktischen Philosophie zu einer Philosophie bzw. Phänomenologie des Geistes und in diesem Sinne zu einer Geschichtsphilosophie lässt sich als ein abschließender, aber auch ideengeschichtlich eigener Abschnitt jener geistesgeschichtlichen Epoche betrachten. Denn hiermit hat sich die vernunftbegründete praktische Philosophie wesentlich der geSchriften, Bd. III, 1960, 176/211 ff., 285 f., 290 f.; Ritter, Auseinandersetzung mit der kantischen Ethik, 1966, in: ders., Metaphysik und Politik, 2003, 281 ff.; Horstmann, Wahrheit aus dem Begriff, 1990, 53 ff.; Emundts/Horstmann, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, 2002, 9 f. 47 Windelband (Fußn. 16), 342 ff.; Lask, Gesammelte Schriften I, 1923, 334, 337, 344 ff.; Litt, Hegel, 1923, 99; Wenke, Hegels Theorie des objektiven Geistes, 1927; Hartmann, a.a.O, 270 ff., 282 ff., 298 ff., 303 ff., 355; Moog, Hegel und die Hegelsche Schule, 1930, 289 ff., 310 ff.; Ritter, Hegel und die Französische Revolution (1956), in: ders. (Fußn. 46), 234 (Exkurse), 247 f.; Riedel, Objektiver Geist und praktische Philosophie, 1968, in: ders., Studien zu Hegels Rechtsphilosophie, 1969, 11/40 f.; Siep, Zur Dialektik der Anerkennung bei Hegel (1974), in: ders. (Fußn. 16), 172 ff.; ders., „Gesinnung“ und „Verfassung“, in: ders. (Fußn. 16), 270 ff.; ders., Hegels politische Philosophie (1990), in: ders. (Fußn. 16), 307/ 314 ff., 317, 320, 325 f., 328; Schnädelbach, Hegel zur Einführung, 1999, 111, 121, 127; Emundts/Horstmann, a.a.O., 12, 37 ff. 48 Windelband, a.a.O, 345 ff., Rosenzweig, Hegel und der Staat, Zweiter Band, 1920, Neudr. 1962, 88; Riedel, Tradition und Revolution in Hegels „Philosophie des Rechts“ (1962), in: ders., a.a.O., 110 f.; Siep, Hegels politische Philosophie, in: ders. (Fußn. 16), 307/314, 317 f., 327 f.; im Hinblick auf die organische Staatslehre Häfelin, Die Rechtspersönlichkeit des Staates, I. Teilband 1959, 90 ff. 49 Zu dem Vorwurf einer Rechtfertigung seinerzeitiger politischer Reaktion und Restauration Bartlsperger (Fußn. 16), 51 m.Nachw. in Fußn. 111. Ferner Heller (Fußn. 23), V f., 20 ff., 57 ff., 131 ff., 159 ff., 167 ff., 175 f.; bereits zu Kant kritisch Bärsch (Fußn. 16), 138 ff., 142 f., 147 ff.; zur politischen Wirkungsgeschichte der Hegelschen Rechtsphilosophie Dreier, Bemerkungen zur Rechtsphilosophie Hegels (1980), in: ders., Recht, Moral, Ideologie, 1981, 316 f. 50 Günther, Denken vom Staat her, 2004 und Möllers, Staat als Argument, 2000.

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schichtlichen Verwirklichung von Freiheit und Vernunft in der Gemeinschaft zugewendet und hierbei ihre rechts- und staatstheoretische Blickrichtung umgekehrt. Diese geht nicht mehr von der „ursprünglichen“ individuellen Freiheit und von deren wechselseitiger materieller Beschränkung zu der hierbei konkret konstituierten Gemeinschaft hin, sondern nunmehr von der die individuelle Freiheit konkret verwirklichenden Gemeinschaft zu der innerhalb derselben verbleibenden materiellen Freiheit des Einzelnen. Es hatte schließlich auch im kulturgeschichtlichen Trend jener Zeit gelegen, Rechtsordnung und Rechtslehre mit einer Vorstellung vom geschichtlichen „Volksgeist“ in Verbindung zu bringen. Denn auch für die zeitgleich in der Rechtswissenschaft speziell zur maßgeblichen und wirkungsträchtigen Rechtslehre sich entfaltenden Historischen Rechtsschule gilt der „Volksgeist“ als Vermittler der Rechtsbildung und als Verwirklichung des Rechts.51 Aber grundlegend anders als in jener fachspezifischen, zivilistischen Rechtslehre, die den „Geist“ und speziell das „System“ des Rechts aus Tradition und Kontinuität erkennen zu müssen glaubte, gelten jener vernunftbegründeten Geschichtsphilosophie Freiheit und Vernunft, also die transzendentalphilosophischen Prinzipien praktischer Philosophie, als Prinzipien der Rechtsbildung. Diametral entgegen jener spezifischen Rechtslehre betrachtet diese Geschichtsphilosophie das Recht als Produkt der sich in ihm konkret verwirklichenden Freiheit und Vernunft.52 In der Rechtsgemeinschaft konstituieren sich die Institutionen des Staates und dieser als geschichtliche Realität ist es, der wiederum den Einzelnen das Recht vermittelt. Das Recht ist positives Recht; aber nicht, wie im Positivismus der Historischen Rechtsschule, die Geschichte bringt es hervor, sondern der Staat als konkrete geschichtliche Wirklichkeit von Freiheit und Vernunft vermittelt es. 2. Im Zuge der ideengeschichtlichen Wendung vernunftbegründeter praktischer Philosophie zu einer vernunftbegründeten Geschichtsphilosophie ist es gelungen, auch der in jener Epoche unternommenen originären Vernunftbegründung von Recht und Staat jedenfalls die grundlegende Richtung zu weisen, um dieselben in ihrer „äußeren“, geschichtlichen Wirklichkeit kategorial seiensmäßig begreifbar zu machen. Dies ist innerhalb der entsprechenden Philosophie bzw. Phänomenologie des Geistes mit der kategorial seinsmäßigen Annahme und Verdeutlichung von Gebilden „objektiven Geistes“ geschehen.53 Deren kategorial seinsmäßige Struktur wurde dahin offengelegt, dass in kategorialer Abhängigkeit vom subjektiven geistigen Bewusstsein und von der geistigen Tätigkeit der Einzelnen sowie von deren 51

Zur Historischen Rechtsschule Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1967, 348 ff., 377 ff.; weitere Nachw. und zur fehlenden Bedeutung für die Staatslehre Bartlsperger (Fußn. 16), 32 f. 52 Dazu Brie (Fußn. 46), 7 ff., 16 f., 20 ff.; Rosenzweig (Fußn. 48), Erster Band, 23 ff., 105 f., 167; Heller (Fußn. 23), 61; Schönfeld, Puchta und Hegel, in: Larenz (Hg.), FG Binder, 1930, 1/26 ff., 33 f., Ritter, Person und Eigentum. Zu Hegels „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ §§ 34 – 81 (1961), in: ders. (Fußn. 46), 257/261 ff.; Riedel (Fußn. 48), 100 f., Ottmann, Individuum und Gemeinschaft bei Hegel, Band I, Hegel im Spiegel der Interpretationen, 1977, 249, 244; Emundts/Horstmann (Fußn. 46), 10. 53 Nachw. Fußn. 47.

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wechselseitiger „Anerkennung“ sich zugleich ein allgemeiner Wille bildet, der zu einer ebenso kategorial eigenen Wirklichkeit findet und unter einer solchen Voraussetzung sich zu einem Produkt seiner selbst entwickelt.54 Die kategorial eigene geistige Realität und Aktivität setzt ihn nicht zuletzt in die Lage, wiederum in eine Wechselseitigkeit, d. h. in eine konstituierende Beziehung zum Bewusstsein der Einzelnen zu treten. Die seinsmäßige Eigenheit von Korporationen als Gebilden objektiven Geistes wurde also schon in einer auch von der nachfolgenden Ontologie nicht mehr grundlegend veränderten kategorialen Bestimmtheit erkannt, dass dieselben „durch ihre eigene inhaltliche Struktur bestimmt werden, dieser auch in ihrer geschichtlich konkreten Fortentwicklung folgen und dementsprechend auch ihre eigenen begrifflichen Strukturen besitzen“.55 Darin hat auch jede auf Gebilde objektiven Geistes, wie den Staat und seine staatsrechtliche Ordnung, gerichtete Begriffsbildung ihre kategoriale Voraussetzung; die betreffenden Begriffe verdanken sich ungeachtet ihres transzendentalen Charakters einer wechselseitigen Bindung an die betreffenden, sich selbst realisierenden Objektivierungen geistiger Inhalte. Mit der im Rahmen jener Philosophie bzw. Phänomenologie des Geistes in die Begriffswelt eingeführten Seinskategorie von Gebilden objektiven Geistes war ersichtlich eine wesentliche Voraussetzung für die Staatslehre geschaffen worden, um auf der Grundlage und in Gemäßheit der epochalen originären Vernunftbegründung des Verfassungsstaates den Begriff des Staates überhaupt aus dessen „inneren Staatsrecht“56 vollends deutlich zu machen. In demselben erscheint der Staat als „die Wirklichkeit der konkreten Freiheit“ und der konkreten Vernunft, d. h. als Form des vernünftigen freien Willens unter historischen Bedingungen. Damit ist das „Prinzip des modernen Staates“ bezeichnet.57 Es besteht darin, „das Prinzip der Subjektivität sich zum selbständigen Extreme der persönlichen Besonderheit vollenden zu lassen und zugleich es in die substantielle Einheit zurückzuführen und so in ihm selbst diese zu erhalten.“58 Man kann also festhalten, dass die dargelegte, einer vernunftbegründeten Geschichtsphilosophie zugehörige und aus einer spezifischen Philosophie bzw. Phänomenologie des Geistes entwickelte Staatslehre die epochale und originäre Vernunftbegründung des Verfassungsstaates in Deutschland auf einen grundsätzlich überzeugenden und brauchbaren Weg zu führen sowie eine wirkungsträchtige ideengeschichtliche Grundlage für eine entsprechende Staatstheorie und Staatsrechtslehre des Verfassungsstaates aufzuzeigen vermochte. Ihrer philosophischen Grundlegung ist denn auch noch in beträchtlichem zeitlichem Abstand bestätigt worden, dass sie „eine der bedeutendsten und entschiedensten Großtaten der Geistesgeschichte“ ge54

Dazu Bartlsperger (Fußn. 16), 55 m. Nachw. Bartlsperger a.a.O. 56 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), neu die 4. Ausgabe, stw. 607, 1986, §§ 257 ff.; zum „inneren Staatsrecht“ § 259 f. 57 A.a.O, § 260. 58 A.a.O. 55

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wesen sei.59 Aber von einer augenscheinlichen und bekannten, kurzfristigen bestimmenden Rolle im zeitgeschichtlichen Geistesleben abgesehen, ist ihren unmittelbaren Aussagen und Bedeutungsgehalten wegen zeitgeschichtlicher Veränderung kein uneingeschränkter nachhaltiger Erfolg beschieden gewesen. In der Staatsrechtslehre konnte dies schon deshalb nicht der Fall sein, weil sich dort ab der Jahrhundertmitte die der geschichtlichen Wirklichkeit von Recht und Staat sich versagende „juristische“ Methode der aus dem Zivilrecht kommenden, aber generell beherrschenden Historischen Rechtsschule60 sowie deren staatstheoretisch folgerichtige, formalistische Staatskonstruktion aus dem Willens- und dem monarchischen Herrschaftsprinzip durchsetzen konnten.61 3. Indessen jenes Werk selbst gibt nachweislichen Anlass zu prinzipieller Kritik, was seine spezifisch idealistischen Annahmen angeht, vor allem was seine damit in Verbindung stehende politische Philosophie in ihrem authentischen Erscheinungsbild betrifft. Diese musste in ihrer entschieden dem monarchischen Prinzip folgenden Auffassung vom konstitutionellen Staat als konservativ und antiliberal gelten sowie mit der restaurativen Politik jener Epoche in Verbindung gebracht werden.62 Die Kritik daran setzt angesichts der frühkonstitutionellen Entwicklung und einer breiten, gegen einen monarchischen „Machtstaat“ gerichteten politischen Bewegung unverzüglich ein; sie ist in ermüdenden Wiederholungen bis heute lebendig. Nicht selten verschließt sie sich dabei der Möglichkeit, zwischen dem Werk in seiner Authentizität einerseits sowie dessen ideen- und wirkungsgeschichtlichem Aussage- und Bedeutungsgehalt andererseits zu trennen.63 Hiervon betroffen ist auch die vorstehend erörterte, auf die kategorial seinsmäßige Annahme von Gebilden des objektiven Geistes gegründete Staatslehre vom Verfassungsstaat als objektiver und eigenständiger geschichtlicher Realität. Keine staatstheoretische Bezugnahme oder Anknüpfung an diese Staatslehre kann umhin, jene Werk-Kritik wenigstens in wesentlichen Punkten einzubeziehen, weil eigentlich erst die betreffenden Auseinandersetzungen die wirklich wichtigen und nachhaltig bedeutsamen Punkte des Werks deutlich in Erscheinung treten lassen. Nach einer zentralen authentischen Aussage des Werks besteht der Staat als „die Wirklichkeit der sittlichen Idee“ dergestalt, dass er an „der Sitte seine unmittelbare 59

Kaufmann (Fußn. 46), 292. Fußn. 51. 61 Grundlegung jener für den Staatsrechtlichen Positivismus bestimmenden Staatsrechtslehre bei v. Gerber, Über öffentliche Rechte (1852), Abdr. 1913 sowie ders., Grundzüge eines Systems des Deutschen Staatsrechts (1865), 2. Aufl. 1869, 3. Aufl. 1880. Dazu schon Bartlsperger (Fußn. 16), 33 f. m.Nachw. und ders. (Fußn. 17), 22 ff. 62 Fußn. 49. 63 Zur Notwendigkeit, in Hegels Philosophie des Rechts die „Wirkungsgeschichte und systematische Konzeption von besonderen zeitbezogenen Äußerungen des Autors zu unterscheiden“, Siep, Verfassung, Grundrechte und soziales Wohl in Hegels Philosophie des Rechts (1991), in: ders. (Fußn. 16), 285, 285 ff.; ders., Zschr f. phil. Forschung 35 (1981), 518 ff.; so auch Hartmann (Fußn. 46), 9 ff. 60

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und an dem Selbstbewusstsein des Einzelnen, dem Wissen und Tätigkeit desselben, seine vermittelte Existenz, sowie dieses durch die Gesinnung in ihm, als seinem Wesen, Zweck und Produkte seiner Tätigkeit, seine substantielle Freiheit hat.“64 Was im Anschluss hieran die Vernunftbegründung des Staates angeht, gilt dieser „als die Wirklichkeit des substantiellen Willens, die er in dem zu seiner Allgemeinheit erhobenen besonderen Selbstbewusstsein hat, das an und für sich Vernünftige.“65 Für diese speziell staatstheoretische Annahme grundlegend ist das hieran zur Geltung kommende, generell angenommene Verhältnis von Vernunft und Wirklichkeit. Es ist in der bekannten Formulierung zusammengefasst: „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig.“66 Die Werk-Kritik sieht hierin eine Anerkennung der jeweiligen Staatswirklichkeit, also einen Ausdruck prinzipieller Staatshörigkeit sowie im zeitgeschichtlichen Zusammenhang ein Bekenntnis zu einer dem monarchischen Herrschaftsprinzip verpflichteten, letztlich antiliberalen und antidemokratischen konstitutionellen Ordnung. Das letztere ist in dem Werkzusammenhang und anderweitig nachweislich für die fachspezifische Befassung mit dem Werk und mit dessen Urheber durchaus von besonderem Interesse, aber über seinen zeitgeschichtlichen Zusammenhang hinaus weder als politische Philosophie noch in staatstheoretischer Hinsicht von Belang. Dagegen bildet die genannte, allenthalben gegenwärtige und für das Werk plakativ stehende Gleichsetzung des Vernünftigen mit dem Wirklichen sowie des Wirklichen mit dem Vernünftigen einen an sich, nicht zuletzt staatstheoretisch nachhaltig relevanten Problemfall. Denn es könnte damit eingeschlossen sein, dass jeder „tatsächliche“ Zustand von Staat und staatsrechtlicher Ordnung auch immer als „vernünftig“ zu gelten hätte. Dann könnten im Ergebnis doch die seinerzeit in der staatlichen Wirklichkeit innerhalb des Deutschen Bundes als bestimmend hervorgetretene Restaurationspolitik und deren konstitutionell strikt verfochtenes monarchisches Herrschaftsprinzip mit dem philosophischen Prädikat der Vernünftigkeit identifiziert worden sein. So konnte denn auch zu den betreffenden Stellen des Werks bemerkt werden, dass es sich um ein „publizistisches Unglück“ oder um eine „politische Peinlichkeit“ gehandelt habe.67 Aber auch insofern bedarf die ideengeschichtliche Würdigung des Werks letztlich einer notwendigen Distanz zu politischen Assoziationen, und zwar sowohl gegenüber dem angesprochenen, im Werk selbst vorhandenen Bekenntnis zum seinerzeit maßgeblichen Prinzip konstitutioneller Monarchie als auch gegenüber generellen Identifikationen des Werks mit einer unterstellten politischen Philosophie. In verständlicher Weise konnte es damals unter den zeitgeschichtlichen politischen Verhältnissen zu einer Missdeutung des ideengeschichtlich und nachhaltig Wesentlichen in dem Werk kommen und gleiches kann für dessen jeweils aktuelle Interpretationen gelten, dieses habe in der „tatsächlichen“ Wirklichkeit eines Staates das „an und für sich Ver64

Fußn. 56, § 257. A.a.O, § 258. 66 A.a.O, Vorrede, S. 24. 67 Schnädelbach (Fußn. 47), 121 bzw. Siep, Vernunftrecht und Rechtsgeschichte, in: ders., G. W. F Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1997, 9 f. 65

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nünftige“ sehen wollen. Aber demgegenüber kann eine prinzipielle Unterscheidung zu machen sein zwischen dem „Tatsächlichen“ eines politischen bzw. staatsrechtlichen Zustandes und einer im Werk bei genauerer Betrachtung gemeinten „wahrhaften“ Verwirklichung der Vernunft im Staat.68 Für Letzteres spricht die vorstehend dargelegte ideengeschichtliche Anknüpfung und die Genese der staatstheoretischen Annahme vom Staat als einer objektiven und eigenständigen geschichtlichen Wirklichkeit. Denn nachweislich stellt sich das Werk in seinen staatstheoretischen Aussagen als eine Rezeption und Fortbildung der erörterten Anerkennungslehre dar, welche die Vorstellung einer vernünftigen wechselseitigen, intersubjektiven Anerkennung der Einzelnen mit der Annahme einer hierdurch notwendigerweise zugleich vernunftbegründeten geschichtlichen realen Staatlichkeit verbunden hatte. Dementsprechend ist es dann in der geschichtsphilosophischen Fortführung jener Annahmen zu der staatstheoretischen Feststellung gekommen, dass der Staat „als die Wirklichkeit substantiellen Willens, die er in dem zu seiner Allgemeinheit erhobenen besonderen Selbstbewusstsein hat, das an und für sich Vernünftige“ ist.69 Es erscheint somit als der von der kritischen Philosophie ausgegangene, durchgehende ideengeschichtliche Wesenszug in der originären Vernunftbegründung des Staates, dass dieser sich von der individuellen Vernunft, d. h. von der Freiheit des Einzelnen, ausgehend konstituiert, auch wenn er hierbei zu einer objektiven und eigenständigen geschichtlichen Wirklichkeit wird. In der seinerzeitigen epochalen, originären Vernunftbegründung des Verfassungsstaates ist selbstredend die Verwirklichung von Vernunft, d. h. des von der individuellen Freiheit der Einzelnen ausgehenden Allgemeinen, das Prinzip der Staatsbildung und nicht jede Verwirklichung einer staatlichen Ordnung, wie sich eine solche seinerzeit auf der alleinigen Grundlage eines monarchischen Herrschaftsprinzips noch zu behaupten versuchte. Als vernünftig gelten danach nicht alle bestehenden staatlichen Institutionen, sondern nur diejenigen, die aus einer Entwicklung der zur objektiven und eigenständigen Allgemeinheit „aufgehobenen“ Vernunftwillen der Einzelnen hervorgehen. Konservativ ist eine solche Staatslehre lediglich insofern, als sie den in einer kontinuierlichen Entwicklung zur objektiven und eigenständigen Allgemeinheit gelangenden Staat als Verwirklichung der Vernunft beurteilen möchte. Zutreffend war und ist also die Kritik am Werk, weil dieses in der damaligen politischen Restauration des monarchischen Herrschaftsprinzips als alleiniger Grundlage der staatsrechtlichen Ordnung eine kontinuierliche Entwicklung der seinerzeitigen staatlichen Zustände hatte erkennen wollen. Der Fehlgriff liegt in der Verkennung der zwischenzeitlichen Entwicklung der Staatsidee zum Verfassungsstaat. Danach muss das Werk als politische Philosophie in seiner damaligen zeitgeschichtlichen politischen Verstrickung getrennt werden vom Werk in seinem 68

So Brie (Fußn. 52), 16; Windelband (Fußn. 47), 347; Lask (Fußn. 47), 337 f.; Binder, Philosophie des Rechts (1925), Neudr. 1967, 513; Hartmann (Fußn. 46), 309; Ritter, Hegel und die Französische Revolution (1956), in: ders. (Fußn. 46), 238 ff.; Marquard, Philosophisches Jahrbuch 72 (1964), 103 ff.; Horstmann, Grenzen der Vernunft, 1991, 177 ff., 243 f.; ferner schon Bartlsperger (Fußn. 16), 51. 69 Hegel (Fußn. 56), § 258.

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ideengeschichtlich und wirkungsträchtig prinzipiellen staatstheoretischen Aussageund Bedeutungsgehalt. Dieser gilt dem Staat als vom ethischen Selbstbewusstsein und vom Vernunftwillen der sich wechselseitig „anerkennenden“ Einzelnen getragenen, zu einer objektiven und eigenständigen Allgemeinheit sich entwickelnden geschichtlichen Wirklichkeit. Dieses Ergebnis war zuletzt, wie dargelegt, auf der Grundlage und im Rahmen einer Philosophie bzw. Phänomenologie des Geistes entwickelt worden, einer Geschichtsphilosophie zur Verwirklichung des Geistes auf einem Weg von seiner Subjektivität über seine geschichtliche Objektivierung zu einer Sphäre seiner Verabsolutierung.70 Es handelte sich um die Metaphysik eines logischen Idealismus. Sie hat indessen weder der erörterten, ideengeschichtlich unmittelbar vorangegangenen Staatsbegründung aus der Verallgemeinerung wechselseitiger individueller Anerkennung zugrunde gelegen, noch hat sie sich in der nachfolgenden, auf phänomenologischer Grundlage entstandenen sogenannten Neuen Ontologie als fortführungsbedürftig oder auch nur rezeptionsfähig für die Annahme von kategorial seinsmäßigen Gebilden objektiven Geistes erwiesen.71 Die mit der kritischen Philosophie begonnene, epochale originäre Vernunftbegründung des Verfassungsstaates kann auch ohne jenes Element eines logischen Idealismus als überzeugende und brauchbare Grundlegung einer Staatstheorie vom Staat als objektiver und eigenständiger geschichtlicher Wirklichkeit gelten.72 Das kategorial seinsmäßige Gebilde objektiven Geistes als Seinsweise von Gemeinschaft, Rechtsordnung und Staat hat im weiteren ideengeschichtlichen Verlauf der betreffenden Philosophie, nämlich in der auf phänomenologischer Grundlage entwickelten sogenannten Neuen Ontologie, eine nachidealistische Karriere gemacht.73 4. Man kann danach zur Ausgangs- und Entwicklungsepoche einer Staatslehre vom Verfassungsstaat in Deutschland festhalten, dass der Verfassungsstaat unter den seinerzeitigen epochalen, kulturgeschichtlich maßgeblichen Umständen zum Gegenstand praktischer Philosophie in der sogenannten Kritik und im Deutschen Idealismus geworden war, dabei eine originäre Vernunftbegründung erfahren hat 70

Nachw. zum Begriff des objektiven Geistes Fußn. 47. Zur sogenannten Neuen Ontologie Hartmann, Neue Wege der Ontologie, 2. Aufl. (o. J.), ders., Zur Grundlegung der Ontologie, 3. Aufl. 1948; dabei zu den kategorial seinsmäßigen Gebilden objektiven Geistes ders., Der Aufbau der realen Welt, 2. Aufl. 1949, 21, 27, 195 ff.; ders., Das Problem des geistigen Seins, 3. Aufl. 1962, 177 ff.; ders., Ethik, 4. Aufl. 1962, 243 ff.; speziell zum nachidealistischen Charakter der neuen Ontologie ders. (Fußn. 46), 14, 19 ff. 72 Zur nachwirkenden Bedeutung der Hegelschen Staatslehre Marquard, Philosophisches Jahrbuch 72 (1964), 103/109 ff.; Ottmann (Fußn. 52), 1 f., 224 ff., 261 ff., 299 ff.; Siep (Fußn. 67), 5/13, Fulda, G.W.F. Hegel, 2003, 226 ff. 73 Speziell zu Recht und Staat als geschichtlich realen, eigenständigen geistigen Objektivationen Hartmann, Der Aufbau der realen Welt; dazu schon Bartlsperger (Fußn. 16), 54 ff.; ferner insofern zur gebotenen ideengeschichtlichen Fortbildung der Hegelschen Rechts- und Staatslehre Dulckeit, Rechtsbegriff und Rechtsgestalt – Untersuchungen zu Hegels Philosophie des Rechts und ihrer Gegenwartsbedeutung, 1936, 13 f. 71

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und mit einem Staatsbegriff verbunden, d. h. als „Staat“, nicht nur als Verfassungsordnung, begriffen worden war. Im Verlaufe der Hinwendung praktischer Philosophie zu einer Staatstheorie des Verfassungsstaates in dessen „äußerer“ Wirklichkeit musste schließlich eine Staatslehre entstehen, die den Staat in der kategorialen Seinsweise eines Gebildes objektiven Geistes erkannt hat. Diese Staatslehre des vernunftbegründenden Verfassungsstaates hat ihren Weg genommen von einer zunächst in der kritischen Philosophie lediglich explizierten Idee a priori vom Staat zu einer im empirischen Bewusstsein vorhandenen, von intersubjektiver individueller Anerkennung zur Allgemeinheit „aufgehobenen“ Staatswirklichkeit und schließlich zu einer objektivierten und eigenständigen geistigen Realität des Staates. Daher ist der Verfassungsstaat in Deutschland von Anfang an mit Fragen eines Staatsbegriffs und eines dementsprechenden staatsrechtlichen Methode verbunden und er ist es traditionell geblieben. Für die Staatsrechtslehre sind diese Fragen grundlegend wie keine anderen geworden. Sie haben dementsprechende, geradezu epochenbildende Kontroversen ausgelöst. Sogleich um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts hat ein abrupter Bruch mit der philosophischen Entwicklung im allgemeinen sowie mit der durch die dargelegte philosophische Grundlegung des Verfassungsstaates wesentlich mitgeprägten frühkonstitutionellen Epoche von Staatstheorie und Staatsrechtslehre stattgefunden.74 Zwar ist der Staatsbegriff sogar noch stärker ins Blickfeld getreten durch die zwischenzeitliche rechtswissenschaftliche „Entdeckung“ des Staates als Rechtspersönlichkeit.75Aber das geschichtliche Werden der Idee des Verfassungsstaates hat nicht nur in politischer Hinsicht nach dem Scheitern der Frankfurter Nationalversammlung, sondern auch durch spezifische Entwicklungen in der Staatsrechtslehre eine grundlegende Unterbrechung erfahren. Es waren philosophisch begründete, methodische „Verwicklungen“ von gänzlich eigengearteter theoretischer Herkunft bzw. Begründung, in welche Staatstheorie und Staatsrechtslehre verstrickt wurden.76

74 Zum Bruch in der philosophischen Entwicklung Schmitt, ZgStW 100 (1940), 5/16 ff.; Riedel (Fußn. 48), 100 ff.; Lübbe, Poltische Philosophie in Deutschland, 1963, 77, 85 f.; Faber, Hist. Zschr. 2003 (1966), 1/8, 17 f., 39; Krüger (Fußn. 16), 49/58 f.; Stolleis (Fußn. 1), 323 (methodischer Umbruch), 424 f.; in dem Zusammenhang zum Aufkommen der sozialen Frage Lübbe, a.a.O., 73 f.; Jouanjan, Savigny Zschr. f. Rechtsgeschichte, Germ. Abt. 125 (2008), 367 ff. „Der Rhythmus des Rechtsdenkens folgte grundsätzlich dem der Philosophie“ (Jouanjan, a.a.O., 269). 75 Albrecht, Rezension über Maurenbrechers Grundzüge des heutigen deutschen Staatsrechts, Göttinger Gelehrte Anzeigen 1837, 1489 ff. und 1508 ff. (Neudr. 1962); dazu Häfelin (Fußn. 48), 84 ff.; Wyduckel, Jus Publicum, 1984, 289 ff.; zum hierbei zugrundeliegenden organischen Staatsverständnis Stolleis, a.a.O., 91; zu einer Rezeption der Hegelschen Staatslehre hierbei Heller (Fußn. 23), 166 f. 76 So Jouanjan (Fußn. 74), 367 ff. hinsichtlich des staatsrechtlichen Positivismus.

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III. Verfassungsstaat „juristisch“ – Die Staatsrechtslehre in methodischen „Verwicklungen“ 1. Man kann sich Situation und Zustand der Staatsrechtslehre in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, namentlich am politisch markierten Ende jener frühkonstitutionellen Epoche, vor Augen führen. Frühkonstitutionell kann diese Epoche, wie schon eingangs gesagt, deshalb bezeichnet werden, weil ihr die ersten staatsrechtlichen Ansätze einer konstitutionellen Ordnung auf der Ebene des Deutschen Bundes und in einigen Bundes-Gliedern angehören sowie kasuelle oder dauerhaft sich entwickelnde konstitutionelle bzw. verfassungsstaatliche politische Bewegungen ein wesentliches Gepräge geben. In der Staatsrechtslehre waren angesichts grundlegender Gegensätze im politischen Verständnis und in der Rechtskonstruktion des konstitutionellen Staates nur bedingt übereinstimmende theoretische und dogmatische Ansätze erkennbar.77 Zum Teil hatten die konstitutionellen Auffassungen ihre Herkunft noch in vernunftnaturrechtlichen Staatstheorien,78 zum Teil entsprangen sie lediglich dem Bemühen um eine Systematisierung des partikularen, unter dem Deutschen Bund bestehenden Staatsrechts der Bundes-Glieder. Zu einem wesentlichen Teil aber erscheint die frühkonstitutionelle Staatsrechtslehre jedenfalls in einer, wenngleich wenig offengelegten und nachweisbaren Weise, von der vorstehend erörterten Vernunftbegründung des Verfassungsstaates und seiner staatsrechtlichen Ordnung durch die praktische Philosophie der Epoche geprägt.79 Das hat ihr unter anderem den zeitgenössischen Vorwurf einer „Philosophie“ oder einer Staatsrechtslehre „politischer Professoren“ eingetragen.80 In einer gebräuchlichen Zusammenfassung kann man die Kennzeichnung als „allgemeines deutsches Staatsrecht“ verwenden.81 Eine darin regelmäßig anzutreffende Gemeinsamkeit kann man in jener Epoche der Staatsrechtslehre jedenfalls erkennen und festhalten. Denn staatstheoretisch war sie jeweils von einer organischen Staatsauffassung getragen und be77 Darstellung bei Stolleis (Fußn. 1), 81 ff., 96 ff., 121 ff., 322 ff.; Robbers, Der Staat, Beih. 11, 1996, 103 ff.; zu den politischen Bewegungen Würtenberger, Der Staat 37 (1998), 165 ff. 78 Schmitt, ZgStW 100 (1940), 5/10 ff.; Stolleis, a.a.O., 98; Robbers, a.a.O., 103/105 f. 79 Zu deren grundlegendem Einfluss auf das organische Denken der Zeit Heller (Fußn. 23), 91 ff.; Lübbe (Fußn. 74), 69 ff., 94 f.; Jouanjan (Fußn. 74), 373 ff.; Entsprechendes gilt für die politische Theorie in der Nachfolge Hegels (Lübbe, a.a.O., 27 ff.). 80 Stolleis, a.a.O., 119 f., 266 f.; es wird auch von dem „Vorspiel im philosophischen Himmel“ gesprochen (v. Gerber, Fußn. 61, Grundzüge des Systems des Deutschen Staatsrechts, 238). 81 H. Schulze, Ueber Prinzip, Methode und System des deutschen Staatsrechts, Aegidis Zschr. f. Deutsches Staatsrecht und Deutsche Verfassungsgeschichte 1 (1867), 451; Schmitt, ZgStW 100 (1940), 5/8; Stolleis, a.a.O., 96 ff., 322 ff. Zur Staatsrechtslehre in der ersten Hälfe des 19. Jahrhunderts v. Mohl, Das positive deutsche Staatsrecht seit der Gründung des Bundes, in: ders., Die Geschichte und Literatur der Staatsrechtswissenschaften, Zweiter Band, 1856, 235 ff.; v. Gierke, ZgStW 30 (1874), 153 (166 ff.); Zorn, JöR 1 (1907), 49; SchmidtAßmann, Der Verfassungsbegriff in der deutschen Staatsrechtslehre der Aufklärung und des Historismus, 1967, 196; Häfelin (Fußn. 48), 69 ff.; Friedrich, Geschichte der deutschen Staatsrechtswissenschaft, 1997, 210 ff.

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stimmt.82 Deshalb rechtfertigt es sich, von einer frühkonstitutionellen Organismustheorie in der Staatsrechtslehre der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhundert zu sprechen, im Unterschied zu der späteren und weitaus bekannteren, spezifisch gegen den staatsrechtlichen Positivismus der spätkonstitutionellen Epoche gerichteten Organismustheorie. Die frühkonstitutionelle organische Staatstheorie repräsentiert im fachspezifischen Bereich der Staatsrechtslehre jedenfalls die vorstehend erörterte, zeitgleiche Entwicklung in der praktischen Philosophie zu einer Staatslehre des vernunftbegründeten Verfassungsstaates als eines kategorial seinsmäßigen objektiven und eigenständigen Gebildes objektiven Geistes. Zudem bemerkenswert ist daran, dass jene frühkonstitutionelle organische Staatsauffassung und damit auch jene von ihr repräsentierte, in der praktischen Philosophie entstandene Vernunftbegründung des Verfassungsstaates als geschichtlicher Realität keineswegs im Zuge des von der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts an einsetzenden fundamentalen methodischen Umbruchs in der Staatsrechtslehre untergegangen ist. Sie ist lediglich für die Staatsrechtslehre als „juristisch“ unerheblich beurteilt worden. Dies gilt zunächst für die ab der Mitte des Jahrhunderts hervorgetretene und für die nachfolgende spätkonstitutionelle Epoche maßgeblich gewordene Staatsrechtslehre des staatsrechtlichen Positivismus.83 2. Aus der Sicht von politischer Geschichte und von Staatsrechtslehre haben Entstehung und Entwicklung von Spätkonstitutionalismus und staatsrechtlichem Positivismus ebenfalls schon vor den mit ihnen dann epochal identifizierten Bundesgründungen und Verfassungsgebungen zum Norddeutschen Bund von 1867 und zum Deutschen Reich von 1870/71 gelegen.84 Gemeinhin können mehrere Gründe für jenen Epochenwandel ab der Mitte des Jahrhunderts in Anspruch genommen werden. In politischer Hinsicht war es offenbar die mit dem Scheitern der Frankfurter Nationalversammlung von 1848/49 verbundene Veränderung im Verständnis der konstitutionellen Monarchie. Hatte auf der Grundlage und im Rahmen der erörterten organischen Staatstheorien der frühkonstitutionellen Epoche noch die Möglichkeit bestanden, eine Staatslehre vom Staat als einer angenommenen objektiven und eigenständigen geschichtlichen Realität einerseits und das monarchische Prinzip anderer82 Selbst bei der Begründung des staatsrechtlichen Positivismus war in staatstheoretischer Hinsicht von der Vorstellung eines Organismus ausgegangen worden: v. Gerber (Fußn. 61), Ueber öffentliche Rechte. 15 ff., ders. (Fußn. 61), Grundzüge des Systems des Deutschen Staatsrechts, 1 ff., 21 ff.; ders., Ueber deutsches Recht und deutsche Rechtswissenschaft überhaupt (1851, 1855, 1865), in: ders., Gesammelte Juristische Abhandlungen, 1878, 1 ff.; ders., Theilbarkeit deutscher Staatsgewalt (1865), in: ders., a.a.O., 441 ff.; ferner bei Kremer, Die Willensmacht des Staates. Die gemeindeutsche Staatsrechtslehre des Carl Friedrich von Gerbers, 2008, 160 ff.; vor allem im Zusammenhang mit der Staatslehre Hegels auch Heller (Fußn. 23), 91 ff. sowie Stolleis (Fußn. 1), 176 ff.; Friedrich, a.a.O., 222 ff. 83 Stolleis, a.a.O., 330 ff., 348 ff.; mit zahlreichen Nachw. Bartlsperger (Fußn. 16), 33 f. m. Fußn. 47 – 50; speziell zum wissenschaftlichen Positivismus der Staatsrechtslehre v. Gerbers bei Bartlsperger (Fußn. 17), 22 ff.; Jouanjan (Fußn. 74), 386 ff.; Kremer (Fußn. 82), 160 ff.; zum Gesetzespositivismus Labands Stolleis, a.a.O., 341 ff. 84 Fußn. 61 und 82.

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seits auf irgendeine Weise in einen staatsrechtlichen Einklang zu bringen oder deren Verhältnis zumindest offenzulassen, so ist die als Spätkonstitutionalismus bezeichnete Staatstheorie durch eine Grundlegung des staatsrechtlichen Systems allein in einem strikten Prinzip monarchischer Herrschaft gekennzeichnet.85 Elemente einer organischen Staatstheorie und Gesichtspunkte einer originären Vernunftbegründung des Staates in dem vorstehend erörterten Sinne einer objektiven und eigenständigen geschichtlichen Realität des Staates erscheinen hierdurch rechtskonstruktiv ausgeschlossen.86 Konform hiermit wird ferner für die Ablösung jener die frühkonstitutionelle Epoche kennzeichnenden verfassungsstaatlichen Staatslehren angeführt, dass die Zeit nicht mehr „philosophisch“ gewesen, vielmehr aufgrund einer neuen naturalistischen Weltsicht „naturwissenschaftlich“ und von einer entsprechenden naturalistischen Wissenschaftslehre bestimmt worden sei.87 Es handelt sich um den kulturgeschichtlich nachweislichen Umstand, dass die philosophische Tradition der Klassik und des Deutschen Idealismus zunächst einmal zu Ende gegangen war, nicht zuletzt was auch deren Einfluss und Bedeutung im staatsrechtlichen Denken betrifft. Aus der damaligen Sicht bedeutete dies das wissenschaftstheoretische Ende der Geisteswissenschaften und einer Philosophie geistiger Objektivation. Damit scheinen im Prinzip die an einem realen Staatsbegriff, d. h. an einer objektiven und eigenständigen geschichtlichen Wirklichkeit des Staates als eines seinsmäßigen Gebildes des objektiven Geistes orientierten Staatslehren, alle Annahmen von der originären Vernunftbegründung eines realen Verfassungsstaates und alle frühkonstitutionellen organischen Staatstheorien einer wissenschaftstheoretisch haltbaren Begründung verlustig gegangen zu sein. Das wissenschaftstheoretische Verdikt gegen alle staatstheoretischen Vorstellungen von einer originären Vernunftbegründung des Staates als objektiver und eigenständiger, geschichtlich realer geistiger Objektivation und die politisch strikte Behauptung des monarchischen Herrschaftsprinzips zur Identifikation von Staatsexistenz und Rechtspersönlichkeit des Staates konnten so, auch ohne einen ursprünglichen gemeinsamen Sinnbezug, eine historische Koinzidenz bilden. Es waren jedoch letztlich nicht oder jedenfalls nicht maßgeblich allgemeine wissenschaftstheoretische Gesichtspunkte und Motivationen ideengeschichtlich bestimmend für die seinerzeitige Begründung des staatsrechtlichen Positivismus bzw. seines methodischen Formalismus. Entscheidend war vielmehr bekanntermaßen die nachweisliche Erstreckung bzw. Rezeption der methodisch zur Begriffsjurisprudenz

85 Zur nachhaltigen Begründung bei v. Gerber siehe Bartlsperger (Fußn. 17), 28 f.; ferner Jouanjan (Fußn. 74), 388 f. 86 Stolleis (Fußn. 1), 368 ff.; Bartlsperger, a.a.O., 25 f. 87 Dazu die Nachw. bei Bartlsperger, a.a.O., 33 f. Fußn. 46 f., insb. Tripp, Der Einfluss des naturwissenschaftlichen, philosophischen und historischen Positivismus auf die deutsche Rechtslehre im 19. Jahrhundert, 1983; kongenial mit v. Gerber insofern v. Ihering, Unsere Aufgabe, Jbch. 1 (1857), 1 ff.; ferner dazu Losano, Der Briefwechsel zwischen Ihering und Gerber, 1984.

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gewordenen Historischen Rechtsschule in die Staatsrechtslehre.88 Es handelte sich also um eine spezifisch rechtswissenschaftliche Genese, mag diese auch unter kulturgeschichtlichen Gesichtspunkten in den größeren Zusammenhang des erwähnten wissenschaftstheoretischen Wandels gestellt werden können. Jedenfalls unterscheidet sich der spezifische rechtswissenschaftliche Formalismus der Historischen Rechtsschule in einem wesentlichen, gerade im vorliegenden staatstheoretischen Zusammenhang relevanten Punkt von jener damaligen, allgemeinen wissenschaftstheoretischen Position. Die Historische Rechtsschule verschloss sich in ihrem rechtswissenschaftlichen Formalismus gemäß dem dabei maßgeblichen erkenntnistheoretischen Programm keineswegs der geschichtlichen Wirklichkeit als Erfahrungs- und Ursprungsobjekt ihrer konstruktiven „juristischen“ Begriffsbildung. Im Gegenteil war ihr der „Volksgeist“ Entstehungsgrund des Rechts. Er wurde durch die aus „Geist“ und „System“ desselben gewonnenen Rechtsbegriffe nicht als Erfahrungsobjekt verdrängt, sondern gerade vorausgesetzt. Nur sollte er für die „juristische“ Begriffsbildung keine methodische Bedeutung beanspruchen können. Dieser erkenntnistheoretische Standpunkt der Historischen Rechtsschule hatte dann folgerichtigerweise auch bei der methodischen Rezeption ihres begriffsjuristischen Formalismus in der Staatsrechtslehre des juristischen Positivismus Bestand. Auch wenn sich die Historische Rechtsschule bis dahin nicht auch mit Staatstheorie und Staatsrechtslehre befasst hatte, musste sie konsequenterweise bei ihrer Erstreckung auf diese rechtswissenschaftlichen Bereiche ihre dargelegte erkenntnistheoretische Position beibehalten. Darum war es für die betreffende Begründungsliteratur zum staatsrechtlichen Positivismus89 auf der einen Seite eine Selbstverständlichkeit, der, wie dargelegt, in der frühkonstitutionellen Staatsrechtslehre eines „allgemeinen deutschen Staatsrechts“ bestimmenden staatstheoretischen Vorstellung eines staatlichen Organismus zu folgen. Sie hatte Besonderheit und Unterscheidung der innerhalb einer staatsrechtlichen Ordnung bestehenden Rechtsbeziehungen, nämlich der betreffenden „öffentlichen Rechte“, gerade darin gesehen, dass diese von Gliedern eines staatlichen Organismus wahrgenommen werden und „durch eine objektive aus der Natur des Staatsverbandes hervorgehende Rechtsregel (den allgemeinen Willen) bestimmt“ sind.90 Auf der anderen Seite sollte aber die insofern nachweislich angenommene Tatsache eines staatlichen Organismus, d. h. die Existenz des Staates als einer geistig und rechtlich verbundenen realen Einheit und wirklichen Ganzheit keinerlei „juristische“ Bedeutung bei der Begriffsbildung der Staatsrechtslehre und für den „Rechtsbegriff“ des Staates beanspruchen können, sollte also für die Staatsrechtlehre methodisch bedeutungslos sein. Es stellt also keinen unentwirrbaren Widerspruch dar, wenn im staatsrechtlichen Positivismus, jedenfalls in dessen authentischer ideengeschichtlicher Begründung, ein methodischer Formalismus der Staatsrechtslehre und eine staatstheoretische Or88

In dem Werk v. Gerbers (Fußn. 82); dazu Bartlsperger, a.a.O., 32 ff. v. Gerber(Fußn. 82). 90 v. Gerber (Fußn. 61), Ueber öffentliche Rechte, 40 f.

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ganismustheorie nebeneinanderstehen. Einen gewissen Widerspruch mag es lediglich bedeuten, dass staatstheoretische Organismustheorie und striktes monarchisches Herrschaftsprinzip, letzteres als rechtskonstruktive Grundlegung der staatsrechtlichen Ordnung, gleichzeitig vertreten werden; aber auch dies findet eine widerspruchsfreie Auflösung, wenn man gemäß dem Gesagten, zugegebenermaßen mit einem nur schwer zu ertragenden methodischen Trick, zu unterscheiden gezwungen wird zwischen der organischen Staatsrealität und der „juristischen“ Grundlegung der staatsrechtlichen Ordnung im monarchischen Herrschaftsprinzip. Die nicht leicht und nicht ohne beträchtlichen Darstellungsaufwand mögliche staatstheoretische und methodische Entschlüsselung der Staatsrechtslehre des staatsrechtlichen Positivismus ist im vorliegenden Zusammenhang der ideengeschichtlichen Entwicklung einer Staatslehre des Verfassungsstaates unentbehrlich, aber auch entsprechend aufschlussreich. Denn es ist ersichtlich, dass in jener maßgeblich durch eben den staatsrechtlichen Positivismus geprägten Epoche der Staatsrechtslehre diese lediglich in eine methodische „Verwicklung“ verstrickt war, verstrickt in eine „Verwicklung“ mit der Begriffsjurisprudenz der Historischen Rechtsschule. Sie steht als solche hier nicht weiter zur Erörterung. Festzuhalten ist vielmehr ein in der Ideengeschichte einer verfassungsstaatlichen Staatstheorie deutlich hervorgetretener Umstand, nämlich dass selbst unter der epochal beherrschenden Stellung des staatsrechtlichen Positivismus und seines methodischen Formalismus in der Staatsrechtslehre keineswegs die staatstheoretische Traditionslinie untergegangen ist, die von der originären Vernunftbegründung des Verfassungsstaates in der praktischen Philosophie der philosophischen Kritik und des Deutschen Idealismus begründet und von den Organismustheorien der frühkonstitutionellen Staatsrechtslehre repräsentiert worden ist. Es war also nach wie vor staatstheoretisch anerkannt, dass der Verfassungsstaat als geschichtliche Realität in der Seinsweise eines Gebildes objektiven Geistes wissenschaftlich erfassbar ist und, wie die damals erstmalige staatsrechtliche Begriffsbestimmung der „öffentlichen Rechte“, der heutigen subjektiven öffentlichen Rechte, aus deren gliedschaftlicher Stellung im staatlichen Organismus zeigt, sogar Bedeutung für die Bildung staatsrechtlicher Begriffe beanspruchen kann. Zum grundsätzlichen Problem geworden war lediglich das ursprünglich offenbar weder in der Staatslehre der praktischen Philosophie noch in der frühkonstitutionellen organischen Staatsrechtslehre in Frage gestellte Band zwischen einer realen Staatsvorstellung der Staatsrechtslehre und deren Methode. Anders und kürzer formuliert, hatte der staatsrechtliche Positivismus die Einheit von Staatsbegriff und Methode in der Staatsrechtlehre aufgekündigt. Die ideengeschichtliche Genese der Trennung von Staatsbegriff und Methode der Staatsrechtslehre lässt sich im Falle des staatsrechtlichen Positivismus eindeutig nachweisen und klar identifizieren. Es war die ausdrückliche Herkunft und nachweisliche Begründung jenes staatsrechtlichen Formalismus aus der zur Begriffsjurisprudenz fortgeschrittenen Historischen Rechtsschule, die glaubte, die Positivität des Rechts in geschichtlicher Tradition und Kontinuität sehen zu können, aber die rechtswissenschaftliche Erkenntnis auf das förmliche Begriffssystem des geschichtlich po-

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sitivierten Rechts beschränken zu müssen. Dies stand in einem diametralen Gegensatz zur ideengeschichtlichen Herkunft und Begründung einer Staatsrechtslehre des Verfassungsstaates, nämlich, wie schon angeführt, zur originären Vernunftbegründung des Verfassungsstaates in der praktischen Philosophie der philosophischen Kritik und des Deutschen Idealismus. Denn danach sind Recht und Staat das Produkt der in ihnen verwirklichten Freiheit und Vernunft und das positive Recht wird vom Staat als konkreter geschichtlicher Wirklichkeit von Freiheit und Vernunft vermittelt. Das Recht ist also objektive und eigenständige geschichtliche Wirklichkeit aus praktischer Vernunft, nicht aus einer Vernunft kraft Tradition und Kontinuität, sondern aus einer Vernunft kraft staatlicher Entscheidung, kraft einer Einheit von Vernunft und Entscheidung. Nur an dieser in staatlicher Rechtssetzung bestehenden Einheit von Vernunft und Entscheidung kann sich die Methode der Staatsrechtslehre orientieren. Im Grunde geht es bei den hierzu bestehenden gegensätzlichen Auffassungen um die in der philosophischen Kritik prinzipiell gestellte und beantwortete Frage praktischer Philosophie nach dem Verhältnis von Vernunft und Wille, speziell in der Rechts- und Staatslehre. In der begriffsjuristisch fortgeschrittenen Historischen Rechtsschule und mit dem staatsrechtlichen Positivismus ist die in der praktischen Philosophie der philosophischen Kritik und des Deutschen Idealismus zum Ausgangspunkt genommene Zusammengehörigkeit von Vernunft und Wille zerrissen, ist also der rechtssetzende Wille von dessen praktischer Vernunftbindung getrennt worden; der rechtsetzende Wille ist dadurch nur noch Wille und an die Stelle praktischer Vernunft ist eine begriffliche Vernunft gestellt worden. Diese rechts- und staatstheoretische „Verwicklung“ der Staatsrechtslehre in einen Bruch mit den Grundannahmen praktischer Philosophie hat dann noch eine Fortsetzung und einen eigentlichen Höhepunkt erlebt in der normlogischen Rechts- und Staatstheorie der sogenannten Reinen Rechtlehre.91 In dieser wird dann am konsequentesten der ideengeschichtliche Bruch vor Augen geführt, den die Staatsrechtslehre durch eine methodische „Verwicklung“ in eine von praktischer Vernunft, d. h. von vernunftgebundenen Verfahren und Entscheidungen getrennte Willenstheorie vollzieht und damit die originäre Vernunftbegründung des Verfassungsstaates in der praktischen Philosophie verlässt.

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Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre (1911), 2. Aufl. 1923, Neudr. 1960; ders., Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, 1922; ders., Allgemeine Staatslehre, 1925; ders., Der Staat als Integration, 1930; ders., Reine Rechtslehre. Einleitung in die rechtswissenschaftliche Problematik (1934), hgg. und eingeleitet von Jestaedt, 2008. Weitere Nachw. zum Werk bei Jestaedt (Hg.), Hans Kelsen im Selbstzeugnis, 2006, 97 ff. Zur normlogischen Rechts- und Staatstheorie mit zahlreichen Nachw. schon Bartlsperger, Integration oder Dissens und Konflikt als Sinnprinzip von Staat und Verfassung, in: Manssen u. a. (Hg.), Nach geltendem Verfassungsrecht, FS Steiner, 2009, 30/34; ders. (Fußn. 16), 41 ff.; ferner Möllers, Der Staat als Argument (Fußn. 50), 36 ff. und Paulsen/Stolleis (Hg.), Hans Kelsen. Staatsrechtslehrer und Rechtstheoretiker des 20. Jahrhunderts, 2005.

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3. Wie der staatsrechtliche Positivismus bezieht auch die normlogische Rechtsund Staatstheorie eine politische Position im Verständnis des Verfassungsstaates.92 Mit dem methodischen Formalismus des staatsrechtlichen Positivismus war die von der praktischen Philosophie geleistete originäre Vernunftbegründung des Verfassungsstaates ersetzt sowie im Wege einer Uminterpretation der frühkonstitutionellen organischen Staatstheorie und Staatsrechtlehre eine monarchische Herrschaftstheorie des spätkonstitutionellen Staates, eines monarchischen „Machtstaates“, begründet worden. Die normlogische Rechts- und Staatstheorie bezieht in ihrer staatsrechtlichen Gleichsetzung des Staates mit einer Rechtsordnung in einem normlogischen, formalistischen Sinn sowie mit ihrer folgerichtigen Rechtstheorie einer stufenmäßig sukzessiven voluntaristischen Rechtserzeugung in erklärter und emphatisch vertretener Weise die Position eines demokratischen Dezisionismus. Diese verfassungspolitische Motivation ist es ersichtlich, der die normlogische Rechts- und Staatstheorie eine aktuelle Belebung verdankt und eine dabei forcierte Aufmerksamkeit in der gegenwärtigen Staatsrechtslehre; es wird von einer „Wiederentdeckung“ gesprochen.93 Der politische Anspruch richtet sich gegen eine Vermittlung verfassungsstaatlicher Freiheit durch Recht und Staat als geschichtliche Institutionen, gegen eine rechtliche Institutionalisierung von Freiheit und ihrer geschichtlichen Erscheinungsform und gegen die Einsicht in die unaufhebbare Spannung zwischen individuellem Freiheitsgebot und staatlich konstituierter Allgemeinheit. Der Angriff gilt einem Verfassungsstaat mit einem materiellen Verfassungsverständnis und mit einer materiellen Verfassungsbindung auch der demokratischen Institutionen und Verfahren. Die materielle Verfassungsbindung wird danach als mögliche Freiheitsbedrohung beurteilt, als antiliberal, antiparlamentarisch und demokratiefeindlich. Verweigert wird die Einsicht in die Grundannahme praktischer Vernunft, dass Freiheit vernunftgebunden ist und deshalb in ihrer staatsrechtlichen Verwirklichung immer nur in der begrenzten Weise verbürgt werden kann, wie dies die praktische Philosophie in ihrer vorstehend erörterten sogenannten Anerkennungslehre von intersubjektiver Freiheitsbeschränkung sowie deren „Aufhebung“ und Institutionalisierung in der Allgemeinheit von Recht und Staat darzulegen vermochte. Es handelt sich also um eine entschiedene Entgegensetzung gegen die in der praktischen Philosophie entwickelte Vernunftbegründung des Verfassungsstaates als geschichtlicher Realität und seinsmäßig eigenständiger geistiger Objektivierung. Letztlich und im Grunde geht es also um eine 92

Dazu die Nachw. bei Bartlsperger, Integration oder Dissens und Konflikt als Sinnprinzip von Staat und Verfassung, a.a.O., 41 Fußn. 11, ders. (Fußn. 16), 41 f; ferner bei Somek (Fußn. 15), 44 f., 515 ff., 547 ff., 566 f. 93 Lepsius, Die Wiederentdeckung Weimars durch die bundesdeutsche Staatsrechtslehre, in: Gusy (Hg.), Weimars langer Schatten, 2003, 354/354 ff., 369 ff.; dabei wird der normlogischen Rechts- und Staatstheorie ein erwachendes Interesse und eine voraussichtliche Rezeption bestätigt (a.a.O., 371 f., 394). Nach Bärsch (Fußn. 16, 88 ff.) ist Kelsen nicht widerlegt. Zur Rehabilitierung Kelsens vor allem Dreier, Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, 1986. Anders und kritisch zu Erfolg und Bedeutung der normlogischen Rechts- und Staatstheorie Möllers, Der Staat als Argument (Fußn. 50), 55 ff., 427 f.

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Auseinandersetzung mit dem kulturgeschichtlichen Erbe der in der kritischen Philosophie zugrunde gelegten praktischen Vernunft und ihrer Entwicklung im Deutschen Idealismus zu einer vernunftgebundenen Rechts- und Staatslehre. Die normlogische Rechts- und Staatslehre führt hiergegen die im frühen Neukantianismus entstandene Auffassung94 ins Feld, dass praktische Vernunft prinzipiell unmöglich sei, weil Vernunft nur eine Erkenntnisfunktion besitze, Normsetzung und Normerkenntnis dagegen nichts mit einer Erkenntnisfunktion zu tun haben könnten, vielmehr sich allein aus einer formalen Willensentscheidung erklärten.95 Allein wegen dieser Ablehnung praktischer Vernunft erscheint es überhaupt sinnvoll, jene allenthalben erschöpfte Beschäftigung mit der Reinen Rechtslehre und ihrer Staatslehre auch im vorliegenden Zusammenhang aufzunehmen und sich nicht nur auf eine gebotene Erwähnung zu beschränken.96 Sinnvoll kann dies nur sein, um den nicht wegzudenkenden ideengeschichtlichen Zusammenhang klarzustellen und vor Augen zu führen, der zwischen einer Staatslehre des Verfassungsstaates und praktischer Philosophie im Verständnis der kritischen Philosophie und des Deutschen Idealismus besteht. Die betreffende Verneinung der mit dem Begriff praktischer Philosophie zum Ausdruck gebrachten Vernunftgenese und Vernunftbindung von Freiheit, Wille und Entscheidung folgt einem bestimmten Verständnis des in dem Zusammenhang reichlich strapazierten Theorems einer Trennung von Sein und Sollen.97 Logisch und im Sinne theoretischer Vernunft ist dies unbestreitbar und unbestritten. Aus einem Sein als solchem kann im erkenntnistheoretischen Sinne der theoretischen Vernunft niemals ein Sollen unmittelbar abgeleitet werden. Wenn man Vernunft auf die theoretische Erkenntnisfunktion beschränkt, kann sie im praktischen Bereich, in Normsetzung und Normerkenntnis, keine Begründungs- und Erkenntnisfunktion beanspruchen. Eben hiervon und allein hiervon gehen der betreffende Neukantianismus und die ihm folgende normlogische Rechts- und Staatstheorie aus. Zutreffend folgen sie insofern einer Unterscheidung der Rechtswissenschaft von der Naturwissenschaft sowie einer gebotenen Abschirmung des Rechts- und Staatsverständnisses gegenüber ideologisch-metaphysischen Einflüssen. Dabei handelt es sich um nicht zu be94 Cohen, Ethik des reinen Willens, 1904; ders., Logik des reinen Erkennens, 2. Aufl. 1914; dazu Lübbe (Fußn. 74), 102 ff., 113 ff.; ferner C. Müller, Die Rechtsphilosophie des Marburger Neukantianismus, 1994. 95 Darstellung und Kritik bei Luf, Überlegungen zum Verhältnis von Entscheidung und Rechtfertigung im Recht (1983), in: ders. (Fußn. 14), 37/38 ff., 42 ff. (m.Nachw. zu Kelsen), 52 ff., bei dems., Überlegungen zum transzendentallogischen Stellenwert der Grundkonzeption Kelsens (1984), in: ders., a.a.O., 57/62 ff. m. Nachw.; ferner dazu Dreier, Sein und Sollen. Bemerkungen zur Reinen Rechtslehre Kelsens (1972), in: ders., Recht-Moral-Ideologie, 1981, 217 ff.; Kritik an jener philosophischen Grundkonzeption Kelsens vom Standpunkt einer soziologischen Staatslehre aus bei Heller, Die Krisis der Staatsrechtslehre (1926), in: ders., Gesammelte Schriften II, 1971, 3/15 ff. 96 Möllers (Fußn. 50, 44) glaubt insofern feststellen zu dürfen, „dass im deutschen Staatsrecht niemand außerhalb der eigenen Schule Kelsens Staatsbegriff gefolgt ist“. 97 Dazu Winkler, Rechtstheorie 1979, 257 ff.; Zippelius, Rechtsphilosophie, 6. Aufl. 2011, § 3.

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streitende Annahmen. Aber die normlogische Rechts- und Staatstheorie will den weitergehenden und gänzlich anderen Standpunkt vertreten, dass Normsetzung ausschließlich als ein Willensakt, d. h. als eine vernunftfreie Entscheidung, gesehen werden müsse.98 In den authentischen Vorstellungen der kritischen Philosophie von praktischer Vernunft findet dies keine Stütze. Wenn es um eine richtigstellende Interpretation derselben gehen sollte, läge darin eine Unterstellung, ein gewolltes und vorweggenommenes Ergebnis von deren authentischer Interpretation. Es ist gerade der authentische und entschiedene Aussage- und Bedeutungsgehalt der „Kritik praktischer Vernunft“ zu der in ihr entwickelten sowie im Deutschen Idealismus aufgenommenen und dort mit einem Wirklichkeitsbewusstsein verbundenen „praktischen Vernunft“, dass auch im praktischen Bereich die Vernunft eine Erkenntnisfunktion zu beanspruchen hat.99 Eine praktische Funktion der Vernunft konnte die transzendentalphilosophische kritische Neubegründung der Philosophie wegen der angenommenen Voraussetzung beanspruchen, dass Freiheit und Wille im Handeln Motive kennen, Zielen und Bestimmungsgründen folgen, eine Vorstellung von Prinzipien und Regeln besitzen und dass es nur im Bewusstsein solcher Faktoren des Handelns überhaupt zur Betätigung von Freiheit und Wille kommen kann.100 Das ist es, was Handeln unter Vernunftbedingungen besagen will, d. h. was praktische Vernunft bedeuten soll. Willensbetätigung geschieht als vernünftig durch das Vermögen von Vernunftwesen, ihren Willen aus einer Kausalität zu begreifen und diese Kausalität durch die Vorstellung von Regeln zu bestimmen. Eine so verstandene vernunftbegründete Kausalität des Handelns erweist sich mit der Annahme von Willensfreiheit als vereinbar, weil es sich um eine Kausalität aus Freiheit handelt, um Freiheit in einem positiven Sinne.101 Sowohl die handelnden Subjekte selbst als auch diejenigen, denen die Handlungen anderer Subjekte in ihrem Bewusstsein begegnen, sind in der Lage, jene Vernunftbedingungen des Handelns sich zu vergegenwärtigen und sie konkret zu identifizieren. Die kritische Philosophie selbst mag zwar dem Schritt praktischer Vernunft in dem Stadium ihrer „äußeren“ Verwirklichung nicht mehr nachgegangen sein; dies musste vergleichbar schon in Bezug auf ihre nur bis zur Idee a priori gediehene Rechts- und Staatslehre festgestellt werden. Es konnte auch der Eindruck entstehen, dass die „Kritik praktischer Vernunft“ Freiheit lediglich in einem negativen Sinne verstehe.102 Möglicherweise sind in diesen Umständen auch Anlass und Anknüpfungspunkt zu suchen und zu sehen, warum Neukantianismus sowie normlogische Rechts- und Staatslehre in der nachfolgenden 98 Nachw. Fußn. 95. Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen, hgg. von Ringhofer und Walter, 1979, 258; dazu die Erörterung bei Luf (Fußn. 95), Überlegungen zum Verhältnis von Entscheidung und Rechtfertigung im Recht, 41 ff. 99 Luf, a.a.O., 37 ff. 100 Luf, a.a.O., 39, 41 f., 44 f., 52 ff.; siehe auch Di Fabio (Fußn. 4), Die Staatsrechtslehre und der Staat, 13. 101 Luf, a.a.O., 48; zum positiven Freiheitsbegriff, d. h. zur Annahme, dass der freie Wille immer ein „bestimmter“ ist; Bartlsperger (Fußn. 16), 39 f. Fußn. 71 m. Nachw. 102 Insofern zum kantischen Freiheitsbegriff Bartlsperger, a.a.O., Fußn. 70 m. Nachw.

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Interpretation der betreffenden „Kritik praktischer Vernunft“ annahmen, eine wirkliche Vernunftbedingtheit von Freiheits- und Willensbetätigung verneinen und praktischer Vernunft überhaupt eine beschreibende Erkenntnisfunktion absprechen zu können. Aber solches wäre nicht nur eine kaum mehr verständliche Verkennung der realen Vernunftkausalität von Freiheitswahrnehmung und Willensbetätigung. Es vernachlässigt auch die konsequente ideengeschichtliche Explikation und Ausgestaltung der „Kritik praktischer Vernunft“ zu einer Kritik verwirklichter praktischer Vernunft in der vorstehend ausführlich erörterten sogenannten Anerkennungslehre, in welcher die Vernunftbegründung von Recht und Staat als geschichtlicher Wirklichkeit erst ihre ideengeschichtlich zu Ende geführte Entwicklung und Darlegung erfahren hat. Danach erfolgt die wirkliche Betätigung von Freiheit und Wille durch ihrer sich selbst bewusste Subjekte in einer intersubjektiven Äußerung und Beschränkung von vernunftbedingten Bedürfnissen und Interessen und aus diesem Vorgang wechselseitiger Anerkennung entsteht notwendigerweise eine wirkliche objektive und eigenständige Allgemeinheit. Es ist die Vernunftbestimmtheit wirklicher Vorgänge und Institutionen praktischen Handelns, die Erkenntnisfunktion besitzt. Mit anderen Worten und zusammengefasst macht die Vernunftbegründung praktischen Handelns dieses in seinem Inhalt erkennbar. Dies gilt naturgemäß auch für praktisches Handeln in Gemeinschaftsbezügen und bei einer Normsetzung. Auch institutionalisiertes praktisches Handeln einer Gemeinschaft und institutionalisierte Normsetzung sind kraft der betreffenden Vernunftgründe inhaltlich erkennbar. Das Theorem der Trennung von Sein und Sollen besitzt also keine unbeschränkte Wahrheit; vielmehr hat das Sollen in seiner Vernunftbedingtheit ein erkennbares Sein. Auf diesem Verständnis seiner Vernunftbegründung praktischen Handelns, aus der dementsprechenden Erkennbarkeit einer Vernunftbegründung von Recht und Staat beruhen die Erkennbarkeit der letzteren als eigenständiger geschichtlicher Wirklichkeit sowie eine dementsprechende geisteswissenschaftliche Methode von Rechtswissenschaft und Staatsrechtslehre. Die epochale ideengeschichtliche Erkenntnis kritischer Philosophie, dass praktisches Handeln in Recht und Staat als Handeln aus praktischer Vernunft begriffen werden kann, bedeutet auch die ideengeschichtliche Voraussetzung und die Geburtsstunde der originären Vernunftbegründung des Verfassungsstaates als einer objektiv und eigenständig erkennbaren geschichtlichen Wirklichkeit. 4. Mit den „Verwicklungen“ in den Formalismus des staatsrechtlichen Positivismus sowie der normlogischen Rechts- und Staatstheorie ist die Staatsrechtlehre nicht nur wegen der betreffenden methodischen Konsequenzen in eine als „Krisis“103 erkannte Situation gelangt, sondern auch hinsichtlich der insofern konstruktiv ursächlichen Ideengeschichte des Verfassungsstaates in eine Sackgasse geführt worden.104 Aus den dargelegten, gänzlich unterschiedlichen rechtstheoretischen Annahmen sowie politischen Motivationen sind die originäre Vernunftbegründung des Verfas103 104

Heller (Fußn. 95). Jouanjan, Savigny Zschr. f. Rechtsgeschichte, Germ. Abt. 125 (2008), 367/369.

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sungsstaates als geschichtlicher Realität und deren methodische Implikation aus der Staatsrechtslehre verdrängt worden. Diese ideengeschichtlichen Vorgänge haben dann aber in der Staatslehre auch die nachhaltige Erkenntnis gefördert, dass im Verfassungsstaat Staatsbegriff und Methode der Staatsrechtslehre eine untrennbare Einheit bilden. Von da an ist dieser konstruktive Zusammenhang die Grundfrage und das wesentliche bewegende Element im wissenschaftlichen Selbstverständnis der Staatsrechtslehre. IV. Verfassungsstaat staatsrechtlich – Staatsrechtliche Bedeutung und politische Verdächtigung des Staatsbegriffs Was ursprünglich aufgrund der originären Vernunftbegründung des Verfassungsstaates selbstverständlich schien, nämlich eine auf der objektiven und eigenständigen geistigen Wirklichkeit des Verfassungsstaates beruhende materielle Verfassungstheorie und materielle Methode der Staatsrechtslehre, ist mit den erörterten methodischen „Verwicklungen“ in den „juristischen“ Formalismus zum Thema geworden und Gegenstand grundlegender Auseinandersetzungen. Im Übrigen werden in den Kontroversen der Staatsrechtslehre um den Staatsbegriff ganz wesentlich politische Annahmen ins Spiel gebracht und als Positionen bezogen. Ein Politizismus vermochte sich in der Staatsrechtslehre zu etablieren, allerdings in seiner Motivation und Artikulierung regelmäßig nur in der einen Richtung gegen den Verfassungsstaat als Staatsbegriff. Zutreffend zwar haben sich politische Beurteilungen mit dem zeitgeschichtlichen Einsetzen einer Geschichtsbewältigung in beträchtlicher Zahl auch in der Staatsrechtslehre einer Kritik des Spätkonstitutionalismus, speziell desselben als Epoche eines „Machtstaates“ unter der seinerzeitigen staatsrechtlichen Ordnung und unter dem damaligen staatsrechtlichen Positivismus gewidmet.105 Auch mehr als verständlich und berechtigt vom Standpunkt verfassungsstaatlichen Denkens ist jede politische Kritik an der mit einer nicht enden wollenden literarischen Aufmerksamkeit bedachten staatsrechtlichen Doktrin eines politischen Voluntarismus, die den Staat als politische Einheit des Volkes zum faktischen Staat reduziert und verabsolutiert, der als eigener Wert einer Verrechtlichung durch die Verfassung vorausliegt.106 Jener Doktrin ihrerseits fehlt jedes politische Verständnis für die Idee des Verfassungsstaates als einer rechtlich konstituierten und formierten geistigen Wirklichkeit; der Begriff des Verfassungsstaates im spezifisch staatsrechtlichen Sinne bedeutet gerade, dass Staat und Verfassung eine objektivierte geistige Einheit bilden.107 Von diesen besonderen Fällen abgesehen, kennt je105

Dazu m. Nachw. Bartlsperger (Fußn. 91), 43 Fußn. 37; ders. (Fußn. 16), 35 Fußn. 50. Zu jenem Dezisionismus- und konkreten Ordnungsdenken sowie zu der aus einem entsprechenden Begriff des Politischen entwickelten Verfassungslehre C. Schmitts die Nachw. bei Bartlsperger (Fußn. 91), 33 f. 107 Zur Thematik, also zu dem staatstheoretischen Verhältnis von Staat und Verfassung grundsätzlich Isensee, Staat und Verfassung, in: Isensee/Kirchhof (Hg.), HStR, 3. Aufl. 2004, § 15. 106

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doch die neuere Staatsrechtslehre, naturgemäß auch eine einschlägig engagierte politische Wissenschaft, eine bestimmte generelle Staatsverneinung, die politischen Verdächtigungen des Staatsbegriffs als antiliberal, antiparlamentarisch und undemokratisch entstammt. Aktuell, aber nicht ohne Traditionslinie, wendet sich politische Kritik entschieden gegen eine Staatsrechtslehre, die sich am „Staat als Argument“ orientiert.108 Eine Situationsbeschreibung zu Staatsverständnis und staatstheoretischer Situation in der Bundesrepublik spricht in plakativ überspitzter Weise vom angeblich „vermissten Leviathan“.109 Ersichtlich handelt es sich bei der betreffenden traditionellen und aktuellen Staatsverneinung, bei der Verneinung des Verfassungsstaates als Staatsbegriff, um das stets gleiche Argumentationsmuster der Dekonstruktion eines eigenen politischen Standpunktes aus zeitgeschichtlich bedingten, tatsächlichen oder angeblichen politischen Fehlentwicklungen in der Ideengeschichte von Staatstheorie und Staatsrechtslehre. In jedem Falle aber bedeutet die politisch motivierte Staatsverneinung in der Staatsrechtslehre einen Bruch mit dem Ursprung des Verfassungsstaates in dessen originärer Vernunftbegründung als objektivierter geschichtlicher Verwirklichung von Freiheit. Eine politische Verdächtigung des Staatsbegriffs als antiliberal gilt rückblickend schon den frühkonstitutionellen organischen Staatslehren,110 ohne in der für eine ideengeschichtliche Beurteilung gebotenen Weise zu differenzieren zwischen zeitgeschichtlichen Bedingtheiten derselben und ihrem prinzipiellen staatstheoretischen Aussage- und Bedeutungsgehalt. Die betreffende politische Kritik gegenüber einem Staatsbegriff muss sich dann aber auch gegen jede Staatstheorie richten, die schon in der Endphase des Spätkonstitutionalismus und vor allem im Verlaufe des sogenannten Weimarer Methodenstreits der Staatsrechtslehre die Bewältigung von deren erörterter methodischer Krise in Verbindung mit einem Staatsbegriff unternommen hat, d. h. auf dem Wege einer Rückkehr zur Ursprungs- und Grundfrage des Verfassungsstaates nach dessen staatstheoretischer Begründung.111 In dem thematischen Zusammenhang ist es gerade ein wesentliches Kennzeichen jener neueren Epoche der Staatsrechtslehre, dass sie es war, die seit der vorstehend erörterten ursprünglichen Vernunftbegründung des Verfassungsstaates in der praktischen Philosophie der Klassik erstmalig selbst die Frage nach einer Staatslehre vom Verfassungsstaat als geschichtlicher Wirklichkeit aufgegriffen hat. Es ist ein wesentliches, nämlich das 108

Möllers (Fußn. 50). Möllers, Der vermisste Leviathan, 2008. 110 Heller (Fußn. 23), 57 ff., 166 f.; Bärsch (Fußn. 16), 138 ff. (schon Kant betreffend); vielfach Stolleis (Fußn. 1), 126 ff., 138 f., 139 ff., 141 f., 156 f., 176 ff., 181 f., 277 f.; auch in Bezug auf die Lehre von der Rechtspersönlichkeit des Staates Uhlenbrock (Fußn. 42), 167 ff. Zu den aus historischer Distanz unternommenen, uneinheitlichen politischen Beurteilungen der vormärzlichen Bewegung Würtenberger, Der Staat 37 (1998), 165/172 ff., 175, 187 f.; zum liberalistischen Element in der damaligen Nationalstaatsbewegung Gangl (Fußn. 12), 23/ 32 unter Hinweis auf Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat, 7. Aufl. 128, 9 („nationbildender Individualismus“). 111 Nachw. zur politischen Kritik an der Integrationslehre Smends bei Bartlsperger (Fußn. 91), 34 Fußn. 11. 109

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spezifisch staatstheoretische Kennzeichen der Epoche der sogenannten Weimarer Staatsrechtslehre, dass in ihr, abgesehen von den methodischen Anlässen, die Frage nach dem Verfassungsstaat als Staatsbegriff zu einem zentralen Thema gemacht worden ist. V. Verfassungsstaat staatstheoretisch – Neue Wege zu einem Staatsbegriff 1. Zuerst waren es wesentlich die unter der zusammenfassenden Bezeichnung einer sogenannten Organismustheorie zusammengefassten Staatslehren in der Endphase der spätkonstitutionellen Epoche, die sich zur Begründung einer Gegenposition gegen den methodischen Formalismus der seinerzeit maßgeblichen Staatsrechtslehre des staatsrechtlichen Positivismus veranlasst sahen, ihre dementsprechenden Vorstellungen zum Verfassungsstaat als Staatsbegriff zu entwickeln.112 Der Weg hierzu konnte nicht in einer einfachen Rückkehr zur ursprünglichen Vernunftbegründung des Verfassungsstaates in den Staatslehren der kritischen Philosophie und des Deutschen Idealismus bestehen. Die kulturgeschichtlichen Voraussetzungen waren, wie schon angesprochen, durch eine Projizierung der Wissenschaftstheorie auf die Naturwissenschaften andere geworden, auch mit Konsequenzen für die Staatsrechtslehre. Der Anerkennungsverlust, den die Einheit der Wissenschaften um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts erleben musste,113 verlangte nach einer Neubegründung der „Geisteswissenschaften“. Repräsentativ hierfür steht die bekannte zeitgenössische „Einleitung in die Geisteswissenschaften“.114 Das Recht wird in dem neuen „geisteswissenschaftlichen“ Sinne als Produkt des Rechtsbewusstseins und in einem hierauf gegründeten Zweckzusammenhang gesehen, d. h. nicht nur als Produkt der staatlichen Rechtsetzung, sondern auch einer selbständigen Rechtswissenschaft verstanden.115 In einem ideen- und zeitgeschichtlichen Zusammenhang damit entstand in der Rechtswissenschaft eine entsprechende organische Rechtslehre. Diese folgt für das Recht aufgrund von dessen historischer Wirklichkeit einer genetischen Betrachtungsweise im Zusammenhang mit der Gesamtwirklichkeit des Ge-

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Stolleis (Fußn. 1), 354 ff. (H. Schulze), 359 ff. (O. v. Gierke), 355 ff. (Haenel). Vor allem bedeutsam die Rechts- und Staatslehre v. Gierkes: ders., ZgStW 30 (1874), 153 ff. (Die Grundbegriffe des Staatsrechts und die neuesten Staatsrechtstheorien); ders., Grünhuts Zschr. 6 (1879), 221 ff.; ders., Schmollers Jbch 7 (883), 1 ff. (Auseinandersetzung mit dem staatsrechtlichen Positivismus Labands). Ausführlich zu v. Gierkes Rechts- und Staatslehre Janssen, Otto von Gierkes Methode der geschichtlichen Rechtswissenschaft, 1974. Neben v. Gierke für die Staatsrechtslehre bedeutsam Haenel, AöR 5 (1890), 457 ff./471 ff.; ders., Deutsches Staatsrecht, Erster Band, 1892; weitere Nachw. bei Stolleis, a.a.O., 357 Fußn. 261. 113 Fußn. 74. 114 Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften, Gesammelte Schriften, Bd. I, 5. Aufl. 1959. 115 Janssen (Fußn. 112), 182 ff.; ders. (a.a.O., 185) zur Selbständigkeit der Rechtswissenschaft aufgrund von deren Befähigung und Bestimmung zur Abstraktion des jeweiligen Zweckzusammenhanges.

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meinschaftslebens.116Allerdings erachtet sie für das Staatsrecht jene bloße „geisteswissenschaftliche“ innere Rechtserfahrung als unzureichend und eine Grundlegung der Staatsrechtslehre in einem Staatsbegriff als notwendig.117 In der solcherart konzipierten organischen Rechts- und Staatslehre erscheint der Staat als die wirklich erkennbare, „dauernde, lebendige wollende und handelnde Einheit, zu welcher ein ganzes Volk sich zusammenschließt.“118 Diese organische Begriffskonstituierung des Staates vereinigt in sich also die zwischenzeitlich sich ihrer bewusstwerdende Geisteswissenschaft mit der seinerzeit naturwissenschaftlichen Zeittendenz.119Auch wenn man deshalb von einer Neubegründung des Staatsbegriffs in einer organischen Staatsrechtslehre sprechen kann, so lässt sich gleichwohl eine Denktradition erkennen, die zurückführt auf die ursprüngliche Vernunftbegründung des Verfassungsstaates in der erörterten klassischen, transzendentalphilosophischen „Wissenschaftslehre“ eines empirischen Subjektivismus, nämlich auf dessen praktische Vernunftleistung intersubjektiver Gemeinschaftsbildung. Im Übrigen kann in der hier gebotenen Kürze nur darauf hingewiesen werden, dass man es bei der Organismustheorie nicht mit einer einheitlichen Staatslehre zu tun hat. Neben staatsrechtlich schwer fassbaren und deshalb „schädlichen Verallgemeinerungen“ zu einer generellen Theorie von Korperationen120 findet sich auf der anderen Seite die Begründung eines Staatsbegriffs und einer Staatsrechtslehre, welche die organische Konstituierung des Staates ohne Vernachlässigung von deren natürlichen Elementen wesentlich in einem spezifisch staatsrechtlichen Sinne aus der Organisationsstruktur des Staates und aus vernunftmäßiger Willensbetätigung begreifen.121 Dieses letztere Verständnis eines organischen, aber von anderen rechtlichen Korperationen unterschiedenen, spezifisch staatsrechtlichen Staatsbegriffs erscheint repräsentativ für eine verständliche und überzeugende Rezeption der ideengeschichtlich ursprünglichen, originären Vernunftbegründung des Verfassungsstaates in der praktischen Philosophie durch die Staatsrechtslehre. Offensichtlich hat indes jene seinerzeitige staatsrechtliche Organismustheorie nur eine geringe wirkungsgeschichtliche Bedeutung zu erringen vermocht. Dies erklärt sich wohl daraus, dass sie sich, wie erwähnt, noch unter den zeitgeschichtlichen Bedingungen des Spätkonstitutionalismus und von dessen beherrschender Staatsrechtslehre zu behaupten hatte und deshalb nicht die nachhaltige Aufmerksamkeit auf sich 116

Janssen, a.a.O., 171 ff. Staatsbegriff v. Gierkes, ZgStW 30 (1874), 153/167 ff. Grundlage hierfür ist ein realistisches organisches Denken im Unterschied zu einem „geisteswissenschaftlichen“ Denken nach bloßer innerer Erfahrung; dazu Janssen (Fußn. 112), 203 ff. (Unterscheidung zu Diltheys „Einleitung in die Geisteswissenschaften“). 118 v. Gierke, a.a.O., 175; zum Begriff einer organischen Staatstheorie in einem weiteren staatstheoretischen Sinn Bartlsperger (Fußn. 16), 23/24 Fußn. 3. 119 Janssen (Fußn. 112), 206, 209 (organisches Denken aufgrund äußerer Erfahrung). 120 Haenel. AöR 5 (1890), 457/471; gerichtet gegen die umfassende und einheitliche Korporationstheorie von Preuß (a.a.O., 471 ff.). 121 Haenel, a.a.O., 476 ff. 117

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ziehen konnte, die dann den Staatstheorien der Weimarer Staatsrechtslehre unter den Voraussetzungen einer neuen republikanischen Staatsordnung und unter politisch außerordentlichen Verhältnissen, also unter besonderen Herausforderungen an die Staatsrechtslehre, naturgemäß zufallen musste. Jedenfalls haben erst die Staatstheorien bzw. methodischen Positionen der Weimarer Staatsrechtslehre eine nachhaltige präpositive Bedeutung erlangt.122 Führt man sich freilich genauer deren Beitrag vor Augen, den sie zu einer Staatstheorie des Verfassungsstaates angesichts des betreffenden ideengeschichtlichen Hintergrundes geleistet haben, so erscheint eine recht differenzierte Beurteilung geboten. 2. Unmittelbarer Anlass und wesentliche Thematik der innerhalb des sogenannten Weimarer Methodenstreits hervorgetretenen Positionsbestimmungen der Staatsrechtslehre war bekanntlich die Auseinandersetzung mit dem methodischen Formalismus, der auf der einen Seite im staatsrechtlichen Positivismus der spätkonstitutionellen Epoche überkommen war sowie auf der anderen Seite in der normlogischen Rechts- und Staatslehre Einfluss gewonnen hatte;123 gegenüber der letzteren war es sowohl um deren vorstehend erörterte philosophische Begründung als auch um deren gegen eine materielle Verfassungs- bzw. Rechtsbindung des Rechtsverwirklichungsprozesses gerichtete politische Motivation gegangen. Die tragende und entschiedene Rolle in der Frontstellung vermochte die sogenannte geisteswissenschaftliche Richtung zu beanspruchen.124 Aber deren substanziell und nachhaltig eindrucksvolle Leistungen haben weitgehend in einer Bewusstmachung der politischen Verflechtung staatsrechtlicher Konstruktion und Begriffsbildung,125 in einer „geisteswissenschaftlichen“ Vergewisserung der Staatsrechtslehre126 sowie in einer Kritik neukantischer Rechtsphilosophie,127 d. h. auf methodischem Gebiet gelegen. Zusammengefasst kann man ihre bleibende Bedeutung in der Grundlegung und Formulierung einer materiellen Verfassungstheorie sehen. Lediglich die bekannte Integrationslehre hat in diesen Zusammenhängen explizit auch einen spezifisch staatstheoretischen Weg beschritten, um die Begründung einer geisteswissenschaftlichen Methode der Staatsrechtslehre sowie einer materiellen Verfassungstheorie in einem Staatsbegriff

122 Zum Weimarer Methodenstreit die Nachw. bei Bartlsperger (Fußn. 91), 31/31 f. Fußn. 3 und 4. Ferner Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, 1997, 36 ff., 435 ff., 439 f.; ders. (Hg.), Weimars langer Schatten, 2003; Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Dritter Band, 1999, 79 f., 90 ff.; Friedrich (Fußn. 81), 337 ff.; Möllers (Fußn. 50), 36 ff., 50 ff., 84 ff., 100 ff.; ders., Der Staat 43 (2004), 399 ff. 123 Speziell hinsichtlich des staatsrechtlichen Positivismus Korioth, AöR 117 (1992), 212 ff.; am exponiertesten gegen Kelsens Staatslehre Heller (Fußn. 95). 124 Dazu Holstein, AöR 50 (1926), 1 ff.; Rennert, Die „geisteswissenschaftliche Richtung“ in der Staatsrechtslehre der Weimarer Republik, 1987; Gusy, Weimarer Reichsverfassung (Fußn. 122), 435 ff., 438 ff.; Stolleis (Fußn. 122), 93 f. 125 Triepel, Staatsrecht und Politik, 1927; dazu Forschner, AöR, 136 (2012), 616 ff. 126 Holstein (Fußn. 124); dazu Rennert (Rn. 124), 122 ff., 197 ff. (Lit. Verz. 323 f.). 127 Kaufmann, Kritik der neukantischen Rechtsphilosophie (1921), in: ders., Gesammelte Schriften III, 1960, 176 ff.; dazu Rennert, a.a.O., 97 ff., 160 ff. (Lit. Verz. 321 f.).

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zu suchen.128 Sie war es, die es unter den neuen Voraussetzungen einer republikanischen Staatsordnung unternommen hat, den Verfassungsstaat in seiner geschichtlichen Wirklichkeit als objektives und eigenständiges Sinngefüge für die Staatsrechtslehre verstehbar zu machen. Über die damalige zeitgeschichtliche und unmittelbare Bedeutung hinaus ist es der Integrationslehre und allein dieser gelungen, mit dem Staatsbildungsprinzip einer integrativen Institutionalisierung der Organisations- und Verfahrensordnung des Staates sowie einer integrativen Konstituierung der objektiven und eigenständigen geistigen Einheit desselben jedenfalls im Ergebnis einen ideengeschichtlichen Anschluss herzustellen zu den vorangegangen organischen Staatsauffassungen sowie letzten Endes zur ursprünglichen Vernunftbegründung des Verfassungsstaates in der praktischen Philosophie als geschichtlicher Wirklichkeit eines seinsmäßigen Gebildes objektiven Geistes.129 Greifbar ist ihre wirkungsgeschichtliche Bedeutung, in einer Anfangsphase der Staatsrechtslehre unter dem Grundgesetz die nachweislich angenommene Sinn- und Wertordnung der neuen Verfassung sowie eine entsprechende materielle Verfassungslehre entgegen damaligen neonaturrechtlichen Einflüssen in eine rationale Verfassungsdogmatik überführt zu haben.130 Seitdem hat sie alle Angriffe aus der Staatsrechtslehre und aus einer einschlägig engagierten Politikwissenschaft auf sich gezogen, die aus unterschiedlichen Grundauffassungen heraus eine Einheitsbetrachtung des Staates und ein dementsprechendes materielles Verfassungsverständnis ausschließen wollen, teils aus einer auch hier angesprochenen Wiederbelebung der normlogischen Rechts- und Staatstheorie, teils aus der liberalistischen Verdächtigung jedes materialen Wertdenkens in der Staatsrechtslehre, teils aus einer fundamentaldemokratischen Staatsverneinung oder aus einer politikbzw. sozialwissenschaftlichen Dissens- und Konflikttheorie zur heutigen Staatswirklichkeit.131 Vor allem gegenüber der letzteren Argumentation ist klarzustellen, dass es sich bei dem Staatsbegriff der Integrationslehre um einen solchen der Staatsrechtslehre handelt, also nicht um eine theoretische Beschreibung und Erfassung der 128 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht (1928), in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, 4. Aufl. 2010. Dazu Bartlsperger, Die Integrationslehre Rudolf Smends als Grundlegung einer Staats- und Rechtstheorie, Diss. jur. Erlangen, 1964, ders. (Fußn. 91), insb. 32 ff., 36 f.; ders. (Fußn. 16), 28 ff.; Nachw. zu Smend bei Bartlsperger (Fußn. 91), 31 Fußn. 2; ferner Rennert, a.a.O., 141 ff., 214 ff., 299 ff. (Lit. Verz. 324 f.); Bärsch (Fußn. 16), 92 ff. 129 Zur (Nach-)Interpretation der Integrationslehre im Sinne einer ontologischen Staatstheorie, spezifisch zu einer Erfassung des Staates in der Seinskategorie objektiven Geistes Bartlsperger, Die Integrationslehre Rudolf Smends als Grundlegung einer Staats- und Rechtstheorie, a.a.O., 38 ff., 81 ff.; zum entsprechenden philosophischen Hintergrund der „geisteswissenschaftlichen Methode“ Bartlsperger (Fußn. 16), 24 Fußn. 5 und generell für die Rechts- und Staatstheorie Janke, Kant-Studien 82 (1991), 197/197 f. 130 Bartlsperger (Fußn. 91), 38; ders. (Fußn. 16), 28. 131 Bei Bartlsperger (Fußn. 91), 34; bei dems. (Fußn. 16), 29, 42, 44 ff.; ferner Stolleis (Fußn. 122), 103 sowie ausführlich und dezidiert Möllers (Fußn. 50), 100 ff. Speziell zur Kritik aus einer politik- und sozialwissenschaftlichen Pluralismus-, Dissens- und Konflikttheorie Bartlsperger (Fußn. 91).

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Staatswirklichkeit, sondern um eine vernunftbegründete regulative Idee für eine dem Verfassungsstaat und seiner aktuellen Verfassungsordnung entsprechende, für eine überzeugende, akzeptable und brauchbare Staatstheorie und Grundlegung der Staatsrechtslehre.132 Angreifbar erscheint die Integrationslehre aus anderen Gründen. Abgesehen von gerügten Schwächen ihrer Darstellung und Ausführung133 ist es zum einen die nachträglich selbst eingestandene Vernachlässigung des „herrschaftlichen“ Elements in der staatlichen Organisation134 sowie zum anderen und vor allem ihre zur Voraussetzung ihres Integrationsbegriffs genommene besondere kultursoziologische Strukturbegründung des Verhältnisses von „Individuum und Gemeinschaft“;135 letzteres konnte ihr als Psychologismus angelastet werden.136 Jedenfalls muss man feststellen, dass sie in ihrer Begründung weder auf eine ideengeschichtliche Ursprungsbegründung verfassungsstaatlicher Staatstheorie und eine entsprechende Traditionslinie zurückgreift noch in ihren Annahmen zur geschichtlichen Wirklichkeit des Staates eine ontologische Grundlegung und für ihr materielles Wertdenken eine ebensolche ontologische Wertlehre in Anspruch nimmt. Hinsichtlich der letzteren Punkte bedarf sie sicherlich einer Nachinterpretation auf der Grundlage einer nachidealistischen, neuen Ontologie objektiver und eigenständiger realer Sinngebilde sowie einer materialen Wertlehre.137 Der eigentümlich gewählte Integrationsbegriff konnte das insofern Geforderte nicht leisten.

132 So schon Bartlsperger (Fußn. 91), 49. Das aktuelle Pluralismus-, Dissens- und Konfliktargument gegen eine Einheitsbetrachtung des Staates bzw. gegen einen Staatsbegriff überhaupt ist bereits in den hier erörterten Staatslehren der praktischen Philosophie im Deutschen Idealismus explizit und wesentlich als Problem aufgegriffen und berücksichtigt worden: Zur Notwendigkeit eines diskursiven Konfliktaustrags im Prozess der Konsensfindung bzw. im Innenverhältnis von Institutionen aufgrund des kantischen Autonomie-Prinzips Luf (Fußn. 16), 68. Vor allem in der erörterten Vernunftbegründung des Staates aus einer Anerkennungslehre bei Fichte und Hegel bildet der intersubjektive diskursive Austrag unterschiedlicher individueller Bewusstseinslagen und Standpunkte gerade die wesentliche Grundvoraussetzung (speziell dazu Siep, Zur Dialektik der Anerkennung bei Hegel, 1975, in: ders., Fußn. 16, 1992, 172 ff., ders., „Gesinnung“ und „Verfassung“, in: ders., a.a.O., 270 ff.). Zur Pluralismusdebatte auch Stolleis (Fußn. 122), 255 ff. 133 Kaufmann, Gesammelte Schriften, Band III, 1960, XXX. 134 Smend, Integration, Ev. Staatslexikon, 2. Aufl. 1975, Sp. 1024 ff. 135 Litt, Individuum und Gemeinschaft, 3. Aufl. 1926; dazu Bartlsperger, Die Integrationslehre Rudolf Smends als Grundlegung einer Staats- und Rechtstheorie (Fußn. 128), 4 ff., 112 ff.; kritisch zu dieser Rezeptionsbeziehung Nothoff, Der Staat als „geistige Wirklichkeit“, 2008, 37 ff., 42 ff. 136 Jerusalem, AöR 54 (1928), 161/188 ff.; Kaufmann (Fußn. 133), XXX, XXXII, XXXV; ders., Problematik des Volkswillens, 1931, 272 ff. 137 Zur ontologischen Nachinterpretation auf der Grundlage der sogenannten Neuen Ontologie (N. Hartmann) bei Bartlsperger (Fußn. 135), 58 ff., 81 ff.; zur betreffenden materialen Wertlehre Hartmann, Ethik, 4. Aufl. 1962 und dazu hinsichtlich des Wertdenkens in der Staatsrechtslehre Bartlsperger (Fußn. 16), 54 ff.

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Alle jeweils bedenklichen und zu bedenkenden Aspekte der Integrationslehre können letztlich deren grundsätzliche staatstheoretische Konzeption und methodische Aussage nicht in Frage stellen, vor allem ihrer prinzipiellen Bedeutung keinen Abbruch tun, dass sie in der neueren Staatsrechtslehre den Verfassungsstaat wieder in dessen Wirklichkeit als objektives und eigenständiges, rechtlich konstituiertes Ordnungs- und Sinngefüge verstehbar gemacht hat. Dadurch vermag sie der Staatstheorie und der Staatsrechtslehre eine einsehbare und überzeugende, akzeptable und brauchbare regulative Idee zu liefern. Namentlich ist es ihr im Ergebnis gelungen, einen Weg bzw. jedenfalls die Richtung aufzuzeigen, um den erörterten ideengeschichtlichen Bruch zu überwinden, der in Staatstheorie und Staatsrechtslehre im Zusammenhang mit der kulturgeschichtlichen Veränderung in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts sowie infolge der spätkonstitutionellen und neukantischen „Verwicklungen“ gegenüber der ursprünglichen Vernunftbegründung des Verfassungsstaates in der praktischen Philosophie und gegenüber der frühkonstitutionellen Organismustheorie eingetreten war. Mit Blick darauf markiert die Integrationslehre in der Frage eines verfassungsstaatlichen Staatsbegriffs auch einen ideengeschichtlichen Abschluss. Dies gilt vor allem auch, wenn man die weitere Entwicklung in dieser Frage betrachtet, unbeschadet von nachfolgenden Rezeptionen bzw. Abwandlungen der Integrationslehre sowie einer von ihr ausgehenden, recht vielfältigen Schulenbildung.138 So wird zur Staatsrechtslehre unter dem Grundgesetz die Ansicht vertreten, sie besitze keine Staatstheorie mehr.139 Jedenfalls ist der Integrationslehre noch innerhalb des sogenannten Weimarer Methodenstreits ein Gegenpart erwachsen, der mit dem Anspruch einer „Staatslehre“ im Staat nur mehr eine organisatorische „Wirkungseinheit“, genauer eine Organisation ohne „Einheit“, sehen will.140 Diese „Staatslehre“ hat durch eine anschließend vielfältige argumentative Inanspruchnahme in Staatsrechtslehre und politischer Wissenschaft einen bedeutenden Anteil daran, dass sich das verfassungsstaatliche Denken zur Frage eines Staatsbegriffs verbreitet in neue Richtungen bewegt hat. VI. Verfassungsstaat organisationsrechtlich – Organisation anstatt Staat 1. Innerhalb des sogenannten Weimarer Methodenstreits steht die betreffende „Staatslehre“, die den Staat ausschließlich als eine organisierte Wirkungseinheit be138

Als Rezeption bzw. Abwandlung kann gelten Krüger, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl. 1966; zur methodisch und politisch differenzierten sogenannten Smend-Schule Günther (Fußn. 50), 39 ff., 159 ff.; Lepsius (Fußn. 93), 354/363 f. 139 Möllers (Fußn. 50), 129 f., ders. (Fußn. 109), 31; dazu auch Günther, a.a.O., 321 ff. 140 Heller, Staatslehre (1934), Bearbeitung von Niemeyer, 6. Aufl. 1983; ferner ders., AöR 55 (1929), 321 ff.; dazu Böckenförde, Organ, Organisation, Juristische Person, in: Menger u. a. (Hg.), Fortschritte des Verwaltungsrechts, FS H.J. Wolff, 1963, 269/292 ff.; Bärsch (Fußn. 16), 94 ff.; Somek (Fußn. 15), 521 ff.; Stolleis (Fußn. 122), 183 ff.; Lepsius (Fußn. 138), 366 ff.; Möllers (Fußn. 50), 84 ff.; 428; weitere Nachw. bei Bartlsperger (Fußn. 17), 33 Fußn. 9.

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greifen will, insofern auf der gleichen Seite wie die sogenannte „geisteswissenschaftliche“ Richtung, als sie mit einer ausgeprägten Entschiedenheit und Vehemenz gerade die normlogische Gleichsetzung des Staates mit seiner formalen Rechtsordnung angreift.141 Sie identifiziert gleichfalls die in jenem normlogischen Formalismus erkannte „Krisis der Staatsrechtslehre“ in der neukantischen Verkennung des Wirklichkeitszusammenhangs von Recht und Wirklichkeit, also in der insofern unzutreffenden Trennung von Sein und Sollen. Ihr Anliegen zielt freilich anders als das der sogenannten geisteswissenschaftlichen Richtung der Staatsrechtslehre darauf ab, die Wirklichkeit des Staates soziologisch zu erfassen sowie im Sinne einer dementsprechenden materiellen Staatstheorie anderer Art den demokratisch organisierten Staat aus dessen Aufgabe einer Entscheidungsinstanz gegenüber Politik und Wirtschaft sowie einer Gestaltungsinstanz für soziale Gerechtigkeit zu definieren.142 Soweit in einer solchen Wirklichkeits- und Funktionsbetrachtung des Staates überhaupt mehr als eine soziologische Erfassung der Staatswirklichkeit und eine politische Funktionsbestimmung des Staates gesehen und darüber hinaus auch eine staatstheoretische Aussage zum Staatsbegriff im spezifischen Sinne der Staatsrechtslehre sowie eine methodische Bestimmung derselben angenommen werden soll, stellen sich Verständnisschwierigkeiten ein.143 Zum einen kann die Annahme eines ausschließlich organisationsrechtlichen Bildungsprinzips für Staat und Rechtsordnung zu dem gleichen politischen Dezisionismus in der Rechtsverwirklichung führen wie die in dem erwähnten Ausgangspunkt nachdrücklich bekämpfte formale Rechtserzeugungslehre der normlogischen Rechts- und Staatstheorie.144 Die dieser gegenüber dezidierte Kritik erweist sich anscheinend im methodischen Ergebnis und im politischen Effekt gar nicht als wirkliche Gegenposition, sondern eher als in sich widersprüchlich. Zum anderen bleibt aus der Sicht von Staatstheorie und Staatsrechtslehre wesentlich die angenommene Beschränkung des Staatsverständnisses auf ein organisatorisches Wirkungsgefüge eine Aufklärung darüber schuldig, wie aus den nicht nur formell, sondern eben ausdrücklich und gerade als „wirklich“ und „materiell“ verstandenen Willensbetätigungen im Rahmen der betreffenden staatlichen Verfahrens- und Organisationsstrukturen keine wirkliche und materielle Allgemeinheit, also keine wirkliche objektive und eigen141 Heller (Fußn. 95); dazu Müller, in: Müller/Staff, Staatslehre in der Weimarer Republik. Hermann Heller zu Ehren, 1985, 128; Stolleis, a.a.O., 183 f.; Möllers, a.a.O., 3 Fußn. 12, 84 ff., 98. 142 Heller, Staatslehre (Fußn. 140), 88 ff., 228 ff.; Böckenförde (Fußn. 140), 292, 295 ff.; Somek (Fußn. 15), 521 f.; Stolleis, a.a.O., 185. 143 Zur Beurteilung der Hellerschen Staatslehre als bloß politik- und sozialwissenschaftlicher Begriffsbestimmung des Staates Möllers (Fußn. 50), 85 f., 88, 92, 99, 428. Insofern wird festgestellt, dass jene Staatslehre die Jurisprudenz aus der Staatslehre verwiesen habe und überhaupt keine Aussage zur Methodik der Staatsrechtslehre enthalte (a.a.O.). Zur politischen Konzeption bzw. Motivation der Hellerschen Staatslehre für einen demokratischen Sozialstaat Böckenförde (Fußn. 140), 296 f.; Somek (Fußn. 15), 515 ff.; Stolleis, a.a.O., 183 ff.; Günther (Fußn. 50), 47. 144 Stolleis, a.a.O., 183 f.; Möllers, a.a.O., 3 Fußn. 12, 98, 84 ff.

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ständige Einheit des Staates entstehen soll.145 Insofern fehlt staatstheoretisch eine ideengeschichtliche Reflexion an der ursprünglichen Vernunftbegründung des Verfassungsstaates in der praktischen Philosophie, namentlich an deren erörterter intersubjektiver Anerkennungslehre, oder jedenfalls an hiervon ausgegangenen organischen Staatsauffassungen. Unklar bleibt in diesem letzteren ideengeschichtlichen Zusammenhang schließlich das Verhältnis zu jener geschichtsphilosophischen Staatslehre, die den Staat als Verwirklichung des Vernünftigen betrachtet; denn jene Staatslehre wird nachweislich durchaus zum Ausgangspunkt genommen, andererseits wird ihr der substanziell relevante Vorwurf eines „nationalen Machtstaatsdenkens“ gemacht.146 Ungeachtet der Verständnisschwierigkeiten muss jene „Staatslehre“ vom Staat als eines ausschließlich organisatorischen Wirkungsgefüges in ihrem möglichen und dann in der Tat auch beanspruchten Aussagegehalt für Staatstheorie und Staatsrechtslehre als ein weiterer ideengeschichtlicher Bruch innerhalb von deren ideengeschichtlicher Entwicklung angesehen werden. Denn bei einer angenommenen staatstheoretischen Bedeutung jener „Staatslehre“ handelt es sich um eine grundlegend neue Qualität des verfassungsstaatlichen Denkens. Vergleichsweise war weder der erörterte staatsrechtliche Positivismus so weit gegangen, die organische Staatqualität zu verneinen,147 noch stellt die normlogische Staatstheorie einen „soziologischen“ Staatsbegriff in Abrede.148 In beiden Fällen ist lediglich die angenommene „juristische“ Unbeachtlichkeit der objektiven und eigenständigen geschichtlichen Wirklichkeit bzw. der soziologischen Realität des Staates der Grund für eine Eliminierung der betreffenden realen Staatsvorstellung aus der Staatsrechtslehre. Indessen ist mit der Ersetzung des Staates als geschichtlicher Wirklichkeit durch eine bloße Organisation ein qualitativ ganz anderer Schritt zu einer gänzlichen Staatsverneinung getan. In der Folge jedenfalls wird es auch so verstanden und Organisation im Sinne einer ihr attestierten Handlungseinheit wird an die Stelle des Staates gesetzt,149 ohne dass begreiflich gemacht wird, wie auf bloß organisatorischer Grundlage ohne ein Sinnverständnis derselben, ohne eine entsprechende Sinnstiftung überhaupt eine wirkliche Einheit entstehen kann. 2. Im unmittelbaren Anschluss an jene „Staatslehre“, die der Wirklichkeit des Verfassungsstaates ein bloßes organisatorisches Wirkungsgefüge unterstellen möchte, ist in der Staatsrechtslehre Anlass genommen worden, an die Stelle einer Rechtspersönlichkeit des Staates nur mehr den Begriff der Organisation zu setzen sowie der angeblich nur organisationsrechtlich vermittelten staatlichen Wirklichkeit und Ein145 Unerklärt ist insofern, wie ein bloßes organisatorisches Wirkungsgefüge ohne eine sinnstiftende Einheit überhaupt zu staatlicher Herrschaft befähigt sein kann (Di Fabio, Die Staatsrechtslehre und der Staat, Fußn. 4, 14 f.). 146 Ideengeschichtliche Kritik Hellers (Fußn. 23) an der Staatslehre Hegels; dabei (a.a.O., 206 ff.) eine gleiche Kritik gegenüber Kaufmann. 147 Insofern zur Staatsrechtslehre von v. Gerbers in Fußn. 82. 148 Kelsen, Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, 1922. 149 Böckenförde (Fußn. 140).

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heit lediglich einen „insgesamt anstaltlichen Charakter“ zu geben.150 Ausschließlich eine derartige organisationsrechtliche Anstaltskonstruktion des Staates soll danach adäquat zum Ausdruck bringen können, dass „der Staat eine Veranstaltung des Volkes ist“ und dass die Verfassungsorgane „als die repräsentativen, die Leitung und Lenkung der Anstalt Staat unmittelbar für den Anstaltsherrn Volk ausübenden Organe“ zu gelten haben.151 Motiv und argumentativer Aufwand für eine derartige Staatsverneinung verstehen sich erklärtermaßen aus der Annahme, dass eine in Form der juristischen Person zu einer „übergreifenden Ganzheit und Einheit“ erhobene Staatskonstruktion einen Gegensatz bilde zum Prinzip der politischen Demokratie.152 In Verbindung mit dieser demokratischen Begründung der Staatverneinung steht dann auch das sogenannte „liberalistische Argument“. Mit diesem wird der Angriff gegen einen Staatsbegriff mit dem Argument einer Freiheitsgefährdung durch eine Staatsvorstellung geführt, die den Staat als objektive und eigenständige geschichtliche Wirklichkeit identifiziert, dessen staatsrechtliche Ordnung deshalb mit einer materiellen Wertordnung zu verbinden erlaubt und auf diese Weise zu einem, den demokratischen Prozess und die individuelle Freiheitsverwirklichung beschränkenden und bindenden materiellen Verfassungsbegriff sowie zu einer entsprechenden materiellen Methode der Staatsrechtslehre gelangt.153 Die gegen solche Konsequenzen eines Staatsbegriffs gerichtete Reduzierung der staatlichen Wirklichkeit auf ein organisatorisches Wirkungsgefüge bzw. auf eine sogenannte Anstalts-Konstruktion soll zwar offenbar keineswegs dahin zu verstehen sein, dass der Verfassungsstaat sinnbegründeter und sinnstiftender Funktions- und Legitimationsbedingungen entraten könne; aber diese soll er um der Garantie einer freiheitlichen und demokratischen Ordnungswillen nicht selbst garantieren dürfen und können.154 Jene ersichtlich eher politischen Motivationen entspringende Staatsverneinung erscheint einigermaßen verwirrend. Es ist erklärungsbedürftig, in welchem Verhältnis eine die staatliche Ordnung verwirklichende und repräsentierende organisatorische Wirkungseinheit bzw. eine entsprechende Anstalts-Konstruktion zu einem Wertdenken steht, auf das sie offenbar und zugegebenermaßen in ihrem Funktionsbzw. Legitimationsvoraussetzungen durchaus angewiesen sein soll. Die Willensbildungs- und Entscheidungsverfahren der betreffenden Organisations- bzw. Anstaltseinrichtungen erfolgen im Wege praktischer Vernunft, besitzen daher, wie hier eingehend dargelegt, in ihrem Ablauf sowie in ihrem Ergebnis eine inhaltliche Erkennungsfunktion;155 sie sind deshalb nicht nur formale Vorgänge und Ergebnisse, sondern sinnbestimmt und sinnstiftend. In ihrem Ergebnis führen sie stets zu einer in150

A.a.O., 295, 295 ff. A.a.O., 295 f. 152 A.a.O., 296 f. 153 Nachw. und Erörterung zu dieser von Böckenförde durchgehend und zentral vertretenen Auffassung bei Bartlsperger (Fußn. 16), 44 ff. 154 Böckenförde, Entstehung und Wandel des Rechtsstaatsbegriffs (1969), in: ders., Staat, Gesellschaft, Freiheit, 1976, 84 f. 155 Nachw. oben Fußn. 99 f. 151

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haltlichen Allgemeinheit und zu deren Institutionalisierung in einer rechtlichen und staatlichen Wirklichkeit.156 Es ist, um es nochmals hervorzuheben, die Eigenschaft jeder transzendentalphilosophischen Rechtsbegründung und es ist die nicht in Abrede zu stellende Konsequenz der originären Vernunftbegründung des Verfassungsstaates, dass die betreffenden Handlungsabläufe solche praktischer Vernunft sind und daher im Rahmen ihres intersubjektiv bzw. organisatorisch und verfahrensmäßig institutionalisierten Vollzugs eine inhaltliche Allgemeinheit hervorbringen und dass erst auf diese Weise Freiheit sowie Demokratie in Recht und Staat eine Verwirklichung finden. Unter den Voraussetzungen praktischer Vernunft und einer Vernunftbegründung des Verfassungsstaates ist es keine mögliche staatstheoretische Vorstellung, anstelle des Staates als objektive geschichtliche Realität lediglich eine bloße Organisation anzunehmen und zur Grundlage der Staatsrechtslehre zu machen. Zwischenzeitlich indessen zählen jene Auffassungen von einer ausschließlich organisatorischen „Staatslehre“ gerade aufgrund ihrer dargelegten politischen Motivation schon zu einer im Ergebnis gleichgerichteten Traditionslinie der Staatsverneinung. Der mit einem demokratischen Argument geführte Angriff gegen den Staat ist ein Phänomen, das die aktuelle Situation der Staatsrechtslehre nicht unwesentlich kennzeichnet. VII. Verfassungsstaat aktuell – Das demokratische Argument gegen den Staat 1. Die Reihe aktueller, mit dem demokratischen Argument begründeter Staatsverneinungen kann man unter einer ideengeschichtlichen Perspektive beginnen lassen mit der Forderung nach einer Wiederbelebung der normlogischen Rechts- und Staatslehre157sowie des eben erörterten bloßen organisatorischen Staatsverständnisses. Mit Blick darauf wird es als versäumte Gelegenheit der Staatsrechtswissenschaft unter dem Grundgesetz beurteilt, dass es die „längste Zeit an einem linksdemokratischen republikanischen Etatismus“ in der Nachfolge jener beiden „Staatslehren“ gefehlt habe.158 Ferner lassen sich jenseits bzw. an der fachspezifischen Grenze zur Staatsrechtslehre die sogenannte Diskurstheorie sowie die fundamentaldemokratischen Positionen anführen, welche, wie in ideengeschichtlichem Zusammenhang schon angesprochen, gegen die staatliche Institutionalisierung des demokratischen Prozesses dessen behauptete nur intersubjektive, kommunikative Ursprünglichkeit

156 So anlässlich jener bekannten Bemerkung Böckenfördes (Fußn. 154); die Beurteilung von Luf, Zum Problem der Anerkennung in der Rechtsphilosophie von Kant und Fichte (1992), in: ders. (Fußn. 14), 165/179. Es ist allerdings fraglich, ob Luf dabei das eigentliche „liberalistische“ Anliegen von Böckenförde richtig gewürdigt hat. Kritisch zu Böckenfördes Identifikation des Staates mit einem organisatorischen Anstaltsbegriff auch Uhlenbrock (Fußn. 41), 164 f. 157 Fußn. 93. Möllers (Fußn. 50, 125) sieht in der „weitgehenden Ignoranz des Werks Kelsens eine verpasste Chance“. 158 Möllers (Fußn. 109), 99.

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und Ausschließlichkeit ins Feld führen bzw. einen prinzipiellen Gegensatz von Demokratie und Staat annehmen möchten.159 Für den aktuellen Stand der Staatsrechtslehre in der staatstheoretischen Frage des Staatsbegriffs kennzeichnend ist schließlich und vor allem eine Version demokratisch argumentierender Staatsverneinung, die sich dabei auch eingehend und kritisch mit der staatstheoretischen Entwicklung und Situation der Staatsrechtslehre unter dem Grundgesetz beschäftigt.160 Nicht allein von dieser Seite allerdings wird resümiert, dass die sogenannte Bonner Republik zwar lange Zeit eine nüchterne, methodische und vielfältige Rechtsstaatslehre entwickelt habe, aber „staatswissenschaftlich insgesamt wenig ambitioniert“ gewesen sei.161 Der Nachkriegszeit wird eine deutliche staatstheoretische Abstinenz bescheinigt.162Abgesehen von dieser staatstheoretischen Situationsbeschreibung wird dann aber auch mit bemerkenswerter Profilierung und Vehemenz in Abrede gestellt, dass eine „Wiederbelebung einer ganzheitlichen, den Staatsbegriff in normativen und deskriptiven Belangen beschreibenden wissenschaftlichen Disziplin“ in einer Staatslehre aussichtsreich sein könnte und sollte.163 Es wird prinzipiell verneint, dass ein Staatsbegriff für die Staatsrechtslehre notwendig sei oder auch nur mit ihr verträglich sein könne.164 Den staatstheoretischen „Diskussionsfronten“ in dieser Frage wird eine Orientierung an den Debatten der Weimarer Staatsrechtslehre bescheinigt und sie werden mit „Generationenabfolgen der Staatsrechtswissenschaft“ in Verbindung gebracht.165 In vergleichbarer, aber umgekehrter Absicht wird von anderer Seite die aktuelle „Staatskritische Attitüde“ auch als neues Phänomen in einer Staatsrechtslehre unter der sogenannten Berliner Republik gedeutet.166 Wie auch immer geht es jedenfalls um das Für und Wider einer staatstheoretischen Positionsbestimmung, welche die Staatsrechtslehre auf eine gegen den Staatsbegriff gerichtete demokratische Verfassungstheorie festlegen

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Fußn. 41 f. Möllers (Fußn. 109), 31 ff., 44 ff., 59 ff. 161 Di Fabio, Die Staatsrechtslehre und der Staat (Fußn. 4), 51. Möllers (Fußn. 50, 1 f.) beurteilt die Bedeutung des Staatsbegriffs für die Staatsrechtslehre auch als „Randfrage“. Im Übrigen zur Staatsrechtslehre nach 1945 Bärsch (Fußn. 16), 97 ff. 162 Möllers (Fußn. 109), 31. 163 Möllers (Fußn. 50), 432. 164 Möllers (Fußn. 109), 103 ff. Danach gilt der Staatsbegriff nur „als ein einigermaßen amorphes, historisch zufällig gewachsenes und dem Recht zum großen Teil unsichtbares Gebilde“ (ders., Fußn. 50, 7), als „ein spezifisch deutsches Projekt“ (ders., Fußn. 109, 113) sowie als „Erkenntnis- und Modernisierungshindernis“ (a.a.O., 9 f.). 165 A.a.O., 97 ff. bzw. 101 ff., ders., Der Staat 43 (2004), 399 ff. 166 So Di Fabio (Fußn. 4, 63) zu einer angeblichen paradigmatischen Ablösung von „Staat“ durch „Verfassung“ und „Demokratie“. Stolleis (Fußn. 130, 258 f.) möchte insofern eine allmähliche Transformation der „Staatslehren“ in „Verfassungslehren“ annehmen, sowie von „jüngsten Äußerungen zum möglichen Ende des (alten) Staates“ sprechen, die „nicht mehr in die (alte) Bundesrepublik“ gehören. 160

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möchte, auf eine Ersetzung des „Staates“ durch „Verfassung“, des „Staatsrechts“ durch „Verfassungsrecht“.167 Der letztgenannte, in der Sache und in der Form aktuell wohl exponierteste Angriff gegen den Verfassungsstaat als Staatsbegriff offenbart sich in seiner politischen Voreingenommenheit und Emotionalität durch die Behauptung, in der juristischen Staatstheorie der Bundesrepublik spielten das „Ideal eines souveränen, also allmächtigen Staats, einer Gewalt, die sich auf Erden mit keiner vergleichen kann,“ wie das bekannte Zitat vom Leviathan laute, „und die Erfahrung eines Verlustes dieses Ideals“ eine wichtige Rolle. Vermisst werde die „ungebrochene Staatsgewalt“.168 Der „Leviathan“, so wird angefügt, erweise sich als die „professionelle institutionelle Heimat“ der Staatsrechtswissenschaft, deren Verlust diese abzuwehren oder zu beklagen habe.169 Solche offensichtlich das aktuell wirkliche Staats- und Verfassungsverständnis verfehlenden, zu nichts anderem als zur Findung und Begründung eines politischen Standpunkts aufgestellten Behauptungen und Beurteilungen verschließen offenbar einen Zugang zu dem kulturgeschichtlichen Erbe von Staatstheorie und Staatsrechtslehre des Verfassungsstaates, dass dieser sich einer originären praktischen Vernunftbegründung als objektiver und eigenständiger geschichtlicher Realität verdankt und dass Freiheit sowie Demokratie nur in dieser vernunftbegründeten realen Staatlichkeit eine Verwirklichung finden können.

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Möllers, a.a.O., 10 unter Berufung auf die Rechtsordnungen anderer Länder. A.a.O. 169 A.a.O. 168

Pluralismus und Föderalismus in der deutschen Staatslehre an der Wende zum 20. Jahrhundert Zum möglichen Ertrag verfassungshistorischer Vergleiche für Fragen der europäischen Integration Von Bernd Grzeszick, Heidelberg I. Verfassungsgeschichte, Pluralismus und Legitimität der Staatsgewalt Erhebliche Teile seines Werkes hat Thomas Würtenberger Fragen der Verfassungsgeschichte und der Legitimität der staatlichen Gewalt1 sowie des Pluralismus2 gewidmet. Dabei war stets kennzeichnend, dass seine Überlegungen nicht nur auf genaue Beschreibung und tiefe Analyse zielten, sondern auch mögliche Schlussfolgerungen für den Umgang mit und die weitere Entwicklung der Verfassungsstaatlichkeit suchten. Mit eben diesem Impetus hat sich die Staatsrechtslehre in jüngerer Zeit verstärkt Ansätzen zur Integration von Pluralismus und Föderalismus in der deutschen Staatslehre am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts zugewandt. Hintergrund dieser Entwicklung ist die Überlegung, dass der Übergang vom Deutschen Bund zum Bismarckreich aus staatsrechtlicher Perspektive einen Vergleich mit der fortschreitenden europäischen Integration anregend erscheinen lassen könnte.3 Diese Überlegungen werden weiter dadurch befördert, dass das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung über den Vertrag von Lissabon zum Teil explizit auf staatstheoretische Überlegungen aus dieser Zeit sowie den in der wissenschaftlichen Diskussion von Christoph Schönberger vorgeschlagenen verglei1 Dazu nur Würtenberger, Die Legitimität staatlicher Herrschaft. Eine staatsrechtlich-politische Begriffsgeschichte, 1973; ders., Die Akzeptanz von Verwaltungsentscheidungen, 1996; ders./Gose, Zur Ideen- und Rezeptionsgeschichte des preußischen Allgemeinen Landrechts, 1999. 2 Dazu nur Würtenberger, Die Verbändeproblematik aus europarechtlicher und integrationstheoretischer Sicht, in: Meesen (Hrsg.), Verbände und europäische Integration, 1980, S. 29 ff.; ders., Rechtspluralismus oder Rechtsetatismus?, in: Lampe (Hrsg.), Rechtsgleichheit und Rechtspluralismus, 1995, S. 92 ff.; ders., Theorie und Praxis des pluralistischen Staates, in: Venizelos/Pantélis (Hrsg.), Civilisation and Public Law, 2005, S. 49 ff. 3 Zu dieser Perspektive vor allem Schönberger, AöR 129 (2004), S. 81, 83, 86, 89 ff., 107 f.; ders., Unionsbürger, 2005, S. 5 ff., insbes. S. 9, sowie S. 100 ff.

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chenden Rückgriff auf die Gründung des Norddeutschen Bundes und des Bismarckreiches4 rekurriert.5 In diesem Zusammenhang führt das Gericht aus: „Historische Vergleiche zur deutschen Bundesstaatsgründung über den Norddeutschen Bund von 1867 […] führen in diesem Zusammenhang nicht weiter.“ In der wissenschaftlichen Diskussion, auf die das Gericht Bezug nimmt, kommt besondere Aufmerksamkeit dem Werk von Hugo Preuß zu. Dessen Ausführungen zu Pluralismus, Föderalismus und Demokratie haben eine Renaissance erfahren, in deren Rahmen er als „Vordenker einer Verfassungstheorie des Pluralismus“6 und „moderner Klassiker einer kritischen Theorie der verfaßten Politik“7 bezeichnet wird. Zugleich ist Preuß einer der wenigen Staatsrechtler seiner Zeit, die methodisch nicht primär staatsrechtspositivistisch argumentierten und die inhaltlich für ein differenziertes Auffangen des Verhältnisses von Souveränität, Legitimität und Föderalismus eintraten; für beides steht seine zur Reichsverfassung von 1871 entwickelte Bundesstaatstheorie. Vor diesem Hintergrund wird im Folgenden erörtert, ob und wieweit dem Pluralismus und Föderalismus in der deutschen Staatslehre an der Wende zum 20. Jahrhundert Anregungen für die Debatte über die europäische Integration zu entnehmen sind. Die entsprechenden Fragen werden am Beispiel der Bundesstaatstheorie von Hugo Preuß erarbeitet. Zunächst werden seine Person (II.) sowie seine Grundpositionen zu Fragen von Souveränität, Legitimität und Föderalismus (III.) dargestellt. Ein Vergleich mit der Debatte über die europäische Integration (IV.) vermag Aufschluss über die Verfassungsgeschichte als Speicher von Grundfragen und -antworten zu geben (V.). II. Zur Person von Hugo Preuß Hugo Preuß8 wurde am 28. Oktober 1860 in Berlin geboren. Er war Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie und hat den größten Teil seines Lebens in Berlin verbracht. Zwar hat er in Heidelberg die Schule besucht und nach dem – in Berlin abgelegten – Abschluss ab 1879 für drei Semester in Heidelberg studiert; die weiteren beruflichen und privaten Stationen seines Lebens sind aber ganz überwiegend Berlin zuzuordnen.

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Schönberger, Unionsbürger, 2005, S. 100 ff. BVerfGE 123, 267 (403 f.). 6 Voßkuhle, Der Staat 50 (2011), S. 251 (ff.). 7 Lehnert, PVS 33 (1992), S. 33 (ff.). 8 Zum Folgenden nur Hucko, NJW 1985, 2309 ff.; Lehnert, PVS 33 (1992), S. 33 ff.; Schefold, in: Heinrichs/Franzki/Schmalz/Stolleis (Hrsg.), Deutsche Juristen jüdischer Herkunft, 1993, S. 429 ff.; Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Band 3, 1999, S. 81 ff.; jeweils m.w.N. 5

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1883 legte er das Staatsexamen beim Kammergericht ab. Im gleichen Jahr erfolgte die Promotion mit einer römischrechtlichen Arbeit9 in Göttingen. Die Habilitation erfolgte 1889 an der Universität in Berlin, wo er anschließend als Privatdozent für Öffentliches Recht tätig war. Allerdings blieb ihm ein Ordinariat nicht zuletzt wegen seiner linksliberalen politischen Positionen und seines jüdischen Glaubens10 verwehrt. Dennoch war ihm eine unabhängige Existenz als Gelehrter möglich, da sein Stiefvater ihm eine Rente ausgesetzt hatte. Auf dieser materiellen Basis entfaltete Hugo Preuß rasch eine umfangreiche Publikations- und Vortragstätigkeit. 1890 heiratete er Else Liebermann, die Tochter des Chemieprofessors und Entdeckers Carl Liebermann und Cousine des Malers Max Liebermann, die zudem mit der Familie Rathenau verwandt war. Aus der Ehe gingen vier Kinder hervor. Erst 1906 erhielt Preuß dann eine Professur, und zwar an der neu gegründeten und staatsfernen11 Handelshochschule Berlin, deren Rektor er 1918 wurde. Hinzu kamen seine zahlreichen politischen Tätigkeiten, von denen hier nur die prominentesten angeführt werden sollen. Ab 1895 war er Mitglied der Berliner Stadtverordnetenversammlung für die Freisinnige Volkspartei in Charlottenburg, und von 1910 bis 1918 ehrenamtlicher Stadtrat des Berliner Magistrats in Charlottenburg. Unmittelbar nach der Novemberrevolution wurde Preuß zum Staatssekretär des Reichsamtes des Inneren berufen und mit dem Entwurf einer Reichsverfassung betraut. Sowohl die Berufung zum Staatssekretär als auch die Zuteilung dieser Aufgabe erfolgte durch Friedrich Ebert. Inhaltlich waren die Überlegungen von Preuß dabei in erheblichem Maß von den Vorstellungen Max Webers und Gerhard Anschütz’ geprägt. Auch in den Beratungen über die Grundzüge des Verfassungsentwurfes zog er beide Kollegen heran. Insbesondere die Vorschläge Webers nahm Preuß offenbar zu großen Teilen mit in seinen Entwurf auf. Der am 3. Februar 1919 von ihm vorgelegte Entwurf wurde zwar nicht vollständig umgesetzt. In Folge der Kritik vor allem von konservativer Seite, der der Entwurf zu sehr der Paulskirchenverfassung entsprach, wurde er in Teilen geändert. Die wesentlichen Grundzüge wurden aber akzeptiert. Bis Juni 1919 war Preuß im Kabinett von Philipp Scheidemann erster Reichsinnenminister der Weimarer Republik; er trat dann wegen des Versailler Vertrags zurück.12 Daneben war Preuß 1918 Mitbegründer der Deutschen Demokratischen Partei, für die er von 1919 bis 1925 Mitglied der Preußischen Landesversammlung und des Preußischen Landtags war.

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Thema: Der Eviktionsregreß des in possessorio unterlegenen Käufers. Lehnert, PVS 33 (1992), S. 33 f. 11 Lehnert, PVS 33 (1992), S. 33. 12 Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Band 2, 1992, S. 364.

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III. Souveränität, Legitimität und Föderalismus bei Hugo Preuß 1. „Gemeinde, Staat und Reich als Gebietskörperschaften“ von 1889 Die Grundpositionen von Hugo Preuß zu Fragen von Souveränität, Legitimität und Föderalismus finden sich in umfassender Ausarbeitung bereits in seiner ersten staatswissenschaftlichen Publikation, der Monographie „Gemeinde, Staat und Reich als Gebietskörperschaften. Versuch einer deutschen Staatskonstruktion auf der Grundlage der Genossenschaftstheorie“ von 1889, die seine Habilitationsschrift war. Preuß liefert mit dieser Arbeit einen pointierten Beitrag zur wohl brisantesten Diskussion des spätkonstitutionellen Staatsrechts: Der Debatte über den föderalen Charakter des Bismarckreiches.13 Die unitarische Entwicklung der Reichsstrukturen14 in der Verfassungswirklichkeit des Reiches war in der staatsrechtlichen Diskussion ganz überwiegend nachvollzogen worden und Vorstellungen von einer geteilten oder doppelten Souveränität waren allmählich von der Idee der souveränen Staatlichkeit des Gesamtstaates verdrängt worden.15 Die Auffassung von der Souveränität des Bundes war allerdings nicht unwidersprochen. Sie wurde insbesondere von Hugo Preuß in Frage gestellt, der eben in seiner Habilitationsschrift weiterhin die staatenbündischen und föderalen Elemente der Reichsverfassung betonte – wie dies auch Otto von Gierke, Otto Mayer und Rudolf Smend vertraten. 2. Bezugspunkt: Die Verfassung des Bismarckreichs von 1871 Bezugspunkt und Gegenstand der Schrift von Preuß sowie der Debatte war die Reichsverfassung vom 16. April 1871.16 Bei deren Abfassung waren in erheblichem Umfang Teile der Verfassung des Norddeutschen Bundes übernommen worden. a) Föderale und unitarische Elemente der Reichsverfassung Die Reichsverfassung enthielt keine ausdrückliche Bestimmung ihres föderalen Charakters. Aus dem in einzelnen Vorschriften geregelten Verhältnis zwischen dem 13 Doerfert, Besprechung von Maren Becker: Max von Seydel und die Bundesstaatstheorie des Kaiserreichs, Der Staat 50 (2011), S. 155, 156. 14 So Triepel, Unitarismus und Föderalismus im Deutschen Reiche, 1907, S. 116; Laband, JöR 1 (1907), S. 1, 5. 15 Dazu sowie zum Folgenden nur Deuerlein, Föderalismus, 1972, S. 131 ff., 148 ff. sowie Oeter, Integration und Subsidiarität im deutschen Bundesstaatsrecht, 1998, S. 46 ff. 16 RGBl. 1871, S. 64 – 85.

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Reich und den Einzelstaaten wurde aber gefolgert, dass ein lockeres Staatenbündnis wie im Deutschen Bund nicht errichtet werden sollte.17 In Erstreckung dieser Bewertung wurde das Reich als Bundesstaat qualifiziert,18 in dem Preußen eine herausragende Stellung zukam, die durch die in der Verfassung festgeschriebenen Personalunionen von preußischem König und deutschem Kaiser sowie von preußischem Ministerpräsidenten und Reichskanzler abgesichert war.19 Sowohl das Reich als auch die Mitgliedstaaten besaßen die Qualität von Staaten, die bei der Aufgabenerfüllung entsprechend ihrer verfassungsrechtlichen Stellung zusammenwirkten. Das Reich war sowohl in seinen Grundlagen als auch in seinen einzelnen Ausprägungen ein Produkt verschiedener Strömungen, Tendenzen und Traditionen, angeleitet durch den preußischen Ministerpräsidenten Bismarck20 und geprägt durch die Monarchen der Gliedstaaten, nicht durch das Volk des entstandenen Reiches.21 Dementsprechend enthielt die Reichsverfassung sowohl zentralistische bzw. unitarische als auch föderale Elemente. An zentralistischen Elementen ist zunächst der Kaiser anzuführen, der in national-unitarischer Weise dem Reich vorstand;22 damit war zugleich eine Entscheidung für ein monarchisches Element verbunden. Der Kaiser ernannte nach Art. 15 der Verfassung einen Reichskanzler, der ihm politisch verantwortlich war. Gleichfalls unitarisch wirkte die Vertretung der Nation durch den Reichstag, mit dem zugleich demokratische Züge verbunden waren, denn die Reichstagsmitglieder gingen aus allgemeinen – ausgenommen der Frauen – und freien Wahlen im Sinne des Art. 20 der Verfassung hervor und waren gemäß Art. 29 der Verfassung Vertreter des gesamten Volkes. Schließlich stärkten die weiten fakultativen Gesetzgebungskompetenzen aus Art. 4 der Verfassung, von denen das Reich nach und nach immer mehr Gebrauch machte, die Bedeutung des Reiches und schwächten die der Einzelstaaten.23 Die zentralistische Tendenz der Verteilung der Kompetenzen zwischen Einzelund Gesamtstaatsebene prägte auch die Verwaltungszuständigkeiten. Nach herr17 Triepel, Unitarismus und Föderalismus im Deutschen Reiche, 1907, S. 120, hält es für „ausgemacht“, dass der Staatenbund „eine für Deutschland schlechterdings unmögliche Gestaltung“ sei. 18 Mejer, Einleitung in das Deutsche Staatsrecht, 2. Auflage, 1884, S. 294; Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Band I. 5. Auflage, 1911, S. 88. 19 Dazu Volkmann, in: FS Frotscher, 2007, S. 183 ff., 187 f. 20 Ähnlich Nipperdey, in: ders., Nachdenken über die deutsche Geschichte, 1986, S. 60 ff., 80 f. 21 Senigaglia, in: Berger/Brauneder (Hrsg.), Repräsentation in Föderalismus und Korporativismus, 1998, S. 11, 15. 22 Laband, JöR 1 (1907), S. 1, 15. 23 Triepel, Unitarismus und Föderalismus im Deutschen Reiche, 1907, S. 53. Zur Kompetenzverteilung unter der Reichsverfassung von 1871 auch Preuß, Reich und Länder, 1928, S. 107 f.

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schender Ansicht waren zwar grundsätzlich die Länder – unter Aufsicht des Reiches – für die Verwaltung zuständig, selbst wenn gemäß Art. 7 der Reichsverfassung der Bundesrat Verwaltungsvorschriften zur Ausführung der Reichsgesetze beschließen konnte.24 In der Praxis konnten hier aber deutliche unitarische Tendenzen wahrgenommen werden; vor allem baute das Reich die reichseigene Verwaltung aus. Aufgrund zunehmender öffentlicher Aufgaben nahm freilich auch der Umfang der Verwaltungsaufgaben der Gliedstaaten zu.25 Schließlich verfügte das Reich mit der Reichsexekution nach Art. 19 der Verfassung über ein Instrument, gewissen Einfluss auf die Einzelstaaten geltend machen zu können. Ein starkes föderales Element war darin zu sehen, dass das Reich selber kaum über Einnahmen verfügte. Die unmittelbare Verwaltung – und damit auch die Finanzverwaltung – lag bei den Gliedstaaten und das Reich war zu seiner Finanzierung auf Beiträge der Gliedstaaten angewiesen, was zu einem System der Matrikularbeiträge führte,26 bei dem das Reich in finanzieller Abhängigkeit von den Gliedstaaten stand.27 Art. 70 der Reichsverfassung sah zwar die Einführung von Reichsteuern vor, die jedoch erst zum Ende des Reiches erhoben wurden.28 Neben dieser Stärkung der Gliedstaaten im Rahmen der Finanzverfassung wurden einigen süddeutschen Staaten Reservatrechte eingeräumt, die ebenfalls die Stellung einzelner Staaten gegenüber dem Reich stärkten. Zudem war nach Art. 6 der Verfassung dem Bundesrat ein Veto- und Initiativrecht eingeräumt, mit dem die Einzelstaaten an der staatlichen Willensbildung teilnahmen und unmittelbar an der Reichspolitik beteiligt waren.29 Mit der Bezeichnung „Bundesrat“ sollte verdeutlicht werden,30 dass hier – anders als beim Reichstag – föderale Elemente betont und integriert wurden.31 b) Politische Position der Länder im Reich Allein der isolierte Blick auf die Regelungen der Reichsverfassung ergibt aber nur einen Teil des gesamten Bildes. Denn die politische Position der Länder war – mit Ausnahme von Preußen – sowohl im exekutiven Bereich als auch in der poli24

Holste, Der deutsche Bundesstaat im Wandel, 2002, S. 170 ff. m.N. Holste, Der deutsche Bundesstaat im Wandel, 2002, S. 180, 182. 26 Deuerlein, Föderalismus, 1972, S. 140 ff. 27 So Holste, Der deutsche Bundesstaat im Wandel, 2002, S. 196 f. 28 Laband, JöR 1 (1907), S. 1, 8, 42 ff. 29 Vgl. Deuerlein, Föderalismus, 1972, S. 140. 30 So Bismarck, Immediatbericht vom 29. März 1871 über die Benennung des Bundesrates, abgedruckt in Puttkammer, Föderative Elemente im deutschen Staatsrecht seit 1648, 1955, Nr. 31, S. 150 f. 31 Senigaglia, in: Berger/Brauneder (Hrsg.), Repräsentation in Föderalismus und Korporativismus, 1998, S. 11, 15. 25

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tischen Bedeutung eher schwach.32 Dahinter stand vor allem der tatsächliche Machtanspruch Preußens. Der preußische Monarch war nach Art. 11 der Reichsverfassung Deutscher Kaiser und dieser konnte den Reichskanzler ernennen, was sich personalpolitisch so auswirkte, dass es überwiegend preußisch stämmige Reichskanzler gab.33 Die auch mit föderalen Elementen ausgestattete Reichsverfassung wurde damit zur Grundlage eines monarchisch und preußisch geprägten Unitarismus, der durch Kaiser Wilhelm II. verkörpert wurde.34 Selbst der Bundesrat, der im Rahmen der Reichsverfassung als originär föderales Organ der Länder konzipiert worden war, wurde aufgrund des beherrschenden Einflusses Preußens in erheblichen Teilen politisch unitarisch geprägt.35 Zusammenfassend lässt sich deshalb festhalten, dass die Verfassung von 1871 ihrer Konzeption nach in Teilen föderal aufgebaut war. Die föderalen Strukturen wurden jedoch in der Verfassungswirklichkeit geschwächt; unitarische Tendenzen konnten sich stärker verwirklichen.36 Damit beeinträchtigte die preußische Dominanz die konzeptionell vorgesehene Rechtsgleichheit der Gliedstaaten erheblich. Aus bewertender Perspektive wird aber auch geltend gemacht, dass das Reich als Gesamtstaat durch die besondere Stellung Preußens gestärkt wurde und bis 1919 erhalten blieb.37 Für die weitere Entwicklung des föderalen Systems erlangte zudem der Gedanke der Bündnis- und Vertragstreue, welcher der Reichsverfassung entnommen wurde und die Grundlage für den heute geltenden Grundsatz der Bundestreue darstellt, zentrale Bedeutung.38

32 Laband, JöR 1 (1907), S. 1, 18; Oeter, Integration und Subsidiarität im deutschen Bundesstaatsrecht, 1998, S. 31. 33 Kimminich, Deutsche Verfassungsgeschichte, 2. Auflage, 1987, S. 434. 34 Holste, Der deutsche Bundesstaat im Wandel, 2002, S. 543. 35 So Oeter, Integration und Subsidiarität im deutschen Bundesstaatsrecht, 1998, S. 42. 36 So Laband, JöR 1 (1907), S. 1, 5; Triepel, Unitarismus und Föderalismus im Deutschen Reiche, 1907, S. 116; Oeter, Integration und Subsidiarität im deutschen Bundesstaatsrecht, 1998, S. 44; Holste, Der deutsche Bundesstaat im Wandel, 2002, S. 261. 37 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Band 3, 1963, S. 802. 38 Bauer, Die Bundestreue, 1992, S. 39 ff.; Holste, Der deutsche Bundesstaat im Wandel, 2002, S. 152 ff.

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3.. Die zeitgenössische Debatte über den föderalen Charakter des Reiches a) Überwiegende Ansicht: Souveräne Staatlichkeit des Reiches als Bundesstaat Die vorstehend skizzierte politische Entwicklung wurde in der staatsrechtlichen Diskussion nicht nur wahrgenommen, sondern großteils auch nachvollzogen und damit wissenschaftlich positiv sanktioniert.39 Die Vorstellungen von einer geteilten oder doppelten Souveränität wurden allmählich von der Idee der souveränen Staatlichkeit des Gesamtstaates verdrängt und es wurde sich nun auf die Mitwirkung der Gliedstaaten an der Willensbildung des Gesamtstaates sowie die Aufteilung der staatlichen Kompetenzen fokussiert. Dementsprechend konnte sich die These vom Reich als einem staatenbündischen Zusammenschluss der einzelnen Staaten, die sich über die Bundesverträge die Fortdauer als Staaten gesichert hatten, nicht dauerhaft halten; sie unterlag der Sichtweise der Reichsgründung als Begründung einer staatsrechtlichen Organisation. Ähnlich war die Entwicklung der Vorstellung von der Souveränität im Bundesstaat verlaufen. Die bis Mitte des 19. Jahrhunderts immer wieder vorgetragene und gepflegte Vorstellung einer geteilten bzw. doppelten Souveränität entfaltete zunächst auch unter der Reichsverfassung noch ihre Wirkkraft. Robert von Mohl äußerte in seinem Werk „Das deutsche Reichsstaatsrecht“ 1873 die Auffassung, dass die Gliedstaaten nicht aufgehört hatten, ihre eigene Verfassung und Verwaltung zu haben, einen bestimmten Teil der Zwecke eines Staates selbstständig und mit eigenen Mitteln und nach eigenen Bestimmungen zu verfolgen. Seiner Ansicht nach ging für die Gliedstaaten allein ein durch die Zuständigkeit der Bundesgewalt bestimmter Teil der Souveränität verloren und an die Bundesorgane über. Diese Auffassung hatte aber dezidierte Gegner. Vor allem der bayerische Staatsrechtler Max von Seydel versuchte 1872 in seinem Aufsatz „Der Bundesstaatsbegriff“ die theoretische Unmöglichkeit des Bundesstaates zu beweisen und in der Folge das Reich als Staatenbund zu deuten. Seiner Ansicht nach gehörte es zum Begriff des Staates, dass dieser von einem einheitlichen höchsten Willen beherrscht wird, den er Staatsgewalt oder Souveränität nannte. Da nun zwei höchste Willen einander aufhöben und verneinten, seien diese begrifflich nicht möglich. Eine der wesentlichen Eigenschaften der Souveränität sei deshalb gerade, dass sie keinen bestimmten Umfang habe, sondern inhaltlich völlig unbeschränkt sei; ihre umfängliche Beschränkung sei deshalb ihre Negierung. Diese Gleichsetzung von Souveränität und Staatsgewalt sowie ihr Verständnis als höchste, einheitliche und unbeschränkte Herrschaftsgewalt stand Teilungen, Doppelungen und Beschrän39 Dazu sowie zum Folgenden nur Deuerlein, Föderalismus, 1972, S. 131 ff., 148 ff.; Oeter, Integration und Subsidiarität im deutschen Bundesstaatsrecht, 1998, S. 46 ff.; Holste, Der deutsche Bundesstaat im Wandel, 2002, S. 120 ff., 243 ff.; jeweils m.N.

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kungen prinzipiell entgegen. Der Begriff des Bundesstaates war deshalb für von Seydel rechtlich unhaltbar, weil er im Widerspruch zum Begriff des Staates stand; es konnte nach seiner Ansicht nur Staaten oder Staatenbünde geben. Diese Auffassung vom vertragsmäßigen und staatenbündischen Charakter des Reiches wurde zwar sowohl in der Konstruktion als auch in ihrer Zuspitzung ganz überwiegend abgelehnt. Die Vorstellung einer nur als einheitlich und unteilbar vorstellbaren Souveränität fand aber grundsätzliche Zustimmung. Sie wurde vor allem von Georg Meyer, Paul Laband, Georg Jellinek, Albert Haenel, Philipp Zorn und Joseph von Held – sämtlich unitarisch gesinnte Positivisten des Reichsstaatsrechts – auf die Reichsverfassung übertragen und dabei nun so verwendet, dass sie in einem staatsrechtlichen Gefüge, also in einem durch Über- und Unterordnungsverhältnisse strukturierten Gebilde, dem Oberstaat, also dem Bund zustehen musste. Damit diese Annahme nicht im Widerspruch zur reichsverfassungsrechtlichen Rechtsstellung der Länder als Staaten stand, wurde zwischen Souveränität und Staatlichkeit unterschieden und Souveränität vor allem als Kompetenz-Kompetenz verstanden. Auch nicht-souveräne Staaten konnten so grundsätzlich anerkannt werden, wozu allerdings erheblich divergierende Positionen vertreten wurden. Insgesamt wurde der Bundesstaat überwiegend als ein aus nicht-souveränen Staaten zusammengesetzter souveräner Staat verstanden; diese Position wurde vorherrschend. b) Kritik an diesem Verständnis von Souveränität und Bundesstaat Die Auffassung von der Souveränität des Bundes blieb aber nicht unbestritten. Der Genossenschaftstheoretiker Otto von Gierke wies 1883 in einem gegen Paul Laband gerichteten Beitrag darauf hin, dass die vorherrschende Lehre entweder dem Deutschen Reich oder den deutschen Einzelstaaten die staatliche Qualität rauben musste.40 Hugo Preuß äußerte 1889 in seiner Habilitationsschrift, dass die deutsche Staatsrechtswissenschaft in Bezug auf die Bundesstaatlichkeit sich im Gespinst des Souveränitätsbegriffs verfangen habe wie die Fliege im Gewebe der Spinne.41 Otto Mayer konstatierte 1903, dass die deutsche Staatsrechtswissenschaft die Konstruktion der Verfassung von 1871 nie wirklich akzeptiert habe und diese durch unitarische Theorien und Konstruktionen von ihren Grundlagen abzulösen suchte.42 Und Rudolf Smend betonte noch in einer 1916 veröffentlichten Arbeit über die Bundestreue die föderal-dezentralen Elemente der Reichsverfassung, indem er davon ausging, dass Reich und Einzelstaaten nicht nur im Verhältnis der Über- und Unterordnung standen, sondern zugleich im Verhältnis des Bundes zu

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v. Gierke, Schmollers Jahrbuch 7 (1883), S. 1097, 1159 f. Preuß, Gemeinde, Staat und Reich als Gebietskörperschaften, 1889, Vorbemerkung S. VI. 42 Mayer, AöR 18 (1903), S. 337, 365 f., 370 f. 41

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seinen Verbündeten und damit auf einer Ebene gleichgeordneter Rechte und Pflichten.43 Die Ansätze einer stärkeren Betonung der staatenbündisch-monarchischen Elemente der Reichsverfassung konnten aber bis zum Ende des Reiches nicht die Oberhand gewinnen. 4. Grundlagen der Position Preuß’ a) Preuß als Außenseiter der Staatsrechtslehre der Kaiserzeit Vor diesem Hintergrund trifft die Ansicht von Stefan Oeter und Jens Kersten zu, die Hugo Preuß als „Außenseiter der Staatsrechtslehre der Kaiserzeit“ bezeichnen.44 Allerdings ist er ein Außenseiter, der Erfolg haben und die nächste Verfassung schreiben sollte. Auch aus diesem Grund – aber nicht nur deshalb – lohnt sich ein Blick auf die Grundlagen der Position Preuß’. Was stand hinter seiner Position zum föderalen Charakter des Reiches und zum Souveränitätsbegriff? b) Organisch-genossenschaftliche Perspektive gestufter Staatlichkeit Ein wichtiger Schlüssel zu seinem Verständnis von Staat und Recht bildet eben seine Habilitationsschrift von 1889.45 Deren zentrales Thema ist die Frage nach der Art und Weise, in der öffentliche Gewalt im Staat auf unterschiedlichen Ebenen ausgeübt werden kann. Auf der Grundlage einer organischen, genossenschaftlichen Staatstheorie in der Tradition Gierkes begreift Preuß das Reich als mehrstufiges Gebilde, auf dessen verschiedenen Stufen jeweils eine eigenständige Willensbildung durch das Volk stattfinden soll.46 Die unterschiedlichen Ebenen bilden dabei ein Gesamtsystem, das den Bürgern die Entfaltung ihres Willens auf allen Ebenen ermöglichen soll. Preuß entwarf damit im Grundsatz eine Theorie des Bundesstaates als ein Gefüge gestufter Selbstverwaltung, die als ein Modell im Sinne einer „dezentralisierten Einheitsstaatlichkeit“ verstanden werden kann.47 Insoweit war er im Ergebnis den Anhängern zentralistischer Staatsvorstellungen zuzurechnen. Allerdings war 43

Smend, in: Festgabe O. Mayer, 1916, S. 247, 258 ff. Oeter, Integration und Subsidiarität im deutschen Bundesstaatsrecht, 1998, S. 48, 56; Kersten, JZ 2010, 1062 f. 45 Dazu sowie zum Folgenden näher Schefold, in: Heinrichs/Franzki/Schmalz/Stolleis (Hrsg.), Deutsche Juristen jüdischer Herkunft, 1993, S. 429, 437 ff.; Groh, Demokratische Staatsrechtslehrer in der Weimarer Republik, 2010, S. 257 ff.; Voßkuhle, Der Staat 50 (2011), S. 251, 257 ff. 46 Schefold, in: Heinrichs/Franzki/Schmalz/Stolleis (Hrsg.), Deutsche Juristen jüdischer Herkunft, 1993, S. 429, 437. 47 Oeter, Integration und Subsidiarität im deutschen Bundesstaatsrecht, 1998, S. 56. 44

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diese zentralistische Tendenz nicht tragend und in zweierlei Hinsicht zu relativieren.48 Zum einen lagen das eigentliche Ziel seiner Überlegungen und damit der inhaltliche Schwerpunkt seines Ansatzes nicht auf der Einheitsstaatlichkeit, sondern auf dem Gedanken der Selbstverwaltung und damit der demokratischen Legitimation, die er institutionell in einer parlamentarischen Regierung verortet sah. Konsequent kritisierte Preuß deshalb die antiparlamentarische Tendenz hinter Bismarcks föderaler Rhetorik zu Gunsten der Rolle des Bundesrates und der entsprechenden Behauptung, es gebe keine Reichsregierung, sondern lediglich die verbündeten Regierungen der Länder, scharfsinnig und scharfzüngig wie folgt: „Das Auftauchen dieser Behauptung war stets ein untrügliches Zeichen, daß der Reichstag wieder etwas geduckt werden sollte; denn die Behauptung schloß die Impotenzerklärung des Reichstags in sich.“49 Zum anderen unterschied Preuß deutlich zwischen seiner Theorie und dem geltenden Recht. Für ihn war einsichtig, dass sein staatstheoretisches Ideal weder dem geltenden Recht ohne weiteres entsprach, noch ihm durch schlichte Auslegung unterlegt werden konnte. Vielmehr bedurfte es dazu erheblicher rechtlicher Änderungen – die er konsequenterweise dann in seiner Eigenschaft als Politiker betrieb. Beide Gedanken – demokratische Selbstverwaltung und Beachtung des geltenden Rechts – kulminierten in der Kritik am damaligen Souveränitätsbegriff, die er in seiner Habilitationsschrift vortrug. Im Souveränitätsbegriff sah er das Symbol obrigkeitlicher, nichtdemokratischer Herrschaft.50 Für Preuß war der „Souveränitätsbegriff die Negation des öffentlichen Rechts“51, weil die Souveränität des Gesamtstaates die demokratisch-genossenschaftliche Substanz der übrigen Gebietskörperschaften entleerte.52 Im Souveränitätsbegriff sah er deshalb „das tragende Princip des absoluten Obrigkeitsstaates.“53 Preuß betont stattdessen die Bedeutung der konkreten Kompetenzverteilung, die er mit dem Grundsatz der demokratischen Selbstregierung der jeweiligen Einheit zusammenband.54 Für diese Fragen folgte aber nach seiner Ansicht „aus dem Wesen

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Dazu sowie zum Folgenden auch Oeter, Integration und Subsidiarität im deutschen Bundesstaatsrecht, 1998, S. 56 ff. – An gleicher Stelle differenzierend, aber aus der umgekehrten Perspektive kommend und zudem stärker auf die methodischen Grundlagen abstellend Groh, Demokratische Staatsrechtslehrer in der Weimarer Republik, 2010, S. 259 ff. 49 Preuß, Die Organisation der Reichsregierung und die Parteien, 1890, in: ders., Staat, Recht und Freiheit, 1926, S. 172, 182. 50 Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Band 2, 1992, S. 363; Holste, Der deutsche Bundesstaat im Wandel, 2002, S. 256. 51 Preuß, Gemeinde, Staat und Reich als Gebietskörperschaften, 1889, S. 133. 52 Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Band 2, 1992, S. 363. 53 Preuß, Gemeinde, Staat und Reich als Gebietskörperschaften, 1889, S. 136. 54 Preuß, in: FG Laband, Band 2, 1908, S. 199, 205.

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des Staates“ nichts.55 Vielmehr sind es bei Preuß die vielgestaltigen genossenschaftlichen Zwischenbildungen, die erst das Volk zum Staat organisieren können.56 Der genossenschaftliche Gedanke ist daher Vorbild einer verfassungsdemokratischen57 Konstituierung auf allen föderalen Ebenen.58 Sich selbst regierende demokratische Einheiten und Bundesstaat sind damit kein Gegensatz, sondern vielmehr Entfaltungen ein und desselben Prinzips.59 IV. Vergleich mit der Debatte über die europäische Integration 1. Verfassungsgeschichte als Indikator des Wandels von Verfassungsstaatlichkeit? Die inhaltliche Nähe dieser Überlegungen zu solchen der aktuellen Debatte über die europäische Integration ist frappierend: Sind Mitgliedstaaten und Union sich ergänzende Entfaltungen ein und desselben Prinzips demokratischer Selbstregierung auf verschiedenen Ebenen, die sich deshalb ergänzen können, nicht aber im Gegensatz zueinander stehen, oder schließen Staatlichkeit und Souveränität ein solches Mehrebenensystem offener Staatlichkeit aus? Diese Parallele legt die Frage nahe, ob der Blick in die Verfassungsgeschichte Erkenntnisse für die aktuelle Debatte bereithält: Kann die Verfassungsgeschichte als Rechtsvergleichung in der Zeit fruchtbar gemacht werden, vielleicht in dem Sinne, dass auch zu den aktuellen Fragen alle Antworten schon gegeben worden sind, nur zu anderen Zeiten und an anderen Orten? Und allgemeiner gewendet: Kann man aus der Verfassungsgeschichte lernen – nicht in schlichter und daher unzutreffender Übertragung partikularer Entwicklungen, sondern durch Sensibilisierungen für Zusammenhänge und Hintergründe, die den Wandel der Verfassungsstaatlichkeit in der Vergangenheit geprägt haben, und möglicherweise weiterhin prägen werden, also der Verfassungsgeschichte als Indikator des Wandels von Verfassungsstaatlichkeit?

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Preuß, in: FG Laband, Band 2, 1908, S. 199, 243. Lehnert, in: Hugo Preuß, Gesammelte Schriften, Band 4, 2008, S. 12. 57 Begriff von Voßkuhle, Der Staat 50 (2011), S. 251, 259; angelehnt an Lehnert, in: Hugo Preuß, Gesammelte Schriften, Band 4, 2008, S. 12. 58 Voßkuhle, Der Staat 50 (2011), S. 251, 259 m.w.N. 59 Voßkuhle, Der Staat 50 (2011), S. 251, 259. 56

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2. Grundelemente der Position des Bundesverfassungsgerichts zu den Grenzen der europäischen Integration a) Verbot der Preisgabe souveräner Staatlichkeit Das Bundesverfassungsgericht hat vor allem im Urteil zum Reformvertrag von Lissabon60 zur Frage, welche Grenzen das Grundgesetz der europäischen Integration setzt, seine Position markiert. Unter anderem stellt das Gericht ein Verbot der Preisgabe der souveränen Staatlichkeit Deutschlands auf. Das Grundgesetz ermächtige die für Deutschland handelnden Organe nicht dazu, durch einen Eintritt in einen europäischen Bundesstaat das Selbstbestimmungsrecht des Deutschen Volkes in Gestalt der völkerrechtlichen Souveränität Deutschlands aufzugeben.61 Mit der Garantie des Art. 79 Abs. 3 GG werde die Verfügung über die Identität der Verfassung selbst dem verfassungsändernden Gesetzgeber aus der Hand genommen. Die souveräne Staatlichkeit Deutschlands werde daher vom Grundgesetz nicht nur vorausgesetzt, sondern auch garantiert.62 Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG verdeutliche, dass dieser Mindeststand im Sinne des Art. 79 Abs. 3 GG auch durch die Einbindung Deutschlands in überstaatliche Strukturen nicht unterschritten werden dürfe.63 b) Einhaltung demokratischer Grundsätze Darüber hinaus verlangt das Bundesverfassungsgericht, dass die Europäische Union nicht nur den Anforderungen an ihre elementaren Strukturen, sondern darüber hinausgehend in ihrer Ausgestaltung im Hinblick auf übertragene Hoheitsrechte, Organe und Entscheidungsverfahren demokratischen Grundsätzen entsprechen muss.64 Die konkreten Anforderungen an die von der Europäischen Union einzuhaltenden, demokratischen Grundsätze hängen dabei vom Umfang der übertragenen Hoheitsrechte und vom Grad der Verselbständigung europäischer Entscheidungsverfahren ab.65 Solange die Integration in einem Verbund souveräner Staaten mit ausgeprägten Zügen exekutiver und gouvernementaler Zusammenarbeit das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung wahrt, reicht dazu grundsätzlich die über die nationalen Parlamente und Regierungen vermittelte Legitimation der Mitgliedstaaten aus, die ergänzt und abgestützt wird durch das unmittelbar gewählte Europäische Parlament.66 Dagegen liegt ein nicht hinnehmbares strukturelles Demokratiedefizit vor, wenn der Kompetenzumfang, die politische Gestaltungsmacht und der Grad an selbständiger Willensbildung der Unionsorgane ein der Bundes60

BVerfGE 123, 267 ff. BVerfGE 123, 267 (347, 404). 62 BVerfGE 123, 267 (343). 63 BVerfGE 123, 267 (348). 64 BVerfGE 123, 267 (363 f.). 65 BVerfGE 123, 267 (363 f.). 66 BVerfGE 123, 267 (364). 61

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ebene im föderalen Staat entsprechendes staatsanaloges Niveau erreichte, weil etwa die für die demokratische Selbstbestimmung wesentlichen Gesetzgebungszuständigkeiten überwiegend auf der Unionsebene ausgeübt würden.67 3. Kritik am Bundesverfassungsgericht: Staatsvorstellung der Staatsrechtslehre des 19. Jahrhunderts Das Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts und dessen Begründung sind auf zum Teil erhebliche Kritik gestoßen.68 Das Verbot der Preisgabe der souveränen Staatlichkeit wird bereits seit längerem streitig diskutiert, und die Annahme einer verfassungsrechtlichen Pflicht zum Erhalt der Eigenstaatlichkeit auch gegenüber der europäischen Integration hat in der Literatur nicht nur Zustimmung,69 sondern auch Kritik erfahren.70 Die in der wissenschaftlichen Debatte bereits formulierten Einwände werden daher auch gegen die entsprechenden Passagen des Lissabon-Urteils gerichtet; das Urteil beruhe insoweit auf einer Staatsvorstellung der konstitutionellen Staatsrechtslehre des 19. Jahrhunderts.71 4. Rückgriff auf die Überlegungen Preuß’ Vor diesem Hintergrund soll zur Ausgangsfrage zurückgekehrt werden: Kann man aus der Verfassungsgeschichte lernen? Können die Antworten Preuß’ den aktuellen Fragen nach den Grenzen der europäischen Integration sinnvoll, also erkenntnisbringend zugeordnet werden?

67

BVerfGE 123, 267 (364 f.). Dazu nur Schönberger, GLJ 10 (2009), S. 1201 ff.; ders., Der Staat 48 (2009), S. 535 ff.; Halberstam/Möllers, GLJ 10 (2009), S. 1241 ff.; Tomuschat, GLJ 10 (2009), S. 1259 ff.; Grosser, GLJ 10 (2009), S. 1263 ff.; Ruffert, DVBl. 2009, S. 1197 ff.; Hector, ZEuS 12 (2009), S. 599 ff.; Selmayr, ZEuS 12 (2009), S. 637 ff.; Classen, JZ 2009, 881 ff.; Everling, EuR 2010, 91 ff. 69 Schilling, AöR 116 (1991), S. 32, 54 f.; Kirchhof, HStR VII, 1992, § 183 Rn. 58 ff.; Herdegen, EuGRZ 1992, 589 (590); Randelzhofer, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 24 (Dezember 1992) Rn. 204; Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 23 (Oktober 2009) Rn. 204; Streinz, in: M. Sachs (Hrsg.), GG, 6. Aufl., 2011, Art. 23 Rn. 93; Uerpmann-Wittzack, in: Münch/Kunig (Hrsg.), Band 2, 6. Aufl., 2012, Art. 23 Rn. 7. 70 Bryde, in: Münch/Kunig, GG, Band 2, 6. Auflage, 2012, Art. 79 Rn. 53; Pernice, in: Dreier (Hrsg.), GG, Band II, 2. Auflage, 2006, Art. 23 Rn. 36; Classen, in: Mangoldt/Klein/ Starck (Hrsg.), GG, Band II, 2. Auflage, 2006, Art. 24 Rn. 29; Hobe, in: Friauf/Höfling (Hrsg.), Berliner Kommentar, Art. 23 (August 2008) Rn. 53. 71 Vgl. Jestaedt, Der Staat 48 (2009), S. 467 (505 ff.); Röper, DÖV 2010, 285 ff. Kritisch wohl auch Grimm, Der Staat 48 (2009), S. 475 (489 f.). 68

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a) Mehrstufiger Aufbau mit Selbstregierung der Einheiten Im Grundsatz kann der Ansatz von Preuß auf die Frage nach den verfassungsrechtlichen Grenzen der europäischen Integration übertragen werden. Die von Preuß zu Grunde gelegte Mehrstufigkeit des staatlichen Aufbaus, die mit dem Grundgedanken der demokratischen Selbstregierung jeder Einheit verbunden ist, kann als Ausgangspunkt einer modernen demokratischen Pluralismustheorie verstanden werden.72 Wenn und soweit die einzelnen Einheiten sich selbst regierende und demokratisch legitimierte Verbände sind, können sie zu einem System zusammengefügt werden, das sowohl den kleineren als auch den größeren Einheiten eigenständige Kompetenzen und Legitimationen zuordnet. Das Mehrebenenprinzip des Genossenschaftsdenkens Preuß’ eignet sich insoweit dazu, supranationale Integrationsvorgänge zu erfassen und abzubilden.73 b) Historisch-werkimmanente Grenzen einer Deutung als moderner Verbändepluralismus Eine allgemeine und umfassende Deutung des Ansatzes von Preuß als Ur- oder Frühform eines modernen Verbändepluralismus74 stößt allerdings auf Grenzen. Diese Grenzen sind zum einen historisch bedingter, werkimmanenter Art.75 Die Staats- und Demokratietheorie von Preuß baute zwar auf den Beobachtungen gesellschaftlicher Heterogenität und Ausdifferenzierung auf. Allerdings waren seine Überlegungen nicht auf politische bzw. bürgerschaftliche Verbände, sondern auf die öffentlich-rechtlichen Gliedkörperschaften im Rahmen der Reichsverfassung ausgerichtet. In der Konsequenz blieb sein Ansatz deshalb darauf beschränkt, die Verwaltungsebenen des Staates zu analysieren und gegenüber der Zentralebene in der Legitimation stützen zu können. Andere, nicht gewachsene und nicht weiter verfasste Verbände und private Interessengruppen blieben bei seinen Betrachtungen außen vor, weshalb der Ansatz von Preuß nur sehr eingeschränkt als Vorläufer oder gar Frühform eines modernen Pluralismus angesehen werden kann. Zugleich muss aber festgestellt werden, dass diese Einschränkung im hier untersuchten Kontext nicht weiter wesentlich ist. Die Fragen des Verhältnisses zwischen Europäischer Union und Mitgliedstaaten, insbesondere die nach den verfassungsrechtlichen Grenzen der Integration, betrifft das Verhältnis öffentlich-recht72

So Lehnert, in: ders./Megerle (Hrsg.), Pluralismus als Verfassungs- und Gesellschaftsmodell, 1993, S. 11, 23, 25; Schefold, in: Hugo Preuß, Gesammelte Schriften, Band 2, 2009, S. 1, 22; Voßkuhle, Der Staat 50 (2011), S. 251 (260). 73 In diese Richtung Schefold, in: Heinrichs/Franzki/Schmalz/Stolleis (Hrsg.), Deutsche Juristen jüdischer Herkunft, 1993, S. 429, 440; Voßkuhle, Der Staat 50 (2011), S. 251 (259). 74 In diese Richtung vor allem Lehnert, PVS 33 (1992), S. 33, 39. Wohl auch Graßmann, Hugo Preuß und die deutsche Selbstverwaltung, 1965, S. 25. 75 Zum Folgenden grundlegend Groh, Demokratische Staatsrechtslehrer in der Weimarer Republik, 2010, S. 257 ff. m.w.N.

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lich verfasster Einheiten zueinander. Ob und wieweit der Ansatz von Preuß darüber hinaus auch andere, nicht öffentlich-rechtliche Verbände zu erfassen vermag, ist deshalb für diese Fragen unmittelbar nicht relevant. Der aus Sicht der modernen Pluralismustheorie anschlussfähige Teil des Ansatzes von Preuß, die Dekonstruktion der – zeitgenössischen – Souveränitätsvorstellung,76 ist dagegen für die Fragen der europäischen Integration weiterhin relevant. c) Grenzen durch den geänderten Kontext Zum anderen ist bei der Fruchtbarmachung der Überlegungen Preuß’ für die aktuelle Debatte auch der geänderte Kontext zu beachten. Weggefallen ist insbesondere das demokratische Defizit der staatlichen Ebene. Die Bundesrepublik ist ein demokratischer Staat, weshalb die demokratische Unterfütterung der Souveränitätskritik an der übergeordneten Exekutivebene, die in Bezug auf das Bismarckreich noch treffend war, insoweit ins Leere gehen muss. d) Identische Grundfrage: Souveränität und Legitimation Allerdings hat die demokratietheoretisch aufgeladene Kritik an der übergeordneten Ebene sich in der aktuellen Debatte nicht erledigt; vielmehr hat sie mit der Europäischen Union einen neuen Bezugspunkt gefunden. Die Europäische Union als Bezugspunkt der Debatte über Souveränität und Demokratie bewirkt nun eine Umkehrung der demokratisch-legitimatorischen Vorzeichen: Während Preuß die unteren Ebenen des Staates gerade aus der Sicht der demokratischen Legitimation bzw. Mitwirkung der Bürger stärken wollte und deshalb das Konzept der Souveränität des Reiches als Gesamt- bzw. obere Ebene in Frage stellte, ohne aber dessen demokratische Legitimation unmittelbar anzugreifen, wird in Bezug auf die Europäische Union die demokratische Legitimation der unteren Einheiten, konkret der Mitgliedstaaten, nicht in Frage gestellt, sondern eher gefragt, ob die Betonung deren Souveränität angesichts der Möglichkeiten und Grenzen europäischer Demokratie zutreffend ist. Hintergrund dieser Entwicklung ist die besondere Stellung der Europäischen Union und deren Verhältnis zu den Mitgliedstaaten. Diese Besonderheit besteht in der Übertragung von nationalen Hoheitsrechten auf europäische Organe zur eigenständigen Ausübung. Die Union kann in den übertragenen Bereichen eigenes Recht setzen, das die Bürger in den Mitgliedstaaten unmittelbar berechtigt und verpflichtet und das dem nationalen Recht vorgeht.77 In dem Maß, in dem sie dies tut, stellt sich die Frage nach der nötigen demokratischen Legitimation. Die Union tritt partiell an die Stelle der demokratisch legitimierten Mitgliedstaaten; ihre Tä76

Dazu Groh, Demokratische Staatsrechtslehrer in der Weimarer Republik, 2010, S. 260 ff. EuGH, Rs. 26/62, Slg. 1963, 1, 24 f. – Van Gend & Loos; Rs. 6/64, Slg. 1964, 1251, 1269 f. – Costa/ENEL; Rs. 106/77, Slg. 1978, 629, 643 ff. – Simmenthal. 77

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tigkeiten müssen daher gleichfalls demokratisch legitimiert sein. Dies geschieht über zwei Legitimationsstränge: einen nationalen und einen europäischen. Zum einen legitimieren die Bürger als nationale Staatsvölker über ihre Parlamente und Regierungen den Rat, der aus Ministern der nationalen Regierungen besteht. Zum anderen wählen die Bürger als Unionsbürger das Europäische Parlament. Rat und Parlament setzen dann gemeinsam die Kommission ein. In diesem föderalen Geflecht demokratisch legitimierter und legitimierender Einheiten kann alleine mit dem Begriff der Souveränität wenig erreicht werden. Vielmehr ist dieser rückzubeziehen auf das dahinter stehende Prinzip der demokratischen Legitimation. Dementsprechend ist zu fragen, ob und welche Grenzen das Erfordernis der demokratischen Legitimation der europäischen Integration setzt. Der Begriff der Souveränität behält damit seine Bedeutung und seine mögliche Eigenschaft als Rechtsbegriff auch für föderale Systeme, ist aber auf die zu legitimierenden Befugnisse, die Mechanismen und Voraussetzungen demokratischer Legitimation sowie den Träger dieser Legitimation zu beziehen, und kann nicht gegen sie verselbständigt oder gar ausgespielt werden. Auch diesen Zusammenhang hatte Preuß bereits erkannt. Er hatte frühzeitig darauf hingewiesen, dass demokratische Einheiten auf gesellschaftliche Akteure angewiesen sind, die das Gemeinwohl bestimmen, was durch demokratische Wahlen und Abstimmungen sowie durch die Mitwirkung autonomer Gruppen geschehen sollte.78 Unter letzterem wurden dann vor allem die politischen Parteien verstanden, die bei Preuß eine zentrale Rolle für die Bestimmung des Gemeinwohls in der öffentlichen Diskussion, die zur politischen Willensbildung hinführt, einnahmen.79 Auch diese Überlegungen finden in der Debatte über die europäische Integration einen Widerhall. Bei genauerem Studium des Lissabon-Urteils zeigt sich, dass auch das Bundesverfassungsgericht den Weg geht, nach den demokratischen Grenzen der Integration zu fragen. Die Souveränität Deutschlands wird im Urteil demokratisch konstruiert und aufgeladen. Demokratische Legitimation wird auf bestimmte Voraussetzungen und Bedingungen zurückgeführt, und aus diesen werden dann Grenzen der Integration abgeleitet. Unter anderem erfordert das Demokratieprinzip nach Ansicht des Gerichts, dass Deutschland auch als Mitglied der Union ein ausreichender Raum zur nationalen Gestaltung der Lebensverhältnisse bleiben muss;80 dieser Gestaltungsraum wird als demokratischer Primärraum bezeichnet.81 In diesem Raum werden dann in einem weiteren Schritt integrationsfeste Bereiche ausgemacht.82 Nach Ansicht des Gerichts ist in diesen Bereichen die Übertragung von

78 Dazu Lehnert/Müller, in: dies. (Hrsg.), Vom Untertanenverband zur Bürgergenossenschaft, 2003, S. 11, 27. 79 Dazu näher Voßkuhle, Der Staat 50 (2011), S. 251 (260 ff.) m.N. 80 BVerfGE 123, 267 (357 f.). 81 BVerfGE 123, 267 (411). 82 BVerfGE 123, 267 (358 ff.).

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Hoheitsrechten auf die Europäische Union zwar nicht ausgeschlossen.83 Die Integration ist aber sachlich zu beschränken auf das zur Koordinierung grenzüberschreitender Sachverhalte nötige Maß.84 Ob und wieweit die einzelnen Ableitungen integrationsfester Bereiche im Einzelnen überzeugen, soll hier nicht weiter diskutiert werden.85 Der Grundsatz, aus den Erfordernissen und Bedingungen effektiver demokratischer Legitimation Grenzen der Integration abzuleiten, ist aber zutreffend. Denn Demokratie ist als Legitimationsmodus der organisierten Selbstherrschaft der Bürger zentral darauf angewiesen, dass die Herrschaft der Mehrheit grundsätzlich auch von der Minderheit akzeptiert wird. Voraussetzung dieser realen Akzeptanz ist ein die Mehrheit und Minderheit einfassender gemeinsamer Rahmen, der aus den Erfahrungen und Werten der Bürger gebildet wird. Erst dieses Mindestmaß an prinzipieller Einigkeit sichert die Bereitschaft der Bürger zur Reflexion und Transzendierung des eigenen Interessenhorizontes, auf die eine demokratische öffentliche Diskussion aufbaut, und die der aus Wahlen hervorgehenden Mehrheitsentscheidung die Akzeptanz sichert.86 Diesen Überlegungen entsprechend hat auch das Bundesverfassungsgericht sich in der Lissabon-Entscheidung deutlich für ein materiales Demokratieverständnis ausgesprochen. Demokratie erschöpfe sich nicht in der Wahrung formaler Organisationsprinzipien. Demokratie lebe von und in einer öffentlichen Meinungsbildung, die sich auf zentrale politische Richtungsbestimmungen und die periodisch erfolgende Vergabe politischer Spitzenämter im Wettbewerb von Regierung und Opposition konzentriere. Diese öffentliche Meinung mache für Wahlen und Abstimmungen erst die Alternativen sichtbar und rufe diese fortlaufend in Erinnerung, damit die politische Willensbildung des Volkes über die Parteien und im öffentlichen Informationsraum präsent und wirksam bliebe. Die für eine entsprechende Wahrnehmung von Sachthemen und politischem Führungspersonal erforderlichen Resonanzräume seien in erheblichem Umfang an nationalstaatliche, sprachliche, historische und kulturelle Identifikationsmuster angeschlossen. Sie beruhten auf gewachsenen Überzeugungen und Wertvorstellungen, die in spezifischen historischen Traditionen und Erfahrungen verwurzelt seien.

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BVerfGE 123, 267 (359). BVerfGE 123, 267 (359, 361, 362 f.). 85 Dazu näher Britz, EuR 2010, Beiheft 1, S. 151 ff.; Grzeszick, in: Axer/Grzeszick/Kahl/ Mager/Reimer (Hrsg.), Das Europäische Verwaltungsrecht in der Konsolidierungsphase, Die Verwaltung, Beiheft 10, 2010, S. 95, 107 ff. 86 In diese Richtung u. a. Volkmann, AöR 127 (2002), S. 575, 602 ff. sowie Möllers, Demokratie – Zumutungen und Versprechen, 2. Auflage, 2009, S. 48 ff.; gegenläufig u. a. Britz, Sonderheft EuR 2010, S. 151 (163 ff., 167 f.). 84

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V. Verfassungsgeschichte als Speicher von Grundfragen und -antworten Nach alledem: Können den Überlegungen von Preuß Erkenntnisse oder Anregungen für die Debatte über die europäische Integration entnommen werden? Auf den ersten Blick ist dies eher abzulehnen, da Art und Weise, insbesondere Umfang, Intensität und Dynamik der europäischen Integration sich von anderen föderalen Verbindungen erheblich unterscheiden und sicher so keinesfalls vorhersehbar waren. Die Grundlagen des Preuß’schen Ansatzes sind aber durchaus in der Lage, Bausteine und Erklärungsmuster für eine Staatstheorie zu liefern, die die staatliche Souveränität öffnet für die europäische Integration. Allerdings ist die Öffnung nach Preuß – und auch nach der Position des Bundesverfassungsgerichts – voraussetzungsvoll und insoweit beschränkt: Es muss sichergestellt sein, dass Hoheitsmacht von den der Hoheitsmacht unterworfenen Bürgern hinreichend demokratisch legitimiert wird. Das von Preuß in der Diskussion um den Charakter des Bismarckreiches gegen die postulierte Souveränität des Gesamtstaates angeführte Argument, dass Souveränität die demokratisch-genossenschaftliche Substanz der übrigen Gebietskörperschaften nicht entleeren dürfe, ist insoweit auf die Debatte über die Europäische Union übertragbar: Die Integration darf nicht dazu führen, dass die demokratische Substanz der Mitgliedstaaten entleert wird. Insoweit nehmen Methode und Inhalt der Preuß’schen Habilitationsschrift aus dem Jahr 1889 Wandlungen in der Verfassungsstaatlichkeit vorweg, die die Staatsrechtslehre bis zur Gegenwart beschäftigen.87 Schließlich findet der Vorwurf an das Bundesverfassungsgericht, sich mit seinen Vorstellungen zur Europäischen Integration inhaltlich an der Staatsrechtslehre des 19. Jahrhunderts zu orientieren, eine Bestätigung – allerdings auf ungeahnte Weise. Denn das Gericht ist den Gründen seiner Position nach inhaltlich nicht an der damals vorherrschenden Souveränitätsansicht orientiert, sondern an der Ansicht eines zeitgenössischen Außenseiters, der den abstrakten und vom Kontext losgelösten Souveränitätsvorstellungen mit der Frage nach der Legitimation von Herrschaft entgegentrat und damit einer Überhöhung der Souveränität entgegenwirken wollte. Der Blick auf die Verfassungsgeschichte vermag daher dafür zu sensibilisieren, dass die Frage nach der Legitimation staatlicher Herrschaft eine Grundfrage ist, die zwar in anderen Formen und Kontexten auftaucht, aber stets zu beantworten ist. Verfassungsgeschichte liefert deshalb zwar meist nicht die Antwort auf aktuelle Fragen, vermag aber für die Bedeutung sowie die mehr oder weniger starke Ausprägung der Kontextabhängigkeit der Grundfragen von Staat und Recht zu sensibilisieren. Aus dieser Sicht erweist sich die Verfassungsgeschichte – wie auch die 87 Schefold, in: Heinrichs/Franzki/Schmalz/Stolleis (Hrsg.), Deutsche Juristen jüdischer Herkunft, 1993, S. 429, 437.

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anderen Grundlagenfächer – als ein Speicher von grundlegenden Fragen und Antworten an die und der Rechtswissenschaft.

Die Bundesversammlung – Ein unterschätztes Verfassungsorgan Von Wolfgang Jäger, Freiburg Welcher Bürger wusste in den ersten 60 Jahren der Bundesrepublik Deutschland mit dem Begriff „Bundesversammlung“ schon etwas anzufangen? Alle fünf Jahre trat dieses oberste Verfassungsorgan als Kreationsorgan für die Wahl des Bundespräsidenten zusammen, löste sich dann wieder auf und geriet in Vergessenheit. Erst seit 2009, nachdem die Bundesversammlung in drei Jahren gleich dreimal – in unterschiedlicher Zusammensetzung – tagen und wählen musste, erlangte dieses Verfassungsorgan einen gewissen Bekanntheitsgrad. Es lohnt sich auch heute noch, die ernsthafte Debatte des Parlamentarischen Rates über den Modus der Wahl des Bundespräsidenten nachzulesen.1 Eine Direktwahl durch das Volk wurde von vorneherein nicht zuletzt mit dem Hinweis auf die geringen Kompetenzen des Bundespräsidenten und die Erfahrungen der Weimarer Republik ausgeschlossen. Im Mittelpunkt stand, wenig überraschend, das Verhältnis von Bund und Ländern. Sollten in den vorgesehenen Wahlgremien die Abgeordneten des Bundestages und die Mitglieder des Bundesrates vertreten sein? Sollten die Institutionen Bundestag und Bundesrat gleichgewichtig entscheiden? Sollte das Volk von den Abgeordneten des Bundestages und gleich vielen Vertretern der Länderebene vertreten werden oder aber: Sollte außerdem auch noch der Bundesrat zustimmen müssen? Gerade an der Debatte über die letzte Variante, die im Hauptausschuss des Parlamentarischen Rates von Hans-Christoph Seebohm (DP), Vertreter des Landes Niedersachsen und später langjähriger Bundesverkehrsminister, vorgetragen wurde, lässt sich das Ringen um den institutionellen Stellenwert der Bundesversammlung ablesen. Gegen Seebohms Vorschlag, dass der von der Bundesversammlung gewählte Bundespräsident noch „eine besondere Vertrauenserklärung durch den Bundesrat“ erhalten müsse, wandten sich vor allem Theodor Heuss (FDP) und der Vorsitzende des Hauptausschusses, Carlo Schmid (SPD). Heuss stellte die Frage, was eigentlich passiere, wenn der Bundesrat dem Bundespräsidenten nicht das Vertrauen ausspreche, ihm also eine „Art moralischer Deklaration“ versage.2 Am eindringlichsten argumentierte der Vorsitzende Schmid gegen Seebohms Vorschlag. Das „Vertrauen“ 1 Ausführlicher dazu die von Thomas Würtenberger betreute Dissertation von Braun, Die Bundesversammlung, 1993, 65 ff. 2 Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949. Akten und Protokolle, Bd. 14/1, 2009, 288.

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spreche man nur einer Regierung aus, der das Vertrauen auch wieder entzogen werden könne. Seebohm wolle „den Bundesrat praktisch zum Zensor der Bundesversammlung“ machen. Und hier wird Carlo Schmid geradezu pathetisch: „der Bundesversammlung, also der höchsten Gesamtvertretung des deutschen Volkes überhaupt, des deutschen Volkes in seiner schlichten Einheit und in seiner reichen Gliederung in Länder“. Schmid sieht die Gefahr, dass ein auf solche Weise, also mit Zustimmung des Bundesrats gewählter Bundespräsident, „oft ein Konzessionsschulze“, eine „Verlegenheitslösung“ sein würde. „Ein solcher Mann würde nicht die Autorität haben, die er braucht. Gerade die Wahl eines Bundespräsidenten ist, um ein Wort aus dem alten deutschen Reichsrecht zu nehmen, eine ,Kür‘, nicht eine Wahl im beliebigen Sinn des Wortes. Der Bundespräsident muss durch einen einmaligen Gesamtakt, der alle Elemente der Spontaneität in sich tragen muss, ,gekürt‘ werden. Darin liegt seine wahre Autorität. Wenn sich an diesen Akt ein zweiter Akt anschlösse, etwa die Genehmigung dieser Kür durch den Bundesrat, würde ein Element in den Vorgang gebracht, das der Würde der Institution notwendigerweise Abbruch tun müsste“.3 Nirgendwo wird der Rang der Bundesversammlung, die zunächst auch als „Nationalkonvent“4 bezeichnet wurde, schöner beschrieben als in diesen Worten von Carlo Schmid, der selbst – allerdings erfolglos – im Jahre 1959 für die SPD gegen den Christdemokraten Heinrich Lübke für das Amt des Bundespräsidenten kandidierte. Es stellt sich die Frage, warum die einzigartige Verfassungsinstitution Bundesversammlung so wenig gewürdigt und heute vielfach die Direktwahl des Bundespräsidenten gefordert wird – beispielsweise auch von Horst Köhler am Ende seiner ersten Amtszeit. Ein wesentlicher Grund ist wohl die parteipolitische Prägung der Bundespräsidentenkür. Während im Parlamentarischen Rat die „neutrale Gewalt“ (pouvoir neutre) des Bundespräsidenten5 stark betont wurde, diese also in der Sphäre der Überparteilichkeit schwebte, fügte sich seine Wahl von vorneherein in das parteipolitische Ringen um die Macht im Staate ein. Schon die erste Bundespräsidentenwahl war Teil der ersten Regierungsbildung der neugegründeten Bundesrepublik Deutschland. Konrad Adenauer, der eine kleine Koalition mit den Liberalen anstrebte gegen den Widerstand starker Kräfte in seiner Partei, die eine Große Koalition mit der SPD favorisierten, bot dem FDP-Vorsitzenden Theodor Heuss das Amt des Bundespräsidenten an. Die Gegenkandidatur des SPD-Vorsitzenden Kurt Schumacher unterstrich die parteipolitische Ausrichtung dieser Wahl. Schumacher, der sich wie Adenauer für eine klare Trennung von Regierung und Opposition entschieden hatte, wollte mit seiner polarisierenden Kandidatur nämlich eine „parteienübergreifende Sammelkandidatur für das Amt des Bundesprä-

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Parlamentarischer Rat (Fußn. 2), 290. Zum Beispiel von Dr. Greve (SPD); vgl. Parlamentarischer Rat (Fußn. 2), 289. 5 Vgl. auch Schmid, Erinnerungen, 1979, 383.

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sidenten“ verhindern, „aus der sich dann eine große Koalition entwickeln könnte“.6 Damit schmiedete er erst die Mehrheit für Heuss zusammen. Schumacher hatte zunächst durchaus an ein „pouvoir neutre“, an eine überparteiliche Persönlichkeit gedacht. In den Worten seines Biographen: „den Gedanken jedoch, dass ein ,gemäßigter‘ Sozialdemokrat die Gesetze einer von der SPD erbittert bekämpften Wirtschaftspolitik unterzeichnen könnte, findet er geradezu pervers. Ein Sozialdemokrat an der Spitze des Staates als Feigenblatt für den Kanzler einer besitzbürgerlichen Koalition, muss dies in einem demokratieentwöhnten Volk ohne Verständnis für die Rolle und Bedeutung von demokratischen Institutionen nicht zu Verwirrung führen?“7 Die koalitionspolitische Weichenstellung der Bundespräsidentenwahl war nicht unumstritten. Der große Mann des Parlamentarischen Rates, der Vorsitzende des Hauptausschusses Carlo Schmid (SPD), sah darin geradezu einen „Verfassungsbruch“, ähnlich Gebhard Müller (CDU), Staatspräsident von Württemberg-Hohenzollern.8 Noch kritikwürdiger waren im Jahr 1959 die Diskussion und der Entscheidungsprozess über die Nachfolge von Theodor Heuss: die „Präsidentschaftsposse“9, die sich ja eigentlich weniger um die Bundespräsidentenkür als um das Ende bzw. die Nachfolge der Kanzlerschaft Adenauers drehte. Die Wahl von Adenauers „Ersatzmann“ Heinrich Lübke10 sollte sich erst später, vor allem bei seiner auch von der SPD wegen Lübkes Vorliebe für die Große Koalition mitgetragenen Wiederwahl, als koalitionspolitisches Signal erweisen.11 Es waren sogar die Sozialdemokraten, die unter dem Einfluss von Herbert Wehner vorpreschten und die in der Wiederwahlfrage zerstrittene Union vor sich her trieben. Da die Liberalen Lübkes Wiederwahl ablehnten und die Union allein nicht über die Mehrheit in der Bundesversammlung verfügte, bedurfte Lübke für seine Wiederwahl einer „großen Koalition“.12 Von großer Symbolkraft war 1969 die Wahl des Sozialdemokraten Gustav Heinemann zum Bundespräsidenten mit Hilfe der Liberalen – die Fanfare für die Bildung der sozial-liberalen Koalition einige Monate später. Der neugewählte Bundespräsident selbst sprach nicht nur von einem „Machtwechsel“, sondern charakterisierte die vergangenen beiden Jahrzehnte in einer Weise, die nur als Kritik an den Unionsparteien interpretiert werden musste. „Der vom Grundgesetz vorgezeichnete Demokratisierungsprozess“ sei „nicht mit dem erforderlichen Schwung vorangetrieben worden“. Die CDU habe „mit dem Christlichen als Propagandainstrument in den 50er

6 Schwarz, Adenauer. Der Aufstieg: 1876 – 1952, 1986, 628. Ausführlicher noch Merseburger, Der schwierige Deutsche: Kurt Schumacher, 1995, 443 ff. 7 Merseburger (Fußn. 6), 449. 8 Schwarz (Fußn. 6), 627. 9 Schwarz, Adenauer. Der Staatsmann: 1952 – 1967, 1991, 502 ff. 10 Morsey, Heinrich Lübke, 1996, 254 ff. 11 Morsey (Fußn. 10), 391 ff. 12 Morsey (Fußn. 10), 396.

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Jahren viel Ungutes getan und sich viel Ungutes geleistet“.13 In seiner Einführungsrede nahm Heinemann wesentliche Gedanken der späteren Regierungserklärung von Willy Brandt vorweg: „Wir stehen erst am Anfang der ersten wirklich freiheitlichen Periode unserer Geschichte. Freiheitliche Demokratie muss endlich das Lebenselement unserer Gesellschaft werden. [… ] Nicht weniger, sondern mehr Demokratie – das ist die Forderung, das ist das große Ziel, dem wir uns alle und zumal die Jugend zu verschreiben haben“.14 Die Wahl von Walter Scheel 1974 als Nachfolger Heinemanns war eine Bestätigung der sozial-liberalen Regierung. Am deutlichsten kommt dies darin zum Ausdruck, dass eine der beiden Säulen der sozial-liberalen Koalition, der FDP-Vorsitzende, Vizekanzler und Außenminister, sich zur Wahl stellte. Scheel hebt noch heute (2012) hervor, dass es „wohl keinen ähnlich aktiven Realpolitiker“ gab, „der in das Amt des Bundespräsidenten gekommen ist“.15 Nicht viel weniger profiliert als aktiver Politiker war der 1979 zum Bundespräsidenten gewählte Karl Carstens. Bevor er 1976 Bundestagspräsident wurde, nahm er nämlich im Bundestag drei Jahre lang das Amt des scharfzüngigen und polarisierenden Oppositionsführers als Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion wahr. Als die Union, die in der Bundesversammlung über eine klare Mehrheit verfügte, ihn als Kandidaten nominierte und eine Wiederwahl Scheels unter Missachtung möglicher koalitionspolitischer Motive nicht unterstützte, begann von Seiten der Regierungsparteien eine regelrechte Schlammschlacht. Die sozial-liberale Koalition interpretierte Carstens’ Kandidatur als Signal einer konservativen Wende. Bundeskanzler Helmut Schmidt warf ihm vor, „die rechtskonservative Richtung unserer Gesellschaft zu repräsentieren“. Zum ersten Mal wurde ein Bundespräsident aus der Opposition heraus gewählt. Die Themen der Auseinandersetzung waren Carstens’ (ruhende) NSDAP-Mitgliedschaft und der Verdacht einer Falschaussage vor dem Guillaume-Ausschuss im Jahre 1974. Der Streit fand sein Ende, als bekannt wurde, dass auch der noch amtierende Bundespräsident Scheel (ruhendes) NSDAP-Mitglied gewesen war, und als Bundeskanzler Schmidt abwiegelte; schließlich musste er mit dem voraussichtlichen Staatsoberhaupt zusammenarbeiten.16 Karl Carstens erhielt im ersten Wahlgang die erforderliche Mehrheit der Stimmen. Gegenkandidatin war die Bundestagsvizepräsidentin Annemarie Renger (SPD). Das Gegenstück zu Carstens’ Nominierung war 1984 die Kandidatur Richard von Weizsäckers (CDU), die auch von der SPD mitgetragen wurde. Vorausgegangen war nicht ein Streit zwischen den Parteien, sondern ein recht lange währendes innerparteiliches Ringen der Union. Vor allem Helmut Kohl stemmte sich gegen eine Kan13

Gespräch Leo Bauers mit Gustav Heinemann, in: Die Neue Gesellschaft, Mai 1969, 7. Heinemann, Reden und Schriften, Bd. I, 1975, 16 f. Vgl. dazu Jäger, Wer regiert die Deutschen?, 1994, 142 f. 15 Interview mit Walter Scheel, in: Das Parlament, Nr. 11/12, 12. 3. 2012, 2. 16 Jäger, Die Innenpolitik der sozial-liberalen Koalition 1974 – 1982, in: Jäger/Link (Hg.), Republik im Wandel 1974 – 1982. Die Ära Schmidt, 127 ff.; Jäger (Fußn. 14), 156 f. 14

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didatur von Weizsäckers. Erst als der vom Bundeskanzler favorisierte niedersächsische Ministerpräsident Ernst Albrecht ablehnte und Kohl keinen anderen Kandidaten fand, schlug die Union den Berliner Regierenden Bürgermeister vor.17 Die Grünen stellten mit der Schriftstellerin Luise Rinser eine Gegenkandidatin auf. Weizsäcker wurde mit 80 Prozent der Stimmen der Bundesversammlung gewählt. Noch reibungsloser verlief seine Wiederwahl fünf Jahre später. Zum ersten und bisher einzigen Mal stand nur ein einziger Kandidat zur Wahl.18 Die Nachfolge von Weizsäckers löste dann wieder heftigen parteipolitischen Streit aus. Helmut Kohl nominierte den sächsischen Justizminister Steffen Heitmann, der jedoch mit unglücklichen Äußerungen zur multikulturellen Gesellschaft, zum Umgang mit der NS-Vergangenheit und zum Verständnis der Nation heftige Reaktionen in der Öffentlichkeit auslöste. Er warf schließlich das Handtuch. Da die Union in der Bundesversammlung nicht über die absolute Mehrheit verfügte und die FDP trotz ihrer Koalition mit der Union eine eigene Kandidatin, Hildegard Hamm-Brücher, aufstellte, brauchte sie einen konsensfähigen Kandidaten. Dieser wurde mit dem Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Roman Herzog, der als langjähriger Landesminister auch über politische Erfahrungen verfügte, gefunden. Er erzielte jedoch erst im dritten Wahlgang, nachdem die FDP-Kandidatin sich zurückgezogen hatte, die Mehrheit in der Bundesversammlung. Recht geräuschlos war 1999 die Wahl von Johannes Rau, den die SPD-Führung gleichsam als Kompensation für das Amt des nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten als Kandidaten vorschlug. Roman Herzog trat angesichts der Mehrheitsverhältnisse gar nicht mehr für eine zweite Amtszeit an. Anders wiederum waren fünf Jahre später die parteipolitischen Gewichte in der Bundesversammlung verteilt. Zusammen mit den Liberalen verfügte die Union wieder über die absolute Mehrheit. Die Bundeskanzlerin und CDU-Vorsitzende Angela Merkel hatte sich frühzeitig für den politisch nicht profilierten Direktor des IWF, Horst Köhler, und gegen den profilierten Parteipolitiker Wolfgang Schäuble entschieden. Der FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle unterstützte den Vorschlag Köhler mit Blick auf eine mögliche christlich-liberale Koalition. Die SPD nominierte die Präsidentin der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder), Gesine Schwan. Obgleich zum ersten Mal zwei Nicht-Politiker gegeneinander kandidierten, fand eine Art Wahlkampf statt. Auch diese Wahl war also parteipolitisch geprägt. Horst Köhler errang im ersten Wahlgang die notwendige Mehrheit. Dasselbe Kandidatenpaar stand sich 2009 wieder gegenüber und veranstaltete – ausgehend von Gesine Schwan – einen regelrechten Wahlkampf. Zum ersten Mal wurde ein amtierender Bundespräsident von der anderen Volkspartei herausgefor17 Interessant sind die unterschiedlich akzentuierten Berichte Weizsäckers und Kohls über den Prozess der Kandidatenfindung: Weizsäcker, Vier Zeiten. Erinnerungen, 1997, 193 ff.; Kohl, Erinnerungen 1982 – 1990, 2005, 244 ff. 18 Dokumente des Deutschen Bundestags zum Anlass der Wahl des Bundespräsidenten am 18. 3. 2012.

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dert, wenn auch nach internen Auseinandersetzungen der SPD. Mancher Analytiker sah dadurch das Amt sogar beschädigt.19 Nach dem überraschenden Rücktritt Köhlers im Jahr 2010 setzte Angela Merkel mit Christian Wulff wieder einen profilierten Parteipolitiker durch, der gegen den von der SPD und den Grünen nominierten Kandidaten, Joachim Gauck, Mühe hatte, eine absolute Mehrheit zu erringen. Sie wurde erst im dritten Wahlgang erreicht. Die Kandidatur und die Wahl des parteilosen Joachim Gauck nach dem Rücktritt Christian Wulffs 2012 waren nur scheinbar überparteilich. Das Verhalten der FDP, das die Bundeskanzlerin zur Annahme der von ihr abermals abgelehnten Kandidatur Gaucks zwang, wird zweifellos im Verhältnis von Union und FDP Spuren hinterlassen. Ansonsten dürfte das Signal von Gaucks Wahl die koalitionspolitische Offenheit der Parteien mit Ausnahme der Linken sein. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass alle Präsidentenwahlen mehr oder weniger parteipolitisch geprägt waren. Umso erstaunlicher ist die wenig parteipolitisch gefärbte Amtsführung der Präsidenten. Theodor Heuss wurden von Konrad Adenauer die verfassungsrechtlichen Grenzen des Amtes kanzlerdemokratisch nachgezogen. Die Versuche der Vollblutpolitiker Lübke und Scheel, ihre Spielräume auszuweiten, wurden von „ihren“ Bundeskanzlern rasch vereitelt. Und die folgenden Bundespräsidenten interpretierten ihre Kompetenzen auf eine Weise, dass sie mit der Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers nicht in Konflikt gerieten. Die meisten verstanden ihr Amt so, wie es Richard von Weizsäcker in seinen Erinnerungen formulierte: „Aufgabe des Präsidenten ist es, unabhängig und überparteilich Fragen zu stellen, Anregungen zu geben, den demokratischen Konsens zu fördern und vor allem zur langfristigen Orientierung in der Gesellschaft beizutragen.“20 Eine gewisse Ausnahme machte in den Jahren großer politischer Polarisierung Gustav Heinemann, der mit seiner Wahl auf den Machtwechsel und die demokratische Neugründung der Bundesrepublik abhob.21 Wie ist nun der Widerspruch zwischen der zumeist konflikt- und parteipolitisch geprägten Wahl und der überparteilichen Amtsführung zu erklären? Das Geheimnis liegt im Wesen der Bundesversammlung. Da sie parteipolitisch nur wenig zu disziplinieren ist, anders als eine Bundestagsfraktion, und auch dann nicht, wenn eine Partei über die Mehrheit verfügt, zwingt sie zur Mäßigung im Nominierungsprozess. Auch sehr profilierte Karrierepolitiker müssen mehrheits- bzw. konsensfähig sein. Das Risiko, dass selbst im eigenen Lager abweichende Stimmen abgegeben werden, ist hoch. Schließlich hängt nicht wie im Bundestag von der Mehrheit die Existenz der Regierung ab. Tatsächlich demonstrierten einige Zitterpartien, wie schwierig für einige Parteiführer die Mehrheitsbildung war. Immerhin wurde der Bundespräsident in 19

Gloe, Der Kampf um das höchste Amt im Staat. Die Wahl des Bundespräsidenten im Mai 2009, in: Gloe/Reinhardt (Hg.), Politikwissenschaft und Politische Bildung. Festschrift für Udo Kempf, 2010, 85 – 98. 20 Weizsäcker (Fußn. 17), 422. 21 Jäger (Fußn. 14), 142 ff.

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15 Bundesversammlungen in drei Fällen in zwei Wahlgängen und in ebenfalls drei Fällen erst im dritten Wahlgang gewählt, dabei einmal mit nur relativer Mehrheit (Heinemann). Diese Wahl war eine besonders markante Zitterpartie. Es ist bis heute bemerkenswert, wie die FDP-Spitze 1969 ihre Delegierten zugunsten des Sozialdemokraten Heinemann und nicht des Christdemokraten Gerhard Schröder überzeugen und zusammenschmieden musste.22 Schließlich ging es um eine Weichenstellung auf dem Wege zur sozial-liberalen Koalition. Jedes demokratische Gemeinwesen bedarf einer Balance von Konflikt und Konsens. Obgleich die Deutschen im politischen Prozess den Konflikt pflegen und kaum ein Thema ohne Streit diskutieren, lieben sie den Konflikt nicht. Daher wird Institutionen wie dem Bundesverfassungsgericht, das sich hinter den Kulissen intern auseinandersetzt und ex cathedra spricht, höchste Legitimität zugemessen. Dies gilt ebenso für den Bundespräsidenten. Hans-Peter Schwarz sieht einen Widerspruch zwischen der Konfliktbereitschaft und Polarisierung der Bürger einerseits und ihren Erwartungen andererseits, vom höchsten Repräsentanten „in vielen Grundsatzfragen, politischer, sozialer und wirtschaftlicher Ordnung bis hin zu diffizilen sozialethischen Problemen“ Orientierung zu erhalten. Er meint, dass man die „Eigentümlichkeiten unserer Bundespräsidentenwahlen, erst recht aber die Amtsführung der jeweils obsiegenden Bundespräsidenten nur dann angemessen“ verstehe, „wenn man auf die innere Spannung zwischen diesem verkappt monarchischen Element einerseits und dem demokratischen Gehalt der Präsidentschaft andererseits aufmerksam macht“. Die „Komponente des monarchischen Prinzips“ könne in einer „geistig oft öden politischen Landschaft“ durchaus reaktiviert werden.23 Aus der Perspektive eines notwendigen Gleichgewichts des politischen Systems erweist sich die Institution des Bundespräsidenten als ungemein wichtig. Nicht zuletzt die an Intensität nicht zu überbietende öffentliche Diskussion um Bundespräsident Wulff und seine Nachfolge ist dafür ein Indiz. Mir scheint, dass auch die Institution der Bundesversammlung angesichts dieser Bewertung unterschätzt wird. Die Bundesversammlung bildet eine Brücke zwischen Konflikt und Konsens. Der Zwang, den immer vorhandenen volatilen Teil der Mitglieder zu gewinnen, sorgt für Mäßigung bei der Kandidatenauswahl. Man denke an den Rückzug Heitmanns oder die Sensibilität (!) eines Helmut Kohl, der auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung um Karl Carstens dessen Nominierung – wie Carstens selbst in seinen Erinnerungen festhält – zurückziehen wollte.24 Die Bundesversammlung stellt zu den Institutionen der parlamentarischen Demokratie, die von Streit und Konflikt geprägt sind, einen Gegenpol dar, ja fast eine Reminiszenz an 22

Baring, Machtwechsel. Die Ära Brandt-Scheel, 1982, 113 ff. Schwarz, Von Heuss bis Herzog. Die Entwicklung des Amtes im Vergleich der Amtsinhaber, in: APuZ, B20/99, 3 – 13, hier 12 f. 24 Carstens, Erinnerungen und Erfahrungen, 1993. 23

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die romantische Idee des Parlamentarismus, die von der freien Abstimmung des Abgeordneten ausgeht. Allerdings fehlt in der Bundesversammlung das offene Räsonnement, der Austausch von Argumenten für und gegen eine Entscheidung. Aber in einem gewissen Ausmaß findet diese Diskussion ja im Vorfeld, insbesondere in der veröffentlichten Meinung, statt. Die Bundesversammlung ist die repräsentativste Institution unseres politischen Systems – ein wirklicher Nationalkonvent, in dem die politischen Kräfte der Zeit, nicht nur eines Moments, vertreten sind. Vielleicht sollte man erwägen, diese Institution auch für andere Aufgaben – beispielsweise für Verfassungsänderungen – aufzuwerten, unter Anreicherung mit einer diskursiven Funktion. Es wäre eine Alternative zum viel erörterten Plebiszit. Die Bundesversammlung würde einerseits eine breitere Legitimation liefern als der Bundestag und die Länderregierungen, andererseits die bekannten Nachteile von Volksabstimmungen ausschalten.

Verfassungstheorie als Referenz für Verfassungsanwendung, Verfassungsänderung und Verfassunggebung Von Matthias Jestaedt, Freiburg i. Br. I. Theorie als Praxisratgeber? Verfassungstheorie ist en vogue. Als solche zieht sie Hoffnungen und Erwartungen auf sich. Dies umso mehr, als sie gewissermaßen ein disziplinäres Unikat darstellt: Weder das Verwaltungsrecht noch das Privatrecht verfügen wie das Verfassungsrecht über eine eigene juridische Beobachterdisziplin mit dem Theorie-Suffix; selbst das notorisch theorieaffine, besser vielleicht: philosophiefreundliche Strafrecht kennt zwar Strafrechtstheorien im Plural, aber eigentlich nicht das disziplinäre Format der Strafrechtstheorie im Singular. Diese Sonderstellung wirft freilich auch Fragen auf. Einer dieser Fragen, nämlich jener nach dem praktischen Wert der Verfassungstheorie für das Verfassungshandwerk, sei im Folgenden nachgegangen. Darunter sei das rechtspraktische Hantieren mit Verfassungsrecht in seinen drei Erscheinungsweisen, der Anwendung von Verfassungsrecht, der (positiv)rechtlich gebundenen Setzung von Verfassungsrecht (der Verfassungsänderung) wie der (positiv)rechtlich ungebundenen Setzung von Verfassungsrecht (der Verfassunggebung), verstanden. Unsere Überlegungen müssen wir indes mit einer Enttäuschung beginnen: Wer sich von der Verfassungstheorie erhofft, sie könne auf Nachfrage der Verfassungspraxis eine glückende Verfassung liefern, wird rasch eines Besseren belehrt. Noch weniger ist die Verfassungstheorie eine Verfassungsgesetzgebungslehre, die die „road map“ einer glückenden Verfassunggebung schreibt. Schon auf sozusagen niedrigerem Niveau, d. h. bei Auslegung und Anwendung einer in Geltung stehenden Verfassung, überfordert jener die Verfassungstheorie, der ihr die Lösung konkreter Verfassungsrechtsfälle abverlangt. Das ist Sache und Zuständigkeit der Verfassungsdogmatik,1 nicht hingegen der Verfassungstheorie. Als Beobachterdisziplin ist sie gewissermaßen die falsche Adressatin für die Frage nach passgenauen praxisorientierenden Handlungsanweisungen; für die Aufgabe einer Teilnehmerdisziplin ist die Verfassungstheorie nicht gerüstet. Doch ist damit noch keine abschließende Antwort auf die Frage eines möglichen Beitrages der Verfassungstheorie zu Verfassungsanwen1 Näher zum hier zugrunde gelegten Verständnis von (Verfassungs-)Dogmatik: Matthias Jestaedt, Verfassungstheorie als Disziplin, in: Otto Depenheuer/Christoph Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, 2010, § 1 Rn. 13 ff., bes. 20 f. und 22 ff.

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dung, Verfassungsänderung und Verfassunggebung formuliert. In welche Richtung die Antwort zu suchen ist, kann ein Blick auf die vertrauteste, da alltäglichste Konstellation des Verfassungshandwerks, die Verfassungsanwendung, zeigen. Deren teilnehmerwissenschaftliche Bewältigung ist der Verfassungsdogmatik überantwortet. Für diese – die Dogmatik – aber kann die Verfassungstheorie sehr wohl einiges leisten. Sie ist deren spezifische Grundlagendisziplin, sie gibt der Verfassungsdogmatik sozusagen den Resonanzboden. Und als solche ist ihr Nutzen für die praktische Verfassungsarbeit, sprich: die Verfassungsanwendung eher von mittelbarem denn von unmittelbarem Wert. Lassen Sie uns sehen, ob sich das für die Verfassungsanwendung in nuce Erkannte auf die Verfassungserzeugung in ihren beiden Spielarten der Verfassungsänderung und der Verfassunggebung übertragen lässt.

II. Verfassungstheorie als multifunktionales Disziplincluster 1. Ungesicherter disziplinärer Status Doch bevor wir uns dieser Frage zuwenden können, bedarf es einiger Worte über Wesen und Wert der Verfassungstheorie. Dies gilt umso mehr, als die Verfassungstheorie alles andere als eine juridische Subdisziplin mit einem konsentierten, d. h. geklärten und gesicherten Status ist.2 Das einzig leidlich konsentierte ist: dass sie als disziplinäres Format überhaupt existiert. Wir haben es also nicht mit einem Wissenschaftsphantom zu tun. So weit, so gut. Bei jeder Folgefrage mehren sich indes die Unsicherheiten und/oder die Meinungsunterschiede. Auf die Verfassungstheorie passt jene Doppelfrage, mit der in jüngster Zeit in Deutschland ein populärphilosophisches Werk Furore gemacht hat: „Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?“3 Was genau verbirgt sich also hinter der Chiffre der „Verfassungstheorie“? Und lässt sich das, was zum Vorschein kommt, auf einen Nenner bringen? Oder fungiert die Verfassungstheorie als Kürzel für ein ganzes Bündel disziplinärer Perspektiven, sozusagen als Abbreviatur für ein Disziplincluster? Anders herum gefragt: Was macht das proprium der Verfassungstheorie aus? Was ist das Spezifische an ihr? Wo und wie lässt sich die Verfassungstheorie disziplinär – und das heißt: im Kreise der und in Bezug auf die anderen Wissenschaften – verorten? Gehört die Verfassungstheorie – um nur wenige Fragen aufzugreifen – als Subdisziplin zur Jurisprudenz oder zur Politikwissenschaft, ist sie gar Teil der Politischen Philosophie? Ist sie mit der älteren Allgemeinen Staatslehre identisch, und wie verhält sie sich zur Staatstheorie?4 Zielt ihre Arbeitsweise auf deskriptive oder aber auf prä2 Vgl. beispielsweise Peter Pernthaler, Allgemeine Staatslehre und Verfassungslehre, 2. Aufl. 1996, S. 27 f. Ebenso kennzeichnend für die Fragerichtungen wie diskursorientierend in den gegebenen Antworten: Martin Morlok, Was heißt und zu welchem Ende studiert man Verfassungstheorie?, 1988. 3 Richard David Precht, Wer bin ich – und wenn ja, wie viele? Eine philosophische Reise, München 2007. 4 Näher dazu: Jestaedt, Verfassungstheorie (o. Anm.1), § 1 Rn. 5 ff.

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skriptive Sätze? Fokussiert sie die reale, die geltende oder aber die ideale, nur gedachte Verfassung? Operiert sie verfassungsimmanent oder aber verfassungstranszendent? Gilt sie einer oder gilt sie allen Verfassungen? Für die arrivierte Schwester der Verfassungstheorie, nämlich die Verfassungsdogmatik als verfassungsbezogener Gebrauchsdisziplin, lassen sich die genannten Alternativen – zumindest ganz überwiegend – leicht und eindeutig entscheiden. Nicht so für die Verfassungstheorie. 2. Disziplinäre Erkennungszeichen der Verfassungstheorie Wenn wir uns von diesen Unsicherheiten nicht abschrecken lassen und genauer zusehen, lassen sich vielleicht doch erste disziplinäre Erkennungszeichen der Verfassungstheorie ausmachen. Damit könnte die erste der beiden Fragen – „Was bin ich?“ – wenigstens annäherungsweise und vorläufig beantwortet werden. Das böte die Grundlage, sich auch der zweiten Frage „… und wenn ja, wie viele?“ zuzuwenden. Ich denke, wenigstens vier Merkmale lassen sich – ganz überwiegend schon vom Begriff her – identifizieren, die in ihrem Ensemble das Spezifische der Verfassungstheorie ausmachen. a) Verfassungsorientierung Da ist zum ersten die Verfassungsorientierung. Gegenstand – obiectum quod – der Verfassungstheorie ist die Verfassung. Der Satz klingt einfach, birgt aber zahlreiche Untiefen. Etwa wäre hier der Frage nachzugehen, ob Verfassung notwendigerweise bezogen ist auf den Staat, oder ob auch in Bezug auf nicht-staatliche Träger öffentlicher Gewalt, auf Zusammenschlüsse von Staaten – zu denken wäre namentlich an die Europäische Union oder die Vereinten Nationen – gleichsinnig von Verfassung gesprochen werden dürfte.5 Des Weiteren wäre zu klären, welcher Verfassungsbegriff dem mit Konstitutionalisierung umschriebenen Phänomen zugrunde liegt. Doch mögen diese Begriff und Wesen der Verfassung problematisierenden Überlegungen zunächst zurückgestellt sein. b) Normwissenschaftliche Disziplin Das zweite Erkennungszeichen der Verfassungstheorie: Sie nähert sich der Verfassung aus normwissenschaftlicher Perspektive. Das bedeutet noch nicht, dass ihre Aussagen selbst normativ – also präskriptiv – zu verstehen sind oder verstanden werden müssen. Das bedeutet auch nicht, dass sie auf den Horizont des positiven Rechts beschränkt wäre. Das heißt zunächst „nur“, dass ihr Augenmerk der Verfassung als 5 Pars pro toto: Josef Isensee, Staat und Verfassung, in: ders./Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 3. Aufl. 2004, § 15 Rn. 1 ff., 177 ff.; ders., Die Staatlichkeit der Verfassung, in: Otto Depenheuer/Christoph Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, 2010, § 6 passim, bes. 44 ff. m. zahlr. Nachw.; Paul Kirchhof, Begriff und Kultur der Verfassung, in: Otto Depenheuer/Christoph Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, 2010, § 3, bes. Rn. 15 ff.

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normative Wirklichkeit, der Verfassung als Normzusammenhang gilt und nicht der Verfassung als historisches oder soziales oder auch sozialpsychisches Datum, welches sich mit empirischen Mitteln erheben lässt. Wie für die Verfassungsdogmatik, so bedeutet auch für die Verfassungstheorie Existenz der Norm primär deren Geltung6 – und nicht oder doch allenfalls sekundär die sozial-faktisch angestoßenen Motivations- und Steuerungszusammenhänge. Damit setzt sich die Verfassungstheorie nach der einen Seite hin von der Verfassungsgeschichte und nach der anderen Seite hin von der Verfassungssoziologie (und -psychologie) ab. c) Rechtswissenschaftliche Reflexionsdisziplin: „Theorie“ Sodann ist die Verfassungstheorie, drittens, „Theorie“. Das bedeutet (mindestens) zweierlei: Sie ist nicht Verfassungspraxis im Sinne der Erzeugung und Anwendung von Verfassung; und sie ist auch – anders als die Dogmatik, die ja just auf die Anleitung der Rechtsgewinnung zielt – nicht unmittelbar praxisbezogen. Sie ist insofern keine Teilnehmer-, sondern eine klassische Beobachter-, eine Reflexionsdisziplin.7 Mit Rücksicht auf die traditionelle Zweiteilung der juridischen Teildisziplinen in dogmatische und nicht-dogmatische, sprich: Grundlagenfächer, ist die Verfassungstheorie folglich eindeutig den Grundlagenfächern zuzurechnen. d) Die Verfassung hinter der Verfassung Damit im Zusammenhang steht ein weiteres, ein Viertes: Für die Verfassungsdogmatik steckt die in Geltung stehende Verfassung – sprich: die aktuelle positivrechtliche Verfassung – den Reflexionsrahmen ab. Gegenüber dem in Geltung stehenden Recht besitzt die Dogmatik weder Distanz noch Reserven. Sie fragt danach, was geltendes Verfassungsrecht und wie dieses anzuwenden ist, nicht hingegen danach, ob die bestehenden Verfassungsbestimmungen überhaupt vernünftig und legitim sind oder ob alternative Regelungen nicht problemangemessener erscheinen. Sie verhält sich der geltenden Verfassung gegenüber also strukturell affirmativ und habituell distanzlos. Anders die Verfassungstheorie. Ihr ist diese Positivitätsfixierung nicht eigen. Das positive Verfassungsrecht bildet für sie zwar regelmäßig den Ausgangs-, niemals aber den End- und Zielpunkt der Betrachtungen. Ihre Aufgabe ist es gerade, nicht bei den positivrechtlichen Regelungen stehen zu bleiben, diese vielmehr in ihrem Kontext und in ihrer Bedingtheit zu erkennen und zu bewerten. Die Verfassungstheorie arbeitet sich sozusagen an der Suprastruktur der positiven Verfassung(en) ab. Ihr geht es in diesem Sinne um die nicht-positivierte – oder meinetwegen auch: meta-positive – Verfassung „hinter“ der positivierten Verfassung.8 6

Richtungweisend zur Geltung als der spezifischen Existenz von Normen: Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. 1960, S. 7, 9 f., 22, 196, 215 u. ö. 7 Näher Jestaedt, Verfassungstheorie (o. Anm. 1), § 1 Rn. 10 ff., 26 f. 8 Monographisch ausgearbeitet in: Matthias Jestaedt, Die Verfassung hinter der Verfassung. Eine Standortbestimmung der Verfassungstheorie, 2009.

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e) Fazit: Verfassungsorientierte normwissenschaftliche Kontextualisierungsdisziplin Nimmt man die vier Erkennungszeichen zusammen, so lässt sich die Verfassungstheorie charakterisieren als eine verfassungsorientierte, normwissenschaftlich arbeitende Kontextualisierungsdisziplin. So viel lässt sich, bei aller gebotenen Kürze und damit bei aller damit einhergehenden Verkürzung, auf die Frage „Was bin ich?“ antworten. Will man das Vokabular der moderneren, nicht selten transatlantisch inspirierten Forschungsrichtungen aufgreifen, so ließe sich auch formulieren: Verfassungstheorie ist jene Disziplin, der es aus normwissenschaftlicher Sicht um „constitution in context“ geht. 3. Verfassungstheorie als hybrides disziplinäres Format Damit ist indes noch nichts oder doch nur sehr Undifferenziertes über den modus operandi der Verfassungstheorie, über ihre konkrete Fragerichtung, ihr genaues Erkenntnisinteresse gesagt. Sieht man hier näher zu, so wird man gewahr, dass Verfassungstheorie nicht nur ein – stets identisches – Erkenntnisinteresse bedient. Vielmehr werden unter dem disziplinären Dach der Verfassungstheorie unterschiedliche, zwar miteinander in Beziehung stehende, aber nicht ineinander überführbare Erkenntnisinteressen verfolgt. Mit gehöriger Vereinfachung lassen sich drei fundamentale Erkenntnisrichtungen unterscheiden. Jeder von ihnen lässt sich eine Frage zuordnen. a) Verfassungstheorie als Verstehenslehre Zunächst und – so viel kann vorweggenommen werden – auch zuvörderst verfolgt die Verfassungstheorie die Frage: Wie funktioniert Verfassung? Diese Grundfrage lässt sich in einer unabgeschlossenen Vielzahl von Unterfragen konkretisieren und variieren, wie etwa: Was hält die Vielzahl der im Verfassungsgesetz zusammengespannten Bestimmungen „im Innersten“ zusammen? Was macht sie zur materialen Einheit? Welches sind die Bauelemente und Baugesetze der Verfassung? Worin ist die Eigenrationalität der Verfassung zu erkennen? Was sind die für das Funktionieren der einzelnen Verfassungsrechtssätze notwendigerweise mitzudenkenden Suprastrukturen? Was ist, aus hermeneutischer Sicht formuliert, das Vorverständnis, mit dem man sich Auslegung und Anwendung der positivrechtlichen Verfassung nähern kann und gegebenenfalls sogar sollte? Verfassungstheorie hat hier einen stark analytischen, auf Beschreiben, und einen stark systematisierend-extrapolierenden, auf Erklären und Begreifen ausgerichteten Grundzug. Als Disziplin, die in besonderer Weise das Ganze der Verfassung im Blick hat, stellt sich ihr die Aufgabe, die Leitbilder der positivrechtlichen Verfassung zu (re)konstruieren und zu extrapolieren. In anderem Kontext habe ich die Verfassungstheorie insoweit als die Lehre von den Bewegungsgesetzen der Verfassung bezeich-

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net.9 Für unsere Zwecke scheint mir die Charakterisierung dieser Lesart der Verfassungstheorie als Verstehenslehre oder auch Kontextualisierungslehre einfacher und auch ausreichend. Und für die Hermeneutiker unter uns: Verfassungstheorie ist insoweit die Lehre vom Verfassungsvorverständnis. b) Verfassungstheorie als Rechtfertigungslehre Verfassungstheorie kann aber auch ganz anders fragen. Es ist nämlich das eine, dem Eigensinn und der Eigenfunktionalität einer bestimmten Verfassung nachzuspüren. Und es ist etwas davon deutlich zu Unterscheidendes, nach der Rechtfertigung, den für oder gegen diesen Eigensinn und diese Eigenfunktionalität sprechenden Gründen der Vernunft, der Politik, der Religion oder der Moral zu fragen. Hier wird die rechtsordnungsimmanente Perspektive verlassen und eine rechtsordnungstranszendente Position eingenommen. Hier wird gleichsam von außen auf die Verfassung geblickt. Man kann das auch anders ausdrücken: Hier wird die positivrechtliche – und insoweit reale – Verfassung an einer idealen Verfassung gemessen. Ist das verfassungsgesetzliche Grundsetting gemessen an der Idealverfassung überzeugend? Sind Grundanlage und Funktionsweise der geltenden Verfassung gerecht und vernünftig, freiheits- und gleichheitsfördernd, den sozialen Frieden sichernd und herstellend, ökologisch nachhaltig und ökonomisch zukunftsträchtig? Der Wert oder Unwert, die Legitimität oder Illegitimität von Verfassung kann auf diese Weise bestimmt werden. Die positivrechtliche Realverfassung wird kontrastiert mit der metapositiven Idealverfassung und erfährt durch diese ihre Rechtfertigung oder aber ihre Entwertung. Daher mag man diese Lesart der Verfassungstheorie auch als Rechtfertigungs- oder Kontrastierungslehre bezeichnen.10 Diese Lesart steht in enger Beziehung zu dem, was herkömmlich unter Rechts- und Staatsphilosophie verstanden wird. Man könnte die Verfassungstheorie daher insoweit auch als Verfassungsrechtsphilosophie bezeichnen. Nota bene: Wiewohl das positive Recht, hier: das Verfassungsrecht, an einem nicht-positivrechtlichen, in diesem Sinne außerrechtlichen Maßstab gemessen wird, handelt es sich im Rahmen der Rechtfertigungslehre zweifelsfrei um Aussagen, die mit normativem Anspruch, also einer Geltungsprätention, auftreten. Das mag an dem Paradigma einer demokratischen Rechtfertigungslehre, nämlich der Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes, demonstriert werden. In Zeiten, in denen die demokratische Legitimation öffentlicher Herrschaft weithin als alternativenlos betrachtet wird, hängt auch die Legitimität einer Verfassung als der rechtlichen Grundordnung des Gemeinwesens daran, dass sie sich auf das Volk als den pouvoir constituant zurückführen lassen kann. Viel Erzählkunst wird darauf verwendet, das demokratische Narrativ möglichst lebendig und kraftvoll erscheinen zu lassen, um solcherart der Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes Genüge zu 9

Jestaedt, Verfassungstheorie (o. Anm. 1), § 1 Rn. 33 ff. Näher entfaltet bei Jestaedt, Verfassungstheorie (o. Anm. 1), § 1 Rn. 29 ff.

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tun. Doch bei alledem bleibt es dabei, dass es sich bei ihr um eine – offenbar für notwendig gehaltene und weithin ja auch wirksame – verfassungstheoretische Sinn(vermittlungs)referenz handelt und nicht um reales Verfassungsrecht. Denn was ist das Volk vor der Verfassung, die es ja überhaupt erst von jenem her zu rechtfertigen gilt? In welchem Verfahren und mit welchen Mehrheiten wird entschieden? Wer ist zur „Einberufung“ des Volkes, wer zur Verfassungsinitiative befugt? Wer wider diese Erkenntnis die Lehre vom demokratischen pouvoir constituant für einen Geltungsmaßstab der positivrechtlichen Verfassung hält, der wird sich blamieren lassen müssen, das – wie Josef Isensee es einmal plastisch formuliert hat – „Klapperstorchmärchen für Volljuristen“11 für bare Münze genommen zu haben. c) Verfassungstheorie als Gestaltungslehre Neben der Verfassungstheorie als Verstehenslehre einerseits und als Rechtfertigungslehre andererseits ist noch eine dritte, mit den beiden erstgenannten durchaus verwandte Variante anzutreffen. Sie zielt nicht primär auf Verstehen und auch nicht auf Bewerten, sondern auf das Gestalten von Verfassung. Kennzeichnet man die erste Lesart als Verfassungsvorverständnislehre und die zweite als Verfassungsrechtsphilosophie, so bietet es sich an, die dritte und letzte als wissenschaftlichen Ableger der Verfassungsrechtspolitik oder auch als Verfassungserzeugungslehre zu charakterisieren. Hier dreht sich alles darum, den Prozess der Verfassungserzeugung mit den Mitteln einer Grundlagendisziplin vorzubereiten und im Rahmen des Möglichen auch anzuleiten. Das kann die Verfassungstheorie tun, indem sie ihren als Verstehenslehre gefüllten Wissensspeicher in Sachen Struktur und Funktionieren von Verfassung für die ratsuchenden Verfassungserzeuger öffnet. So kann sie insbesondere die unterschiedlichen Modellierungsoptionen für öffentliche Herrschaft präsentieren und die Konsequenzzwänge einmal getroffener Präferenzentscheidungen aufzeigen. Will sie sich jedoch nicht mit dieser Rolle begnügen, will sie vielmehr aktiv gestalten, so manövriert sie sich schnell in eine prekäre Situation: Als Grundlagendisziplin ist sie darauf ausgelegt, sogenanntes Orientierungswissen zu generieren, welches der Beobachtung Richtung und Struktur verleiht, nicht hingegen Verfügungswissen, welches dem Teilnehmer unmittelbar verwertbare Handlungsanleitungen vermittelt; das ist Sache namentlich der vom Anwendungsbezug lebenden Dogmatik. Das Menetekel der Gestaltungslehre: Je mehr die Verfassungstheorie Partei ergreift, je stärker sie also ihren Beobachterposten verlässt und in politicis „mitmischt“, desto weniger wissenschaftlich belastbare Aussagen kann sie machen, desto unbrauchbarer ist sie – als Wissenschaft.12

11 Josef Isensee, Das Volk als Grund der Verfassung. Mythos und Relevanz der Lehre von der verfassunggebenden Gewalt. Paderborn 1995, S. 73. 12 Vgl. bereits Jestaedt, Verfassungstheorie (o. Anm. 1), § 1 Rn. 65 f.

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d) Fazit: Verfassungstheorie zwischen Real- und Idealverfassung Schon diese drei Fragerichtungen – und ich behaupte keineswegs, dass Verfassungstheorie nicht noch andere Erkenntnisinteressen verfolgen könnte13 – lassen „die“ Verfassungstheorie als ein hybrides disziplinäres Format erscheinen, als eine multiple juridische Subdisziplin. So oszilliert sie zwischen der Real- und der Idealverfassung, ist mal mehr Sinnermittlungs- und mal mehr Sinnvermittlungsdisziplin. Wer über den Wert der Verfassungstheorie – namentlich für den juridischen Umgang mit Verfassung – sprechen möchte, wird diese Binnendifferenzierung, wird ihre „multiple Persönlichkeit“ im Auge behalten müssen. 4. Horizonte der Verfassungstheorie Die Kontextabhängigkeit verfassungstheoretischen Räsonnements lässt sich auch an der Troika von Verfassungsanwendung, Verfassungsänderung und Verfassunggebung belegen. Dabei lässt sich verdeutlichen, wie sich der Fokus verfassungstheoretischer Reflexion verschiebt und deren Wert verändert – je nachdem, welche Schwerpunktsetzung in puncto Gegenstand oder aber Perspektive in den benachbarten Verfassungsdisziplinen gewählt wird. Drei Begriffspaare mögen das ein wenig illustrieren. a) Im Horizont der Verfassungsdogmatik und der Verfassungsvergleichung Zunächst das Paar von Verfassungsdogmatik und Verfassungsvergleichung: Die Verfassungsdogmatik fragt bei der Verfassungstheorie um ein Deutungs- und Verständnisschema für eine konkrete, nämlich die in concreto anzuwendende positivrechtliche Verfassung – etwa das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949 oder die Verfassung der Fünften Französischen Republik vom 4. Oktober 1958 in ihrer jeweils aktuell geltenden Fassung – nach. Die Theorie gilt also einer konkreten, kontingenten Verfassung. Das schließt natürlich den Blick auf andere Verfassungsmodelle nicht aus, weist diesen Überlegungen aber akzessorischen und ancilliären Charakter zu: durch den Blick auf und den Vergleich mit dem Anderen soll das Eigene besser verstanden werden. Der Bezugspunkt des Verstehens ist hier also die eigene Verfassung. Anders stellt sich die Situation in der als Eigenzweck betriebenen Verfassungsvergleichung dar: Hier ist von vornherein ein die einzelne Verfassung übersteigender, in diesem Sinne trans- oder interkonstitutioneller Zugang gewählt. Die „eigene“ Verfassung spielt hier keine andere, insbesondere keine kraft Sache wichtigere Rolle, sondern ist ein Vergleichsobjekt unter mehreren. Der Anspruch an die Verfassungs13 Zur Rolle der Verfassungstheorie als Schnittstellen- und Relaisdisziplin zwischen Verfassungsdogmatik einerseits und sonstigen verfassungsbezogenen (Sub-)Disziplinen andererseits: Jestaedt, Verfassungstheorie (o. Anm. 1), § 1 Rn. 48 ff.

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theorie ist also ein trans- oder interkonstitutioneller. Das wirkt sich auch auf die theoretische Konzeptualisierung aus, die tunlichst nicht das Kategoriensetting und die Modellbildung einer einzelnen Verfassungsordnung und -kultur entlehnt, wenngleich sich Pfadabhängigkeiten niemals vollständig vermeiden lassen werden. Unbeschadet dessen ist das Arbeiten mit Modellen und Typen, ja mit Idealtypen, hier das Eigentliche. b) Im Horizont der Verfassungserkenntnis und der Verfassungserzeugung Wie unterschiedlich die Herausforderungen sind, die an die Verfassungstheorie adressiert werden, lässt sich auch an der Kontrastierung von Verfassungserkenntnis und Verfassungserzeugung demonstrieren: Bei der Verfassungserkenntnis oder auch Verfassungsauslegung erfüllt die Verfassungstheorie ihre Rolle als Verstehenslehre par excellence. Sie macht – um eine Wendung von Hans-Georg Gadamer aufzugreifen – das „applikative Vorverständnis“, welches aller Verfassungsinterpretation „voraus“-geht, explizit und damit allererst (in des Wortes mehrfacher Bedeutung) diskutabel.14 Auf ihrer Grundlage lassen sich Auslegungshypothesen formulieren, die allerdings zwei Vorbehalten unterliegen: sie sind nicht (rechts)verbindlich, haben also ihrerseits keinen positivrechtlichen Status, und sie können im Verlaufe des Interpretationsprozesses falsifiziert werden. Die dritte Lesart der Verfassungstheorie, sprich die Gestaltungslehre, ist hingegen primär gefragt, wenn und soweit es um die Verfassungserzeugung, d. h. um die Herstellung von Verfassungsrecht durch die dazu zuständigen Organe geht. Hier geht es nicht um – zumindest der Idee nach gebundene – Sinnfindung, sondern um mehr oder minder freie Sinngebung. c) Im Horizont der Verfassungsänderung und der Verfassunggebung Das lässt sich noch ein wenig präzisieren, wendet man sich dem dritten Begriffspaar, jenem von Verfassungsänderung und Verfassunggebung zu. In beiden Fällen geht es um Verfassungserzeugung; es gilt daher grundsätzlich das soeben im Kontrast zur bloßen Verfassungserkenntnis Gesagte. Doch lassen sich, gerade was Reichweite und Leistungsfähigkeit verfassungstheoretischer Aussagen anlangt, Akzentunterschiede in Bezug auf diese beiden Spielarten der Erzeugung von Verfassungsrecht feststellen: Während nämlich beim Akt der Verfassunggebung, also der verfassungsrechtlichen creatio ex nihilo, noch kein Verfassungssystem besteht, in welches sich die neuen Bestimmungen einfügen müssen, drängt sich bei der Verfassungsergänzung stets die Frage auf, ob und inwieweit die Änderungen zum Bisherigen passen, 14 Josef Esser schreibt diese Wendung Hans-Georg Gadamer (Wahrheit und Methode, 2. Aufl. 1965, S. XIX) zu: Josef Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 1970, S. 136 Fußn. 67; er selbst spricht in diesem Kontext vom „entscheidungsbezogenen Vorverständnis“ (a.a.O., S. 136).

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ob sie die in ihm zum Ausdruck gelangenden Grundgedanken und Grundstrukturen verstärken oder verletzen, ob sie den „sound“ der geltenden Verfassung aufgreifen und verstärken oder aber verändern und um neue Klangelemente anreichern. Hier treten neben Aspekte der Verfassungstheorie als Gestaltungslehre solche der Verstehenslehre, weil und soweit der Verfassungsbestand, der ja als solcher durch die mehr oder minder punktuelle Anpassung nicht angetastet werden soll, Pfadabhängigkeiten schafft und Konsequenzzwänge auslöst. Um Missverständnissen von vorneherein zu begegnen: Die beschriebenen verfassungstheoretischen Pfadabhängigkeiten und Konsequenzzwänge besitzen keine positivverfassungsrechtliche Qualität. Ein Verstoß gegen sie zieht nicht das Verdikt des Verfassungsverstoßes nach sich. Die Sanktion liegt auf anderem, nicht-rechtlichen Feld: Mit der inneren Konsistenz kann auch die Legitimität der Verfassung abnehmen. Und das kann für die Wirksamkeit der Verfassung erhebliche Bedeutung haben.15 Damit soll umgekehrt nicht zum Ausdruck gebracht werden, dass bei Prozess und Akt der Verfassunggebung Aspekte der Verfassungstheorie als Verstehenslehre keinerlei Rolle spielten. Das ist nämlich durchaus der Fall. Doch liegen diese auf einer anderen Ebene und knüpfen nicht an das – ja noch nicht bestehende – Verfassungsrecht an. Um dies ein wenig näher umschreiben zu können, muss etwas weiter ausgeholt werden. III. Verfassungstheorie im Horizont der Verfassunggebung 1. Scheinbares Prae der Gestaltungslehre Befragt man die drei beschriebenen Lesarten der Verfassungstheorie nach ihrem Beitrag zur Verfassunggebung, so möchte es vordergründig scheinen, als spiele die Gestaltungslehre die bedeutendste Rolle – denn sie gilt ja explizit der Konstellation der Verfassungserzeugung. Doch es ist bereits mehr als einmal angeklungen, dass die Verfassungstheorie zwar auch als Gestaltungslehre begriffen und eingesetzt wird, dass ihre spezifische Leistungsfähigkeit in dieser Lesart aber weit hinter dem eher analytisch ausgerichteten Pendant, der Verstehenslehre, zurückbleibt. Neigt man nicht dazu, das diskurstheoretische Ideal in seinem Realitätswert zu überschätzen, und gesteht man sich ein, dass mit Mitteln des rationalen Diskurses die „one right answer“16 auch in Sachen Verfassungserzeugung nicht zu erreichen ist, so ist damit bereits die Grundaussage getroffen, dass auch eine wissenschaftlich betriebene Verfassungsrechtspolitik nicht gleichsam wissenschaftlich-objektiv richtige Ergebnisse zeitigen kann. Man kann das sogar noch zuspitzen: Die Gestaltungslehre hat dort ihre stärksten Momente, wo sie sich der Erkenntnisse der Verstehenslehre be15

Am Fallbeispiel der Wiedervereinigung: Thomas Würtenberger, Wiedervereinigung und Verfassungskonsens, in: JZ 1993, S. 745 ff. 16 Dazu Ronald Dworkin, Taking Rights Seriously, 2. Aufl. 1978 (dt.: Bürgerrechte ernstgenommen, 1. Aufl. 1990, S. 143 ff., bes. 152 ff.).

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dient, wo sie sich sozusagen als deren Handelsvertreterin im Außendienst der Verfassungspraxis versteht. 2. Verfassung zwischen Konfektion und Maßanfertigung Wie aber kann die Verfassungstheorie in ihrem Premiumsegment – d. h. als Verstehenslehre – wirksam werden für die Situation der Verfassunggebung? Als verfassungsrechtliche creatio ex nihilo entwirft die Verfassunggebung ja just eine neue, sich von keiner anderen Verfassungsordnung ableitende, von keiner anderen Verfassungsordnung vorstrukturierte Rechtsordnung. Unter verfassungsrechtlichen (wie rechtstheoretischen) Auspizien ist diese Ansicht unanfechtbar: Verfassunggebung ist die revolutionäre, ihre Rechtserzeugungsermächtigung nicht von einer anderen, vorherigen Verfassungsordnung ableitende Schaffung einer neuen Verfassung. Verfassunggebung behauptet also eine tabula rasa von Rechts wegen. Alles andere ist bloße Verfassungsänderung, also Änderung der bestehenden Verfassung auf dem Boden und in den Bahnen der Änderungsbestimmungen der bestehenden Verfassung. Dies gilt unbeschadet der Quantität wie der Qualität der Änderungsvorschriften. Diesen – verfassungsrechtlich wie rechtstheoretisch – kategorialen Unterschied von Verfassunggebung und Verfassungsänderung vermag die Verfassungstheorie zwar abzubilden. Aber für ihren eigenen Bestand an Erklärungsmustern gibt es keine creatio ex nihilo. Jeder revolutionäre Akt der Verfassunggebung spielt sich heute vor dem Hintergrund einer langen und wechselvollen Geschichte von Verfassungen ab. Er vollzieht sich insbesondere angesichts einer überwiegend verfassungsstaatlich organisierten Staatenwelt und angesichts unterschiedlich sich darstellender, aber doch miteinander verwobener Konstitutionalisierungsprozesse. Diesem Konstitutionalisierungssog wird sich kaum ein potenzieller Verfassunggeber entziehen können. Gibt er ihm nach, so steht ihm das reiche Repertoire der Verfassungstheorie zur Verfügung, welches diese im Verbund mit der Verfassungsvergleichung erarbeitet hat.17 a) Der verfassungsvergleichende Standard Der Verfassungsschöpfer wird sehr schnell gewahr werden, dass es keine unerschöpfliche Vielfalt moderner Verfassungskonzeptionen im Allgemeinen und des staatsorganisatorischen wie des grundrechtlichen Settings im Besonderen gibt. Vielmehr handelt es sich im Wesentlichen um Variationen eines recht überschaubaren Grundbestandes an Konstruktionsbausteinen und an Kombinationsmöglichkeiten, aus denen er sich bedienen kann. Jede moderne Verfassung ist heute denn auch mindestens sosehr Konfektionsware wie Maßgewand. In Anbetracht der Verbreitung des Grundmusters US-amerikanisch-französischer Provenienz gibt es heute nicht mehr 17 Zum symbiotischen Verhältnis von Verfassungstheorie und Verfassungsvergleichung: Jestaedt, Verfassungstheorie (o. Anm. 1), § 1 Rn. 31 f.; Sebastian Müller-Franken, Verfassungsvergleichung, in: Otto Depenheuer/Christoph Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, 2010, § 26 Rn. 1 ff., bes. 19 ff.

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allzu viele präzedenzlose verfassungsgesetzliche Konzeptionen und Institutionen, Prozeduren und Garantien, so dass es für die meisten der geplanten Neuerungen bereits verfassungstheoretisch mehr oder minder detailliert und ausgreifend aufgearbeitete Erfahrungen gibt.18 Dabei wird die Verfassungstheorie Hilfe insbesondere dadurch leisten können, dass sie in Bezug auf die in Erwägung gezogenen Kombinationen auf Passfähigkeiten und Voraussetzungen, Unverträglichkeiten und Konsequenzzwänge aufmerksam macht. Darüber hinaus wird sie indirekt Werbung dadurch machen, dass sie das Dass und das Wie des erfolgreichen Funktionierens einzelner verfassungsstaatlicher Konzepte herausarbeitet. b) Die verfassungskulturellen Besonderheiten Das ist indes nur die eine Seite, auf der Verfassungstheorie einen Beitrag leisten kann. Als Lehre von den Bewegungsgesetzen einer konkreten Verfassung hat Verfassungstheorie eine besondere Kompetenz oder – genauer – eine besondere Sensibilität für die Frage, unter welchen – auch und gerade nicht-rechtlichen – Bedingungen eine Verfassung effektiv funktioniert – das heißt jene Steuerungseffekte tatsächlich erzielt, die in ihr normativ angelegt sind. Es geht also, wenn ich das einmal so ungeschützt formulieren darf, um die Rolle der Verfassung in der Rechtsordnung im Übrigen, im politischen Leben und im Alltag der Menschen. Als normwissenschaftlich arbeitende Disziplin kann sie kraft eigener Kompetenz nur für die Kontextabhängigkeit sensibilisieren und die normativen – die positivrechtlichen wie die nicht-positivierten – Faktoren einigermaßen verlässlich benennen; im Blick auf die sonstigen Faktoren wird sie – mit großer methodischer Vorsicht – Anleihen bei den Nachbarwissenschaften machen müssen. In Abwandlung des berühmten Diktums von Ernst-Wolfgang Böckenförde wird man formulieren dürfen: Die Verfassung lebt in ihrer Wirksamkeit von Bedingungen, die weder der Verfassunggeber vollauf kreieren noch ein Verfassungshüter – etwa in Gestalt eines Verfassungsgerichts – umfassend garantieren kann. Am Beispiel der Verfassungsgerichtsbarkeit: Sollte ein Verfassungsrechtsetzer ein Verfassungsgericht wie das Bundesverfassungsgericht in Funktionsweise und Bedeutung in der eigenen Verfassungsrechtsordnung implementieren wollen, genügte es nicht, die einschlägigen Bestimmungen des Grundgesetzes, des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes und gegebenenfalls noch der Geschäftsordnung des Bundesverfassungsgerichts zu rezipieren. Vielmehr hinge der Erfolg dieses „legal transplant“ von zahlreichen weiteren, politischen und ökonomischen, sozio-kulturellen und auch personellen Faktoren ab, die sich nicht einfach als Artefakte beliebig und in jedem Kontext herstellen lassen. Nicht zuletzt hinge der Erfolg dieses verfassungsgerichtlichen Modells vom Willen zum Recht im Allgemeinen und dem Willen zur Verfassung im Besonderen, also von der jeweiligen Rechtskultur ab, der Kultur der Rechtsauslegung, 18 Am Beispiel des Grundgesetzes: Thomas Würtenberger, Grundgesetz und Verfassungstradition, in: Nikolaos Alivizatos (Hrsg.), Essays in Honour of Georgios I. Kassimatis, 2004, S. 323 ff.

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des Rechtsanwendens und des Rechtsbefolgens.19 Doch damit ist der Zuständigkeitskreis der Verfassungstheorie bereits verlassen. Schließen möchte ich mit einem Hinweis auf einen letzten, aber aus meiner Sicht nicht zu unterschätzenden Beitrag der Verfassungstheorie für jeden Verfassungserzeuger: Die Verfassungstheorie schärft dadurch, dass sie sowohl die Bedingtheit als auch die Leistungsfähigkeit von Verfassung thematisiert, den Blick auf die Kopplung von Recht und Politik durch Verfassungsrecht. Sie vermittelt dadurch wichtige Leitlinien für eine Antwort auf die Frage, wie viel Verfassungsrecht von Nutzen ist und wo die Vorteile der Konstitutionalisierung durch deren Nachteile überwogen werden. Sieht man näher zu, so lassen sich die so gewonnen Maximen nicht nur auf den Sonderfall der Verfassunggebung tabula rasa anwenden, sondern überhaupt als idées directrices für den juridischen Umgang mit Verfassungsrecht, also der Verfassunggebung, der Verfassungsänderung und auch und gerade der Verfassungsanwendung, begreifen. Verfassungstheorie kann dergestalt eine Verfassungskultur des Maßes und mit Maß befördern – und damit bedeutsame Einsichten in die vom Jubilar bearbeitete Thematik von „Zeitgeist und Recht“20 vermitteln.

19 Dazu eingehend: Matthias Jestaedt, Phänomen Bundesverfassungsgericht. Was das Gericht zu dem macht, was es ist, in: ders./Oliver Lepsius/Christoph Möllers/Christoph Schönberger, Das entgrenzte Gericht. Eine kritische Bilanz nach sechzig Jahren Bundesverfassungsgericht, 2011, S. 77 ff. 20 Thomas Würtenberger, Zeitgeist und Recht, 2. Aufl. 1991.

Warum haben wir ein öffentliches Recht? Von Peter Krause, Trier Was das öffentliche Recht ist, sagt die formale oder die materielle modifizierte Subjektstheorie; es ist das Recht, das ausschließlich Träger öffentlicher Gewalt berechtigt oder verpflichtet, bzw. das Recht, das Träger öffentlicher Gewalt als solchen eine Pflicht auferlegt oder eine Befugnis einräumt. Wenn eine Definition durch Zuordnung zur nächsten Gattung und Angabe des artbildenden Unterschiedes erfolgt, wie wir seit der Scholastik wissen (definitio fit per genus proximum et differentiam specificam), liefern diese „Theorien“ weder eine Einsicht noch eine Definition. Nur dem Schein nach sollen sie die Entscheidung über den Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten ermöglichen, den eine Generalklausel für Streitigkeiten des öffentlichen Rechts eröffnet, tatsächlich sind sie nur kunstvoll zurecht geschnitten, um ein bestimmtes vorweggenommenes Ergebnis, etwa die Zuordnung der Bestimmungen über das gesetzliche Erbrecht des Fiskus zum Privatrecht zu erklären. Es bleibt nicht nur ungesagt, warum das angeführte Genus Recht das nächste ist, d. h. warum die erste Unterscheidung des privaten und des öffentlichen Recht an der Spitze aller Differenzierungen im Recht steht. Vor allem fehlt die Angabe der spezifischen Differenz, der Eigenart des öffentlichen Rechts und des Privatrechts, der sie prägenden Merkmale, Prinzipien und Strukturen. Wenn das öffentliche Recht nicht das als verbindlich bekanntgemachte, durch Autorität angeordnete Recht im Gegensatz zu dem sich jedermann einsichtigen vernünftigen Privatrecht sein soll,1 ist die Unterscheidung nicht denknotwendig, zumal es Rechtsordnungen gibt und gegeben hat, denen sie unbekannt ist. Ist sie aber historisch entstanden, ist sie auch nur aus dem historischen Prozeß ihrer Entstehung zu begreifen. Er ist merkwürdig kurz und unreflektiert, wie im Folgenden skizziert werden soll. Das römische ius publicum und ius privatum Die Antike kannte keine Träger der öffentlichen Gewalt und auch kein Sonderrecht für sie. Cicero sprach zwar in den Partitiones oratoriae (130) von einem ius privatum, das durch stipulationes, pacta und dergleichen von Privaten hervorgebracht, und von einem ius publicum das von den Magistraten durch leges, senatus consulta und foedera geschaffen wird. Doch ging es ihm lediglich um Unterschiede 1 Vgl. Peter Krause, Ein Druckfehler in Kants metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre oder von der Möglichkeit des reinen Naturrechts, in: Festschrift für Meinhard Schröder, 2012, S. 675 – 686.

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und Grenzen privatautonomer und hoheitlicher Rechtsschöpfung und Rechtsgestaltung, nicht um die Einteilung von Rechtsgebieten und Rechtsdisziplinen.2 Sie lag auch außer dem Horizont der Rechtsgelehrten der frühen Kaiserzeit, die von Cicero abweichend an unterschiedliche Zwecke der Regelungen anknüpften und dem Recht, das den Privatnutzen der Einzelnen im Auge hat, den Namen ius privatum gaben und ihm das ius publicum, in dem es – auch – um den status3 der Angelegenheiten Roms, die Verfassung, in der sich die gemeinsame Sache befindet, oder den Zustand des gemeinen Wohls gehe, gegenüberstellten4. Denn auch sie wollten damit nur auf die Besonderheiten der mit dem öffentlichen Interesse verbundenen Normen hinweisen, die anders als die des ius privatum nicht durch die Einzelnen geändert und hervorgebracht werden konnten, sondern sich deren Zugriff entzogen.5 Justinian hatte die „Definitionen“ der klassischen Rechtsgelehrten in das corpus iuris eingefügt, sie beherrschten vom Hochmittelalter bis zur Neuzeit den Sprachgebrauch der universitären Rechtswissenschaft6. Als die Juristenfakultäten des Heiligen römischen Reichs im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts begannen Speziallehrstühle für das ius publicum sacri imperii einzurichten, übertrugen sie diesen weder das ganze römische ius publicum noch engten sie den Begriff des ius publicum auf das Reichsstaatsrecht ein. Die Lehrer des römischen Zivilrechts nahmen das traditionelle ius publicum vielmehr bis zum Ende des 18. Jahrhunderts selbstverständlich in ihre Vorlesungen über die Institutionen, die Pandekten oder den Kodex auf. Die Vorstellung eines Sonderrechts für Träger der öffentlichen Gewalt lag der deutschen Rechtsgelehrsamkeit bis zum Jahr 1799 fern, als die Zivilrechtswissenschaft begann, sich auf Rechtsbeziehungen unter Privatpersonen einzuschränken. Recht und Herrschaft im Mittelalter Auch das Mittelalter wußte vom neuzeitlichen Staat nichts und hatte keinen Begriff von einem Träger öffentlicher Gewalt oder von einem besonderen öffentlichen Recht. Die weltliche Herrschaft kam ohne rechtliche Regelung der Kompetenzen, Befugnisse, Zuständigkeiten und des Verfahrens aus. Als sie – lange vor Wiederentdeckung des corpus iuris und der Gründung der ersten Universitäten – 2

Paul Jörs/Wolfgang Kunkel/Leopold Wenger, Römisches Recht, Heidelberg 1949, S. 51. Da der Staat als Institution dem Altertum fremd war, verbietet es sich, an das Staatsinteresse oder die raison d’état zu denken, es ging vielmehr um das gemein(sam)e Wohl, die res publica. 4 Domitius Ulpianus (~ 170 – 223): Publicum ius est, quod ad statum rei Romanae spectat, privatum, quod ad singulorum utilitate Dig. 1, 1, 1 § 2 g. A. Vgl. dazu Max Kaser, Ius publicum und ius privatum, SZ 103 (1986) S. 1 – 101. 5 Aemilius Papinianus (~ 150 – 212): Ius Publicum privatorum pactis mutari non potest Di. 2, 14, 38. 6 Karl Kröschel, Deutsche Rechtsgeschichte, Band 3. Seit 1650, Köln/Weimar/Wien 2005 S. 26 3

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entstand, war Herrschern und Völkern die Vorstellung einer rational konstruierten Herrschaftsordnung fremd und das corpus iuris mit seiner Unterscheidung von ius privatum und ius publicum, der lex regia, der Formel legibus solutus und der plenitudo potestatis unbekannt. Die Kirche hatte sich dagegen früh rechtlich konstituiert und nach Theodosius I. voll im Recht eingerichtet. In der Absicht, sie einer hierarchischen, monokratischen Ordnung zu unterwerfen, hatten die Päpste im 10. Jahrhundert die Regelung des römischen Rechts, wonach die Beamten nur über eine begrenzte Handlungsvollmacht – keine „plenitudo potestatis“ – verfügten, entdeckt, zunächst um den Bischöfen als „Dienern“ der Kirche die Autonomie abzusprechen, und dann, um für sich die höchste Machtvollkommenheit in der Kirche zu beanspruchen.7 Sie hatten der Formel „legibus solutus“, welche den Kaiser bei einem Testament von den gesetzlichen Formvorschriften freistellte, unterstellt, sie nähme ihn von jeder gesetzlichen Bindung aus und auf sich erstreckt, und aus der lex regia8 die Ermächtigung zur umfassenden Gesetzgebung herausgelesen. Die absolutistische Interpretation ging in die Dekretalien ein und wurde in die Lehre des weltlichen römischen Rechts übernommen, als die Universitäten entstanden, erlangte hier aber nur geringe praktische Relevanz. Als Friedrich Barbarossa Schwierigkeiten hatte, sich gegen die nach Selbständigkeit strebenden oberitalienischen Kommunen durchzusetzen, hatte die Universität Bologna gerade mit der Bearbeitung des corpus iuris begonnen. Es lag für den Kaiser daher nahe, auch zu den Mitteln des römischen Rechts zu greifen. Seine „Hausjuristen“ Bulgarus, Martinus, Hugo und Jacobus bestätigten nach den Vorarbeiten der Kirchenrechtler, ihm komme nach dem römischen Gesetzbuch die höchste Machtvollkommenheit und die alleinige und umfassende Befugnis zur Gesetzgebung zu. Doch als er versuchte, den Anspruch gegen die oberitalienischen Kommunen durchzusetzen, erlitt er eine militärische Niederlage. So sah sich die nächste Generation der Rechtsgelehrten gezwungen, zu erklären, daß ein eigenständiges partikulares Gesetzgebungsrecht mit der Majestät des Kaisers vereinbar war. Später stieß sie auch auf mannigfaltige andere Einschränkungen der kaiserlichen Machtfülle, unternahm aber nicht den Versuch aus dem corpus iuris ein Staatsrechtssystem zu konstruieren, das den Widerstreit in sich aufhob und so rezipiert werden konnte.9 Vielmehr hielt 7 Holger Erwin, Machtsprüche. Das herrscherliche Gestaltungsrecht „ex plenitudine potestatis“ in der Frühen Neuzeit. Köln 2009, S. 37 – 45. 8 D. I. 4. 1. Quod principi placuit, legis habet vigorem: utpote cum lege regia, quae de imperio eius lata est, populus ei et in eium suum imperium et potestatem conferat. vgl. auch Inst. I 2. 6. um den Sonderfall des Rechtsprinzip, daß der bevollmächtige Beamte des Kaisers kein plein pouvoir hatte, es 9 Römisch-rechtliche Einflüsse im „ius publicum“/„öffentlichen Recht“ des 18. und 19. Jahrhunderts in Deutschland, in: Index. Quaderni camerti di studi romanistici (Neapel) 16 (1988), S. 151 – 175; zit. nach: Historische Vergleichung im Bereich von Staat und Recht: Gesammelte Aufsätze von Heinz Mohnhaupt, Max-Planck-Institut für Europäische Rechtsgeschichte (Ius Commune/Sonderhefte 134), Frankfurt am Main 2000, S. 125 ff. (127 ff.).

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sie, ohne die Einschränkungen aus dem Lehnrecht, dem Wormser Konkordat, der confoederatio cum principis ecclesiasticis oder dem statutum in favorem Principum10 in Frage zu stellen, auch an der über Jahrhunderte lang aufrechterhaltenen These fest, der Kaiser sei nicht an die Gesetze gebunden, besitze die plenitudo potestatis und eine unbeschränkte Gesetzgebungsmacht. Sie nahm daher auch nicht Anstoß daran, daß der allmächtige und von der Einhaltung der Gesetze entbundene Kaiser nach der Goldenen Bulle wegen begangenen Unrechts angeklagt werden konnte. Das war nur möglich, weil sie nie durch rechtliche Auseinandersetzungen über Gebrauch und Grenzen der kaiserlichen Macht herausgefordert wurde. Auch der Pfalzgraf bei Rhein hatte, soweit zu sehen, nie über eine Anklage des Kaisers und römischen Königs nach Kapitel V [2] der Goldenen Bulle zu entscheiden. So mochte Kaiser Ludwig III. sagen, „nos, qui supra legem sumus et possumus velud legislator iura condere et interpretari“, wenn er nur von dem Recht keinen oder nur vorsichtigen Gebrauch machte. Und als er das Mißfallen der Fürsten erregte, traten sie ihm nicht unter Berufung auf die seiner Macht gesetzten rechtlichen Schranken entgegen, sondern wählten einfach Kaiser Karl IV. zum Gegenkönig, der die unbeschränkte kaiserliche Machtvollkommenheit weiter in Anspruch nahm. Wie gering das Bedürfnis war, die Machtausübung im Reich objektivrechtlichen Regeln zu unterwerfen, zeigen die Königswahlen. Jahrhunderte blieben Wahlberechtigung und Wahlverfahren ungeregelt.11 Falls es nicht bei einer bloßen Akklamation blieb, wurden die Stimmen nicht gezählt, sondern allenfalls gewogen. Um ein Herkommen zu begründen, hätten die Wahlen zureichend dokumentiert werden müssen.12 Die Mängel der Dokumentation beweisen, daß man eine gewohnheitsrechtliche Regelung nicht entbehrte. Was Sachsen-, Deutschen- und Schwabenspiegel und das Kaiserrechts über den Erwerb der königlichen und kaiserlichen Würde sagten, erlaubte es nicht, die Rechtsgültigkeit einer Wahl zu beurteilen. Der Wahlerfolg hing davon ab, daß sich der Kandidat durchsetzte, d. h. die Anerkennung derer erlangte, auf die es ankam. Juristische Argumente zählten dafür kaum. Keine Wahl wurde in Frage gestellt, weil ein Nichtstimmberechtigter teilgenommen hatte oder ein Wahlberechtigter ausgeschlossen worden war. Einer Wahlberechtigung berühmten sich ohnehin erstmals die Wähler Ottos von Braunschweig nach der Doppelwahl von 119813, aber auch sie ohne exakte Begründung und letztlich auch ohne Erfolg. Als die „Gewählten“ während des sogenannten Interregnum keine hinreichende Unterstützung fanden, nahmen sie zwar vermehrt zu Rechtsbehauptungen Zuflucht. Der Papst maß sich das Recht zur Entscheidung zu, machte aber 10 Sie wandte sich ihnen erst zu, als sie zu Beginn des 17. Jahrhunderts gedruckt (s. Arno Buschmann, Kaiser und Reich Teil I, 2. Aufl. 1994, S. 63, 67) vorlagen. 11 Hermann Schulze, Einleitung in das Deutsche Staatsrecht, 1867, S. 225: Vor dem 14. Jahrhundert bestand keine grundgesetzliche Regel über die Königswahl. 12 Die Unterlassung zeigt, daß die Bildung eines Gewohnheitsrechts – eines festen Reichsherkommens – nicht angestrebt wurde. 13 Die Doppelwahl dieses Jahres ist überdies bis zum Jahr 1273 die einzige Wahl geblieben, bei der Wähler und Kandidaten vollständig bekannt sind.

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bewußt keinen Gebrauch davon, nach dem Interregnum wurde es ebenso obsolet wie seine Behauptung, die Wahlberechtigung leite sich von ihm ab. Ihre Einschränkung auf sieben „Kurfürsten“ in den Jahren zwischen 1273 und 1298 ließ sich weder auf päpstliche Zuweisung noch auf eine Observanz gründen. Das Herkommen stiftete erst Albrecht von Habsburg, indem er seine Erhebung zum König sorgfältig ausgestaltete, minutiös aufzeichnete, die Verbindung der Kuren mit den Erzämtern feierlich sichtbar machte und alles in der Erinnerung festhielt.14 Von dem einmal gegebenen Vorbild konnte man bei den künftigen Wahlen nicht ohne Grund abweichen. Dauerhafte Wirkung hatte auch die von Albrecht vorgenommene Vereinigung der Kurfürsten zu einem Kollegium, das mit dem jeweiligen König die Regierung führen sollte.15 Der Widerspruch, den die Herzöge von Sachsen-Lauenburg erhoben, blieb letztlich ohne Erfolg, auch wenn sie noch zweimal an einer Wahl mitwirken konnten. Da die Wahlen Rudolfs und Albrechts von Habsburg ohne Gegenstimme geblieben waren, gaben sie keinen Anhalt für die Behandlung einer gespaltenen Wahl. Schließlich verpflichteten sich sechs Kurfürsten am 16. Juli 1338 in Rhens, den Kandidaten zu unterstützen, dem die Mehrheit der Stimmen zugefallen war, auch wenn sie für einen anderen gestimmt hatten. Karls VI.16 übertrug das Wahlrecht, die Einrichtung des Kurfürstenkollegiums und weitere Normen 1356 durch die Goldene Bulle in ausdrückliche gesetzliche Regelungen und leitete damit die Konstituierung des Reichs ein, die Rechtswissenschaft reagierte zunächst nicht darauf. Der Reichstag entstand erst lange nach dem Kurfürstenkolleg. Der König hatte stets Fürsten, Herren und Städte des Reichs und der Nachbarländer zu Hoftagen eingeladen, wenn er Rat und Unterstützung brauchte und bedeutende Entscheidungen zu treffen hatte. Mitwirkungsrechte gestand er weder der Versammlung noch einzelnen Fürsten zu, so kam es auch zu keiner Abstimmung. Die These, die Goldene Bulle beweise, daß Reichsgesetze von Reichstagen beschlossen wurden,17 ist unbegründet. Karl IV. erließ den ersten Teil als ewig gültiges Reichsgesetz im Januar 1356 aufgrund seiner kaiserlichen Gewalt und ganzen kaiserlichen Machtvollkommenheit, zwar in solempni curia nostra zu Nürnberg und in Anwesenheit aller Kurfürsten und einer großen Zahl von Fürsten, Grafen, Herren, Edlen und 14 Es handelt sich um eine im Heiligen römischen Reich nicht ungewöhnliche Form der „Rechtsetzung“. 15 Alle weltlichen Kurfürsten von 1198 waren Schwiegersöhne von Rudolf oder stammten von ihm ab. 16 Obwohl sein Haus nach dem Tod des Kurfürsten Balduin von Trier nur noch zwei Kurstimmen kontrollierte. Die Goldene Bulle trug dem Anteil an der Majestät, den sie den der Kurfürsten eingeräumt hatte, auch dadurch Rechnung, daß sie den Schutz gegen das crimen laesae majestatis auf sie erstreckte. 17 Vgl. aber Christian Friedrich Menger, Deutsche Verfassungsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1979, S. 17.

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Städten. Doch ist von einer Zustimmung der Fürsten keine Rede. Nur bei wenigen Verordnungen hatte er Rat und Zustimmung der Kurfürsten eingeholt (vgl. Kapitel III und XII). Den zweiten Teil „promulgierte“ er am Weihnachtstag 1356 auf der curia Metensi in Gegenwart aller Kurfürsten, ohne von einer Beteiligung zu sprechen. Ganz ohne eine curia zu befragen, erließ Friedrich III. am 14. August 1442 eine Landfriedensordnung und am 24. Oktober 1471 eine Kammergerichtsordnung. Daher sind der Ewige Landfriede18, die Reichskammergerichtsordnung, die Handhabung Friedens und Rechts19 sowie die Ordnung des Gemeinen Pfennig vom 7. August 1495 die ersten Gesetze, die nachweislich auf einer „gemain Versamblung des Hailigen Reichs“ erlassen wurden. Die Formeln weichen voneinander ab. Einzig der Vorspruch zur Ordnung des Gemeinen Pfennig nennt die Gesetzgeber, den König, alle Kurfürsten, fünf Fürstbischöfe, zwei weitere geistliche und neun weltliche Fürsten. Es ist schon deshalb zweifelhaft, daß die 1495 Versammelten generell die Zustimmung der Reichsfürsten zur Reichsgesetzgebung für erforderlich hielten. Maximilian hatte die Versammlung einberufen, um Unterstützung in Italien zu erlangen, und damit handfeste politische Gründe, die anwesenden Stände an der Reichsreform zu beteiligen, die sie zur Bedingung der Hilfe gemacht hatten und die sich nur mit ihnen zum Erfolg führen ließ. Daß er den Reichstag allenfalls an Gesetzen über das Reichsregiment beteiligen wollte, bezeugte er, indem er die Reichsnotarordnung am 8. Oktober 1512 nach Entlassung des Reichstags erließ. Die Institution „Reichstag“ ist dennoch ohne Maximilian I. nicht zu denken. Er hatte in § 1 und 2 der Handhabung Friedens und Rechts eine periodische Versammlung der „Churfürsten, Fürsten, Prelaten, Graven, Feyherrn und des Reichs Stende“ angekündigt, um mit ihnen zu „rathschlagen“, gab ihr bald darauf den Namen „des Heiligen Reichs Tag“ oder kurz „Reichstag“ und nannte die Versammlung von Worms im Jahr 1495 den „Ersten Reichstag“.20 Die Versammelten durften nicht von dannen ziehen, wenn sie der König nicht durch Reichs(tags-) abschied entlassen hatte. Der Reichsabschied hielt regelmäßig die Namen der Versammelten fest, darunter waren um die Mitte des 16. Jahrhunderts neben weltlichen und geistlichen Fürsten, noch schlichte Grafen, Prälaten und Freiherren.21 Doch bildete sich bald eine Observanz heraus, wonach bestimmte Gruppen von Prälaten

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Ergangen „mit ainmütigem zeytigen Rat“ der „Churfürsten, Fürsten, gaistlichen und weltlichen, auch Prelaten, Graven, Herren und Stende“. 19 Es handelt nicht um ein Gesetz, sondern um eine Verpflichtung, die der Königs für sich und seinen Sohn „mit zeytigem Rat und Willen der […] Churfürsten, Fürsten und anderer Stende des Reichs“ eingegangen ist. 20 Vgl. die Regimentsordnung Maximilians vom 2. Juli 1500: „alles laut ordnung des ersten Reichßtags zu Worms [gemeint ist die Versammlung von 1495], auch nachfolgender anderer Reichs=Täg“. 21 Peter Krause, Die Auswirkungen des westfälischen Friedens auf das Reichstaatsrecht, In: Meinhard Schröder (Hrsg.) 350 Jahre westfälischer Friede, Verfassungsgeschichte, Staatskirchenrecht, Völkerrechtsgeschichte, Berlin 2000 S. 9 – 42, s. 14 ff. mit w. Nachw.

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und Grafen gemeinsam einen Vertreter bestimmen durften (Kuriatstimme)22 und jeder regierende Fürst eine Virilstimme führte, zunächst gleichviel ob er mehrere Fürstentümer oder nur den Teil eines Fürstentums innehatte. Irgendwann nach 1582 aber23, endgültig erst nach dem dreißigjährigen Krieg24, wurde die Virilstimme zum Element des Territoriums, mit ihm – gegebenenfalls zusätzlich – erworben und bei seiner Aufteilung nicht vermehrt. Die konstitutive Mitwirkung der Städte wurde erst durch den Frieden von Osnabrück außer Streit gestellt. Die kontinuierliche Herausgabe der Reichsabschiede, die Peter Schöffer im Jahr 1500 begann, verschaffte dem Reichstag und seinen Verhandlungen eine öffentliche Aufmerksamkeit, die kein vorhergehender Hoftag je gehabt hatte. Die konfessionellen Kontroversen auf den Reichstagen von 1521, von 1530 oder 1555 steigerten das noch. Die Reichspolitik war damit zu einer öffentlichen Sache und zugleich zu einer Angelegenheit der Öffentlichkeit geworden, die an ihr durch Flug- und Zeitschriften teilnehmen konnte. Der Übergang zum Reichsstaatsrecht Die Reichsreformen Kaiser Maximilians und seiner Enkelsöhne hatten für das Reich eine Reihe neuer Entscheidungsträger (Organe) neben Kaiser und Kurfürstenkollegium geschaffen, wie das Reichskammergericht, das Reichsregiment, den Reichstag und die Reichskreise. Das war mit einer Vielzahl darauf bezogener objektiver geschriebener und ungeschriebener Rechtsregeln einhergegangen, für die sich erst langsam ein gemeinsamer Name fand. Schon die Reichsreformen waren durch einen grundlegenden politischen Wandel in der Auffassung über die Funktion des Rechts für die Obrigkeiten und Untertanen veranlaßt worden. Sie sollten dem Untertanen erstmals die reale Möglichkeit eröffnen, sein Recht selbst durchzusetzen, schärften das allgemeine Rechtsbewußtsein und veranlaßten die Territorien nicht nur dazu, ihre Justizverfassung der neuen des Reichs anzupassen, sondern auch den mannigfachen Zweifeln und Ungewißheiten über das materielle Recht, die einer geordneten Justiz entgegenstanden, durch mehr oder minder umfassende gesetzliche Klarstellung zu begegnen.25 Die Verbesserung der Rechts- und Friedenssicherung wiederum rückte andere – ebenso schwerwiegende Störungen und Gefährdungen der allgemeinen Sicherheit und 22

Die schwäbischen Prälaten waren ständig repräsentiert; die rheinischen Prälaten und die Reichsgrafen ließen sich ihr Recht durch von Kaiser Ferdinand III. (Dekrete vom 23. November 1640 und vom 3. Mai 1641, vom 28. März 1653 und vom 17. Januar 1654) „erneuern“. 23 Schulze (Fußn. 13), S. 235, 236. 24 Frühestens nach Entdeckung der Territorialbezogenheit der Herrschaft durch Andreas Knichen (vgl. dazu unten bei Fußn. 50). 25 Vgl. zu den Hemmnissen der Durchsetzung des Landfrieden s. Johann Stefan Pütter, Historische Entwickelung der heutigen Staatsverfassung des Teutschen Reichs. Erster Theil bis 1558. 2. unveränderte Auflage Göttingen 1786, S. 335 ff. zum Territorialjustizwesen ebd. S. 324 – 332.

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Ordnung in den Blick, für welche den Obrigkeiten auch die Verantwortung zugemessen wurde. Da sie sich mit den überkommenen Instrumenten nicht bewältigen ließen, erschienen ungewöhnliche Eingriffe in die wohlerworbenen Rechte und Freiheiten der Untertanen geboten, die ihrerseits Anlaß zu Mißvergnügen und Streitigkeiten gaben. Nicht zufällig findet das Wort „Polizei“ um die Wende zur Neuzeit Eingang in die deutsche Sprache26, das „vom 15. bis ins 17. jahrh. die regierung, verwaltung und ordnung, besonders eine art sittenaufsicht in staat und gemeinde und die darauf bezüglichen verordnungen und maszregeln, auch den staat selbst, sowie die staatskunst, politik“ bezeichnet.27 Der Buchdruck hatte es ermöglicht, Rechtstexte öffentlich zugänglich zu machen. Auch wenn die deutschen Länder erst im 19. Jahrhundert zur förmlichen Bekanntgabe der Gesetze übergingen, ließen sie bald jedes neue Gesetz drucken. Die Goldene Bulle war schon im 15. Jahrhundert vielfach gedruckt worden. Der Druck (1477) des Mainzer Reichslandfriedens vom August 1235 hatte auf die bereits im Gang befindliche Landfriedensdiskussion reagiert und ihr zusätzlich Auftrieb gegeben.28 Der „ewige“ Landfriede und die Reichskammergerichtsordnung erschienen sofort im Buchhandel. Die Reichsnotarordnung Maximilians I., die peinliche Halsgerichtsordnung Karls V. und die Reichspolizeiordnung29 sollten von vorneherein gedruckt werden, und auch ohne ausdrückliche Regelung ließen die Territorien ihre zahlreichen Konstitutionen, Rechtsreformationen, Landrechte und Polizeiordnungen drucken. Vermutlich kam die umfangreiche Gesetzgebung ab 1500 überhaupt durch den Buchdruck in Gang. Das geschriebene Recht wurde zum gedruckten Recht und erlangte in dieser Form seinen prinzipiellen Vorrang. Die Verbreitung des corpus iuris Justinians durch den Buchdruck hat weit mehr zur Durchsetzung des kanonischen Prozesses und zur Rezeption des römischen Rechts in Deutschland beigetragen, als die Eidesformel und die gelehrte Bildung der Reichskammergerichtsassessoren, zumal auch die Klag- und Laienspiegel, die auf es verwiesen, im Druck schnell ein breites Publikum erreichten,. Auch die Wissenschaften sollte der Buchdruck grundlegend verwandeln. Konnten die gelehrten Auseinandersetzungen bis dahin nur mündlich oder handschriftlich geführt werden, verlagerten sie sich plötzlich in gedruckte Dissertationen, Disputationen und Monographien, sie wurden damit auf dem offenen Markt vor einer tendenziell unbegrenzten Öffentlichkeit ausgetragen. Lehrbücher began26 Es erscheint z. B. 1476 in einer Verordnung des Fürstbischofs von Würzburg und 1530, 1548 und 1577 in den Reichpolizeiordnungen. 27 Deutsches Wörterbuch von Jakob und Wilhem Grimm, Bd. 13, Sp. 1981. 28 Buschmann (Fußn.10) S. 80, 105. Zu den frühen Drucken der Goldenen Bulle s. a. Timo Holzborn Die Geschichte der Gesetzespublikation: insbesondere von den Anfängen des Buchdrucks um 1450 bis zur Einführung von Gesetzesblättern im 19. Jahrhundert. Berlin 2003 S. 36. 29 Timo Holzborn (Fußn. 28) S. 38; Wilhelm Ebel, Geschichte der Gesetzgebung in Deutschland, Um Nachträge erweiterter Neudruck der 2. Auflage 1958, (= Göttinger Rechtswissenschaftliche Studien 24), Göttingen 1988, S. 60 – 68.

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nen die Vorlesungen zu ersetzen oder zu begleiten. Das hatte Folgen für die Wissenschaftsgeschichte. Kann sie die Gegenstände und Ergebnisse von Wissenschaft und Lehre für die Zeit zuvor nur mühsam aus einzelnen zufällig erhaltenen Handschriften rekonstruieren, sind sie seither leichter und in reicherem Umfang zugänglich. Darum sind sie aber nicht unbedingt neu. Für die Bücherwissenschaft Jurisprudenz gilt das in besonderem Maße.30 Zu Recht hat man bemerkt:31 „So lang man der Hilfe der Buschdruckerkunst […] entbehrte, konnte zweckmäßige Bearbeitung des allgemeinen Staats- und Völkerrechts kaum erfolgen.“ Da die Universitäten des Reichs zu Beginn des 16. Jahrhunderts aber in eine Krise gerieten und zeitweilig fast ganz verstummten,32 fingen sie allerdings nur „allmählich an, das teutsche Staatsrecht zu cultvieren“33, im katholischen Deutschland wegen der Zurückhaltung der Jesuiten gegenüber der Jurisprudenz noch stärker verzögert. Die Reformation hatte Kaiser und Landesobrigkeiten zusätzlich herausgefordert. Die Fürsten, Herren und Städte in den betroffenen Räumen standen vor der Entscheidung, sich ihren Untertanen anzuschließen und der neuen Kirche eine Ordnung zu geben oder die alte Kirche zu schützen. Die Probleme schwappten über die Grenzen der Territorien, es kam zu Streitigkeiten um kirchliche Besitz- und Hoheitsrechte vor dem Reichskammergericht,34 das mit seinen Entscheidungen allerdings keinen Frieden herstellen konnte, bis schließlich eine grundsätzliche Neuordnung durch den Augsburger Religionsfrieden und den Westfälischen Frieden folgte. Das Reichskammergericht wurde auch gegen die ausgedehnten polizeilichen Maßnahmen der Landesobrigkeiten in Anspruch genommen und mit Versuchen des Kaisers konfrontiert, seinen Entscheidungen und ihrer Durchsetzung unter Beru30 Vgl. die Literaturübersicht von Karl Friedrich Häberlin Handbuch des Deutschen Staatsrechts Erster Band. Zweyter Band. Frankfurt und Leipzig 1794; Dritter und lezter Band. Bamberg. Tobias Goebhardt, sel. Wittwe 1797. Bd. 1 S. 15 – 36. 31 Johann Ludwig Klüber, Oeffentliches Recht des teutschen Bundes und der Bundesstaaten, Frankfurt a. M. 1817, 3. Aufl. 1833 S. 18. 32 Vgl. Peter Krause Rechtswissenschaften in Trier. Die Geschichte der juristischen Fakultät von 1473 bis 1798. Köln u. a. 2007, S. 113; ders., Zu den Lektoralpräbenden der alten Universität Trier. In: Kurtrierisches Jahrbuch 47. Jahrgang 2007, S. 309 – 344. 33 Häberlin (Fußn. 30) Erster Band, S. 14. 34 Der Reichsabschied vom 1530 hatte in § 6 das Recht der Katholischen Kirche und deren Korporationen bestätigt, die Restitution entzogenen Kirchenguts zu fordern, auch wenn es im Zuge der Reformation von den evangelischen Gemeinden und Landesherrn umgewidmet worden war, und in § 59 die Reformation zum Landfriedensbruch erklärt. Das Reichskammergericht gab den Restitutionsansprüchen statt. Der Friede wurde 1555 in Augsburg politisch hergestellt. Doch hatte auch der Augsburger Religionsfriede Fragen offengelassen, die sofort zu neuen Prozessen führten. Wieder brachten die Entscheidungen des Reichskammergerichts nicht das Ende der Streitigkeiten, es wurde Revision eingelegt, der im Wege der Visitation nicht abgeholfen werden konnte, die Prozesse wurden erst nach dem dreißigjährigen Krieg abgeschlossen. Vgl. dazu Dietrich Kratsch, Justiz, Religion, Politik: das Reichskammergericht und die Klosterprozesse im ausgehenden sechzehnten Jahrhundert. Tübingen 1990, S. 26, 33 m. zahlr. Nachw.

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fung auf seine Machtvollkommenheit entgegenzutreten.35 Ohne ein Sonderrecht für Träger der Polizeigewalt zu erwägen, prüfte es, zunächst auf italienische Autoren gestützt,36 ob und unter welchen Voraussetzungen die Landesherren Rechte von Privaten aufheben, Konzessionen auf Kosten eines bestehenden Privilegs erteilen, und Anordnungen erlassen können, die vom ius divinum, ius naturale, ius civile oder ius gentium abwichen.37 Zudem setzte es sich mit der Zulässigkeit und Wirksamkeit kaiserlichen Gerichtsstands- und Exemtionsprivilegien auseinander. Grundsätzlich verlangte es für jeden Eingriff in bestehende Rechte, auch wenn er ex plenitudine potestatis oder unter Berufung auf die Polizeigewalt erfolgten, einen zureichenden Grund des gemeinen Wohls. Die Entscheidungen fanden schnell allgemeine Anerkennung und seine Erwägungen, welche seine Mitglieder im Druck verbreiteten, Beachtung weit über den einzelnen Fall hinaus.38 Nach der Mitte des Jahrhunderts begannen die Reaktionen in den Juristenfakultäten. Der Marburger Professor für römisches Recht Nicolaus Vigelius (1529 – 1600) legte im Jahr 1568 das erste Lehrbuch des ius publicum vor,39 es mochte sich noch weitgehend damit begnügen, „aus dem Corpus Iuris alles herauszugreifen und geordnet zusammenzustellen, was er nach der Definition Ulpians als zum ius publicum gehörend ansah“.40 Doch einige Jahre später räumte er in einer Übersicht über die Rechtsprechung den Erwägungen des Reichskammergerichts zum ius publicum bereits einen prominenten Platz ein.41 Zwar mußte er 1594 seine Professur nach einem Streit mit seinem Kollegen Hermann Vultejus (1565 – 1634) aufgeben, doch waren damit die Bemühungen um das ius publicum in Marburg nicht beendet. In den Vorlesungen und Disputation zum corpus iuris waren die dort aufgeführten Rechtsquellen (leges centuriatae, plebiscita, senatus consulta, principum placita und responsa prudentium) vorzustellen, angesichts der vielen Reformgesetze drängte sich die Frage auf, wer gegenwärtig als princeps zur Gesetzgebung befugt sei, wie er unter den veränderten Umständen dabei zu verfahren habe, insbesondere ob er der Zustimmung der Stände bedurfte und welche Grenzen ihm gesetzt waren. Durch die Erwägungen des Reichskammergerichts zusätzlich sti35 Daran war die universitäre Rechtslehre kaum beteiligt, nur einige Professoren wirkten – wie der Freiburger Rechtslehrer Ulrich Zasius – durch Gutachten mit. Erwin (Fußn. 7) S. 104 mit w. Nachw. 36 Vgl. Erwin (Fußn. 7) S. 112 ff. und seine Nachw. 37 Holger Erwin S. 107, 109. 38 U. a. Mynsinger von Frundeck und Andreas Gail. s. die Nachw. bei Erwin (Fußn. 7) S. 107 bis 110); vgl. Häberlin Bd. 1 S. 15. 39 Institutiones iuris publici Basel 1568, 1572, 1604. Pütter, Litteratur des teutschen Staatsrechts 1. Teil 1776 S. 151, vermutet zu Unrecht, sie seien in den ersten Teil seiner Methodus universi juris civilis absolutissima: in partes septem distribuata Basel 1565, 1576, 1580, 1586, 1601, 1609, 1616, 1628 eingegangen. 40 Martin Bullinger, Öffentliches Recht und Privatrecht, 1968, S. 17. 41 Nicolaus Vigelius, Methodus observationum camerae imperialis 1588, Lib. Prim. de legibus, magistratibus,& iudiciis publicis.

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muliert, machten Andreas Schepsius und Philipp Matthaeus 1596 in Marburg die schon seit dem 12. Jahrhundert im römischen Recht diskutierte „Quaestio, an princeps legibus solutus“ erstmals zum Gegenstand einer gedruckten Disputation, über ihre innovative Natur läßt sich wenig sagen. Auch Vultejus hatte als Professor des römischen Rechts bei Kommentierung der Institutionen auf die Gesetzgebungskompetenz des Kaisers einzugehen. Doch nahm er in seinem gedruckten Institutionenkommentar42 ausdrücklich Bezug auf Gail und dessen Berichte über das Reichskammergericht. Zudem führte er – Jahre vor Conring und Chemnitz – unter Rückgriff auf die Reichsgeschichte und mittelalterliche Zeugnisse den Beweis, daß die potestas absoluta des römischen Kaisers nicht auf die Kaiser des Heiligen römischen Reichs übergegangen war.43 Die Formeln des römischen Gesetzbuches über die plenititudo potestatis legibus solutae seien bloße Rechtsaltertümer, aus denen sich kein Schluß auf die gegenwärtige Verfassungsordnung ziehen, insbesondere keine unbegrenzte Rechtsetzungs- und Machtbefugnis des Kaisers herleiten lasse. Sein Fakultätskollege Gottfried Antonius (1571 – 1618) trat dem nach seinem Wechsel an die Nachbaruniversität Gießen mit äußerster Schärfe – namentlich aus konfessionspolitischen Gründen – entgegen,44 doch Vultejus und seine Schüler schlugen zurück.45 Sie waren offenbar erfolgreich, denn Antonius konnte nur seinen kurzzeitigen Fakultätskollegen Dietrich Reinking auf seine Seite ziehen, im Übrigen war sich die deutsche universitäre Rechtsgelehrsamkeit einig, daß die Herrschaftsordnung des Reichs nicht durch das ius publicum des corpus iuris bestimmt wurde,46 sondern durch ein Recht, das außerhalb des corpus iuris zu suchen,47 aber darum noch kein Sonderrecht für Träger öffentlicher Gewalt war. Dennoch fand sich für es bald ein Name. 1614 brachte der Kammerregistrator und Konsistorialsekretär Conrad Biermann in Hanau eine mehrbändige Sammlung wissenschaftlicher Monographien (Dissertationes Historico-Iuridico-Politicae)48 unter dem Titel S. Imperii Romani Ius Publicum. Hoc Est De Romani Imperatoris Electione, Vicaria Imperii Administratione, Principum Electorum sessione, suc42 Hermann Vultejus, Institutiones iuris civilis a Iustiniano compositas commentarius, Marburg 1598, 1600, 1605 etc. S. 24 ff. 43 Christoph Strohm, Calvinismus und Recht: weltanschaulich-konfessionelle Aspekte im Werk reformierter Juristen in der Frühen Neuzeit. Tübingen 2008, S. 321. 44 Vgl. insbesondere Gottfried Antonius, Disputatio apologetica de potestate Imperatoris legibus soluta, et hodierno Imperii statu […] adversus Hermannum Vultejum. Gießen 1608. 45 Christoph Strohm (Fußn. 43) S. 429 f. mit weiteren Hinweisen. vgl. ders., Calvinistische Juristen. In: Irene Dingel/Herman J. Selderhuis Hrsg.) Calvin und Calvinismus: Europaische Perspektiven. Göttingen 2011, S. 297 ff. (305). 46 Heinz Mohnhaupt, Römisch-rechtliche Einflüsse im „ius publicum“ / „öffentlichen Recht“ des 18 und 19. Jahrhunderts in Deutschland, in: Historische Vergleichung, a.a.O. (Fußn. 1) S. 123 – 149 (132). Die intentio fundata (vgl. Daniel, S. 187) sprach nicht für seine Heranziehung. 47 Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, 1. Bd., Reichspublizistik und Policeywissenschaft 1600 – 1800, 1988, Bd. 1, S. 336. 48 Soweit zu sehen erstmals.

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cessione, tutela, privilegiis, &c. De S. Caesareae Maiestatis, Camerae, Potentissimorum Imperii principum & Ordinum, aliorumque Magistratuum Iurisdictione. De Constitutionibus Imp. Praecipuis. De Contributionibus Imp. Modernis. Omnibus materiis, in Theoria, in praxi, in statu quovis, seculo nostro frequentissimis. heraus.49 Das ius publicum imperii sacri begriff nach dem Untertitel die Goldene Bulle, die Reichskammergerichtsordnung, die Gerichtsordnungen der Territorien, sowie die Regelungen über Reichsabgaben in sich. Vom Staatskirchenrecht, insbesondere dem Augsburger Religionsfrieden, sowie von den Schranken, die das Reichskammergericht der Machtvollkommenheit gesetzt hatte, war noch keine Rede. Auch ließen sich die Überlegungen des ehemaligen Professors der Institutionen in Heidelberg Andreas Knichen50, der 1600 den Bezug der Herrschaft auf ein Territorium herausgefunden und die Landesobrigkeit als eine auf ein Gebiet des Reiches bezogene teilselbständige Herrschaft beschrieben hatte, nicht unter das ius publicum imperii verorten. Auch konnte sich der Name ius publicum imperii sacri nicht sofort durchsetzen. Der Jenaer Professor der Geschichte und Poesie Dr. Quirinus Cubach (1589 – 1624), der 1617 unter dem Einfluß von Arumaeus die Goldene Bulle und das nachreformatorische (Staats-)Kirchenrecht behandelte,51 kannte ihn offenbar noch nicht und war auch nicht bereit, die Verbindung zum überkommenen ius publicum zu kappen. Denn nach der Rüge, Lehre und Studium hätten zu viel Gewicht auf die iuris privati materias gelegt und darüber das ius publicum vernachlässigt, antwortete er auf die Frage „Quod est ius publicum?“ noch mit Ulpian und Papinian: „Propie & stricte est, quod ad statum rei Romanae spectat hoc est Reipub.“ und: „Impropie vero & late & illa sunt juris publici, quae ob modum a lege praefinitum (ut qui omnino servandus nec per aequipollens adimpletur) non sunt in privatorum arbitrio; statum tamen Reipubl. nihil attingunt: quomodo videtur accipi in illo Papiniani ius publicum privatorum pactis mutari non potest, privatorum conventio juri publico non derogat, & alterum.“ Der seit 1619 in Trier als Professor der Pandekten tätige August Vischer (*1695, † nach 1674 ?52), der Cubach von seinem Studium in Jena gut kannte, wiederholte in der Zueignung einer seiner Arbeiten über die Goldene Bulle an die drei geistlichen Kurfürsten nur den Vorwurf, das ius publicum, dem er sich mit besonderer Anstrengung gewidmet habe,53 sei bisher kaum oder nur un49

Hanau 1614 bis 1618, 2. Aufl. 1620 – 1633. Andreas Knichen, De sublimi et regio territorii iure synoptica tractatio, in qua principum Germaniae regalia territorio subnixa, vulgo Landes Obrigkeit indigata, nusquam antehac luculenter explicantur Frankfurt 1600 (zahlr. Aufl.); dazu Schulze (Fußn. 13), S. 53; Dieter Willoweit, Rechtsgrundlagen der Territorialgewalt, Köln 1975, S. 122 – 127. 51 Iurisprudentiae germano publicae, hoc est constitutionum imperii sc. constitutionis religiosae, aureae bullae, ordinationis camerae, politicae, constit. de pace publ. de arestis L. diffamari etc. nude compendiose et methodice comprehensarum liber I 8. Halle 1617. Vgl. zu ihm Stolleis (Fußn. 47), S. 142. 52 Wenn er das Kayserlich Allergnädigste Rescriptum vom 28. Oct. 1674 noch herausgab. 53 Delineationum historico-politico-iuridicarum Pars Prior De Duello Proviso mit Ortholph Fomann, Ienae: Beithmannnus 1616; Tractatus duo juris duellici universi: quorum prior des 50

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genügend behandelt worden, obwohl seine Kenntnis für alle Rechtsgelehrten unverzichtbar sei, die den Dienst im Reich, bei Fürsten und Kommunen anstrebten.54 duello proviso, posterior de duello improviso, Ienae: Beithmann 1617, 20 + 712 Seiten; Gratulationsgedicht in: Oswald Hilliger (Praes.), Johannes Stoll (Resp.) Disputatio De Judices in Theses conjecta, Ienae: Beithmann 1617; Gratulationsgedicht in: Valentin Melasius, Personas tum quibus tum contra quas iuramentum praestetur, Ienae: Beithmann 1618; Resp. zu Dominicus Arumaeus, Discursus tertius ad Aureae Bullae Caroli Quarti Rom. Imp. Leges Imperii Fundamentales: Authoritate Maiorum Publico disputantium examini, & omnium publici iuris Indagatorum censurae Expositus, Ienae: Steinmann 1617; Resp. (mit Rudinger, Persaeus, Scheffer, Deien, Jacobi) zu Dominicus Arumaeus, Discursus accademici ad auream bullam Caroli quarti Romanorum imperatoris etc.: in quibus de conductu electoralibus praestando, Romanorum regis electione, sessione electorum, regis Bohemiae aliorumque electorum Privilegiis, regalibus, comitiis, confoederationibus, pfalburgeriis, diffidationibus unione principatuum electorum, et intergrate eorundem servanda, officiis electorum, et juribus officialium, aliisque materiis ad juris publici elucidationem pertinentibus tractatur, ed. 2. priore corr. et auct., Ienae 1619, 373 Seiten. Nach seiner Aufnahme in die Trierer Juristenfakultät erschienen: außer dem Diskurs über die Goldene Bulle: De conservatione familiarum per foedera et confoederationes, Luxemburg: Zech (Reulandt), 1620; De modis feudum constituendi & constitutum adquirendi, Trier: Immendorff 1621; Dissertatio politica iuridica de his quibus Regalia competunt quibus item modis Regalia aquiruntur et amittentur Trier: Immendorff 1621; Disputatio Canonica de Electione, eiusque Solemnitatibus, Trier: Immendorff 1623 (Respondent Johann Gottfried Hack); Iustitia extructionis Idumeae. Das ist, Deß Ersten Udenheimischen Wall: nunmehr Philippsburgischen Vestung Bawes; Oder wohlgegründte Confutation und Widerlegung eines nach vorgenommener Landfriedtbrüchigen demolition besagten Wallbaws, under dem Titul, Kurtze und gegründete Außführung, [&]c. außgegangenen und spargirten famôs scripti: Sampt darzu gehörigen Beylagen, verfertigt durch Augustum Fischerum I. V. D. Professorem publicum … Frankfurt Weiß 1625; Tractatus succinctus et exactus de electione regis sive imperatoris Romanorum ejusque requisitis et solemnitatibus ad aureae bullae Caroli IV. Romani Imperatoris legem Imperii fundamentalem, methodice conscriptus ab Augusto Vischero Dresda-Misnico, Jurisconsulto & in inclyta quondam [aus der Universität ausgeschieden]Treverorum Universitate Professore, Parisiis Moreau 1633; Aurea bulla Caroli IV. Romani Imperatoris unacum commentario methodico de electione regis et imperatoris Romanorum, eiuusque Solemnitatibus Trier: Immendorf 1636; Kayserlich Allergnädigstes Rescriptum An Dero Höchstansehentl. Käys. Commission zu Regensburg de dato 28. Oct. Anno 1674 wegen Schleuniger Anmarschirung der Reichsund Creiß-Völckern gegen den Festung Philippsburg, und würcklicher Blocquirung selbigen Platzes: Dictirt in der Reichsdictatur den 19/29, Octob. 4 Bl. 54 Discursus Historico-Politico-Iuridicus de Electione Regis et Imperatoris Romanorum Eiusque Solemnitatibus Ad Aureae Bullae Caroli IV. Romani Imperatoris Leges Imperii fundamentales methodice conscriptus et […] expositus ab Augusto Vischero Dresda-Misnico Iureconsulto & in incluta Trevirorum Universitate Professore Pandectarum Publico, Luxemburg: Zech (Reulandt), 1620, 4 + 128 Seiten (den Kurfürst-Erzbischöfen gewidmet); mit gleichem Titel und gleicher Seitenzahl: Frankfurt Zunnerus 1645. Dazu auch Stolleis, (Fußn. 47) S. 142, der auf ganz ähnliche Äußerungen von Ortolf Fomann (De Jure privilegiis Comitum Palatinorum Caesareorum, in: Arumaeus Discusus III Theil I h.) und von Georg Brautlacht (Epitome Jvrisprudentiae Publicae universae Eivsdem Methodum, Materiarum Sub Eadem Contentarum Dispositionem, Definitiones, Divisiones, &c. [prout pleniùs aliquantò pertractandae sunt] breviter & nervosè exhibens Conscripta & praemissa à Georgio Braudlacht Westph. Erfurdiae 1622). Fomann (* Schleusingen 23. 1. 1560, † Jena 19. 5. 1634) war noch vor Arumaeus Professor der Rechte und Hofgerichtsassessor in Jena geworden und Brautlacht las dort zeitweilig.

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Doch hätten beide Unsinn geredet, wenn das Reichsstaatsrecht in den ersten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts bereits an allen deutschen Universitäten etabliert gewesen wäre.55 Da es an den Juristenfakultäten keine Lehrstühle für das ius publicum imperii sacri gab, hing es allein von dem persönlichen Interesse der für andere Rechtsgebiete zuständigen Professoren ab, inwieweit sie sich auch der Pflege des ius publicum zuwandten oder ihm wenigstens im Rahmen ihrer Vorlesungen und Schriften zum römischen Recht besonderes Augenmerk schenkten. Das überforderte die Juristenfakultäten offenbar, denn mit dem Reichsstaatsrecht war es nach kurzer Blüte, die nur einige Universitäten erfaßte, noch während des Dreißigjährigen Krieges, der die Universitäten erneut in eine Krise geraten ließ, wieder zu Ende. Der Pandektenprofesssor Dominicus Arumaeus (1579 – 1637) hatte in Jena zwar mehrere Schüler und Kollegen dafür gewonnen, mit ihm ab 1615 in Discursus academici de iure publico einzutreten, welche die Reichsgrundgesetze zum Gegenstand hatten, vom ius publicum imperii sacri sprach er aber auch nicht und mit seinem Tod war es in Jena mit dem Reichsstaatsrecht vorbei. An andere Universitäten, an die seine Schüler das ius publicum mitgebracht hatten kam es zum Erliegen, als sie ausschieden, so in Trier, als der erwähnte August Vischer um 1633 in die Dienste des Kurfürsten Philipp von Soetern56 trat, wie in Gießen und Rinteln.57 Der von 1621 bis 1636 in Straßburg als Professor der Institutionen und Geschichte tätige Joachim Cluten konnte die Lehre des Staatsrechts dort ebensowenig fest etablieren, wie der Pandektenprofessor Matthias Stephani (1576 – 1646) in Greifswald, wo er im Jahr 1624 einen zweibändigen Discursus academici ex iure publico tam ecclesiastico quam seculari vorgelegt hatte. Christoph Besold (1577 – 1638), der seine grundlegenden Werke zur Politik als Pandektenprofessor in Tübingen verfaßte, soll zwar 1636 in Ingolstadt Professor für den Kodex und das „öffentliche Recht“ [?] gewesen sein, doch fand er weder hier noch dort einen Nachfolger58. 55 So aber Horst Dreitzel, Protestantischer Aristotelismus und Absoluter Staat. Die ,Politica‘ des Henning Arnisaeus (ca. 1575 – 1636), Wiesbaden, 1970, S. 97, 157 f., 412. 56 Vgl. Michael Franz Joseph Müller, Trierer Gelehrte, in: Trierische Kronik 1824, S. 151 f.; Johann Nikolaus von Hontheim: Historia Trevirensis diplomatica et pragmatica inde a translata Treveri prafectura praetorio Galliarum ad haec usque tempora […] 3 Bde. Augustae Vindelicorum et Herbipoli 1750, Bd. III pag. 421 b. 57 Reinhard König (1583 – 1658), der auch in Jena studiert und 1620 von dort nach Gießen gegangen war. 1618 hatte bereits eine Disputation unter ihm in Jena stattgefunden: Dissertatio Politica De Oeconomia Principis, Sive De Aulae Constitutione, Jenae : Beithmann, 1618. In Gießen hat zwar Gottfried Antonius der erste Inhaber der Kodexprofessur, die 1607 bei Gründung der Universität errichtet wurde, Vorlesungen zum Lehnrecht und zur Goldene Bulle gehalten und darüber publiziert, einen Lehrstuhl für das ius publicum hatte Gießen aber damit noch nicht. 58 Karl Härter, Ius publicum und Reichsrecht in den juristischen Dissertationen mitteleuropäischer Universitäten der Frühen Neuzeit, in: Jacques Krynen / Michael Stolleis (Hrsg.), Science politique et droit public dans les facultés de droit européennes (XIII–XVIII siècle). Frankfurt 2008 S. 485 – 528 (S. 507).

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Die Six Livres de la République59 Jean Bodins60 hatten in der lateinischen Fassung in Deutschland große Aufmerksamkeit gefunden,61 zwischen 1591 und 1641 wurden sie in Frankfurt a. M. nicht weniger als sechsmal gedruckt. Dennoch konnte sich im Heiligen römischen Reich die Idee der Souveränität des Staates über das Recht nie durchsetzen, vielmehr hielt man wenigstens in der Rechtslehre durchgängig daran fest, daß die Herrschaft dem Recht zu dienen hatte und ihm unterworfen blieb. Das prinzipielle Nachdenken darüber, wie der Staat und seine rechtlichen Ordnung beschaffen sein sollte, hatte seinen Platz außerhalb der Juristenfakultäten bei den Philosophen, die im Rahmen der philosophia practica nach der „rechten“ Politik fragten. Die Auseinandersetzung mit der Souveränitätslehre Bodins übernahmen denn auch vornehmlich Philosophen wie Arnold Clapmarius, der auf dem Gymnasium in Altdorf lehrte, als dort noch keine Juristenfakultät bestand,62 oder Mediziner und Historiker. Rechtsgelehrte beteiligten sich häufig nur, weil sie ihren Platz außerhalb der Universität hatten. Henning Arnisaeus erklärte z. B. 1610 als Philosophieprofessor in Frankfurt a. d. O. (De jure majestatis libri tres) den Kaiser für souverän und meinte als Mediziner in Helmstedt 1615 (De republica seu relectionis politicae), das Reich habe eine gemischte Verfassung. Das Echo der methodisch arbeitenden Jurisprudenz blieb zunächst gering. Offensichtlich konnte sie mit der Behauptung einer unabhängigen, unbeschränkten, alleinigen und unteilbaren Gewalt, die sich über alle und jeden einzelnen Untertanen erhob, endgültig über alle Rechtsstreitigkeiten, die Begnadigung, die Bestellung und Abberufung der Beamten, die Besteuerung, das Münzrecht und Krieg und Frieden entschied und sich auch gegen die Kirche behauptete, wenig anfangen. Es mußte ihr befremdlich erscheinen, den König von Frankreich zum Souverän zu erklären, der am Ende des 18. Jahrhunderts keine hinreichende tatsächliche oder rechtliche Macht besaß,63 doch wußte sie seit Vultejus und Knichen, daß im Heiligen römischen Reich weder der Kaiser noch eine Vereinigung von Kaiser mit den Reichsfürsten (und Städten) noch die einzelnen Territorialherrschaften auf ihrem Gebiet eine Souveränität durchsetzen konnten. Viele der Schriften, die sich seit der Wende zum 17. Jahrhundert mit der Herrschaftsstruktur des Reichs und dem Reichsstaatsrecht auseinandersetzten, galten

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Six livres de la république 1576; De re publica libri sex 1586. Rudolf Hoke, Bodins Einfluss auf die Anfänge der Dogmatik des deutschen Reichsstaatsrechts. In: Horst Denzer: Verhandlungen der internationalen Bodin Tagung. München 1973. (Münchener Studien zur Politik. Band 18) S. 315 ff. 61 Zur Rezeption Bodins s. Utz Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, Tübingen 2004. S. 80. 62 Wolfgang Mährle, Academia Norica: Wissenschaft und Bildung an der Nürnberger Hohen Schule in Altdorf (1575 – 1623) Stuttgart 2000, S. 333 f. 63 Bekanntlich sollte ihm das, durch Richelieu und Mazarin gestützt, zeitweilig fast gelingen, auch wenn er sich spätestens 1789 als unfähig erwies, eine neue Ordnung der Staatsfinanzen durchzusetzen. 60

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jedenfalls nicht dem geltenden ius publicum64. Der Reichpublizistik ging es im Dreißigjährigen Krieg vornehmlich darum, das Reichsstaatsrecht im Sinne eine Konfession, einer Kriegspartei, eines Fürsten oder der – lutherischen, reformierten oder katholischen – Fürsten oder des Kaisers auszulegen, umzudeuten oder abzuändern. Ihre prominenten Vertreter – Johannes Limnäus, der das Problem der Souveränität durch die Unterscheidung von realer und personaler Majestät zu erledigen suchte, Bogislaw Philipp Chemnitz (Hippolithus a Lapide), der das Reich zu einer Aristokratie erklärte, oder Dietrich Reinking65, der dem Kaiser mit zäher Beharrlichkeit eine unbeschränkte Macht zusprach und sich erst nach 1648 davon abwandte – waren keine Professoren, sondern standen im Fürstendienst. Johann Stephan Pütter erkannte zwar, daß ihre Polemik mit dem Frieden von Münster und Osnabrück sinnlos geworden war, war aber doch der Meinung, Chemnitz habe durch den Beweis, daß die Verfassung des damaligen Heiligen römischen Reichs nicht mehr der des römischen Imperium zur Zeit Justinians entsprach, auf die Verhandlungen in Münster und Osnabrück eingewirkt.66 Von Vultejus ganz abgesehen, der Conring und Chemnitz um Jahre voraus gewesen war, maß er den Streitschriften damit jedoch einen übermäßigen Einfluß auf den Friedensprozeß zu. Keiner der am Frieden von Münster und Osnabrück Beteiligten wollte die bisher geltende Verfassung bewahren, jeder wollte vielmehr, daß das Reich eine Verfassung erhielt oder behielt, die seinen politischen Präferenzen entsprach und suchte das durchzusetzen. Selbst Pütter wußte genau, daß es unter anderen Konstellationen 1635 beinahe zu einem ganz anderen Frieden und einer anderen Verfassungsordnung gekommen wäre. Das Reichsstaatsrecht nach dem Westfälischen Frieden Durch den Westfälischen Frieden war das Imperium Romano-Germanicum zu einem ein durch ausdrückliche Regelungen und – verfestigtes Gewohnheitsrecht – konstituiertem Verfassungsgebilde geworden.67 Das instrumentum pacis hatte das nicht allein durch seine ausdrücklichen staatsrechtlichen Regelungen, sondern durch die Verfestigung des Reichsherkommens erreicht. Die Befugnisse des Kaisers waren seither klar begrenzt, die obrigkeitliche Gewalt war vom Reich weitgehend auf die Territorialherrschaften übergegangen. Doch obwohl ihnen auf ihren Gebieten die Landeshoheit (souveraineté) zukam, blieben sie bis zur Auflösung des

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Stolleis (Fußn. 47), S. 111 ff. Einzig Reinking war ein halbes Jahr als Nichtordinarius an einer Juristenfakultät tätig gewesen. 66 Pütter, Staatsverfassung (Fußn. 25) S. 41 ff. Pütter, Litteratur Bd. 1 (Fußn. 43), S. 207. 67 Krause, Die Auswirkungen des westfälischen Friedens (Fußn. 21), S. 14 ff. 65

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Reichs in dieses eingebunden und vor allem – sämtlich68 – der Reichgerichtsbarkeit unterworfen. Nun wurden an den Universitäten des Reichs, aber auch der endgültig verselbständigten Schweiz und der Generalstaaten, zunehmend eigene Lehrstühle des (Reichs-)Staatsrechts eingerichtet, der Prozeß war freilich am Ende 18. Jahrhunderts noch nicht abgeschlossen. Im Einzelnen ist vieles ungewiß, so bedarf es noch sorgfältiger Prüfung, ob an den Juristenfakultäten in Altdorf 1643, in Freiburg und in Kiel 1665, in Innsbruck 1671, in Tübingen 1681, in Jena und Helmstedt ab Mitte der achtziger Jahre des 17. Jahrhunderts wirklich dauerhaft eine Professur für das ius publicum entstand.69 Verschiedentlich hatte man nur einen traditionellen Lehrstuhl auch die Vertretung Reichsstaatsrecht übertragen, wie es vielleicht schon 1636 kurzfristig in Ingolstadt geschehen war. In Freiburg war Johann Georg Kieffer ab 1660 ordentlicher Professor S.S. Canonum et iuris publici,70 doch nach seinem Abgang war es damit wieder zu Ende. Verwechslungen liegen nahe. Samuel Pufendorf wurde z. B. als Magister der Philosophie 1661 an die philosophische Fakultät Heidelberg berufen, um das Natur- und Völkerrecht zu vertreten. In dieser Eigenschaft verfaßte er unter dem Pseudonym Severinus von Monzambano71 das erste umfassende Werk über den Zustand des Imperium Germanicum nach dem Dreißigjährigen Krieg. Später wurde er bei den Artisten Ordinarius, gelangte aber nie an die Juristenfakultät. Da sein Nachfolger (seit 1671) Heinrich Cocceji, der die erste selbständige systematische Darstellung des Staatsrechts vorlegen sollte,72 in Heidelberg nicht Professor der Rechte war, bleibt es zweifelhaft, ob die dortige Juristenfakultät wirklich 1673 ein Ordinariat für das „Verfassungsrecht“ erhalten hat, ein Wort, das in der damaligen Zeit ganz ungebräuchlich war. Wissenschaftlichen Rang gewann das Reichsstaatsrecht erst im 18. Jahrhundert, als viele deutsche Juristenfakultäten Professuren des ius publicum imperii erhielten und das ius pu68 Kein privilegium de non apellando et non evocando beseitigte die Zuständigkeit des Reichskammerherichts für Rechtsstreitigkeitenen der Territorialherren und ihren Untertanen und wegen Rechtsschutzverweigerung. 69 Eckhart Pick, Mainzer Reichsstaatsrecht. Inhalt und Methode. Ein Beitrag zum ius publicum an der Universität Mainz im 18. Jahrhundert (Recht und Geschichte Bd. VII). Wiesbaden 1977, S. 96. So ist auch die These Picks (S. 96), daß Gottfried Ferdinand von Buckisch und Löwenfels 1698 für einen Monat (???) professor publicus historiarum, auch iuris publici et feudalis gewesen (S. 44 f.) ebenso problematisch wie seine Bemerkung Pe(e)tz und Lieb (S. 44 und S. 97 Anm. 38) hätten wohl einen Lehrstuhl des öffentlichen Rechts gehabt. Daß Johann Valentin Strauß 1719 in Mainz als Professor für Codex und ius publicum auftrat (Pick, S. 100 ff.), unterscheidet ihn jedenfalls nicht von Besold, dessen Codexprofessur in Ingolstadt nicht auf das ius publicum erstreckt ist (so Pick, S. 92 ff.), sondern der sich nur so benannte. 70 Alexander Hollerbach, Jurisprudenz in Freiburg. Beiträge zur Geschichte der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität. Tübingen 2007 S. 84 ff. 71 Severinus de Monzambano Veronensis, De statu imperii germanici ad Laelium fratrem, dominum Trezolani, liber unus, 1667. 72 Erich Döhring, „Cocceji, Heinrich von, Freiherr von“, in: Neue Deutsche Biographie 3 (1957), S. 300 f.; s. a. Heinrich Cocceji, Juris publici prudentia, Frankfurt/O. 1695, 4. Aufl. 1723.

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blicum universale lehrten, dem im Verhältnis zum ius publicum particulare die gleiche ergänzende und legitimierende Funktion zugemessen wurde, wie sie dem gemeinen Recht im Verhältnis zum partikularen Recht zukam.73 Zu einem Sonderrecht wurde es damit nicht. Das Recht der Polizei im Justizstaat des 18. Jahrhunderts Die Verheerungen und Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges, die mit ihm verbundene Entwurzelung und Verarmung, aber auch die folgende schnelle Blüte der Wirtschaft hatten die gute Ordnung des Gemeinwesens abermals ins Wanken gebracht. Die Obrigkeiten sahen sich erneut herausgefordert, sie durch den Erlaß von Polizeiordnungen und polizeiliche Einzelmaßnahmen aller Art wiederherzustellen. Das forderte Wissenschaft und Rechtsprechung zusätzlich heraus. Lehrstühle der Kameral- oder Polizeiwissenschaften, die Friedrich Wilhelm I. an den Juristenfakultäten in Frankfurt an der Oder und in Halle an der Saale 1737 errichtete, entwickelten nur technisch-praktische Regeln, die zeigten, welche polizeilichen Maßnahmen unter bestimmten Umständen zum Gemeinwohl dienlich waren. Über die rechtlichen Voraussetzungen und die rechtlichen Folgen ihres Einsatzes hatte jedoch die Rechtslehre zu entscheiden. Sie schützte, auf die vom Reichskammergericht seit dem 16. Jahrhundert entwickelten Prinzipien gestützt,74 die Rechte und Freiheiten der Untertanen auch gegen die unbegrenzte Polizeigewalt des aufkommenden Staates.75 Das Reichskammergericht hatte die Rechte und Freiheiten des einzelnen zwar hinter das „ius eminens“ des Staaates zurückgestellt.76 Doch waren dessen Voraussetzungen eng. Der Professor des römischen Rechts Heineccius77 resümierte, es komme nur in Fällen extremen Notstandes zum Tragen; Christian Wolff erkannte darin ein Prinzip des Naturrechts: „Jus eminens tum demum locum habet, quando eius usus est medium u n i c u m salutis publicae

73 Thomas Karst, Das Allgemeine Staatsrecht im Rahmen der Kronprinzenvorträge, Hamburg 2000; Robert Schelp, Das Allgemeine Staatsrecht – Staatsrecht der Aufklärung, Berlin 2001. 74 Christoph Link, Herrschaftsordnung und bürgerliche Freiheit. Grenzen der Staatsgewalt in der älteren deutschen Staatsrechtslehre, 1979. 75 Johann Ulrich von Cramer, Wetzlarische Nebenstunden, Ulm 1755, Bd. I S. 88; Johann Stephan Pütter, Beyträge zum Teutschen Staats– und Fürstenrecht, Bd. 1, Göttingen 1777: Von der Bestimmung, welche die Landeshoheit mit jeder anderen höchsten Gewalt auch darinn gemein hat, daß einem jeden sein wohlerworbenes eigenthümliches Recht zu lassen ist, S. 351 ff. (361); eindringlich Samuel de Cocceji, Introductio ad Henrici de Cocceii Grotium illustratum, Lausanne 1751: Civitas juris tuendi causa congregatus (Diss. XII, § 613, S. 555). 76 Ein Obereigenthum verneint Svarez ausdrücklich: Kronprinzenvorträge Fol. 169v. 77 Gottlieb Heineccius, Elementa iuris naturae et gentium Lib. II. 1738 cap. VIII § 171 S. 511: „quando id extrema reipublicae necessitas exigit“.

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in casu emergente promovendae.“78 Die Rechte der Einzelnen hatten dem „bonum commune“ nur zu weichen, wenn es das Gemeinwohl, die „salus publica“, dringend erforderte und „rationes idoneas“79 erkennen ließen, daß das abgeforderte Opfer nicht außer Verhältnis zu den erstrebten Vorteilen und der Wahrscheinlichkeit ihres Eintritt stand.80 War der Eingriff danach gerechtfertigt, hatte der Betroffene dem Prinzip der Lastengleichheit zufolge den Anspruch auf Ausgleich. Im Verlauf des 18. Jahrhunderts hatte das Reichskammergericht den Schutz auf die allgemeine Handlungsfreiheit erstreckt und die Eingriffe und soweit sie nicht vom Träger der Landeshoheit vorgenommen wurden, vom Vorliegen einer zureichenden gesetzlichen Grundlage abhängig gemacht. Das Prinzip, jeder Mensch könne im Rahmen der Gesetze tun und lassen, was er wolle, war spätestens seit der Mitte des Jahrhunderts in Deutschland Gemeingut geworden und wurde nicht mehr ernsthaft bestritten. Der große Gelehrte des Naturrechts und römischen Rechts und preußische Großkanzler Samuel Cocceji hatte 1749 unter dem Namen des preußischen Königs ein – bald in die französische und englische Sprache übersetztes – Landrechtsprojekt drucken lassen, in dem es lange vor Jean Jacques Rousseau apodiktisch hieß: „Dann alle Menschen werden von Natur frei geboren, und sind keines anderen Eigenthum und Dominio unterworfen.“81

Die Rechtsfolge war klar: „Der Erste Status Hominum, das ist, die erste Condition und Qualitaet, welche alle Menschen von Natur erlangen, ist der Status Libertatis, weil alle Menschen von Natur freye Leute, das ist, keines andern Herrschaft und Eigenthum unterworfen sind.

78 Christian von Wolff, Jus Naturae 1748 VIII § 116 S. 78; wörtlich gleichlautend in den Institutiones § 1065 S. 663 f. Sperrung von mir. 79 Wolfgang Rüfner, Verwaltungsrechtsschutz in Preußen 1749 – 1842. 1962, S. 33; HansUwe Erichsen, Verfassungs- und verwaltungsrechtsgeschichtliche Grundlagen der Lehre vom fehlerhaften belastenden Verwaltungsakt und seiner Aufhebung im Prozeß, Frankfurt 1971, S. 64. 80 Svarez hatte das in den Kronprinzenvorlesungen immer wieder postuliert. 81 Project des corporis juris fridericiani, das ist Sr. Königl. Majestät in Preussen in der Vernunft und Landes=Verfassungen gegründete Land=Recht worinn das Römische Recht in eine natürliche Ordnung und richtiges Systema, nach denen dreyen Objectis Juris gebracht: Die General-Principia, welche in der Vernunft gegründet sind, bei einem jeden Objecto festgesetzet, und die nöthigen Conclusiones, als so viel Gesetze, daraus deduciret: Alle Subtilitäten und Fictiones, nicht weniger was auf den Teutschen Statum nicht applicable ist, ausgelassen: Alle zweifelhafte Jura, welche in denen Römischen Gesetzen vorkommen, oder von denen Doctoribus gemacht worden, decidiret und solchergestalt Ein Jus certum und universale in allen Dero Provintzen statuiret wird. Zweyte Auflage. Halle In Verlegung des Wäisenhauses, Anno 1750, (1. Aufl. 1749). Pars I. Lib. I. Tit. IV. Von dem ersten Objecto der Gerechtigkeit, nämlich de Statu Hominum seu De Jure Personarum §. 9. Übergegangen in § 83 Einl. ALR : „Die allgemeinen Rechte des Menschen gründen sich auf die natürliche Freyheit, sein eignes Wohl, ohne Kränkung der Rechte eines Andern, suchen und befördern zu können.“

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Vermöge dieses Status haben alle Menschen, von der Natur selbst, eine Macht und Gewalt, nach Anleitung der Landes=Gesetze zu thun und zu lassen, was sie wollen82, das ist, sie können von ihren Actionen und Vermögen nach Gefallen disponiren.“

Noch vor 1789 hatte die deutsche Rechtslehre die natürliche Handlungsfreiheit in den Schutz der wohlerworbenen Rechte einbezogen. Die Freiheit sei der höchsten Gewalt nur unterworfen, hieß es bei Johann Stefan Pütter,83 „sofern es das gemeine Beste erfordert“. „Einschränkungen“ müßten alle „in verhältnismäßiger Gleichheit treffen“. „Solange es irgend möglich ist, den Zweck der gemeinen Wohlfahrt ohne, oder doch mit einer geringern Einschränkung der natürlichen Freyheit zu erhalten; so ist es unrecht, diese ohne Noth oder über die Gebühr einzuschränken.“ Auch die Reichsgerichte setzten die natürliche allgemeine Handlungsfreiheit, unterstützt durch die Idee des Staatsvertrages, dem ius quaesitum gleich.84 Sie prüften, ob die Landeshoheit „wohl“ gebraucht oder mißbraucht worden sei,85 und fragten dabei nicht nur danach, ob sie die natürliche Handlungsfreiheit ohne zureichendenden Grund beschränkt oder die ihr dafür gesetzten Grenzen überschritten habe,86 sondern wogen konkret die Rechts- und Freiheitsbeschränkung gegen die beabsichtigte Förderung des Gemeinwohls nach dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit ab: „Es ist eine Pflicht des Gesetzgebers, daß er niemandes Recht und natürliche Freyheit einschränke, wenn das gemeine Beste dadurch nicht befördert wird.“87 Wie zur Beschränkung oder Entziehung von Eigentumsrechten (iura quaesita) bedürfe die Obrigkeit zur Einschränkung der natürlichen, allgemeinen Freiheit der Grundlage in Gestalt eines zuvor bekanntgegebenen wohlabgewogenen Gesetzes.88 Trug das Gesetz dem nicht Rechnung, behandelten sie es als ungültig. Die Landesgerichte durften zwar kein Polizeigesetz als ungültig behandeln,89 82

Hervorhebung nicht im Original. Pütter, Staats- und Fürstenrecht (Fußn. 75), S. 354. 84 Rüfner (Fußn. 79), S. 38 ff., der insbesondere auf Cocceji, dessen Project eines allgemeinen Landrechts zu ergänzen ist, und auf Gottlieb Hufeland und damit auf Immanuel Kant hinweist. 85 Rüfner (Fußn. 79), S. 33 ff. 86 Rüfner (Fußn. 79), S. 36 ff. 87 David George Strube, Rechtliche Bedenken, Fünfter Theil, Zweyter Theil Zweyte Aufl. Hannover 1774 XLVII. S. 164. 88 Der Begriff des Gesetzes hatte in der Naturwissenschaft den Charakter als allgemeiner Regelung aufgenommen, der ihm ursprünglich fremd war. Nicht umsonst hatte Kant im kategorischen Imperativ das allgemeine Naturgesetz in Bezug geommen. Svarez forderte in den Kronprinzenvorträgen durchgehend, die öffentliche Gewalt nur nach Allgemeinen Gesetzen als Ausdruck des Allgemeinwillens auszuüben. 89 Häberlin (Fußn. 30) 2. Bd. S. 567, Vgl. grundlegend und mit zahlreichen Nachweisen David George Strube, Gründlicher Unterricht von Regierungs– und Justiz–Sachen, worin untersucht wird: Welche Geschäfte ihrer Natur und Eigenschafft nach vor die Regierungsoder Justiz-Collegia gehören? Hildesheim 1733 ; wieder abgedruckt in: Rechtliche Bedenken, Fünfter Theil, Zwote Auflage, Hannover 1777), Sectio III § XXIV S. 89 f. – Nach Strube gilt 83

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konnten aber prüfen, ob überhaupt ein Gesetz vorlag, das unter den gegebenen tatsächlichen Voraussetzungen den Eingriff gestattete.90 Im Notfall stand den Untertanen gegen das Gesetz noch die Klage zu einem der beiden Reichsgerichte offen. Kein Kurfürsten war dagegen gefeit, von seinen Untertanen vor den Reichsgerichten verklagt zu werden. Nach dem Erfolg einer gegen den Kurfürsten von Brandenburg, den preußischen König Friedrich Wilhelm I., erhobenen Klage vorm Reichshofrat, griff dieser – unter Mißachtung des Reichsstaatsrechts – zwar zu polternden Strafdrohungen. Erfolg hatte das nur, weil er seinen Untertanen innerhalb des Landes Rechtsschutz bot.91 Eine Klausel, die auf Betreiben des Trierer (Sectio III): Die der Landesfürstlichen Cammergüther und Gerechtsame halber zwischen den Aemtern und Unterthanen entstandene Zwistigkeiten sind ordentlich von den Justitz–Collegiis […] zu entscheiden. Der Fürst ist an die Gesetze gebunden, im Reich unterliegt er der Reichsgerichtsbarkeit. Das hindert ihn nicht, sich vorab den ordentlichen Landesgerichten zu unterwerfen (für Brandenburg-Preußen m. Hinweis auf die Verordnung von 1713 die Verbesserung des Justizwesens betreffend, S. 41 Anm. h und S. 88 Anm. a). Gegen Polizeigesetze kann nur ein jus quaesitum eingewendet werden, doch gegen jede einzelne polizeiliche Maßnahme kann auch mit der Behauptung Rechtsschutz bei den ordentlichen Gerichten nachgesucht werden, es fehle gänzlich an einer gesetzlichen Eingriffsbefugnis (zum Vorbehalt des Gesetzes vgl. a. Rechtliche Bedenken, 5. Theil, Nr. III und XIII), der im Gesetz vorausgesetzte Tatbestand sei nicht erfüllt (quaestio facti) oder die Polizeibehörde habe das Polizeigesetz falsch interpretiert (quaestio juris). Anstelle der ordentlichen Richter können in solchen Fällen auch sonstige fürstliche Bediente entscheiden, vorausgesetzt, sie seien wie die ordentlichen Richter auf das Recht verpflichtet und von der Wahrnehmung des fürstlichen Interesses entbunden (vgl. S. 41 Anm. h, S. 43 Anm. m). 90 Strube, Gründlicher Unterricht (Fußn. 89) § XXVI S. 91. „Warum solte ein Richter nicht sowohl Policeyordnungen als andere Gesetze auf die vorkommenden Fälle appliciren?“ nachdrücklich darauf bestanden, „daß den Unterthanen auch diejenige Befugnisse ungeschmälert bleiben, welche ihnen die Policeyordnungen mittheilen“. 91 Friedrich Wilhelm I. wollte seine Interessen nicht auf Kosten des Rechts durchsetzen; vgl. Allgemeine Ordnung, die Verbesserung des Justitzwesens betreffend vom 21. Junii 1713 : „Verordnen wir wohlbedächtlich, 1) daß in allen Dingen und rechtlichen Handlungen zwischen unsern Fisco an einer und zwischen unseren Vasallen und Unterthanen an der anderen Seite, […] wann unser Interesse auf einerley Weise dabey waltet, unsre Judicia und Commissiones sich nicht an dasselbe binden, sondern lediglich die Justitz, als auf welche sie geschworen, und beeydiget sind, zum Augenmerk haben sollen, ohne an alle darwider laufende Verordnungen, als welche allezeit vor erschlichen, und mit dieser unserer ernstlichen Willens meynung streitend zu halten, im mindesten zu kehren, und ohne sich dadurch von denen Wegen der Gerechtigkeit ablenken zu lassen, massen ihnen solche Verordnungen so wenig, als unser vorgeschütztes Interesse zu keiner Entschuldigung in diesem und jenem Leben dienen mag und werden wir dergleichen unzulängliche Entschuldigungen, ohnegeachtet solche ungerechte Richter mit aller Strenge bestrafen, wenn sie nämlich überzeugt (= überwiesen) werden können, daß sie mehr auf unser, alsdann an sich nichtiges, und mit dem Nutzen, der aus rechtschaffener Administrierung der Justitz entspringet, nicht zu vergleichendes Interesse, als auf die Justitz und die Unschuld ihr Absehen Gott–Pflicht vergessener und Gewissenloser Weise gerichtet. Ja wir ruffen selbst den einzigen Herzenskündiger an, daß er die Thränen der Unschuldigen, welche solche abscheulichen Proceduren auspressen mögten, allein auf deren Uhrheber Kopf kommen lasse“ (vgl. Strube, Gründlicher Unterricht (Fußn. 89), S. 41). Ähnlich, allerdings primär zum Schutz des Adels, Friedrich II., Cabinetsordre v. 6. Februar 1745, vgl. (Fischbach) Historische politisch-geographisch-statistisch und

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Kurfürsten 1790 in Art. 19 § 6 der Wahlkapitulation eingerückt wurde: „Wenn auch Landstände und Unterthanen wider ihre Obrigkeiten in Privatsachen, welche die landesfürstliche Kammer betreffen Klage führen; sollen und wollen wir diese bey ihren ordentlichen Landesgerichten entscheiden lasse, weder den Reichsgerichten gestatten, über solche Klagen in letzter Instanz, wenn privilegia de non appellando vorhanden sind, und darin kein ausdrücklicher Vorbehalt enthalten, oder ein anderes durch Verträge mit den Landschaften und Obrigkeiten nicht bestimmt ist, zu urtheilen“92, wurde in ihre Wirksamkeit bestritten und ließ die Klage wegen Rechtsschutzverweigerung offen.93 Jedenfalls hinderte sie es nicht, daß die Trierer Landstände ihren Kurfürsten 1791 vor das Reichskammergericht zogen, weil er unter Mißbrauch des ihm vorbehaltenen Recht zur Außenpolitik den französischen Emigranten eine Plattform eröffne, die das Kurfürstentum in einen Krieg mit Frankreich zu verstricken drohe. Überdies verurteilte der Reichshofrat noch gegen Ende des 18. Jahrhunderts mehrere Landesherren zu langjährigen Freiheitsstrafen wegen Mißbrauchs der Landeshoheit, die der Kaiser auch vollzog.94 Die Rechtspraxis hatte keinen Anlaß, das Recht der Polizei aus dem Zivilrecht zu lösen.95 Sie rechnete selbstverständlich die angewendeten Grundsätze der Polizei wegen des Gemeinbezugs dem „ius publicum“ im überkommenen Sinne zu, ging aber nicht darüber hinaus. Da die Polizeigewalt ihre Grundlage nicht im positiven Recht fand, sondern aus der Natur oder der Idee des Staates hergeleitet worden war, lag es auf der Hand, daß die Normen über ihre Ausübung nicht aus dem ius particulare des Reichs oder eines Territoriums, sondern aus dem Natur- und Vernunftrecht, d. h. im ius publicum universale, geflosssen waren. Das Reich und die Landesherrschaften hatten zwar Polizeiordnungen erlassen, aber kein Bedürfnis gehabt, die Grundsätze in das positive Recht zu überführen, es genügte ihnen offenbar, daß sie jederzeit eine gesetzliche Grundlage schaffen konnten, nach dem allgemeinen Landfrieden zur Selbsthilfe berechtigt geblieben waren und ihre die Untertanen auch durch Strafandrohungen von gefährlichem Tun abhalten und zur Vorsorge antreiben konnten. Es hat weder die Polizei an der Erfüllung ihrer Aufgaben gehindert noch den „Schutz von Eigentum und Freiheit“96 gemindert, daß die Beziehung zwischen dem militärische Beyträge die Königlich Preußischen und benachbarten Staaten betreffend, Des zweeten Theils, erster Band, 1782, S. 593 ff. 92 Vgl. Rüfner (Fußn. 79), S. 48. 93 Häberlin (Fußn. 30), Bd. 2 S. 471 ff.; Rüfner (Fußn. 79), S. 46; Hans Kaden, Aufstieg und Niedergang der Kompetenzkonfliktsgerichtshöfe Saarbrücken 1970 S 23 m. w. Nachw. 94 Häberlin (Fußn. 30), Bd. 2 S. 13, 46, 69 verweist auf Klagen gegen den Bischof von Speyer, den Grafen Wittgenstein, den Wild und Rheingrafen, den Herren von Reus. 95 Es blieb einer späteren Polemik vorbehalten zu behaupten, man habe die als Privatrechte interpretiert. 96 Thomas Würtenberger hat den „Grundrechtsschutz im ausgehenden 18. Jahrhundert“ oder den „Schutz von Eigentum und Freiheit im ausgehenden 18. Jahrhundert“ auf dem Trierer Symposium zum 250. Geburtstag von Carl Gottlieb Svarez eingehend gewürdigt. In: Walther Gose/Thomas Würtenberger (Hrsg.) Zur Ideen- und Rezeptionsgeschichte des Preußischen Allgemeinen Landrechts Stuttgart/Bad Cannstadt 1999 (vgl. Inhalt: S. 5) S. 55 ff.

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Staat als Träger der Polizeigewalt wie ein Zivilrechtsverhältnis verstanden wurde. Den iuris publici periti genügte es, daß sich die Untertanen ohne Rücksicht auf ein privilegium de non appellando und non evocando97 gegen rechtswidrige Verkürzungen ihrer hergebrachten Rechte vor dem Reichskammergericht98 und vor dem Reichshofrat99 wehren konnten, auch gegen das ius eminens, das dem Staat zur Wahrung des Gemeinwohls zukam,100 und dabei in einem beschleunigten summarischen Verfahren, dem Mandatsprozeß, zu Entscheidungen kamen.101 Häberlin zog in seinem Handbuch des Deutschen Staatsrechts den Schluß102: „Unsere teutsche Landesherrn sind keine Despoten, die thun und lassen können, was sie wollen, und deren Befehlen die Unterthanen sich blindlings unterwerfen müssen, sondern sie können auch dagegen sowohl einzeln, als insgesammt Klage erheben, und der Fürst kann sich nicht weigern, die Recht- oder Unrechtmäßigkeit seiner Befehle, sie mögen nun unmittelbar von ihm selbst, oder von seinen Regierungs- und Kammer-Collegien herrühren, gerichtlich erörtern zu lassen.“ Die Erfindung des „öffentlichen Rechts“ Die Wendung „öffentliches Recht“ findet sich zwar schon 1723 in der deutschen Rechtssprache,103 doch blieb sie der Rechtswissenschaft noch bis zu Beginn des 19. 97

Eduard Kern, Geschichte des Gerichtsverfassungsrechts, München / Berlin 1954, S. 15. Vgl. Walter Jellinek, Verwaltungsrecht. Dritte Auflage. Unveränderter Neudruck 1948, S. 82. Edgar Loening, Gerichte und Verwaltungsbehörden in Brandenburg-Preußen, VerwArch 1894, S. 220, 225 ff. (den Aufsätzen im Verwaltungsarchiv entsprechen die Ausführun gen in: Loening, Edgar, Abhandlungen und Aufsätze, Bd. 1. Gerichte und Verwaltungsbehörden in Brandenburg–Preußen. Ein Beitrag zur preußischen Rechts- und Verfassungsgeschichte, Halle 1914); Erichsen aaO., S. 70. 99 Tatsächlich hatte der Reichshofrat noch gegen Ende des 18. Jahrhunderts Territorialherren wegen Mißbrauchs der Landeshoheit zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt worden, die auch vollzogen wurden. vgl. Eduard Kern, Geschichte des Gerichtsverfassungsrechts, München und Berlin 1954, S. 15. 100 Christoph Link, Herrschaftsordnung und bürgerliche Freiheit. Grenzen der Staatsgewalt in der älteren deutschen Staatsrechtslehre, 1979. 101 Vgl. Rüfner (Fußn. 79), S. 24 f. 102 Häberlin (Fußn. 30), 2. Bd. S. 466 f.; vgl. Rita Sailer, Untertanenprozesse vor dem Reichskammergericht. Rechtsschutz gegen die Obrigkeit in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 33, Köln/ Weimar/Wien 1999. 103 Jacob Carl Spener, Teutsches ius publicum oder des Heil. Römisch=Teutschen Reichs vollständige Staats=RechtsLehre […] Frankfurt und Leipzig 1723, S. 16 ff. Auf die Fundstelle hat Heinz Mohnhaupt aufmerksam gemacht; vgl. Römisch-rechtliche Einflüsse im „ius publicum“/„öffentlichen Recht“ des 18. und 19. Jahrhunderts in Deutschland. In: Index. Quaderni camerti di studi romanistici (Neapel) 16 (1988), S. 151 – 175; wieder abgedruckt in: Historische Vergleichung im Bereich von Staat und Recht: Gesammelte Aufsätze von Heinz Mohnhaupt, Max-Planck-Institut für Europäische Rechtsgeschichte (Ius Commune/Sonderhefte 134), Frankfurt am Main 2000, S. 125 ff. 98

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Jahrhunderts fremd.104 Sie hielt an der lateinischen Bezeichnung fest, die ihr aus dem corpus iuris Justinians vertraut war, und bevorzugte für das ius publicum imperii sacri den deutschen Ausdruck „Reichsstaatsrecht“.105 Die Professoren für das „Reichsstaatsrecht an den Universitäten des Heiligen römischen Reichs“ nannten sich zumeist kurz Staatsrechtslehrer. Auch im allgemeinen Sprachgebrauch des 18. Jahrhundert setzte sich die Bezeichnung „Öffentliches Recht“ nicht durch. Weder das seit 1704 in zahlreichen Auflagen in Hamburg bei Johann Hübner erscheinende „Reale Staats-, Zeitungsund Conversations-Lexikon“106 noch Adelungs Wörterbuch107 kannten das Stichwort. Einzig in dem großangelegten Lexikon Johann Heinrich Zedlers108 konnte man unter „öffentliches Gesetz“, „öffentliches Recht“ und „Rechtsgelehrsamkeit (die öffentliche) oder Staats=Rechtsgelehrsamkeit oder die Lehre vom öffentlichen Recht“ nachschlagen. „Öffentliche Gesetze“ seien öffentlich kundbar gemachte Verordnungen. Das wich zwar vom klassischen Verständnis der lex publica als lex rogata109 ab, entsprach aber Ciceros „Definition“ des ius publicum. Beidem näherte sich Immanuel Kant an, der 1798 den Inbegriff aller Gesetze, die der allgemeinen Bekanntmachung bedürfen, um einen rechtlichen Zustand hervorzubringen,110 als öffentliches Recht bezeichnete und dem vorstaatlichen, aus der individuellen Einsicht erwachsenen, notwendig streitigen Privatrecht gegenüberstellte.111 Dem Stichwort „öffentliches Recht“ ordnete Zedler drei Bedeutungen zu. Es bezeichne erstens das verbindliche (d. i. zwingende) Recht, zweitens ein der Öffentlichkeit oder jedermann – quivis in publico – zustehendes Recht, und drittens 104

Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland Band 2: Staatsrechtslehre und Verwaltungswissenschaft 1800 bis 1914. 1992, S. 35. 105 Soweit zu sehen wird sie von Johann Jakob Schmauss, Johann Jakob Moser, Johann Stephan Pütter, August Ludik Schlözer und Karl Friedrich Häberlin nicht gebraucht. Carl Gottlieb Svarez spricht in den Kronprinzenvorlesungen (Herausgegeben von Peter Krause, Stuttgart/Bad Cannstatt 2000, Teil 1, S. 115) nur einmal vom „öffentlichen Staatsrecht“. Sebastian Adam Krafft, Juristisch practisches Wörterbuch Erlang(en) bey Johann Jacob Palm 1793, S. 224, kannte für das „ius publicum“ nur die Übersetzung „Staatsrecht“. 106 Vgl. etwa die Ausgabe von 1782. 107 Johann Christoph Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart Leipzig 2. Aufl. 1793 – 1838, in Bd. IV 180, S. 261 f. findet sich nur ein knappes Stichwort „Staatsrecht“. 108 Großes vollständiges Universal-Lexicon […] Fünf und Zwantzigster Theil, Leipzig und Halle 1740 Sp. 564. 109 Jochen Bleicken, Lex publica. Gesetz und Recht in der römischen Republik, Berlin/New York 1975, S. 56 ff., 93, 178 und passim. 110 Metaphysik der Sitten. Abgefaßt von Immanuel Kant. Erster Theil. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre. Königsberg, bey Friedrich Nicolovius, 1797. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre von Immanuel Kant. Königsberg, bey Friedrich Nicolovius. 1797. S. 161. 111 Vgl. Peter Krause (Fußn.1).

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das auf die „eigentliche“ Staatsverfassung bezogene Recht. Doch auch dieses war kein Sonderrecht. Zedler selbst behielt für es den Namen „Staatsrecht“ bei. Jede Republik habe ein eigenes – spezielles – Staatsrecht (ius publicum particulare)112 und sei zugleich – wie Johann Friedrich Horn (Politica Architectonica)113, Ulrich Huber (De iure civitatis mit Anmerkungen von Thomasius)114 und Justus Henning Böhmer (Introductione in Ius Publicum universale)115 gezeigt hätten – einem für alle Staaten gültigen allgemeinen Staatsrecht (ius publicum universale) unterworfen. Die deutschen Publizisten (iuris publici periti)116 konzentrierten sich allerdings auf das – partikulare – Staatsrecht des Heiligen römischen Reichs117 und der reichsständischen Territorien, wobei sie sich bei diesem regelmäßig auf die allgemeinen Prinzipien beschränkten.118 Rechtsquellen des Reichsstaatsrecht seien die Reichs-Fundamental-„Gesetze“ oder Vergleiche zwischen dem Kaiser und den (Kurfürsten und anderen) Reichsständen, die entweder in Reichsabschieden, Wahlkapitulationen, dem Land- und Religionsfrieden wie im instrumentum pacis osnabruggensis dokumentiert oder aus den observantiae imperiales (Reichsherkommen), abzulesen seien. „Eigentlich“ sei das „gemeine oder öffentliche kaiserliche Recht (ius publicum caesarea)“ nichts anderes als „die Reichsabschiede und Reichsordnungen und andere das gemeine Regiment und gute Polizei angehende Satzungen“.119 Angesichts dessen überrascht es, daß am Ende des 18. Jahrhunderts der Vorschlag laut wurde, das private Recht vom öffentlichen Recht zu trennen. Er ging von dem prominenten Lehrer des Zivilrechts Gustav Hugo, der den zivilistischen Kursus auf ein Gebiet, das ausschließlich die Rechtsverhältnisse der Privatpersonen untereinander und deren Mein und Dein zum Gegenstand habe beschränken wollte.120 „Die Begriffe und Sätze über die Verbindung des Ganzen und die Anstalten, bey welchen nicht blos auf Einzele gesehen wird“, sollten als „öffentliches Recht“ 112

Zeidler (Fußn. 108), Teil 39 Sp. 352. Joh. Frid. Horni[i] Politicorum Pars Architectonica De Civitate, Utrecht 1664. 114 Novam Juris Publici Universalis Disciplinam continentes; Insertis aliquot, de jure sacrorum & Ecclesiae, capitibus, Editio Qvarta, priore multo locupletior, Cum Novis Adnotationibus Et Novo Indice, in usum Auditorii Thomasiani, Frankfurt/Leipzig 1708. Vorauflagen in Franecker. 115 Halle 1710. 116 Zeidler (Fußn. 108), Teil 29 Sp. 1113. Das Stichwort kennt auch Hübner, Ausgabe 1782, Sp. 1978. der Gelehrte „der sich aufs Staatsrecht legt, dasselbe lehrt oder darüber schreibt“. Dort auch Sp. 2349: Staatsrecht, „Ius publicum, […] die Grundgesetze, welche im Regiment zu beobachten und auf was für einen Grund die Regierung soll gerichtet sein. Es ist entweder allgemein (universale), für alle Staaten, oder ein besonderes, für gewisse Staaten (particulare).“ 117 Zeidler (Fußn. 108), Teil 30 1740 Sp. 750. 118 Johann Jacob Moser ging bald darauf weit darüber hinaus. 119 Ebd. 120 Gustav Hugo, Lehrbuch eines civilistischen Cursus, Erster Band. Zweyter ganz von neuem ausgearb. Versuch, Berlin 1799, Seite 22. 113

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ausgesondert werden. Die vorgeschlagene Abgrenzung war neuartig, wie Hugo auch stets betonte.121 Er ordnete das zwingende Recht nicht mehr dem ius publicum zu und strebte ein geschlossenes System des Zivilrechts an, das Schicksal des ausgegrenzten Rechts war ihm gleichgültig. Deshalb lag eine Definition des öffentlichen Recht, die systematischen Gesichtspunkten folgte außerhalb seines Interesses, vielmehr begnügte er sich mit der Enumeration der Rechtsgebiete, die er nicht im Privatrecht haben wollte,122 vom Staats- und Verfassungsrecht über das Kirchenrecht, das Militär- und Völkerrecht, das Prozeßrecht, das Strafrecht und das Finanzrecht bis zum Polizeirecht. Die Frage, ob sie eine Einheit bildeten, ob und warum sie mit den überkommenen privatrechtlichen Methoden nicht zu begreifen waren und daher in einer speziellen Disziplin des öffentlichen Rechts behandelt werden müßten,123 ob für sie besondere Regeln galten, hatte sich ihm nicht gestellt. Die deutsche Zivilrechtslehre orientierte sich bald generell am sogenannten Pandektensystem124, das der Schüler Hugos Georg Arnold Heise 1807 als „Grundriß eines Systems des Gemeinen Zivilrechts zum Behufe der Pandektenvorlesung“125 aus den Ersten Titeln des Allgemeinen Landrechts ausgezogen hatte. Was das aus dem Zivilrecht verstoßene „öffentliche Recht“ auszeichnete, worin seine spezifischen Strukturen, Prinzipien und Merkmale bestanden, war nicht geklärt. Obwohl die Reichsstaatsrechtslehre mit der Auflösung des Reichs ihr angestammtes Hausgut, das ius publicum imperii, verloren und ein neues Betätigungsfeld brauchte, ließ sei sich auf die Frage nicht ein. Robert von Mohl meinte im nachhinein, „die neue Aufgabe für die Wissenschaft“ habe darin bestanden, „ein Bundesrecht an Stelle des Reichsstaatsrechts, ein öffentliches Recht souveräner Staaten anstatt des Rechtes der Landesfreiheit, ein konstitutionelles Recht anstatt des Rechtes ständischer Korporationen oder unbeschränkter Fürstenherrschaft und ein systematisches, fast überall auf neuer Grundlage stehendes, Verwaltungsrecht 121 Er betonte die Neuheit seines Begriffs in allen im 19. Jahrhundert erscheinenden Auflagen seines Lehrbuchs. 122 Hugo (Fußn. 120), 8. Aufl. 1835, S. 69 – 76. 123 Paul Laband meinte noch 1887 (Besprechung von Otto Mayer, Theorie des franz. VerwRs., AöR 2, S. 149 – 162, 156), das Verwaltungsrecht sei keine „spezifische Art von Recht“, sondern nur ein „Konglomerat“ aus dem Staats-, Privat-, Straf- und Prozeßrecht, und habe auch keine spezifischen, ihm eigenen Rechtsprinzipien. 124 Das System geht nicht auf die Pandekten oder Pandektisten, sondern auf das Naturrecht zurück; vgl. Christian Baldus, Export des Pandektensystems, Journal für Rechtspolitik Bd. 16, 2008, S. 23 – 36. 125 Georg Arnold Heise, Grundriss eines Systems des Gemeinen Civilrechts, Heidelberg 1807; hierzu Andreas Bertalan Schwarz, Zur Entstehung des modernen Pandektensystems, 1921, Wiederabdruck in: ders., Rechtsgeschichte und Gegenwart. Gesammelte Schriften zur Neueren Privatrechtsgeschichte und Rechtsvergleichung, Karlsruhe 1960, S. 1 ff.; Lars Björne, Deutsche Rechtssysteme im 18. und 19. Jahrhundert, Ebelsbach 1984, S. 131 ff., 186 ff.; Joachim Rückert, Heidelberg um 1804, oder: die erfolgreiche Modernisierung der Jurisprudenz durch Thibaut, Savigny, Heise, Martin, Zachariä u. a., in: Friedrich Strack, Heidelberg im säkularen Umbruch. Traditionsbewußtsein und Kulturpolitik um 1800, Stuttgart 1987, S. 83 ff.

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zu entwickeln“.126 Er hatte damit wohl das – nationalstaatliche wie konstitutionelle – Selbstverständnis der Staatsrechtslehre getroffen, auch wenn das Programm nicht erfüllt worden und es noch nicht ansatzweise zu der Ausbildung des Verwaltungsrechts gekommen war. Johann Ludwig Klüber 1808 bot ein Lehrprogramm für das Staatsrecht des Rheinbundes an127 und ließ ihm, nachdem auch der Rheinbund untergegangen war, ein entsprechendes Werk über den Deutschen Bund folgen. Er griff darin auf das Staatsrecht der souverän gewordenen deutschen Staaten über, ersetzte aber das Wort Staatsrecht im Titel durch „Oeffentliches Recht“.128 Darin hatte er zwar den Anspruch der Staatsrechtslehre zum Ausdruck gebracht, das öffentliche Recht zu behandeln, doch löste er ihn nicht ein, und bemühte sich auch nicht, den Begriff des öffentlichen Rechts weiter zu klären. Das Wort „Verwaltungsrecht“ begegnet in der deutschen Rechtssprache im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts kaum. Es ist allem Anschein als Lehnübersetzung von droit administratif entstanden. Das französische Wort hatte hatte durch den Code Administratif129, der alsbald nach den Kodifikationen des Zivil-, Zivilprozeß-, Handels-, Straf- und Strafprozeßrechtrecht ans Licht getreten war, eine gewisse Popularität erlangt. Indessen handelte es sich bei ihm nicht um ein Gesetzbuch, sondern um ein bloßes Recueil par ordre alphabetétique des matières, de toutes les Lois nouvelles et anciennes, relatives aux fonctions administratives et de Police, des Préfets, Sous-préfets, Maires et Adjoints, Commissaire de Police, et aux attributions des conseils de Préfecture, de Département, d’Arondissement Communal et de Municipalité, den der Bürochef im Innenministerium Maitre Fleurigeon ab 1806 allenfalls halboffiziell zusammengestellt hatte. So gewann droit administratif auch nur die Bedeutung einer Sammelbezeichnung für alles Recht, das für die angeführten Behörden maßgeblich und der Kontrolle durch die Gerichte entzogen war. Die Verwaltungsrechtsprechung, die nur für wenige und heterogene Streitigkeiten zuständig war, fördert kaum durchgehendende Grundstrukturen ans Licht. Das erklärt es wohl, daß es bis weit über die Mitte des Jahrhunderts hinaus dauerte, ehe man sich in Deutschland mit der Ausbildung eines Verwaltungsrechts beschäftig-

126 Robert von Mohl, Das positive deutsche Staatsrecht seit der Gründung des Bundes, Die Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften Band 2, 1856 S. 227 – 396 (237 ff.). Hervorhebungen von mir. 127 Johann Ludwig Klüber, Staatsrecht des Rheinbundes. Lehrbegriff Tübingen 1808. 128 Johann Ludwig Klüber, Oeffentliches Recht des teutschen Bundes und der Bundesstaaten, Frankfurt a. M. 1817; Johann Ludwig Klüber, Quellensammlung zu dem Oeffentlichen Recht des teutschen Bundes, 3. Aufl. Erlangen 1830. 129 Frankreich war zu jener Zeit kein demokratischer Staat, sondern ein Militärdiktatur, poblematisch deshalb Wilhelm Henke, Das subjektive öffentliche Recht, Tübingen 1968, S. 22.

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te130 und das Wort erst im Jahr 1856 durch Mohl und die Titel eines Lehrbuchs und eines vielbeachteten Aufsatzes eine gewisse Prominenz gewann.131 Die Staatsrechtslehre beschäftigte sich bis dahin fast ausschließlich mit dem Recht des Bundes und dem Verfassungsrecht der Länder, sie bemühte sich dabei durchaus, aus den Verfassungen gewisse – zumeist liberale – Prinzipien für die Beziehungen jedes Staats zu seinen Einwohnern abzuleiten, konnte aber auf die Verwaltungspraxis und die Gesetzgebung kaum einwirken. Sie war überwiegend der Überzeugung,132 „das positive deutsche Staatsrecht“ habe „sich zur Zeit des Reichs zur höchsten Ausbildung durchgearbeitet“, doch habe „der ganze seit einigen Jahrhunderten aufgespeicherte Vorrath von Wissen und Gedanken“ „mit dem Untergange des Reiches seine hauptsächliche Bedeutung, nämlich seine praktische Anwendbarkeit“ verloren und sei zur Makulatur geworden. Sie kam daher gar nicht auf die Idee, die Regeln und Grundsätze, die das Reichskammergericht seiner Rechtsprechung über die Ausübung der Polizeigewalt zugrundegelegt hatte, als subsidiarisches gemeines Verwaltungsrecht oder als Landesverwaltungsrecht aufrecht zu erhalten oder wenigstens den souverän gewordenen Staaten als Grundlage eines rechtsstaatlichen Verwaltungsrechts zu empfehlen. Das verband sich mit einer prinzipiellen Geringschätzung des allgemeinen Staatsrechtes und dem bis in die Gegenwart fortgesetzten Vorurteil, im 18. Jahrhundert hätten absolutistische Wohlfahrts- und Polizeistaaten ihre Untertanen ganz oder nahezu rechtlos gestellt und allenfalls eine Entschädigung angeboten, wenn sie ein wohlerworbenes Recht beeinträchtigten. Überlagert wurde das von der Überzeugung, daß die Rechtsbeziehungen zwischen dem Hoheitsträger und dem Einzelnen nicht nach dem Privatrecht beurteilt werden könnten. Eine exzesssive Gewaltenteilungslehre und die Sorge, die Einzelnen könnten ihre – antiquierten – iura quaesita den notwendigen Reformen entgegenstellen, begünstigten die Vorstellung, die zwischen 1806 bis 1814 zu souveränen Staaten gewordenen Territorien, die über das Recht herrschten, stünden zu ihren Untertanen in einem Gewaltverhältnis,133 in dem diesen kein subjektives Recht zukommen könne.134 Die Idee des souveränen absolutistisch-omnipotenten Staats war in Frankreich schon vor der Revolution Staatsdoktrin gewesen, die Revolution hatte sie ebenso 130 Peter Badura, Das Verwaltungsrecht des liberalen Rechtsstaates. Methodische Überlegungen zur Entstehung des wissenschaftlichen Verwaltungsrechts, 1967, S. 11 f., 13. 131 Josef Pözl, Lehrbuch des Bayerischen Verwaltungsrechts, München 1856; Friedrich Franz (von) Mayer, Über Verwaltungs-Recht und Rechtspflege, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 12, 1856, S. 284 – 312, 461. 132 Robert von Mohl, Das positive deutsche Staatsrecht seit der Gründung des Bundes, Die Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften Band 2, 1856 S. 227 – 396 (237 ff.). 133 Otto Mayer, Zur Lehre vom öffentlichrechtlichen Vertrage AöR Bd. 3 (1888), S. 3 – 86 (S. 53). 134 In diesem Sinne noch Paul Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reichs 5. Aufl. 3. Bd. 1913 S. 207; und Rudolf von Gneist, 2. Aufl. 1879, S. 209.

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wie die Diktatur Napoleons noch verstärkt, weil sie dem ancien régime nicht fremd war, dauerte sie unter den Königen und im zweiten Kaiserreich fort. Auch die deutschen Staaten waren schnell davon angetan, daß ihre Untertanen ihnen als Hoheitsträgern kein subjektives Recht entgegenhalten könnten. Als Beispiel mag Preußen dienen. 1794 hatte das Allgemeine Landrecht gesetzlose Eingriffe in Freiheit und Eigentum verboten. 1797 hatte der König auf Vorschlag von Karl Gottlieb Svarez die Entscheidung in „Landes=Polizeyangelegenheiten“ in Neuostpreußen den ordentlichen Gerichten übertragen. Ausgenommen hatte er nur Klagen gegen die Ausübung eng definierter „würklicher Majestäts= und Hoheitsrechte“, „gegen allgemeine, in Gegenständen des Camme ralressorts ergehende Verordnungen“ und „über die Verbindlichkeit zur Entrichtung allgemeiner Anlagen und Abgaben, denen sämmtliche Einwohner, oder alle Mitglieder einer gewissen Classe derselben nach der bestehenden Landesverfassung unterworfen sind“. Überdies behielt er den Kammern vor, „Verfügungen, die keinen Verzug leiden, und wo die förmliche Erörterung und richterliche Entscheidung eines dagegen sich findenden Widerspruchs, ohne Nachtheil des Ganzen, nicht abgewartet werden kann“, […] „des Widerspruchs ungeachtet, zur Ausübung bringen“. Das schloß die Gerichte aber nicht von der Entscheidung aus; kamen sie zu spät, blieb es dem Betroffenen zudem „vorbehalten, die ihm dafür etwa gebührende Vergütung oder Entschädigung im ordentlichen Wege Rechtens“ einzuklagen.135 Die Regelung wurde schnell auf Ansbach und Bayreuth, die im Gefolge des Friedens von Luneville und des Reichsdeputationshauptschlusses Preußen zugefallenen Gebiete, die Provinzen Cleve und Mark136 und das alte Preußen erstreckt.137 Im April 1806 – noch vor der Auflösung des Reichs im August und der preußischen Niederlage im Oktober – hatte der Geheime Kriegsrat Friese den Auftrag erhalten, sie auf Westpreußen zu übertragen. Die Verordnung, die er am 9. September 1808 vorschlug, ging indessen – nach französischen Vorbild138 – dahin, nicht nur den Rechtschutz, sondern auch den Gesetzesvorbehalt für Eingriffe in Freiheit und Eigentum der Bürger zu beseitigen oder einzuengen.139 Friese unterschied – wie es scheint in Deutschland zum ersten Mal – zwischen dem Staat als Hoheitsträger, der in seiner gesamten Tätigkeit ungebunden sein müsse und nicht vor Gericht gezogen 135

Vgl. dazu Peter Krause, Gewaltenteilung und umfassender Rechtsschutz gegen die Verwaltung – Das Ressortreglement für Neuostpreußen 1797 in: Prace prawnicze wydane dla uczczenia pracy naukowej Karola Gandora. Katowice 1992. Prace Naukowe Uniwersytetu Slaskiego nr 1271 (Gesammelte Arbeiten der schlesischen Universität Nr. 1271) S. 19 – 49. 136 Patent vom 11. September 1803, NCC XI, 1881. 137 Ostpreuß. Ressortreglement v. 21. Juni 1804, NCC XI, 2603. 138 Vgl. Les tribunaux ne peuvent ni s’immisce dans l’exercice du pouvoir législatif, ou suspendre l’exécution de lois ne entreprendre sur les fonctions administratifs, ou citer devant eux les administrateurs pour raison de leur fonctions. Tit. III. Cap. 5 Art. 5 Constitution de 3. 9. 1791. 139 Otto Hintze, Gesammelte Abhandlungen zur Staats-, Rechts- u. Sozialgeschichte Preussens. Bd. III, S. 148; Rüfner (Fußn. 84), S. 124 ff.

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werden dürfe, und dem Staat als Vermögensträger (Fiskus)140. Obwohl die Vertreter der Justiz es für undenkbar hielten, den Kammern zu gestatten, die Bürger mit einschränkenden Verfügungen zu überziehen, „die auf keinem vorhandenen Polizeigesetz beruhen und also dem Allgemeinen Gesetz – ALR Einl. § 87 – direkt entgegenlaufen“141, stellte die Verordnung wegen verbesserter Einrichtung der Provinzial-, Polizei- und Finanzbehörden vom 26. Dezember 1808142 die preußische Verwaltung weitgehend von der gerichtlichen Kontrolle und dem Gesetzesvorbehalt für Eingriffe in Freiheit und Eigentum frei.143 Nach den Befreiungskriegen wurde das in den wieder- und neugewonnenen Gebieten noch verschärft. § 1 des Gesetzes über die Zulässigkeit des Rechtswegs in Beziehung auf polizeiliche Verfügungen vom 11. Mai 1842 (GS 192) bestimmte endlich:144 „Beschwerden über polizeiliche Verfügungen jeder Art, sie mögen die Gesetzmäßigkeit, Notwendigkeit oder Zweckmäßigkeit derselben betreffen, gehören vor die vorgesetzte Dienstbehörde.“ Nur über die Verhängung von Polizeistrafen entschieden noch die Gerichte, die dabei nach Erlaß des Preußischen Polizeiverwaltungsgesetzes vom 11. März 1850 (GS 265) auch die Gültigkeit von Polizeiverordnungen zu prüfen hatten.145 Auch die Staaten, welche sich in ihren Verfassungen zu Grund- und Bürgerrechten bekannten, gewährten dem Einzelnen damit keine Ansprüche. Die Staatsrechtslehre versuchte zwar die Garantien rechtspolitisch fruchtbar zu machen, doch blieb sie ohne Erfolg. Vielmehr blieb in der deutschen Staatsrechtslehre die Auf140

So die Fiskustheorie des 19. Jhs.; vgl. dazu Bullinger (Fußn. 40), S. 216; Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte (hrsgg. v. A. Erler, E. Kaufmann), Berlin 1971, Spalte 1138. 141 Vgl. Edgar Loening (Fußn. 98), Abhandlungen Bd. 1, S. 137 f. Daß der Gesetzesvorbehalt – auch nach Ansicht Frieses – der Rechtslage nach dem Neuostpreußischen Ressortreglement entsprach, zeigt dessen Äußerung, daß der Richter danach jede polizeiliche Verfügung aufheben würde, die keine gesetzliche Sanktion hat, vgl. bei Erichsen, S. 149. 142 Zu ihr außer Loening und Rüfner auch Erichsen eingehend Henning Schrimpf, Herrschaft, Individualinteresse und Richtermacht, München 1979, S. 393 ff., 399 ff. 143 Einem durch Polizeiverfügung in Freiheit oder Eigentum beeinträchtigten Bürger war es grundsätzlich nicht möglich, eine Aufhebung der Verfügung zu erreichen. Eine Ausnahme galt nur insoweit, als die Verfügung einem Gesetz zuwiderlief (Gesetzesvorrang) oder ihr ein spezieller rechtlicher Titel entgegenstand oder sie vorsätzlich oder grob fahrlässig die Rechte des Bürgers beeinträchtigte. Sonst blieb allein eine Klage auf Ersatz des durch die Maßnahme entstandenen Schadens. Die Einhaltung des Gesetzesvorbehalts für Eingriffe in Freiheit und Eigentum war gerichtlich nicht mehr zu erzwingen. Dies entsprach der Intention Frieses, der der Meinung war, daß die Behörden bis zu einem gewissen Grade ganz frei und unabhängig von aller Einmischung der Justiz nicht bloß in Rücksicht der Vollstreckung, sondern auch in Rücksicht der Dezision handeln können müsse, vgl. Loening (Fußn. 98), Abhandlungen Bd. 1, S. 131. 144 Vgl. Kaden (Fußn. 93) S. 279 ff. 145 Vgl. Peter Krause, Das Allgemeine Landrecht als Naturrechtssurrogat. Zur Behandlung des § 10 II 17 ALR in Rechtsprechung und Literatur im ausgehenden Konstitutionalismus. Die Kreuzbergurteile des Preußischen Oberverwaltungsgerichts. In: Bernd Schünemann (Hrsg.), Das Menschenbild im weltweiten Wandel der Grundrechte. Schriften zum Öffentlichen Recht, Bd. 889, 2002, S. 233 – 258.

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fassung unangefochten, der Einzelne könne dem Staat als Hoheitsträger grundsätzlich kein Recht entgegenhalten. Damit verloren alle Normen über die staatliche Tätigkeit die Außenwirkung, sie boten nur noch der Binnenkontrolle einen Anhalt, die auch das Monopol ihrer Auslegung behielt. Das Interesse der Rechtswissenschaft an ihnen sank, die Darstellungen beschränkten sich auf die akribische Nachzeichnung der Kompetenzordnungen146. Im Jahr 1852 fand Carl Friedrich Gerber147 indessen eine Konstruktion, die es dem Einzelnen erlaubte, Verstöße der Behörden gegen die gesetzlichen Regelungen der Verwaltungstätigkeit geltend zu machen und diesen Regelungen eine Außenwirkung zurückzugeben. Der Staat habe dem Einzelnen durch seine Rechtsordnung Bahnen zugewiesen, auf denen er sich frei bewegen könne. Werde er in seinem Lauf von einer staatlichen Behörde entgegen dem geltenden Recht gestört, könne ihn der Staat als Glied der Gemeinschaft dazu ermächtigen, den Verstoß förmlich zu rügen. Das kam der später von Rudolf von Gneist propagierten objektiven Kontrolle bereits nahe. Friedrich Franz (von) Mayer formte das Bild ein wenig um: Bei ihm waren es die staatlichen Behörden, die sich, wenn sie gebietend oder verbietend hervorträten, im Rahmen des objektiven Verwaltungsrechts oder auf den ihnen durch Verfassung und Gesetz gezogenen Grenzen zu bewegen hatten, weil die Betroffenen „mit eigenthümlichen Rechten in betreff ihres Verhältnisses zum Gemeinwesen ausgestattet sind“148. Auch ihm ging es, darum, daß der Einzelne von den Behörden die Einhaltung der Voraussetzungen und Formen fordern könne, welche ihnen die Gesetze für derartige Eingriffe vorschrieben. Die Verkürzung des subjektiven Rechts wurde damit zur Voraussetzung des „Anspruchs“ auf Rechtstreue und Rechtskontrolle, zu entscheiden war nicht über ihn, sondern über die Frage, ob die Behörden das für ihr Handeln maßgebliche Recht verletzt hatten. Weil es weder um einen Anspruch noch um ein Rechtsverhältnis zwischen dem Einzelnen und dem Staat ging, kam eine Entscheidung durch die ordentlichen Gerichte nicht in Betracht. Auch um die Gewaltenteilung nicht zu durchbrechen, nahmen die Staaten schließlich Zuflucht zu dem französischen Modell. Art. 4 des Gesetzes vom 28. Pluviôse VIII (17. Februar 1800) war seinerseits dem Muster Preußens gefolgt, das ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine Reihe von Streitigkeiten, an denen die Kammern (die späteren Bezirksregierungen) besonderes Interesse hatten, ausschließlich auf die Justiz verpflichteten und überwiegend mit Richtern besetzten, streng an das Prozeßrecht gebundenen Kollegialbehörden 146 Vgl. Ludwig von Rönne/ Heinrich Simon, Das Polizeiwesen des Preußischen Staates Erster Band, Breslau 1840. 147 Gerber, Ueber öffentliche Rechte, 1852, S, 27 – 29. 148 Mayer, Über Verwaltungs-Recht und Rechtspflege, In: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 12 1856 S. 284 – 312, 461. Vgl. Toshiyuki Ishikawa: Friedrich Franz von Mayer, Berlin: Duncker und Humblot, 1992; A. Hueber, Otto Mayer. Die „juristische Methode“ im Verwaltungsrecht, 1982.

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(Kammerjustizdeputationen) zugewiesen hatte, die bei den Kammern errichtet wurden. Die Kammerjustizdeputationen hatte Art. 4 durch einen weniger unabhängigen Präfekturrat, der bei den Präfekturen einzurichten war, ersetzt. Er hatte in bestimmten, einzeln aufgeführten, eng umschriebenen Streitfällen, die nach unserer Auffassung eher dem Zivilrecht zuzuordnen wären, in einem gerichtsähnlichen förmlichen Verfahren zu entscheiden. Baden war der erste deutsche Staat, der dem Beispiel folgte. § 5 des badischen Gesetzes betreffend die Organisation der inneren Verwaltung vom 5. Oktober 1863149 wies die „Streitigkeiten des öffentlichen Rechts“ in erster Instanz den „Bezirksräten“ und – anders als in Frankreich (Conseil d’état) – in letzter Instanz einem Verwaltungsgerichtshof zu.150 Es verzichtete auf eine Definition, sondern zählte die öffentlichrechtlichen Streitigkeiten einzeln auf,151 machte aber dennoch deutlich, wie sie sich von privatrechtlichen Streitigkeiten unterschieden.152 Das Privatrecht begründe primär Befugnisse, aus denen sekundär entsprechende Handlungs- und Unterlassungspflichten folgten, im Privatrechtsstreit gehe es um die Ansprüche und die korrespondieren Erfüllungspflichten. Das öffentliche Recht begründe ausschließlich Pflichten (der Behörden).153 In der öffentlichrechtlichen Streitigkeit werde nicht ein Erfüllungsanspruch geltend gemacht, sondern eine Pflichtverletzung gerügt. Da das öffentliche Recht und mit ihm alle öffentlichen Pflichten und Rechte ihre Entstehung ausschließlich dem Staat zu danken hätten, gälten sie nur mit und in ihm.154 Schon deshalb könne der Einzelne keine iura quaesita einklagen,155 sondern nur die Wahrung der Rechte geltend machen, die ihm dieser gewährt habe und die er jederzeit in den dafür geltenden rechtlichen Formen aufheben und verändern könne, dennoch sollten diese zugestandenen Rechte einen ebenso wirksamen Rechtschutz genießen wie private Rechte156. Nur dürfe das Verwaltungsrecht nicht in zivilistischer Weise gehandhabt, sondern der öffentliche Geist zu voller Anerkennung gelangen.157

149 Regierungsblatt Nr. 399, 1863. Vgl. dazu G(ideon Georg) Weizel, Das badische Gesetz über die Organisation der inneren Verwaltung vom 5. Oktober 1863 Karlsruhe 1864 S. 129 – 132. 150 Weizel (Fußn. 149), S. 104. 151 Weizel (Fußn. 149), S. 171 – 182. 152 Weizel (Fußn. 149), S. 121. Die Überzeugungskraft der Argumentation wurde noch geschwächt, weil die Verwaltungsrechtspflege nach § 5 in Streitigkeiten des öffentlichen Rechts zu entscheiden hatte, die nicht definiert (S. 104), sondern nur enumeriert (S. 171 – 182) waren. 153 Weizel (Fußn. 149), S. 122. 154 Weizel (Fußn. 149), S. 129 – 132. 155 Weizel (Fußn. 149), S. 107. 156 Weizel (Fußn. 149), S. 73. 157 Weizel (Fußn. 149), S. 122.

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Die meisten anderen Bundesstaaten schlossen sich dem badischen Beispiel an, sie hatten damit den Begriff der öffentlichrechtlichen Streitigkeit und des öffentlichen Rechts übernommen. Es war freilich nur abstrakt bestimmt, als das Recht, das der Verwaltung den Gang vorzeichnete. Wie das geschah oder zu geschehen hatte, hatten die Länder nur unzureichend geregelt. Es war erklärlich, daß die Rechtsprechung sich irgendwie zu helfen suchte. Außerstande aus der Verfassung eine Eingrenzung der Polizeigewalt herzuleiten, deutete das preußische Oberverwaltungsgericht eine Bestimmung des Allgemeinen Landrechts von beschränkter, längst obsoleter Bedeutung in eine Definition des Amts der Polizei um, unterwarf später ohne nähere Erklärung Eingriffe in Freiheit und Eigentum dem Gesetzesvorbehalt und fand schließlich in der landrechtlichen Bestimmung eine gesetzliche Ermächtigung zu polizeilichen Maßnahmen.158 Doch auch die Staatsrechtslehre bemühte sich – mit neidvollem Blick auf die Zivilrechtslehre, die im Begriff war, ihrem System eines einheitlichen bürgerlichen Rechts zur Geltung zu verhelfen – ein deutsches öffentliches Recht hervorzubringen. Sie befand sich weit im Hintertreffen, denn die Zivilrechtslehre hatte ihre bis in die Antike zurückreichende Tradition nie unterbrochen und nach dem Untergang des Heiligen römischen Reichs mit zahlreicher Beteiligung fast 100 Jahre an dem System des Privatrechts gearbeitet, auch hatte sie es nicht nötig es aus eigener Kraft zur Geltung zu bringen, sondern hatte das Deutsche Reich zur Seite, das seit 1873 die Gesetzgebungsbefugnis für das gesamte bürgerliche Recht besaß. Das öffentliche Recht war erst unmittelbar vor Beginn des Jahrhunderts vom Zivilrecht ausgestoßen worden, die Wissenschaft hatte es, vom Verfassungsrecht abgesehen, mehr als 50 Jahre lang vernachlässigt, ohne Tradition schien es zu einem Komplex von internen Regelungen der Staatstätigkeit geschrumpft, erst seit wenigen Jahren war es einer gerichtlicher Kontrolle unterworfen, die ihm ein gewisses Maß an Außenwirkung verlieh. Wenn es sich allein vom Staat ableitete und nur in ihm Geltung hatte, fächerte es sich in die öffentlichen Rechte der Einzelnen Staaten auf. Vor 1867 hatte es kaum ein gemeinsames deutsches öffentliches Gesetzesrecht gegeben. Für ein gemeines deutsches öffentliches Recht hatte es keine Ansatzpunkte gegeben. Einzig die Verwaltungsgerichtsgesetze wiesen ein gewisses Maß an Übereinstimmung auf. Die Gründung des Norddeutschen Bund bzw. des Deutschen Reich hatte ein Reichsstaatsrecht entstehen lassen, doch sonst nichts geändert, da die Bundesstaaten die Verwaltungskompetenz besaßen und dem Reich die Gesetzgebungskompetenz für das Verwaltungsrecht fehlte. Es bleibt ein Rätsel, wie angebliche Vertreter einer Wissenschaft des öffentlichen Rechts in deren Namen gleichwohl den Anspruch erheben konnten, sie habe als gleichberechtigte und eigenständige juristische Disziplin eigenständig neben

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Krause (Fußn. 145), S. 233 – 258

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ihre ältere Schwester, die Zivilrechtslehre, zu treten.159 Es war selbstverständlich, daß sie als Jurisprudenz an juristischen Methoden festhielt, nicht jedoch, daß sie sich von dem Zivilrecht absonderte. Eine Begründung dafür blieb aus. Daß schon das römische Recht ein eigenes System von Verwaltungsrechtsinstituten getrennt von den Privatrechtsinstituten entwickelt haben sollte, ließ sich nicht ernsthaft vertreten.160 Die Behauptung, das öffentliche Recht schließe den Rückgriff auf Rechtsinstitute des bürgerlichen Rechts aus, liest sich als Bannspruch und Beschwörungsformel, nicht als wissenschaftlicher Befund.161 Auf den Gipfel treibt es die den Gesetzesvorrang mißachtende Formel, kein Gesetz könne dem Untertanen ein öffentlichrechtliches vertragliches Mitwirkungsrecht einräumen.162 Die Geltendmachung naturrechtliche Sätze ist ohne eingehende Begründung haltlos.163 Über die Beschwörung der gottgewollten Differenz und die Tabuisierung der Grenzüberschreitung sind wir bis heute nicht hinausgekommen. Indessen ist mit der Ansicht, zwischen dem souveränen Staat und dem Einzelnen sei nur ein Gewaltverhältnis, aber kein Rechtsverhältnis denkbar, dem Einzelnen kämen keine eigenständigen Rechte und autonomen Rechtsgestaltungsmöglichkeiten gegen den Saat zu, er verfüge allenfalls über Befugnisse, die dieser ihm zur bestimmungsgemäßen Ausübung eingeräumt habe, aber jederzeit in den dafür vorgegebenen Formen zurücknehmen könne, ein Grund für die strikte Unterscheidung zwischen öffentlichem und privatem Recht hinfällig geworden. Die Praxis kommt ohne sie aus. Die mehr als hundertjährige Geschichte der Unterscheidung von öffentlichen und privaten Rechtsstreitigkeiten hat alle Zweifelsfälle erledigt, die Zuweisung einer Streitigkeit zu den Verwaltungs- und den Zivilgerichten stellt kein Problem mehr dar, zumal sie nicht mehr über das Ob, sondern nur noch über das Wie des Rechtsschutzes durch Gerichte entscheidet. Im übrigen hat es sich in einem arbeitsteiligen Wissenschaftsbetrieb durchgesetzt, sich in der Darstellung und Behandlung auf das Recht einzuschränken, das es nur mit dem Mein und Dein der Privatpersonen zu tun hat, und das Recht, das sich mit hoheitlichen Tätigkeiten befaßt, Spezialisten zu überlassen. Zu der Eingrenzung und Umschreibung der Zuständigkeitsbereiche sind keine strikten Kriterien notwendig. Es ist zwar nicht bestreitbar, daß Hoheitsträger Befugnisse haben, die nicht jedermann zustehen, in159

Heinrich De Wall, Die Anwendbarkeit privatrechtlicher Vorschriften im Verwaltungsrecht .Jus Publicum. Beiträge zum öffentlichen Recht Bd. 64 Tübingen 1999 S. 14 – 20, 29 – 31, 39, 55, 537 m. w. Nachw. 160 Otto Mayer, Zu Lehre vom öffentlichrechtlichen Vertrage AöR Bd. 3 (1888), S. 3 – 86 (S. 6). 161 Für den Willen eines Zivilrechtssatzes aber kann ein öffentlich-rechtliches Rechtsverhältnis nie etwas Rechtsähnliches sein. Es gibt keine dem öffentlichen und dem Privatrechte gemeinsamen Rechtsinstitute. Was man so nennt, sind meist privatrechtliche Rechtsinstitute, die man auf diese Weise in das jüngere öffentliche Recht hinüberschmuggeln will. Otto Mayer Deutsches Verwaltungsrecht, 3. Aufl. 1924 Bd. 1 S. 177 f. 162 Eugen Bucher, Das subjektive Recht als Normsetzungsbefugnis, 1965, S. 41 ff. 163 In der zweiten Auflage seines Deutschen Verwaltungsrechts Bd. 1, 1914, S. 276 ff.

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kommensurabel war aber auch die Rechtsmacht des römischen Magistrats oder gar des Kaisers im Vergleich zu der eines schlichten Römers oder Deutschen, und dennoch sind die römische Antike, das Mittelalter und das Heilige römische Reich ohne die Scheidung von öffentlichem und privatem Recht ausgekommen. Die Frage, ob die Anwendung eines Rechtssatzes oder Rechtsgedankens auf einen Sachverhalt auszuschließen ist, läßt sich mit der simplen Zuordnung zum öffentlichen oder privaten Recht indessen nicht beantworten, sie verlangt eine Begründung in der Sache selbst.

„Die richtige Meinung vom Schrecklichen“ Platon über das Staats- und Verwaltungsrecht Von Joachim Lege, Greifswald Es gibt wenige, deren fachliches Spektrum so breit gefächert ist wie das von Thomas Würtenberger. Es reicht im juristisch-Dogmatischen vom Verwaltungsprozessrecht über das Allgemeine und Besondere Verwaltungsrecht bis zum Staatsrecht – mit dem „Zippelius/Würtenberger“1 als Flaggschiff. Darüber hinaus hat der Jubilar immer wieder gewichtige Beiträge zu den sogenannten „Grundlagenfächern“ geleistet: zur juristischen Methodenlehre2, zur Rechtsgeschichte3, zur Rechts- und Staatsphilosophie – die Stichworte „Zeitgeist und Recht“4 und „Legitimität und Akzeptanz von Recht und Staat“5 mögen genügen. Es sei daher erlaubt, Thomas Würtenberger zum 70. Geburtstag eine kleine Skizze zu Platon zu überreichen: Was sagt dieser in seiner „Politeia“6 zum Staats- und Verwaltungsrecht, insbesondere zum Recht der inneren Sicherheit7 ? I. Platons Politeia: Vorbemerkungen Zunächst einmal, und selbstverständlich: explizit gar nichts. Denn zum einen ist der heutige Verfassungsstaat mit seiner rechtsstaatlichen Bindung von Regierung und Verwaltung nur bedingt vergleichbar mit den Verfassungen der griechischen Stadtstaaten (póleis) – deren berühmteste die Verfassung Solons für Athen ist (594 v. Chr.). Erst recht nicht gab es für Staat und Verwaltung im einfachen Recht die Gesetzesflut, die wir heute kennen. Zum anderen schwebt Platon in seiner „Politeia“ offenbar kein rational organisierter Staats- und Verwaltungsapparat mit Zuständigkeits- und Verfahrensnormen vor, demnach auch kein sprödes Organisationsrecht. Oder vielleicht, der Idee nach, doch? 1

Zippelius/Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 32. Aufl. 2008. Auch durch die Herausgabe von Karl Engisch, Einführung in das juristische Denken, 11. Aufl. 2010. 3 Gose/Würtenberger (Hg.), Zur Ideen- und Rezeptionsgeschichte des Preußischen Allgemeinen Landrechts, 1999. 4 Würtenberger, Zeitgeist und Recht, 2. Aufl. 1991. 5 Unter Beschränkung auf die selbständigen Schriften: Würtenberger, Die Legitimität staatlicher Herrschaft, 1973; ders., Die Akzeptanz von Verwaltungsentscheidungen, 1996. 6 Platon, Politeia/Der Staat, griechisch/deutsch, 2. Aufl. 1990. 7 Würtenberger/Heckmann, Polizeirecht in Baden-Württemberg, 6. Aufl. 2005. 2

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Platons „Politeia“, entstanden um 370 v. Chr., ist bekanntlich eines der wichtigsten, wenn nicht das wichtigste Werk der abendländischen Philosophie überhaupt – nicht nur der Rechts- und Staatsphilosophie. Dies liegt daran, dass die „Politeia“, wie man sagen kann,8 ein einziges großes Argument ist. Ausgangspunkt ist die Frage nach der Gerechtigkeit – deshalb auch der Untertitel perì dikaíou (Über das Gerechte), und zwar der Gerechtigkeit des Menschen, des Einzelnen. Um diese Frage zu klären, lässt Platon seinen Lehrer Sokrates und dessen Gesprächspartner allerdings große Umwege und Seitenwege gehen, wobei die Hauptidee diese ist9: Der Gerechtigkeit im Einzelmenschen entspricht, sozusagen analog, die Gerechtigkeit in der Polis, dem (Stadt-)Staat. Wenn man daher geklärt hat, was in der Polis gerecht ist, dann kann man a maiore ad minus prüfen, inwieweit dies auf den Einzelmenschen übertragbar ist. Aber um zu klären, was in der Polis gerecht ist, dafür greift Platon wieder zurück auf die Psychologie des Menschen,10 und um zu klären, wie die Gerechtigkeit der Polis erkannt und verwirklicht werden kann, entwirft er seine Wissens- und Erkenntnistheorie11, ferner seine Vorstellungen zu Bildung und Erziehung (paideía)12. Alles schließlich ist vielfältig ineinander verwoben und verschränkt. Ein Wort noch zum Titel des Werks: Die deutschen Übersetzungen der „Politeia“ tragen so gut wie alle den Titel „Der Staat“. Das ist unglücklich, denn das Wort für Staat oder Stadtstaat ist im Griechischen nicht Politeia, sondern Polis. Politeia bezeichnet hingegen die Verfassung einer Polis, Verfassung allerdings im vorneuzeitlichen Sinn. Gemeint ist also nicht ein Verfassungsgesetz, das die wesentlichen staatsrechtlichen Entscheidungen trifft und Vorrang vor dem sonstigen Recht hat (Prototyp: die amerikanische Verfassung von 1787). Gemeint ist vielmehr die gute oder schlechte „Verfassung“, in der sich eine Polis befinden kann – ebenso wie der menschliche Körper (Platon gibt immer wieder Anspielungen auf die Medizin13) oder eben der ganze Mensch. II. Die herrschaftsfreie Polis Die „Politeia“ umfasst zehn Bücher mit unterschiedlich vielen Abschnitten. Der Weg zu den Abschnitten, die uns hier interessieren, beginnt im Zweiten Buch, dort, wo die Parallele zwischen der Gerechtigkeit im Einzelmenschen und in der Polis gezogen wird. 8

Ich beziehe mich auf ein Gespräch mit Kay Waechter. Politeia II 10 (368e ff.). 10 Insbesondere Politeia IV 11 – 15 (434d ff.). 11 Insbesondere Politeia VI 20 ff. (509d ff.) – Liniengleichnis –; VII 1 ff. (514a ff.) – Höhlengleichnis. 12 Vor allem Politeia III 1 ff. (386a ff.) – Erziehung der Wächter –; VII 6 ff. (521c ff.) – Bildung der Herrscher/Philosophen. 13 Z.B. Politeia I 15 (341c ff.); I 18 (346b ff.); III 3 (389b f.); vor allem III 13 – 16 (405a ff.), IV IV 18 (444c-e) – Analogie von Gerechtigkeit und Gesundheit. 9

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Das Argument beginnt mit der gedanklichen Konstruktion einer Modell-Polis, die vor allem eines ist: herrschaftsfrei. Es ist eine Polis, in der sich „die Gesellschaft“ selbst organisiert, und zwar arbeitsteilig. Anfangs braucht man nur vier oder fünf Bürger, die gegenseitig die Grundbedürfnisse erfüllen: einen Bauern, einen Baumeister für Haus und Hof, einen Weber und einen Schuster für die Kleidung. Später verfeinern sich die Bedürfnisse und die Spezialkenntnisse, so dass ein Schmied für die Geräte, ein paar Viehzüchter und manch andere dazukommen, ferner Außenhändler, die im Auftrag der Polis in der Fremde das eintauschen, was daheim nicht produziert werden kann, schließlich noch Kleinhändler und Lohnarbeiter.14 Die Verteilung der Güter innerhalb der Polis stellt sich Platon ebenfalls herrschaftsfrei vor: Sie geschieht durch den Markt (agorá) und das Geld (nómisma).15 Dass dieser Markt irgendwie organisiert werden muss, wird zunächst überhaupt nicht thematisiert. An späterer Stelle heißt es allerdings, die Organisation dieses Bereichs – in heutigen Kategorien: des privaten Schuld- und Wirtschaftsrechts – solle nicht Aufgabe der Gesetze der Polis sein. Vielmehr setzt Platon insoweit auf Selbstregulierung, einschließlich der Einsetzung von (Schieds-)Gerichten: Es sei unter der Würde „schöner und guter Männer (andrási kaloı˜s kagathoı˜s)“, sich die notwendigen Regeln über Vertragsabschlüsse, Mängelgewährleistung und so weiter durch („staatliches“) Gesetz vorschreiben zu lassen.16 III. Das Bedürfnis nach Herrschaft Das Bedürfnis nach Herrschaft beginnt, so meint Platon, erst dann, wenn die Bedürfnisse weiterwachsen, wenn die Menschen nicht nur Butter und Brot, sondern auch „Zukost“ haben wollen – Platon nennt dies die „üppige“ oder auch „aufgeschwemmte“ Polis.17 Interessanterweise sucht Platon nun die Schuld für die Entstehung von Herrschaft nicht bei anderen, sondern in der Polis selbst: Der Sündenfall, der ein Bedürfnis nach Kriegern und „Wächtern“ weckt, ist die eigene Aggressionspolitik. Weil die Polis die vielen überflüssigen Bewohner, die für Entstehung und Befriedigung der vielen überflüssigen Bedürfnisse sorgen, nicht mehr ernähren kann, versucht sie, etwas vom Acker- und Weideland der Nachbar-Polis zu erobern. Aber natürlich kann die Aggression auch von der Nachbar-Polis ausgehen, so dass in jedem Fall Krieg (pólemos) entsteht.18 Mit dem Krieg entsteht nun das Bedürfnis nach einem Heer – und nach Leuten, die sich ganz ebenso auf die Kriegführung spezialisieren, wie sich die anderen Bürger der Polis auf ihren jeweiligen Beruf konzentrieren müssen.19 Platon nennt diese 14

Politeia II 11 – 12 (368b – 371e). Politeia II 12 (371b). 16 Politeia IV 4 (425c f.). 17 Politeia II 13 (372e). 18 Politeia II 14 (373d ff.). 19 Politeia II 14 (374c). 15

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Leute bekanntlich die Wächter (phy´lakes) – und vielleicht sollte man das, was Platon mit ihnen meint, heute am besten mit „der Staat“ übersetzen: „Staat“ im Sinne eines Herrschaftsapparats, dessen Aufgabe zunächst der Schutz nach außen ist, dann aber auch die Aufsicht über „die Gesellschaft“, das heißt darüber, dass die Bürger im Inneren die Gesetze einhalten.20 IV. Die Zähmung von Herrschaft Das Hauptanliegen von Platons „Politeia“ ist nun, diesen Machtapparat der Wächter – und Wächterinnen21 – zu bändigen, zu zähmen. Sie sollen schließlich nur gegen die äußeren und inneren Feinde vorgehen, nicht die eigenen Mitbürger unterwerfen oder berauben. Dass eine solche Zähmung nicht unmöglich ist, meint Platon, sieht man an edlen Hunden, die er ausdrücklich als „philosophisch“ bezeichnet: Sie können unterscheiden, nämlich Bekannte und Unbekannte, und sie können lernen, nur gegen die Feinde aggressiv zu sein.22 Konkret ist es nun die Erziehung (paideía), von der Platon sich die nötige Zähmung der Wächter erhofft. Diese Erziehung wird im Dritten Buch geradezu lustvoll ausgemalt: Welche Literatur und welche Musik darf man den zukünftigen Wächtern, solange sie noch Kinder sind, zumuten? Wie ist der Sportunterricht zu gestalten? Dies muss hier im Einzelnen nicht interessieren, auch nicht, dass die Wächter von Anfang an kaserniert werden, kein Eigentum oder Geld haben dürfen und von den Bürgern der Polis alles, was sie brauchen, in Naturalien erhalten23 – wenn man will, eine radikale Fassung des beamtenrechtlichen Alimentationsprinzips. Vielmehr soll der Gedanke betont werden, dass die künftigen Wächter während der gesamten Erziehung ständig auf die Probe gestellt werden – indem man sie Gefahren und Strapazen, aber auch Einflüsterungen und Bestechungsversuchen aussetzt. Nur wer aus diesen Prüfungen heil hervorgeht, ist schließlich ein Wächter „im wahrsten Sinne“, und nur diese Elite soll Herrscher sein.24 Die übrigen Wächter, die nicht ganz so vertrauenswürdig sind, will Platon an dieser Stelle25 lediglich als Hilfs- und Einsatztruppe der Herrscher bezeichnen. V. Die vollkommen gute Polis Wir können kurz innehalten. Platon hat nunmehr, am Anfang des Vierten Buchs, das konstruiert, was er wollte: eine Polis, in der die Gerechtigkeit – nein, nicht 20

Z.B. Politeia III 22 (415d-e). Zur Gleichstellung der Frauen bei den Wächtern: Politeia V 1 ff. (449a ff.). 22 Politeia II 16 (376a-b). 23 Politeia III 22 (416e), IV 1 (420a). 24 Politeia III 20 (413e ff.). 25 Politeia III 20 (414b); Platon ist terminologisch häufig nicht ganz konsequent.

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„herrscht“, auch nicht „sich verwirklicht“, sondern: in der sie sich zeigt, in der man sie entdecken kann.26 (Dass dies nur geschieht, um danach auf die Gerechtigkeit des einzelnen Menschen zurückzukommen,27 sei der guten Ordnung halber nochmals angemerkt.) Etwas unvermittelt behauptet Platon nun, seine wohlgegründete, vollkommen gute (teléo¯s agathós) Polis sei durch vier Eigenschaften gekennzeichnet: Sie sei weise (sophós), tapfer (andreíos), besonnen (so¯´phro¯n) und gerecht (díkaios).28 Und sie besteht offenbar aus drei „Klassen“ oder „Ständen“ (génous): erstens den Herrschern, das heißt, den Wächtern im wahrsten Sinn; zweitens den übrigen (Hilfs-)Wächtern – beide zusammen könnte man aus heutiger Sicht, wie gesagt, auch „den Staat“ nennen. Die dritte „Klasse“ bezeichnet Platon, allerdings erst am Ende des nun folgenden Gedankengangs,29 als Klasse der chre¯matiste¯´s. Dies wird meist mit „Geschäftsleute“ übersetzt,30 was die Sache aber nicht ganz trifft, denn es gehören eben auch die Lohnarbeiter dazu31. Deshalb sollte man unter Platons „drittem Stand“, unter dem génos chre¯matistikós, am besten das verstehen, was wir heute die Privatwirtschaft nennen: denjenigen Bereich der Gesellschaft also, der die Güter (chre¯mata) erzeugt und verteilt, die in der Gesellschaft gebraucht (chre˜sthai) werden. Und von dem die ersten beiden Stände letztlich abhängen, weil sie ja von ihm, und zwar in Naturalien, bezahlt werden. VI. Weisheit und Tapferkeit Wir hatten gesagt: In der vollkommen guten Polis, so wie Platon sie entworfen hat, lässt sich die Gerechtigkeit entdecken – aber wie? Platon schlägt vor: Weil die genannten vier Eigenschaften – weise, tapfer, besonnen, gerecht – in der vollkommen guten Polis eine Einheit, ein Ganzes bilden, könne man zunächst die drei ersten herausgreifen. Dann ist das, was übrig bleibt, die Gerechtigkeit.32 Platon beginnt mit der Weisheit – wo findet sich diese? Die Antwort ist einfach: bei den Herrschern, also den Wächtern im wahrsten (oder auch genauesten33) Sinn

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Politeia IV 19 (432b ff.). Politeia IV 11 ff. (434d ff.). 28 Politeia IV 6 (427e). 29 Politeia IV 11 (434c). 30 Gängig ist ferner die Übersetzung mit „Erwerbsstand“; durchaus treffend auch Jantzen, in: Volpi/Nida-Rümelin, Lexikon der philosophischen Werke, 1988, Artikel „Politeia“: „die gesamte ,zivile‘ Bevölkerung“. 31 Siehe oben bei Fußn. 14. 32 Politeia IV 6 (428a). 33 Politeia VI 15 (503b), wo es heißt, als „genaueste Wächter“ sollten die Philosophen eingesetzt werden. 27

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des Wortes. Nur sie haben das wahrhafte Wissen (episte´¯ me¯), das dazu befähigt, die Polis zu leiten.34 Tapferkeit? Auch diese Eigenschaft der Polis ist bei einem einzigen „Stand“ zu verorten, nämlich dem der (einfachen) Wächter. Und nun heißt es über diese Tapferkeit etwas kryptisch: Sie bestehe in der Kraft (dy´namis), die richtige Meinung vom Schrecklichen (orthe´¯ dóxa tou˜ deinou˜) zu bewahren (so´¯ zein), das heißt, an ihr festzuhalten auch in Kummer (ly´pe¯) und Furcht (phóbos), in Freude (he¯done¯´) und Gier (epithymía).35 VII. Insbesondere: „Die richtige Meinung vom Schrecklichen“ Die „richtige Meinung vom Schrecklichen“ – was mag damit gemeint sein? Zunächst: Unter „Meinung“ (dóxa) versteht Platon eine bestimmte Form der Erkenntnis – hier im Gegensatz zur episte¯´me¯. Die episte¯´me¯ bezeichnet wirkliches, wahres – darf man sagen: selbst erarbeitetes? – Wissen: das Wissen der „Philosophen“. Demgegenüber ist dóxa das Wissen der „Techniker“, der, wenn man so will, angewandten Wissenschaft. Platon wird dies an späterer Stelle genauer herausarbeiten.36 Sodann: „das Schreckliche“. Interessanterweise bezeichnet Platon als „schrecklich“ diejenigen Dinge, bei denen der Gesetzgeber (nomothéte¯s) verkündet hat, dass und inwieweit (taúta te kaì toiaúta) sie schrecklich sind. Mit anderen Worten: Hinsichtlich dessen, was „schrecklich“ ist, überlässt er dem Gesetzgeber die Definitionsmacht. Schließlich: Eine „richtige“ (orthós) Meinung vom Schrecklichen kann nur durch Bildung (paideía) vermittelt werden, so dass Sklaven oder Tiere nicht wirklich tapfer sein können.37 Es fehlt ihnen offenbar die Einsicht38 darein, dass die Festlegungen des Gesetzgebers „richtig“ sind – aber auch die Möglichkeit des Zweifels, sie könnten falsch sein. Deshalb ist es bei Sklaven und Tieren wohl auch keine besondere Leistung, Befehle zu befolgen. Sie bedürfen nicht, wie die Wächter, in Gestalt der Tapferkeit einer Kraft (dy´namis), die „richtige Meinung vom Schrecklichen“ zu retten und zu bewahren (so¯´zein). Mit Kant zu sprechen: Sie mögen zwar Mut haben, aber nicht Mut aus Pflicht.39

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Politeia IV 6 (428b-c). Politeia IV 7 (429b-d, 430a-b). 36 Politeia VI 20 ff. (509d ff.) – Liniengleichnis –. 37 Politeia IV 7 (430b). 38 Mit anderen Worten: Tapferkeit hat ein Element des Wissens (um das, was richtig ist) und ein Element des Wollens (den Mut, dafür einzustehen). 39 Vgl. Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798), Werke XII, 1977, § 74 am Ende. 35

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* Es fällt nicht schwer, in Platons Konzeption der Tapferkeit des Wächterstandes das zu entdecken, was heute ein Kernstück des Rechtsstaats ist: die Bindung der Exekutive, der „vollziehenden Gewalt“, an die Gesetze, d. h. an das einfache Recht (Art. 20 Abs. 3 GG: „Gesetz und Recht“). Allein die Gesetze definieren, was „schrecklich“ ist und was nicht (tá deiná kaì me´¯ )40 – frei übersetzt: was böse und gut, rechtmäßig oder rechtswidrig ist. Zugestanden sei: Die Wortwahl „schrecklich“ spricht dafür, dass Platon hier vor allem an das gedacht haben wird, was wir heute Strafrecht nennen – und man könnte tá deiná kaì me¯´ auch übersetzen mit: was Verbrechen sind und was nicht. Nichtsdestoweniger wird man die Parallele zur heutigen Zeit etwas großzügiger ziehen dürfen: Platon spricht hier von der Gesetzesbindung der staatlichen Verwaltung – und übrigens auch von der besonderen Treuepflicht der Beamten. Sie müssen die Gesetze so in sich aufsaugen, wie ein gut vorbereitetes Stück Stoff den Farbstoff aufsaugt, nämlich so, dass sie nicht mehr ausgewaschen werden können – nicht einmal durch Bestechung, die stärker ist als jede Lauge.41 Zieht man die Parallele in dieser Weise, drängt sich die nächste Frage von selbst auf: Wer garantiert eigentlich, dass die Gesetze das „Schreckliche“, also Gut und Böse, richtig definieren? So dass die „richtige Meinung“ über Gut und Böse, die die Wächter aufsaugen, wirklich eine richtige Meinung ist? Nun, das müssen dann wohl die „Wächter im wahrsten Sinn“ sein: Sie als Gesetzgeber garantieren die gute Verfassung (politeía), aus der auch die richtigen Gesetze entspringen. (Ähnlich formuliert Art. 20 Abs. 3 GG: „Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung gebunden.“) Deshalb wird Platon später, und sozusagen in einem zweiten Durchgang, entfalten, wie man die Wächter im wahrsten Sinn durch weitere Bildung zu dem macht, was Herrscher sein sollten: Philosophen42, die das Gute und Gerechte „als solches“ erkennen (Bücher 6 und 7).43 VIII. Besonnenheit: Gegenseitige Akzeptanz von Staat und Gesellschaft Aber bleiben wir im Vierten Buch! Denn es bleiben in der vollendet guten Polis noch zu entdecken die Besonnenheit (so¯phrosy´ne¯) und die Gerechtigkeit (dikaiosy´ne¯). 40

Vgl. Politeia IV 7 (430b). Vgl. Politeia IV 7 (430a-b); dort heißt es allerdings nicht Bestechung, sondern he¯done´¯ , wörtlich: Freude, Lust. 42 Politeia V 18 (473c-d); VI 15 (503b). 43 Politeia VI 16 ff. (504a ff.). 41

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Etwas überraschend ordnet Platon die Besonnenheit – man könnte wohl auch übersetzen: Vernünftigkeit, im Sinn von: sei doch vernünftig! – nicht wie zuvor einer einzigen der drei „Klassen“ zu, sondern allen drei gemeinsam. Besonnenheit ist eine Art Zusammenklang (sympho¯nía) und Harmonie (harmonía) aller drei „Stände“,44 ja man wird sagen dürfen: ein Konsens (homónoia, wörtlich: Eintracht) über die Legitimation der politischen Herrschaft. „Wir nennen“, sagt Platon, „diese Eintracht Besonnenheit, wenn der von Natur (phy´sei) Bessere und der von Natur Schlechtere darin übereinstimmen (sympho¯nía), wer von ihnen herrschen soll.“45 Im Klartext bedeutet dies: Es muss die dritte Klasse, die, wenn man so will, „bürgerliche Gesellschaft“, den Löwenanteil der Akzeptanzleistung aufbringen. Sie muss akzeptieren, sich von den ersten beiden Klassen, dem „Staat“ in Gestalt von Regierung (Herrscher) und Verwaltung (Wächter), beherrschen zu lassen. Es spricht nicht sehr für Platons diplomatisches Geschick, dass er dies mit der Anforderung verknüpft, der dritte Stand müsse obendrein akzeptieren, von Natur aus schlechter zu sein. Immerhin spricht einiges dafür, dass Platon auch von den Wächtern – allen Wächtern, denen im engeren und im weiteren Sinn – so etwas wie eine Akzeptanz der „zivilen“ Bevölkerung verlangt, ja mehr noch: Achtung und Dankbarkeit. Was die Achtung betrifft, heißt es in einer schönen Formulierung im Dritten Buch, dort, wo die Ausführungen über die Erziehung der Wächter beginnen: Die Wächter sollten sich ausschließlich einem einzigen, ganz spezifischen Geschäft widmen, nämlich der Freiheit der Polis (eleuthería te´¯ s póleo¯s).46 Damit ist zum einen der Schutz nach außen gemeint, aber wohl auch, innenpolitisch, die Forderung, die Freiheit der (Mit-)Bürger „zu achten und zu schützen“ (vgl. Art. 1 Abs. 1 GG). Die Dankbarkeit schließlich kommt zum Ausdruck, wenn Platon den Unterschied seiner Verfassung zu den anderen wie folgt auf den Punkt bringt: „Wie nennen die Regierenden in den anderen Poleis ihr Volk (de¯´mos)?“ „Knechte (doúlous).“ „Und bei uns, wie nennen sie es hier?“ „Arbeitgeber (misthodóte¯s)47 und Ernährer (tropheús).“48 IX. Gerechtigkeit: Wahrung der Kompetenzordnung Was ist nun schließlich in der vollendet guten Polis, als letzte in der Quadriga ihrer guten Eigenschaften, die Gerechtigkeit? Platon knüpft hier an einen Gedanken an, den er schon beim Entwurf der Miniatur-Polis formuliert hatte und der auch angeklungen war, als er das Bedürfnis nach Wächtern ins Spiel brachte: Jeder Mensch

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Politeia IV 8 (430e). Politeia IV 9 (432a-b). 46 Politeia III 8 (395b-c). 47 Wörtlich: Lohngeber. 48 Politeia V 11 (463a-b). 45

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kann nur einen einzigen Beruf (epite´¯ deuma) wirklich perfekt ausüben.49 Deshalb sollte sich jeder Einzelne auf den seinen konzentrieren. Und deshalb besteht die Gerechtigkeit in der vollendet guten Polis darin: tà hautou˜ práttein kaì me´¯ polypragmoneı˜n – das Seine tun und sich nicht in Vieles einmischen. Untermauert wird dies mit dem Argument, auch bei Gericht gehe es immer darum, dass niemand sich Fremdes aneignen darf und niemand des Seinen beraubt wird.50 Übertragen auf die Polis ist daher ganz klar, was Gerechtigkeit bedeutet: Alle drei „Klassen“ (génous) müssen sich auf ihre Aufgaben beschränken: die Herrscher, die Wächter und die „Privatwirtschaft“ (chre¯matiste¯´s). Wenn sie es tun, ist dies Gerechtigkeit, tun sie es nicht, Ungerechtigkeit. * „Das Seine tun und sich nicht in Fremdes einmischen“ – dies lässt sich, wie ich meine, ganz zwanglos in heutige staatsrechtliche Kategorien übersetzen: „Gerechtigkeit“ in diesem Sinn wäre dann nichts anderes als die Einhaltung der Kompetenzordnung. Die Regierung hat sich in ihrem Zuständigkeitsbereich zu halten, ebenso die Exekutive, aber auch die Privatwirtschaft. Ungerecht ist es hingegen, wenn sie sich in den Bereich der jeweils anderen einmischen – etwa die Wirtschaft in staatliche Angelegenheiten oder der Staat in die Wirtschaft. (Nebenbei: Auch die Grundrechte können ja als negative Kompetenznormen begriffen werden, als Gewährung von Freiheitsbereichen, in die sich der Staat „nicht einmischen“ darf.) Mit ein wenig Übertreibung kann man daher sagen: Platons Verfassung der besten Polis – eben die politeía – und die modernen Verfassungen mit dem Prototyp der amerikanischen von 1787 haben in Sachen Gerechtigkeit ihren Hauptpunkt darin, im Staat klare Kompetenzen zu schaffen. Das quis iudicabit, das „Wer“ der Entscheidung ist vorrangig gegenüber dem „Wie“. Allerdings: Während Platon hinsichtlich der materiellen Gerechtigkeit des „Wie“ auf die Philosophen vertraut, bleibt uns heute – faute de mieux – nur das Vertrauen auf einen vernünftig strukturierten demokratischen Prozess.51 (Das Problem der Verfassungsgerichtsbarkeit bleibe außen vor.) X. Die gerechte Polis und der gerechte Mensch Erinnern wir uns: Das Hauptthema von Platons „Politeia“ ist im Grunde gar nicht die Gerechtigkeit der Polis, sondern die Gerechtigkeit des Einzelmenschen. Oder mit ein wenig Übertreibung: Die „Politeia“ ist primär gar kein Werk über den Staat, sondern ein Werk über die conditio humana, über die Verfassung des Menschen. 49

Z.B. Politeia III 7 (394e). Politeia IV 10 (433a ff.). 51 Würtenberger, Zeitgeist und Recht (Fußn. 4), S. 191 ff.; Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 16. Aufl. 2010, § 17 III; ders., Rechtsphilosophie, 6. Aufl. 2011, §§ 11 II 4, 32 I und II. 50

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Sieht man die Dinge so, wird man einige der „anstößigen“ Passagen des Werks, insbesondere über die Eugenik und die nützlichen Lügen seitens der Regierung,52 vielleicht in milderem Licht sehen können – als Mythen, die den Blick auf uns selbst verfremden und uns dadurch freier machen, offener für die Paradoxien zum Beispiel der Selbstbeherrschung53 oder Selbsttäuschung54. Und man kann Platon ja auch nicht vorwerfen, er überschätze die Möglichkeiten derer, die in den real existierenden historischen Verfassungen „gerecht“ sein und bleiben wollen. Das gesamte Achte Buch handelt davon, wie sie, die Gerechten, immer wieder scheitern müssen, wenn die real existierende Polis den geradezu zwangsläufigen Weg von der besten Verfassung – Aristokratie oder Königtum – zur schlechtesten, der Tyrannis, beschreitet. Der „Zauber Platons“ scheint mir daher auch weniger darin zu bestehen, dass er Elitenherrschaft oder gar totalitäre Staatsformen verherrlicht.55 Er dürfte vielmehr in dem großen Bekenntnis der „Politeia“ liegen, dass dennoch und trotz alledem der gerechte Mensch glücklicher ist als der ungerechte – eben weil er über sich selbst in Freiheit herrscht. XI. Schlussbemerkung Wobei die Betonung auf dem „herrscht“ liegt. Denn man sollte nicht übersehen, dass Platon gerade nicht mit einer Utopie endet,56 sondern mit einer Utopie beginnt: mit einer herrschaftsfreien Polis, die geradezu ur-liberal einem Markt vertraut, der von niemandem reguliert wird (und die damit fast schon wieder in das andere Extrem umschlägt,57 in den Kommunismus). Demgegenüber ist Platon klar, dass es ohne Herrschaft nicht geht. Es ist ihm sogar klar, dass es keine perfekte Herrschaft gibt, und wenn es sie gäbe, dann müsste sie auch wieder zerfallen.58 Was das heutige Staats- und Verwaltungsrecht angeht, so konnte er von ihm natürlich noch nichts wissen. Wir wollen trotzdem festhalten, dass in seiner „Politeia“ in nuce zweierlei angelegt ist: Gerechtigkeit ist zuvörderst eine klare Kompetenzordnung; und was inhaltlich richtig und falsch ist – was die „richtige Meinung vom Schrecklichen“ ist –, insoweit ist die Exekutive an die Gesetze gebunden.

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Insbesondere Politeia V 8 (459a ff.). Vgl. Politeia IV 8 (430e). 54 Vgl. Politeia II 20 (382a), II 21 (383a-c) zur sogenannten „Lüge in wahrhafter Weise“ (ale¯thõs pseu˜dos). 55 So der bekannte Vorwurf von Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde I: Der Zauber Platons, 6. Aufl. 1980. 56 So die gängige Interpretation. 57 Zu diesem Gedanken: Politeia VIII 15 (564a). 58 Politeía VIII 3 (545c ff.). 53

Staatszielbestimmungen und Lebensordnungen Zur Entstehung der Verfassung des Freistaats Thüringen Von Hans-Peter Schneider, Hannover I. Einleitung Nach der Wiedervereinigung bildete der Freistaat Thüringen mit seiner Verfassung vom 25. Oktober 1993 das „Schlusslicht“ im Konstitutionalisierungsprozess der neuen Länder. Dies hatte sowohl Vor- als auch Nachteile. Einerseits konnte man bei den Beratungen nicht nur auf Erfahrungen mit Verfassungsreformen in den alten Ländern zurückgreifen, sondern verfügte auch über die gesamte Breite des Spektrums von Regelungsmöglichkeiten und -alternativen in den vier bereits vorhandenen Verfassungen von Sachsen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern. Gerade dieser Vorzug eines reichen Erfahrungsschatzes mit Fragen der Verfassunggebung erwies sich aber zugleich auch als Hindernis für zielstrebige, lösungsorientierte Debatten, weil damit die gesamte Vielfalt und Komplexität einer bestimmten Materie stets präsent war. Es gab praktisch zu jedem Vorschlag immer auch ein „ja, aber dort …“, mit dem just auf eine abweichende oder manchmal geradezu konträre Vorschrift anderswo hingewiesen werden konnte. Bisweilen erinnerten die teils überaus zähen Debatten im Verfassungsausschuss des Landtages, dem der Jubilar und ich als Sachverständige angehörten, an Gorbatschows Wort vom „zu spät Kommenden“, den das Leben bestraft. Rückblickend erscheinen jedoch die Vorgänge von Erfurt in einem etwas milderen Licht. So würde ich heute sagen: „Gut Ding will Weile haben“ oder besser: „Ende gut, alles gut“. II. Vorgeschichte und kultureller Hintergrund Die Verzögerung der Verfassungsarbeiten in Thüringen hatte aber auch noch einen anderen, tieferen Grund, der mit ihrer Vorgeschichte nach der Wiedervereinigung sowie mit der besonderen Mentalität von Thüringern zusammenhängt und deshalb einer etwas ausführlicheren Darstellung bedarf. Beginnen wir mit der Mentalität, über die ich mir, selbst Thüringer, durchaus ein Urteil erlauben kann. Sie ist mit der geographischen Lage Thüringens, seinen waldreichen Hügeln und Landschaften, seiner wechselvollen Historie und nicht zuletzt mit seiner großen kulturellen Vergangenheit zu erklären. Dass Thüringen mitten in Deutschland liegt, weiß jeder, nicht aber dass es keinerlei Außengrenzen zu europäischen Nachbarn hat, sondern von fünf anderen deutschen Ländern umgeben ist, mit denen es nicht selten im Streit

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lag. Dass gilt insbesondere für Sachsen, das sich im 15. Jahrhundert einen Großteil Thüringens einverleibt hatte. Es beredtes Zeugnis davon findet sich in Lessings „Minna von Barnhelm“. Als die Titelheldin sich in einem Gasthaus einquartieren will, wird sie vom Wirt befragt: DER WIRT: Einen kleinen Augenblick Geduld! – Er schreibt. „Dato, den 22. August a.c. allhier zum Könige von Spanien angelangt“ – Nun Dero Namen, gnädiges Fräulein? DAS FRÄULEIN: Das Fräulein von Barnhelm. DER WIRT schreibt. „Gütern aus Sachsen“ – Aus Sachsen! gnädiges Fräulein? DAS FRÄULEIN: Von meinen Gütern aus Sachsen. DER WIRT schreibt. „von Barnhelm“ – Kommend? woher, Ei, ei, aus Sachsen, gnädiges Fräulein? aus Sachsen? FRANZISKA (die Zofe): Nun? warum nicht? Es ist doch wohl hier zu Lande keine Sünde, aus Sachsen zu sein? DER WIRT: Eine Sünde? behüte! das wäre ja eine ganz neue Sünde! – Aus Sachsen also? Ei, ei! aus Sachsen! das liebe Sachsen! – Aber wo mir recht ist, gnädiges Fräulein, Sachsen ist nicht klein, und hat mehrere, – wie soll ich es nennen? – Distrikte, Provinzen. – Unsere Polizei ist sehr exakt, gnädiges Fräulein. – DAS FRÄULEIN: Ich verstehe. Von meinen Gütern aus Thüringen also. DER WIRT: Aus Thüringen! Ja, das ist besser, gnädiges Fräulein, das ist genauer. – Schreibt und liest. „Das Fräulein von Barnhelm, kommend von ihren Gütern aus Thüringen“.

Es versteht sich daher, dass die Thüringer nicht gut auf die Sachsen (und umgekehrt) zu sprechen sind. Aber auch von den übrigen Nachbarn, den Hessen, Niedersachsen, Anhaltinern und Bayern, halten sie nicht viel. Sie sind stolz auf ihren eigenen Dialekt und in vielen Dingen des Lebens sich selbst genug. Typisch für Thüringen ist auch die Landschaft mit ihren ausgedehnten Wäldern, malerischen Tälern und sanften Hügeln, auf denen zumeist noch Ruinen ehemaliger Burgen stehen. Nicht zu Unrecht wird das Land daher als „grünes Herz Deutschlands“ bezeichnet – ein Begriff, der mir seit Kindheit vertraut ist. Es lädt vor allem zu Wanderungen oder Spaziergängen ein und hat sich zu einer Art „Mekka“ für diejenigen entwickelt, die abseits der großen Touristenzentren Erholung suchen. Auch die Thüringer selbst, so offenherzig und gastfreundlich sie sind, verbringen ihren Urlaub, genannt „Sommerfrische“, lieber in der Heimat, als auf Reisen zu gehen oder gar ferne Kontinente zu besuchen. Und es ist für jeden Thüringer, der etwas auf sich hält, ein Gebot der Selbstachtung, einmal in seinem Leben den 170 km langen „Rennsteig“ durchlaufen zu haben – ein Wanderweg auf der Kammlinie des Thüringer Waldes, der sich in Höhen von 500 bis 970 m von Nordwest nach Südost zieht, beginnend im Eisenacher Stadtteil Hörschel an der Werra und endend in Blankenstein an der Saale. Die Thüringer wissen, über welche Naturschönheiten sie verfügen, und werden darin durch einen immer stärkeren Zustrom von Feriengästen tagtäglich bestätigt.

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Dieses gefestigte Selbstbewusstsein der Thüringer reicht weit in die Geschichte zurück und hat alle territorialen Abspaltungen, Teilungen und Zersplitterungen in der Zwischenzeit unbeschadet überstanden. Beginnend mit dem Königreich Thüringen (Thoringia, vermutlich abgeleitet aus dem Germanischen: „Söhne Thors“), das im Jahr 531 n. Chr. von den Merowingern unterworfen und in das Frankenreich eingegliedert wurde, erlebte das Land als eigener Staat seine Hochblüte zur Zeit der Ludowinger von 1131 bis 1264. Danach fiel die Landgrafschaft Thüringen im Wege der Erbfolge an die sächsischen Wettiner und wurde mit der Leipziger Teilung 1485 in zwei Herrschaftsbereiche aufgespalten: die ernestinischen und albertinischen Lande. Durch weitere Teilungen zerfiel Thüringen in eine Vielzahl von Zwergstaaten. Zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert waren es nicht weniger als 38, im 19. Jahrhundert 14 und bis ins 20. Jahrhundert hinein immerhin noch 8 Fürstentümer – das Paradebeispiel für deutsche Kleinstaaterei. Aber selbst innerhalb dieser „Länder“ gab es bisweilen ein hohes Maß an Vielfalt. So betrieben um das Jahr 1890 im größten Einzelstaat Thüringens, dem Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach, 15 verschiedene Gesellschaften eigene Eisenbahnen. Man wird daher nicht umhinkommen, den Thüringer auch einen gewissen Hang zur Nabelschau und Eigenbrötelei zu attestieren. Erst 1920 kam es durch Vereinigung verschiedener Gebietsteile wieder zur Gründung des Landes Thüringen. Die stärkste Klammer unter den Thüringern und den größten Aktivposten im öffentlichen Ansehen des Landes bildet zweifellos die einzigartige kulturelle Tradition. Luther hatte in Erfurt studiert und lebte während seiner Verbannung als Junker Jörg in der Wartburg bei Eisenach. Johann-Sebastian Bach wurde in Eisenach geboren und fand seine erste Anstellung in Arnstadt. In Weimar wirkten Goethe und Schiller, an der Universität Jena Fichte, Schelling und Hegel. Zur selben Zeit begründeten Dichter wie Novalis, Clemens Brentano und Friedrich Schlegel die deutsche Romantik. Von den Jenaer Burschenhaften gingen die ersten Impulse zur nationalen Einigung und zur Schaffung liberaler Verfassungen aus. Unter dem Pädagogen Friedrich Fröbel, dem „Erfinder“ des Kindergartens, entstand 1817 in Rudolstadt mit der Allgemeinen Deutschen Bildungsanstalt die erste moderne Schule. Mit der Gothaer Versicherung von 1820 legte Ernst-Wilhelm Arnoldi den Grundstein für das deutsche Versicherungswesen. Am 1. März 1882 eröffnete Oskar Tietz in Gera das Warenhaus Tietz, aus dem später der Hertie-Konzern hervorging. In Jena entwickelte Ernst Abbe das Mikroskop und begründete mit Carl Zeiß ein Weltunternehmen. In Thüringen stand schließlich auch die Wiege der Sozialdemokratie: 1869 gründeten August Bebel und Wilhelm Liebknecht in Eisenach die Sozialdemokratische Arbeiterpartei, die 1875 mit dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein Ferdinand Lassalles in Gotha fusionierte. Das Gothaer und das Erfurter Programm wiesen der Sozialdemokratie für Jahrzehnte die Richtung. Kein Wunder, dass die Thüringer ganz besonders stolz auf diese reiche kulturelle Vergangenheit sind und sich höchst ungern von anderen belehren oder gar schulmeistern lassen.

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III. Verfassungsentwürfe Damit sind wir wieder beim Geschäft der Verfassunggebung in Thüringen mit ihrer besonderen Vorgeschichte, in der sich all die beschriebenen Eigenschaften und Mentalitäten der Thüringer wie in einem Prisma widerspiegeln und niedergeschlagen haben. Denn das Verfahren belegt zum einen, wie schnell sich gebildete Laien mit den schwierigen Materien des Verfassungsrechts haben vertraut machen können, zum anderen aber auch, dass diese in ihrem Eigensinn nicht frei von Dünkel, ja sogar von einer gewissen Überheblichkeit waren. Im ersten Thüringer Landtag gab es nur drei Juristen, von denen jedoch keiner in den Verfassungsausschuss entsandt wurde. Man glaubte vielmehr zunächst, mit den beiden bereits vorliegenden Entwürfen des „Politisch-Beratenden Ausschusses zur Bildung des Landes Thüringen“ (PBA) und des Jenaer Professors für öffentliches Recht und Rechtsphilosophie, Gerhard Riege, aus dem Jahre 1990 ohne zusätzlichen juristischen Sachverstand auskommen zu können. In diese noch weitgehend offene Situation platzte (und patzte) der rheinland-pfälzische Justizminister Peter Caesar (FDP) am 5. Oktober 1990 mit einem eigenen Entwurf, der sich stark an das Grundgesetz anlehnte und den er, obwohl sich die thüringische CDU zuvor öffentlich davon distanziert hatte, in einer Pressekonferenz als die neue Thüringer Verfassung vorstellte. Die Verärgerung über diesen unsensiblen Vorstoß war groß. Da half es auch nicht mehr, dass man die Vorlage dadurch zu retten versuchte, dass man sie rasch in „Eisenacher Entwurf“ umbenannte. Sie wurde als „Wessi-Entwurf“ betrachtet, als Bevormundung empfunden und somit als Einmischung in die inneren Angelegenheiten Thüringens fraktionsübergreifend abgelehnt. Leider hatte es mit dieser kompromisslosen Zurück- und Zurechtweisung nicht sein Bewenden. Die Skepsis keineswegs nur gegenüber jedem fremden Rat, sondern namentlich gegenüber Juristen überschattete auch die Verfassungsberatungen. Noch im Dezember 1990 kündigten alle fünf Fraktionen des 1. Thüringer Landtages (CDU, SPD, FDP, Linke Liste-PDS und Neues Forum/Grüne/Demokratie Jetzt) eigene, selbst konzipierte Entwürfe an und vereinbarten, nicht dem Justizausschuss des Landtages oder gar einer aus Nicht-Parlamentariern bestehenden Enquête-Kommission die Erarbeitung der Verfassung zu überlassen, sondern zu diesem Zweck einen speziellen Ausschuss einzurichten, der möglichst neutral und allein mit führenden Abgeordneten der einzelnen Fraktionen besetzt werden sollte. So geschah es dann auch. Bei der ersten Lesung der inzwischen vorliegenden Fraktionsentwürfe im Landtag am 12. September 1991 wurde ein „Verfassungs- und Geschäftsordnungsausschuss“ bestellt, an den alle fünf Entwürfe einstimmig überwiesen wurden. Von einer Hinzuziehung externer Sachverständiger oder gar von deren unmittelbarer Beteiligung an den Verfassungsberatungen war zu diesem Zeitpunkt noch überhaupt keine Rede. Als erste hatte die CDU-Fraktion am 10. April 1991 ihren Entwurf vorgelegt. Es folgten am 25. April die FDP-Fraktion, am 9. Juli die SPD-Fraktion, am 23. August die Fraktion NF/Grüne/DJ und am 9. September 1991 schließlich die Fraktion LL-

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PDS. Alle fünf Entwürfe sahen Vollverfassungen mit den klassischen Grundrechten sowie mit ökonomischen, ökologischen und sozialen Staatszielbestimmungen vor. Der CDU-Entwurf enthielt darüber hinaus Grundsätze für die Ordnung des Gemeinschaftslebens und umfangreiche Vorschriften über die Kirchen und Religionsgemeinschaften. Dagegen legte der SPD-Entwurf besonderen Wert auf die Gleichstellung der Geschlechter, die Selbstbestimmung der Frau mit der Möglichkeit eines Schwangerschaftsabbruchs bis zum dritten Monat und den Schutz nichtehelicher Lebensgemeinschaften. Der FDP-Entwurf sprach sich für ein Grundrecht auf Datenschutz und für eine kommunale Gebietsreform in Thüringen aus. Die Fraktion NF/G/DJ setzte sich für ein Verbot von Geheimdiensten und für eine weitreichende Teilhabe der Bürger an der politischen Willensbildung ein. Im Entwurf der Fraktion LL-PDS waren die sozialen Rechte auf Arbeit, Bildung, Wohnung und Existenzsicherung ähnlich wie in der brandenburgischen Verfassung durch Individualansprüche auf entsprechende staatliche Förderungsmaßnahmen konkretisiert worden. Auf dem Gebiet der Staatsorganisation wichen die Entwürfe nur unwesentlich voneinander ab; alle enthielten plebiszitäre Elemente mit mehr oder weniger hohen Verfahrenshürden. IV. Beratungen im Verfassungsausschuss Der neu eingesetzte Verfassungsausschuss des Landtages, dem nunmehr die Aufgabe oblag, diese verschiedenen Entwürfe zu einem in sich konsistenten und konsensfähigen Verfassungstext zusammenzuführen, begann mit seinen Beratungen am 19. September 1991. In seiner 2. Sitzung am 29. Oktober wurde beschlossen, einen Unterausschuss zu bilden, dem jeweils ein Vertreter der fünf Fraktionen, ein juristischer Berater aus der Staatskanzlei sowie ein Mitarbeiter der Landtagsverwaltung angehören sollten. Er hatte den Auftrag, die Sitzungen des Verfassungsausschusses vorzubereiten, ihm bei Unklarheiten Formulierungshilfe zu leisten und ihn mit konsensfähigen Textvorschlägen zu versehen. Im Laufe der Zeit hat sich diese verschachtelte Konstruktion für die Arbeit im Verfassungsausschuss als großes Hindernis erwiesen, weil dieser sich immer wieder mit Textfassungen des Unterausschuss beschäftigen musste, die Korrekturen oder Änderungen erforderten, welche dann wiederum im Unterausschuss zu behandeln und danach dem Verfassungsausschuss erneut vorzulegen waren. Bei solchen „Kreisläufen“ wurde viel Zeit verloren, was sich schon daraus ergibt, dass der Verfassungsausschuss von September 1991 bis September 1993 insgesamt 26 mal tagte, während der Unterausschuss in dieser Zeit 29 Sitzungen benötigte. Trotz aller Vorbehalte gegenüber Fremdeinflüssen auf die Verfassunggebung in Thüringen stellte sich schon in der 2. Sitzung des Verfassungsausschusses die Frage nach der Einbeziehung professionellen Sachverstandes, weil sich die Mitglieder als juristische Laien offenbar doch ein wenig überfordert fühlten. Es wurde vorgeschlagen, in der nächsten Sitzung am 29. November 1991 eine Anhörung von Verfassungsrechtlern durchzuführen, diese Absicht aber rasch wieder aufgegeben mit der Begründung, der Ausschuss müsse sich zunächst selbst an die Arbeit machen

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und darüber klar werden, was er eigentlich wolle. Mitten in der Abstimmung meldete sich jedoch der Abgeordnete Frieder Lippmann (SPD) zu Wort und fragte ganz „unschuldig“, ob „bei dieser Ausschusssitzung dann die Sachverständigen der Fraktionen doch dabei sein können?“ Etwas konsterniert wiederholte der Ausschussvorsitzende Dr. Pietzsch (CDU): „Dabei sein können“. Hierauf wieder Lippmann: „Wir machen es also so wie beschlossen und wie gehabt, die einzelnen Mitarbeiter oder Sachverständigen der Fraktionen sind dabei“, und fügte listig hinzu: „Das war nur zur Präzisierung“. Pietzsch fühlte sich offenbar überfahren und bemerkte nur noch: „Herr Lippmann, das ist ja eine Festlegung, die wir auf Antrag des NF/G/ DJ bestätigt haben, dass sie teilnehmen können. Das können sie nicht nur am 29.11., sondern auch das übernächste und so weitere Mal“. Zu diesem Zeitpunkt war sich indes kaum jemand im Raum der Tatsache bewusst, dass mit jenem kurzen Wortwechsel die ständige Teilnahme von Verfassungsrechtlern als „Sachverständige der Fraktionen“ zumindest de facto akzeptiert war. Lippmann nannte auch gleich meinen Namen und den meines Kollegen Rudolf Steinberg von der Universität Frankfurt am Main. Uns beide hatte er vorher gefragt, woraus sich ergibt, dass sein Überraschungscoup genau geplant und gut vorbereitet worden war. Zu den weiteren Sachverständigen gehörte auch der Jubilar, der später einem breiteren Publikum durch seine „Einführung“ in die von der Thüringer Landeszentrale für politische Bildung publizierte Textausgabe von 1994 bekannt geworden ist. Wie sich an einigen ausgewählten Beispielen zeigen lässt, hatte er maßgeblichen Einfluss auf die Beratungen im Verfassungsausschuss und deren Ergebnisse. Zu seinen wohl größten „Erfolgen“ gehörte der Name des Landes selbst. Zunächst hatten alle Fraktionsentwürfe übereinstimmend nur vom „Land Thüringen“ gesprochen. Als die CDU-Fraktion kurz vor Ende der Beratungen überraschend beantragte, das Wort Land durch „Freistaat“ zu ersetzen, kam es in der 26. Sitzung am 28. Januar 1993 darüber zu einer heftigen Auseinandersetzung. Die Gegner verwiesen auf die geringe Akzeptanz dieser Bezeichnung in der Bevölkerung, auf deren antirepublikanische Tendenz und auf die zusätzlichen Kosten einer Umbenennung. Dem hielt der Jubilar entgegen, dass nach seiner Auffassung Republik und Freistaat, historisch gesehen, sehr nahe beieinander lägen und zwischen beiden Prinzipien keine Unterschiede bestünden. Vielmehr sei der Freistaat ein Staat, der nicht durch ein autoritäres monarchisches System geprägt werde. Mit diesem Argument, dass das Wort „Freistaat“ nichts anderes als der Gegenbegriff zur Monarchie sei, setzte er sich schließlich durch und kann daher als einer der Väter des Thüringer Staatsnamens betrachtet werden. Bei einer weiteren Kontroverse in der 5. Sitzung am 5. März 1992 ging der Jubilar ebenfalls als „Sieger“ hervor. Bei der Frage, wem das in Artikel 9 garantierte „Recht auf Mitgestaltung des politischen Lebens im Freistaat“ zustehen sollte, bestand im Ausschuss aufgrund der Erfahrungen mit der Wende die Tendenz, es möglichst weit zu fassen und alle an der politischen Willensbildung beteiligten „intermediären Kräfte“ (Steinberg), also auch Vereine, Verbände, Interessengruppen und Gewerkschaften, einzubeziehen. Der Jubilar wandte sich dagegen. Verbände und Vereini-

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gungen müssten die Chance haben, sich staatsfern und staatsfrei zu bilden und auch zu entfalten, ohne einen politischen Auftrag wahrnehmen zu müssen. Er wies weiter darauf hin, dass die Gewährleistung eines Rechts, sich in Verbänden und Vereinigungen politisch zu betätigen, zu einer „Politisierung des Verbands- und Vereinswesens“ führen könne, die vermutlich nicht beabsichtigt sei. Dies überzeugte die Mehrheit im Verfassungsausschuss. Es blieb daher bei einer Beschränkung der Rechtsträgerschaft auf Parteien und Bürgerbewegungen. Der Jubilar war es auch, der dem Vorschlag, die Vereinigungsfreiheit auch Ausländern zuzugestehen, entgegenhielt, dadurch könne bei wirtschaftlichen Vereinen das Arbeitserlaubnisrecht unterlaufen werden, womit praktisch grundrechtlich etwas gegeben würde, was nach einfachem Recht nicht einzulösen sei. Gelegentlich fochten wir auch gemeinsam. Der Streit betraf den öffentlichen Dienst und das auch in Sachsen ausführlich erörterte Anstellungsverbot von Personen, die in der DDR für das frühere Ministerium für Staatssicherheit (Stasi) tätig gewesen sind. Obwohl zunächst nur im Entwurf der SPD-Fraktion eine entsprechende Regelung vorgesehen war, fand dieser Eignungsvorbehalt, wie er in Artikel 96 Abs. 2 enthalten ist, im Verfassungsausschuss sofort breite Zustimmung. Mich erinnerte die Klausel eher an das „Berufsverbot“ für Kommunisten und radikale Linke in der Bundesrepublik aus den siebziger Jahren, wobei jetzt noch verschärfend hinzukam, dass hier jemand nicht etwa für gegenwärtiges, sondern sogar für vergangenes Tun nachträglich haftbar gemacht werden sollte. Ich empfahl daher mit Nachdruck, erstens nicht einfach schematisch auf der Grundlage eines Dienstvertrages mit dem MfS oder einer bloßen Verpflichtungserklärung zu verfahren, sondern jeden Einzelfall sorgfältig zu prüfen, und zweitens dabei den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten. Denn es war mir und anderen Sachverständigen nur schwer zu vermitteln, dass beispielsweise der Minister oder dessen Führungspersonal in dieser Hinsicht genauso behandelt und von einer Beschäftigung im öffentlichen Dienst ausgeschlossen werden sollte wie die Chauffeure oder Hausmeister. Nur mit Unterstützung des Jubilars gelang es schließlich, die Rigidität der Vorschrift abzumildern. Zwar zeigte er Verständnis dafür, dass „eine gewisse politische Akzentsetzung in die Verfassung hineingenommen werden“ solle. Diese Akzentuierung müsse aber „so formuliert werden, dass sie beamtenrechtlich durch Interpretation ausfüllbar bleibt“. Im Ergebnis wurde daraufhin mit Bezug auf die fehlende Eignung das Wort „grundsätzlich“ eingefügt. V. Soziale Lebenswelten als Markenzeichen der Verfassung Das eigentliche Markenzeichen der thüringischen Verfassung war und ist der Aufbau des Grundrechtsteils, der nach Lebensordnungen gegliedert ist und in den die Staatsziele integriert sind. Demgemäß erhielt der erste Teil die Überschrift „Grundrechte, Staatsziele und Ordnung des Gemeinschaftslebens“. Damit unterscheidet sich Thüringen deutlich von Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern, die den

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Staatszielen jeweils einen eigenen Unterabschnitt widmen, aber auch von Sachsen, wo die Staatsziele den „Grundlagen des Staates“ zugeordnet sind, und nähert sich Brandenburg, das in seiner Verfassung Grundrechte und Staatsziele in einem Kapitel zusammengeführt hat. Kein anderes Land hat jedoch die sozialen Lebensordnungen so stark in den Mittelpunkt seiner Grundrechtssystematik gestellt und zum zentralen Strukturprinzip erhoben wie der Freistaat Thüringen. Fast fühlt man sich ein wenig an die Weimarer Verfassung erinnert, deren zweiter Hauptteil die Grundrechte enthielt und ebenfalls nach Lebensordnungen gegliedert war. Dabei lagen in dieser Frage die Entwürfe der fünf Fraktionen noch weit auseinander. Die PDS hatte einen umfangreichen, nicht weniger als elf Artikel umfassenden Katalog sozialer Grundrechte aufgenommen, der etwa beim Recht auf Arbeit von dessen Schutz durch den Staat bis hin zu einem Verbot der Aussperrung und zum Anspruch auf staatliche Lohnersatzleistungen im Falle von Streiks reichte. Die FDP widmete den Staatszielen einen eigenen Unterabschnitt. Die Entwürfe der SPD und von NF/GR/DJ verbanden ähnlich wie in Brandenburg und Sachsen die Staatsziele mit den Staatsgrundsätzen. Der Endfassung am Nächsten kam schließlich der CDU-Entwurf, dessen zweiter Teil mit „Grundrechte und Ordnung des Gemeinschaftslebens“ überschrieben war und im ersten Abschnitt neben Grundrechten und staatsbürgerlichen Rechten „weitere Staatsziele“ enthielt. Darüber, dass die Verfassung Staatsziele enthalten sollte, war man sich also von Anfang an parteiübergreifend einig. Dennoch versuchte die Landesregierung, die Normierung solcher Staatsziele zu verhindern oder zumindest in ihrer Rechtswirkung abzuschwächen, und löste damit eine Grundsatzdebatte aus, die überwiegend im Unterausschuss geführt wurde. Nachdem klar war, dass es Staatszielbestimmungen in der Verfassung geben werde, ging es nur noch um ihre Stellung und ihr Verhältnis zu den Grundrechten im engeren Sinn. Obwohl fast alle Redner im Verfassungsausschuss betonten, dass Grund- und Bürgerrechte einerseits deutlich von den Staatszielen andererseits abgesetzt und getrennt werden müssten, wurden letztere im Ergebnis doch mit den Grundrechten verbunden, weil die Gliederung nach sozialen Lebensbereichen eine solche Kombination nahezu unausweichlich machte. So finden sich das Gleichstellungsgebot der Geschlechter im allgemeinen Gleichheitssatz; die Pflicht des Landes, mit dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk die Grundversorgung sicherzustellen, im Anschluss an die Rundfunkfreiheit; die Sorge für ausreichenden und angemessenen Wohnraum unweit des Grundrechts auf Unverletzlichkeit der Wohnung; die Förderung von Kindertagesstätten im Abschnitt über „Ehe und Familie“; die Aufgabe des Landes, ein ausreichendes und vielfältiges öffentliches Schulwesen zu gewährleisten sowie die Erwachsenenbildung und den Sport zu fördern, im Kapitel „Bildung und Kultur“; das Staatsziel, die natürlichen Lebensgrundlagen zu schützen, im Teil über „Natur und Umwelt“, der auch das Grundrecht auf Datenauskunft enthielt; und schließlich die Pflicht des Landes und der Kommunen, die Möglichkeit einer frei gewählten und dauerhaften Erwerbstätigkeit durch Maßnahmen der Wirtschafts- und

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Arbeitsförderung sowie der beruflichen Weiterbildung und Umschulung zu sichern, im Abschnitt über „Eigentum, Wirtschaft und Arbeit“. So hatte die Gliederung des Grundrechtsteils nach sozialen Lebensbereichen eine Zuordnung der Staatsziele zur Folge, die eigentlich niemand wollte. Erleichtert wurde die Zustimmung zu dieser Inkonsequenz dadurch, dass man sich auf gemeinsame Bestimmungen für alle Grundrechte und Staatsziele verständigte, in denen hinsichtlich ihrer Bindungswirkung zwischen beiden deutlich unterschieden wurde. Einerseits bestimmt Artikel 42 Abs. 1 im Anschluss an Artikel 1 Abs. 3 GG, dass die in der Verfassung niedergelegten Grundrechte die drei Gewalten Gesetzgebung, Vollziehung und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht binden. Andererseits begründet Artikel 43 für den Freistaat „die Pflicht, nach seinen Kräften und im Rahmen seiner Zuständigkeiten die Verwirklichung der in dieser Verfassung niedergelegten Staatsziele anzustreben und sein Handeln danach auszurichten“. Die Formulierung ging auf einen, in zahlreichen Sitzungen mehrfach wiederholten Vorschlag des stellvertretenden Ausschussvorsitzenden Frieder Lippmann (SPD) zurück, dem ich geraten hatte, sich an einer entsprechenden, ebenfalls von mir initiierten Vorschrift in der sächsischen Verfassung zu orientieren. Ich selbst war mir zunächst nicht ganz sicher, ob diese Vermischung von Grundrechten und Staatszielen als besonders geglückt betrachtet werden kann, zumal ich als Sachverständiger im Verfassungsausschuss von Sachsen-Anhalt noch für eine klare Trennung plädiert hatte. Inzwischen muss ich allerdings zugeben, dass ich im Nachhinein, vor allem durch meine spätere Tätigkeit als Verfassungsrichter in Sachsen, eines Besseren belehrt worden bin. Denn auf diese Weise gewinnt der gesamte Grundrechtsteil ein hohes Maß an politischer Dynamik und Flexibilität, die auch auf die klassischen Grundrechte „abfärben“ und den Gerichten zusätzlichen Interpretationsspielraum verschaffen. Mein Kollege Steinberg vervollständigte schließlich den Kompromiss mit der Empfehlung, die Staatsziele „hochzuzonen“ und in die aus dem CDU-Entwurf entnommene Überschrift des gesamten ersten Teils der Verfassung einzufügen, die seither lautet: „Grundrechte, Staatsziele und Ordnung des Gemeinschaftslebens“. Im Ergebnis hatten damit auch die Fraktionen, die bei den Staatszielen zunächst von weitergehenden Forderungen ausgegangen waren, einen kleinen Sieg errungen. VI. Verabschiedung im Landtag Über das weitere Schicksal des Verfassungsentwurfs, den der Verfassungsausschuss in 20 Sitzungen erarbeitet und am 20. März 1993 beschlossen hatte, ist schnell berichtet. Seine Beschlussempfehlung an den Landtag lautete jedoch nicht auf die Annahme, sondern auf Rücküberweisung an den Ausschuss „zwecks Durchführung von Anhörungen und um der Bevölkerung Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben“. So geschah es auch. Zwar stellten in der zweiten Lesung am 21. April 1993 die einzelnen Redner noch einmal die verschiedenen Konzepte und Ziele

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ihrer Fraktionen vor. Sämtliche Änderungsanträge wurden jedoch abgelehnt und der Entwurf – wie erbeten – gleichlautend an den Verfassungsausschuss mit der Maßgabe zurückverwiesen, auf der Grundlage des Entwurfs öffentliche Anhörungen durchzuführen. Nach gründlicher Vorbereitung in drei Sitzungen des Unterausschusses am 31. August sowie am 13. und 16. September 1993, wertete der Verfassungsausschuss in zwei weiteren Sitzungen am 16. und 17. September die zahlreichen Eingaben und Zuschriften aus der Öffentlichkeitsbeteiligung aus und nahm am Verfassungsentwurf in einigen wenigen Vorschriften noch teils redaktionelle, teils eher marginale inhaltliche Veränderungen vor. Der endgültige Verfassungstext wurde schließlich nach der dritten Lesung am 22. Oktober 1993 in namentlicher Abstimmung mit 66 Stimmen von Abgeordneten aus den Fraktionen der CDU, SPD und FDP gegen 12 Stimmen aus den Fraktionen der LL-PDS und von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN verabschiedet. Bei einer „Festsitzung“ des Landtages am 25. Oktober auf der geschichtsträchtigen Wartburg bei Eisenach wurde die dritte Lesung fortgesetzt und die Abstimmung noch einmal feierlich wiederholt, indem die Abgeordneten, die der Verfassung zustimmten, sich von ihren Sitzen erhoben – ein etwas seltsamer Vorgang, der durchaus mit dem Vergnügen der Thüringer an spektakulären Inszenierungen zu tun hat, die ich im Kleinformat auch aus meiner Familie kannte. Nach kurzer Pause wurde die Verfassung sodann im Burghof vom Landtagspräsidenten öffentlich ausgefertigt, d. h. unterzeichnet. Verkündet wurde sie im Gesetz- und Verordnungsblatt am 29. Oktober 1993 und trat einen Tag später vorläufig in Kraft. Die abschließende Bestätigung durch Volksentscheid am 16. Oktober 1994 war nur noch Formsache. Aus heutiger Sicht hat sich die Thüringer Verfassung hervorragend bewährt. Sie ist bisher nur viermal geändert worden, zuletzt am 11. Oktober 2004. Zwei Änderungen betrafen die Abgeordnetenentschädigung, eine den Wahltermin für die 5. Wahlperiode. Die einzig gravierende Neuerung hatte den Bürgerantrag und das Verfahren der Volksgesetzgebung zum Gegenstand, nachdem in den neunziger Jahren zwei Volksbegehren an den – auch schon im Verfassungsausschuss als zu hoch kritisierten – Unterschriftenquoren gescheitert waren. Beim Bürgerantrag nach Art. 68, der das Recht vermittelt, dem Landtag im Rahmen seiner Zuständigkeit bestimmte Gegenstände der politischen Willensbildung zu unterbreiten, wurde das Unterschriftenquorum von 6 v.H. der Stimmberechtigten auf 50 000 Unterschriften reduziert (was etwa 2,5 v.H. der Stimmberechtigten entspricht). Beim Volksbegehren, mit dem Gesetzentwürfe eingebracht werden können, wurde ein Zulassungsquorum von nur 5000 Unterschriften eingeführt und sein Zustandekommen an die Zustimmung von 8 v.H. der Wahlberechtigten in zwei Monaten (statt bisher 14 v.H. in vier Monaten) geknüpft. Das Zustimmungsquorum für Volksbegehren wurde bei einfachen Gesetzen von 33 auf 25 v.H., bei Verfassungsänderungen von 50 auf 40 v.H. der Stimmberechtigten abgesenkt. In der Folgezeit kam es daher immerhin zu vier Volksbegehren, von denen zwei vom Verfassungsgerichtshof für unzulässig erklärt wurden, zwei weitere aber insofern erfolgreich waren, als der Landtag sich die Anliegen zu eigen machte und selbst entsprechende Gesetze beschloss.

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Ich persönlich habe die Berufung zum Sachverständigen des Thüringer Verfassungsausschusses stets als besonderen Glücksfall im meinem Leben, ja geradezu als eine unverhoffte Gunst des Schicksals empfunden. Ich fühlte mich wieder zurückversetzt in meine alte Heimat, in das Land meiner Geburt und meiner frühen Kindheit, an dessen neuer Verfassung ich nunmehr mitarbeiten durfte. Auch wenn der Jubilar, dessen Vater ich das Zweitgutachten zu meiner Freiburger Dissertation verdanke, nicht in ähnlich enger Weise mit Thüringen verbunden war wie ich, mag er diese Zeit als ebenso produktiv, innovativ und prägend empfunden haben. Ich jedenfalls denke noch gern an unsere zweijährige Zusammenarbeit in Erfurt zurück und wünsche dem Jubilar zu seinem 70. Geburtstag viele weitere Gelegenheiten, bei denen er sein profundes Wissen und seine reichen Erfahrungen im In- und Ausland dem allgemeinen Wohl widmen kann.

Die Entwicklung der Sozialversicherungsgesetzgebung in Deutschland und die europäische Sozialunion Von Christian Starck, Göttingen I. Die Anfänge der Sozialversicherung nach der Reichsgründung Zu Beginn der Industrialisierung gab es in den deutschen Staaten ebenso wenig wie in den anderen Staaten umfassende Sozialversicherungen. Es existierten Fürsorge- und Versicherungseinrichtungen auf genossenschaftlicher, berufsständischer, kommunaler und kirchlicher Basis.1 Dabei handelte es sich nicht nur um Armenfürsorge, sondern bereits um Versorgungssysteme für ehemalige Berufstätige. Beamte und Soldaten erhielten Pension, mit der sie der Staat alimentierte. Zu erwähnen sind auch soziale Hilfseinrichtungen von Unternehmen für ihre Mitarbeiter, z. B. der Essener Firma Krupp oder der Stuttgarter Firma Bosch. Nach der Gründung des Deutschen Reiches im Jahre 1871 ging es im Rahmen der Rechtsvereinheitlichung, der so genannten „inneren Reichsgründung“2, auch um Sozialversicherung. Dabei kam es zur Kontroverse zwischen Wirtschaftsliberalen und Sozialreformern, zu denen auch die Sozialdemokraten gehörten. Mit dem Sozialistengesetz vom 21. Oktober 1878 versuchte Bismarck „die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ einzudämmen. Auf die Dauer siegte jedoch in Deutschland der Gedanke der Sozialreform. Zu Beginn der 1880er Jahre war eine Änderung der Reichspolitik zu beobachten, die in der Ersten Kaiserlichen Botschaft zur sozialen Frage vom 17. November 1881 zum Ausdruck kam. Dort heißt es:3 „Schon im Februar dieses Jahres haben Wir Unsere Überzeugung aussprechen lassen, dass die Heilung der sozialen Schäden nicht ausschließlich im Wege der Repression sozialdemokratischer Ausschreitungen, sondern gleichmäßig auf dem der positiven Förderung des Wohles der Arbeiter zu suchen sein werde.“ Der Kaiser hofft, „dereinst das Bewusstsein mitzunehmen, dem Vaterlande neue und dauernde Bürgschaften seines inneren Friedens und 1 Dazu und zum Folgenden vgl. Manfred G. Schmidt, Sozialpolitik in Deutschland, 2. Aufl. 1998, S. 23 f.; zu den europäischen Staaten vgl. Eberhard Eichenhofer, Geschichte des Sozialstaats in Europa, 2007, S. 37 ff. 2 Michael Stolleis, „Innere Reichsgründung“ durch Rechtsvereinheitlichung 1866 – 1880, in: Starck (Hrsg.), Rechtsvereinheitlichung durch Gesetze, Göttingen 1992, S. 15 ff. 3 Abgedruckt, in: Ernst Rudolf Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte Bd. II, 1964, S. 398.

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den Hilfsbedürftigen größere Sicherheit und Ergiebigkeit des Beistandes, auf den sie Anspruch haben, zu hinterlassen.“

Kurz darauf erklärte Bismarck im Reichstag:4 „Wir wollen dahin streben, dass es im Staate wo möglich niemanden oder doch so wenige wie möglich gebe, die sich sagen, wir sind nur dazu da, um die Lasten des Staates zu tragen, wir haben aber kein Gefühl davon, dass der Staat um unser Wohl und Wehe sich irgendwie bekümmert … Es gehört zu den Traditionen der Dynastie, der ich diene, sich des Schwachen im wirtschaftlichen Kampfe anzunehmen.“

Das ist in den Worten von Lorenz vom Stein „soziales Königtum“. Sozialpolitische Gesetze dienten ohne Zweifel aber auch der Sicherung vor sozialen Unruhen. Durch Sozialreform von oben sollte der neue Staat stabilisiert und vor revolutionären Bestrebungen geschützt werden. Hierbei war das Deutsche Reich, das in der Industrialisierung durchaus hinter den westlichen Staaten hinterherhinkte, sehr fortschrittlich. Deutschland war Pioniernation der Sozialpolitik in der Welt vor Dänemark, Belgien, Österreich, Großbritannien und Frankreich.5 Zur inneren Reichsgründung gehörten die verschiedenen Zweige der Sozialversicherung. Das war der Beginn der deutschen Sozialstaatlichkeit.6 II. Die Sozialversicherungsgesetze der 1880er Jahre Betrachtet man die verschiedenen Gesetze der Sozialversicherung, so sind in den 1880er Jahren drei große Sozialversicherungen zu unterscheiden: Krankenversicherung der Arbeiter, Unfallversicherung der Arbeiter und Rentenversicherung. Diese sind folgendermaßen einheitlich konstruiert: – Es sind Arbeitnehmerversicherungen, die zur Pflicht gemacht sind, das heißt öffentlich-rechtliche Zwangsversicherungen. – Es geht stets um nachträglichen Sozialschutz, nicht um Prävention. – Auf die Leistung besteht bei Vorliegen der gesetzlichen Tatbestandsmerkmale ein Rechtsanspruch. – Die Finanzierung erfolgt durch Beiträge der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber. Soweit eine Sozialversicherung verpflichtet wird, versicherungsfremde Leistungen zu erbringen, werden ihr diese vom Staat erstattet oder er zahlt einen pauschalen Zuschuss. Darüber hinaus gehende Staatszuschüsse waren umstritten zwi4

A.a.O., S. 399. Vgl. Gerhard A Ritter, Der Sozialstaat. Entstehung und Entwicklung im internationalen Vergleich, 2. Aufl. 1991, S. 62; Schmidt (Fußn. 1), S. 28 ff., Tabelle S. 180 mit Erläuterungen S. 181 ff. 6 Vgl. Ernst Rudolf Huber, Rechtsstaat und Sozialstaat in der modernen Industriegesellschaft, in: ders., Nationalstaat und Verfassungsstaat, 1965, S. 249, 254 ff.; Ritter (Fußn. 5), S. 69 ff. m.w.N. 5

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schen Liberalen und Interventionisten. In der Praxis wurden aber Staatszuschüsse gezahlt. – Die vom Staatshaushalt getrennten Versicherungssysteme mit ihren vom Staatshaushalt getrennten Sonderhaushalten sind jeweils gesetzlich geregelt und unterstehen einer demokratisch gewählten Selbstverwaltung. Am 15. Juni 1883 erging das Gesetz betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter.7 Dieses Gesetz bewirkte, dass fast alle Lohnabhängigen in einer der schon bestehenden oder neu errichteten Krankenkasse zwangsversichert wurden und Arzt-, Arznei- und Krankenhauskosten sowie 60 % des Lohnes für 13 Wochen, später für 26 Wochen als Krankengeld erhielten. Die Krankenversicherung wurde zu zwei Dritteln von den Arbeitnehmern und zu einem Drittel von den Arbeitgebern finanziert. Dem entsprach die prozentuale Zusammensetzung der Selbstverwaltungsgremien. Die gesetzlich normierte Zwangsmitgliedschaft führte zu einer starken Vermehrung der Versicherten, die sich zusammen mit den Familienangehörigen auf fast zwei Drittel der Bevölkerung belief. Öffentliche Krankenversicherungen wurden in Großbritannien 1911 eingeführt, Italien folgte 1919 und Frankreich 1930. Am 6. Juli 1884 wurde die Unfallversicherung eingeführt. Das Gesetz verdrängte die zivilrechtliche Haftung, die nicht mehr zu den Unfallgefahren in den Fabriken passte, und führte für betriebliche Unfälle eine Zwangsversicherung ein, die nach dem sozialen Prinzip der Gefährdungshaftung mit Risikostreuung funktionierte.8 Die Finanzierung der Unfallversicherung oblag den Arbeitgebern, die die Beiträge zu zahlen hatten. Die Verwaltung unter Einschluss von Rechtsprechung geschah durch Versicherungsämter, an der Spitze stand das Reichsversicherungsamt. Die Leistungen waren: Unfallrente ab der 14. Woche und medizinische Heilbehandlung. Öffentliche Unfallversicherungen wurden 1894 in den nordischen Staaten eingeführt, 1898 in Frankreich und Italien. Als drittes großes Versicherungsgesetz trat am 22. Juni 1889 das Gesetz betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung in Kraft, auf dessen Grundlage der Versicherte bei Invalidität eine Invaliden- und vom 70. Lebensjahr an eine Altersrente beanspruchen konnte.9 Der Invalide musste mindestens 5 Jahre, der 70-jährige mindestens 30 Jahre Beiträge gezahlt haben. Die Rente garantierte nicht den Lebensstandard, sondern war ein Sicherheitszuschuss zum Lebensunterhalt. Die Beiträge wurden je zur Hälfte von den Arbeitnehmern und den Arbeitgebern aufgebracht. Der Staat zahlte von Anfang an Zuschüsse zur Rentenversicherung, und zwar 50 Reichsmark für jede Rente. Da die meisten Arbeiter vor ihrem 70. Geburtstag starben, brauchten nicht viele Altersrenten bezahlt zu werden. Rente für die Witwe gab es noch nicht.

7

Vgl. Michael Stolleis, Geschichte des Sozialrechts in Deutschland, 2003, S. 76 ff. Stolleis (Fußn. 7) S. 81. 9 Stolleis (Fußn. 7) S. 84 f. 8

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III. Die Entwicklung der Sozialversicherungsgesetze 1. Vor dem Ersten Weltkrieg Nachdem die Sozialversicherung in den 1880er Jahren eingeführt worden war, wurde sie im Laufe der Zeit ausgebaut, d. h. der versicherte Personenkreis erweitert und der Schutz der Krankenversicherung verlängert sowie die Hinterbliebenen in die Unfallversicherung eingeschlossen. Bei Tod des Versicherten vor Erreichung des Rentenalters wurden die Beiträge erstattet, wodurch die Hinterbliebenen besser gestellt wurden. 1911 erging ein Versicherungsgesetz für Angestellte. Im selben Jahre wurden die verschiedenen Sozialversicherungen in der Reichsversicherungsordnung zusammengefasst, die 80 Jahre lang galt. Dieser Kodifikation lag eine wissenschaftliche Durcharbeitung zugrunde, die im Allgemeinen Teil und den sechs speziellen Büchern zum Ausdruck kam. Das Sozialversicherungsrecht wurde zu einem eigenständigen Rechts-, Forschungs- und Lehrgebiet, das den Staat als Sozialstaat auswies. 2. Weimarer Demokratie Nach dem Ersten Weltkrieg und der Revolution galt das Sozialversicherungsrecht unter der Weimarer Verfassung weiter und passte besonders gut in die sozialpolitischen Ziele der neuen demokratischen Verfassung (vgl. Art. 151 ff.).10 Die Krankenversicherung wurde auf die Familienangehörigen erweitert. Auch die Arbeitslosen hatten Ansprüche an die Krankenversicherung. Insgesamt gesehen wurde die Sozialversicherung in all ihren Zweigen eine Volksversicherung. Die Unfallversicherung wurde auf weitere Personenkreise erstreckt (z. B. auf Schauspieler und Krankenpfleger) und räumlich ausgedehnt auf den Weg von und zur Arbeitsstätte. Eine Rolle begann auch die Unfallprävention zu spielen. 1927 wurde die Arbeitslosenversicherung eingeführt durch das Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung vom 16. Juli 1927. Hier war Großbritannien 1911 vorangegangen. Diese neue Versicherung umfasste die Versicherten der einzelnen Versicherungszweige. Finanziert wurde die Arbeitslosenversicherung je zur Hälfte von Arbeitnehmern und Arbeitgebern. Arbeitslosenunterstützung wurde ein halbes Jahr gezahlt. Danach gab es Krisenfürsorge oder allgemeine Fürsorge. Kaum eingeführt, erwies sich die Arbeitslosenversicherung als extrem defizitär wegen des enormen Anstiegs der Arbeitslosigkeit zu Beginn der 1930er Jahre. Im Jahre 1932 waren 6,2 Mio. Menschen arbeitslos. Über dem politischen Streit der Sanierung der Arbeitslosenversicherung zerbrach die Große Koalition zwischen Deutscher Volkspartei, Deutscher Demokratischer Partei, Zentrum und SPD, weil diese ihren Kanzler, Hermann Müller, im Stich ließ und den Kompromiss, den die anderen Parteien gefunden hatten, ablehnte. Das war der Anfang vom Ende der Weimarer De-

10

Werner Abelshauser (Hrsg.), Die Weimarer Republik als Wohlfahrtsstaat, 1987.

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mokratie, begleitet vom Wachstum der Nationalsozialistischen Arbeiterpartei und der Kommunistischen Partei. 3. Nationalsozialistische Diktatur Während der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur blieb das dargestellte Versicherungssystem im Wesentlichen intakt.11 Allerdings fanden typische nationalsozialistische Eingriffe statt: Die Selbstverwaltung musste dem Führerprinzip weichen. Kassenzulassungen von jüdischen, sozialistischen und „staatsfeindlichen“ Ärzten wurden entzogen. Aber es gab auch Fortschritte: Allgemein gesagt wurde der Versichertenkreis erweitert, neue Leistungen wurden eingeführt und traditionelle Leistungen erhöht. In der Unfallversicherung wurde die Liste der Berufskrankheiten erweitert. Unfälle in Berufs- und Fachschulen wurden dem Versicherungsschutz unterstellt. Ein weiterer Fortschritt war der Übergang vom Betriebsunfall zum Arbeitsunfall. Dies bedeutete eine Anpassung an die personal geprägten Strukturen der übrigen Sozialversicherungen.12 Die Rentenversicherungen mussten finanziell stabilisiert werden, was unter anderem dadurch gelang, dass die Rentenversicherungen für alle Deutschen unter 40 Jahre geöffnet wurden. Die Handwerker wurden in der Angestelltenversicherung pflichtversichert, soweit sie nicht anderweitig versichert waren. Administrativ wurde in den Versicherungssystemen vieles vereinfacht. IV. Bundesrepublik Deutschland 1. Wiederaufbau und Kontinuität Die Zeit unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg ist für die Entwicklung des deutschen Sozialversicherungsrechts untypisch. Es bestand große Not. Die Sozialversicherungssysteme waren zahlungsunfähig, weil das untergegangene Regime die Rücklagen, d. h. den Kapitalstock, für den Krieg verwendet hat. Viele Rentner litten Not. Hinzu kamen die Kriegshinterbliebenen, die Witwen und Waisen. Nach der Währungsreform im Sommer 1948, dem Inkrafttreten des Grundgesetzes mit der Sozialstaatsgarantie im Jahre 1949 und dem wirtschaftlichen Aufschwung in den frühen 1950er Jahren wurden die Sozialversicherungssysteme Kontinuität wahrend wieder aufgebaut.13 Dies wurde dadurch erleichtert, dass die Fachleute der Sozialversicherung aus der Weimarer Zeit nach der zwölfjährigen nationalsozialistischen Diktatur weiter aktiv waren. Es gab Reformvorschläge, über die diskutiert wurde, vor allem die Einheitsversicherung nach russischem Muster. Solche Vorschläge setzten sich aber nicht durch. 11

Volker Hentschel, Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1880 – 1980, 1983, S. 136 ff.; Schmidt (Fußn. 1), S. 63 ff. 12 Stolleis (Fußn. 7), S. 200. 13 Zum institutionellen Wiederaufbau der Sozialversicherung siehe Stolleis (Fußn. 7), S. 268 ff.

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Die weitere Darstellung könnte nach den einzelnen Epochen der letzten 60 Jahre vorgehen und die einzelnen Änderungen verzeichnen. Da im I. Teil die einzelnen Versicherungssysteme dargestellt worden sind, bietet es sich an, hier genauso vorzugehen. Ich beginne aber mit der Alters- und Invalidenrente (2), behandele dann die weitere Entwicklung der Krankenversicherung (3) und die Unfallversicherung (4). Es folgt die Arbeitslosenversicherung (5). Am Schluss steht die 1994 eingerichtete Pflegeversicherung (6). Die Wiedervereinigung im Jahre 1990 hat nicht zu einer Änderung der Systeme der Sozialversicherung, sondern nur zu einer extremen finanziellen Belastung geführt, auf die ich hier nicht besonders eingehen kann. 2. Alters- und Invalidenrenten Nach der Währungsreform von 1948 wurde ein „Gesetz über die Anpassung von Leistungen der Sozialversicherung an das veränderte Lohn- und Preisgefüge und ihre finanzielle Sicherstellung“ erlassen.14 Das Gesetz erhöhte die Beiträge und die Renten, führte die Witwenrente ein. Immer noch blieben aber die Renten hinter der Lohnentwicklung zurück. Spätere Angleichungen führten zu einer Dynamisierung der Rente. Dafür wurden Staatszuschüsse benötigt, die in Art. 120 Abs. 1 Grundgesetz vorgesehen waren. Der bis heute (jetzt Art. 120 Abs. 1 Satz 4) geltende Passus lautet: „Der Bund trägt … die Zuschüsse zu den Lasten der Sozialversicherung mit Einschluss der Arbeitslosenversicherung und der Arbeitslosenhilfe.“ In den 1950er Jahren wurde das Rentensystem vor dem Hintergrund des Zusammenbruchs 1945 gründlich diskutiert. Es wurde erkannt, dass man nicht mit einem dauerhaft stabilen Geldwert rechnen kann, also die Bildung eines Kapitalstocks aus Beiträgen, aus dem später die Rente gezahlt wird, nicht in Frage kam. Die Lösung war auf Betreiben des Bundeskanzlers Adenauer der sog. Generationenvertrag. Danach wurden die Renten aus den Beiträgen der heute arbeitenden Generation bezahlt. Außerdem wurde die Rente nicht mehr als Hilfe zum Lebensunterhalt, sondern als Lohnersatz konzipiert und damit an das Lohnniveau gekoppelt.15 Obwohl Versicherungen, Volkswirte und Arbeitgeber vor diesem Weg warnten, setzte Adenauer sich mit dem Rentenreformgesetz von 1957 durch. Die Beiträge und die Renten richteten sich nach dem Arbeitsverdienst, und zwar ging man für die Berechnung der Rente vom Lohn aus, den der Versicherte bei Eintritt des Versorgungsfalls gehabt hätte, wenn er den Durchschnitt seines Einkommens in seinem ganzen Arbeitsleben, angehoben auf das Lohnniveau zur Zeit des Versicherungsfalls, verdient hätte. Abgestellt wurde zudem auf die Dauer der Versicherung. Damit setzte sich das Leistungsprinzip als Grundlage für die Höhe der Rente durch. Allerdings gab es eine Beitragsbemessungsgrenze, die zugleich die spätere Rente begrenzte.

14

Vom 17. 7. 1949 (WiGBl. 1949, S. 99). Vgl. dazu die Grundgedanken von Wilfried Schreiber, Existenzsicherung in der industriellen Gesellschaft, 1955. 15

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Die Rentenreform von 1957 hat die Rentner teilhaben lassen am „Wirtschaftswunder“ und Adenauer und der CDU bei der Wahl 1957 die absolute Mehrheit der Stimmen gebracht. Langfristig war die Dynamisierung der Rente, die sich aus dem Generationenvertrag gewissermaßen automatisch ergab, eine wichtige Grundbedingung für die Integration der Gesellschaft. Mit der Rentenreform von 1957 ist eine dauerhafte Lösung gelungen, fern von einer liberalen marktorientierten Sicherung einerseits und andererseits einer allgemeinen Volksversicherung. Später wurden Randänderungen vorgenommen, die hier nicht interessieren. Wichtig war die Erweiterung des Kreises der Versicherten. Im Laufe der Zeit kamen zu den Industriearbeitern die Arbeiter in der Landwirtschaft, die Handwerker und die Angestellten, die Angehörigen der freien Berufe und die Selbständigen, zum Schluss noch die Künstler und Publizisten. Die berufsständischen Versicherungen blieben selbständig. Soweit es an Arbeitgebern fehlte, wurde bei den Künstlern die Künstlersozialabgabe eingeführt und durch einen Bundeszuschuss verstärkt. Die seit den 1980er Jahren auftretenden Probleme der Rentenversicherung folgen aus der demographischen Veränderung. Es treffen zwei Veränderungen zusammen. Es werden weniger Kinder geboren und die Menschen werden immer älter. Auf Grund des so genannten Generationenvertrages müssen immer weniger Berufstätige für immer mehr Rentner aufkommen. Hinzu kamen hohe Arbeitslosigkeit und Frühverrentungen, die relativ leicht zu erreichen waren. Gesetzliche Änderungen des Jahres 1972 wirkten darüber hinaus belastend: Flexible Altersgrenze, Verbesserung der Rente für Geringverdiener, Anrechnung von Kindererziehungszeiten, Gleichstellung von Witwern und Witwen. Gelöst wurde das Finanzierungsproblem durch Beitragserhöhung und Erhöhung der Bundeszuschüsse. Auf die Dauer wird man die Bundeszuschüsse wohl erhöhen müssen, um soziale Unruhen bei den Beitragszahlern zu vermeiden. Das könnte auf eine Grundrente hinauslaufen, die aus Steuereinnahmen finanziert wird, und eine ergänzende Leistungsrente, die sich nach den Beiträgen zur Rentenversicherung richtet, die nach dem Arbeitslohn bemessen werden. Der heutige Beitragssatz zur gesetzlichen Rentenversicherung beträgt ab 1. 1. 2011 19,9 % des Bruttolohnes des Arbeitnehmers. Davon trägt der Arbeitgeber die Hälfte, also 9,95 %. Die gesetzliche Rentenversicherung hat im Jahre 2009 Beiträge in Höhe von 181,6 Mrd. E eingenommen und Bundeszuschüsse in Höhe von 63,3 Mrd. E erhalten und diesen Gesamtbetrag von 246 Mrd. E verausgabt. 3. Krankenversicherung Auch die Anfänge der Krankenversicherung nach 1945 waren schwer. Als Hauptstrukturproblem erwies sich das komplizierte Interessengeflecht von Beitragszahlern (Arbeitnehmer und Arbeitgeber), Patienten, Kassenärzten, Apothekern, Krankenhäusern und ihren Trägern sowie den Krankenkassen. Nachdem das Bundesverfassungsgericht 1960 die Zulassungsbeschränkung der Kassenärzte als Verstoß gegen

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das Grundrecht der Berufsfreiheit für nichtig erklärt hatte16, führte das zu einem vermehrten Zugang von Studenten in den medizinischen Fakultäten, die Zulassungsbeschränkungen verhängten. Die Erhöhung der Zahl der Ärzte und Apotheker führte zu Kostensteigerungen, die die Krankenkassen bewältigen mussten. Kosten steigernd wirkten auch die Erweiterung des Kreises der Versicherten und die Verbesserung der Leistungen, was hier im Einzelnen nicht dargestellt werden kann.17 Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts sollten Kranke so früh wie möglich und so umfassend wie nötig erhalten, was sie brauchen. Rechtsfortbildung durch Begriffsausdehnungen hat die Kosten der Krankenversicherung erhöht.18 Zahlreiche Kostendämpfungsgesetze haben Einhalt versucht, aber nicht erreicht. Immer wieder werden neue Diagnose- und Heilmethoden entwickelt, die extrem teuer sind und großzügig in Anspruch genommen werden. Der Medikamentenverbrauch in Deutschland ist einer der höchsten der Welt. Derzeit belaufen sich die Beiträge für die Krankenversicherung auf 14,6 % des Bruttolohnes, wovon der Arbeitgeber die Hälfte trägt. Zu den 7,3 %, die der Arbeitnehmer zu tragen hat, kommen 0,9 % dazu, also 8,2 % seines Bruttolohnes. Diese kommen zu den 9,95 % für die Rentenversicherung dazu: Das sind 18,15 % des Bruttolohnes. Die gesetzliche Krankenversicherung hat im Jahre 2009 172,2 Mrd. E an Beiträgen eingenommen. 4. Unfallversicherung Auch bei der gewerblichen Unfallversicherung blieben die alten Strukturen erhalten. Die Flüchtlinge und Vertriebenen mussten in die Unfallversicherung eingegliedert werden, die Liste der Berufskrankheiten wurde erweitert. Die Leistungen wurden verbessert und dynamisiert. Neu einbezogen in die Unfallversicherung wurden ehrenamtlich Tätige, Entwicklungshelfer, Schüler, Studenten, Kinder in Kindergärten. Von allen Versicherungszweigen ist die seit 1884 bestehende Unfallversicherung derjenige, der bis heute am wenigsten politische Probleme verursacht hat und dessen Finanzen am solidesten geordnet sind.19 Die Finanzierung der Unfallversicherung obliegt allein der Arbeitgeberseite und da, wo es keinen Arbeitgeber gibt, dem Staat.

16

BVerfGE 11, 30, 39 ff. im Anschluss an das Apothekenurteil BVerfGE 7, 377, 397 ff. Siehe zusammenfassend Stolleis (Fußn. 7), S. 289 – 294. 18 Dazu Walter Ecker, Sozialgerichtliche Rechtsfortbildung, in: Entwicklung des Sozialrechts. Aufgaben der Rechtsprechung, 1984, S. 299 ff.; dazu kritisch Christian Starck, Die Bindung des Richters an Gesetz und Verfassung, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer, Bd. 34 (1976), S. 43, 83 ff. = Starck, Der demokratische Verfassungsstaat, 1995, S. 58, 93 ff.; Beispiele aus der Rechtsprechung BSGE 35, 10; 35, 105; 39, 167. 19 So Stolleis (Fußn. 7), S. 299 unter Berufung auf W. Gitter, Unfallversicherung, in: B.v. Maydell/F. Ruland (Hrsg.), Sozialrechtshandbuch, 2. Aufl. 1996, S. 821 ff. 17

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5. Arbeitslosenversicherung Im Jahre 1952 wurde die Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung gegründet. Das Gesetz von 1927 über die Arbeitslosenversicherung galt weiter. Mit dem Aufschwung der Wirtschaft wuchsen die Zahlungen an die einzelnen Arbeitslosen, deren Zahl sich zunächst kontinuierlich verminderte. Die Beiträge wurden stufenweise reduziert. Erst 1967 kam es zu einer Störung des Marktes und einer Vermehrung der Arbeitslosigkeit. Das 1969 beschlossene Arbeitsförderungsgesetz versuchte das Problem der Arbeitslosigkeit durch bessere Ausbildung zu bewältigen und war adressiert an die Arbeitssuchenden und die Arbeitgeber. Auf die zweite Rezessionsphase reagierte der Gesetzgeber erneut. Die Arbeitslosigkeit ist ein Strukturproblem Deutschlands geworden. Die hohen Löhne und Lohnnebenkosten (=Anteile der Arbeitgeber an den Versicherungsbeiträgen) führen zur Verlagerung von Produktionen in Länder, wo die Löhne niedriger sind. Die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung betragen derzeit 3 % des Bruttolohns, wovon der Arbeitgeber die Hälfte zahlt. 6. Pflegeversicherung Die Zahl der alten Menschen, die nicht eigentlich krank, aber pflegebedürftig sind, nimmt zu. Pflegebedürftige wurden früher regelmäßig in den Familien betreut, das gilt auch heute noch. Viele Pflegebedürftige leben heute aber in Heimen. Wenn der Pflegebedürftige die Kosten nicht selber übernehmen konnte, trat die öffentliche Fürsorge (Sozialhilfe) dafür ein. Auf die Dauer war die Sozialhilfe überfordert. In die Krankenversicherung passten die Pflegefälle nicht, weil Pflegebedürftige nicht krank sind. 1994 ist die Volksversicherung für den Pflegefall geschaffen worden, und zwar in Anlehnung an die Krankenversicherung, in der ca. 92 % der Bevölkerung versichert ist. Für den Rest der Bevölkerung gibt es private Pflegeversicherungen. Die Leistungen der Pflegeversicherung bestehen je nach Pflegestufe in häuslicher Pflege, Sachleistungen, Pflegegeld, stationäre Pflege. Die Pflegeversicherung erhebt 1,95 % des Bruttolohns, wovon die Hälfte der Arbeitgeber bezahlt. Arbeitnehmer ohne eigene Kinder zahlen zusätzlich 0,25 %. Da die Pflegeversicherung defizitär ist und es immer mehr wird, wird überlegt, ob die Pflege aus den allgemeinen Steuereinnahmen finanziert wird. In den nächsten Jahren steht eine Entscheidung an. 7. Individuelle Belastung und Gesamtaufkommen – Es ist zu unterscheiden zwischen Sozialleistungen, die aus dem Staatshaushalt finanziert werden (diese waren nicht Gegenstand der Ausführungen) und Leistungen aus den verschiedenen Sozialversicherungssystemen. Soweit zu einzelnen Sozialversicherungen Staatszuschüsse gezahlt werden, ändert das nicht ihren Charakter als Versicherungsleistung, die auf Beiträgen beruhen und in Sonderhaushalten verwaltet werden.

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– Die hier erörterten Sozialversicherungen belasten seit 1. 1. 2011 den Arbeitnehmer mit zusammen 20,65 % des Bruttoarbeitslohns und den Arbeitgeber mit 19,73 % des Gesamtarbeitslohnes seiner Mitarbeiter. Hinzu kommen noch die Beiträge zur Unfallversicherung, die allein der Arbeitgeber trägt. – Das Aufkommen der gesetzlichen Rentenversicherung betrug 2009 246 Mrd. E. Davon sind 181,6 Mrd. E Beiträge und 63,4 Mrd. E Bundeszuschüsse. Die Beträge sind vollständig ausgegeben worden. Das Aufkommen der gesetzlichen Krankenversicherung betrug im Jahre 2009 172,2 Mrd. E. Die Ausgaben liegen 2 Mrd. E niedriger. Zum Vergleich: Der Bundeshaushalt 2010 umfasste Ausgaben von 327,7 Mrd. E bei einer Neuverschuldung von 86 Mrd. E. Die Hälfte ist Sozialhaushalt, also 160 Mrd. E. Rechnet man die Renten- und Krankenversicherung ohne Bundeszuschüsse dazu, kommt man auf ca. 500 Mrd. E Sozialausgaben jährlich, die durch Steuern und Sozialversicherungsbeiträge aufgebracht werden. – Die einzelnen Zweige der Sozialversicherung sind inzwischen alle im sog. Sozialgesetzbuch geregelt. Dieses ist eine Zusammenfassung aus mehreren Gesetzen, zur Zeit 12 Bücher. Die einzelnen Bücher des Sozialgesetzbuches (SGB) enthalten Versicherungsrecht, Fürsorgerecht, Verfahrensrecht und einen allgemeinen Teil. Die hier behandelten Versicherungen sind wie folgt ins Sozialgesetzbuch eingeordnet: Gesetzliche Rentenversicherung (SGB VI), Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V), Unfallversicherung (SGB VII), Arbeitslosenversicherung (SGB III) und Pflegeversicherung (SGB XI).

V. Europarat und Europäische Union20 1. Europäische Sozialcharta Die Europäische Sozialcharta vom 18. Oktober 196121 enthält in Art. 12 Verpflichtungen der Vertragsstaaten, Systeme sozialer Sicherheit einzuführen, auf einem befriedigenden Stand zu halten und fortlaufend zu verbessern. Neben dieser nach innen weisenden Verpflichtung sollen zwischenstaatliche Vereinbarungen geschlossen werden, die die Gleichbehandlung der Staatsangehörigen anderer Vertragsstaaten mit ihren eigenen Staatsangehörigen gewährleisten hinsichtlich der Leistungsansprüche aus den Systemen der sozialen Sicherheit. So sollen die Ansprüche auf Alters- und Hinterbliebenenrente errechnet werden z. B. durch Zusammenrechnen von Versicherungs- und Beschäftigungszeiten, die nach den Rechtsvorschriften jeder der Vertragsparteien, in denen Arbeit geleistet worden ist, zurückgelegt wurden.

20 Christian Starck, Soziale Rechte in Verträgen, Verfassungen und Gesetzen, in: Gedächtnisschrift für Tettinger, 2007, S. 761 f., 772 ff. 21 BGBl. II, S. 1262.

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2. Unionsrecht Was die Sozialcharta des Europarats anregt, ist durch die Gemeinschaftsverträge (jetzt Art. 48 AEUV, Art. 34 ChGrEU) verbürgt und in Verordnungen näher ausgeführt.22 Dabei geht es nicht um die Harmonisierung oder Vereinheitlichung des Sozialversicherungsrechts, sondern um Koordinierung der Anwendung der in den Mitgliedstaaten verschiedenen sozialversicherungsrechtlichen Regelungen als zwingende Folge der Freizügigkeit der Arbeitnehmer (Art. 45 ff. AEUV), der Dienstleistungsfreiheit (Art. 56 ff. AEUV) und der Niederlassungsfreiheit (Art. 49 ff. AEUV). Der Ausgangspunkt ist klar. Der Zugang zu den Systemen sozialer Sicherheit ist nicht von der nationalen, sondern von der sozialen Zugehörigkeit des Individuums abhängig,23 die sich nach dem Wohnsitz richtet. Im Einzelnen bestehen Probleme, weil die soziale Sicherheit in den Mitgliedstaaten verschieden geregelt ist. Neben den reinen Versicherungssystemen gibt es egalitäre Volksversicherungen,24 die allein aus dem Staatshaushalt, also aus Steuern finanziert werden, aber auch Mischsysteme. Wer in diesen Ländern als Ausländer arbeitet, zahlt Steuern. Wer in Ländern mit Sozialversicherungssystemen arbeitet, der zahlt außer Steuern auch Beiträge zur Sozialversicherung Daraus ergeben sich die einzelnen Regelungen, die sich in den zitierten Verordnungen finden:25 Bei Krankheit eines Arbeitnehmers und seiner Familienangehörigen aus einem anderen Mitgliedstaat richten sich die Leistungsvoraussetzungen nach den Bestimmungen des Wohnsitzstaates. Die Leistungen sind vom dortigen Sozial (versicherungs)träger zu erbringen. Entsprechendes gilt im Prinzip für Arbeitsunfälle und je nach der konkreten Konstellation für Berufskrankheiten. Für Alters- und Hinterbliebenenrenten wird die insgesamt zu zahlende Rente verteilt auf die beteiligten Sozial(versicherungs)träger nach dem Verhältnis der in ihrem Zuständigkeitsbereich zurückgelegten Zeiten. Zu allen hier dargestellten Regelungen gibt es Ausnahmen und Besonderheiten, die zum Verständnis des Regelungsprinzips nicht erforderlich sind. Leistungen für Krankheit und Unfall erbringt der Sozial(versicherungs) träger, in dessen Zuständigkeitsbereich das Ereignis eintritt. Alters- und Hinterbliebenrenten beziehen sich auf den gesamten Zeitraum des Arbeitslebens und werden auf die verschiedenen Sozial(versicherungs)träger pro rata temporis verteilt. Die Systeme der sozialen Sicherheit in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union unterscheiden sich vor allem in der Art ihrer Finanzierung so stark, dass eine Rechtsangleichung nach Maßgabe der Art. 114 ff. AEUV nicht in Betracht zu ziehen ist. Zur Sicherung der Freizügigkeiten dient die möglicherweise noch ausbaufähige Koordinierung der Leistungsansprüche aus den verschiedenen Systemen, wenn der Berufstätige von einem System ins andere wechselt. 22

VO EWG 1408/71, ABl. EG Nr. I 149 v. 5. 7. 1971; VO EG 873/2004. Eichenhofer (Fußn. 1), S. 98. 24 Eichenhofer (Fußn. 1), S. 120. 25 Siehe Fußn. 22.

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Das Volk und Gegenstände und Formen direkter Demokratie Von Rudolf Steinberg, Frankfurt Seit Stuttgart 21 hat das Thema der Stärkung direktdemokratischer Elemente in der Verfassung wieder Konjunktur. So werden Volksentscheide auch auf Bundesebene von einem Richter des Bundesverfassungsgerichts gar als Rezept gepriesen, um der großen Frustration über das politische System zu begegnen und Platz für die in der deutschen obrigkeitsstaatlichen Tradition als Störung empfundenen Selbstbestimmung des Volkes zu schaffen.1 Im Folgenden geht es weniger um ein weiteres Plädoyer pro oder contra derartiger Entscheidungsformen. Stattdessen soll die Analyse verschiedener Aspekte helfen, die Konsequenzen direktdemokratischer Entscheidungen bewusster einzuschätzen. So wird zunächst das Phänomen in den Blick genommen, das als „das Volk“ umschrieben wird (I.), bevor dann die unterschiedlichen Entscheidungen dargestellt werden, die Gegenstand von Volksentscheiden sein können (II.). Die Ergebnisse der Untersuchung werden abschließend zusammengefasst und bilanzierend Leistungen und Risiken bestimmter Formen direkter Demokratie gewürdigt. (III.). I. Das Volk 1. „Das Volk“ als Fiktion „Das Volk“ existiert als handlungsfähige Einheit nur als Fiktion. Dass dies die Staatsrechtslehre nicht in den Blick nimmt, lässt sich auf zwei Ursachen zurückführen: Bestimmend ist zum einen die Auffassung der rechtspositivistischen Staatslehre, die die realistischen und empirischen Lehren ausdrücklich ablehnt und das Volk ausschließlich zu einem juristischen Konstrukt als Staatsvolk erklärt.2 Die andere Ansicht – vertreten von C. Schmitt – behauptet im Anschluss an Rousseau „die Homogenität und Identität des Volkes mit sich selbst“.3 Jede Demokratie beruhe auf der vorausgesetzten, unmittelbaren Homogenität, die die Grundlage der Identität der Herrscher und Beherrschten sei. Daraus ergibt sich die Qualität der Entscheidungen des so verstandenen Volkes: Schmitt zitiert Rousseau beifällig: „Was das Volk will, 1

So Huber, Selbstbestimmung wird als Störung empfunden, FAZ v. 20. 12. 2011, S. 4; ähnlich die Empfehlungen des Schweizerischen Nationalrats Gross, Heilung durch direkte Demokratie, FAZ v. 2. 12. 2010, S. 8. 2 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., Neudruck 1960, S. 144, 158 ff. 3 Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 229.

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ist eben deshalb gut, weil es will …“.4 Das in sich homogene Volk stellt so eine Garantie der Gerechtigkeit und Vernünftigkeit des von ihm geäußerten Willens dar.5 „Die Stimme des Volkes [ist] in der Tat die Stimme Gottes“, bemerkt Rousseau.6 Das ungerührte Festhalten an dieser Homogenitätsthese wirkt umso erstaunlicher, als schon ihr Ahnherr Rousseau ebenso wie dessen Adept C. Schmitt einräumen, dass diese Homogenität und Identität in der Praxis unmöglich sei. Damit wird auch die Möglichkeit der Existenz „echter Demokratie“ ausgeschlossen. Doch anstatt nach dieser Erkenntnis über die Möglichkeiten von Demokratie unter den Bedingungen eines pluralistischen Volkes nachzudenken, wird an einem mythischen Volksbegriff festgehalten und gefordert, die fehlende Homogenität durch entsprechende Maßnahmen herzustellen. Dabei erscheint es offensichtlich, dass „das“ Volk als identitäres, homogenes Phänomen nicht existiert. Das Volk besteht vielmehr aus einer Vielzahl von Gruppierungen regionaler, ethnischer, ökonomischer, politischer, religiöser bzw. weltanschaulicher sowie vielfach sozial differenzierter (Geschlecht, Alter, Bildung, Interessen) Gruppierungen, die durch das einigende Band der Geschichte, der Kultur und auch der Verfassung zu einer stets aufgegebenen Einheit zusammengefügt sind. Schon Aristoteles unterschied die verschiedenen Gruppierungen des Volkes, das in der überschaubaren Athenischen Polis vergleichsweise homogen war.7 Das Volk der Demokratie erweist sich somit nicht nur in Athen angesichts seiner vielfältigen Differenziertheit „als politische Chimäre“.8 Das heißt aber auch, dass unreflektiert verwandte Begriffe wie „Wille des Volkes“ oder „wahrer Wille des Volkes“ bloße Fiktionen sind.9 Stattdessen ist die realphysische Gestalt der „das Volk“ ausmachenden Einzelnen stärker in den Blick zu nehmen. Denn müsste nicht derjenige bekannt sein, dem die maßgebliche Entscheidung politischer Fragen neben oder anstelle repräsentativer Institutionen angesonnen wird? 2. Schichtenabhängigkeit der Beteiligung „des Volkes“ Das Ausmaß politischer Beteiligung ist in der Gesellschaft keinesfalls gleichmäßig verteilt, sondern hängt von einer Reihe von Faktoren ab. Eine höhere Partizipation ist – wie immer wieder empirisch nachgewiesen wird10 – positiv korreliert u. a. 4

Schmitt (Fußn. 3),. S. 229. Ebenso Schmitt, Legalität und Legitimität, jetzt in: Verfassungsrechtliche Aufsätze, 1958, S. 281. 5 Schmitt (Fußn. 4), S. 281. 6 Rousseau, Politische Ökonomie, hrsg. v. Schneider/Schneider-Pachaly, 1977, S. 35. 7 Aristoteles, Politik, hrsg. v. Gigon, 10. Aufl., München 2006, S. 143. 8 So Balke, Figuren der Souveränität, München 2009, S. 136. 9 So Weber, zit. bei Mommsen, Max Weber. Gesellschaft, Politik und Geschichte, Frankfurt am Main 1974, S. 46. 10 Das betont etwa der Bericht der Enquete-Kommission Bürgerschaftliches Engagement 2002, BT-Drs. 14, 8900, S. 48; Ähnliches zeigt die 16. Shell-Jugendstudie, Jugend 2010,

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mit Einkommen und Bildung, beruflicher Position, Alter, Verwurzelung in der örtlichen Gemeinschaft, Familienstand und Zugehörigkeit zu einer Assoziation.11 Insbesondere letzteres, die Zugehörigkeit zu gesellschaftlichen Vereinigungen, stellen offensichtlich einen ganz bedeutsamen Mechanismus auch zur politischen Integration der Bürger dar.12 Voraussetzungen für eine politische Beteiligung sind Informationen und politisches Interesse. Beides ist schichtenabhängig. So haben Angehörige der Mittelund insbesondere der Oberschicht weitaus mehr den Eindruck, dass sie Informationen besser verstehen und behalten, wenn sie sie gelesen haben.13 Behalten kann man aber nur, was man gelesen oder sonstwie gehört oder gesehen hat. Und so unterscheidet sich ebenso die Informationsaufnahme, etwa die Lektüre von Büchern, der Besuch von Buchhandlungen oder die Nutzung politischer Angebote auch im Internet. Und dies widerspiegelnd, ist insbesondere auch bei den Jüngeren das Interesse an Politik, Wirtschaft und kulturellen Themen steil abgesunken.14 Je schwächer diese für die Partizipation positiven Faktoren ausfallen, umso mehr steigt das Maß an Apathie und sinkt auch die Beteiligung an Volksabstimmungen. So zeigt sich bei dem Hamburger Volksentscheid „Wir wollen lernen“ im Sommer 2010 eine deutliche negative Korrelation zwischen dem Anteil an Sozialleistungsempfängern und der Wahlbeteiligung. Das bedeutet, dass in den Bezirken mit vielen sozial Schwachen, deren Interessen das neue Hamburger Schulgesetz vor allem dienen sollte, nur sehr wenige am Volksentscheid teilgenommen haben. Und umgekehrt: In Bezirken mit auffallend wenig Armen lag die Wahlbeteiligung bei über 60 Prozent. Dasselbe Bild war bei der Volksabstimmung über Stuttgart 21 im November 2011: In Freiburg lag die Wahlbeteiligung im Problemviertel Weingarten bei 25,6 %, im Vauban-Viertel – einem neuen Stadtteil mit nahezu ausschließlich „grünen“ Bewohnern – bei 65,7 %.15 Und diese stärkere Neigung und Nutzung von Formen bürgerschaftlicher Partizipation durch privilegierte Schichten findet sich auch auf anderen Arenen unmittelbaren demokratischen Engagements. So wird etwa auch beim Protest gegen Stuttgart 21 gefragt, ob es sich hierbei um einen Protest

S. 150 ff. Selbst in Sportvereinen – so berichtet eine allerdings wenig repräsentative Untersuchung – kommt die Mitgliedschaft überwiegend aus der Mittelschicht und der oberen Mittelschicht, vgl. Zimmer/Basic/Hallmann, Sport ist im Verein am schönsten? Analysen und Befunde zur Attraktivität des Sports für Ehrenamt und Mitgliedschaft, in: Zimmer/Rauschenbach (Hrsg.), Bürgerschaftliches Engagement unter Druck, 2011, S. 348. Ob das etwa auch für Fußballvereine gilt, wäre zu untersuchen. 11 s. Lipset, Political Man, Garden City (Anchor Books), 1963, S. 189. 12 Dazu Steinberg, PVS 14 (1973), S. 27 ff., 37 ff. 13 So die Untersuchung des Instituts für Demoskopie Allensbach, vgl. Köcher, FAZ v. 17. 8. 2011, S. 5. 14 Ebd. 15 FAZ v. 3. 12. 2011, S. 12.

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der Privilegierten handele.16 Dasselbe Bild findet sich in dem Musterland der direkten Demokratie, der Schweiz. Auch hier „singt der Chor der schweizerischen direkten Demokratie mit einem eindeutigen Mittel- und Oberschichtenakzent“. Die Erweiterung der Volksrechte führe „nicht notwendig zu grösserer Demokratiequalität, mit hoher Wahrscheinlichkeit aber zu mehr Mittelschichtsdemokratie.“17 Für andere Länder gilt nichts anderes.18 Demgegenüber wird bei Wahlen kein Effekt der Diskriminierung unterer sozialer Schichten beobachtet, bei ihnen handelt es sich offenbar um ein einfacheres Verfahren.19 3. Das begrenzte politische Engagement des Bürgers Die mehr oder weniger starke politische Beteiligung des Volkes ist Realität. Hierbei scheint in vielen Ländern die Politik- und Parteiverdrossenheit eine wichtige Rolle zu spielen. Dieser Begriff stellt jedoch ein Schlagwort dar, das die wahren Ursachen nicht erklärt, sondern eher verdunkelt. So ist die politische Apathie zum einen sicherlich Ausdruck der vom Bürger empfundenen Unübersichtlichkeit der sein Leben in diffuser Weise betreffenden und bedrohenden, aus der Globalen Welt herrührender Probleme und des sich daraus ergebenden Gefühls der Machtlosigkeit in politischen Angelegenheiten. Der „reduzierte Wirklichkeitssinn“ des Bürgers erklärt nicht nur – so Erich Fromm, der auch hier ausführlich Joseph A. Schumpeter zitiert – ein reduziertes Verantwortungsgefühl, sondern auch den Mangel an wirksamer Willensäußerung. Beides wiederum erklärt seinerseits den Mangel an Unwissenheit und Urteilsvermögen des gewöhnlichen Bürgers in Fragen der inneren und äußeren Politik, ungeachtet oder heute geradezu wegen der unübersehbaren und leicht zugänglichen Menge an Informationsmöglichkeiten.20 So lässt das eingeschränkte Verantwortungsbewusstsein des Einzelnen als Ergebnis weitgehend fehlender Entscheidungsmöglichkeiten und geringer Informiertheit den Rückzug aus der Politik durchaus als rationale, jedenfalls nachvollziehbare Strategie erscheinen. Eine geringere politische Beteiligung ist aber auch dadurch begründet, dass es Lebensumstände – z. B. Situationen beruflichen Scheiterns – gibt, in denen sich der Einzelne „nach innen wendet“.21 Möglicherweise spielen auch Konzepte wie Gesell16 So Kraushaar, Protest der Privilegierten? Oder: Was ist wirklich neu an den Demonstrationen gegen „Stuttgart 21“, Mittelweg 36, H. 3/2011, S. 4 ff. Zustimmend Leggewie, Mut statt Wut. Aufbruch in eine neue Demokratie, 2011, S. 30. 17 Linder, Schweizerische Demokratie, 2. Aufl., 2005, S. 289 f. 18 Ebd., S. 290, 347 ff. 19 So Linder (Fußn. 17), S. 290, 320 f., 350. Er weist ebd., S. 350 auf die paradoxe Situation hin, dass die linken Parteien, die für eine Ausweitung der Volksrechte einträten, damit die Interessen ihrer Klientel schwächten, während Umgekehrtes für die konservativen Parteien gelte. 20 Fromm, The Sane Society, New York 1990, S. 188 f. 21 So Sennet, Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, 1998, S. 177, 180 ff.

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schaft und Gemeinschaft im Leben eines Teils der Gesellschaft eine immer geringere Rolle.22 Schließlich mag die „Nachfrage“ nach Politik durch andere „Angebote“, z. B. des Infotainment, das die knappe Ressource Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt, verdrängt werden.23 Schließlich können Zeit und Energie durch andere, in der konkreten Lebenssituation als wichtiger empfundene Fragen beruflicher oder persönlicher Art erschöpft werden. Hierzu gehört sicherlich auch die Inanspruchnahme durch alle möglichen Formen des Konsums24 und der Freizeitgestaltung mit Sport, Spiel und Urlaub. Einem Jeden steht aber frei, wie er seine Prioritäten setzt. Die in der freiheitlich-demokratischen Grundordnung gewährleistete Freiheit der politischen Betätigung schließt nämlich auch die Freiheit ein, die bestehenden demokratischen Mitwirkungsrechte nicht in Anspruch zu nehmen. Dem Vordenker eines liberalen Staatswesens, Benjamin Constant, ist der Hinweis zu verdanken, dass gerade diese Freiheit die Grundlage des modernen freiheitlichen Gemeinwesens auszeichnet: „Die Fortschritte der Gesittung, der Handelsgeist unseres Zeitalters und der Verkehr zwischen den Völkern haben die Möglichkeiten persönlichen Lebensglücks unendlich vermehrt und vermannigfacht. Um die Menschen glücklich zu machen, genügt ihnen die völlige Unabhängigkeit in allem, was ihre Beschäftigungen, ihre Unternehmungen, ihren Tätigkeitsbereich, ihre Liebhabereien betrifft.25 Constant sieht hierin den deutlichen Unterschied zu dem politischen Leben der „Alten“ (sc. „den Völkern des Altertums“), die mehr Genuss in ihrem öffentlichen und weniger in ihrem privaten Leben fanden. Demgegenüber fänden sich die Freuden der Modernen fast alle innerhalb ihres privaten Daseins. „Die große Mehrheit, die stets von der Macht ausgeschlossen bleibt, bringt notwendig ihrem öffentlichen Leben nur vorübergehendes Interesse entgegen.“26 Das wird aber nicht etwa als Mangel gesehen. Denn gerade das aber mache die Freiheitlichkeit des modernen Gemeinwesens aus, dass der Mensch im Unterschied zur Antike, in der er im Staatsbürger aufgegangen sei und nur als solcher Rechte gehabt habe, einen durch die Grundrechtsnormen geschützten Rechtsraum gewonnen habe. Die eigentliche Freiheit des modernen Menschen bestehe deshalb in der Freiheit vom Staate, in der „jouissance paisible de l’indépendance individuelle“ und der „liberté civile“ und nicht in der „participation active au pouvoir collectiv“ oder der „liberté participation“, die im

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So der Anthropologe Miller, Der Trost der Dinge, 2010, S. 203. So Pelinka, Demokratieentwicklung in Österreich. Zur Ambivalenz politischer Apathie, Vortrag 22. 5. 2006, www.demokratiezentrum.org, S. 3. 24 So Fromm, To Have or to Be?, London/New York 1997, S. 161: „Today the empty life of consumption is that of the whole middle class, which economically and politically has no power and little personal responsibility.“ Er fügt allerdings hinzu, dass eine wachsende Zahl diese Situation als unbefriedigend empfände und entdeckte, dass das „Haben“ nicht zum Wohlbefinden führe. 25 Constant, Über die Gewalt. Vom Geist der Eroberung und von der Anmaßung der Macht (1814), hrsg. v. H. Zbinden, 2. Aufl., 1963, S. 83. 26 Ebd. 23

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Grunde die Freiheit des Gemeinwesens, des Kollektivs gewesen sei.27 Allerdings hat die Verwirklichung dieses negativen Rechts politischer Mitwirkung seinen Preis und gefährdet – übermäßig in Anspruch genommen – das Funktionieren und die Stabilität eines demokratischen Regierungssystems. Auch Constant sieht die Gefahr der modernen Freiheit, dass der Genuss der privaten Freiheit und die Verfolgung der partikularen Interessen dazu führe, dass „nous ne renoncions trop facilement à notre droit de partage dans le pouvoir politique“. Dieser Gefahr könne man nur entgehen, wenn man den Menschen in der Erziehung klar mache, dass mit dem Recht zur freien Selbstbestimmung auch die Plicht verbunden sei, sich für die freiheitliche Ordnung zu engagieren.28 Ein nur begrenztes politisches Engagement wird damit zum konstituierenden Prinzip der modernen Demokratie erklärt. Das Durchschlagen der „liberté participation“ zu Lasten der „liberté civile“ in Gestalt einer totalen Politisierung der Gesellschaft ist in totalen Staaten der Vergangenheit, dem Despotismus, vor dem Constant warnt,29 Realität geworden. Ein begrenztes politisches Engagement gilt somit als begleitendes, ja sogar in Maßen als notwendiges Phänomen aller Formen einer freiheitlichen Demokratie. II. Die Entscheidungen 1. Sachentscheidungen Die erste Gruppe von Entscheidungen, die „das Volk“ treffen kann, sind Sachentscheidungen. Es erscheint bemerkenswert, dass der Apologet des allmächtigen Volkes, C. Schmitt, diesem die Kompetenz nur bei den von ihm „spezifisch politisch“ genannten Fragen zuerkennen will, d. h. bei Entscheidungen für Freund oder Feind.30 Im Übrigen könne das Volk nur akklamieren.31 Demgegenüber müssten „technische Spezialinformationen und Details technischer Sachkunde von den zuständigen und verantwortlichen technischen Sachverständigen erledigt werden; sie können nicht von der Masse der Stimmberechtigten behandelt werden“.32 Die Widersprüchlichkeit dieser Bemerkungen kann hier dahinstehen. Der Hinweis auf die „dem Volk“ allein mögliche Akklamation bedarf jedoch vertiefter Betrachtung. Hierzu gehört die Tatsache, dass das Volk immer nur über fremdgestellte Fragen entscheiden kann. Diese stammen entweder von den repräsentativen 27 Dazu eingehend Gall, Benjamin Constant. Seine politische Ideenwelt und der deutsche Vormärz, Wiesbaden 1963, S. 112 ff. 28 Vgl. ebd., S. 117. 29 Vgl. ebd., S. 113 ff. Zu demselben Ergebnis kommt der Soziologe Lipset (Fußn. 11), S. 14, 151, 226 ff. Dagegen die scharfe Kritik von Schattschneider, The Semisovereign People, New York 1960. 30 Schmitt (Fußn. 3), S. 279. 31 Ebd.; Schmitt, Volksentscheid und Volksbegehren, 1927, S. 34. 32 Vgl. Schmitt (Fußn. 3), S. 279 f.

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Institutionen, wenn das Volk mittels eines Referendums die von diesen beschlossene verfassungsrechtliche oder gesetzliche Regelung approbieren oder ablehnen kann. Fremdgestellt ist die Frage jedoch auch bei Volksinitiativen; denn auch hier stimmt „das Volk“ über eine Frage ab, die nicht von „dem Volk“, sondern von einer kleinen Gruppe formuliert wurde, die über keinerlei Repräsentativität verfügt und niemandem gegenüber verantwortlich ist. C.J. Friedrich zählt deshalb zu Recht auch plebiszitäre Entscheidungsformen zu einer Variante repräsentativer Verfahren, da auch hier eine beschränkte Zahl von Bürgern im Namen der Gesamtheit und diese verpflichtend maßgeblichen Einfluss auf die Staatsgeschäfte hat.33 Zu Recht werden deshalb derartige Verfahren direkter Demokratie auch als Formen „halbdirekter“ oder „halbrepräsentativer“ Demokratie bezeichnet. Niemandem, weder „dem“ Volk noch einer Idee der guten Ordnung des Gemeinwesens verpflichtet, agiert und entscheidet eine mehr oder weniger kleine Gruppe, die unter dem Mantel des Volkswillens ihren Vorstellungen Geltung zu verschaffen vermag. Eine kleine Gruppe tritt aber auch auf den Plan, wenn sie die Möglichkeit besitzt, mittels eines Referendums eine gesetzliche Regelung zu Fall zu bringen. Bei der Initiative bedeutsam wird oftmals auch die Formulierung der Frage, deren Präzisierung schon die Antwort präjudiziert.34„Das Volk“ kann ferner – anders als das Parlament – nicht diskutieren. Und da die vorgelegte Frage nur mit „Ja“ oder „Nein“ beantwortet werden kann, fehlt die Möglichkeit zur Beratung und zum Austausch von Meinungen, zu einer differenzierten Beurteilung des Problems und schließlich zum Kompromiss.35 Gefährdet wird jedoch auch ein anderes Grundprinzip der freiheitlichen Ordnung des Gemeinwesens: die Gewaltenteilung; denn wenn „das Volk“ entschieden hat, wird das in der repräsentativen Ordnung existierende System von „checks and balances“ überspielt. Der Gedanke der rationalen Diskussion stellt aber die Grundlage der freiheitlichen Demokratie dar, so dass es nicht überrascht, dass vor allem Liberale seit dem 19. Jahrhundert immer Verfechter einer repräsentativen Demokatie gewesen sind, die allein in der Lage sei, mit ihrem Element 33 Friedrich, Der Verfassungsstaat der Neuzeit, 1953, S. 648 f. Ähnlich Böckenförde, Demokratie und Repräsentation, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, 2. Aufl., 1992, S. 379 ff., 385: „der direkt-demokratische Mantel verhüllt die versteckte Repräsentativstruktur, die sich dabei entfaltet.“ 34 Schmitt (Fußn. 31), S. 37: Der Frage, ob man den Frieden wolle oder die Verständigungspolitik billige, würde zustimmend akklamiert. Die Antwort würde aber anders ausfallen, wenn ein konkreter Vertrag zur Abstimmung gestellt würde. 35 Hiervon zu unterscheiden sind die Einwirkungsmöglichkeiten, die eine referendumsfähige Gruppe während der Beratungen eines Gesetzes besitzt und die durchaus zu Kompromissen mit den formellen Akteuren führen kann. Dazu vgl. Linder (Fußn. 17), S.313 ff. Über eine „Vereinbarung“ zwischen der SPD und dem Landeselternausschuss Kindertagesbetreuung im Januar 2011 vor den Wahlen zur Hamburger Bürgerschaft berichtet Landfried, FAZ v. 17. 2. 2011, S. 10. Darin verspricht die SPD bestimmte finanzielle Vergünstigungen im Falle einer Regierungsbeteiligung, während der Elternausschuss seine Bereitschaft erklärt, „für die Dauer der nächsten Legislaturperiode keine weitergehenden grundlegenden Veränderungen für den Krippen- und Elementarbereich der Hamburger Kitas mit den Mitteln der direkten Demokratie“ zu verlangen.

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der Gewaltenteilung jedwedes Machtmonopol zu verhindern und dadurch Freiheit und Eigentum zu sichern.36 Die Problematik des Sachentscheids verschärft sich angesichts der wachsenden Komplexität der heute anstehenden Sachfragen. Angesichts der heutigen Undurchschaubarkeit vieler Themen der globalisierten Wirtschafts-, Finanz- und Sicherheitspolitik erfordern Lösungen durchweg erheblichen Sachverstand, der jedenfalls „dem“ Volk als solchem nicht eigen ist, wohl aber von kleinen Gruppen im Volk mobilisiert werden kann. Mit wachsender Komplexität der Sachfragen wächst aber auch die soziale Selektivität der Beteiligung.37 In dieser Situation ist der Einzelne in hohem Maße angewiesen auf Orientierungen durch Dritte, Parteien, Verbände oder die Presse. Einfache Rezepte mögen so Anklang finden. Und möglicherweise wird die Entscheidung für das „Ja“ oder „Nein“ dann weniger nach sachlichen Kriterien als vielmehr nach diffusen Befindlichkeiten getroffen. Abgestimmt wird dann über eine „hidden agenda“ – die Parlamentsmehrheit, die Regierung, die Parteien, die Politik … Am ehesten Volksentscheidungen zugänglich sind Entscheidungen auf lokaler Ebene.38 Hier sind die Probleme auch für den einzelnen Bürger noch überschaubar. Es geht um Fragen, die durchaus im Sinne der kommunalen Selbstverwaltung ihn unmittelbar betreffen. Wenig überzeugend wirkt der Hinweis, die Erfahrungen in den Bundesländern mit Volksentscheiden seien doch gut. Die Länder sind nach der föderalen Kompetenzordnung in Deutschland von der Gesetzgebung weitgehend ausgeschlossen; sie sind überwiegend Verwaltungsstaaten. Nur sehr wenige Angelegenheiten wie Schulfragen können hier deshalb durch Volksgesetzgebung geregelt werden. Nur wegen der Komplexität des Gegenstandes lässt sich auch der Haushaltsvorbehalt für Volksentscheide rechtfertigen. Denn warum soll sonst „dem Volk“ die Entscheidung über die besonders wichtigen Themen wie Steuern, Abgaben und Ausgaben entzogen werden? Hier wird insbesondere um die Zulässigkeit „ausgabenwirksamer“ Volksgesetzgebung vor den Verfassungsgerichten vieler Bundesländer gestritten. Lässt sich doch nachweisen, dass ein Ausbau der Volksrechte gar zu einer signifikant geringeren Steuerbelastung und einer niedrigen Staatsverschuldung führt.39 Abgesehen davon, dass dies nicht notwendig einen Ausweis größerer staatlicher Effektivität, sondern das Ergebnis einer – je nach Standpunkt positiv oder negativ einzuschätzenden – Beschränkung staatlicher Aktivitäten darstellt,40 sind bei derartigen Entscheidungen unabsehbare Auswirkungen auf die Wahrnehmung ande36 Vgl. Koselleck, Vom Sinn und Unsinn der Geschichte, 2010, S. 207 f.; deutlich auch bei Dahrendorf, Lebenschancen, 1979, S. 177 ff. 37 Vgl. Linder (Fußn. 17), S. 278 f., 339. 38 Vgl. Steinberg, Die Verwaltung, (16) 1983, S. 465 ff. 39 So Kirchgässner, Schweiz. Zeitschrift für Volkswirtschaft und Statistik, 2002, S. 411 ff. Noch viel eindrücklicher erscheint das Beispiel Kaliforniens: Hier ist „das Volk“ so sparsam, dass viele Bereiche der staatlichen Tätigkeiten empfindlich eingeschränkt sind. 40 So führt Linder (Fußn. 17), S. 263 f. die vergleichsweise langsame Entwicklung des Sozialstaats in der Schweiz auf die Volksrechte zurück.

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rer staatlicher Aufgaben, auf die Fiskalpolitik, die Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik, ja die Währungspolitik nicht auszuschließen. Es ist deshalb gut verständlich, dass der Hamburger Bürgermeister Olaf Scholz auf das Scheitern der Volksinitiative „Unser Hamburg – unser Netz“ hofft, die einen vollständigen Rückkauf des Hamburger Energienetzes für geschätzte 2,2 Mrd. Euro betreibt.41 2. Personalentscheidungen Diese Bedenken greifen offensichtlich erheblich weniger, wenn „dem Volk“ die Möglichkeit gegeben wird, nicht Sachfragen zu entscheiden, sondern Personen zu wählen bzw. auszuwählen. Letzteres wird bei der Wahl der Bürgermeister und Landräte nach dem Vorbild der süddeutschen Länder mittlerweise in allen Flächenländern praktiziert. Die Erfahrungen sind durchweg positiv. Diese Verfahren führen zu einer Öffnung starrer parteipolitischer Verhältnisse. Maßgeblich sind eher die Persönlichkeit der Bewerber und deren Beurteilung durch die Wähler. Dennoch lässt sich nicht pauschal von einer Schwächung der Parteien sprechen. Die Kandidaten um diese Ämter werden auch jetzt in den meisten Fällen von den Parteien aufgestellt und bei ihrem Wahlkampf unterstützt. Verändert hat sich jedoch bei ihrer Aufstellung das Kalkül: Es kommt nicht mehr entscheidend darauf an, dass und ob der Kandidat/die Kandidatin der Partei, deren Basis oder deren Fraktion in der Vertretungskörperschaft genehm ist; gefragt ist stattdessen die mutmaßliche Reaktion der Wähler. Allerdings ist vielerorts ein Rückgang der Wahlbeteiligung festzustellen. So verwundert es wenig, dass auf Bundesebene immer wieder die Frage der Direktwahl des Bundespräsidenten auf die Tagesordnung gesetzt wird. Eher mag es erstaunen, dass dies in jüngster Zeit von zwei Bundespräsidenten geschehen ist, die bekanntlich in dem „indirekten“ Verfahren durch die Bundesversammlung gewählt bzw. wiedergewählt wurden. So gibt Richard von Weizsäcker zu erwägen, ob sich „das parteiunabhängige, direkt von der Bevölkerung gegebene Mandat“ als Mittel gegen die von ihm beklagte Machtversessenheit und Machtvergessenheit der Parteien einsetzen ließe. Immerhin weist er auf die Gefahr hin, dass es im Wahlkampf zu polemischen Konfrontationen kommen könnte, welche die überparteiliche Aufgabe des Wahlsiegers erschwerte.42 Deutlicher wurde sein Nachfolger, Horst Köhler. So sprach er sich in der letzten Talkshow von Sabine Christansen am 24. Juni 2007 dafür aus, „mehr Elemente direkter Demokratie in Deutschland“ zu ermöglichen. Dies bezog er auch auf sein eigenes Amt, das des Bundespräsidenten: „Es wäre kein schlechtes Modell, den Bundespräsidenten direkt zu wählen.“ Und am Tage nach seiner Wiederwahl am 23. Mai 2009 forderte er erneut eine Stärkung der direkten Demokratie in Deutschland, um die Distanz zwischen Bürger und politischen 41

FAZ v. 27. 12. 2011. v. Weizsäcker im Gespräch mit Hofmann und Perger, 1992, S. 163; zustimmend Glotz, Entscheidungsteilung. Gegen das Hindenburg-Syndrom in der deutschen Politik, in: Die Kontroverse. Weizsäckers Parteienkritik in der Diskussion, hrsg. Hofmann/Perger, 1992, S. 170 ff., 174 ff. 42

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Entscheidungsträgern zu vermindern. Dabei sollte auch die Direktwahl des Bundespräsidenten kein Tabu sein. Dies wolle er jedoch nicht als Vorschlag verstehen. Aber es sei der Ausdruck, dass er den Bürger ernst nehme. Es stelle sich außerdem die Frage, wie sich durch eine Direktwahl des Staatsoberhaupts die „Machtstruktur zur Bundeskanzlerin“ verändern würde. Zwar seien die Erfahrungen von Weimar zu berücksichtigen. Doch sei der sofortige Hinweis auf Hindenburg,43 wie er ihn erlebt habe, verfehlt. Deutschland sollte heute freier sein.44 Die einmütige Ablehnung durch die Parteien überrascht nicht. Oder doch ein wenig bei der SPD,45 die ja sonst für die Zulassung von Realplebisziten auf Bundesebene eintritt. Doch stellt sich schon die Frage, ob eine Direktwahl des Bundespräsidenten tatsächlich „die gesamte Statik des deutschen Staatsaufbaus massiv verändern“ würde, wie die Bundeskanzlerin Angela Merkel meint.46 Käme es nicht mehr auf die Ausgestaltung der Kompetenzen des direktgewählten Bundespräsidenten an? Müssten die denn überhaupt erweitert werden?47 Auch Richard von Weizsäcker denkt wohl nur an die Schaffung von „presidential commissions“, die seiner Ansicht nach als Beitrag zur demokratischen Bürgergesellschaft beim überparteilichen Präsidentenamt gut aufgehoben wären.48 Ein Blick in die österreichische Nachbarrepublik zeigt, dass die „Unwucht“ in der Verfassung (H. Heil) bei einem direktgewählten Präsidenten nicht zwangsläufig eintreten muss. Zwar spricht man in Österreich seit der Verfassungsänderung von 1929, durch die die Direktwahl eingeführt wurde, von einem „parlamentarischen Regierungssystem mit präsidentiellem Einschlag“.49 Die weitgehende Bindung des österreichischen Bundespräsidenten an den Vorschlag oder die Gegenzeichnung der Bundesregierung hat ihn zum „Gefangenen der Bundesregierung“ gemacht. Darüber hinaus haben die meisten Bundespräsidenten von 43 Dass die „Lehren aus Weimar“ auch an dieser Stelle den Parlamentarischen Rat bei der Ausgestaltung der Stellung des Bundespräsidenten bestimmt haben, ist unbestritten, vgl. nur Nettesheim, Amt und Stellung des Bundespräsidenten, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. 3, 3. Aufl., 2005, § 61 Rn. 27. 44 Welt-online v. 24. 5. 2009; Langguth, Horst Köhler. Biographie, 2007, S. 333 mit Anm. 1059 nennt die Äußerungen Köhlers zu Elementen direkter Demokratie „merkwürdig unsicher“. 45 So der damalige Generalsekretär Heil, n-tv v. 25. 5. 2009. 46 Merkel, ebd. 47 Das behauptet etwa Badura, Staatsrecht, 3. Aufl. 2003, Rn. E 71, wonach es als praktische Folge der Direktwahl angesehen werden müsse, „daß dem Präsidenten auch wesentliche Befugnisse der Staatsleitung zukommen, soweit diese in den Bereich der Exekutive fällt.“ Ähnlich auch Herzog, in: Maunz/Dürig/Herzog, GG-Kommentar, Stand: Jan. 2009, Art. 54 Rn. 11, wonach eine Volkswahl ohne kräftige Erweiterung der präsidialen Befugnisse ein Widerspruch in sich wäre; zustimmend Nettesheim, Die Bundesversammlung und die Wahl des Bundespräsidenten, in: Handbuch des Staatsrechts (Fußn. 43), § 63 Rnr. 1, 3. 48 v. Weizsäcker, a.a.O., S. 163. 49 Öhlinger, Verfassungsrecht, 8. Aufl., 2009, Rn. 347; ähnlich Berka, Lehrbuch Verfassungsrecht, 2. Aufl., 2008, Rn. 32, 142: „parlamentarisch-präsidiales Regierungssystem“. Für die Österreichische Lösung Glotz (Fußn. 42), S. 175. Für die Direktwahl des Bundespräsidenten jetzt auch Voscherau, FAZ v. 14. 1. 2012. S. 10.

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den ihnen zustehenden wenigen selbständigen Kompetenzen nur zurückhaltend Gebrauch gemacht.50 Auch bei der Direktwahl des deutschen Bundespräsidenten brauchte sich deshalb die Kompetenzordnung, die sich bekanntlich drastisch von den Befugnissen des Reichspräsidenten unterscheidet,51 nicht notwendig zu ändern. Auch würde die Bedeutung der Parteien kaum vermindert; ihr Einfluss würde sich allerdings – wie die Parallele zur Direktwahl des Bürgermeisters zeigt – verändern. Dienten die Wahlen der bisherigen zehn Bundespräsidenten nicht zuletzt der Vorbereitung und Sicherung von Regierungskoalitionen, waren also höchst parteipolitisch geprägt,52 so würde in Zukunft die Popularität der Kandidaten wichtiger werden. Ob dies allerdings die „besseren“ Persönlichkeiten in das Amt bringt, über die am Ende – wie es Richard von Weizsäcker andeutet – der öffentliche Fernsehwettbewerb die Wahl entscheidet, mag dahinstehen. Hier wird auch die Gefahr populistischer Bewerber sichtbar. Dass so gewählte Bundespräsidenten einen bonus als Gewählte des Volkes besitzen, dürfte unbestritten sein.53 Letztlich hinge es bei im Wesentlichen unveränderten Kompetenzen weitgehend von dem Amtsverständnis seines Inhabers ab, ob von einer Direktwahl des Bundespräsidenten eine Stärkung der Demokratie in Deutschland zu erwarten wäre. Er könnte ein Stück der symbolischen Integration des Gemeinwesens bewirken, gestützt auf seine eigenständige Autorität auch ohne einen Zuwachs an Macht, unabhängiger von den Parteien. Allerdings sind Konflikte mit der Bundesregierung nicht auszuschließen. Solche gab es aber auch immer schon im Verhältnis der bisherigen Bundespräsidenten zur jeweiligen Bundesregierung. Wenn aber schon nach der Nicht-Ausfertigung von zwei Bundesgesetzen durch den Bundespräsidenten Köhler wegen dessen verfassungsrechtlichen Zweifeln in Berlin „ein Hauch von Weimar“ verspürt wurde,54 so erforderte es schon ein höheres Maß an Gelassenheit, um ein gewisses Maß an Eigenständigkeit auch im Amte des Bundespräsidenten akzeptieren zu können. Zur Vorsicht mahnt aber auch die Einschätzung eines anderen ehemaligen Bundespräsidenten – Roman Herzog –, durch den parteigetragenen bundesweiten Wahlkampf werde die Integrationsfunktion des Amtes leiden. Gerade angesichts der Politisierung, die auch Auswirkungen auf das Naturell der Kandidaten haben würde, müsste die Direktwahl bei unveränderten Kompetenzen vor allem zur „ewigen Unzufriedenheit (,Frustration‘) der Inhaber und damit wohl auch zur ständigen Versuchung der parakonstitutionellen Kompetenzerweiterung führen.“55 Aber 50

So Berka (Fußn. 49), Rn. 679, 684. Im Einzelnen Herzog (Fußn. 47), Rn. 8 ff. 52 So anschaulich die Darstellung bei Langguth (Fußn. 44), S. 201 ff., 233 ff., 321, 332. 53 Allerdings hätten wohl alle bisherigen Bundespräsidenten bei ihrer direkten Wiederwahl deutliche Mehrheiten erzielt, für die Wiederwahl Köhlers 2009 hätte sich 70 % der Bevölkerung ausgesprochen. Ob er allerdings bei seiner ersten Wahl 2004 in einer Direktwahl seiner Konkurrentin Schwan vorgezogen worden wäre, erscheint fraglich. Ganz sicher hätte bei einer Direktwahl 2010 Gauck den von der Bundesversammlung gewählten Wulf geschlagen. 54 So der Politikwissenschaftler Leggewie, zit. bei Langguth, a.a.O., S. 277 f., 322. 55 Herzog (Fußn. 47), Art. 54 Rn. 11. 51

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haben wir nicht bereits mit der Kandidatur von Gesine Schwan und Joachim Gauck eine Art Wahlkampf erlebt, stilvoll und zurückhaltend? Wäre mit ihnen – direkt gewählt – Hindenburg durch die Hintertür gekommen? 3. Verfassungsfragen Zum Kern der Tradition des westlichen demokratischen Verfassungsstaates gehört die maßgebliche Beteiligung des Volkes an der Verfassungsgebung und bei Verfassungsänderungen, für die sich drei – hier nicht näher zu behandelnde – Formen herausgebildet haben.56 In Anbetracht dessen erscheint es schon bemerkenswert, dass zentrale Ereignisse der Verfassungsgebung bzw. -änderung bei der Gründung der Bundesrepublik Deutschland, der Herstellung der deutschen Einheit und schließlich auch der Übertragung von Hoheitsgewalt auf die Europäische Union ohne die Mitwirkung des Volkes zustande gekommen sind. Es wäre Zeit, dass die Bundesrepublik auch an dieser Stelle in den westlichen Verfassungskonsens zurückkehrt. Das Plädoyer, wonach „das Volk“ eine besondere, auch formell zum Ausdruck kommende Mitverantwortung für die Verfassung und deren Änderung besitzen sollte, bedarf der Begründung, gelten doch auch hier viele der oben aufgeführten allgemeinen Bedenken gegenüber plebiszitären Instrumenten. Der Unterschied gegenüber „normalen“ Realplebisziten liegt vor allem im Gegenstand der Regelung von Grundfragen der politischen Existenz in der Verfassung. Es spricht vieles dafür, dass diese Fragen, weniger als komplexe Sachentscheidungen, mit den diesen eigenen Technizitäten die Einsichts- und Urteilsfähigkeit des Bürgers überbeanspruchen, ihn vielmehr erkennbar in seiner politischen Existenz als Bürger des Gemeinwesens berühren. Das erleichtert seine Beteiligung, aber Entscheidenderes kommt hinzu. Der Grund für den Beruf des Bürgers zur Verfassungsgebung liegt in der Eigenart der Verfassung als „rechtlicher Grundordnung des Gemeinwesens“,57 die mehr bedeutet als „ein System rechtstechnischer Kunstgriffe zur Gewährleistung gesetzlicher Freiheit“.58 „Sie bestimmt“ – so definiert K. Hesse ihren Gehalt – „die Leitprinzipien, nach denen politische Einheit sich bilden und staatliche Aufgaben wahrgenommen werden sollen. Sie regelt Verfahren der Bewältigung von Konflikten innerhalb des Gemeinwesens. Sie ordnet die Organisation und das Verfahren politischer Einheitsbildung und staatlichen Wirkens. Sie schafft Grundlagen und normiert Grundzüge rechtlicher Gesamtordnung.“59 Und als rechtliche Grundordnung des Gemeinwesens wirkt sie über die Ordnung des staatlichen Lebens hinaus, insofern sie 56 Vgl. Böckenförde, Die verfassungsgebende Gewalt des Volkes – Ein Grenzbegriff des Verfassungsrechts (1986), in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie (Fußn. 33), S. 90 ff., 102 ff.; Loewenstein, Verfassungslehre, 3. Aufl., Tübingen 1975, S. 138 ff. 57 So Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl., Heidelberg 1995, Rn. 17. 58 So Forsthoff, Die Umbildung des Verfassungsgesetzes (1959), in: M. Friedrich (Hrsg.), Verfassung, 1978, S. 117 ff., 151. 59 Hesse (Fußn. 57), Rn. 17.

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die Voraussetzungen der Schaffung, Geltung und Durchsetzung der übrigen Normen herstellt und deren Inhalt weitgehend mitbestimmt.60 Damit die Verfassung aber ihre Normativität, d. h. ihre Wirksamkeit in Staat und Gesellschaft entfalten kann, bedarf sie der Annahme durch die Normadressaten und eines grundsätzlichen Konsenses über ihre Geltung.61 Nur in dem Maße, in dem es ihr gelingt, den Geltungsanspruch zu realisieren, vermag sie normative Kraft zu gewinnen. Das gelingt ihr dann, wenn die Entschlossenheit vorhanden ist, diese Ordnung gegenüber aller Infragestellung und Anfechtung durchzusetzen, „wenn also im allgemeinen Bewußtsein und namentlich im Bewußtsein der für das Verfassungsleben Verantwortlichen nicht nur der Wille zur Macht, sondern vor allem auch der Wille zur Verfassung lebendig ist.“62 Dieser Wille zur Verfassung verweist freilich im Sinne des „plébiscite de tous les jours“ (Renan) auf einen ständigen Prozess der Annahme und Aktualisierung der Verfassung im Gemeinwesen, der über den punktuellen Moment der Annahme der Verfassung oder einer Verfassungsänderung hinausgeht. Dies macht jedoch den förmlichen Akt der Befragung und Zustimmung nicht überflüssig. Er zwingt die Initiatoren der Verfassung oder Verfassungsänderung zum Dialog mit „dem Volk“, indem es die vorgeschlagene Regelung erläutert und ihre Notwendigkeit rechtfertigt. Das Plebiszit dokumentiert die politische Entscheidung, welche den Inhalt der Verfassung ausmacht.63 Es verhindert jedoch auch, dass die Verfassungsänderung zur kleinen Münze des (partei-)politischen Alltagsgeschäfts wird, bei dem Fragen des Tagesgeschäfts auf die Verfassungsebene gehoben werden. Die Akteure vergessen dabei, „dass sie bei der Verfassungsänderung in einer anderen Eigenschaft tätig werden als bei der Gesetzgebung: Sie nehmen ,pouvoir constituant‘ wahr und ändern somit selbst die ihnen der Idee nach vom Volk gesetzten Bedingungen ihres Handelns.“64 So ist das Grundgesetz zunehmend befrachtet worden mit einer Vielzahl technischer Details, die zum Zwecke praktischer Problemlösungen hilfreich sein mögen, die aber den Charakter der Verfassung als grundlegenden Strukturplan für das Gemeinwesen verwässern. Auf der anderen Seite enthalten die Verfassungsänderungen aber auch elementare politische Entscheidungen, die – wie etwa der neue Art. 23 GG – mit der 1992 „neu eingeführten(n) Grundnorm des deutschen Europaverfassungsrechts“65 dem Volk in gewisser Weise aufoktroyiert wurden. Der Preis für eine derartige tief in die grundlegende Ordnung eingreifende Verfassungsänderung ist ersichtlich hoch: Offensichtlich läuft seit vielen Jahren die Europäische Integration ohne die Zustimmung „des 60

Ebd. Rn. 18. So Heller, Staatslehre, Leiden 1963, S. 278 f., der an dieser Stelle zustimmend auf Schmitt, Verfassungslehre, 3. Aufl. 1957, S. 87 verweist. 62 Hesse, Die normative Kraft der Verfassung (1959), in: ders., Ausgewählte Schriften, Heidelberg 1984, S. 3 ff., 9 f. 63 Schmitt (Fußn. 3), S. 84. 64 Grimm, Ändert das Grundgesetz!, FAZ v. 29. 12. 2010, S. 6. 65 Pernice, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, Tübingen 1998, Art. 23 GG, Rn. 17. 61

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Volkes“ ab. Alle von den politischen Eliten betriebenen „großen Grundsatzentscheidungen der europäischen Einigung der letzten 20 Jahre“ – so zeigen einschlägige Meinungsbefragungen – sind „gegen den Willen der deutschen Bevölkerung durchgesetzt worden: Die Einführung des Euro, die Aufnahme der neuen Mitgliedsländer in Osteuropa, die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei – dies alles wurde von den Deutschen mit sehr deutlichen Mehrheiten abgelehnt.“66 Trotzdem hätten die Deutschen in ihrer Einstellung zur europäischen Integration in all diesen Jahren positiv regiert. Allerdings sei in jüngster Zeit als Folge der Finanzkrise das Ansehen der Europäischen Union auf einen Tiefstand gesunken. So sei die Zahl derjenigen, die ein „nicht so großes“ oder „kaum, gar kein Vertrauen“ in die Europäische Union hatten, in wenigen Monaten 2010 von 51 auf 63 Prozent gestiegen, umgekehrt sei der Anteil derjenigen, die der Union das Vertrauen aussprachen, von 37 auf 26 Prozent gesunken. Und auf die Frage, ob Europa unsere Zukunft sei, antworteten nur noch 41 Prozent mit ja, während dieser Anteil im April 2010 noch bei 53 Prozent gelegen habe. Hier drängt sich die Frage auf, wie lange die Politik in einem zentralen Bereich Politik ohne, ja gegen die Mehrheit der Bürger machen kann. Es sollte zu denken geben, dass 80 Prozent der Bevölkerung vor einer Übertragung von weiteren Kompetenzen auf die EU eine Volksabstimmung verlangt.67 Es erscheint bemerkenswert, dass jetzt das Bundesverfassungsgericht als „letzte Rettung … in einer Art Stellvertreterfunktion in einem defizitären politischen Prozess“68 auf Art. 146 GG hinweist, der die äußerste Grenze der Mitwirkung der Bundesrepublik an der europäischen Integration markiere: „Es ist allein die verfassungsgebende Gewalt, die berechtigt ist, den durch das Grundgesetz verfassten Staat freizugeben, nicht aber die verfasste Gewalt.“69 Dies aber bedeutet eine maßgeblich Mitwirkung „des Volkes“ in einem Verfahren der Verfassungsänderung.70 Die Mitwirkung des Volkes bei Verfassungsänderungen setzt aber eine Reflexion über die Funktion der Verfassung und der Angemessenheit von verfassungsrechtlichen Regelungen voraus. Die Verfassung stellt nicht das Grundbuch der Nation dar,71 in das tagespolitische Kompromisse zwischen den politischen Parteien zu dem Zweck eingetragen werden, sie der politischen Auseinandersetzung zu entziehen. Ist aber nicht vielleicht die Verfassungsgebung bzw. -änderung durch Volksentscheid deshalb ausgeschlossen, weil auch hier ja – wie oben beschrieben – nicht „das Volk“, sondern Minderheiten entscheiden. Das gilt aber nicht nur für Verfas66 Vgl. auch zum Folgenden Petersen, Das gemeinsame Interesse an Europa ist in Gefahr, FAZ v. 26. 11. 2011, S. 5. 67 So die Zahlen von infratestdimap im ARD-Deutschlandtrend vom 6. 10. 2011. 68 So zutreffend Graf Kielmannsegg, Letzte Rettung, FAZ v. 24. 2. 2011, S. 8. 69 BVerfGE 123, 267 (332). 70 Vgl. auch Dreier, in: ders., (Hrsg.), GG-Kommentar, Art. 146 Rn. 52. 71 So Hennis, Verfassung und Verfassungswirklichkeit. Ein deutsches Problem, Tübingen 1968, S. 17.

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sungsplebiszite, sondern auch für das als menschliche Wirksamkeit existierende plébiscite de tous les jours. Denn auch hier „ist es immer nur eine kleine Minderheit innerhalb des Staatsvolkes, für die das Sein und Sosein des Staates täglich von neuem in eine Sollensentscheidung ausmündet, die also mit bewußter Aktivität an der Erhaltung und Gestaltung des Staates teilnimmt.“72 Es kommt also im alltäglichen, den Staat hervorbringenden und erhaltenden politischen Leben wie auch bei der punktuell herausgehobenen Entscheidung über die Form der Verfassung auf die – so H. Heller –„ausschlaggebende Minderheit“73 an. Deren Bedeutung erscheint systemisch und ist in jüngerer Zeit wohl noch gewachsen. III. Schluss Ausgangspunkt ist die Erkenntnis, dass eine Entscheidung des als Einheit verstandenen oder mit dem Staat identisch gedachten Volkes nicht in Betracht kommt, da es sich hierbei um ein ideologisches Konstrukt ohne Realitätsgehalt handelt. Ganz wesentlich erscheint deshalb die Feststellung, dass Volksentscheide regelmäßig nicht Instrumente „des“ Volkes sind, sondern – je nach Ausgestaltung – das Werkzeug einer mehr oder weniger kleinen Minderheit „im“ Volk. Auch bei den durch diese angestoßenen Volksentscheiden entscheidet selten die Mehrheit des Volkes.74 Damit verdeckt aber auch das Bild der „Selbstbestimmung des Volkes“ die Realität direkter Demokratie. Möglicherweise liegt die Rousseau’sche Annahme der Göttlichkeit der Stimme des Volkes unausgesprochen immer noch der höheren moralischen Qualifizierung direktdemokratischer Entscheidungen zugrunde. Demgegenüber ist festzuhalten: Direktdemokratische Entscheidungen sind nicht als solche „besser“ oder „schlechter“ als die repräsentativer Organe. Und sie sind nicht das geborene Instrument „fortschrittlicher“ Kreise, sondern können auch von weniger „sympathischen“ Randgruppen oder auch der vermeintlich „schweigenden Mehrheit“ genutzt werden.75 Sie kommen lediglich in einem anderen Verfahren unter anderen Beteiligungen zustande und können möglicherweise bei den repräsentativen Entscheidungen ausgeblendete Vorstellungen und Interessen berücksichtigen. Es stellt eine Illusion dar anzunehmen, es befänden sich die kleinen Minderheiten außerhalb des üblichen Spiels der politischen Kräfte. Im Gegenteil: Instrumente direkter Demokratie werden in aller Regel von Parteien und Interessenverbänden genutzt.76 Vor allem diese wie auch andere finanzkräftige Gruppierungen werden in der 72

Heller (Fußn. 51), S. 216. Ebd. 74 Linder (Fußn. 17), S. 283 nennt für eine positive Volksentscheidung eine Zahl von 13 % der Bevölkerung. 75 Darauf hat wiederholt Gross aufmerksam gemacht, vgl. FAZ v. 18. 12. 2009, S. 35; FAZ v. 17. 12. 2010, S. 33. 76 Vgl. Linder (Fußn. 17), S. 269, 275 f., 326 f., 338 f.; ders./Lutz/Bollinger/Hänny, Switzerland, in: Nohlen/Stöver, Elections in Europe. 2010, S. 1879 ff., 1884. Das belegt auch die materialreiche Arbeit von Hornig, Die Parteiendominanz direkter Demokratie in Westeuropa, 73

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Lage sein, eine bundesweite aufwendige Kampagne zu organisieren und zu finanzieren.77 Allerdings können sich auch andere minoritäre Gruppierungen oder auch spontane Bewegungen in Stellung bringen. Eine Chance der wirkungsvollen Beteiligung wird so auch solchen Gruppierungen geboten, die nicht Teil der maßgeblichen Entscheider sind. Das Problem der Minderheiten wie auch ihre mangelnde partizipatorische Neutralität sollte bei der Ausgestaltung von direktdemokratischen Verfahren bedacht werden. So können Gruppierungen, die die Initiative zu einer Volksgesetzgebung betreiben, – über ihren eigenen Anspruch hinaus – kaum von sich behaupten, in irgendeiner Weise normativ auf das gemeine Wohl verpflichtet, in irgendeiner Weise legitimiert und insoweit repräsentativ zu sein. Anders sieht es aus, wenn „das“ Volk aufgerufen wird, vom parlamentarischen Gesetzgeber getroffene Entscheidungen zu bestätigen. Die kann für bestimmte Entscheidungen vorgeschrieben werden – so im Falle des obligatorischen Verfassungsreferendums. Hier dient die maßgebliche Mitwirkung des Volkes der Stärkung der demokratischen Legitimation der Entscheidung. Für wesentliche – die politische Existenz des Volkes betreffende – Entscheidungen wird ein Zusammenwirken von Parlament und Volk verlangt. Demgegenüber stellt das fakultative Referendum ein Instrument einer Gruppe von Bürgern dar, die sich gegen ein Parlamentsgesetz stellt, oder aber auch den Versuch der im Parlament überstimmten Minderheit, die Mehrheitsentscheidung zu Fall zu bringen; anders als im vorgenannten Fall soll es den Dissens zwischen Parlament und „Volk“ markieren. Wie bei der Initiative bieten sich hier für Gruppierungen „aus“ dem Volk Möglichkeiten, von der Parlamentsmehrheit ihrer Meinung nach vernachlässigte Aspekte zur Geltung zu bringen und das Parlament zu korrigieren. Einen Sonderfall stellte das Referendum in Baden-Württemberg zu Stuttgart 21 dar, bei dem die Regierung „das Volk“ zum Schiedsrichter bei einem – konstruierten – Dissens zwischen ihr und dem Parlament aufrief. Es ist deutlich geworden, dass die beschriebenen Bedenken gegenüber direktdemokratischen Verfahren am stärksten durchgreifen bei Volksinitiativen, in geringerem Maße aber auch bei aus dem Volk initiierten Gesetzesreferenden. Vor allem bei diesen beiden Formen bedarf die Ausgestaltung der Verfahren gründlicher Überlegungen, um einen zu einfachen Durchgriff kleiner und kleinster Minderheiten zu vermeiden. Das zwischen den Bundesländern zu beachtende „race to the bottom“ hinsichtlich der Quoren erweckt durchaus Bedenken. Am ehesten verspricht einen demokratischen Mehrwert das obligatorische Verfassungsreferendum, bei dem die repräsentativen Organe mit „dem Volk“ zusammenwirken müssen. Und auch der personelle Volksentscheid über die Wahl des Bundespräsidenten erweckt erheblich ge2011. Auch für das Ergebnis der Volksentscheids zu Stuttgart 21 am 27. 11. 2011 war wesentlich durch die Mobilisierung der Parteien bestimmt, so FAZ v. 3. 12. 2011, S. 12. 77 So sollen in Kalifornien 2006 für verschiedene Volksentscheide 330 Mio. US-Dollar ausgegeben worden sein.

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ringere Bedenken bezüglich der Entscheidungsfähigkeit „des Volkes“ als der Volksentscheid über Sachthemen, jedenfalls soweit diese über den örtlichen, für den Einzelnen überschaubaren Bereich hinausgehen. Ob und inwieweit durch die Direktwahl des Bundespräsidenten das überkommene Gleichgewicht zwischen den Obersten Staatsorganen gefährdet ist, wird allerdings unterschiedlich eingeschätzt. Es ist durchaus möglich, dass die Ergebnisse von Volksentscheiden zur Stärkung der Legitimität des politischen Systems und zur Befriedung in einer politisch kontroversen Situation führen. Sie können auch Minderheiten einbinden, die sich im politischen Spektrum nicht hinreichend berücksichtigt fühlen.78 Diesen kann es gelingen, Missstände und Fehlentwicklungen zu erkennen und zu benennen, die im Gestrüpp politisch-bürokratischer Verkrustungen ausgeblendet werden, und eine ausschließlich bürokratisch-technokratisch-industrielle Legitimation von staatlichen Entscheidungen infrage zu stellen.79 Instrumente der direkten Demokratie vermögen so als Ventil zu wirken, das die Offenheit der demokratischen Willensbildung zu sichern hilft. Werden diese Instrumente allerdings von Eliten oder von politischen Parteien für ihre Zwecke instrumentalisiert, so ist die Vertiefung politischer Spaltungen nicht ausgeschlossen.80 So birgt die Einführung plebiszitärer Entscheidungen auf Bundesebene Chancen wie auch Risiken, die für die verschiedenen Themenbereiche und die unterschiedlichen Formen differenziert einzuschätzen sind. Auf jeden Fall wäre es ratsam, die offenkundigen Schwächen der Responsivität der staatlichen Repräsentanten wie auch der politischen Parteien, z. B. durch eine Reform des Wahlrechts, eine Öffnung der Parteien und eine bessere Ausgestaltung der Planung von Infrastrukturanlagen81 anzugehen. So ließe sich die Autorität der repräsentativen Institutionen wieder festigen, die durch den Einsatz bestimmter plebiszitärer Instrumente – weiter – geschwächt werden kann. Auch diese Erwägungen mahnen zur zurückhaltenden und klugen Ausgestaltung des Einsatzes derartiger Instrumente. Als Mittel zur Bekämpfung empfundener politischer Frustration taugen sie wenig. Denn die wahren Herausforderungen, denen sich das Gemeinwesen und dessen Bürger heute gegenüber sehen, werden auch durch die Möglichkeit von Volksentscheidungen nicht geringer. So beruht denn auch die verbreitete Einschätzung in Deutschland, von ihnen geradezu ein Allheilmittel aller politischen Krankheiten zu erwarten, auf einem erheblichen Maß an Wunschdenken, wenn nicht gar an Gedankenlosigkeit.

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So BremStGH, NVwZ-RR 2001, 1 f. Instrumente direkter Demokratie ähneln in ihrer Wirkweise insoweit durchaus der Versammlungsfreiheit des Art. 8 GG, dem das BVerfG (E 69, 315, 346 f.) zu Recht direktdemokratische Züge zuschreibt. 79 Dazu Steinberg, Der ökologische Verfassungsstaat, 1998, S. 197, 387 ff. 80 So Linder, FS Ismayr, 2010, S. 600 ff., 607 ff. 81 Dazu Steinberg, ZUR 2011, 340.

Gemeinschaft, Recht und Souveränität in der Politischen Theorie des Johannes Althusius Von Dieter Wyduckel, Dresden I. Die Politische Theorie des Althusius und ihre Wiederentdeckung Das Zusammenleben der Menschen, seine Organisation und Ordnung ist seit jeher Thema der Rechts-, Politik- und Sozialwissenschaft. Die großen Griechen, insbesondere Aristoteles und Plato, haben zusammen mit den Römern, vor allem Cicero, Maßstäbe gesetzt, die über die Jahrhunderte hinweg für das politische Denken prägend geworden sind. Im Rahmen der politisch-sozialen Veränderungen, die für den Übergang vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit kennzeichnend sind, erinnert man sich des überkommenen Wissens, nimmt es auf und passt es im Zeichen von Renaissance, Humanismus und Reformation gewandelten geistig-religiösen, politisch-sozialen und rechtlichen Bedingungen an. Die Lehre von der Politik tritt dabei als zugleich altes und neues Fach hervor, das Grundfragen des politischen Zusammenlebens der Menschen zum Thema und Problem macht, nach neuen Antworten auf drängende Fragestellungen der Zeit sucht und all dies vor dem Hintergrund einer komplexer werdenden Welt, die nicht mehr nur eine Antwort auf sich allenthalben stellende Fragen gelten lassen will. Hierzu hat im Gefolge der Reformation eine bislang so nicht gekannte religiöse Pluralität beigetragen, die zunehmend auch politisch-soziale Kontexte in neuem Licht erscheinen lässt. Im Rahmen der unterschiedlichen politisch-sozialen Positionen wird dabei in steigendem Maße auch der religiöse Kontext thematisch und Herrschaft von Menschen über Menschen nicht länger als schlechthin gottgegeben hingenommen, sondern zunehmend nach der Berechtigung politischer Ordnung unter legitimatorischem Aspekt gefragt. Der Jubilar hat sich diesem übergreifenden Themenkreis in verschiedenen Publikationen zugewandt und dabei vor allem die Legitimation, d. h. die Berechtigung und Rechtfertigung politisch-staatlicher Macht und Herrschaft ins Blickfeld gerückt1. 1 Siehe Würtenberger, Die Legitimität staatlicher Herrschaft. Eine staatsrechtlich-politische Begriffsgeschichte, 1973, 13 ff., 45 ff.; ders., Legitimation und Legitimität, in: Ergänzbares Lexikon des Rechts, Gruppe 2/310, 1 ff.; ders., Zur Legitimation der Staatsgewalt in der

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Je nach Standort und Maßstab werden im historischen Kontext und Ablauf in der Tat unterschiedliche Richtungen in Politik und Recht identifizierbar: Zum einen zwischen Macht und Recht vermittelnde spätscholastische Lehren, die, an Thomas von Aquin, zugleich aber auch an Aristoteles anknüpfend, in der Begegnung von Theologie und politischer Philosophie das Verhältnis von Herrschaft und Herrschaftsgewalt, von Befehl und Gehorsam sowie allgemeiner von Macht und Recht ins Licht wissenschaftlicher Reflexion rücken. Auch der Neo-Aristotelismus protestantischlutherischer Prägung lässt Fragen der Machtbegründung und -begrenzung zum Gegenstand wissenschaftlicher Auseinandersetzung werden, die den Ausgangspunkt vor allem herrschafts- und herrscherorientierter Überlegungen bilden. Hinzutritt im Umkreis calvinischer Traditionen ein signifikant modifizierter Problemhorizont, in dem die politisch-rechtlichen Akzente noch anders gesetzt werden, nicht zuletzt deshalb, weil die Interessenkonstellationen unterschiedlich sind und zugleich die politisch-theologischen Positionen differieren. Will man dies mit Namen und für die genannten Positionen charakteristischen Denkrichtungen belegen, so lassen sich für die erstere Richtung beispielhaft die Spanische Spätscholastik2, für die zweite der Protestantische Aristotelismus3 und für die dritte die im Rahmen calvinischer Lehren angesiedelte Politiktheorie nennen, wie sie vor allem mit dem Namen des Johannes Althusius verbunden ist4. Die genannten politisch-theoretischen Strömungen weisen auch Überschneidungen auf, lassen sich aber von Ansatz und Durchführung her unterscheiden und bestimmten Denkern und Denkschulen zuordnen. All dies wird begleitet von der Entstehung und Entwicklung eines Ius publicum, das sich als Herrschafts- und Machtfragen gewidmete, spezifisch juristische Disziplin seit der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert entfaltet und für das die Jenaer Schule des Dominicus Arumaeus und Johannes Limnaeus beispielhaft zu nennen sind5. Das politiktheoretische Werk des Althusius lässt einen ausgeprägt systematischrationalen Ansatz erkennen, wie er im calvinisch bestimmten Denken nicht eben selten ist und schon im Titel der Politica angesprochen wird6. Er zielt darauf ab, den zu politischen Theorie des Johannes Althusius, in: Politische Theorie des Johannes Althusius, hrsg. von Karl-Wilhelm Dahm (u. a.), 1988 (Rechtstheorie, Beih. 7), 577 ff. 2 Seelmann, Theologie und Jurisprudenz an der Schwelle zur Moderne. Die Geburt des neuzeitlichen Naturrechts in der iberischen Spätscholastik, 1997. 3 Dreitzel, Protestantischer Aristotelismus und absoluter Staat. Die Politica des Henning Arnisaeus (ca. 1575 – 1636), 1969, 87 ff. 4 Wyduckel, Einleitung, in: Althusius, Johannes, Politik. Übers. von Heinrich Janssen. In Auswahl hrsg., überarb. u. eingel. von D. Wyduckel, 2003, XV ff. 5 Vgl. Wyduckel, Kaiserliche und ständische Positionen im Ius publicum des Reiches, in: Die Anfänge des öffentlichen Rechts, 3, Auf dem Wege zur Etablierung des öffentlichen Rechts zwischen Mittelalter und Moderne, hrsg. von Gerhard Dilcher und Diego Quaglioni. Bologna/Berlin 2011, 725 ff. 6 Politica Methodicè digesta atque exemplis sacris et profanis illustrata; Cui in fine adjuncta est Oratio panegyrica De necessitate, utilitate et antiquitate scholarum.Editio tertia, duabus prioribus multo auctior, Herborn 1614, 2. Neudr. der 3. Aufl. Herborn 1614, Aalen: Scientia 1981, zuerst Herborn 1603.

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behandelnden Gegenstand, d.i. das Zusammenleben der Menschen in Gemeinschaft, methodisch angeleitet zu präsentieren – Politica methodice digesta! – mit der Folge, dass der gesamte Stoff entsprechend aufbereitet und gegliedert wird. Diesem Ziel dienen auch die den einzelnen Kapiteln in der dritten, endgültigen Auflage der althusischen Politik vorangestellten Übersichten sowie die nach Paragraphen geordnete Präsentation des Gedankengangs. Verdeutlichende Schaubilder und Schemata tragen dazu bei, die inhaltliche Konzeption systematisch durchsichtig und nachvollziehbar zu machen. Wie sehr Althusius an der Gliederung und Durcharbeitung des Stoffs gelegen ist, erhellt auch daraus, dass er von der ersten Auflage der Politica 1603 bis zur endgültigen Fassung 1614 sowohl formal als auch inhaltlich an der aus seiner Sicht optimalen Präsentation weiter arbeitet und um die jeweils richtige Darstellung und Präsentation des zu behandelnden Stoffs ringt. So zeugt die Genese seines politischen wie seines rechtlichen Werks von einem systematisch-methodischen Bemühen, dem es darum zu tun ist, den Stoff immer wieder neu zu gliedern und zu durchdenken und so einem dynamischen Erkenntnisprozess zu folgen, der sich bei aller Strenge im Grundsätzlichen auch inhaltlichen Modifikationen nicht verschließt7. Die Politica des Althusius war schon zu seiner Zeit nicht unumstritten und gerät seit der Mitte des 17. Jahrhunderts weitgehend in Vergessenheit, bis sie gegen Ende des 19. Jahrhunderts durch Otto von Gierke im Rahmen seiner genossenschaftsrechtlichen Untersuchungen neu entdeckt wurde. Gierke erkannte den politiktheoretischen Ansatz des Althusius durchaus, vereinnahmte die Politica jedoch zu einseitig juristisch, die er dem naturrechtlich-staatstheoretischen Kontext zuordnete8. Dies vorausgeschickt ist zunächst der Blick auf Leben und Wirken des Althusius zu richten, um daran Überlegungen zur Bedeutung und Wirkung seines politiktheoretischen Werks anzuschließen. II. Leben und Wirken des Althusius im Horizont seiner Zeit Althusius ist, einer bäuerlichen Familie entstammend, im Jahre 1563 in Diedenshausen in der Grafschaft Wittgenstein-Berleburg geboren. Gefördert durch seinen Landesherrn Graf Ludwig d. Ä. von Sayn-Wittgenstein besucht er zunächst das Pädagogium zu Marburg, wo er im Sommer 1577 eingeschrieben ist9. Der weitere Aus7 Siehe Odermatt, Erst- und Drittausgabe der Politica im Vergleich. Zu den Entstehungsbedingungen politischer Theorie, in: Subsidiarität als rechtliches und politisches Ordnungsprinzip in Kirche, Staat und Gesellschaft, hrsg. von P. Blickle (u. a.), 2002 (Rechtstheorie, Beih. 20), 291 ff.; Scattola, Von der maiestas zur symbiosis. Der Weg des Johannes Althusius zur eigenen politischen Lehre in den drei Auflagen seiner Politica methodice digesta, in: Politische Begriffe und historisches Umfeld in der Politica des Johannes Althusius, hrsg. von E Bonfatti (u. a.), 2002, 211 ff. 8 Otto von Gierke, Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien (zuerst 1880), 7. Auflage, Aalen 1981. 9 Holzhauer, Hat Althusius in Marburg studiert?, in: Politische Theorie des Johannes Althusius (Fußn. 1), 109 ff.

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bildungs- und Studiengang liegt im Dunkeln. Sicher ist, dass Althusius in Köln studiert hat, wo seine Anwesenheit für das Jahr 1581 verbürgt ist10. Über den weiteren Fortgang der Studien des Althusius ist Genaueres nicht bekannt. Spätestens seit 1585 hält er sich in Basel auf, wo er Eingang in den Humanistenkreis um den Juristen Basilius Amerbach gefunden zu haben scheint. Ein Studienaufenthalt in Genf im Winter 1585/86 mit Kontakten zu den bedeutenden französischen Juristen Dionysius Gothofredus und François Hotman ist möglich, aber nicht nachgewiesen. Althusius schließt seine Studien in Basel mit der Promotion zum Doktor beider Rechte ab, indem er Ende Juni/Anfang Juli 1586 46 Thesen über die Erbfolge ohne Testament vorlegt und verteidigt11. Noch im Laufe des Jahres 1586 erhält er einen Ruf an die Hohe Schule zu Herborn. Diese war 1584 von Graf Johann VI. (d. Ä.) von Nassau-Dillenburg, einem Bruder Wilhelms von Oranien, als calvinische Akademie gegründet und 1587 um eine juristische Fakultät erweitert worden12. Althusius wird als erster Jurist nach Herborn berufen. Die Berufung ist wohl nicht zuletzt dem Umstand zu verdanken, dass er inzwischen sein erstes größeres Werk, die seit der zweiten Auflage als Jurisprudentia Romana bezeichneten Iuris Romani libri duo abgeschlossen und 1586 in Basel publiziert hatte13. Althusius schien offenbar wie kein anderer geeignet und in der Lage, die theologisch-calvinistische Zielsetzung der Hohen Schule, wie sie zunächst von den Theologen Caspar Olevian und Wilhelm Zepper, darauf namentlich von Johannes Piscator vertreten wurde, in juristische und politiktheoretische Kategorien zu übertragen. Er nimmt seine Lehrtätigkeit Ende des Jahres 1586 auf, unterrichtet die Institutionen des Römischen Rechts, hält aber auch philosophische Lektionen ab. Althusius avanciert bald darauf, wahrscheinlich 1588, zum Professor juris und wird ein weiteres Jahr später zugleich zum gräflichen Rat ernannt14. 1592 folgt Althusius einem Ruf an die 1588 durch Graf Arnold IV. von Bentheim ins Leben gerufene calvinische Hohe Schule in (Burg-)Steinfurt im Münsterland, die für die Grafschaft und weit darüber hinaus eine der Herborner Hohen Schule vergleichbare Funktion hatte15. Althusius ist wohl bis Mitte 1596 in Steinfurt geblieben, wo er offensichtlich nicht nur mit großem Erfolg lehrte, sondern von Fall zu Fall auch

10 Vgl. die eigenhändige Eintragung auf dem Titelblatt seines Exemplars der Parva Naturalia des Aristoteles, Köln 1514 (heute in der Bibliothek des Theologischen Seminars Herborn). 11 Die sog. Intestaterbfolge: De successione ab intestato. Neuausgabe von Hans Thieme, Die Basler Doktorthesen des Johannes Althusius, in: FS Liermann, hrsg. von Obermayer, 1964, 297 ff. 12 Vgl. Menk, Die Hohe Schule Herborn in ihrer Frühzeit (1584 – 1660), 1981, 22 ff. 13 Althusius, Iuris Romani Libri duo, Basel 1586, ab1588 u.d.T. Jurisprudentia Romana 14 Vgl. im Einzelnen Carl Joachim Friedrich, Johannes Althusius und sein Werk im Rahmen der Entwicklung der Theorie von der Politik, 1975, 24 f. 15 Oskar Prinz zu Bentheim, Graf Arnold IV. von Bentheim und die Gründung der Hohen Schule zu Steinfurt, in: FS 400 Jahre Arnoldinum, 1988, 31 ff.

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in Rechts- und Verwaltungsangelegenheiten beratend beigezogen wurde16. Auf Drängen Johanns d. Ä. von Nassau-Dillenburg, der ihn nur ungern nach Steinfurt hatte ziehen lassen, kehrt Althusius an seine alte Wirkungsstätte zurück. Diese war inzwischen von Herborn in das größere Siegen verlegt worden, wo er seine Tätigkeit wohl im Sommer 1596 wiederaufnimmt. 1599 wird er in Siegen zum Rektor gewählt17. Im Zuge der Rückverlagerung der Hohen Schule von Siegen nach Herborn zieht auch Althusius im Frühjahr 1600 nach Herborn um, wo er 1602 erneut das Rektoramt bekleidet. In den Jahren nach seiner Rückkehr erlebt Althusius die wohl fruchtbarste Phase seiner wissenschaftlichen Tätigkeit. In dieser Zeit entsteht, geprägt von seinem politisch-rechtlichen und religiösen Umfeld, sein Hauptwerk, die Politica methodice digesta, deren erste Auflage in Herborn 1603 erschienen ist. Im Sommer des Jahres 1604 gibt Althusius seine Tätigkeit als Professor an der Hohen Schule zu Herborn auf, um Syndikus in Emden, dem Genf des Nordens, zu werden, einer Stadt, die an der Wende vom 16. zum 17 Jahrhundert im politischen Kräftefeld der um ihre Selbständigkeit ringenden Niederlande einerseits, des lutherischen Grafenhauses andererseits, steht18. Althusius tritt sein Amt in Emden im August 1604 an. Er steht als erster Beamter der Stadt zwischen Magistrat, dem er ohne eigenes Stimmrecht angehört, und den übrigen städtischen Amtsträgern. Seine Aufgaben als Syndikus sind vielfältig. Sie umfassen neben der allgemeinen Beratung des Magistrats insbesondere die rechtliche und politische Vertretung der Stadt. Althusius ist zudem zuständig für den gesamten Schriftverkehr des Magistrats. 1617 wird er Mitglied und Ältester des Emder Kirchenrats. Ihm fällt damit eine Machtstellung zu, die nicht von ungefähr mit der Calvins in Genf verglichen worden ist19. Als Syndikus setzt Althusius sich im Innern für eine Stärkung des Emder Magistrats ein. Im Verhältnis zur Kirche und ihren Institutionen hat er bei prinzipieller Betonung des christlich-calvinischen Elements auch in politischen Fragen praktisch einer Vermengung geistlicher und weltlicher Ämter und Interessen vorzubeugen gesucht, indem er sich kirchlichen Tendenzen, auf das Stadtregiment Einfluss zu nehmen, widersetzte. Was die Außenbeziehungen Emdens angeht, erweist sich Althusius als energischer Vorkämpfer einer weitgehend unabhängigen und freien Stadtrepublik. 16

Vgl. Warnecke, Althusius und Burgsteinfurt, in: Politische Theorie des Johannes Althusius (Fußn. 1), 147 ff. 17 Friedrich, Althusius (Fußn.14), 25 f. 18 Vgl. Antholz, Die politische Wirksamkeit des Johannes Althusius in Emden, 1955; Kappelhoff, Geschichte der Stadt Emden, Bd. 2: Emden als quasiautonome Stadtrepublik 1611 bis 1749, Leer 1994, 160 ff., sowie den Forschungsbericht von Malandrino, Il Syndikat di Johannes Althusius a Emden. La ricerca, in: Il pensiero politico 28 (1995), 359 ff. 19 Kappelhoff, Emden (Fußn. 18), 439 f.; Antholz, Die politische Wirksamkeit (Fußn. 18), 81.

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Im Rahmen des ostfriesischen Ständekampfes tritt Althusius zum einen als Sachverwalter spezifisch Emder Interessen hervor, insbesondere auf den Gebieten des Finanz-, Gerichts- und Landtagswesens, zum anderen als Verteidiger ständischer Interessen schlechthin, die er mit Blick vor allem auf den zweiten und dritten Stand der Städte und Bauern gegen Übergriffe sowohl des Grafen als auch des Landadels zu behaupten sucht. Die auf der Unabhängigkeit und Selbständigkeit der Stadt Emden abzielende Politik des Althusius orientiert sich vor allem an den im Freiheitskampf gegen Kaiser und Reich stehenden niederländischen Generalstaaten. Sie sind die Garantiemacht der Emder Verfassung. Umgekehrt ist Emden eine der wichtigsten niederländischen Außenbastionen. Auf zahlreichen Gesandtschaften hat Althusius im Haag die Emder Interessen nicht ohne Probleme, im Ganzen jedoch erfolgreich vertreten20. Es ist nicht zuletzt sein Verdienst, wenn Emden von den Wirren und Leiden des Dreißigjährigen Krieges weitgehend verschont blieb. Neben der Bewältigung praktisch-politischer Aufgaben treibt Althusius sein wissenschaftliches Werk voran und bringt es zum Abschluss. Im Jahre 1610 publiziert er die zweite Auflage seiner Politica, in der die politischen Erfahrungen der Emder Zeit, namentlich in den Passagen über die Territorialverfassung, ihren Niederschlag gefunden haben. Dieser Ausgabe ist ein neues Schlusskapitel über das Widerstandsrecht hinzugefügt, das vor dem Hintergrund des Ständekampfes besondere Aktualität besitzt und überdies zeigt, wie Althusius theoretische Reflexion und praktische Politik – mitunter nicht ohne Rigorismus und Eigensinn – miteinander zu verbinden wusste21. Eine dritte, endgültige Auflage, die Korrekturen und Ergänzungen, vor allem aber weiteres Schrifttum und zusätzliche Belege enthält, erscheint 161422. Auch die Jurisprudentia Romana, die er bereits in früheren Jahren mehrfach überarbeitet hatte, erfährt eine erneute Umgestaltung. Althusius baut sie zu einer Allgemeinen Rechtslehre auf römischrechtlicher Grundlage aus, die 1617 unter dem Titel Dicaeologica publiziert wird23. Althusius scheint bis ins hohe Alter tätig gewesen zu sein. Ein Landtagsbesuch ist letztmalig für 1635 verbürgt. Seine Geschäfte in der Stadt hat er offenbar bis zum

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Antholz, Die politische Wirksamkeit (Fußn. 18), 123 f., 218. Zur nicht unumstrittenen Beurteilung seiner Leistung für Emden und Ostfriesland siehe Antholz, Johannes Althusius als Syndicus Reipublicae Embdanae. Ein kritisches Repetitorium, in: Politische Theorie des Johannes Althusius (Fußn. 1), 67 ff., sowie Deeters, Geschichte der Stadt Emden von 1576 bis 1611, in: Geschichte der Stadt Emden, Bd. 1, 1994, 271 ff. (317 ff.) einerseits Behnen, „Status regiminis provinciae“. Althusius und die „freie Republik Emden“ in Ostfriesland, in: Konsens und Konsoziation in der politischen Theorie des frühen Föderalismus, hrsg. von Giuseppe Duso (u. a.), 1997 (Rechtstheorie, Beih. 16),139 ff., andererseits. 22 Siehe Fußn. 6 23 Dicaeologicae Libri Tres, Totum et universum Jus quo utimur, methodice complectentes, Herborn 1617, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1649, Neudruck 1967. 21

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Ende des Jahres 1637 weitergeführt24. Am 12. August 1638 ist er in Emden gestorben. III. Das politiktheoretische Werk des Althusius: Die Gemeinschaft als Ausgangspunkt und Grundlage des politisch-rechtlichen Zusammenlebens Zentralbegriff der politischen Theorie des Althusius ist der sperrige, nicht eben leicht ins Deutsche zu übersetzende Begriff der consociatio25. Der Wiederentdecker des Althusius, Otto von Gierke, stieß im Rahmen seiner genossenschaftsrechtlichen Forschungen nicht zufällig auf die Lehre des Althusius. In der Tat weist die althusische Politica ebenso genossenschaftsrechtliche und korporative wie gesellschaftsvertragliche Anknüpfungspunkte auf26, auch ist die bürgerliche Gesellschaft als societas civilis Althusius durchaus nicht fremd27. Doch ist das wissenschaftliche Vorhaben des Althusius weit umfassender angelegt und verfolgt ein politiktheoretisches Ziel, in dem die Gemeinschaft (communio) und die Vergemeinschaftung (communicatio) zentral sind28. Gierke hat das in seiner Beschäftigung mit Althusius sehr wohl gesehen und auf den durchgehenden und die Argumentation tragenden Aspekt der Gemeinschaft hingewiesen, der zudem durch die Vorstellung eines gleichsam naturwüchsigen symbiotischen Zusammenlebens gestützt und unterfangen wird29. Nicht von ungefähr bezeichnet Althusius die Glieder der Gemeinschaft gleich zu Beginn der Politica als Symbioten – symbiotici –, die als politisch in wechselseitiger Teilhabe Zusammenlebende identifiziert werden30. Dem steht im Hinblick auf die Würdigung der Politischen Theorie des Althusius auch Carl Joachim Friedrich nahe, der der Althusius-Forschung seit den dreißiger Jahren von Harvard aus Auftrieb gegeben31 und in den fünfziger Jahren ausgehend von Heidelberg die deutsche Politikwissenschaft unter Einschluss des althusischen Gemein-

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Vgl. Antholz, Die politische Wirksamkeit (Fußn. 18), 218. Siehe zur Begrifflichkeit Cornel Zwierlein, Consociatio, in: Politisch-rechtliches Lexikon der Politica des Johannes Althusius, hrsg. von Corrado Malandrino u. D. Wyduckel, 2010, 175 ff. 26 So z. B., wenn er die politische consociatio als aus einem ausdrücklichen oder stillschweigenden Vertrag der Einzelnen hervorgegangen ansieht (Politica [Fußn. 6], Kap. I, § 2). 27 Althusius, Politica (Fußn. 6), Kap. I § 13. 28 Althusius, Politica (Fußn. 6), Kap. I §§ 7 ff. 29 Siehe z. B. Gierke, Althusius (Fußn. 8), 18 ff. (19, 21) sowie Malandrino, Symbiosis, in: Politisch-rechtliches Lexikon (Fußn. 25), S. 339 ff. (342). 30 Althusius, Politica (Fußn. 6), Kap. I §§ 2 ff, 6. 31 Politica Methodice digesta of Johannes Althusius (Althaus). Reprinted from the Third Edition of 1614. Augmented by the Preface of the First Edition of 1603 and by 21 hitherto Unpublished Letters of the Author. With an Introduction by Carl Joachim Friedrich, Cambridge: Harvard University Press 1932. (Harvard Political Classics, Vol. 2). 25

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schaftsdenkens befruchtet hat, ohne dabei allerdings den Genossenschafsbezug ganz ausschließen zu wollen32. Es geht Althusius nach allem um nichts weniger als eine Neubegründung der Politik als Wissenschaft im Spannungsfeld der Disziplinen, insbesondere um ihre Abgrenzung von Jurisprudenz, Theologie und Philosophie. Methodenfragen kommt damit eine gesteigerte Bedeutung zu. Wollte man von bisherigen Denkgewohnheiten abweichen, so bedurfte es einer Auseinandersetzung vor allem mit dem tradierten Aristotelismus, der im Wandel begriffen war und sich als Neu- oder Spätaristotelismus der Frage nach der Eigenständigkeit politischen Handelns zuwandte, wie sie etwa sein Helmstedter Zeitgenosse Henning Arnisaeus gestellt hatte33. Die Politik des Althusius stellt hierzu einen Gegenentwurf dar34. Dies darf nicht im Sinne eines prinzipiellen Gegensatzes zur Politik des Aristoteles missverstanden werden. Alle Politikwissenschaft ist insoweit aristotelisch, als sie vom Menschen als einem auf Gemeinschaft angelegten Wesen ausgeht. Die Wendung gegen den politischen Neuaristotelismus ist für Althusius vielmehr in erster Linie eine methodologische, die dem Formalismus der scholastischen Syllogistik mit einem neuen Wissenschaftsverständnis zu begegnen sucht. Die Methode steht dabei mit der inhaltlichen Darstellung in engem Zusammenhang, ja geht ihr systematisch voraus. Unter den Methodenansätzen der Zeit kommt seit der Mitte des 16. Jahrhunderts der ramistischen Logik als Gegenentwurf eine besondere Bedeutung zu. Der reformierte Philosoph Petrus Ramus hatte den tradierten aristotelischen Syllogismus angegriffen und durch eine neue dialektische, sich mehr an Platon orientierende Logik des Definierens und dichotomischen Zergliederns ersetzt35. Diese Methode findet schnell Anklang und Verbreitung und führt zur Revolutionierung des tradierten Wissenschaftsverständnisses36. Ramisten verbinden ein hohes Interesse an definitorischer Klarheit mit dem Willen zur Durchsichtigkeit des begrifflich-systematischen Zusammenhangs, der sich nicht zuletzt darin äußert, dass den betreffenden Werken regelmäßig umfangreiche Tabellen und Gliederungsschemata vorangestellt werden. Im ramistisch geprägten Denken kommt so eine sezierende Vernunft37 zum Vor32 Friedrich in der Introduction zu Politica Methodice digesta of Johannes Althusius (Fußn. 31); XV ff. (LXXIV) und ders., Althusius (Fußn. 14), siehe insbes. die Überschrift zu Kap. V, 90. 33 Dreitzel, Protestantischer Aristotelismus (Fußn. 3), 116 ff. 34 Althusius ist also anders, als Horst Denzer meint, nicht dem Spätaristotelismus zuzurechnen (Pipers Handbuch der politischen Ideen, hrsg. von Fetscher u. Münkler, Bd. 3, 1985, 242). 35 Vgl. Strohm, Theologie und Zeitgeist. Beobachtungen zum Siegeszug der Methode des Petrus Ramus am Beginn der Moderne, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 110 (1999), 352 ff. (358). 36 Siehe Ong, Ramus. Method, and the Decay of Dialogue. From the Art of Discourse to the Art of Reason. With a new Foreword by Adrian Johns, Chicago, Ill. 2004, 296 ff., sowie Robinet, Aux sources de l’esprit cartésien. L’axe La Ramée-Descartes de la Dialectique de 1555 aux Regulae, 1996 (De Pétrarque à Descartes, 60), 11. 37 Strohm, Theologie und Zeitgeist (Fußn. 35), 358.

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schein, die die recta ratio im ciceronischen Verständnis hinter sich lässt oder dieser doch einen neuen, ganz anderen, formalen Sinn verleiht. Althusius legt die ramistische Methode sowohl seiner Politik- als auch seiner Rechtslehre in expliziter Weise zu Grunde. Dabei wird der Ramismus im Allgemeinen viel weniger konsequent durchgeführt als programmatisch vorgegeben. Dies war auch schwierig, weil die ramistische Logik selbst uneindeutig blieb, wozu ihre mehrfache Umgestaltung nicht unerheblich beitrug38. Jedoch kommt es darauf eben so wenig entscheidend an wie auf die Frage, ob die neue Methode der hergebrachten Syllogistik wirklich überlegen war (was aufgrund ihres starren Schematismus füglich zu bezweifeln ist), da sie jedenfalls die Möglichkeit bot, sich von bisherigen Denkweisen zu lösen und damit zugleich neue Inhalte zu vermitteln. Dem Ramismus fällt so, auch wenn er mehr Überleitungscharakter hat und sich nicht dauerhaft behaupten konnte, für Politik, Jurisprudenz und Theologie eine wichtige Schlüsselfunktion zu. Es ist aber nicht das Zergliederungsinteresse allein, das den Ramismus kennzeichnet. Das ihm darüber hinaus eigene systematische Moment zielt darauf ab, verschiedene wissenschaftliche Materien möglichst trennscharf unterschiedlichen Fachdisziplinen zuzuordnen, so deren Eigenständigkeit zu erweisen und sie zugleich voneinander abzugrenzen, um nicht, wie Althusius betont, „in einer fremden Ernte zu mähen“39. Auch wenn man Althusius in einzelnen Zuordnungen nicht immer folgen wird, so tritt das methodisch-systematische Anliegen in seinem Werk doch deutlich hervor, das sowohl für seine Politik als auch für seine Rechtslehre charakteristisch ist. Gewiss trägt die Politica deutlich die Handschrift des professionellen Juristen, jedoch legt Althusius gesteigerten Wert darauf, die politikwissenschaftliche Argumentation von juristischen – ebenso übrigens wie von theologischen – Vor- und Spezialfragen zu entlasten, indem er im Rahmen seiner Darlegungen kenntlich macht, wann und inwieweit es sich um spezifische Probleme eben jener anderen Disziplinen handle, auf die deshalb vorliegend nicht näher einzugehen sei. Der systematisch angeleitete Zugriff hat zugleich zur Folge, dass die zahlreich angeführten Beispiele mehr dienende Funktion haben, d. h. nicht wie in den zeitgenössischen Exemplasammlungen, mehr oder minder geordnet aneinandergereiht sind, sondern in den argumentativen Zusammenhang einbezogen werden. Der Gedankengang gewinnt so an Stringenz, da die Beispiele im Wesentlichen der Illustration dienen – exemplis illustrata! – ohne ihn zu hemmen oder zu stören. Ist so wissenschaftssystematisch zwischen Politik, Jurisprudenz, Philosophie, insbesondere Ethik und Theologie zu trennen, so fragt sich, wie die Abgrenzung im Einzelnen vorzunehmen ist. Althusius leugnet nicht, dass Theologie und Philosophie als gleichsam vor die Klammer gezogene Disziplinen wichtige Vorfragen zu klären haben, die sich ihm im Hinblick auf die göttliche Offenbarung und das natürliche Sittengesetz in jeder praktischen Wissenschaft stellen, doch bleibt die Umsetzung 38 39

Ong, Ramus (Fußn. 36), 299. Althusius, Politica (Fußn. 6), Vorwort zur Ausgabe von 1603, Bl. 3 v.

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auf Fragen des Gemeinschaftslebens ganz Aufgabe der Politik40. Die fachsystematische Zuständigkeit fällt insoweit der Politikwissenschaft zu, die die Ordnung des Gemeinschaftslebens der Menschen mit Recht als den ihr eigentümlichen Gegenstand betrachtet. Die von Althusius mit den theologischen Fachkollegen Johannes Piscator, Wilhelm Zepper und Matthias Martinius in Herborn im Laufe des Jahres 1601 geführte Auseinandersetzung über die Geltung und Bedeutung des göttlichen Rechts im politischen Gemeinwesen lässt auf diesem Hintergrund deutlich werden, dass er bei aller Konzilianz offenbar nicht bereit war, in politicis eine theologischbiblizistische Position hinzunehmen und zwar nicht nur deshalb, weil dies seinen wissenschaftssystematischen Grundsätzen widersprochen hätte, sondern auch, weil damit die Deutungshoheit in politischen Fragen zu einem erheblichen Teil der Theologie zugefallen wäre41. Die Politica des Althusius ist auf diesem Hintergrund nicht theologisch gemeint oder gar der politischen Theologie zuzuordnen, sondern ein genuin politiktheoretisches Werk. Es geht ihm gerade nicht um die Vermengung, sondern die Abgrenzung der Perspektiven, die ein Grundanliegen seiner Rechts- und Politiklehre darstellt, ohne dass dabei auf die notwendige Kooperation der Disziplinen verzichtet werden müsste42. Dies gilt auch für die überbordenden Bibelzitate, die nicht politisch-theologisch, sondern politiktheoretisch gemeint sind. IV. Herrschaftliche Gewalt, Recht und Souveränität Auch die althusische Gemeinschaft bedarf der Herrschaft, um ein geordnetes Zusammenleben ihrer Glieder zu gewährleisten. Dabei bleibt die Gemeinschaft als Inbegriff des politischen Zusammenlebens Ausgangs- und Zurechnungspunkt der weiteren Überlegungen. Glieder der Gemeinschaft sind sowohl Einzelne (singuli) als auch private und öffentliche Korporationen, so dass es sich eher um eine Souveränität der Gemeinschaft als um eine solche des Volkes handelt. Letztere ist zwar an- und mitgedacht, aber nicht aus- und durchgeführt, weil sie durch den Gemeinschaftsaspekt überlagert wird. Die Gemeinschaft findet ihre politisch-rechtliche Struktur im Gemeinwesen, der Respublica. Konstitutiv für das Insgesamt des Gemeinwesens ist der Konsens eng miteinander verbundener Glieder, der seinen Niederschlag wiederum in ausdrücklichen oder stillschweigenden Vereinbarungen und Versprechen findet43. Dieser sozialstrukturelle Zusammenhang ist stufenförmig von den kleineren zu den größeren 40

Siehe ebd. Vgl. P. Münch, Göttliches oder weltliches Recht? Zur Kontroverse des Johannes Althusius mit den Herborner Theologen (1601), in: Stadtverfassung, Verfassungsstaat, Pressepolitik. FS Naujoks, hrsg. von Quarthal u. Setzler1980, 16 ff. 42 Wyduckel, Einleitung (Fußn. 4), XXXIV ff.; ders., Konfession und Jurisprudenz bei Althusius, in: Konfessionalität und Jurisprudenz in der frühen Neuzeit, hrsg. von Christoph Strohm u. Heinrich de Wall, 2009, 167 ff. (182 ff.). 43 Althusius, Politica (Fußn. 6), Kap. IX § 7. 41

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Gliedern in eine Herrschafts-, Regierungs- und Verwaltungsstruktur eingelagert, die dem Ganzen im politischen Sinn Leben gibt. Alle Gemeinschaften, selbst die kleinsten, die Althusius in den Blick nimmt, sind politischer Natur44. Die Seele und das verbindende Moment der umfassenderen öffentlichen politischen Gemeinschaft ist die einheitsstiftende Souveränität, die im Konsens der Glieder Ausdruck findet, d. h. darin, ein Reich unter einem Recht zu begründen45. Althusius nimmt den Souveränitätsbegriff als entscheidende Kategorie des Gemeinwesens also auf, betont die Unveräußerlichkeit und Unteilbarkeit der Souveränität und nimmt ihr so nichts von ihrer grundsätzlichen Schärfe46, ja macht sie zum zentralen Punkt des politischen Gemeinwesens, spricht sie allerdings anders als sein älterer Zeitgenosse Jean Bodin nicht einem Einzelnen, also nicht dem Herrscher, sondern allen gemeinsam zu47. Er kommt damit der Vorstellung einer Souveränität des staatlichen Gemeinwesens nahe und zwar sehr viel näher als Bodin. Dass unter diesen Voraussetzungen der Herrscher nicht Inhaber souveräner Gewalt sein kann, leuchtet ein und wird von Althusius immer wieder betont. Lediglich ihre Ausübung kann dem Herrscher überlassen werden, den Althusius jedoch nicht personalisierend, sondern im abstrahierenden Begriff des obersten Magistrats (summus magistratus) erfasst48. Er wird von der Gesamtheit bzw. deren Vertreter aufgrund der Gesetze hierzu bestellt49. Seine Einsetzung geschieht durch einen Rechtsakt, der die Modalitäten sowie die Art und Weise der Herrschaft festlegt. Dieser Rechtsakt hat vertraglichen Charakter, ist jedoch nicht ohne weiteres mit dem herkömmlichen Herrschaftsvertrag gleichzusetzen, sondern stellt ein Auftragsverhältnis (pactum sc. contractus mandati) dar mit der Folge, dass die Gesamtheit stets Inhaberin der Herrschaftsgewalt bleibt, d. h. frei darüber verfügen kann50. Die magistratische Regierung bezieht ihre Legitimation also nicht aus eigenem, sondern aus fremdem Recht51. Unter diesen Voraussetzungen kann eine absolute Herrschaftsgewalt nicht in Betracht kommen. Anders als in der rechtlichen und politischen Lehre des Absolutismus ist jegliche Herrschaftsgewalt für Althusius eine immer schon gebundene und rechtlich vorgeformte (potestas limitata, potestas alligata)52. Absolut kann die Herrschaftsgewalt deshalb nicht sein, weil in jedem Gesetz etwas von der unveränderlichen natürlichen und göttlichen Gerechtigkeit enthalten ist, so dass eine rechtliche 44

Althusius, Politica (Fußn. 6), Kap. III § 42. Althusius, Politica (Fußn. 6), Kap. IX §§ 15 ff. 46 Althusius, Politica (Fußn. 6), Kap. IX § 19, Kap. XXXVII § 52, XXXVIII § 127, XXXIX § 36. 47 Althusius, Politica (Fußn. 6), Kap. IX § 18. 48 Althusius, Politica (Fußn. 6), Kap. XXV. 49 Althusius, Politica (Fußn. 6), Kap. XIX §§ 1 ff., 24 ff. 50 Althusius, Politica (Fußn. 6), Kap. XIX §§ 6, 12. 51 Althusius, Politica (Fußn. 6), Kap. XIX § 4. 52 Althusius, Politica (Fußn. 6), Kap. XVIII § 106. 45

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Entbundenheit nicht in Betracht kommen kann53. Althusius steht damit in doppeltem Gegensatz zu seinem älteren Zeitgenossen Bodin, der die souveräne Gewalt als eine von den Gesetzen gelöste (legibus soluta potestas) definiert hatte, die er zudem nicht der Gesamtheit, sondern dem mit dem Gemeinwesen weitgehend identifizierten Herrscher zuerkannte54. Doch leugnet auch Althusius die Notwendigkeit einer souveränen Gewalt im Gemeinwesen keineswegs, konzipiert sie aber als eine rechtliche. Er spricht deshalb nicht von Souveränität schlechthin, sondern vom Recht der Souveränität (jus regni, jus majestatis)55. Dieses kommt im Gemeinwesen regelmäßig nicht unmittelbar zum Ausdruck, sondern ist ihm als eine statuierende bzw. konstituierende Gewalt (potestas juris regni statuendi) gleichsam vorgelagert56. Es steht den Gliedern des Gemeinwesens zu und ist für seinen Bestand und seine rechtliche Ordnung grundlegend. Darin klingt ein Verfassungsmoment an, das aller Herrschaftsgewalt eine Grundlage gibt. Die nähere Bestimmung des Verhältnisses von Herrscher und Volk ergibt sich aus grundlegenden rechtlichen Regelungen, die der Sache nach schon der spätmittelalterlichen Herrschaftstradition bekannt sind und sich seit Ausgang des 16. Jahrhunderts im Begriff des Fundamentalgesetzes, der lex fundamentalis, verdichten. Althusius nimmt diese, zu seiner Zeit bereits eingeführte Terminologie auf, gibt den Fundamentalgesetzen aber eine entschiedenere, begriffsschärfende Bedeutung als Inbegriff der die Herrschaft zugleich begründenden und begrenzenden rechtlichen Regeln. Im Zeichen dieses grundlegenden Gesetzes ist die umfassende Gemeinschaft im Gemeinwesen des Reichs eingerichtet, auf dieses stützt sie sich wie auf ein Fundament (tanquam fundamento nititur)57. Das Fundamentalgesetz ist aber nicht nur rechtliche Grundlage der Herrschaftseinsetzung, sondern hat zugleich eine föderale Funktion. Die lex fundamentalis ist nämlich Inbegriff von Verträgen, die die regionalen Gliederungen des Reichs – das sind vor allem Städte und Provinzen – mit dem erklärten Ziel eingehen, ein und dasselbe Gemeinwesen zu bilden und dieses mit Rat und Tat, Schutz und Hilfe aufrechtzuerhalten und zu verteidigen. So gelingt es, hierarchisch-vertikale und föderal-horizontale Gemeinschaftsbildung im Zeichen einer für das gesamte Reich grundlegenden Fundamentalnorm rechtlich miteinander zu verknüpfen. Auf diese Weise kann das Souveränitätspostulat aufrechterhalten und in modifizierter Form sowohl mit dem Ansatz einer gegliederten Ordnung als auch mit dem Gedanken rechtlicher und fundamentalgesetzlicher Bindung vereinbart werden. Hier, und nicht im Souveränitätskonzept Bodins, sind die Anfänge 53

Althusius, Politica (Fußn. 6), Kap. IX § 21. Jean Bodin, De Republica libri sex, ed. Frankfurt a.M. 1594, I 8, 123. Dazu näher Quaritsch, Staat und Souveränität, 1970, 243 ff. 55 Althusius, Politica (Fußn. 6), Kap. IX § 18. 56 Althusius, Politica (Fußn. 6), Kap. IX § 16. Siehe dazu Scupin, Demokratische Elemente in Theorie und Praxis des Johannes Althusius, in:. A Desirable World. Essays in Honor of Professor Bart Landheer, hrsg. von A.M.C.H. Reigersman (u.a), 1974, 67 ff. (75). 57 Althusius, Politica (Fußn. 6), Kap. XIX 49. 54

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eines spezifisch verfassungsrechtlichen Denkens zu suchen58. Hier werden zugleich die rechts- und politiktheoretischen Voraussetzungen eines föderalen Konzepts formuliert, das es ermöglicht, die verschiedenen Gemeinschaftsbildungen strukturell einzufangen und sowohl rechtlich als auch politisch einzuordnen59. Althusius schöpft bei alldem aus einer Vielzahl von Quellen. Präsent ist das einschlägige Wissen der Zeit unter Einschluss der antiken und mittelalterlichen Überlieferung60. Hinzu kommen zahlreiche Belege aus dem römischen und deutschen Recht. Althusius erweist sich hier als kenntnisreicher Jurist, dem die Legistik ebenso vertraut ist wie die Kanonistik61. Der Umgang mit dem überbordenden Material ganz unterschiedlicher Provenienz lässt eine Unbefangenheit der Argumentation erkennen, die sich keineswegs nur an Vertretern des eigenen Bekenntnisses orientiert, sondern weit darüber hinausweist, sofern es die politisch-rechtliche Zielsetzung erfordert. So bezieht Althusius sich zentral auf die Spanische Spätscholastik, vor allem Diego Covarruvias und Fernando Vázquez, denen er, wie zuerst die Forschungen Ernst Reibsteins gezeigt haben, in besonderer Weise verpflichtet ist62. Aber auch dem politischen Neustoizismus steht Althusius nahe, wie sein wiederholter Rekurs auf die Politica des Justus Lipsius zeigt63. Er bezieht darüber hinaus aber auch Autoren ein, die ihm konfessionell eher fern stehen, wie den – freilich moderaten – katholischen Juristen und politischen Philosophen Petrus Gregorius Tholosanus64, dies jedoch nur insofern, als sein eigenes politisch-theoretisches Ziel – das Zusammenleben der Menschen in Gemeinschaft und seine Begründung – hierdurch gefördert wird.

58

Wyduckel, Einleitung (Fußn. 4), S. XXIV. Thomas Hüglin, Sozietaler Föderalismus. Die politische Theorie des Johannes Althusius, 1991. Dazu meine Rezension in: Ius Commune 20 (1993), 429 ff. Siehe ferner Malandrino, Federalismo. Storia, idee, modelli, Rom 1998, 25 ff. 60 Siehe hierzu die Aufteilung und Gliederung der Literaturtypen bei Friedrich, Althusius (Fußn. 14), 40 ff. u. Frederick S. Carney, Translator’s Introduction, in: Althusius, Politica. An abridged translation, ed. by F. Carney, Indianapolis 1995, XXIV ff. 61 Von einer radikalen Verwerfung des gesamten kanonischen Rechts kann daher nicht die Rede sein. So aber Gierke, Althusius (Fußn. 8), 57. Siehe demgegenüber Friedrich, Althusius (Fußn. 14), 57 f. 62 Reibstein, Althusius als Fortsetzer der Schule von Salamanca, 1955, 17 ff., 209 ff., 216 ff. 63 Justus Lipsius (1547 – 1606), niederländischer Philologe, Humanist und Politiklehrer des Neustoizismus. Siehe seine: Politicorum sive civilis doctrinae libri sex, Lyon 1589 u. ö. 64 Petrus Gregorius Tholosanus (Pierre Grégoire de Toulouse), De Republica libri 26, Pont-à-Mousson 1596 u. ö. 59

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V. Das Recht zum Widerstand gegen tyrannische Gewalt Als Schlussstein seiner politischen Theorie sieht Althusius für den Fall, dass der Herrscher tyrannisch wird, ein Widerstandsrecht vor. Dieses Rechtsmittel gegen unrechtmäßige Ausübung herrschaftlicher Gewalt gehört zu den zentralen Partien seiner Politiktheorie, die der Politica jedoch erst seit der zweiten Auflage von 1610 hinzugefügt worden sind. Nicht zu Unrecht gilt die Diskussion um Grund und Grenzen legitimen Widerstandes als eine Domäne der sog. Monarchomachen, d. h. einer Gruppe von Autoren, die der in Frankreich lehrende schottische Jurist William Barclay in seiner 1600 erschienenen Schrift De regno et regali potestate in dieser Weise polemisch überzeichnend zusammengefasst und denen gegenüber er die monarchische Herrschaft zu verteidigen gesucht hatte65. In der Tat wird in der monarchomachischen Lehre ein Widerstandsrecht grundsätzlich bejaht, jedoch sind die Ansichten darüber, wann es zum Zuge kommt, wem es zusteht und wie weit es reicht, sehr unterschiedlich. Ausgangspunkt ist stets die Frage nach der Rechtmäßigkeit der Herrschaftsausübung, genauer: nach den Voraussetzungen, unter denen der Herrscher bei Überschreitung seiner Machtbefugnisse zum Tyrannen wird. Liegt ein derartiger Fall vor, so sind zunächst alle zu Gebote stehenden rechtlichen Mittel auszuschöpfen. Führen diese nicht zum Erfolg, so kann die – u. U. auch gewaltsame – Absetzung des Herrschers bis hin zur Tötung erlaubt sein66. Entscheidend für die Auslösung des Widerstandsrechts ist das zwischen Herrscher und Volk bestehende Vertragsverhältnis. Damit gewinnen die Fundamentalgesetze zentrale Bedeutung. Da der Herrscher dem Volk die Beachtung der leges fundamentales versprochen hat, wird die Rechtmäßigkeit der Herrschaftsausübung zur wesentlichen Legitimitätsbedingung67. Genau hier setzt Althusius an, indem er die Beachtung der Fundamentalgesetze anmahnt mit der Begründung, dass ihre Missachtung und Aufhebung notwendigerweise zur Tyrannis führt68. Das althusische Widerstandsrecht soll grundsätzlich nicht Individuen, sondern nur bestimmten Amtsträgern, i. d. R. Ständen und Magistraten zustehen, die bei Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen zur Ausübung berechtigt sind und von Althusius, reformiertem und monarchomachischem Sprachgebrauch folgend, als Ephoren, d.s. Wächter und Hüter des Gemeinwesens, bezeichnet werden69. Aber auch Privatleuten kann es erlaubt sein, vom Widerstandsrecht Gebrauch zu machen, 65

Wyduckel, Althusius und die Monarchomachen, in: Politische Begriffe (Fußn. 7), 133 ff. Althusius, Politica (Fußn. 6), Kap. XXXVIII §§ 63, 78. 67 Strohm, Ethik im frühen Calvinismus. Humanistische Einflüsse, philosophische, juristische und theologische Argumentationen sowie mentalitätsgeschichtliche Aspekte am Beispiel des frühen Calvin-Schülers Lambertus Danaeus, 1996, 363 ff. 68 Althusius, Politica (Fußn. 6), Kap. XXXVIII §§ 2, 5 f., 76. Siehe hierzu im Einzelnen Wyduckel, Althusius und die Monarchomachen (Fußn. 65), 142 ff. 69 Althusius, Politica (Fußn. 6), Kap. XXXVIII §§ 28 f. Dazu Saffo Testoni Binetti, Ephori, in: Politisch-rechtliches Lexikon (Fußn. 25), S. 201 ff. 66

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dies i. d. R. jedoch nur dann, wenn ein Aggressor als Tyrann ohne Rechtstitel in das Land einfällt70. Im Zweifel gilt auch hier, dass hinsichtlich der Untertanen ein gewisser Leidensdruck hinzunehmen ist und alle anderen Mittel der Abhilfe ausgeschöpft sein müssen71. Doch vermag Althusius dem niederländischen Politiklehrer Justus Lipsius, den er ansonsten sehr schätzt, nicht zuzustimmen, wenn dieser sagt, es sei weniger schlimm, einen Tyrannen zu ertragen, als ihn zu richten72. VI. Althusius und die Althusius-Forschung: Rückblick und Ausblick Nachdem die politische Lehre des Althusius im Zuge des aufsteigenden Absolutismus weitgehend in Vergessenheit geraten war, wird sie gegen Ende des 19. Jahrhunderts durch Otto von Gierke wieder aufgenommen73. Seitdem kommt die Althusius-Forschung nach und nach in Gang. In den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts wird dank der Initiative um den Kreis der Staatsrechtslehrer Hans Ulrich Scupin (1903 – 1990), Westfälische Wilhelms-Universität/Münster, und Ulrich Scheuner (1903 – 1981) Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, in Verbindung mit interessierten Kollegen, vor allem dem Historiker, Mitbegründer und langjährigen Mitherausgeber der Zeitschrift Der Staat, Gerhard Oestreich (1910 – 1978)74, die Johannes-Althusius-Gesellschaft e.V. gegründet75. Sie ist von Anfang an international und interdisziplinär ausgerichtet und beginnt ihre Arbeit mit einer bibliographischen Bestandsaufnahme76. Die Althusius-Gesellschaft fördert seither die internationale Althusius-Forschung mit wissenschaftlichen Projekten, Symposien und Tagungen. Inzwischen liegt dank der verdienstvollen Arbeit des Politikwissenschaftlers Corrado Malandrino und seiner Kollegen an der Università del Piemonte Orientale „A. Avogadro“ eine Lateinisch-italienische Gesamtausgabe der Politica des Althusius vor77. Seitens der Johannes-Althusius-Gesellschaft ist eine Lateinischdeutsche Gesamtausgabe der Politica in Vorbereitung, die demnächst erscheinen wird.

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Althusius, Politica (Fußn. 6), Kap. XXXVIII § 68. Althusius, Politica (Fußn. 6), Kap. XXXVIII §§ 53, 65, 28 f. 72 Althusius, Politica (Fußn. 6), Kap. XXXVIII § 70 73 Siehe oben unter Punkt I a.E. 74 Universität Hamburg, später Philipps-Universität Marburg. 75 Gesellschaft zur Erforschung der Naturrechtslehren und der Verfassungsgeschichte des 16. bis 18. Jahrhunderts. 76 Althusius-Bibliographie. Bibliographie zur politischen Ideengeschichte und Staatslehre, zum Staatsrecht und zur Verfassungsgeschichte des 16. bis 18. Jahrhunderts, hrsg. von Hans Ulrich Scupin und Ulrich Scheuner, bearb. von D. Wyduckel. 1973, 2 Bde. 77 Althusius, La Politica. Elaborata organicamente con metodo, e illustrata con esempi sacri e profani. A cura e con un saggio introduttivo di Corrado Malandrino, Torino: Claudiana 2009, 2 Bde. 71

III. Akzeptanzforschung und Mentalitätsgeschichte

Frühe Bürgerbeteiligung und Vorhabenakzeptanz Von Ivo Appel, Hamburg I. Einleitung Nicht erst seit „Stuttgart 21“ steht die Frage, wie Verfahren der Bürgerbeteiligung verbessert werden können, um mit Blick auf die zu treffenden Entscheidungen ein hinreichendes Maß an Akzeptanz zu schaffen, wieder weit oben auf der Tagesordnung.1 Nahezu einhellig wird eine angemessene und nicht zuletzt auch Akzeptanz schaffende Beteiligung der Bürger zu den maßgebenden Bausteinen und zum Gradmesser eines modernen Verfahrensrechts für Großprojekte gezählt.2 Gerade bei solchen größeren Projekten, die nicht nur eine Vielzahl politischer und wirtschaftlicher Interessen berühren, sondern auch in erheblichem Umfang in private Lebensverhältnisse und die Umwelt eingreifen, sollen Verfahren nicht nur so ausgestaltet sein, dass Konflikte minimiert und die Verfahren in angemessener Zeit abgeschlossen werden, sondern die Ergebnisse auch auf möglichst breite Akzeptanz stoßen. Damit knüpft die aktuelle Diskussion in vielfacher Weise an frühere Untersuchungen und Überle-

1

Vgl. nur Guckelberger, Formen der Öffentlichkeitsbeteiligung im Umweltverwaltungsrecht, VerwArch 2012, 31 ff.; Groß, Stuttgart 21: Folgerungen für Demokratie und Verwaltungsverfahren, DÖV 2011, 510 ff.; Schink, Bürgerakzeptanz durch Öffentlichkeitsbeteiligung in der Planfeststellung, ZG 2011, 226 ff.; ders., Die Wahrnehmung von Beteiligungsund Klagemöglichkeiten durch die Umweltverbände – Erfahrungen und Entwicklungsmöglichkeiten, ZUR 2011, 296 ff.; Steinberg, Die Bewältigung von Infrastrukturvorhaben durch Verwaltungsverfahren – eine Bilanz, ZUR 2011, 340 ff.; Wulfhorst, Konsequenzen aus „Stuttgart 21“: Vorschläge zur Verbesserung der Bürgerbeteiligung, DÖV 2011, 581 ff.; Durner, Möglichkeiten der Verbesserung förmlicher Verwaltungsverfahren am Beispiel der Planfeststellung, ZUR 2011, 354 ff.; Gärditz, Angemessene Öffentlichkeitsbeteiligung bei Infrastrukturplanungen als Herausforderung an das Verwaltungsrecht im demokratischen Rechtsstaat, GewArch 2011, S. 276 ff.; Böhm, Bürgerbeteiligung nach Stuttgart 21: Änderungsbedarf und -perspektiven, NuR 2011, 614 ff.; Schmehl, „Mitsprache 21“ als Lehre aus „Stuttgart 21“? Zu den rechtspolitischen Folgen veränderter Legitimitätsbedingungen, in: Festschrift für Hans-Peter Bull, 2011, S. 347 ff.; Wittreck, Demokratische Legitimation von Großvorhaben, ZG 2011, 209 ff.; Schönenbroicher, Irritationen um „Stuttgart 21“, VBlBW 2010, 466 ff.; Stüer/Buchsteiner, Stuttgart 21: Eine Lehre für die Planfeststellung?, UPR 2011, 335 ff.; Burgi, Das Bedarfserörterungsverfahren: Eine Reformoption für die Bürgerbeteiligung bei Großprojekten, NVwZ 2012, 277 ff.; Franzius, Stuttgart 21: Eine Epochenwende?, GewArch 2012, 225 ff.; Hien, Partizipation im Planungsverfahren, UPR 2012, 128 ff. 2 Auf umweltrelevante Projekte bezogen Guckelberger (Fußn. 1), 31 ff. mit weit. Nachw.

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gungen an, wie die Akzeptanz von Verwaltungsentscheidungen verbessert und Akzeptabilität als Leitlinie des Verwaltungshandelns rechtlich gestärkt werden kann.3 Eine frühzeitige(re) Bürgerbeteiligung zählt zu den Aspekten, die in der Diskussion um eine verbesserte Bürgerbeteiligung und die Schaffung von Akzeptanz immer wieder erörtert und angemahnt werden. Gerade die frühe Einbeziehung der Bürger soll dazu führen, dass sich Betroffene und Interessierte zu einem Zeitpunkt informieren und äußern können, zu dem einerseits über ein hinreichend konkretes Projekt gesprochen werden kann und andererseits noch keine grundlegenden (Vor)Entscheidungen getroffen wurden, so dass die Verwaltung glaubhaft unvoreingenommen und neutral gegenüber der Öffentlichkeit und dem Vorhabenträger auftreten kann. Unter dieser normativen Perspektive geht es zwar nicht um die Herstellung von Akzeptanz, wohl aber um die Verbesserung der Akzeptabilität des Verfahrens der Entscheidungsfindung und damit auch der in der Folge zu treffenden Sachentscheidung.4 Auch der Gesetzgeber, der trotz einer Vielzahl von Anregungen lange Zeit keinen Handlungsbedarf gesehen hatte, hat die frühe Bürgerbeteiligung mittlerweile aufgegriffen und zum Gegenstand seiner Reformgesetzgebung gemacht.5 Zu diesem Zweck soll die Verwaltung verpflichtet werden, auf eine frühzeitige Bürgerbeteiligung durch den Vorhabenträger hinzuwirken.6 3

Thomas Würtenberger hat frühzeitig und kontinuierlich an dieser Diskussion teilgenommen und sie durch eine Vielzahl von Anregungen geprägt. Vgl. nur Würtenberger, Akzeptanz von Recht und Rechtsfortbildung, in: Eisenmann/Rill (Hg.), Jurist und Staatsbewusstsein, 1987, S. 79 ff.; ders., Akzeptanz durch Verwaltungsverfahren, in: NJW 1991, S. 257 ff.; ders., Konfliktlösung durch Akzeptanz-Management, in: Zilleßen/Dienel/Strubelt (Hg.), Die Modernisierung der Demokratie, 1993, S. 72 ff.; ders., Konfliktschlichtung im Erörterungstermin, in: Kroeschell (Hg.), Recht und Verfahren, 1993, S. 183 ff.; ders., Entwurf einer Empfehlung zur Verbesserung der Akzeptanz von Verwaltungsentscheidungen, in: Verwaltungsreform in Baden-Württemberg, Anlagenband zum Ersten Bericht der Regierungskommission Verwaltungsreform, hrsg. vom Staatsministerium Baden-Württemberg, 1993, Anl. 8, S. 1 ff.; ders., Akzeptanz als Leitlinie des Verwaltungsermessens, in: Pichler (Hg.), Rechtsakzeptanz und Handlungsorientierung, 1998, S. 287 ff.; ders., Gemeinschaftsrecht als Akzeptanz-Neuland, in: Pichler (Hg.), a.a.O., S. 307 ff.; ders., Die Akzeptanz von Gesetzen, in: Soziale Integration, Sonderheft 39 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 1999, S. 380 ff.; ders., Die Akzeptanz von Gerichtsentscheidungen, in: Hof/Schulte (Hg.), Wirkungsforschung zum Recht III, 2001, S. 201 ff.; ders., Akzeptanzmanagement von Verwaltungsentscheidungen mittels Mediation, in: Ferz/Pichler (Hg.), Mediation im öffentlichen Bereich, 2003, S. 31 ff.; ders., Die Akzeptanz von Verwaltungsentscheidungen als verfahrensrechtliches Prinzip in der Europäischen Union, in: Planung – Steuerung – Kontrolle, FS Bartlsperger, 2006, S. 233 f. 4 Zur Unterscheidung von Akzeptanz und Akzeptabilität Pitschas, Maßstäbe, in: Hoffmann-Riem/Schidt-Aßmann/Voßkuhle (Hg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. II, 2. Aufl. 2012, § 42 Rn. 201 ff.; Franzius (Fußn. 1), 228. 5 Dies ist eine kleine Revolution, wenn man bedenkt, dass sich die Diskussion um die Bürgerbeteiligung bei Großverfahren seit Jahrzehnten an verschiedenen Großvorhaben entzündet hat und Ergebnisse umsetzungsbereit vorliegen. Vgl. Durner, Möglichkeiten der Verbesserung förmlicher Verwaltungsverfahren am Beispiel der Planfeststellung, ZUR 2011, 354 (356 f.). 6 Näher zu dieser Reformgesetzgebung und insbesondere zu § 25 Abs. 3 VwVfG unten IV.

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Vor diesem Hintergrund besteht aller Anlass, Bedeutung und Funktion einer frühen Bürgerbeteiligung in Verwaltungsverfahren und ihren Beitrag zur Steigerung von Vorhabenakzeptanz näher in den Blick zu nehmen und kritisch zu hinterfragen.7 Mit diesem Ziel sollen zunächst Bedeutung und Funktion der Öffentlichkeitsbeteiligung skizziert (unten II.) und sodann Faktoren benannt werden, die der Akzeptabilität von Verwaltungsverfahren gerade bei Großprojekten entgegenstehen können (unten III.). Anschließend soll die frühe Öffentlichkeitsbeteiligung als gegenwärtig wohl am stärksten diskutierter Baustein für eine Verbesserung der Bürgerbeteiligung nachgezeichnet und auf ihre Tragfähigkeit nicht zuletzt unter dem Gesichtspunkt der Akzeptabilität von Verwaltungsentscheidungen hin befragt werden (unten IV.). II. Bedeutung und Funktion der Bürgerbeteiligung in Verwaltungsverfahren Das Verwaltungsverfahrensgesetz unterscheidet mit Blick auf die Bewältigung von Großverfahren im Wesentlichen8 zwei auf den Erlass eines Verwaltungsakts gerichtete Verfahrenstypen. Das Standardverfahren nach §§ 35 ff. VwVfG sieht bislang zwar grundsätzlich keine Öffentlichkeitsbeteiligung vor. Sofern es jedoch bei umfangreicheren Genehmigungsverfahren – wie beispielsweise im immissionsschutzrechtlichen Anlagenzulassungsverfahren – in starkem Umfang durch die Vorschriften von Fachgesetzen wie dem Bundesimmissionsschutzgesetz modifiziert wird,9 ist regelmäßig auch die Beteiligung der Öffentlichkeit wesentlicher Bestandteil des Verfahrens. Von besonderer Relevanz für Großvorhaben ist das Planfeststellungsverfahren als gesetzlich vorgesehenes Regelverfahren für die Entscheidung über die Zulassung raumbeanspruchender Vorhaben.10 Kennzeichnend hierfür sind die Entscheidung im Wege der Abwägung und die strenge Formalisierung des Verfahrens, zu dessen maßgebenden Anforderungen auch eine förmliche Öffentlichkeitsbeteiligung zählt. In diesen Fällen ist die Öffentlichkeitsbeteiligung zentraler Bestandteil der einschlägigen Verwaltungsverfahren. Bedeutung und Funktion, die der Öffentlichkeitsbeteiligung in Verwaltungsverfahren zugeordnet werden, sind allerdings vergleichsweise heterogen. Völker- und europarechtliche Einflüsse11, aber auch allgemeinere Überlegungen zur Funktion 7

Die folgenden Ausführungen stützen sich in wesentlichen Zügen auf Überlegungen in Appel, Staat und Bürger in Umweltverwaltungsverfahren, in: Gesellschaft für Umweltrecht (Hg.), Dokumentation zur 35. Wissenschaftlichen Fachtagung der Gesellschaft für Umweltrecht e.V. Berlin 2011, 2012. 8 Nahezu bedeutungslos geblieben ist das einem Gerichtsverfahren angenäherte förmliche Verwaltungsverfahren (§§ 63 ff. VwVfG). 9 Vgl. nur §§ 10 ff., 19 BImSchG. 10 Sparwasser/Engel/Voßkuhle, Umweltrecht, 5. Aufl. (2003), § 4 Rn. 63. 11 Insbesondere die völkerrechtlich vereinbarte Aarhus-Konvention, die auch Deutschland und die EU ratifiziert haben, hat die Perspektive stark verändert; vgl. Aarhus-Konvention,

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von Öffentlichkeit in Verwaltungsverfahren haben nicht nur zu Forderungen nach mehr Öffentlichkeit und Öffentlichkeitsbeteiligung geführt, sondern auch die Erwartungen und die Funktionszuschreibungen für die Einbindung der Öffentlichkeit in Verwaltungsverfahren erweitert. Sichtet man die einschlägigen Veröffentlichungen, lässt sich ein Katalog unterschiedlicher, mehr oder weniger gesicherter Funktionen der Öffentlichkeitsbeteiligung zusammenstellen:12 – Informationstransferfunktion: Die Beteiligung der Öffentlichkeit dient in erster Linie dem Informationstransfer zugunsten der Entscheidungsträger. Die materiellen Voraussetzungen sollen auf einer möglichst umfassenden Erkenntnisgrundlage geprüft und die Sachentscheidungen unter Berücksichtigung aller relevanten Belange getroffen werden können.13 – Richtigkeitsgewährleistungsfunktion: Durch Sicherstellung einer angemessenen Entscheidungsgrundlage soll die Beteiligung nicht zuletzt dort, wo das materielle Recht zurückgenommen regelt und Spielräume belässt, eine erhöhte Gewähr für die Richtigkeit von Verwaltungsentscheidungen bieten. – Ausgleichsfunktion: Der Beteiligung wird auch eine Ausgleichsfunktion in dem Maße zugeschrieben, in dem sie ein gewisses Gegengewicht zur oft starken Position des Antragsstellers bzw. Vorhabenträgers schaffen kann. – Legitimationsfunktion: Die Beteiligung soll es den Bürgern ermöglichen, sich über das Verfahren und die Planung zu informieren und Einwände zu äußern. Indem die potenziell Betroffenen in die Entscheidungsfindung einbezogen und ihre Einwände bei der Entscheidungsfindung nachvollziehbar berücksichtigt werabrufbar unter: http://www.bmu.de/umweltinformation/downloads/doc/2875.php (Stand: 15. Juni 2012). 12 Eine Auflistung einzelner Funktionen der Öffentlichkeitsbeteiligung findet sich beispielsweise im jüngst vom Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (BMVBS) veröffentlichen Handbuch für gute Bürgerbeteiligung (BMVBS, Handbuch für gute Bürgerbeteiligung (Entwurf), abrufbar unter: http://www.bmvbs.de/SharedDocs/DE/Artikel/ UI/handbuch-buergerbeteiligung.html, Stand 15. Juni 2012); vgl. aber auch Roßnagel, Der Bürger im umweltrechtlichen Anlagenzulassungsverfahren, in: Dolde (Hg.), Umweltrecht im Wandel, 2001, 997 ff.; Schmidt-Aßmann/Ladenburger, Umweltverfahrensrecht, in: Rengeling (Hg.), Handbuch zum europäischen und deutschen Umweltrecht, Band I, Allgemeines Umweltrecht, 2. Aufl. 2003, § 18 Rn. 23 ff.; Schink (Fußn. 1), 230 f.; allgemein zu den Funktionen des Verwaltungsverfahrens Pünder, Verwaltungsverfahren, in: Erichsen/Ehlers (Hg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 15. Aufl. 2011, § 13 Rn. 14; Trute, Die demokratische Legitimation der Verwaltung, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts Bd. I, 2. Aufl. 2012, § 6 Rn. 47 ff.; zusammenfassend zu den Funktionen in der hier wiedergegebenen Zusammenstellung Appel (Fußn. 7), Manuskript S. 7 ff. 13 Die konkrete Ausgestaltung der gegenwärtigen Regelung in § 73 VwVfG ist auch und vor allem darauf gerichtet, das für die abschließende Abwägungsentscheidung erforderliche Wissen bei der Planfeststellungsbehörde zu generieren, insbesondere, die abwägungserheblichen Belange zu ermitteln (Kopp/Ramsauer, VwVfG, 11. Aufl. (2010), § 73 Rn. 5). Dies zeigt sich schon daran, dass § 73 Abs. 4 S. 1 VwVfG nur denjenigen als einwendungsbefugt betrachtet, „dessen Belange durch das Vorhaben berührt werden“ und nicht etwa jedermann (vgl. dagegen § 10 Abs. 3 S. 4 BImSchG).

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den, soll der Beteiligung auch eine legitimierende Funktion für das Entscheidungsergebnis unabhängig davon zukommen, ob die Einwände im Ergebnis auch Erfolg haben. – Effektivierungsfunktion: Gerichtliche Auseinandersetzungen sollen durch das frühzeitige Erkennen von Konflikten und entsprechende (Plan)Anpassungen vermieden werden. Verfahrensverzögerungen durch etwaige nachträglich erforderlich werdende Änderungen sollen auf diese Weise reduziert werden. – Kontrollfunktion: Die Beteiligung soll Transparenz herstellen und den Bürgern die Möglichkeit gewährleisten, den Planungs- und Entscheidungsprozess nachzuvollziehen und zu kontrollieren. – Rechtsschutzfunktion: Als Individualrechtsfunktion soll die Öffentlichkeitsbeteiligung einen vorhabenbezogenen Grundrechtsschutz gewährleisten und präventiven Grundrechtsschutz ermöglichen. Mittels Information durch die Behörden sollen potenziell betroffene Bürger ihre Belange möglichst frühzeitig geltend machen, so dass Konflikte nach Möglichkeit ohne Verwaltungsprozesse gelöst werden können. – Integrationsfunktion: Die Bürger sollen in das Verfahren und den Planungs- und Entscheidungsprozess integriert werden, um eine Grundlage für die Zustimmung zum Vorhaben zu schaffen und Ablehnung vorzubeugen. – Akzeptanzsicherungsfunktion: Durch Einbeziehung der Bürger sollen nicht zuletzt auch die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass das Verfahren akzeptanzfördernd wirkt und die an seinem Ende zu treffenden Sachentscheidungen sowohl von den Betroffenen als auch der Öffentlichkeit besser akzeptiert werden können. – Stärkung demokratischer Teilhabe: Schließlich soll die Öffentlichkeitsbeteiligung auch zur demokratischen Teilhabe des Bürgers und zur Transparenz des Verwaltungshandelns beitragen, indem Möglichkeiten der Mitwirkung und Einflussnahme eröffnet werden. Dieser kurze Überblick zeigt, dass der Einbeziehung der Öffentlichkeit in Verwaltungsverfahren über den Beitrag zur Verwirklichung des materiellen Rechts hinaus zahlreiche weitergehende Funktionen zuerkannt werden, die zwar nicht in jeder einzelnen Ausprägung konsentiert, in ihrer grundsätzlichen Bedeutung aber überwiegend anerkannt sind.14 Zu diesen Funktionen und Zielen zählen – als wesentliche Errungenschaft der in den letzten Jahrzehnten geführten Diskussion – nicht zuletzt auch die Förderung öffentlicher Akzeptanz15 sowie die Herstellung von Transparenz und 14

Vgl. nur Morlok, Die Folgen von Verfahrensfehlern, 1988, S. 518 ff.; Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 7. Aufl. 2008, § 45 Rn. 11; Pünder, Verwaltungsverfahren, in: Erichsen/Ehlers (Hg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 14. Aufl., 2010, § 13 Rn. 1. 15 Vgl. u. a. Schmitt Glaeser, Anspruch, Hoffnung und Erfüllung. Das Verwaltungsverfahren und sein Gesetz – eine einleitende Bemerkung, in: ders. (Hg.), Verwaltungsverfahren, FS Richard-Boorberg-Verlag, 1977, S. 1 (37 ff.); Brohm, Beschleunigung der Verwaltungsver-

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Nachvollziehbarkeit16 als Ausprägungen der demokratischen Funktion des Verfahrens. III. Akzeptanzhemmende Faktoren Gerade die Herstellung öffentlicher Akzeptanz wird in Großverfahren jedoch in letzter Zeit wieder als zunehmend problematisch wahrgenommen. Nach verbreiteter Ansicht werden die gegenwärtigen Regelungen des Verwaltungsverfahrens- und Fachplanungsrechts den Erfordernissen einer funktionsgerechten Aufgabenerfüllung nicht mehr ohne weiteres gerecht. Dies gilt nicht nur für moderne Funktionsbeschreibungen, sondern auch für das klassische Ziel, die Legitimationskraft der abschließenden Verwaltungsentscheidung zu erhöhen. Ein Grund für dieses Unbehagen mag darin liegen, dass das Normenregime in starkem Maße bei der rechtsstaatlichen Funktion verharrt, eine individuell-rechtswahrende und auch sonst beständige Entscheidung herbeizuführen. Im Fachplanungsrecht zeigt sich dies bereits darin, dass die Betroffenenbeteiligung im Vordergrund steht,17 die bestenfalls eine gesteigerte Legitimation nachfolgender Rechtseingriffe herbeiführen, nicht jedoch für eine generelle Akzeptanz in der nicht selbst betroffenen, aber interessierten Öffentlichkeit sorgen kann. Aufgrund ihrer restriktiven Ausgestaltung können die Regelungen in den Fachgesetzen und im Verwaltungsverfahrensgesetz die in neuerer Zeit an die Öffentlichkeitsbeteiligung gerichteten Erwartungen oft nicht erfüllen. Der Planungsprozess ist für Laien in weitem Maße unverständlich. Wo Raum für Mitwirkung im Verfahren eröffnet ist, ist dieser Raum in aller Regel stark begrenzt. Die Regelungen sind nur in dem Maße offen gestaltet, wie es erforderlich ist, um die abschließende und gestattende Entscheidung zum Vorhaben in seiner beabsichtigten Gestalt vorzubereiten. Sichtet man die Flut an Beiträgen im Anschluss an problematische Großprojekte der jüngeren Zeit,18 lassen sich einige akzeptanzhemmende Faktoren zusammenfassend benennen:19

fahren – Straffung oder konsensuales Verwaltungshandeln?, NVwZ 1991, 1025; Bredemeier, Kommunikative Verfahrenshandlungen im deutschen und europäischen Verwaltungsrecht – zugleich ein Beitrag zur Europäisierung des Verwaltungsverfahrensrechts, 2007, S. 285 f.; Schmitz, in: Stelkens/Bonk/Sachs (Fußn. 14), § 9 Rdnr. 66; grundlegend zu diesen Verfahrenszielen Luhmann, Legitimation durch Verfahren, 3. Aufl. 1993, S. 33; aus steuerungstheoretischer Perspektive Franzius, Modalitäten und Wirkungsfaktoren der Steuerung durch Recht, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts Bd. I, 2. Aufl. 2012, § 4 Rdnr. 67 ff. 16 Vgl. dazu vor allem den dritten Erwägungsgrunds der Richtlinie 2003/35/EG (Richtlinie über die Beteiligung der Öffentlichkeit bei der Ausarbeitung bestimmter umweltbezogener Pläne und Programme und zur Änderung der Richtlinie 85/337/EWG und 96/61/EG des Rates in Bezug auf die Öffentlichkeitsbeteiligung und den Zugang zu Gerichten – Erklärung der Kommission) vom 26. Mai 2003 (ABl. L 156/17 vom 25. 6. 2003). 17 Vgl. § 73 Abs. 4 S. 1 VwVfG. 18 Vgl. dazu die Hinweise oben Fußn. 1.

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– Oft findet keine frühzeitige und vor allem auch keine kontinuierliche Information und Kommunikation über den jeweiligen Verfahrens- und Planungsstand statt. Medien, die für die Kommunikation genutzt werden, sind gerade in modernen Zeiten, die auf Medienvielfalt ausgerichtet ist, nicht immer öffentlichkeitstauglich. – In vielen Fällen besteht keine ausreichend frühzeitige Beteiligung zu einem Zeitpunkt, in dem eine influenzierende Mitwirkung noch möglich ist. Die Beteiligung findet im Gegenteil zu einem Zeitpunkt statt, in dem das Vorhaben fast entscheidungsreif, die Planung jedenfalls weit fortgeschritten ist. Die Unterlagen, die sich im Laufe der Planung angesammelt haben, sind in vergleichsweise fortgeschrittenen Planungsstadien oft so umfangreich, dass sie ohne sachverständige Hilfe kaum mit Aussicht auf Ertrag gesichtet oder gar kritisch beurteilt werden können. Aus Sicht des Bürgers entsteht nicht selten der Eindruck weitgehend vollendeter Tatsachen, für die sein Beitrag keine maßgebende Rolle mehr spielt. – Als Problem erscheint in einer Reihe von Verfahren die (Un)Ausgewogenheit der Interessen im Sinne kontinuierlicher, detailliert geregelter und gerichtlich kontrollierter Einflussmöglichkeiten für alle Interessierten. Die damit verbundene Problematik bezieht sich zum einen darauf, dass die Beteiligungsmöglichkeiten oft auf Betroffene beschränkt sind und nicht für alle Interessierten geöffnet werden. Sie gilt zum anderen aber auch einer Ausgestaltung von Verfahren, die nur punktuelle, nicht aber kontinuierliche und entsprechend abgesicherte dauerhafte Informations- und Mitwirkungsmöglichkeiten vorsehen. – In der Sache folgt der Gesetzgeber immer noch weitgehend dem überkommenen Dogma vom individualrechtswahrenden Verwaltungsverfahren, obwohl supraund internationale Entwicklungen wie die Aarhus-Konvention und die Richtlinie über die Umweltverträglichkeitsprüfung ein Konzept längst überholt haben, das die Reichweite der Beteiligung auf den effektiven Rechtsschutz Betroffener beschränkt. – Ein wesentlicher Grund für Einschränkungen der Beteiligungsmöglichkeiten im Verfahren wird auch in der vergleichsweise starken Vorprägung des Verfahrensgegenstandes durch den Vorhabenträger gesehen. Diesem kommt die originäre Planungskompetenz und insgesamt eine dominante Stellung im Verfahren zu. Die (Planfeststellungs)Behörde kontrolliert lediglich nachvollziehend seine planerische Abwägungsentscheidung.20 Bereits von der gesetzlichen Ausgestaltung her ist das Vorhaben in seinen wesentlichen Zügen durch den Vorhabenträger bestimmt. Aus Sicht der Betroffenen und der Öffentlichkeit verbleibt oft kein ausreichender Raum für eine ergebnisoffene Beteiligung.

19 Ein ausführlicherer Katalog der Defizite des Staat-Bürger-Verhältnisses in (Umwelt) Verwaltungsverfahren, die auch die hier skizzierten einschließt, findet sich bei Appel (Fußn. 7), Manuskript S. 22 ff. 20 Hoppe/Schlarmann/Buchner/Deutsch, Rechtsschutz bei der Planung von Verkehrsanlagen und anderen Infrastrukturvorhaben, 2011, Rn. 77.

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– Damit verbunden ist ein Problem der Neutralität bzw. Unvoreingenommenheit der handelnden Verwaltung, die sich nach ihrem Grundverständnis an sich nicht zum Sachwalter einzelner Interessen machen darf. Bereits die gesetzliche Ausgestaltung einzelner Verfahren führt aber dazu, dass die Verwaltung diese neutrale Position gar nicht ohne weiteres wahren kann. Faktisch ist eine gewisse Nähe zum Vorhabenträger allein aufgrund der gesetzlichen Vorgaben in vielen Fällen unvermeidlich. Dies kann zu Problemen führen, wenn in enger Abstimmung mit dem Vorhabenträger eine Einschränkung der Perspektive vorgenommen wird, die für das weitere Verfahren ausschlaggebend und praktisch nur noch schwer zu ändern ist. – Dass der Erörterungstermin in Planfeststellungsverfahren überfrachtet sein kann, ist mittlerweile vielfach beschrieben und diskutiert.21 Die Kritik richtet sich oft nicht gegen die Sinnhaftigkeit des Erörterungstermins als solchem, sondern einerseits gegen seine konkrete Ausgestaltung, die zu einer unnötigen und nicht immer ergebnisbezogenen Ausdehnung führen kann, andererseits gegen eine zwingende statt einer fakultativen und damit flexibleren Handhabung des Termins. – Probleme bereitet auch die Bürgerbeteiligung in gestuften Verfahren, die von der Bedarfs- über die Raumordnungsplanungen bis zur Planfeststellung reichen können. Zwar ist diese vertikale Abschichtung angesichts der Komplexität von Planungsprozessen sinnvoll und bis zu einem gewissen Grad unausweichlich.22 Erst die phasenweise Konkretisierung macht die an sich wünschenswerte Konzentrationswirkung von Planfeststellungsbeschlüssen möglich. Aus Sicht der Betroffenen und der beteiligten Öffentlichkeit entsteht jedoch oft der (falsche) Eindruck, im Planfeststellungsverfahren finde eine umfassende, nicht prädeterminierte Prüfung der Sach- und Rechtslage statt, die in weiten Teilen jedoch schon auf vorangegangenen Verfahrensstufen erfolgt ist und deren bindende Ergebnisse nur noch konzentriert verarbeitet werden, so dass auch der Beeinflussungsgrad durch die Öffentlichkeitsbeteiligung entsprechend verdichtet und auf den jeweils unteren Ebenen eingeschränkt ist. – Die mit den verschiedenen gestuften Planungsphasen einhergehenden Anhörungsverfahren, deren Inhalte sich häufig überschneiden,23 deren Abschluss aber regelmäßig mit rechtsschutzrelevanten Ausschlusswirkungen verbunden 21 Vgl. nur Guckelberger, Bürokratieabbau durch Abschaffung des Erörterungstermins?, DÖV 2006, 97 ff.; Gaentzsch, Der Erörterungstermin im Planfeststellungsverfahren – Instrument zur Sachverhaltsaufklärung oder Einladung zur Verfahrensverzögerung?, in: FS Sellner, 2010, 219 (233 f.); Schink (Fußn. 1), 239 ff.; Riese/Dieckmann, Der Erörterungstermin – Bestandsaufnahme und Reformvorschlag, DVBl. 2010, 1343 ff.; Steinberg (Fußn. 1), 343 f. 22 Vgl. nur Steinberg, Die Bewältigung von Infrastrukturvorhaben durch Verwaltungsverfahren – eine Bilanz, ZUR 2011, 340 (341 f.). 23 So ist etwa für den Bau einer Bundesfernstraße vier Mal eine Umweltverträglichkeitsprüfung durchzuführen: vor der gesetzlichen Ausbauplanung, im Raumplanungs- bzw. Raumordnungsverfahren, bei der Festlegung der Linienführung nach § 16 FStrG und bei der Planfeststellung nach § 17 FStrG; vgl. Steinberg (Fußn. 1), S. 340 ff.; Durner (Fußn. 1), 357.

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ist, führen auf Seiten der Betroffenen oft zu Unübersichtlichkeit gepaart mit Unverständnis. Zeitlich entfernter liegende Vorhaben werden oft noch nicht als eigene Betroffenheiten erlebt. Erst auf den unteren Stufen, wenn der Vollzug naht, werden die konkreten Rahmenbedingungen eines Vorhabens und auch die damit verbundenen Betroffenheiten vollends wahrgenommen. Daher werden auch die Beteiligungsformen auf den vorangehenden Stufen oft nicht ausreichend erkannt und/oder genutzt. – Dort wo Alternativenprüfungen vorgesehen sind, ist ihre Reichweite oft begrenzt, weil sie durch den Vorhabenträger von vornherein verengt werden und aufgrund seiner Möglichkeiten und Interessen oft auch verengt werden müssen. Hinzu kommt, dass Standort- und Trassenalternativen in Planfeststellungsverfahren oft keine ausreichende Berücksichtigung mehr finden können, weil sie auf den vorangehenden Stufen der Raumordnungsplanung bereits verbindlich ausgeschlossen wurden. Maßgebende Alternativenprüfungen und der damit verbundene Ausschluss von Alternativen finden damit oft zu einem Zeitpunkt statt, in dem die Bürgerbeteiligung noch kaum mobilisiert ist. – Der häufig lange Zeitraum zwischen ersten Planungen, (außen)verbindlicher Entscheidung und deren Umsetzung kann gerade bei größeren Infrastrukturvorhaben Legitimationskonflikte mit sich bringen, wenn die Entscheidungen von neu im Amt befindlichen Regierungen und von nachfolgenden Bürgerbeteiligungsgenerationen auf Grund geänderter Rahmenbedingungen in Frage gestellt werden. Mitunter entsteht der Eindruck, dass die aus einer früheren Zeit stammende Planung nicht mehr zeitgemäß ist und nur deshalb aufrecht erhalten und durchgesetzt werden soll, weil für eine Planänderung oder Neuplanung keine politische Mehrheit mehr zu finden wäre. – Hinzu kommt schließlich, dass die Öffentlichkeitsbeteiligung grundsätzlich auf das „Wie“ und damit die Gestaltung eines Vorhabens bezogen wird, nicht aber auf das „Ob“ und mit ihm auf die Realisierung des Vorhabens überhaupt. Der völlige Verzicht auf den Plan oder das Projekt wird in Umweltverwaltungsverfahren als eine (noch) mögliche eigenständige Variante regelmäßig nicht in die Betrachtung einbezogen. Damit verbundene Fragen werden im Verfahren in aller Regel nicht aufgeworfen und dementsprechend nicht erörtert. Auch aus diesem Grund mangelt es der Bürgerbeteiligung aus Sicht vieler Betroffener und der beteiligten Öffentlichkeit an der nötigen Ergebnisoffenheit.

IV. Frühe Bürgerbeteiligung als Baustein zur Steigerung der Vorhabenakzeptanz Um den vielfach konstatierten Defiziten zu begegnen und die Vorhabenakzeptanz zu steigern, wird immer wieder die Notwendigkeit einer frühzeitige(re)n Bürgerbeteiligung ins Feld geführt. Mittlerweile hat auch der Gesetzgeber auf die immer lauter

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gewordenen Rufe reagiert. Eine Verbesserung soll vor allem das Gesetz zur Verbesserung der Öffentlichkeitsbeteiligung und Vereinheitlichung von Planfeststellungsverfahren (PlVereinhG) bringen.24 Kern des Gesetzes ist die weitgehende Vereinheitlichung planungsrechtlicher Vorschriften unter dem Dach des Verwaltungsverfahrensgesetzes und die Verpflichtung der Verwaltung, auf eine frühzeitige Bürgerbeteiligung durch den Vorhabenträger hinzuwirken. Nach der als allgemeine Verfahrensvorschrift25 ausgestalteten Regelung des § 25 Abs. 3 VwVfG soll die Behörde darauf hinwirken, „dass der Träger bei der Planung von Vorhaben, die nicht nur unwesentliche Auswirkungen auf die Belange einer größeren Zahl von Dritten haben können, die betroffene Öffentlichkeit frühzeitig über die Ziele des Vorhabens, die Mittel, es zu verwirklichen, und die voraussichtlichen Auswirkungen des Vorhabens unterrichtet“. Diese frühe Öffentlichkeitsbeteiligung „soll möglichst“ bereits vor Antragstellung stattfinden und „soll“ der betroffenen Öffentlichkeit Gelegenheit zur Äußerung und zur Erörterung geben.26 Genaueres zum Ablauf der Beteiligung ist nicht geregelt.27 Die Neuregelung des Anhörungsverfahrens in § 73 VwVfG bezieht die Verbände ein, die bisher schon nach europa- und völkerrechtlich weitgehend vorgegebenem Fachrecht28 zu beteiligen waren.29

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BT-Drs. 17/9666 vom 16. 05. 2012. Sie erstreckt sich auch auf Anlagenzulassungsverfahren, die nicht als Planfeststellungsbeschluss ergehen. 26 Vgl. § 25 Abs. 3 S. 2, 3 VwVfG. 27 Soll die frühzeitige Öffentlichkeitsbeteiligung noch vor Beginn des Planfeststellungsverfahrens durchgeführt werden, schließt sich innerhalb des Planfeststellungsverfahrens weiterhin eine förmliche Öffentlichkeitsbeteiligung nach § 73 VwVfG an. Auch hier sind einige Veränderungen, vor allem aber regelungstechnische Vereinheitlichungen der ins Fachrecht zersplitterten Normen vorgesehen. Im Planvereinheitlichungsgesetz bildet sich dabei erneut der Widerstreit zwischen umfassender Bürgerbeteiligung und Verfahrensbeschleunigung ab, wenn unter dem Begriff der „Vereinheitlichung“ einerseits eine Zusammenführung der speziellen Regelungen weitgehend nach dem Vorbild der Beschleunigungsgesetzgebung vorgesehen ist, andererseits die Öffentlichkeitsbeteiligung gestärkt werden soll. Dies betrifft vor allem die fristgebundene Durchführung des förmlichen Anhörungsverfahrens (§ 73 Abs. 6 S. 7, Abs. 9 VwVfG). 28 Kopp/Ramsauer (Fußn. 13), § 73 Rn. 36 ff. 29 Weitere Verbesserungen beim Vollzug der Vorschriften über die Bürgerbeteiligung soll auch ein im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung erarbeitetes „Handbuch Bürgerbeteiligung“ bringen, das der Verwaltung einen Leitfaden für „gute Bürgerbeteiligung“ an die Hand gibt. Dies ist insofern positiv zu verzeichnen, als weiche Kriterien allgemein als Voraussetzung eines erfolgreichen Verfahrensmanagements anerkannt sind (vgl. dazu Wulfhorst [Fußn. 1], 587 ff.). Das Handbuch findet sich unter http:// www.bmvbs.de/SharedDocs/DE/Artikel/UI/handbuch-buergerbeteiligung.html (Stand 8. Mai 2012). 25

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1. Tragfähigkeit des Konzepts einer frühen Bürgerbeteiligung Soll die Bürgerbeteiligung ihre vielfältigen Funktionen erfüllen,30 muss sie vergleichsweise frühzeitig einsetzen, zumindest aber vor oder jedenfalls in dem Moment, in dem das Vorhaben seitens des Vorhabenträgers konkrete Formen annimmt.31 Dabei mag die frühzeitige Bürgerbeteiligung auf den ersten Blick als unnötig und vorhabenverzögernd erscheinen, weil mit ihr keine besonderen Rechtsfolgen verbunden sind. Dabei würde jedoch übersehen, dass sie sich gerade durch ihre Form- und Folgenlosigkeit auszeichnet. Der Bürger kann sich frei vom drohenden Damoklesschwert einer Präklusion seiner Anliegen von der Berücksichtigung und deshalb ohne Misstrauen und Argwohn über das Vorhaben zu einem Zeitpunkt informieren und äußern, zu dem auch die Verwaltung noch glaubhaft unvoreingenommen und neutral gegenüber der Öffentlichkeit und dem Vorhabenträger auftreten kann.32 Die Idee einer frühzeitigen Bürgerbeteiligung ist nicht neu und wird mit guten Erfahrungen seit längerem in der Bauleitplanung praktiziert,33 auf die zu verweisen mittlerweile zu den Gemeinplätzen der Diskussion zählt. Der regelmäßig positiv konnotierte Begriff der „frühzeitigen Bürgerbeteiligung“ darf aber den Blick dafür nicht trüben, dass die geforderte Frühzeitigkeit der Beteiligung ansatzbedingt einem schwierigen Spannungsverhältnis ausgesetzt ist: Auf der einen Seite macht auch eine frühzeitige Beteiligung nur Sinn, wenn über ein hinreichend konkretes Projekt gesprochen werden kann, dass eine entsprechende Planung und Konkretisierung auf Seiten des Vorhabenträgers voraussetzt. Auf der anderen Seite können die angestrebten akzeptanzfördernden Funktionen der frühzeitigen Bürgerbeteiligung nur erzielt werden, wenn in diesem Stadium – trotz der vorgenommenen Konkretisierungen – noch keine grundlegenden (Vor)Entscheidungen getroffen wurden und das Vorhaben auch noch grundlegend in Frage gestellt werden kann. Hinzu kommt, dass bei einer Vielzahl von Großprojekten – anders als im Bereich der Bauleitplanung – nicht nur öffentliche, sondern auch private Vorhabenträger auf den Plan treten, die einer frühzeitigen Bürgerbeteiligung nur mehr oder weniger kooperativ gegenüber stehen. 30

Zu diesen Funktionen oben II. Dazu und zum Folgenden Appel (Fußn. 7), Manuskript S. 30 ff. 32 Im Anwendungsbereich des Gesetzes über die Umweltverträglichkeitsprüfung (UVPG) oder im Bauleitplanverfahren nach dem Baugesetzbuch ist jeweils eine umfassende und frühzeitige Öffentlichkeitsbeteiligung vorgesehen. In den Erwägungsgründen der einschlägigen Richtlinie wurde erkannt, was den deutschen Gesetzgeber angesichts der angestrebten Verfahrensbeschleunigung lange Zeit nur wenig überzeugen konnte: „Eine effektive Beteiligung der Öffentlichkeit bei Entscheidungen ermöglicht es einerseits der Öffentlichkeit, Meinungen und Bedenken zu äußern, die für diese Entscheidungen von Belang sein können, und ermöglicht es andererseits auch den Entscheidungsträgern, diese Meinungen und Bedenken zu berücksichtigen; dadurch wird der Entscheidungsprozess nachvollziehbarer und transparenter, und in der Öffentlichkeit wächst das Bewusstsein für Umweltbelange sowie die Unterstützung für die getroffenen Entscheidungen.“ Vgl. Erwägungsgrund (3) der Richtlinie 2003/35/EG (Fußn. 16). 33 Vgl. § 3 Abs. 1 BauGB. 31

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Was die unverbindliche frühzeitige Bürgerbeteiligung im novellierten § 25 Abs. 3 VwVfG anbetrifft, dürfte die Ausgestaltung den Vorhabenträgern allerdings überwiegend entgegenkommen. Sofern er ein wirkliches Interesse an der Konfliktvermeidung hat, wird auch die weitgehende Freistellung von Anforderungen an die Art und Weise der Durchführung der frühzeitigen Öffentlichkeitsbeteiligung ein Vorteil sein, da die jeweilige Gestaltung des Verfahrens individuell auf Konfliktpotenzial und Projektbesonderheiten eingehen kann. Problematisch ist die Regelung des § 25 Abs. 3 VwVfG jedoch insofern, als die Durchführung der frühzeitigen Bürgerbeteiligung dem Vorhabenträger selbst überlassen bleibt.34 Damit wird die Wirksamkeit der Regelung bereits im Ansatz geschwächt. Fordert der Gesetzesentwurf, „Mitsprache herzustellen“35, und sieht das „Handbuch Bürgerbeteiligung“36 vor, die Kontrollfunktion der Öffentlichkeit zu stärken und auszunutzen, kann eine schlimmstenfalls selektive und einseitige Projektdarstellung durch den Vorhabenträger diese Funktionen nicht erfüllen. Wird in kritischen Fällen schon die Neutralität der Verwaltung in Frage gestellt, wird der Vorhabenträger in solchen Konstellationen selbst bei großem Engagement – etwa durch Bestellung unabhängiger Gutachter – oft dem Verdacht einer einseitigen Darstellung des Vorhabens unterliegen, der die positiven Aspekte einer frühzeitigen Beteiligung tendenziell entwertet.37 In der Gesamtperspektive stellt die Möglichkeit des Vorhabenträgers, eine frühzeitige Bürgerbeteiligung durchzuführen, eine eher wirkungslose Ergänzung der behördlichen Beratungspflichten dar.38 Genau genommen wird in das Verwaltungsverfahrensgesetz nicht die frühzeitige Bürgerbeteiligung, sondern nur die Verpflichtung der Behörde aufgenommen, beim Vorhabenträger darauf hinzuwirken, selbst und mit eigenen Mitteln an die Öffentlichkeit heranzutreten. Die Möglichkeit des Vorhabenträgers, die Öffentlichkeit selbst und in eigener Sache zu informieren und einzubinden, ist aber alles andere als neu. Sie bestand auch schon zuvor. Die rechtlich geforderte Beratung durch die Behörde ist insofern nur von geringer Bedeutung. An der gesetzlichen Neuregelung zeigt sich im Übrigen, dass die Betroffenenbeteiligung weiterhin das gesetzliche Leitbild der Bürgerbeteiligung bleibt. Eine Öffnung hin zu einer interessierten Öffentlichkeit wird mit der Einbeziehung der Umweltvereinigungen gerade so weit vorgenommen, wie sie nach Völker- und Europarecht gefordert ist und bereits nach früherem Recht bestand. Die Legitimations- und Kontrollfunktion der Öffentlichkeitsbeteiligung wird damit nicht gestärkt. Letztlich dienen die gesetzlichen Regelungen weiterhin vorrangig der Interessenerkennung und -ver34 Der beim BMI angesiedelte Beirat Verwaltungsverfahren hat sich mit der Begründung für eine bloße Obliegenheit der „Vorerörterung“ ausgesprochen, dass eine frühe Öffentlichkeitsbeteiligung nur gelingen könne, wenn sie von einem konstruktiven Willen zum Zusammenwirken getragen werde und es vor Antragstellung noch gar kein Verwaltungsverfahren gebe, aus dem für den Vorhabenträger zwingende Verfahrensverpflichtungen folgen könnten. 35 BT-Drs. 17/9666, S. 1. 36 Vgl. dazu Fußn. 29. 37 Vgl. Appel (Fußn. 7), Manuskript S. 33. 38 Dazu und zum Folgenden Appel (Fußn. 7), Manuskript S. 33 f.

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arbeitung im Verwaltungsverfahren und weniger dem Zweck, planerische Prozesse unabhängig vom Interesse an individueller Rechtsverfolgung aktiv durch die Öffentlichkeit mitgestalten zu lassen.39 Im Übrigen müssen frühzeitige Bürgerbeteiligungen bei Großvorhaben mit komplexen Planungsprozessen aber auch das gestufte Verfahren und die damit verbundenen Grenzen in Rechnung stellen. Am Ausgang des Planfeststellungsverfahrens hat in aller Regel bereits ein Raumordnungsverfahren mit Öffentlichkeitsbeteiligung stattgefunden. Auch bei der gesetzlichen Ausbauplanung insbesondere nach dem Fernstraßenausbaugesetz findet wie bei allen umweltrelevanten Planungen eine strategische Umweltprüfung mit Öffentlichkeitsbeteiligung statt,40 in der auch Alternativen geprüft werden.41 Dass nach Abschluss dieser Verfahren gewisse Vorfestlegungen stattgefunden haben, hängt mit der Komplexität des Planungsprozesses zusammen. Die Fixierung der Betroffenen auf das nachfolgende Planfeststellungsverfahren liegt am vergleichsweise höheren Detaillierungsgrad der Planentwürfe. Das Dilemma, dass Planung sich entsprechend ihrem Prozesscharakter fortlaufend konkretisiert und für das folgende Stadium partiell verbindlich wird, während Beteiligungsformen in der Öffentlichkeit häufig erst mit dem Verfahren der Letztentscheidung auf Interesse stoßen, lässt sich nicht vollständig auflösen.42 Zu befürworten ist aber angesichts der zahlreichen sektoralen Beteiligungsformen, die nicht zuletzt auch auf eine zögerliche und restriktive Umsetzung von Europarecht zurückzuführen sind, eine Neustrukturierung des Planungsrechts und des Immissionsschutzrechts mit einer möglichst frühzeitigen Konzentration der Öffentlichkeitsbeteiligung.43 So ist es denkbar, die strategische Umweltprüfung und die Umweltverträglichkeitsprüfung stärker in die jeweilige Planung zu integrieren und zugleich von ihrer Beschränkung auf Umweltauswirkungen zu befreien, mit anderen Worten eine umfassende frühzeitige Bürgerbeteiligung einzurichten. Durch einen offenen Diskurs mit Wissensträgern unter Einbezug von Sachverstand, durch gemeinsame Anstrengung zum Auffinden der relevanten Fakten, durch Vorgabe klarer Kriterien und volle Transparenz in einem Planungsstadium und einem Zeitpunkt, in dem noch vergleichsweise ergebnisoffen über Alternativen diskutiert werden kann, würde nicht nur die Partizipation verbessert, sondern dem Vorhabenträger und den Behörden auch in einer vergleichsweise frühen Phase vor Augen geführt, mit welchen Widerständen zu rechnen ist und wo etwaige Probleme liegen könnten.44

39

Vgl. Appel (Fußn. 7), Manuskript S. 33 f. Vgl. § 14i ff., Anlage 3 zum UVPG i.V.m. § 19b UVPG. 41 Vgl. § 19b Abs. 2 UVPG. 42 Vgl. Appel (Fußn. 7), Manuskript S. 31. 43 Vgl. auch Steinberg (Fußn. 1), S. 344 f.; ähnlich, aber skeptischer, Durner (Fußn. 1), S. 358. 44 Vgl. Appel (Fußn. 7), Manuskript S. 31. 40

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2. Bedarfserörterung Soll die frühzeitige(re) Bürgerbeteiligung auch dem Ziel dienen, akzeptanzfördernd zu wirken, kommt es entscheidend auf die Beantwortung der Frage an, ob und wie weitgehend die Bürgerbeteiligung auch auf die Bedarfsfrage erstreckt wird.45 Denn soll die Öffentlichkeitsbeteiligung auf Schaffung von Akzeptanz ausgerichtet werden, muss es bei größeren Infrastrukturprojekten eine möglichst frühzeitige und ergebnisoffene Phase geben, in der Fragen von übergreifendem Interesse diskutiert werden können.46 Dazu zählen vor allem der grundsätzliche Bedarf des Projekts, sein Nutzen für die Allgemeinheit, Vor- und Nachteile der Verwirklichung sowie die Kosten. Breitere Akzeptanz kann bei allen Entscheidungen nur erzielt werden, wenn diese übergreifenden, der konkreten Planung des Vorhabens gleichsam vorausliegenden Fragen tatsächlich erörtert und nicht stillschweigend vorausgesetzt werden.47 Sollen die Rechtfertigung für das Vorhaben und die Alternativenprüfung nicht auf Vorfestlegungen des Vorhabenträgers beschränkt bleiben und das Planfeststellungsverfahren über die Rechtmäßigkeitsprüfung für ein bereits weitgehend geplantes Vorhaben hinausgehen, muss der Bezugsrahmen für die Bürgerbeteiligung auch das „Ob“ des Vorhabens bzw. der Planung erfassen. Insbesondere in den Fällen, in denen die konkrete Bedarfsfrage nicht im Parlament erörtert und (vor)entschieden wird, muss es einen Ort geben, an dem sie im Vorfeld von oder frühzeitig in Verwaltungsverfahren thematisiert werden kann. Eine solche Erörterung der Bedarfsfrage ist im Übrigen nicht nur für die Planung von Großprojekten sinnvoll, sondern könnte sich entsprechend auch auf Risikoentscheidungen der Verwaltung mit größerer Tragweite und die damit verbundenen Folgen für die Allgemeinheit beziehen.48 Um einen erweiterten Bezugsrahmen für die Öffentlichkeitsbeteiligung zu schaffen, ist vor allem von Martin Burgi das Modell einer Bedarfserörterung ins Gespräch gebracht worden.49 Zur Gewährleistung und Absicherung einer solchen Bedarfserörterung50 wird ein Bedarfserörterungsverfahren in Erwägung gezogen, das außerhalb 45

Vgl. zu dieser Frage und zum Folgenden Appel (Fußn. 7), Manuskript S. 37 ff. Dazu Wulfhorst (Fußn. 1), 584, 588; Steinberg (Fußn. 1), 344; Gärditz (Fußn. 1), 276; Schütte, Mehr Demokratie versus Verfahrensbeschleunigung, ZUR 2011, S. 169 (170); Moench/Ruttloff, Netzausbau in Beschleunigung, NVwZ 2011, S. 1040 (1045). In diese Richtung bereits Blümel, in: FG für Forsthoff, 1967, S. 133 (138 ff., 155 ff.). 47 Dazu auch Posch, Lehren aus S21, FAZ vom 04. 05. 2012, S. 11. 48 Appel (Fußn. 7), Manuskript S. 37 f. 49 Burgi, Die maßgeblichen Akteure: Bewertung und Reformbedarf, Vortrag bei den 2. Bitburger Gesprächen in München am 17./18. November 2011 zum Thema „Planen, Erklären, Zuhören – Wie Großprojekte mit Bürgerbeteiligung möglich werden“, Manuskript S. 24 ff.; ders., Das Bedarfserörterungsverfahren (Fußn. 1), 277 ff.; vgl. zur Ausrichtung der Bürgerbeteiligung an der Bedarfsfrage zuvor bereits BUND, Fünf-Punkte-Programm zum Ausbau und zur Effektuierung der Bürger- und Verbandsbeteiligung, Oktober 2011, 3 f.; Höflinger/ Hofreiter, Mehr Öffentlichkeitsbeteiligung wagen!, umwelt aktuell, Juli 2011, 3 (4). 50 Vgl. zur Diskussion nur Schink, Öffentlichkeitsbeteiligung – Beschleunigung – Akzeptanz, DVBl 2011, 1377 (1384); Franzius (Fußn. 1), 228 f., 230 f. jeweils mit weit. Nachw. 46

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des Verwaltungsverfahrens angesiedelt sein und sich auf öffentliche Vorhaben beziehen soll.51 Tatsächlich finden sich bereits im geltenden Recht Ansätze, die in die Richtung einer Bedarfserörterung weisen. In zeitlicher Nähe zum späteren Planfeststellungsverfahren sieht vor allem der im Zusammenhang mit der Netzausbaubeschleunigungsgesetzgebung aufgenommene § 12b EnWG vor, dass der von den Vorhabenträgern zu erarbeitende „Netzentwicklungsplan“ der interessierten Öffentlichkeit unter Nutzung des Internet umfassend zur Erörterung vorgelegt werden muss. Auf diese Weise wird die Bürgerbeteiligung auf die Ob-Entscheidung des Übertragungsnetzbetreibers als Vorhabenträger bezogen.52 An dieses Konzept anknüpfend könnte eine wirklich „frühe“ Bürgerbeteiligung an den jeweiligen Fachgesetzen ansetzen und die Erörterung des Bedarfs eines Vorhabens – namentlich Art, Umfang, Standort und Kosten des Großvorhabens, wie es sich nach den Vorstellungen des Vorhabenträgers präsentiert – zum fachgesetzlich geforderten Gegenstand der öffentlichen Diskussion machen. Auf diese Weise würde ein Bedarfserörterungsverfahren zunächst die Entscheidung des Vorhabenträgers über das Ob des Verfahrens vorbereiten, danach aber natürlich auch im Verfahren präsent gehalten werden und nicht zuletzt die Perspektive der Alternativenprüfung deutlich erweitern.53 Dass eine solche Bedarfserörterung Sinn macht, lässt sich gut begründen.54 Sofern es um Großprojekte geht, die eine unübersehbare Vielzahl von Belangen und Betroffenen in vergleichsweise schwerwiegender Weise betreffen und der Staat sich an den Kosten solcher Großprojekte unmittelbar oder mittelbar beteiligt, müssen die Voraussetzungen für Akzeptabilität, Transparenz, Partizipation und ein angemessenes demokratisches Legitimationsniveau gewährleistet sein. Sofern diese Voraussetzungen nicht oder nicht ausreichend durch parlamentarische Entscheidungen geschaffen werden (können), bedarf es einer insoweit veränderten Öffentlichkeitsbeteiligung. Die Bedarfserörterung in einem frühen Zeitpunkt würde es ermöglichen, alle relevanten Gruppen und die Öffentlichkeit frühzeitig einzubeziehen und vorhabenbezogene Fragen zu erörtern, die sich auf das „Ob“ des Vorhabens beziehen. Auf diese Weise kann sich nicht zuletzt auch zeigen, mit welchen Vorbehalten und Hemmnissen zu rechnen sein wird und inwieweit die Verwirklichung eines Vorhabens auf Akzeptanz stoßen wird.55 Allerdings überzeugt es nicht, wenn die Bedarfserörterung auf öffentliche Vorhabenträger beschränkt bleiben und außerhalb des (nachfolgenden) Verwaltungsverfahrens angesiedelt werden soll.56 Wenn der Gesetzgeber sogar eine Bedürfnisprü51

Burgi (Fußn. 49), 278 ff.; näher dazu wie hier Appel (Fußn. 7), Manuskript S. 38. Vgl. § 12b Abs. 3 und 4 EnWG; dazu Moench/Ruttloff (Fußn. 46), 1042; Burgi (Fußn. 1), 279. 53 Näher dazu Burgi (Fußn. 49), 26 ff.; ders. (Fn. 1), 277 ff.; wie hier Appel (Fußn. 7), Manuskript S. 38. 54 Dazu wie hier Appel (Fußn. 7), Manuskript S. 38 f. 55 Vgl. Appel (Fußn. 7), Manuskript S. 38 f. 56 So nachdrücklich Burgi (Fußn. 49), 26 ff.; ders. (Fußn. 1), 277 ff.; dagegen wie hier Appel (Fußn. 7), Manuskript S. 39. 52

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fung der Verwaltung57 unter Einbeziehung der betroffenen oder auch der interessierten Öffentlichkeit vorsehen dürfte, könnte er erst recht für öffentliche und auch private Vorhaben eine Bedarfserörterung normieren, die auch als Teil einer frühzeitigen Öffentlichkeitsbeteiligung konzipiert werden kann. Ein konstruktiver Wille zum Zusammenwirken58 setzt nicht voraus, dass die Erörterung vor Einleitung des Verwaltungsverfahrens stattfindet, sondern ist auch innerhalb des Verwaltungsverfahrens möglich, sofern die Beteiligungsstrukturen darauf ausgerichtet werden. Die Ausweitung der frühzeitigen Öffentlichkeitsbeteiligung auf die Erörterung auch des Bedarfs statt der Einführung eines gesonderten Bedarfserörterungsverfahrens hätte nicht zuletzt den Vorteil, dass die Bedarfserörterung auf hinreichend konkrete Vorstellungen des Vorhabenträgers bezogen würde und kein neues Verfahren geschaffen werden müsste. Sofern die frühe Öffentlichkeitsbeteiligung ausdrücklich auch auf die Erörterung des Bedarfs bezogen würde, wäre auch keine zu starke Verfestigung und Dominanz der Vorstellungen des Vorhabenträgers zu befürchten. Insofern spricht viel dafür, die Bedarfserörterung als einen – gegebenenfalls abzuschichtenden – ersten Teil einer frühen Öffentlichkeitsbeteiligung zu konzipieren. Auch im Anschluss an eine um die Bedarfserörterung erweiterte frühe Öffentlichkeitsbeteiligung bestünde für den Vorhabenträger noch ausreichend Raum zum Umdenken und Umplanen, sofern ein die Bedarfserörterung abschließender Bericht ihm neue Einsichten vermitteln sollte. Das Ergebnis der Bedarfserörterung wäre auf jeden Fall bei der nachfolgenden Sachentscheidung zu berücksichtigen.59 Eine strikte Bindung an die Ergebnisse der Bedarfserörterung scheidet demgegenüber aus, wenn die frühe Öffentlichkeitsbeteiligung nicht in die Nähe eines Plebiszits gerückt werden soll, das sich für Planungsentscheidungen nur sehr begrenzt eignet.60 V. Ausblick Frühe Bürgerbeteiligung ist kein Allheilmittel zur Verbesserung der Vorhabenakzeptanz bei Großprojekten. Sie kann aber einen erheblichen Beitrag dazu leisten, die Planung und Antragskonkretisierung auf Seiten des Vorhabenträgers und die daran anknüpfenden Verfahrensstadien besser vorzubereiten, indem etwaige Vorbehalte und Hemmnisse vergleichsweise frühzeitig thematisiert werden und auf diese Weise auch der Grad der Vorhabenakzeptanz besser eingeschätzt werden kann. 57 Näher dazu Winter, Brauchen wir das? Von der Risikominimierung zur Bedarfsprüfung, KJ 1992, 389 ff.; Groß, Zur Zulässigkeit von Bedarfsprüfungen bei der Entscheidung über umweltrelevante Vorhaben, VerwArch 88 (1997), 89 (102 ff.). 58 Er wird nicht zuletzt vom Beirat Verwaltungsverfahrensrecht gefordert; vgl. Beirat Verwaltungsverfahren, Für mehr Transparenz und Akzeptanz – frühe Öffentlichkeitsbeteiligung bei Genehmigungsverfahren, NVwZ 2011, 859 f. 59 Vgl. Appel (Fußn. 7), Manuskript S. 39. 60 Vgl. dazu nur Ewer, Kein Volksentscheid über die Zulassung von Infrastrukturprojekten, NJW 2010, 1328 (1329); Steinberg (Fußn. 1), 348 f.; zusammenfassend Franzius (Fußn. 1), 230.

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Eine entscheidende Herausforderung besteht darin, die frühe Bürgerbeteiligung in gestufte (Planungs)Verfahren zu integrieren und als umfassende frühzeitige Bürgerbeteiligung an die ohnehin durchzuführenden strategischen Umweltprüfungen und Umweltverträglichkeitsprüfungen zu koppeln. Maßgebend ist, dass auch die Bedarfsfrage, sofern sie nicht bereits durch den Gesetzgeber beantwortet wurde, in die frühe Bürgerbeteiligung einbezogen wird. Wenn dies geschieht, ist die Erwartung gerechtfertigt, dass eine frühe Bürgerbeteiligung auch die Vorhabenakzeptanz fördert.

Die deutsche Polenbegeisterung der Jahre 1830 bis 1832 Von Johannes Masing, Freiburg „Seit dem Anfang der Welt bis heute [hat] kein Mensch, kein Held und kein Machthaber nirgendwo und zu keiner Zeit das erfahren […], was uns, den armen Polen, hier zuteil wurde und dessen wir Zeugen waren. Wem oder wo ist es nämlich angediehen, daß ihm Männer freiwillig und mit größter Zufriedenheit ihren Platz im Ehebett abtraten, daß Eltern die Jungfräulichkeit ihrer Töchter zum Opfer für Menschen darbrachten, die sie weder nach Namen noch sonstwie kannten, nur deswegen, weil sie Polen waren?“1

Der Vormärz bot Raum für Schwärmerei bis hin ins Skurrile! Dieser Auszug aus den Memoiren eines polnischen Flüchtlings, der zwischen 1830 und 1832 Aufnahme in Deutschland gefunden hatte, wirft ein Licht auf eine kurze Phase, in der deutsche und polnische Liberale in einer Welle allgemeiner Begeisterung für die Idee der Freiheit zu eigentümlicher Gemeinsamkeit fanden. Ohne Rückbindung an durchsetzungsfähige Machtstrukturen und in einer Atmosphäre romantischer Überhöhung war sie zwar als Basis für eine beständige Zusammenarbeit zwischen Polen und Deutschland nicht tragfähig. Sie bildet aber doch eine Episode, in der sich im Zeitalter der Nationalstaatsbildung Polen und Deutsche auf der Suche nach einer liberalen, selbstbestimmten und rechtsstaatlichen Ordnung in besonderer Weise nahe erlebten und gegenseitig befruchteten. Thomas Würtenberger hat sich in vielen Beiträgen der verfassungsrechtlichen Entwicklung im ausgehenden 18. und 19. Jahrhundert, und dabei auch dem Vormärz gewidmet2. Insbesondere war ihm ein Anliegen, die deutsche Verfassungsgeschichte in die europäische Entwicklung des modernen Verfassungsstaates einzuordnen und

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Nach Strobel, Die liberale deutsche Polenfreundschaft und die Erneuerungsbewegung Deutschlands, in: Peter Ehlen (Hg.), Der polnische Freiheitskampf 1830/31 und die liberale deutsche Polenfreundschaft, 1982, S. 37 f. Ich danke meinen studentischen Mitarbeiterinnen, Frau Verena Heil und Frau Dorothea Keiter für gründliche Recherchen und ausgezeichnete Unterstützung bei Erarbeitung dieses Textes. 2 Siehe nur: Der Konstitutionalismus des Vormärz als Verfassungsbewegung, Der Staat 37, 1998, 165 – 188; Die Verfassungssymbolik der Revolution von 1848/49 im deutsch-französischen Vergleich, in: Intellektuelle Redlichkeit – Intégrité intellectuelle, FS Jurt, 2005, 627 – 638; Paulskirche und Grundgesetz, in: Rill (Hg.), 1848. Epochenjahr für Demokratie und Rechtsstaat in Deutschland, 1998, 291 – 310.

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so „im Spiegel ausländischer verfassungsgeschichtlicher Entwicklungen“3 zu betrachten. Hierbei hielt er stets bewusst, dass die verfassungsrechtliche Entwicklung immer in eine übergeordnete Ideen- und Zeitgeschichte eingebunden ist, die gerade auch in scheinbar partikularen Einzelpersonen und Ereignissen besonders prägnanten Ausdruck findet. Thomas Würtenberger hat es deshalb nie verachtet, den Blick auch auf außerhalb des allgemeinen Fokus liegende Einzelereignisse zu richten - und verstand es, in diesen farbige Mosaiksteine wie Spiegel ihrer Zeit zum Leuchten zu bringen. In diesem Sinne sei der vorliegende Beitrag, der im Rahmen des relativ freien Formats der Festschrift den Jubilar auch unterhalten soll und deshalb in Teilen auch anekdotische Züge tragen darf, der deutschen Polenfreundschaft im Vormärz gewidmet. Auch wenn Episode geblieben, sollte sie als Narrativ der europäischen Verfassungsgeschichte nicht in Vergessenheit geraten. Denn immerhin zeigt sich in ihr, dass auch ein so spezifisch mit der deutschen Verfassungsgeschichte verbundenes Ereignis wie das Hambacher Fest schon ausgeprägte transnationale Bezüge aufwies. Auch bildet sie ein Beispiel, dass sich in der spannungsreichen Geschichte zwischen Polen und Deutschland, die unvergesslich von den deutschen Verbrechen gegenüber Polen unter dem Nationalsozialismus geprägt ist und uns gegenüber Polen dauerhaft in eine besondere Verantwortung nimmt, auch Anknüpfungspunkte für ein gutes Miteinander finden. Gerade im Verhältnis zu unseren Nachbarn braucht das Verständnis der Verfassungsgeschichte immer neu auch das Erzählen von Verfassungsgeschichten. I. Die Entstehung der polnischen Freiheitsbewegung In der Polenbegeisterung der Jahre 1830 bis 1832 trafen sich die Freiheitsbewegungen Polens und Deutschlands, beide getragen von einem – in Ohnmacht verbundenen – Aufbegehren gegenüber den oppressiven Strukturen der alten Mächte und dem dennoch festen Vertrauen, diese mit der Wirkkraft liberaler Ideen hinwegfegen zu können. Ursache für die in großer Zahl nach Deutschland fliehenden Polen war ein Aufstand der Polen gegen die drückender werdende russische Fremdherrschaft im damaligen „Kongress-Polen“, dessen blutige Niederschlagung zu einer großen Emigrationswelle führte. Was war genauerer Hintergrund dieser Ereignisse? Da die polnische Geschichte als die Geschichte eines unserer Nachbarländer erst allmählich in die allgemeine Wahrnehmung tritt, sei hierzu etwas ausgeholt. Polens Freiheitsbewegung stand zu Beginn des 19. Jahrhunderts vor Herausforderungen, die gegenüber den in Deutschland oder Frankreich wesentlich anspruchsvoller waren: Hatte sich in Frankreich im Zeichen des Absolutismus ein handlungsfähiges Staatsgebilde längst herausgebildet, so dass sich hier die neuzeitlichen Heraus3 Würtenberger, Ansätze und Zielsetzungen einer Verfassungsgeschichte des Grundgesetzes, in: Burmeister (Hg.), FS Stern, 1997, 127 (129).

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forderungen auf eine Umgestaltung der Gesellschaftsordnung und die Schaffung neu legitimierender Verfassungsstrukturen beschränken konnten, und gab es im alten deutschen Reich zumindest auf der Ebene der Territorien jedenfalls zum Teil gut organisierte und mächtige Einzelstaaten, so dass sich die insoweit hinzukommenden Herausforderungen auf eine Konzentration und Zusammenführung der verschiedenen Mächte beschränkten, fehlte es in Polen schon an einer handlungsfähigen politischen Einheit überhaupt. Der innere Verfall der polnischen Adelsrepublik im 18. Jahrhundert die vor allem in den ausgedehnten Vetorechten des Adels (freie Königswahl, Konförderationsrecht und ein „liberum veto“ für alle Beschlüsse im Reichstag) begründet war, hatte zu Stagnation des politischen Systems geführt4. Die Erneuerung Polens als moderner Verfassungsstaat verlangte hier zunächst überhaupt die Errichtung eines selbständigen handlungsfähigen Gemeinwesens und verband sich überdies zugleich mit der ganz Europa betreffenden Notwendigkeit der Erneuerung der gesellschaftlichen Strukturen sowie der Schaffung einer modernen Verfassungsstaatlichkeit, die auf der Freiheit und Gleichheit aller Bürger aufbaut – eine Herausforderung, die mit der ersten nicht zugleich bewältigt werden konnte. Bereits im 18. Jahrhundert hatte es Versuche gegeben, Polen zu reformieren. Sie waren jedoch erfolglos geblieben. Zwar hatte sich eine vom Geiste der Aufklärung inspirierte Bewegung entwickelt, die insbesondere in König Stanisław August Poniatowski (1732 – 1798) einen Protagonisten fand5. Jedoch gelang es ihm nicht, im Kräftefeld der mächtigen Nachbarn Russland, Preußen und Österreich, die politische Lähmung aufzubrechen. Nach gescheiterten Reformversuchen in der Mitte des 18. Jahrhunderts musste sich Polen dem von Preußen und Russland ausgeübten Druck im sog. „Ewigen Vertrag“ von 1768 beugen6, einer Vereinbarung, mit der Polen de facto zu einem Protektorat Russlands wurde7. Gegen die russische Vorherrschaft entwickelte sich im polnischen Adel alsbald Widerstand. Dieser manifestierte sich in der Gründung der „Konföderation von Bar“, deren Wahlspruch „Glaube und Freiheit“ war und deren politisches Ziel darin bestand, dem russischen Einfluß entgegenzutreten und die katholische, aber auch die republikanische Tradition Polens zu stärken8. Es entspann sich ein vierjähriger Bürgerkrieg, der schließlich mit der Niederlage der Konföderation endete9. 4

Vgl. Masing, Die Polnische Verfassung von 1791 – eine Brücke in den modernen Verfassungsstaat, JZ 2002, 428 (429 f.); Gatter, Der weiß-rote Traum. Polens Weg zwischen Freiheit und Fremdherrschaft, 1983, S. 18; vgl. auch Bömelburg, Zwischen polnischer Ständegesellschaft und preußischem Obrigkeitsstaat. Vom Königlichen Preußen zu Westpreußen (1756 – 1806), 1995, S. 145. 5 Vgl. Nachweise in Masing, JZ 2002,428 (429 f., dort Fußn. 18); Schmidt-Rösler, Polen. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, 1996, S. 57; Rhode, Geschichte Polens. Ein Überblick, 19662, S. 315 ff.; Gatter (Fußn. 4), S. 23 f.; Zernack, Polen und Russland. Zwei Wege in der europäischen Geschichte, 1994, S. 283 ff. 6 Rhode (Fußn. 5), S. 309. 7 Schmidt-Rösler (Fußn. 5), S. 55; Zernack (Fußn. 5), S. 281. 8 Schmidt-Rösler (Fußn. 5), S. 55; Rhode (Fußn. 5), S. 310; Zernack (Fußn. 5), S. 281.

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Die innerpolnischen, aber auch polnisch-russischen Spannungen wusste König Friedrich II. von Preußen für eigene Zwecke zu nutzen: Ab 1770 waren Beratungen zwischen Preußen, Russland und Österreich über die Zukunft Polens im Gange10. Schon 1752 hatte sich Friedrich II. in seinen „Politischen Testamenten“ mit einer Aufteilung Polens beschäftigt: „Polnisch Preußen trennt Pommern von Ostpreußen und hindert, dieses zu behaupten… Ich halte es nicht für angebracht, diese Provinz mit Waffengewalt zu gewinnen… Erwerbungen mit der Feder sind solchen mit dem Schwert allemal vorzuziehen.“11 Friedrich II. erreichte schließlich im Jahr 1772 im Wege der Diplomatie mit der Aufteilung weiter Teile Polens zwischen Österreich, Preußen und Russland sein Ziel12. Angestoßen durch den Schock der ersten Teilung wurden im – durchaus noch lebensfähigen – polnischen Reststaat Reformen im Bereich der Staatsfinanzen, des Heeres und des Bildungswesens verwirklicht. Weitere Reformen gipfelten schließlich in der Verabschiedung der ersten geschriebenen europäischen Verfassung am 3. Mai 179113. In dieser wurde als Staatsform die konstitutionelle Monarchie bestimmt und bedeutende politische Neuerungen festgelegt, die von Montesquieus Lehre von der Gewaltenteilung geprägt waren: So sollte die Regierung künftig aus dem König und neun Ministern zusammengesetzt sein und durch Reichstagskommissionen kontrolliert werden. An die Stelle der freien Königswahl trat eine Erbmonarchie, und das Konförderationsrecht sowie das „liberum veto“ wurden abgeschafft. Diese Verfassung versuchte Polen seine Handlungsfähigkeit zurückzugeben. Auch wenn die Verfassung durchaus bereits erste Züge auch moderner Verfassungsstaatlichkeit aufweist14, handelt es sich noch nicht um eine Verfassung, die inhaltlich die zentralen Forderungen der konstitutionellen Bewegung in den USA und Frankreich – und später dann in ganz Europa – von Freiheit, Gleichheit und Grundrechten aufgreift. Die Verfassung belässt es bei einer reinen Adelsrepublik, mit nur punktuellen politischen und privaten Rechten des Bürgertums, die auch die Leibeigenschaft der Bauern unberührt lässt. Mit dieser Verfassung wird eine Eigentümlichkeit der polnischen Entwicklung deutlich: Es entstand bereits sehr früh eine vom Geiste der Aufklärung getragene Freiheitsbewegung, die man in gewissem Sinne bereits als „nationale Bewegung“ bezeichnen kann, die aber noch nicht im Sinne der konstitutionellen Bewegung eine echt liberale Stoßrichtung hatte. Diese sollte sich mit ihr erst im Laufe der Zeit ver-

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Rhode (Fußn. 5), S. 310 f. Rhode (Fußn. 5), S. 312; Bömelburg (Fußn. 4), S. 216. 11 Zitiert nach Schmidt-Rösler (Fußn. 5), S. 56; die französische Originalversion ist abgedruckt bei Bömelburg (Fußn. 4), S. 210. 12 Schmidt-Rösler (Fußn. 5), S. 56; Bömelburg (Fn. 4), S. 237; Zernack (Fußn. 5), S. 282. 13 Masing, JZ 2002, 428 (428 ff.); Schmidt-Rösler (Fußn. 5), S. 58; Rhode (Fußn. 5), S. 307; Zernack (Fußn. 5), S. 289. 14 Vgl. Masing, JZ 2002, 428 (430 f., 432 ff.). 10

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binden. Unter den Umwälzungen des damaligen Europas war dieses freilich eine Frage von kurzer Zeit. Die Verfassung von 1791 wurde in Russland dennoch als Provokation aufgefasst15. Um die polnische Reformpolitik von innen her zu bekämpfen, bediente sich das Zarenreich der Methode, innerpolnische Reformgegner zur Gründung einer zweiten Konföderation zu bewegen16. Diese baten im Mai 1792 das Russische Reich um Hilfe, die von Zarin Katharina II. auch in Form einer 100 000 Mann starken Armee gewährt wurde und die Streitkräfte des polnischen Königs besiegte17. Daraufhin wurde zwischen Preußen und Russland der zweite Teilungsvertrag vom 23. Januar 1793 ausgehandelt. Im polnischen Reststaat wurde die Verfassung von 1791 außer Kraft gesetzt und die Armee aufgelöst, wogegen sich in der polnischen Bevölkerung Widerstand formierte18. Ehemalige polnische Soldaten fanden sich unter der Führung des Generals Tadeusz Kos´ciuszko zusammen, was schließlich 1794 in den Aufstand von Krakau mündete, bei dem sich Kos´ciuszko zum Oberkommandierenden proklamierte19. Bereits jetzt begann aus der Befreiungsbewegung eine breitere Freiheitsbewegung zu werden, die auch Forderungen nach grundlegenden gesellschaftlichen Umwälzungen in sich aufnahm und insbesondere Veränderungen im Hinblick auf die Situation der Bauern anstrebte. So verkündete Kos´ciuszko im „Manifest von Połaniec“ eine begrenzte Aufhebung der Leibeigenschaft und die Anerkennung einiger grundlegender Rechte auch der Bauern. Kos´ciuszko gewann damit die Unterstützung vieler Bauern, die sich, oft nur mit Sensen bewaffnet, dem Aufstand anschlossen und deshalb auch „Sensenmänner“ genannt wurden20. Der Aufstand war dabei zunächst erfolgreich und breitete sich in der Folge auch auf Warschau und Wilna aus21. Das Blatt wendete sich jedoch im Oktober 1794 zugunsten der Russen, als die Polen eine schwere Niederlage erlitten und Kos´ciuszko gefangen genommen wurde22. Angeblich sprach er dabei die legendär gewordenen Worte „Finis Poloniae“23. Der dritte Teilungsvertrag vom 3. Januar 1795 tilgte dann den Staat Polen vollständig von der Landkarte. Kurz nach seiner Unterzeichnung dankte der letzte polnische König, Stanisław August Poniatowski, ab24.

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Rhode (Fußn. 5), S. 321. Schmidt-Rösler (Fußn. 5), S. 59; Rhode (Fußn. 5), S. 322; Zernack (Fußn. 5), S. 290. 17 Schmidt-Rösler (Fußn. 5), S. 59; Rhode (Fußn. 5), S. 322; Gatter (Fußn. 4), S. 26. 18 Schmidt-Rösler (Fußn. 5), S.60; vgl. auch Zernack (Fußn. 5), S. 291 ff. 19 Rhode (Fußn. 5), S. 324; Gatter (Fußn. 4), S. 26. 20 Schmidt-Rösler, Polen (Fußn. 5), S. 60; Gatter (Fußn. 4), S. 26. 21 Rhode (Fußn. 5), S. 325. 22 Rhode (Fußn. 5), S. 325; Gatter (Fußn. 4), S. 26 f. 23 Schmidt-Rösler (Fußn. 5), S. 60. 24 Schmidt-Rösler (Fußn. 5), S. 61; Rhode (Fußn. 5), S. 326; Gatter (Fußn. 4), S. 27; Zernack (Fußn. 5), S. 295 f. 16

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Polen als Staat war damit aufgelöst – die polnische Freiheitsbewegung aber als Volksbewegung geboren. In der Folge wurde Paris das Zentrum der polnischen Exilpolitik, die intensiv auf das Ziel hinarbeitete, die Teilungen zu überwinden. Dabei gingen die emigrierten Politiker auch auf die ehemaligen Teilungsmächte zu. So warb General Jan Henryk Da˛browski um einen Schulterschluss mit Napoleon und hatte damit auch zunächst Erfolg; die Hoffnungen, die von den Polen in Napoleon gesetzt wurden, wurden jedoch größtenteils enttäuscht, denn Napoleon instrumentalisierte die polnischen Anliegen für seine eigenen europäischen Großmachtsambitionen: So ließ er General Da˛browski 1806 in Posen einen Aufstand gegen die Russen beginnen, um den französischen Truppen den Vormarsch gen Osten zu erleichtern25. Die polnische Bevölkerung erhoffte sich durch Napoleon eine Rekonstituierung des polnischen Staates; dieser aber setzte lediglich für den französisch besetzten Teil Polens eine unter französischer Aufsicht stehende Regierungskommission (Komisja Rza˛dza˛ca) ein26. Einen weiteren Rückschlag stellte der Frieden von Tilsit vom 7. Juli 1807 zwischen Frankreich und Russland dar, in dem Napoleon und Zar Alexander übereinkamen, auf dem preußischen Teilungsgebiet das Herzogtum Warschau zu konstituieren. Mit Bedacht hatten die beiden Herrscher sich auf einen Namen geeinigt, der keinerlei Assoziationen mit einem polnischen Nationalstaat hervorrief27. Die Verfassung des Herzogtums Warschau oblag ebenfalls Napoleon; mit dem Statut constitutionnel du Duché de Varsovie schränkte dieser die Legislativbefugnisse des Sejms erheblich ein, hob die traditionelle Selbstverwaltung auf und schuf eine Unterteilung des Herzogtums nach dem Vorbild der französischen Departements28. Trotzdem kämpften im Juni 1812, als Napoleon Russland angriff, über 100.000 Polen in der Grande Armée unter französischem Kommando mit29. Hierdurch verankerten sich die Ideen der französischen Revolution zugleich immer tiefer auch in der Vorstellungswelt für einen polnischen Staat. Freilich war damit und durch die französische Oberaufsicht das Herzogtum Warschau in seiner – halbsouveränen – Existenz zugleich so eng an Frankreich gebunden, dass Napoleons Niederlage gegen Russland und sein Rückzug im Winter 1812/1813 eine existenzgefährdende Dimension annahmen30. Am 3. Mai 1815 wurde im Zuge des Wiener Kongresses das politische Schicksal Polens vertraglich besiegelt: Die europäischen Großmächte einigten sich darauf, den status quo der Teilung größtenteils aufrechtzuerhalten. Den Teilungsmächten wurde lediglich aufgegeben, die polnische Sprache und Nationalität zu achten31. 25

Schmidt-Rösler (Fußn. 5), S. 63. Schmidt-Rösler (Fußn. 5), S. 63. 27 Schmidt-Rösler (Fußn. 5), S. 63. 28 Schmidt-Rösler (Fußn. 5), S. 64; Rhode (Fußn. 5), S. 333 f. 29 Rhode (Fußn. 5), S. 338; Gatter (Fußn. 4), S. 31. 30 Schmidt-Rösler (Fußn. 5), S. 64. 31 Schmidt-Rösler (Fußn. 5), S. 65; Rhode (Fußn. 5), S. 342.

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Im russischen Teilungsgebiet (dem Königreich Polen bzw. „Kongress-Polen“) verfolgte Zar Alexander I. zunächst mit einer neuen Verfassung, die auch einige Bürgerrechte beinhaltete32, ein „liberales Experiment“33. Allerdings wich dieses schon bald – vor allem nach seinem Tod – einer wieder zunehmend repressiven Verwaltung34. So wurde unter den Polen ein zunehmendes Unruhepotential geschürt, das sich in einer Reihe von Aufständen in der Mitte des 19. Jahrhunderts entlud. Der erste Aufstand in dieser Reihe, der sog. „Novemberaufstand“ von 1830, trug sich auf dem russischen Teilungsgebiet zu und zielte u. a. auf die Tötung des russischen Großfürsten Konstantin in Polen ab35. Zwar misslang diese, doch errangen die Aufständischen einige Etappensiege über die russischen Truppen, mitsamt denen sich Fürst Konstantin schließlich aus Warschau zurückzog36. Dieser Erfolg führte dazu, dass Russland Verhandlungen mit den aufständischen Polen aufnehmen musste, die jedoch im Januar 1831 ein jähes Ende fanden: In einer Grundsatzentscheidung brachte der Sejm zum Ausdruck, dass die polnische Nation sich nie wieder dem Joch eines fremden Staates beugen werde und die Waffen nicht niederlegen werde, bis die Unabhängigkeit errungen sei37. Das Zarenreich fühlte sich hierdurch zu einem militärischen Schlag gegen die Aufständischen provoziert, der sich zu einem regelrechten Krieg auswuchs und nach wechselhaften Erfolgen und Niederlagen auf beiden Seiten schließlich von den Russen niedergeschlagen wurde und mit der Kapitulation Warschaus am 8. September 1831 endete38. In der Folge schlug Zar Nikolaus I. einen scharfen Vergeltungskurs ein – Enteignungen, Zwangsumsiedlungen, Zwangsarbeit, Todesurteile39 –, der eine Fluchtbewegung von enormen Ausmaßen auslöste: die sog. „Große Emigration“40. Dabei verließen eine große Zahl von Polen – es wird von bis zu 50.000 Flüchtlingen ausgegangen41 – ihre Heimat, darunter fast die gesamte intellektuelle und kulturelle Elite des Landes42. Ein großer Teil von ihnen gelangte hierbei, in der Regel nur auf der Durchreise, nach Deutschland, und wurde hier begeistert aufgenommen. Als Kämpfer für nationale Einheit und Freiheit gegen obrigkeitliche Unterdrückung sah das deutsche Bürgertum des Vormärz in ihnen einen Spiegel.

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Rhode (Fußn. 5), S. 345. Schmidt-Rösler (Fußn. 5),S. 73; vgl. auch Gatter (Fußn. 4), S. 34. 34 Schmidt-Rösler (Fußn. 5), S. 74; Rhode (Fußn. 5), S. 348. 35 Schmidt-Rösler (Fußn. 5), S. 75; vgl. auch Gatter (Fußn. 4), S. 34 und Rhode (Fußn. 5), S. 350. 36 Rhode (Fußn. 5), S. 351; Zernack (Fußn. 5), S. 323. 37 Schmidt-Rösler (Fußn. 5), S. 75 f. 38 Schmidt-Rösler (Fußn. 5), S. 76; Rhode (Fußn. 5), S. 353. 39 Gatter (Fußn. 4), S. 35 f. 40 Rhode (Fußn. 5), S. 354 ff. 41 Schmidt-Rösler (Fußn. 5), S. 76. Die Zahlen divergieren allerdings stark; andere Quellen sprechen „nur“ von 9.000 Flüchtlingen, so Rhode (Fußn. 5), S. 357. 42 Gatter (Fußn. 4), S. 35; Rhode (Fußn. 5), S. 354. 33

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II. Die erste Phase der Polenbegeisterung – Solidarisierung mit den Aufständischen Die öffentliche Anteilnahme an den Ereignissen in Warschau setzte nicht erst mit der Ankunft der Flüchtlinge ein. Mit viel Aufmerksamkeit und Empathie wurde der Aufstand von Beginn an von Deutschland aus verfolgt, und bereits früh organisierte man Hilfslieferungen. Bis zur Niederschlagung des Aufstands im September 1831 lässt sich insoweit von einer eigenen Phase der Polenbegeisterung sprechen: Sie beschränkt sich zunächst auf eine Solidarisierung mit den Aufständischen aus der Ferne, war eher spontan und führte noch nicht zur Herausbildung organisatorisch verfestigter Strukturen, wie in der zweiten Phasen mit den Polenvereinen43. Eine wichtige Rolle für die Wahrnehmung der Ereignisse in Polen spielte dabei die „Augsburger Allgemeine Zeitung“ und die „Allgemeine Preußische Staats-Zeitung“. Aufgrund ihrer sehr umfangreichen Berichterstattung – die Augsburger „Allgemeine Zeitung“ verwendete bis Ende 1831 im Schnitt zwei Seiten pro Ausgabe auf die polnischen Geschehnisse44– entstand in Deutschland ein differenziertes oder zumindest farbenreiches Bild der Ereignisse. Polenfreundliche und mitfühlende Beiträge von Lesern in der „Augsburger Allgemeinen Zeitung“ bezeugten eine große Zustimmung zu den Aufständen. Diese beschränkte sich dabei von Anfang an nicht auf das ferne Bayern. Sogar in Preußen habe man sich, beschreibt die Schriftstellerin Fanny Lewald die Atmosphäre dieser Zeit in ihren Erinnerungen, darin überboten, „Charpie für Polen zu zupfen und ihren Siegen mit Begeisterung zu folgen, ihre späteren Niederlagen mit Begeisterung zu betrauern“45. Über die zustimmende Anteilnahme an dem polnischen Befreiungskampf hinaus wurde aber auch humanitäre Hilfe geleistet. Deutsche Ärzte gingen in polnische Feldlazarette und in der Bevölkerung wurden Verbandszeug und Geld gesammelt. Für das Verbandsmaterial existierte ein dichtes Netz von Sammelstellen, Geldspenden wurden in der Regel von Gastwirten und Kaufleuten einvernommen. Die Weiterleitung nach Polen erfolgt dann entweder über Kauf- und Bankhäuser mit polnischen Geschäftsverbindungen oder auch durch unentgeltliche Beförderung durch die Thurn- und Taxische Post46. Über diese humanitäre Hilfe hinaus, gab es vereinzelt auch Freiwillige, die sich nach Polen aufmachten und mit den Aufständischen zusammen kämpften.

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Strobel, Die deutsche Polenfreundschaft 1830 – 1834: Vorläuferin des organisierten politischen Liberalismus und Wetterzeichen des Vormärz, in: Riemenschneider (Hg.), Die deutsch-polnischen Beziehungen 1831 – 1848: Vormärz und Völkerfrühling: XI. deutschpolnische Schulbuchkonferenz der Historiker vom 16. bis 21. Mai 1978 in Deidesheim (Rheinland-Pfalz); Gemeinsame deutsch-polnische Schulbuchkommission, 1979, S. 131. 44 Ders., Die deutsche Polenfreundschaft 1830 – 1834: Vorläuferin des organisierten politischen Liberalismus und Wetterzeichen des Vormärz (Fn. 43), S. 130. 45 Nach Strobel (Fußn.1), S. 33. 46 Strobel (Fußn.1), S. 35.

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III. Die zweite Phase – Aufnahme der Emigranten In jener ersten Phase der Polenbegeisterung handelt es sich um Aktionen, die im Wesentlichen auf die Initiative Einzelner zurückgingen und eine Instrumentalisierung des polnischen Freiheitskampfs für die eigene Sache nicht erkennen ließen. Dies sollte sich jedoch mit der Niederschlagung des Aufstandes und der sich daran anschließenden „großen Emigration“ Richtung Frankreich ändern47. Der unmittelbare Kontakt mit den polnischen Emigranten, die im Winter 1831/32 zu vielen tausenden durch Deutschland reisten, gab der Polenbegeisterung eine neue Dimension, die bis hin zu eigenen politischen Organisationsstrukturen führte. 1. Die Polenvereine Ein Charakteristikum dieser zweiten Phase bilden die sog. „Polenvereine“. So entstand bereits im März 1831 in Stuttgart der „Verein zur Unterstützung der kranken und verwundeten Polen“. Zur Zeit der Durchreise der emigrierenden Polen benannte er sich um in den „Verein zur Unterstützung der durchreisenden hilfsbedürftigen Polen“. Zusammenschlüsse dieser Art entstanden in den Gebieten, durch die die Polen zogen nun zahlreich. Bezeichnenderweise gründeten sich Polenvereine aber auch an Orten, an denen kein unmittelbarerer Kontakt zu den Emigranten bestand. Polenvereine gab es dabei auch als Frauenvereine, die sich hauptsächlich caritativ-philantropischen Aufgaben widmeten. Die primäre Aufgabe dieser Vereine war es, den Polen den Durchmarsch durch Deutschland zu erleichtern. Ausgangspunkt war damit ein zunächst humanitäres Anliegen, mit dem sich ein breites Publikum auch unabhängig von politischen Programmatiken leicht identifizieren konnte: Denn jetzt „da das Ferne nah geworden ist, jetzt da die Geschichte eines edeln und unglücklichen Volkes uns in unmittelbarer Gegenwart und körperlicher Nähe in seinen flüchtigen Söhnen täglich umgibt, jetzt, da wir, wie einst Thomas in die Seitenmale seines Herrn, unsere Finger in die Wunden Polens legen können, jetzt, wo es Hungrige zu speisen an unserem Tische, Entblößte zu kleiden mit unseren Kleidern, Dürftige, die an unseren Türen bescheiden vorübergehen“,48 galt es zu helfen. Dazu wurden Unterkünfte, Verpflegung, Transportmöglichkeiten, Kleidung und Medikamente organisiert49. Die Polenvereine brachten dabei enorme Summen auf, die teilweise zu jahrelanger Verschuldung führten50. Zur Mobilisierung von Geldern wurden zahlreiche Aufrufe zum Spenden in der Presse ab47 Kolb, Polenbild und Polenfreundschaft der deutschen Frühliberalen. Zu Motivation und Funktion der außenpolitischen Parteinahme im Vormärz, Saeculum 26 (1975), 111 (117). 48 Hochwächter, 3.– 4. 1. 1832. 49 Gabrys/Landgrebe/Pleitner, Für Eure und unsere Freiheit! Deutsche und Polen im Europäischen Völkerfrühling 1830 – 1848/49. Ein Forschungsprojekt für eine deutsch-polnische Ausstellung, in: Michalka/Rautenberg/Vanja unter Mitarbeit von Gerhard Weiduschat (Hg.), Polenbegeisterung, 2005, S. 23. 50 Strobel (Fußn.1), S. 36.

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gedruckt. Häufig wurden Feste, Konzerte, Bälle und Lotterien veranstaltet, um weitere Mittel zur Unterstützung der Polen aufzutreiben51. Die Aufnahme der durchreisenden Polen war dabei enthusiastisch. „Ihr Aufenthalt war ein Fest. Man riß sich darum, wer einen Polen in sein Haus aufnehmen dürfe“52, berichtet der Stuttgarter „Hochwächter“. Überall erklang das polnische Lied: „Noch ist Polen nicht verloren!“. Lubomir Gadon, der polnische Historiograph der „Großen Emigration“ beschrieb das Geschehen: „Nach dem Verlassen Preußens von den Grenzen Sachsens an konnte ein Pole nach Frankreich gelangen, ohne seine Geldbörse ein einziges Mal zu ziehen: Aufenthalte und Übernachtungen wurden überall unentgeltlich gewährt; […] Die Städte und Ortschaften überboten sich in Gastfreundschaft gegenüber den Polen. Bei deren Ankunft nahmen die Ortschaften ein Feiertagsgepräge an. […] Auf den Straßen zeigten die Mütter ihren Kindern die Polen und hielten sie an, zu ihnen zu gehen und ihnen die Hände zu schütteln. Abends illuminierte man die Häuser, hängte Transparente aus, veranstaltete zu Ehren der Polen Konzerte, Bälle, Redouten und reichliche – häufig allzu reichliche – Festessen und Trinkgelage.“53 Die Polenvereine waren aber weit mehr als eine Organisationsstruktur zur Bewältigung von konkreten Problemen der Hilfeleistung. Sie waren vielmehr Ausdruck eines allgemeinen politischen Engagements, getragen von dem Willen und der Bereitschaft, gesellschaftliche Veränderungen herbeizuführen. Sie wurden zu Diskussionsforen für die Forderungen des deutschen Liberalismus. Die Sache Polens wurde darüber zum Vehikel der eigenen politischen Angelegenheiten. Überall konnte man die Losung: „Für eure und unsere Freiheit!“ in dieser Periode vernehmen. In dem polnischen Aufstand sahen die Deutschen ein Modell des politischen Befreiungskampfes gegen die Ordnung der Restauration – ausgedrückt mit den Formeln dieser Zeit: einen „Kampf zwischen ,absoluter Gewalt‘ und ,konstitutioneller Freiheit“54. Die Unterstützung des polnischen Freiheitskampfes stellte sich dabei als Solidarisierung gegen Deutschland und das restaurative System dar. Indem sich der Aufstand der Polen gegen die Unterdrückung durch das zaristische Russland richtete, richtete er sich gegen die Macht, die maßgeblichen Anteil an den Beschlüssen des Wiener Kongresses hatte. In der Polenbegeisterung entlud sich so die Enttäuschung der nationalen und liberalen Bewegungen in Deutschland über die restaurative Politik nach 1815. Im Esslinger Wochenblatt konnte man dementsprechend lesen, dass die „edlen Polen“ ein Vorbild bei der Bekämpfung der „Kosaken“ seien55, mit der die Macht der Heiligen Allianz aus Russland, Österreich und Preußen insgesamt angegriffen werde. In diesem Zusammenhang wurde dabei Polen nicht nur im übertragenen, sondern auch im realen Sinne als „Vormauer“ oder „Boll51

Strobel (Fußn. 43), S. 136. Hochwächter, 4. 2. 1832. 53 Nach Strobel (Fußn.1), S. 38. 54 Kolb (Fußn. 47), S. 118. 55 Nach Gabrys/Landgrebe/Pleitner (Fußn. 49), S. 27.

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werk“ verstanden. Durch die Wiederherstellung Polens sollte eine Art Schutzzone gegen Russland entstehen, von der dessen Schwächung und damit insgesamt eine Schwächung der Heiligen Allianz erhofft wurde. Erst dann, so die Vorstellung der liberalen und nationalen Akteure, könne ein geeintes und verfassungsmäßiges Deutschland entstehen. So bezeichnet die „Deutsche Tribüne“ Warschau als „Bollwerk der verfassungsmäßig regierten Länder Europas“56. Die Polenvereine waren damit für die politische Landschaft des Vormärzes von grundsätzlicher Bedeutung. Sie können als das „erste ausgedehnte Organisationsnetz des deutschen Liberalismus“57 bezeichnet werden. Dass dieses Netz eine weit über die Organisation der Polenhilfe hinaus gehende Bedeutung hatte, wurde auch damals klar gesehen. Ausdrücklich forderte etwa der Marburger Polenverein im Dezember 1831: Die Vereine sollten in Deutschland fortbestehen bleiben und sich so erweitern, dass sie zugleich Vereine für die deutsche konstitutionelle Freiheit würden58. 2. Das Hambacher Fest Der Höhepunkt der Verbindung zwischen der Polenbegeisterung jener Jahre und den politischen Forderungen der deutschen Liberalen stellt das Hambacher Fest vom 27. Mai bis zum 1. Juni 1832 dar. In unmittelbarer Nähe zum Hambacher Schloss bei Neustadt in der Rheinpfalz nahmen an dieser seit der Restauration größten politischen Kundgebung in Deutschland etwa 30 000 Personen teil59 – unter ihnen zahlreiche Polen. a) Einladung und äußerer Ablauf Schon in der von Philipp Jacob Siebenpfeiffer verfassten Einladung wird ein Zusammenhang mit der polnischen Freiheitsbewegung geschaffen: Der Mai eigne sich als Datum des Konstitutionsfestes besonders aufgrund seiner historischen Bedeutung, denn „im Mai empfing das heldenmütige Polen seine Verfassung“60. Die Verbindung mit den Polen und ihrem Freiheitsstreben tritt bereits im äußeren Ablaufs des Hambacher Fests zu Tage: Am Morgen des 27. Mai versammelten sich auf dem Marktplatz in Neustadt die Teilnehmer der Kundgebung, um in einem Festzug zum Hambacher Schloss zu ziehen. Darunter befanden sich, wie es in zeitgenössischer Diktion farbenfroh heißt, „Frauen und Jungfrauen mit der polnischen Fahne, letztere getragen von einem Fähndrich, der mit einer weiß roten Schärpe geschmückt

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Deutsche Tribüne Nr. 58 vom 29. 8. 1831. Kolb (Fußn. 47), S. 119. 58 Müller, Die Polen in der öffentlichen Meinung Deutschland 1830 – 1832, 1923, S. 72 f. 59 Jaroszewski, Das Hambacher Fest aus polnischer Sicht, in: Literatur und Geschichte. Studien zu den deutsch-polnischen Wechselbeziehungen im 19. und 20. Jahrhundert, 1995, S. 66. 60 Wirth, Das Nationalfest der Deutschen zu Hambach, 1832, S. 6. 57

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war.“61 Die weiß-rote polnische Nationalflagge, das Symbol des polnischen und – in einer von den deutschen Liberalen ausgehenden Interpretation – des gesamteuropäischen Befreiungskampfes, wehte für die Dauer des Hambacher Fests neben der schwarzrotgoldenen deutschen Fahne vom Schlossturm herab62. Während des Festzugs zum Schloss erklangen die Strophen des von Philipp Jakob Siebenpfeiffer gedichteten Liedes63: „Hinauf, Patrioten! Zum Schloß, zum Schloß! Hoch flattern die deutschen Farben: Es keimet die Saat und die Hoffnung ist groß, Schon binden im Geiste wir Garben: Es reifet die Aehre mit goldnem Rand, Und die goldne Ernd‘ ist das – Vaterland. Wir sahen die Polen, sie zogen aus, Als des Schicksals Würfel gefallen; Sie ließen die Heimath, das Vaterhaus In der Barbaren Räuberkrallen. Vor des Czaren finsterem Angesichts beugt der Freiheit liebende Pole sich nicht. Auch wir Patrioten, wir ziehen aus in fest geschlossenen Reihen; wir wollen uns gründen ein Vaterhaus und wollen der Freiheit es weihen. Denn vor der Tyrannen Angesicht Beugt länger der freie Deutsche sich nicht.“ (…)

Freiheit und Polen werden dabei als Synonym behandelt. Wie die Polen sich nicht dem russischen Zaren beugten, sondern ihrem Drang nach Freiheit folgten und emigrierten, so wollen sich auch die Deutschen von den restaurativen Mächten befreien. Schon während des Festzugs ist die Beschwörung des Freiheitsstrebens der Polen zugleich Appell an die patriotischen Gefühle der Deutschen64. Während des weiteren Fests wurden abwechselnd deutsche und polnische Nationallieder gesungen. Hierbei erklang eine – nicht wortgetreue – deutsche Übersetzung des polnischen Mailiedes „Der Polen Mai“. Das Lied handelt vom polnischen Freiheitskampf, seit die Verfassung vom 3. Mai 1791 außer Kraft gesetzt worden war65. Eigens für das Hambacher Fest war eine sechste Strophe hinzu gedichtet worden: „Eine Hoffnung knüpft an Leben Uns verbannte Polen wieder, Unsre Freiheit zu erstreben 61

Wirth (Fußn. 60), S. 11. Wirth (Fußn. 60), S. 97; Jaroszewski (Fußn. 59), S. 66. 63 Wirth (Fußn. 60), S. 12 f. 64 Jaroszewski (Fußn. 59), S. 70. 65 Jaroszewski (Fußn. 59), S. 72.

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Werden helfen deutsche Brüder! Gott verleih, daß es sey! Dankfest dann dem neuen Mai!“

Diese Strophe nimmt das Versprechen der Deutschen auf, den Polen in ihrem Freiheitskampf zu helfen. Das Streben nach Freiheit ist gemeinsames Anliegen und gemeinsamer Kampf. Es gibt gemeinsame Kraft und gemeinsame Zuversicht. Im Anschluss an das Polnische Mailied wurde als Erwiderung auf „Der Polen Mai“ das von Johannes Fitz gedichtete „Deutsche Mailied“ gesungen66 : „Hört, deutsche Brüder, Polens Klage! Sie dringt an jedes Mannes fühlend Herz, Wem nicht der Polen trauervolle Lage Erpresset ein Gefühl von Scham und Schmerz, Den mag ich nimmer Bruder nennen, Er kann für Edles nie entbrennen; Er machet Schand der deutschen Nation, Ihm zeige jeder Biedere Spott und Hohn! Der Polen Hoffnung ist auf euch gerichtet, Sie flehn zu euch im Hilf‘ in ihrer Not; Das Reich der Polen hat der Zar vernichtet, Und Tyrannei treibt mit euch den Edeln Spott. Und deutsche Männer könnten sehen Daß Polens Reich soll untergehen!? Es brächte Schand‘ der ganzen Nation, Die Nachwelt spräch‘ von uns mit Spott und Hohn … Und es erscheint bald ein schöner Mai, Wo Deutsche, Polen jauchzen: Wir sind frei!“

Der Begriff „Der Polen Mai“ steht für den polnischen Freiheitskampf seit 1791. Die analoge Bezeichnung „Der Deutschen Mai“ steht also für den Kampf des deutschen Volkes um Einheit und Freiheit. In beiden Forderungen, den grundlegenden Losungen des Hambacher Fests, fühlten sich die polnischen Emigranten und die deutschen Liberalen tief verbunden. b) Reden und Ansprachen Das gegenseitige Versprechen von Brüderlichkeit und Solidarität im Kampf um die Freiheit kommt auch in den Reden während des Hambacher Fest zum Ausdruck. Hervorzuheben ist zunächst, dass im Verlauf der Feierlichkeiten auch Polen – nämlich zwei Personen namens Grzymala und Zafwarnicki – jeweils eine Rede hielten, die begeistert aufgenommen wurde67. Verlesen wurde auch eine Adresse des polnischen Nationalkomitees in Berlin. 66 67

Wirth (Fußn. 60), S. 73 f. Wirth, (Fußn. 60), S. 95 f.

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Aufmerksamkeit verdienen dann zwei von Deutschen gehaltene Reden. So sah Johann Georg August Wirth, einer der beiden Initiatoren und Organisatoren des Hambacher Fests, in seiner Rede eine enge Verbindung zwischen der Befreiung des deutschen Volkes und anderer europäischer Völker – und hierbei insbesondere auch der Polen. Die Heilige Allianz könne nicht mehr fortbestehen, wenn Preußen und Österreich erst unter der Herrschaft des Volkes stünden. Denn „wenn (…) das deutsche Geld und das deutsche Blut nicht mehr den Befehlen der Herzöge von Österreich und der Kurfürsten von Brandenburg, sondern der Verfügung des Volkes unterworfen sind, so werden Polen, Ungarn und Italien frei, weil Rußland dann der Ohnmacht verfallen ist und somit keine Macht mehr besteht, welche zu einem Kreuzzuge gegen die Freiheit der Völker verwendet werden könnte. Der Wiederherstellung des alten mächtigen Polens, des reichen Ungarns und des blühenden Italiens folgt von selbst die Befreiung Spaniens und Portugals (…). Europa ist wiedergeboren und auf breiten natürlichen Grundlagen dauerhaft organisiert.“68 Noch stärker auf die polnische Frage fokussiert war die Rede von Johannes Fitz aus Dürkheim69. Er rief dazu auf, den Polen mit aller Macht zur Seite zu stehen und sie in gemeinsamer Anstrengung von der Herrschaft Russlands zu befreien. Diese Befreiung sollte vom Hambacher Fest seinen Ausgang nehmen. „Es schwellt mir die Brust, wenn ich daran denke, daß (…) der erste feste Entschluß, eine so edle That zu vollbringen, als die ist: Polens Befreiung vom Joche des Tyrannen, von der heute versammelten Menge, an diesem festlichen Tage, aus Hambachs Schloß-Ruinen ausgehen würde! (…) wir wollen zuerst unsre deutschen Brüder auffordern, und die anderen Nationen werden uns folgen, in allen deutschen Ländern Unterschriften von Männern zu sammeln, welche bereit sind, Gut und Blut für die Befreiung Polens zu opfern (…).“ Seine Rede gipfelt voller Enthusiasmus in den berühmt gewordenen Worten: „Ohne Polens Freiheit keine deutsche Freiheit, ohne Polens Freiheit kein dauernder Friede, kein Heil für alle andern europäischen Völker! Darum fordert auf zum Kampfe für Polens Wiederherstellung, es ist der Kampf des guten gegen das böse Prinzip, es ist der Kampf für die edle Sache der ganzen Menschheit!“ Der polnische Freiheitskampf ist in dieser Rede aufs Engste mit dem Einheitsund Freiheitsstreben der Deutschen und aller europäischen Völker verbunden. 3. Polenliteratur und Polenlieder Wie auf dem Hambacher Fest zahlreiche Lieder, die inhaltlich im Zusammenhang mit dem Freiheitskampf der Polen standen, erklangen, so war dies nicht ein auf das Konstitutionsfest begrenztes Phänomen. Überall in Deutschland entstand als Reaktion auf den polnischen Novemberaufstand 1830 die sogenannte „Polenliteratur“. Diese umfasst eine Flut von politischen Flugschriften, Romanen, Theaterstücken, Gedichtsammlungen, Reisebeschreibungen und historischen Abhandlungen über 68 69

Wirth, (Fußn. 60), S. 42 ff. Wirth, (Fußn. 60), S. 66 ff.

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Polen70. Als berühmtes Beispiel ist hier Richard Otto Spaziers „Geschichte des Aufstandes des Polnischen Volkes in den Jahren 1830 und 1831“ zu nennen. Unter der Polenliteratur nehmen die sogenannten Polenlieder eine besondere Stellung ein. Die Zahl dieser Lieder und Gedichte über Polen wird auf etwa tausend geschätzt71. Viele Polenlieder hatten den Aufstand der Polen gegen Russland zum Gegenstand, andere sind vom Mitgefühl für das traurige Los der Emigranten geprägt. Eine besonders wichtige Rolle spielt in den Liedern das Motiv der Freiheit. Ungeachtet der teilweise wechselnden Thematik bildet diese Poesie ein zusammenhängendes Ganzes. Sie ist geprägt von „dem Glauben an den Sinn des Heldentums und der Opferbereitschaft, die Sehnsucht nach etwas, das mit Schillers Parole ,Alle Menschen werden Brüder‘ zu fassen ist, der Hass und die Verachtung gegenüber dem, was in damaliger Zeit als Tyrannei bezeichnet wurde“72. Die Polenlieder wurden zu einem wichtigen Bestandteil der deutschen Volkskultur dieser Zeit73. Über hundert Dichter, darunter etwa auch August Graf von Platen, widmeten den polnischen Geschehnissen eigene Werke. Besonders populär waren das Lied „Die letzten zehn vom 4. Regiment“ von Julius Mosen und „Denkst Du daran, mein tapferer Lagienka“ aus dem Singspiel „Der alte Feldherr“. Dieses war freilich bereits 1815 von Karl von Holtei geschrieben worden, wurde aber in den 1830er Jahren im Zusammenhang mit dem polnischen Novemberaufstand zum populärsten deutschen Volkslied74. Dieses schnelle und tiefe Eindringen der Polenbegeisterung in Literatur und Liedgut entsprach der Aufbruchstimmung der Zeit, die sich an der Schwelle zu einer neuen Epoche sah: Einer Epoche, die mehr als ein politischer Systemwechsel das geistige Leben und das gesellschaftliche Miteinander insgesamt erfassen würde. Dichter und Tonsetzer galten hierbei als Stimme des Volkes, aus dessen mythischer Tiefe sie schöpften. Die Solidarisierung mit den Polen war in dieses romantische Gedankengut fest eingebunden, wie Ludwig Uhlands Gedicht „An Mickiewicz“ aus dem Jahre 1833 exemplarisch zum Ausdruck bringt: „An der Weichsel fernem Strande Tobt ein Kampf mit Donnerschall Weithin über deutsche Lande Rollt er seinen Widerhall. Schwert und Sense, scharfen Klanges, Dringen her zu unsern Ohren 70 Müller, Polenmythos und deutsch-polnische Beziehungen. Zur Periodisierung der Geschichte der deutschen Polenliteratur im Vormärz, in: Riemenschneider (Hg.), Die deutschpolnischen Beziehungen 1831 – 1848: Vormärz und Völkerfrühling (Fußn. 43), S. 106. 71 Gerecke, Das deutsche Echo auf die polnische Erhebung von 1830, Diss. 1964, S. 44. 72 Treugutt, Die Polen-Begeisterung in der deutschen Literatur nach 1830, in: Riemenschneider (Hg.), Die deutsch-polnischen Beziehungen 1831 – 1848: Vormärz und Völkerfrühling (Fußn. 43), S. 121. 73 Gerecke, Das deutsche Echo auf die polnische Erhebung von 1830 (Fußn. 71), S. 44. 74 Gabrys/Landgrebe/Pleitner, (Fußn. 49), S. 24.

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Und der Ruf des Schlachtgesanges: Noch ist Polen nicht verloren!“

Nachdem die nächste Strophe von der Niederlage der Aufständischen handelt, stützt sich die Hoffnung des Gedichtes dann auf die künstlerische Kraft des großen romantischen polnischen Nationaldichters Adam Mickiewicz: „Leben schaffen solche Geister, Dann wird Totes neu geboren; Ja, mir bürgt des Liedes Meister: Noch ist Polen nicht verloren!“75

IV. Das Ende der Polenbegeisterung Obwohl die Polenfreundschaft in den Jahren 1830 bis 1832 in Deutschland weit verbreitet war und tief verwurzelt zu sein schien, blieb sie ein Phänomen von kurzer Dauer. Zwar dauerte sie über die Phase der Emigrationswelle selbst deutlich hinaus und konnte immerhin doch ein länger nachwirkendes positives Polenbild in das kollektive Gedächtnis einschreiben. Jedoch entfaltete sie politisch keine lange Wirkung. Deutlich wurde dies schon 1846, als im Zusammenhang mit dem Krakauer Aufstand die polnische Frage wieder Aktualität erlangte. In Posen und der teilautonomen Republik Krakau waren Aufstände zur Wiedererrichtung eines unabhängigen polnischen Staates geplant worden. Die Pläne der Aufständischen in Posen wurden an die Polizei verraten und scheiterten schon im Vorfeld; in Krakau konnte der Aufstand alsbald von der österreichischen Armee niedergeschlagen werden. Zwar gab es auch im Zusammenhang mit diesem Ereignis polenfreundliche Reaktionen. Jedoch nahmen nun auch viele Liberale und Demokraten zunehmend kritische Positionen ein. Nach den Beobachtungen des zeitgenössischen Publizisten Franz Schuselka, waren die bisherigen Polensympathien „ins äußerste Gegenteil umgeschlagen. Plötzlich behauptet die deutsche Presse fast allgemein, die Polen verdienten keine deutsche Sympathie.“76 Die Ursachen für diesen Umschwung der öffentlichen Meinung sind wohl vielfältig. Vor allem war von Bedeutung, dass die verhinderten Insurrektionspläne in Posen deutlich die preußischen, aber auch die allgemein deutschen Interessen betrafen. Beschränkten sich die Aufstände von 1830 auf „Kongress-Polen“ und damit das russische Gebiet, waren sie jetzt gegen die preußische Besatzungsmacht gerichtet. Während sich damals die Solidarisierung mit den Polen als Verbrüderung gegen die Vormacht Russlands darstellte, berührte die Haltung gegenüber den Polen nunmehr erhebliches Konfliktpotential77. Hinzu kam, dass die polnische Erhebung 1846 75 Zit. nach Polenlieder deutscher Dichter, Gesammelt und herausgegeben von Stanislaw Leonhard, Band I, 1911, S. 286 f. 76 Schuselka, Deutschland, Polen und Rußland, 1846, S. 296. 77 Müller, Polenmythos und deutsch-polnische Beziehungen. Zur Periodisierung der Geschichte der deutschen Polenliteratur im Vormärz (Fußn. 70), S. 112; Gabrys/Landgrebe/ Pleitner, (Fußn. 49), S. 40 f.

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inzwischen stärker auch von sozialrevolutionären Forderungen geprägt war, die viele abschreckten. Zumal angesichts der wachsenden Bedeutung der nationalen Frage in Deutschland, konnte so eine Unterstützung der Polen keine zusammenschweißende Bedeutung für die deutschen Liberalen mehr entfalten: Die Polen waren als „Sturmvögel der Revolution“, als Vorreiter für den Umsturz der verfassungsmäßigen politischen Umstände in ganz Europa, nicht mehr geeignet bzw. nicht mehr gewünscht78. Im Jahre 1848 wurde der Stimmungsumschwung gegenüber den Polen endgültig sichtbar. In den Diskussionen der Paulskirche und des preußischen Abgeordnetenhauses sowie in der Reaktion der Öffentlichkeit darauf hielten nur noch eine kleine Minderheit der „Linken“ an der ursprünglichen Rolle der Polen als Bollwerk gegen Russland und Vorreiter der Revolution fest. Demgegenüber wandte sich die Mehrheit deutlich von Polen ab. So schrieb der Leipziger Historiker Heinrich Wuttke – keineswegs ein Vertreter der alten Ordnung, sondern ein Vertreter der gemäßigten Linken in der Frankfurter Nationalversammlung – schon 1848: „Ein Irrtum des Liberalismus hat die öffentliche Meinung Deutschlands für die polnische Sache eingenommen. Der Grund dieser Verirrung liegt nahe. Weil die Polen gegen eine erdrückende Gewalt für ihre Freiheit stritten, hielten es die deutschen Fortschrittsmänner für ihre Pflicht, zu ihren Gunsten das Wort zu ergreifen. In ihres Eifers Hitze gewahrten sie nicht, wie sie rein gegendeutsch, selbstmörderisch, hochverräterisch wirken. Kein geringer Gewinn aus den letzten Ereignissen ist es, dass die deutsche Presse sich von der undeutschen Haltung, die sie den Polen gegenüber bisher behauptete, zu befreien anfängt.“79 Die Polenbegeisterung der Jahre 1830 bis 1832 hatte endgültig ein Ende gefunden – und stand davor, in ihr Gegenteil umzukippen. V. Schluss Die deutsche Polenbegeisterung der Jahre 1830 bis 1832 begründete eine kurze intensive Phase großer Gemeinsamkeit zwischen Polen und Deutschland. Eine gemeinsame Vision von Freiheit, Recht und Gerechtigkeit in politischer Selbstbestimmung brachte die Menschen aus beiden Ländern ideell wie auch reell im gelebten Miteinander nahe zusammen. Die weitere Geschichte zwischen Polen und Deutschland hat diese Erfahrungen freilich lange verschüttet. Nach den Verbrechen des Nationalsozialismus an Polen müssen wir auf neue Weise, gegenwartsbezogen und in Auseinandersetzung primär mit unserer jüngeren Geschichte, Vertrauen langsam wieder aufbauen. Deutschland steht gegenüber seinem östlichen Nachbarn hier nun dauerhaft in besonderer Verantwortung. Vielleicht ist es aber hilfreich, dabei auch solche guten Erfahrungen dem kollektiven Gedächtnis wieder in das Bewusstsein zu rufen. Freilich zeigt die Kurzlebigkeit der Polenbegeisterung im Vormärz auch, dass auf Emphase und Schwärmerei keine belastbare Politik gebaut werden kann. An die Stel78 79

Kolb, (Fußn. 47), S. 126. Wuttke, Polen und Deutsche. Politische Betrachtungen, 18472, S. 161 f.

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le des Strohfeuers eines romantisch übersteigernden Affekts muss heute, nach einem leidvollen gemeinsamen Weg, zwischen beiden Ländern eine gereiftere und verlässlichere Partnerschaft entstehen. Statt pathetische Projektionen von Erlösung muss sie die Suche nach gemeinsamen Interessen in ihren Mittelpunkt stellen, Herausforderungen mit vereinten Kräften angehen und Interessenkonflikte respektvoll zum Ausgleich bringen. Nicht Euphorie oder Phobie, sondern nur ein intensiver und offener Austausch mit Klarblick und Nüchternheit kann in diese Beziehung Verständnis, Vertrauen und schließlich Zuneigung bringen. In diesem Sinne sind Polen und Deutschland heute – eingebunden in die Europäische Union – auf dem Weg zu einer echten Freundschaft, die immerhin schon von größerer Dauer ist als die Begeisterung im Vormärz und der gelegentliche Divergenzen immer weniger anhaben können. Die romantische Phase des Vormärz wird so vielleicht, wie im Rückblick eines lebenserfahrenen Ehepaares, eine Erinnerung an die Jugend werden können, die man einerseits beschmunzelt, aber andererseits doch auch inspirierend bleibt. Denn eines macht diese Phase bis heute deutlich: Eine Freundschaft zwischen Völkern lebt nicht von offiziellen Kontakten allein, sondern immer auch vom persönlichen Kontakt und einem gemeinsamen Erleben im Austausch der Bürger selbst. Thomas Würtenberger weiß dies und hat wissenschaftlich wie persönlich viel Engagement aufgebracht, damit eine solche Freundschaft zu unserem westlichen Nachbarn, Frankreich gelingt. Wenn es heute an der Zeit ist, uns ähnlich auch unserem östlichen Nachbarn Polen zu öffnen, steht dies in unmittelbarer Kontinuität zu seinem Wirken und Schaffen. Wir dürfen uns dabei seiner zugewandten Aufmerksamkeit gewiss sein.

Akzeptanz und Legitimität parlamentarischer Entscheidungen Erforderlichkeit einer Neujustierung? Von Ulrich Rommelfanger, Wiesbaden I. Prolog Eine grundlegende Untersuchung des Jubilars aus seiner wissenschaftlichen Anfangszeit erfährt nach mehr als 40 Jahren vor dem Hintergrund aktueller politischer Entwicklungen eine neue Bedeutung. Neben der allenthalben analysierten unzureichenden demokratischen Legitimität und Kontrolle1 wird zusätzlich ein Verlust des Vertrauens des Staatsvolkes in den Rechtstaat diagnostiziert. Die Rechtstreue selbst der Staatsorgane erodiere mittlerweile meinen Rüthers und Höpfner – angesichts eines z. B., Atomausstiegs im Eiltempo bzw. einer Milliardenhilfe an Griechenland ohne (genügende) parlamentarische Legitimation –; die politische Exekutive ihrerseits habe „daran Gefallen gefunden, sich von der Gesetzeslage zu lösen2“. Die Frage nach der Legitimation souveräner staatlicher Gewalt als einem Problem der politischen Philosophie der Gegenwart ist gleichzeitig ein Abbild des sich wandelnden Selbstverständnisses des Menschen vor dem Hintergrund einer zum Teil grundlegenden Veränderung seiner Lebenswirklichkeit (Stichworte: Entstaatlichung, Globalisierung) und eines in der mittelbar repräsentativen Demokratie des Grundgesetzes augenscheinlich empfundenen Beteiligungsdefizits am Volkswillensprozess, was in den Worten des Bundesverfassungsrichters Peter M. Huber mittlerweile zu einer „großen Frustration über das politische System“ geführt habe.3 Im Folgenden können, der Kürze eines Festschriftbeitrags geschuldet, weder das Wesen legitimer Herrschaft4 noch die vor allem im 17. und 18. Jahrhundert virulenten Auffassungen zur Legitimität umfänglich dargestellt werden.

1

Stichwort: Demokratiedefizit, z. B. Hans H. Klein, Metamorphose der Demokratie, FAZ v. 19. 08. 2011, S. 7. 2 Rüthers/Höpfner, Abschied vom Rechtsstaat? FAZ v. 26. 08. 2011, S. 9. 3 FAZ vom 20. 12. 2011, S. 4. 4 Insoweit sei auf Würtenberger, Die Legitimität staatlicher Herrschaft, Berlin 1973, verwiesen.

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Zwei bekannte und renommierte Staatstheoretiker haben kürzlich, unabhängig voneinander, in einer großen deutschen Tageszeitung die schwindende „legitimatorische Kraft“ der repräsentativ strukturierten bundesrepublikanischen Parteiendemokratie bzw. des „Prinzips demokratischer Legitimation als Bedingung für die Akzeptanz von Herrschaft“ beklagt.5 Während der eine Wissenschaftler ein Versagen der Eliten und Parteien diagnostiziert und dort den Ausgangspunkt der Therapie ansetzt (Hans H. Klein), sieht der andere eher die Remedur in der Stärkung der plebiszitären Entscheidungsverfahren (H. Lübbe). Für das parlamentarische System der Bundesrepublik Deutschland wesentlich ist vor diesem Hintergrund die Frage nach verfassungsrechtlichen Möglichkeiten einer Vervollkommnung demokratischer Legitimation von parlamentarischen Entscheidungen angesichts (zunehmender) parteienstaatlicher „Abschottungstendenzen“6 sowie eines vermeintlich feststellbaren Demokratiedefizits.7 Peter M. Huber schlägt „ergänzende“ Maßnahmen vor, welche die „repräsentative Demokratie (zu) stabilisieren“ ( Huber) vermögen, sofern das Grundgesetz dies zulässt. Ähnlich äußert sich sein Richterkollege, der frühere Ministerpräsident des Saarlands, Peter Müller8. Der nachfolgende Beitrag geht der Frage nach, ob und wie die Bedingungen für die Akzeptanz von Herrschaft vor dem Hintergrund des Grundgesetzes neu justiert werden könnten. Dabei soll – in der gebotenen Kürze – die Entwicklung der Legitimationsproblematik wie auch der dem Grundgesetz zugrunde liegende Repräsentationsgedanke (II.) im Hinblick auf aktuelle Forderungen nach mehr direkter Demokratie innerhalb der repräsentativ-parlamentarischen Demokratie des Grundgesetzes (III./IV.) beleuchtet und ein Fazit gezogen werden (V.). II. Begriffsgeschichtliche Entwicklung von Repräsentation und Legitimation/Legitimität 1. Bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts 1. Während der Begriff der Repräsentation erst seit Beginn des 14. Jahrhunderts die juristische Bedeutung i.S. eines stellvertretenden, jemanden anderen zurechenbaren Handelns erlangt hat, an das sich eine politische Bedeutung „anbindet“, sind die Bedeutungen der Begriffe „legitimus“ und „legalis“ bereits seit der römischen Jurisprudenz verbürgt. 5

Lübbe, FAZ v. 16. 12. 2011, S. 9 ; Hans H. Klein, FAZ v. 29. 08. 2011, S. 7. Verfassungsrichter Peter M. Huber, FAZ v. 20. 12. 2011, S. 4. 7 Von europarechtlichen Topoi bis zu Fragen der Planfeststellung, dazu Hans H. Klein, a.a.O. 8 In: FS „20 Jahre Mehr Demokratie“, 2011. 6

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Bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts bildete der Glaube an den rechtmäßigen Herrschaftsanspruch eines „von Gottes Gnaden“ abgeleiteten Herrscherhauses die vorherrschende Rechtfertigung monarchischer Herrschaft. Ihr Korrelat war der „willige“ (Zippelius) Gehorsam der Gewaltunterworfenen, jedenfalls solange der Monarch „im Sinne des Staatszwecks Gemeinwohl funktionierte“.9 Dieses erbmonarchische Legitimitätsprinzip wurde in Europa „bewußt und kämpferisch“ dem Prinzip der Volkssouveränität gegenübergestellt; es bildete die ideologische Basis für die beginnende Restaurationspolitik der Heiligen Allianz.10 Erst Hegel gelingt es, dieses Legitimitätsprinzip zu „neutralisieren“ (Würtenberger). In der Folge kommt es bis zu den 60-er Jahren des 19. Jahrhunderts zu heftigen Auseinandersetzungen um die Legitimität staatlicher Herrschaft.11 2. Es war Jean-Jacques Rousseau, der im „Contrat Social“ im Jahre 1762 die These aufstellte, die Gültigkeit eines jeden Gesetzes sei von der Zustimmung des versammelten Volkes abhängig. Das Volk äußere seinen wahren, mit dem Gemeinwohl übereinstimmenden Volkswillen, die volonté générale, im Plebiszit. Nur es schaffe die nötige politische Legitimität, während jede Form der Vertretung zu einer Veräußerung der Volkssouveränität werde. „Von dem Augenblick an, wo das Volk sich Repräsentanten gibt, ist es nicht mehr frei, es ist nicht mehr“12 Trotz Rousseaus Einflusses auf das Verfassungsdenken der führenden Persönlichkeiten der französischen Revolution (unter seinem Einfluss hatte sich die Vision von der Herrschaft eines vorgegebenen abstrakten Gemeinwillens – der volonté générale – entwickelt, den zu entdecken und im Sinne des Gemeinwohls zu interpretieren, Aufgabe der Regierung sei.) setzte sich unter der Führung Abbé Sieyès (1748 bis 1836) der Gedanke der Repräsentation durch.13 Sieyès machte sich die Erkenntnisse der amerikanischen Unionsverfassung, wie sie durch die „Federalist Papers“ 1787 von Hamilton, Madison und Jay publizistisch vorbereitet worden waren, zu Eigen. Er erkannte früh die Möglichkeit des Repräsentativgedankens, zur Steigerung der Effektivität und Leistungsfähigkeit eines politischen Systems durch die Ausdifferenzierung spezieller Repräsentativorgane beizutragen.14

9

Reinhard, Geschichte der Staatsgewalt, München 2000, S. 123. Fraenkel, Legitimität, in: Fraenkel/Bracher, Staat und Politik, Frankfurt 1957, S. 180 f. 11 Zum Ganzen: Würtenberger, Legitimität, Legalität, in: Conze/Koselleck, Geschichtliche Grundbegriffe, Stuttgart 2004, § 48. 12 Übersetzt nach Oeuvres complètes – Pléiade – Gagnebin/Raymond, Paris 1959, III. S. 43. 13 Vgl. Zweig, Die Lehre vom Pouvoir Constituant, Tübingen 1909, S. 118 ff. 14 Dazu Schmitt, Repräsentation und Revolution, München 1969, S. 178 ff., 277 ff. 10

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2. Ab dem 19. Jahrhundert Im 19. Jahrhundert wurde die Idee der Repräsentation über Jahrzehnte perhorresziert.15 In den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts war es u. a. der Verdienst Hans Kelsens, den Gedanken der Repräsentation „wiederzubeleben“ und ihr die Fiktion zuzuweisen, den notwendigen Legitimations- und Autorisationszusammenhang zwischen dem Volks- und dem Repräsentantenwillen herzustellen. Ihm zufolge eröffnet der Gedanke der Repräsentation dem Parlament die Möglichkeit, die bestehenden Differenzen zu verarbeiten und sie dergestalt „nicht auf blutig-revolutionärem Wege zu überwinden, sondern friedlich und allmählich auszugleichen“16. Diesen legitimitätsfördernden Ausgleich auf möglichst breiter Konsensbasis kann für Heller am Besten die parlamentarische Demokratie bewirken, wenn sie denn – idealiter – durch eine „berufsständische Organisation ergänzt“ wird.17 Beide Prinzipien teilen am Anfang des 20. Jahrhunderts ein ähnliches Schicksal. Am Ende des ersten Weltkriegs kommt weder der Repräsentation, noch der Legitimität eine zentrale Bedeutung in den staatsrechtlichen Auseinandersetzungen zu. Der die Jurisprudenz damals beherrschende Gesetzespositivismus ließ die Frage nach der Legitimierung der Staatsgewalt ebenso wenig aufkommen, wie die Lehre von der allein maßgebenden, den Volkswillen einschließenden Staatspersönlichkeit18 des Begriffs der Repräsentation in der rechtspositivistischen Auslegung der konstitutionell-monarchischen Staaten, einschließlich des Deutschen Reichs, bedurfte. Erst in der „Frontstellung gegen den Rechtspositivismus und einer Renaissance des Blicks für politisch-soziale Bedingungen und Implikationen des Staatsrechts“ (Podlech) sowie im Gefolge des aufziehenden „Parteienstaates“, erfährt der Begriff eine neue Bedeutung. Den Legitimationsbegriff hingegen neu bewertet zu haben, ist das Verdienst Max Webers, nachdem es bis in das 20. Jahrhundert um die Legitimität staatlicher Herrschaft ruhig geworden war.19 Indem Weber die typischen Formen von Herrschaft nach ihrer Legitimitätsgeltung unterschied, kommt er zur Differenzierung der drei verschiedenen Typen von Herrschaft, in traditioneller, charismatischer und bürokratischer Hinsicht.

15 Treitschke, Politik, Band 2, 1918, § 15, S. 54, preist die Monarchie, die „größere soziale Gerechtigkeit üben kann und übt, als irgend eine republikanische Staatsform“, während eine Repräsentativverfassung „das Äußerste, was die federgewandte Gewissenlosigkeit politischer Sophistik geleistet hat“, sei, S. 548, zitiert nach Fraenkel/Bracher, a.a.O., S. 295. 16 Kelsen, Allgemeine Staatslehre 1925, ND, Wien 1993, S. 361. 17 Kelsen a.a.O., § 48 a.E. 18 Vgl. Laband, Staatsrecht des deutschen Reichs, Bd. 1, Tübingen 1911, S. 296 ff. 19 Würtenberger, in: Conze, Koselleck, a.a.O. S. 735.

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Damit sich die Frage der Legitimität nicht auf die Faktizität der Herrschaft reduziert (indem sich der Staat durch „bedarfsgerechtes“ Umgestalten des Rechts selbst legitimiert), geht in der parteienstaatlichen Demokratie moderner Prägung die Frage nach der Legitimität einer politischen Herrschaftsordnung über in die Frage nach der Notwendigkeit einer realistischen Konzeption der „Repräsentation als Herrschaftstechnik, Arbeitsteilung oder Interessenvermittlung“.20 3. Mehr und mehr entwickelte sich daneben seit der Mitte des 20. Jahrhunderts der Topos der konsensfähigen Konfliktlösung zum „Prüfstein der Legitimität“21 eines rechts- und staatsphilosophischen Systems. Von Luhmanns „Institutionalisierung von Legitimität“22 und Kielmanseggs prozeduralem Legitimationsansatz23 über die grundgesetzliche Wertentscheidung, erwachsen aus einem „Recht auf staatliche Maßnahmen organisatorischer Art zum Schutz eines grundrechtlich gesicherten Freiheitsraums“ (BVerfG)24 bis zum aktuell behaupteten „grassierenden Legitimitätsverlust“ des Partei-und Regierungssystems25 vergingen (nur) knapp vier Jahrzehnte. III. Die Demokratie des Grundgesetzes 1. Geschichtlich Nach dem Zusammenbruch des Deutschen Reichs 1945 standen die Mütter und Väter der künftigen deutschen Verfassung vor der Frage der Schaffung einer neuen Verfassungsordnung nach den Vorgaben der Alliierten. Die Idee der Repräsentation befand sich beim verfassungsrechtlichen Neubeginn in den Gebieten unter der Herrschaft der Westalliierten ebenso „außer Frage“26, wie die Überzeugung, dass die bundesdeutsche Verfassung eine parlamentarische Demokratie mit den Grundsätzen der Repräsentation und parlamentarischer Verantwortung sein müsse. Aus den Beratungen des Parlamentarischen Rates hervorgegangen ist das Grundgesetz als rein repräsentative Verfassung eines demokratischen und sozialen Bundesstaates. Die Demokratie des Grundgesetzes ist dem Prinzip der Volkssouveränität verpflichtet; sie kennt letztlich keine anderen Legitimationsquellen als das Staatsvolk (Art. 20. Abs. 2. S. 1 GG).

20 Hofmann/Dreyer, Repräsentation, Mehrheitsprinzip und Minderheitenschutz, in: Zeh, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, Berlin 1989, § 5 Anm. 12 ff. 21 Würtenberger, in: Staatslexikon, Hrsg. Görres Gesellschaft, „Legalität, Legitimität“, S. 875 linke Spalte. 22 Luhmann, Legitimation durch Verfahren, Frankfurt. 1969, S. 305. 23 Kielmansegg, Legitimität als analytische Kategorie, in: PVS 12, 1971, S. 373 ff. 24 BVerfGE 35,79, LS 3. 25 v. Arnim, FAZ v. 27. 12. 2011. 26 Grzeszick, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 20, Abs. 2, Anm. 7.

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Die Staatsgewalt ihrerseits wird vom Volk in Wahlen und Abstimmungen und durch die besonderen Organe gemäß Art. 20 Abs. 2 S. 2, 2. Alt. GG ausgeübt. Anlässlich der Erörterungen zum Entwurf des Art. 20 GG im Ausschuss für Grundsatzfragen des Parlamentarischen Rats vom 14. 10. 1948 hatte der Ausschussvorsitzende v. Mangoldt darauf hingewiesen, man wolle mit dem Wortlaut des Art. 20 GG keinesfalls ausdrücken, dass das Volk „nur in diesem Organ handelnd tätig“ werden könne, denn „dann wäre eine Volksabstimmung ausgeschlossen“. Seine Bemerkung blieb ebenso unwidersprochen wie die Entgegnung Carlo Schmids: „Wir wollen kein Monopol für die repräsentative Demokratie“27. 2. Strukturentscheidung für die parlamentarisch-repräsentative Demokratie 1. Dem parlamentarischen System des Grundgesetzes liegt als Strukturentscheidung des Art. 20 Abs. 1 GG für einen demokratischen Staat die Erkenntnis des Prinzips der Volkssouveränität zugrunde, wonach „alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht“ (Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG). Alle staatlichen Maßnahmen erfolgen „im Namen des Volkes“, dem sie als „einer ideellen oder normativen und zugleich realen und in bestimmten Äußerungen und Verfahren wirksame Größe“28 zugerechnet werden. Grundlage dieses Legitimität erzeugenden Zurechnungsvorgangs sind die im Grundgesetz vorgesehenen Wahlen und Abstimmungen (Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG), wobei die plebiszitären Formen der Willensbildung auf ein Minimum reduziert sind.29 2. Die herrschende Staatsrechtslehre geht, abgeleitet vom Wortlaut des Artikel 20 Abs. 2 S. 2 GG, zwar davon aus, dass die unmittelbare und die mittelbar-repräsentative Demokratie schon vom Wortlaut her gleichberechtigt nebeneinander stehen30, so dass der Aufnahme plebiszitärer Elemente durch verfassungsänderndes Gesetz a priori nichts entgegenstünde. Allerdings ergäben sich aus der Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes31 deutliche Vorbehalte gegenüber zu weitreichenden Einführungen direktdemokratischer Elemente.32.

27

11. Sitzung v. 19. 10. 1948, unveröffentlichtes maschinenschriftl. Protokoll, S. 404. Badura, Handbuch StaatsR II, §§ 25, 28. 29 Fraenkel, Die repräsentative und plebiszitäre Komponente im demokratischen Verfassungsstaat, Tübingen 1958. 30 „Strenge Egalität der Mitwirkung“, vgl. nur Groß, DÖV 2011, 510 (511). 31 Erinnert wird an Theodor Heuss Einwurf im Parlamentarischen Rat: „Prämie für Demagogen“. 32 Hintergrund der Zurückhaltung sind die vielbeschworenen negativen Erfahrungen mit plebiszitären Abstimmungen in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus, dazu Rommelfanger, Konsultatives Referendum, Berlin 1988, S. 143 ff. 28

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Eine Schranke selbst für Verfassungsänderungen folge aus Art. 79 Abs. 3 GG. Der in Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG vorausgesetzte repräsentative Charakter der grundgesetzlichen Demokratie müsse „prinzipiell erhalten bleiben“.33 3. Verhältnis repräsentativer und plebiszitärer Prinzipien a) Lehre und Rechtsprechung Unabhängig von kritischen Stimmen in Lehre und Rechtsprechung, die nur die „vollständige Verdrängung“ des parlamentarischen Prinzips zu Gunsten plebiszitärer Gesetzgebung als unzulässig ansehen,34 bestehen allgemeiner Auffassung nach keine Bedenken, plebiszitäre Elemente „punktuell“ zur Wirkung zu bringen. Die frühere antinomische Auffassung der Formprinzipien der Identität und Repräsentation charakterisiert das Repräsentationsphänomen nicht zutreffend. Das Ausspielen der politischen Identität des Volkes gegen die institutionelle Repräsentation im Sinne einer prinzipiellen Antithese gegenüber einer impliziten höheren Legitimität des unvermittelten Volkswillens ist unhaltbar.35 b) Böckenförde Ernst Böckenförde hat unter Rückgriff auf „Strukturmomente eines realisierten Demokratiebegriffs“ überzeugend dargelegt, dass vereinzelt und punktuell eingesetzte plebiszitäre Entscheidungsverfahren geeignet sein können, das Prinzip der Repräsentation „zu balancieren und zu korrigieren“. Voraussetzung sei nur, dass keine „Gegengewalt zu den repräsentativen Leitungsorganen installiert“ werde.36 Unter dieser Prämisse ist eine Verfassungsergänzung verfassungsdogmatisch unbedenklich. Die mittelbare/repräsentative Demokratie des Grundgesetzes als „eigentliche Form der Demokratie“ (Böckenförde) bliebe erhalten.

33

Grzeszick, in: Maunz-Dürig, Art. 20 Abs. 2, Rn. 115 bzw. unter Hinweis auf die Kompetenz des Bundestages, die nicht in einer Weise ausgehöhlt werden dürfe, die eine parlamentarische Repräsentation des Volkswillens unmöglich macht; Voßkuhle, Über die Demokratie in Europa, FAZ v. 09. 02. 2012, S. 7. 34 Vgl. nur Pieroth, GG, Art. 28, Anm. 4 unter Verweis auf den Brem StGH vom 14. 02. 2000, St 1/98, LVerfGE 11, 179, 190; wohl auch Schneider, Handbuch VerfassungsR, § 13, Anm. 37. 35 Zu Recht, Hofmann, in: Politik und Kultur 1985, S. 50. 36 In: FS Kurt Eichenberger, Basel 1982, S. 316; ebenso Scheuner, der von der „funktionsfähigen“ Verbindung der beiden Komponenten spricht, in: FS Hans Huber, Bern 1961, S. 222 ff.

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c) Fraenkel Fraenkel zufolge ist die Verfassungsordnung des Grundgesetzes in ihrer Abgrenzung zur Weimarer Reichsverfassung zu stark repräsentativ ausgelegt. Während jene durch ein Auflösungsrecht der Exekutive und durch die starke Macht des (Reichs-)Präsidenten, den Kanzler zu ernennen und zu entlassen geprägt war, sei die Bundesrepublik Deutschland in das andere Extrem umgeschlagen. Der Bestand der „betont“ repräsentativ (an anderer Stelle spricht er von der „super-repräsentativen Verfassung“) ausgestalteten Parteiendemokratie der Bundesrepublik Deutschland hängt ihm zufolge deshalb davon ab, dass nur dann, wenn „den plebiszitären Kräften innerhalb der Verbände und Parteien ausreichend Spielraum gewährt wird“, eine „repräsentative Verfassung sich (überhaupt) entfalten“ kann.37 Als Ideal sieht Fraenkel demzufolge ein „gemischt plebiszitär-repräsentativ, demokratisches Regierungssystem“.38 2. Die neuere staatsrechtlich-politische Forschung scheint ihrerseits von einem neu erwachten Interesse an der theoretischen Verortung des Repräsentationsprinzips in der modernen Demokratie geprägt zu sein. Die vormalige dichotomische Verwendung der Begriffe „Partizipation“ und „Repräsentation“ wird ihr zufolge aufgelöst zu Gunsten einer Auslegung beider Komponenten als sich gegenseitig bedingende Faktoren eines modernen politischen Verfassungsverständnisses.39 Rechts- und politikwissenschaftliche Autoren erörtern daneben verstärkt, inwiefern sich direkte und repräsentative Elemente ergänzen können40 IV. Zur Akzeptanzerhöhung demokratischer Legitimität durch plebiszitäre Anreicherung Entsprechend den Erfordernissen des Art. 20 Abs. 1 GG ist – wie dargelegt – nach herrschender Auffassung die Ausübung von Staatsgewalt rechtmäßig vom Volk als dem alleinigen verfassungsgemäßen Träger der Staatsgewalt (Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG) nur in der Weise herleitbar, dass der Souverän die Staatsgewalt unmittelbar-de37 Fraenkel, Repräsentative und plebiszitäre Komponente im demokratischen Verfassungsstaat in: Recht und Staat, Heft 219/220, Tübingen 1958, S. 58. 38 Ebda. S. 11. 39 Göhler in: W.Thaa, Inklusion durch Repräsentation, Baden-Baden 2007, S. 109 ff; „… to explain the continuum of events that link parliamentary and extraparliamentary politics“, N. Urbinati, Representative Democracy, Chicago 2006, S. 227. 40 Dazu Thürer, Direkte Demokratie in Deutschland, Trier, 2007; Oberreuther, Repräsentative und plebiszitäre Elemente als sich ergänzende politische Prinzipien in: Rüther (Hrsg.) Repräsentative oder plebiszitäre Demokratie – eine Alternative?, Baden-Baden 1996, S. 261 ff.; wohl auch Voßkuhle, demzufolge das „richtige Maß“ entscheidend ist, FAZ, a.a.O.

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mokratisch, also plebiszitär selbst oder mittelbar-demokratisch, repräsentativ durch Funktionsorgane ausübt (Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG). Die punktuelle Ergänzung im dargelegten Umfang durch ein unmittelbar-demokratisches Funktionselement widerspräche der Charakterisierung als gleichwohl repräsentativ ausgeübte Staatsgewalt nicht. Die demokratische Legitimation ihrerseits41 ließe sich bei dieser Art plebiszitärer Ergänzung ggfs. unter dem Aspekt der Akzeptanz erhöhen. Dem soll im Folgenden nachgegangen werden. 1. Akzeptanz als Funktionselement exekutiven Staatshandelns Aufgrund des Fehlens einer rechtsnormativen Anknüpfung wird die Kategorie der Akzeptanz überwiegend als für den rechtswissenschaftlichen Legitimitätsbegriff nicht relevant (Schulte, Schlichtes Verwaltungshandeln, S. 169) oder „entbehrlich“42 angesehen. Seit der Gesetzgeber selbst, expressis verbis sanktioniert durch das Bundesverfassungsgericht43 die Begriffe der Kooperationsbereitschaft und Akzeptanz verwendet sowie deren Förderung als Gesetzeszweck ansieht,44 wird man die aufgeworfene Frage indes differenzierter zu betrachten haben. Unabhängig davon, dass – worauf auch Benda hinweist45 – bestimmte Grundrechte Elemente demokratischer Offenheit46 bzw. „ein Stück ungebändigter, unmittelbarer Demokratie“47 widerspiegeln, kommt der Kategorie der Akzeptanz eine zunehmend größere Bedeutung zu. Der Jubilar selbst hat in vielen seiner Schriften darauf aufmerksam gemacht, dass dauerhafte Herrschaft nur auf größtmögliche Anerkennung und möglichst hohen Konsens der Herrschaftsunterworfenen gestützt werden kann.48

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Zur Legitimationsdogmatik, namentlich der Differenzierung zwischen primärer, verfassungsgebervermittelter und sekundärer Legitimation staatlicher Herrschaft, vgl. Dederer, Korporative Staatsgewalt, Tübingen 2004, S. 175 ff. 42 Czybulka, Die Verwaltung 1993, S. 27, 34; jetzt differenzierend ders.: Die Legitimation der öffentlichen Verwaltung, Heidelberg 1989, S. 58, 323. 43 Urteil vom 07.05.1998 – 2 BvR 1991 /95; 2004/95. 44 BT-Drs. 10/2885, S. 12, 18, 45 bzw. 10/5656, S. 74. 45 Benda, Akzeptanz als Bedingung demokratischer Legitimität, Kiel 1987. 46 Benda, ebda, S. 12 ff. 47 BVerfGE 69, 315, 347. 48 Würtenberger, in: Staatslexikon, Göres-Gesellschaft, Hrsg., Artikel Legalität, Legitimität, Sp. 873, 875; ders.: Akzeptanz von Verwaltungsentscheidungen, Baden-Baden 1996, S. 61 f.

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2. Akzeptanz als wesentliches Funktionselement des Repräsentativsystems Wie es überholt ist, das politische Prinzip der Repräsentation und das „willensvereinheitlichend wirkende Prinzip der Identität in der plebiszitären Demokratie“ (Leibholz) als sich unvereinbar antithetisch bzw. diametral gegenüberstehend zu betrachten49, wäre es der Repräsentationsidee unangemessen, das erforderliche Band der Repräsentation zwischen Repräsentanten und Repräsentierten rein formal nur in dem periodisch stattfindenden Wahlakt zu erblicken. Das „ewige Problem“ (H. Hofmann) der repräsentativen Rückkopplung mit dem Volk lässt sich auf diese Weise nicht befriedigend bewerkstelligen. In der Suche nach der „funktionsfähigen“ (Scheuner) Mischung plebiszitärer und repräsentativer Elemente ist es zur Ausfüllung der inhaltlichen Repräsentation und im Sinne der Rückkopplung zwischen den Trägern der Herrschaftsgewalt und den Herrschaftsunterworfenen nötig, die aktuellen gesellschaftlichen Problemlagen zu erfassen, aufzugreifen und einer möglichst großen Zustimmung der Herrschaftsunterworfenen zuzuführen. Begrifflich geht es um die sogenannte Responsivität50. Diese Bindung ist für den Schweitzer Staatsrechtslehrer Peter Saladin51 eine solche unterhalb der Schwelle des imperativen Mandats und von einer (schlichten) Ausrichtung an sich wandelnden Wert- und Gerechtigkeitsvorstellungen zu unterscheiden.52 Verschiedene Autoren haben in der Vergangenheit bereits die Möglichkeit der so erreichten Akzeptanzvermittlung und ihrer Implikation zur Legitimation von Herrschaftsgewalt thematisiert.53 Alexy und Habermas hoben in diesem Zusammenhang namentlich die Notwendigkeit der Existenz eines offenen Diskurses und der eindeutigen Erkennbarkeit von Verantwortungsstrukturen hervor.54

49 Nach Leibholz, Das Wesen der Repräsentation und der Gestaltungswandel der Demokratie im 20. Jahrhundert, Berlin 1966, S.25 f, sind es nur zwei entgegengesetzte Orientierungspunkte für die konkrete Gestaltung der politischen Einheit. 50 Nach Eulau/Walke/Buchanen, APSR 1959, 750 – UR S. 109, Fußnote 211 – muss der Repräsentant seine Responsivness dadurch zeigen, dass er sich sensibel gibt hinsichtlich eines „reflecting and giving expression to the will of the people“, vgl. auch Pennock, APSR 1952,790. 51 Verantwortung als Staatsprinzip, Bern 1984. 52 Zu letzterem Aspekt: Würtenberger, Zeitgeist und Recht, Tübingen 1987, S. 204 ff. 53 Vgl. nur Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 14. Auflage, S. 60 f., 277 ff.; Di Fabio, Das Recht offener Staaten, Tübingen 1998, S. 33 f. 54 Alexy, Recht, Vernunft, Diskurs, Frankfurt 1995, S. 109; Habermas, PVS Sonderheft 7/ 1976, S. 39, 46.

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Die Ausrichtung der Repräsentativorgane in ihrem Handeln an den in der Gesellschaft herrschenden politischen Auffassungen55 erfordert letztlich den konsensschaffenden Dialog.56 Dieser Dialog ist der Wert an sich, der geeignet sein kann, sich als fruchtbarer Dialog rationalitätserzeugend und konfliktlösend zwischen Repräsentanten und Repräsentierten zu etablieren.57 3. Akzeptanzerhöhung a) Durch plebiszitäre Entscheidungsverfahren 1. Die Frage des Ob und des Wie der Konstituierung von Herrschaft an die Zustimmung der Beherrschten58 durch plebiszitäre Verfahren ist in der Staatsrechtslehre nach wie vor umstritten. Darauf, dass das, der repräsentativ-demokratischen Volkswillensbildung verhaftete, Modell des Grundgesetzes weder der Vitalisierung des repräsentativen Elements durch responsiv-diskursive Verfahren (Mayer-Tasch) noch einer punktuellen Ergänzung durch plebiszitäre Elemente im Grundsatz entgegensteht, wurde zuvor hingewiesen. Es würden weder der die Verfassung tragende Grundkonsens beeinträchtigt, noch die in Art. 79 Abs. 3 Grundgesetz normierten verfassungsrechtlichen Strukturelemente im Sinne einer „prinzipiellen Preisgabe“59 „berührt“. Dies um so mehr, als es nicht um die „Ablösung“ der repräsentativen durch plebiszitäre Volkswillensbildung, sondern allein um die Frage einer „möglichen Zuordnung und gegenseitigen Ergänzung“ geht.60 Das Bundesverfassungsgericht hat in einer bemerkenswerten Entscheidung aus dem Jahre 2003 unter Ausdifferenzierung des Legitimationsbegriffs (funktionell- institutionelle, organisatorisch-personelle und sachlich-inhaltliche Legitimation) sowie unter Anerkennung der „Entwicklungsoffenheit“ des Art. 20 Abs. 2 GG, die Notwendigkeit von Anpassungen „bei veränderten Verhältnissen“ erörtert.61 2. Andererseits gilt rechtstatsächlich:

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Zippelius a.a.O., S. 173. Würtenberger: in: Eisenmann/Rill (Hrsg.), Jurist und Staatsbewußtsein, Heidelberg 1987, S. 89. 57 Dazu v. Arnim, Staatslehre, München 1984, S. 515; aus der Praxis: Vermittlergespräch Heiner Geißlers zu Stuttgart 21. 58 Locke: „consent of the governed“, Zwei Abhandlungen über die Regierung, (1690), Frankfurt 1967, § 96, zitiert nach Oberreuther in: Günther Rüther (Hrsg.), Repräsentative oder plebiszitäre Demokratie – eine Alternative?, Baden-Baden 1996, S. 283. 59 Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, München 2007, Art.79, 7. 60 So zu Recht Dreier, in: Marko/Stolz (Hrsg.), Demokratie und Wirtschaft, Wien 1987, S. 178, Fußn. 166. 61 BVerfGE 107, 59, 91. 56

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Selbst die glühendsten Schweizer Verfechter der direkten Demokratie, die darin eine breite Partizipation und einen großen Input in das politische System sehen und diese bereits „als einen Wert an sich“62 erkennen, wissen um ihre Untauglichkeit zum „Exportartikel“ außerhalb der Schweiz63 bzw. ihre „Schattenseiten“.64 In einem Flächenstaat wie der Bundesrepublik Deutschland wäre selbst eine punktuell themenbezogene bundesweite Volkswillensbildung problematisch. Ohne ein gewisses Maß an Repräsentation kann eine Volksmasse von mehr als 62 Millionen Abstimmungsberechtigten keinen gemeinsamen Willen bilden und darin politische Identität gewinnen.65 Auf kommunaler oder Landesebene mögen diese Bedenken zwar weniger zutreffen. Zwei empirische Studien, die Ende 2011 der Öffentlichkeit vorgestellt wurden und die die Volksgesetzgebung in den Bundesländern von 1949 – 2010 „widerspiegeln“66 kommen aber zu ähnlichen Ergebnissen. 1. Von den plebiszitären Elementen gingen keine systemverändernden Wirkungen aus, die zu Funktionsstörungen des repräsentativen Regierungssystems führten.67 2. Die hohen Erwartungen, die mit der ,,direkten Demokratie“ verknüpft werden seien indes zu relativieren. Zwar könnten plebiszitäre Elemente die Rückbindung der Abgeordneten an die Bevölkerung verbessern. Aber u. a. die Repräsentationsfunktion, als zentrale Eigenschaft der Parlamente, könne durch sie „nicht kompensiert“ werden.68 Sind im Ergebnis der beiden letzteren Studien direkt-demokratisch eingesetzte Elemente unter rechtstatsächlichen Aspekten kaum geeignet, selbst die teilweise gemischt repräsentativ-plebiszitären Systeme der Bundesländer „auszubalancieren“, so wird dieser Befund für direkt-demokratische Verfahren auf Bundesebene erst recht gelten müssen.69 Auf dieser föderalen Ebene sind vor dem Hintergrund der „holzschnittartigen Verkürzungen“, als einziger Möglichkeit, „hoch komplexe Themen überhaupt (medial) 62 Statt aller: Möckli, Direkte Demokratie: Ein Mittel zur Behebung von Funktionsmängeln der repräsentativen Demokratie, 1993, Schriftenreihe St. Gallen, 196, S. 3. 63 Möckli, ebda. 64 Thürer, a.a.O, S. 20. 65 Schon Napoleon I soll darauf hingewiesen haben, dass die Schweiz „dank ihrer Geschichte und der Vielartigkeit ihrer Sprachen, Religionen und Gebräuche mit keinem anderen Land der Welt verglichen“ werden könne, zitiert nach Fraenkel, Repräsentative und plebiszitäre Komponente, S. 31. 66 Montag, Direkte Demokratie und Parlamentarismus, ders., Direkte Demokratie in der Praxis, jeweils St. Augustin, 2011. 67 Montag, Direkte Demokratie in der Praxis, S. 6. 68 Montag, Direkte Demokratie und Parlamentarismus, S. 46. 69 Instruktiv zur Bewertung der Zweckmäßigkeit plebiszitärer Sachentscheidungen, Steinberg, Das Volk und die direkte Demokratie, FAZ vom 16. 02. 2012.

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irgendwie abzuarbeiten“70, Plebiszite nicht bewältigbar. Dies umso mehr, als die Rückführung auf eine Ja/Nein-Alternative praktisch unumgänglich ist.71 Für den Bundestagspräsidenten Lammert schaffen Referenden nicht mehr Legitimität als die Entscheidungen eines Parlaments. Keine der großen Richtungsentscheidungen der Republik (von der Wiederbewaffnung über die Nachrüstung – NATO Doppelbeschluss – bis hin zur Euro-Einführung) hätte ihm zufolge ein Plebiszit überstanden.72 b) Akzeptanzerhöhung durch Diskursivität Mehr legitimatorischen und akzeptanzvermittelten Erfolg als Abstimmungsverfahren versprechen Deliberationsprozesse, die zwar gewöhnlich den direkt-demokratischen Beschlussfassungen vorangehen73, indes, auch unabhängig davon geeignet sind, den sog. konsensschaffenden Dialog (Würtenberger) zu fördern. Es geht -demokratietheoretisch gesprochen – um das ,,ewige Problem“ der Repräsentation, der Rückkopplung der Repräsentanten an das Volk.74. Verschiedentlich ist in der Vergangenheit, auch vom Jubilar, darauf hingewiesen worden, dass dauerhafte Herrschaft nur auf größtmögliche Anerkennung und möglichst hohen Konsens der Herrschaftsunterworfenen zum Zwecke der „Konsensgewinnung im regelungsintensiven Industriestaat der Gegenwart“75 gestützt werden kann. Ausgehend vom responsiv-deliberativen Gedanken, dass Demokratie auf der Anerkennung politscher Gleichheit beruhe, sollen ohne Unterscheidung alle von einer Entscheidung potentiell Betroffenen „auf Augenhöhe“76 in den anstehenden Beratungsprozess einbezogen werden. Auf diese Weise ließen sich auch sog. schwache Interessen besser berücksichtigen bzw. inkludieren. Wenn, abhängig vom Ausmaß der Inklusion, der Qualität der Deliberation im Parlament, der Öffentlichkeit von Beratungsgremien, alle Betroffenen den Ergebnissen zustimmen könnten, wäre dies – so Habermas – Ausdruck einer „kommunikativ ver-

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Bolz, in: Deutschland-Funk v. 09. 01. 2012. Instruktiv zu diesem Topos die Ausführungen Wulfhorsts, der nachvollziehbar das Argument der Befürworter entkräftet, jedenfalls in einem früheren Verfahrensstadium ließen sich komplexe Infrastrukturvorhaben auf eine grundsätzliche Alternative der Billigung bzw. Verwerfung zuspitzen, DÖV 2011, 581, 587 f. 72 Beilage FAZ vom 16/17. 10. 2011: „Denk ich an Deutschland“, Dokumentation zur Konferenz der Alfred Herrhausen Gesellschaft und der FAZ, Frankfurt 2011. 73 Fritz Fleiner sah in der Volksinitiative als „Antrag aus dem Volk an das Volk“ den vorherrschenden Gedanken des Dialogs beinhaltet. 74 Hofmann, Parlamentarische Repräsentation in der parteienstaatlichen Demokratie in: Politik und Kultur 1985, S. 50. 75 Würtenberger, Staatsrechtliche Probleme Politischer Planung, Berlin 1979, S. 23. 76 Wulfhorst, a.a.O., S. 586. 71

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flüssigten Souveränität“.77 Die Einbeziehung aller Betroffenen in den Willensbildungsprozess sei per se legitimitätsstiftend. Kommunikation wird auf diese Weise zum entscheidenden Element, um der Volkssouveränität (qualitativ) gerecht zu werden. Für die Staatstheorie verfolgt die beteiligungszentrierte Theorie ein eher utopisches Ziel; die konsensstiftende Kraft der Sprache werde überschätzt.78 Für sie steht demgegenüber der prozedurale Effekt im Vordergrund. Bedingt durch die „Inklusionsmechanismen Wahl und Repräsentation“79 bildet das Parlament den Souverän ab. Die verfassungsmäßig ausgeübte Herrschaft des Staatsvolkes ihrerseits impliziert die legitime Herrschaft. Dass es gleichwohl gelingen kann, durch eine breit angelegte Kommunikation im Sinne der beteiligungszentrierten Demokratietheorie eine gewisse Akzeptanz selbst in stark emotionalisierter Atmosphäre unter einer Vielzahl von Beteiligten und widerstreitenden Interessen zu erreichen, zeigt die Auseinandersetzung um den wohl bekanntesten deutschen Bahnhof, Stuttgart 21. Stuttgart 21 ist zum Symbol für das angebliche Missverhältnis rechtsstaatlicher Planung und demokratischer Legitimierung geworden. Heiner Geißler suchte dem entgegenzuwirken. Sein Schlichtungsverfahren erfüllte weitgehend den „Zentralbegriff“80 der deliberativen Demokratietheorie.81 Es führte zu einem Schlichterspruch (30. 11. 2010) zugunsten von Stuttgart 21 zzgl. der Vereinbarung einer Friedenspflicht, die zu einer gewissen „kanalisierten“ Versachlichung der argumentativen Auseinandersetzungen führte. Geißler ist es eigenen Angaben zufolge gelungen „durch Versachlichung und einer neuen Form unmittelbarer Demokratie wieder ein Stück Glaubwürdigkeit und mehr Vertrauen für die Demokratie zurückzugewinnen“. Geißler schloss sein Memorandum mit dem Wunsch für „eine weite Verbreiterung des Stuttgarter Demokratie-Modells in Deutschland“.82 Nach der Abstimmung zu Stuttgart 21 am 27. 11. 2011, bei der sich die Mehrheit der Abstimmenden (58,8 %) gegen eine vorgeschlagene Verpflichtung der Landesregierung wandte, Kündigungsrechte zur Auflösung der vertraglichen Vereinbarun-

77 Habermas, Faktizität und Geltung, zitiert nach Llanque/Münckler, Politische Theorie und Ideengeschichte, Berlin 2007, S. 44. 78 Manfred G. Schmidt, Demokratietheorien, Opladen 2010, S. 249. 79 Di Fabio, Recht offener Staaten, S. 33. 80 Schmidt, a.a.O. 81 Also der „Deliberation als argumentativ abwägende(n), verständigungsorientierte(n) Beratschlagung“, vgl. Schmidt, a.a.O., S. 237. 82 Memorandum vom 30. 11. 2011, abrufbar bei Wikipedia, „Protest gegen Stuttgart 21“, Fußn. 107.

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gen auszuüben, hat der Ministerpräsident Baden-Württembergs für die Grünen erklärt: Das Bahnprojekt werde fortan ,,kritisch-konstruktiv“ begleitet.83 Es scheint sich das aus der Studentenbewegung bekannte Phänomen zu wiederholen, dass gegen repräsentativ-demokratische Mehrheits-Entscheidungen unter Hinweis auf eine vermeintlich „höhere Legitimität“ Vetopositionen aufgebaut werden.84 Einmal mehr – obgleich die formale Legitimation des Entscheidungsträgers für die umstrittene Entscheidung nicht in Frage steht, verweisen die Gegner dieser Entscheidung darauf, dass die materielle Legitimation fehle und deshalb Widerstand seinerseits legitim sei.85 Unter demokratietheoretischem Aspekt und hinsichtlich der Fragestellung von Akzeptanzerhöhung muss nicht nur die Entscheidung als solche, ihrem Inhalt und Ihrer Form nach, sondern auch dem Prozedere nach rechtsstaatlichen Grundsätzen genügen. Mehr denn je kommt es bei komplexen Materien auf die Transparenz der Entscheidungsfindung an.86 Der Bürger will indes nicht nur das Zustandekommen, also das Wann und Wie nachvollziehen können; er will – bildlich gesprochen – in der Entscheidungsfindung „mitgenommen“ werden.87 Die Schlichtung im Rahmen von Stuttgart 21 war vor diesem Hintergrund der grundsätzlich gelungene Versuch einer „Mitnahme“ von Betroffenen in einem diskursiven Verfahren. Dass Transparenzherstellung und -vermittlung mehr Zeit erfordern als herkömmliche Verfahren, liegt in der Natur der Sache. Diese „kommunika-

83 Stuttgarter Zeitung vom 23. 12. 2011: „Die Grünen haben den Protest gegen Stuttgart 21 für beendet erklärt. Doch längst nicht alle richten sich auch danach“; zur Kritik des bad.-württ. Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann am Demokratieverständnis von Repräsentanten der Protestbewegung, die jetzt das Resultat der Abstimmung in Frage stellen, s. FAZ v. 08. 02. 2012, S. 4. 84 Dazu Haungs, in: Guggenberger/Kempf (Hrsg.), Bürgerinitiativen und repräsentatives System, Opladen 1977, S. 156 ff, 168 f; zur Abfolge der gerichtlichen Entscheidungen und der (bewussten?) Nichtausschöpfung von Rechtsmitteln der Gegner von Stuttgart 21, vgl. W. Klein in: Rechtsforum 02/2010 des LACDJ Baden-Württemberg. 85 Es kann an dieser Stelle nicht die Notwendigkeit einer Gesetzgebungstheorie, verstanden als Prozessordnung des Inneren Gesetzgebungsverfahrens, erörtert werden, zum Fehlen einer geschlossenen Theorie der Gesetzgebung, vgl. Noll, Gesetzgebungslehre, Reinbeck 1973, S. 9. 86 Das Demokratieprinzip „drängt auf Transparenz“, Schwerdtfeger, in: FS Ipsen 1977, S. 185. 87 Eine Verfahrensphilosophie, die in der Frage der Bürgerbeteiligung mehr auf Kreativität denn auf ein detailscharf geregeltes Verfahren setzt, dürfte für Soziologen „zum gesicherten Erkenntnisstand“ gehören, während es bei Juristen eher ein Schaudern herbeiführt, so Wulfhorst, a.a.O.

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tive Anstrengung“88 dürfte sich durch die jeweils höhere Akzeptanzvermittlung aber mehr als auszahlen. Diese Vorgehensweise eröffnet die Chance der Herstellung der nötigen „diskursiven Legitimation in Form einer bürgerschaftlichen Öffentlichkeit“89 Erinnert sei in diesem Zusammenhang an das vornehmlich in Skandinavien praktizierte Modell einer konsensualen Demokratie, die namentlich durch das Ringen um Konsens im Vorfeld der Entscheidung geprägt ist.90 V. Ausblick In einer grundlegenden Untersuchung des Jubilars unter dem Titel: „Zeitgeist und Recht“ aus dem Jahre 1987 kommt dieser zu der nach wie vor belastbaren Feststellung, dass Forderungen nach grundsätzlichen Umwertungen „mit großer Skepsis zu begegnen“ sei. Denn auch ein sich modern gebender Zeitgeist bleibe immer „aus der Quelle historisch überlieferten geistigen Gemeinguts gespeist“91. Für die diesem Beitrag vorangestellte Fragestellung bedeutet dies zweierlei: 1. Eine verfassungstheoretisch mögliche und den Prinzipien des Grundgesetzes grundsätzlich nicht zuwiderlaufende und „thematisch eingeschränkte“ Ergänzung durch plebiszitäre Entscheidungsverfahren stellt zwar nicht die Funktionsprinzipien des repräsentativen Regierungssystems in Frage, vermag aber allenfalls punktuell die Rückbindung des „rationalisierenden, kultivierenden Anteils des repräsentativen Handelns“ an die „Konsensbasis der Rechtsgemeinschaft“ zu bewirken.92 In verfassungstatsächlicher Hinsicht bleiben die Ergebnisse der in den Bundesländern seit 1945 durchgeführten landesweiten Volksentscheide hinter den hohen Erwartungen zurück93. Auch das Ergebnis des Volksentscheids im Falle von Stuttgart 21 vermag dies nicht in Frage zu stellen. Die klare Mehrheit der Baden-Württemberger, die sich unter Erreichen des Quorums für den Weiterbau entschied, hat ihrerseits zwar befriedend gewirkt. Es scheint, dass die Protestbewegung einen großen Teil der sog. Wut-

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Mayer, ZRP 1993, 333. Dazu Liethmann, in: ÖZP, 2004, S. 19 ff., 23, der namentlich der damaligen Politik der EU-Kommission diese Art der Legitimation abspricht. 90 „Perhaps the central question … is, to what extent is the maximization agreement sought before political decisions are taken?“, Elder/Thomas/Arter, The Consensual Democracies, Oxford 1982, S. 25. 91 Würtenberger, a.a.O., S. 231. 92 Zippelius, Rechtsphilosophie, München 1982, S. 145. 93 Instruktiv die Auflistung von Montag, Direkte Demokratie in der Praxis, S.9 f., zu den Volksentscheiden in den Bundesländern 1949 – 2010. 89

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bürger94 aus insbesondere der vornehmen Stuttgarter Halbhöhenlage verloren hat; die Bewegung hat sich seit November 2011 „entbürgerlicht“.95 Engagiert sind aber weiterhin diejenigen, für die der Kampf für Bäume und Bonatz-Architektur zum Lebenssinn geworden ist96 und die für ihr Verhalten eine „höhere Legitimität“ reklamieren. 2. Statt einer Frontstellung von plebiszitärer Legitimität gegen die parlamentarische Legalität und der Diskussion um eine „höhere Wahrheit“ ist einem Gedanken, der schon den Federalist Papers von 1787/88 zugrunde lag97, zum Durchbruch zu verhelfen. Anders als Carl Schmitt, der in Akklamationen den klarsten Ausdruck demokratischer Staatlichkeit sah98, sieht ihn Kelsen in dem vielschichtigen, komplizierten und Betroffenheit aufgreifenden Entscheidungsfindungsprozess demokratisch-parlamentarischer Repräsentation „beinhaltet“.99 Die Repräsentanten trifft die Verpflichtung der Responsivness, verstanden als Prozess der kommunikativen Aussonderung bzw. „Entbergung“ (Hofmann/Dreier) des den vielen Einzelwillen zugrunde liegenden gemeinsamen Interesses100. In einer empirischen Studie, die auf einer Befragung von Landtagsabgeordneten zu ihren Erfahrungen aus der parlamentarischen Arbeit beruht, kommen Ewert, Bars, Bilstein101 zum Vorschlag einer Neujustierung des Repräsentationsprinzips (durch „Verankerung der Repräsentanten im alltagspraktischen Verhältnis“ gegenüber den Repräsentierten). Sie benennen insoweit die Aufnahme von deren Anliegen und Sorgen, die es darzustellen und zu debattieren ebenso gelte, wie sie auch „kommunikativ zu leiten“102, um dergestalt die Repräsentativität des Parlaments und damit auch die Legitimation seiner Entscheidungen zu erhöhen.

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Dazu Matzig, „Einfach nur dagegen“, München 2011. H. Spiegel , FAZ v. 14. 01. 2012, S. 35. 96 R. Soldt, FAZ, ebda. S. 4. 97 Zur dortigen theoretischen und praktischen Verbindung zwischen Demokratie und Repräsentation, Brunhöber, Erfindung „demokratischer Repräsentation in den Federalist Papers“, Tübingen 2010, S. 8. 98 „..wie es keinen Staat ohne Akklamationen gibt“, Verfassungslehre, ND 1993, S. 247. 99 Dazu: Hofmann/Dreier, in: Zeh, a.a.O., S.171 ff. 100 Aufschlussreich: Thürer, Direkte Demokratie in Deutschland, S. 20, demzufolge unter Verweis auf Abstimmungsverfahren in der Schweiz die Güte der Demokratie sich mitunter an der Qualität der Deliberationsprozesse, die ihren Beschlussfassungen vorangehen (bemisst), ebenso Wieland, in: Hörster, Krise der politischen Repräsentation, a.a.O., S. 104 in Anlehnung an Hannah Ahrendt. 101 ZParl 2010, 749 ff. 102 A.a.O., S. 752. 95

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Die Beurteilung der Repräsentativität eher „überstrapazierend“ wird vereinzelt die Parlamentszusammensetzung als maßgeblich für die Legitimation seiner Entscheidungen angesehen.103 In einfachen und verständlichen Worten hat die Alterspräsidentin des Thüringer Landtages des Jahres 1946, die Lyrikerin Ricarda Huch, bei der konstituierenden Sitzung (24. 01. 1946) auf die Notwendigkeit von Parlament und Regierung hingewiesen, „in beständiger verpflichtender Berührung mit dem Volke“ zu bleiben. Nur so lasse sich – mangels der Spezifika des Kantons Appenzell in Deutschland – für das Parlament die „lebendige Berührung zwischen Spitze und Basis“ herstellen.104 Das legitimierende Partizipationspotential – so zu Recht H.P. Schneider – „erschöpft sich nicht in Verfahren der Volkswillensbildung“105 ; es ist auf vielerlei Wegen vitalisierbar. Mit der Zunahme öffentlicher Konsensprozesse und von Schieds- und Mediationsverfahren gewinnt die repräsentativ-parlamentarische Demokratie eine neue Qualität. Auch die Bundesregierung hat die Zeichen der Zeit erkannt und einen Gesetzentwurf „zurückgezogen“ der zur Vereinheitlichung von Planfeststellungsverfahren dessen bisherigen „Kern“, den Erörterungstermin, nur noch fakultativ vorsah. Im Entwurf vom 29. 02. 2012 für ein „Gesetz zur Verbesserung der Öffentlichkeitsbeteiligung und Vereinheitlichung im Planfeststellungsverfahren“ (PlVereinhG) ist die Übertragung der sog. Fakultativstellung des Erörterungstermins in das VwVfG nicht mehr enthalten. Vielmehr solle die frühe Öffentlichkeitsbeteiligung „möglichst bereits vor Stellung eines Antrages (gemeint: des Planungsträgers) stattfinden.“106 Ob eine parlamentarische Neujustierung (Ausgangsfrage) mittels einer Ausweitung plebiszitärer Volkswillensbildungsformen de lege ferenda sinnvoll ist, bleibt weiterhin zweifelhaft. Geeigneter zur Erhöhung der Akzeptanz parlamentarischer Entscheidungen erscheint demgegenüber – bei Inkaufnahme zeitlich längerer Verfahren – die frühzeitige „Bürgerbeteiligung“ zu wichtigen Fragen. Die Förderung der Akzeptanz erfolgt implizit durch die „Verbesserung der Kommunikation im Verfahren“,107 namentlich der breiten öffentlichen Diskussion des virulenten Themas einschließlich der Sensibilisierung der Repräsentanten für die spezifischen Bürgerbelange. Schlagwortartig bedarf es also weniger einer plebiszitären als vielmehr einer „partizipativen Anreicherung des geltenden Rechts“.108 103 Vgl. dazu Brown/Lentsch/Weingart, Politikberatungen im Parlament, Leverkusen Opladen 2005. 104 Huch, Gesammelte Schriften, Essays, Reden, Freiburg 1964, S. 278 f. 105 Einführung zu den 55. Bitburger Gesprächen, am 13/14. 01. 2012. 106 BR-Drs. 171/12, S. 2. 107 Durner, 2. Bitburger Gespräche, These 6, München 2011. 108 Wulfhorst, a.a.O., S. 587. Letzteres und eine „verfahrensbegleitende Kommunikationsund Beteiligungsstrategie“ sieht er als für die Qualität der Bürgerbeteiligung essentiell an, ebda, 9; zu Unterrichtungsrechten des Bundestages im Hinblick auf den Europäischen Stabi-

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Weder die angebliche Unreife des Volkes109 noch die schlechten Erfahrungen der Weimarer und Nationalsozialistischen Epoche vermögen aber nach über 60 Jahre gelebten Grundgesetzes noch grundsätzliche Zweifel an Abstimmungen (seien sie dezisiver oder konsultativer Natur) zu begründen. Diesen Erfahrungen stehen nicht zuletzt die direkt-demokratischen Vorgänge des Jahres 1989 in Ostdeutschland unter dem Ruf „Wir sind das Volk“ gegenüber. Günter Dürig hat sie zu Recht als die „geglückten Plebiszite“ bezeichnet.110 Eine Abstimmung stößt aber an rechtliche und tatsächliche Grenzen. Sie reichen von der Themenkomplexität111 über die Formulierung der Abstimmungsfrage und ihrer Zuspitzung auf eine Ja-Nein-Alternative112 bis hin zum Legitimitätsdilemma des unvermittelten und des parlamentarisch vermittelten Volkswillens. Interessant sind insoweit die Auseinandersetzungen um die Bindungswirkungen eines kommunalen Bürgerentscheids zu einer kommunalen Infrastruktureinrichtung, dessen Ergebnis die Vertretungskörperschaft zu konterkarieren suchte. Das angerufene BVerfG war der Meinung, dass „sich der in der förmlichen Abstimmung festgestellte Bürgerwille113 als authentische Ausdrucksform unmittelbarer Demokratie in einem Konflikt über die planerische Fortentwicklung einer Kulturlandschaft durchsetzt“.114 Das Volk selbst vermag es indes nicht, eine Frage einheitlich zu formulieren. Unabhängig davon, dass nach Kelsen denknotwendig das Volk keinen einheitlichen Volkswillen fassen kann,115 entbindet die Antwort „Regierung und Parlament nicht von seiner Verantwortung“ (Carlo Schmid), was Bundestagspräsident Lammert nachvollziehbar feststellen lässt, (nur) im Parlament „schlägt das Herz der Demokratie oder es schlägt nicht“.116 In den Worten des Jubilars ergibt sich schlagwortartig mehr denn je als Fazit für die (Verfassungs-) Politik die Aufforderung, über das rein formale Verständnis reprälitätsmechanismus (ESM) und das Euro-Plus-Paket, BVerfG, Urteil v. 19.06.2012 – 2 BvE 4/ 11. 109 Hegel zufolge kann es keinen vernünftigen Willen bilden, es habe „nur ein Gefühl davon“, Philosophie des Rechts, Vorlesungsnachschrift K.G: von Griesheims 1824/25. 110 Zitiert nach Limbach, in: Ernst W.Becker (Hrsg.), Theodor Heuss, Vater der Verfassung, München 2009, S. 99. 111 Und dessen Emotionalisierungspotentials – s. Minarett-Initiative des Jahres 2009 bzw. Initiative zur Ausweisung krimineller Ausländer – „Ausschaffungsinitiative“ v. 28. 11. 2010, jeweils in der Schweiz. 112 Kurioserweise mussten die Befürworter des Projekts Stuttgart 21 am 27. 11. 2011 mit Nein stimmen. 113 Hier: zum Bau der sog. Waldschlösschenbrücke über die Elbe. 114 1. Kammer des zweiten Senats v. 29. 05. 23007 – 2 BvR 695/07. Dies darf aber nicht zum Trugschluss verleiten, „Plebiszite seien demokratischer als die repräsentative Demokratie“, Voßkuhle, a.a.O. 115 Er spricht insoweit von einer „Schimäre“, Verfassungslehre, a.a.O., S. 358. 116 Konstituierende Sitzung des 16. Deutschen Bundestages vom 18. 10. 2005.

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sentativer Demokratie hinaus zugunsten einer neuen, „plebiszitär imprägnierten politischen Kultur“ verstärkt in einen „konsensschaffenden Dialog mit der Öffentlichkeit“ einzutreten.117

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Würtenberger, Zeitgeist, a.a.O., S. 111; zu jetzigen Überlegungen der Landesregierung Baden-Württemberg im Hinblick auf die Stuttgart 21 Planung für den Abschnitt 1.3. auf den Fildern eine neue Art der Bürgerbeteiligung zur Herstellung von „mehr Mitsprache, mehr Transparenz“ für die Bürger zu praktizieren, vgl. Stuttgarter Nachrichten v. 11. 02. 2012 unter Hinweis auf ein Diskussionspapier der Staatsrätin Gisela Erler.

Anmerkungen zur Akzeptanz von Gesetzen Von Reiner Schmidt, Augsburg I. Einleitung Vor mehr als 20 Jahren beschäftigte sich Thomas Würtenberger mit dem Thema der Akzeptanz durch Verwaltungsverfahren und löste damit eine Diskussion aus, die bis heute nicht zur Ruhe gekommen ist. Lassen wir ihn zunächst selbst zu Wort kommen: „Die Errichtung eines Kraftwerkes, die Ansiedlung eines Industrieunternehmens, die Ausweisung einer Deponie oder einer Müllverbrennungsanlage, der Neubau einer Bundesbahntrasse oder einer Bundesfernstraße sowie der Ausbau eines Flughafens beruhen jeweils auf Verwaltungsentscheidungen, die eines massiven Bürgerprotestes sicher sind. Dieser Bürgerprotest gegen eine örtlich unerwünschte Nutzung von Land äußert sich in Einwendungen gegen das geplante Projekt, in kostspieligen und viele Jahre dauernden Rechtsschutzverfahren, in Demonstrationen sowie in einer Mobilisierung der öffentlichen Meinung durch Pressekampagnen. In besonders brisanten Verfahren kann es zur Eskalation von Gewalt kommen. Hierfür stehen die Planung des Kernkraftwerks in Brokdorf, der Ausbau des Frankfurter Flughafens oder die letztlich verhinderte Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf.“1

Diese Ausführungen haben nichts an Aktualität eingebüßt. Auch Würtenbergers Behandlung des Ziels des Verwaltungsverfahrens zeigt Weitsicht. Während namhafte Vertreter des Verwaltungsrechts und der Verwaltungswissenschaft im Rahmen der Überlegungen zur Legitimation durch Verfahren das Verwaltungsverfahren von Bürgerbeteiligung freistellen wollten, damit der Entscheidungsspielraum der Verwaltung nicht eingeschränkt wird, während beispielsweise der Erörterungstermin im Planungsverfahren und in Genehmigungsverfahren vor allem dazu dienen sollte, der Verwaltung eine optimale Entscheidungsgrundlage zu verschaffen und den Betroffenen rechtliches Gehör zu gewähren, beschwor Würtenberger damals schon das Leitbild des kooperativen Staates der Gegenwart, die Notwendigkeit einer Kompromissfindung durch Prozesse des Aushandelns und der Konsensbildung. Nach Meinung von Thomas Würtenberger liegt eine akzeptanzfördernde Ausgestaltung der Verwaltungsverfahren wegen des Demokratieprinzips und wegen der Idee der sogenannten responsiven Demokratie nahe. Diese Idee ließe sich „mit aller Vorsicht“ auf das Verwaltungsverfahren übertragen. Auch Planungsentscheidungen müssten stets von neuem an die Wünsche, Forderungen und Bedürfnisse der betroffenen Öffentlichkeit angekoppelt werden. Die Akzeptanz als Ziel des Ver1

So Würtenberger, NJW 1991, 257.

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waltungsverfahrens fordere eine Kompromissfindung zwischen vielfältigen öffentlichen und privaten Belangen, die teils vom gesellschaftlichen Bereich, also von Betroffenen oder Interessenten, teils aber auch von der Verwaltung in den Entscheidungsprozess eingebracht würden.2 Das Thema „Akzeptanz“ ließ Thomas Würtenberger nicht mehr los. Es wurde von ihm nochmals, im Jahr 1996, monographisch bearbeitet.3 Weitsichtig befasst er sich mit dem Phänomen des Bürgerprotestes und des Widerstands gegen Verwaltungsentscheidungen, den Zielsetzungen eines Bemühens um die Akzeptanz von Verwaltungsentscheidungen, den allgemeinen Strategien zu deren Sicherung und zur Möglichkeit einer Partizipation an Verfahren der Konfliktregelung und Konsensbildung. In Anknüpfung und Fortführung der Arbeiten von Thomas Würtenberger zum Thema der Akzeptanz soll der Schwerpunkt der folgenden Ausführungen beim Gesetz, in dem sich die Bürger trotz unterschiedlicher Auffassung wiederfinden können sollten4, liegen. II. Akzeptanz und Gesetz Unter Akzeptanz wird die Hinnahme von Entscheidungen verstanden, die gesamte Spannbreite des Bewertens von richtig bis noch anerkennenswürdig. Akzeptanz und Legitimation sind durchaus unterschiedliche Begriffe. Das normative Legitimationskonzept ist demokratietheoretisch begründet, bei Akzeptanz geht es um „soziale Evidenz“ oder „alltagsweltliche Plausibilität“.5 Die Akzeptanz, gelegentlich als Modephänomen apostrophiert, ist inzwischen auch durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hoffähig geworden6. Sie entspringt einem tief verwurzelten Sicherheitsbedürfnis des Menschen. Das Recht und die Gesetze werden akzeptiert, weil sie Frieden und Ordnung gewährleisten. Der Bürger ist zu loyaler Pflichterfüllung grundsätzlich bereit, wenn er dies auch von Dritten erwarten kann.7 Als Phänomen hat Akzeptanz ethische und geistesgeschichtliche Tradition. Sie ist etwas anderes als Legitimation, steht aber mit dieser in Verbindung. Bedingungen der freien und autonomen persönlichen Entfaltung sind nach Kant die Rechtssicherheit und der Rechtsfrieden aufgrund allseitiger Legalität und aufgrund allseitiger Beach-

2

So Würtenberger, a.a.O., 261. Würtenberger, Die Akzeptanz von Verwaltungsentscheidungen, 1996. 4 So Böckenförde, FS Eichenberger, 1982, 301 ff. 5 Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Aufl. 2004, 102 f. unter mehrfacher Heranziehung der Arbeiten von Würtenberger. 6 Im Sondervotum von Simon und Heußner zum Mülheim-Kärlich-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 53, 30 ff.) findet sich die Aussage, dass eine faire Anwendung des Verfahrensrechts „Voraussetzung für die unerlässliche Akzeptanz atomrechtlicher Entscheidungen durch die Bevölkerung“ (81 f.) ist. 7 Vgl. Würtenberger, Akzeptanz von Recht und Rechtsfortbildung, in: Eisenmann, Rill (Hg.) Jurist und Selbstbewusstsein, 1987, 79 (94). 3

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tung der Rechtsordnung.8 Zuvor schon hatte der Kameralist von Justi gefordert, „die wahre Staatskunst“ müsse dahin gerichtet sein, die Untertanen von der Güte der Gesetze zu überzeugen.9 Auch moderne Legitimationskonzepte, seien sie mehr normativ oder empirisch bzw. soziologisch ausgerichtet, stellen die Bedeutung einer freiwilligen, auf Akzeptanz gegründeten Befolgung staatlicher Gesetze des modernen Staates heraus, weil sie die „wahrhafte Geltung“ (Roman Herzog10) verschaffe.11 Akzeptanz ist zwar nicht mit Legitimation gleichzusetzen, sie ist aber mehr als Ausdruck einer „politischen Klugheitslehre“. Bei der Akzeptanz des Gesetzes geht es um das Zentrum des modernen Verfassungsstaates, um die Bedeutung des Gesetzes als Ergebnis pluralistischer und politischer Einigung. Im Gesetz ist das Grunderfordernis einer Transparenz der Rechtsentstehung am ehesten gewährleistet.12 Entscheidend ist aber nicht nur das parlamentarische Verfahren, sondern auch die Verständlichkeit des Rechts, „die Bestimmtheit und Offenheit der Rechtssprache“.13 Konsens in allen Rechtsfragen ist in der pluralistischen Demokratie nicht gefordert. Ausreichend ist die Anerkennung der Autorität des Rechts, die sich auch darin äußern kann, dass die Bekämpfung des für falsch gehaltenen Rechts mit rechtsstaatlichen Mitteln erfolgt. Zum Wesensmerkmal der Demokratie gehört das Recht auch zum Dissens in Grundsatzfragen. Der dem Bürger vom Gesetz und von der staatlichen Entscheidung abverlangte Gehorsam14 ist zwar unverzichtbar, geht aber nicht so weit, den Verzicht auf die Absicht legaler Gesetzesänderung einzufordern. Unverzichtbar ist nur die sog. formale Akzeptanz, d. h. das Einhalten der Spielregeln der rechtsstaatlichen Demokratie.15 Der sog. zivile Ungehorsam, der bewusste, ethisch begründete Regelverstoß, gehört deshalb nicht mehr zum Themenkreis der Akzeptanz. Ihm geht es gerade nicht um Akzeptanz, sondern um die Erregung von Aufmerksamkeit. Das seit Mitte der sechziger Jahre veränderte Staat-Bürger-Verhältnis, die partizipatorische Revolution16, hat sich inzwischen zu einem übertriebenen Individualismus entwickelt, der das Gemeinschaftsgefühl verdrängt und neue virtuelle, spontane, 8

Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, 1797, Einleitung in die Rechtslehre. J. H .G. v. Justi, Natur und Wesen des Staates, 1771 (Neudruck), 1969, 367. 10 Von der Akzeptanz des Rechts, in: Rüthers/Stern (Hg.), Freiheit und Verantwortung im Verfassungsstaat, 1984, 127 ff. 11 Zum Begriff der Akzeptanz siehe die grundlegende Arbeit von Czybulka, Die Legitimation der öffentlichen Verwaltung, 1989, 58 f. Zum Ganzen auch Birkl, Holtwick, Reiner Schmidt, Die Akzeptanz von Abfallentsorgungsanlagen. Strategien zu ihrer Verbesserung, unveröffentlichtes Gutachten im Auftrag des Bayerischen Staatsministerium für Landesentwicklung und Umweltfragen, 1993. 12 So Hill, JZ 1988, 377 (378). 13 So das gleichnamige Werk von Paul Kirchhof, 1987. 14 Vgl. Isensee, DÖV 1983, 565 (570). 15 So auch Benda, DÖV 1983, 305. 16 Näheres bei Würtenberger, Zeitgeist und Recht, 1987, 110 ff. 9

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flüchtig-bewegliche Internet-Gemeinschaften geschaffen hat. Die hochgradige Differenzierung der Gesellschaft lässt der Allgemeinheit des Gesetzes keine Chance, weil dessen generell-abstrakter Anspruch mit der jeweiligen konkreten Vorstellung von Einzelwohlgerechtigkeit kollidiert.17 III. Die gewandelte Bedeutung des Gesetzes Während sich die wissenschaftlichen Bemühungen seit Ende der 68er Jahre auf die Akzeptanz von Verwaltungsentscheidungen konzentrierten, befassen sich die folgenden Ausführungen schwerpunktmäßig mit der Akzeptanz von Gesetzen. Zunächst soll die veränderte Wirklichkeit des Gesetzes in den Blick genommen werden. Der „Wandel vom autoritären Kodifikationsstaat zu einem auf demokratische Offenheit angelegten System, die demokratisch verfasste Industriegesellschaft“, hat die Anforderungen an das Gesetz völlig verändert.18 Die Erscheinungsformen des heutigen Gesetzes sind vielfältig. Man unterscheidet zwischen Grundlagengesetzen, Grundsätzegesetzen, Rahmengesetzen, Maßstäbegesetzen und Gesetzen mit Verordnungsrang. Man kann den Abstraktionsgrad als Maßstab nehmen und Regelungen von großer Allgemeinheit, Einzelfallgesetze, Einzelbereichsgesetze, Maßnahmegesetze und Planungsgesetze erkennen. Die Adressaten, die Umsetzungsbedürftigkeit, die Regelungswirkung, der Regelungsmodus sind weitere Unterscheidungsmerkmale. Keine Rechtsetzungsform scheint so heterogen wie das Parlamentsgesetz zu sein.19 Das Gesetz ist zum flexiblen Instrument geworden, das den unterschiedlichsten Lagen, der Komplexität und Dynamik der tatsächlichen Entwicklung gerecht zu werden versucht. Das formale Rechtsstaatsmodell ist Vergangenheit. Das gesetzbeschließende Parlament verwischt die Grenze zur Verwaltung, in dem es immer mehr Exekutivformen ausübt und die Verwaltung an umfassende, weitgehend spezifizierte neue Vorschriften bindet, die deren Handlungsraum einzuschränken versuchen.20 Im Zuge einer gewandelten Staatlichkeit sind weitere, auch private regelschaffende Akteure hinzugetreten. Auf die Rechtsmasse transnationalen Rechts und die Bedeutung von Governance-Regeln kann in unserem Zusammenhang nur hingewiesen werden. Die verbliebene herausragende Bedeutung des Gesetzes ist aber unbestreitbar.

17 Hierzu auch Brohm, DVBl. 1990, 321. Grundsätzlich und weiterführend Gregor Kirchhof, Die Allgemeinheit des Gesetzes, 2009. 18 So schon vor mehr als vierzig Jahren Kübler, JZ 1969, 645 (insbes. 649 und 651). 19 Vgl. zum Ganzen F. Reimer, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann / Voßkuhle (Hg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, 2. Aufl., 2012, Bd. 1, § 9 Rn. 15 ff. 20 Vgl. Schmidt-Aßmann, Zur Reform des allgemeinen Verwaltungsrechts, Reformbedarf und Reformansätze, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann / Schuppert (Hg.), Reform des allgemeinen Verwaltungsrechts, Grundfragen, 1993, S. 144.

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IV. Bewältigungsstrategien Die gesetzgeberische Aufgabe besteht darin, einen gesellschaftlichen Interessenausgleich zu bewirken. Im Verhältnis Staat-Bürger ist das Gesetz das wesentliche politische Gemeinschaftsmittel. Für die Verwaltung ist es Steuerungsmittel, für die Gerichte Kontrollmaßstab. Die Phänomenologie staatlichen Handelns, die Existenz neben und unter dem Gesetz stehender Regelungen, etwa Verwaltungsvorschriften, Kooperationsverträge, informelles Verwalten, Verwaltungshandeln und anderes, zeigen allerdings, dass das Gesetz seine Alleinstellung verloren hat. Wesentliches muss aber weiterhin der Gesetzgeber regeln. Die Wirklichkeit, d. h. die gesunkene Bedeutung des Gesetzes in Rechnung zu stellen, heißt aber nicht, den Versuch aufzugeben, akzeptanzsichernde Überlegungen und Maßnahmen speziell auf das Gesetz zu konzentrieren. Das vom Parlament beratene und beschlossene Gesetz steht trotz seiner Konkurrenten weiterhin im Mittelpunkt öffentlicher Aufmerksamkeit. Werfen wir einen Blick auf die Techniken, mit denen das Gesetz gesellschaftliche Veränderungen zu erfassen versucht. Die Fähigkeit, Wirklichkeit abzubilden, ist nämlich eine wesentliche Voraussetzung für die Leistungsfähigkeit und damit für die Akzeptanz des Gesetzes. 1. Dynamische Verweisungen Ein leistungsfähiges flexibles Gesetz muss die Möglichkeit vorsehen, Erkenntnisse, die im Zeitpunkt des Erlasses der Norm noch nicht gemacht wurden, in die normative Aussage zu übernehmen. Dies ist beispielsweise durch dynamische Verweisungen auf den jeweiligen Stand der Technik oder durch zeitlich versetzte Gebote zu erreichen, die der Industrie die Möglichkeit geben, bis zu einem festgesetzten Termin einen bestimmten Genehmigungsstandard zu erreichen. Das Umweltrecht bietet hier zahlreiche Beispiele, so wenn etwa § 3 Abs. 6 BImSchG besagt, dass der jeweilige Entwicklungsstand fortschrittlicher Verfahren, Einrichtungen oder Betriebsweisen bei der Beurteilung der Genehmigungsvoraussetzungen zu berücksichtigen ist. Allerdings stößt die Möglichkeit zur Regulierung trotz aller Dynamisierungen vor allem im Technikbereich wegen der Unsicherheit des Erkenntnisstandes nicht selten an die Grenze des Normierbaren. 2. Final- und Konditionalprogramme Eine der wichtigsten Unterscheidungen zur Erfassung der bestehenden Gesetzesflexibilitäten ist die zwischen Final- und Konditionalprogrammen. Auch die Entscheidung im Rahmen von Wenn-Dann-Sätzen wird ergänzt bzw. korrigiert durch die Einfügung von unbestimmten Rechtsbegriffen, Beurteilungsspielräumen, Hand-

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lungsermessen und administrativen Letztentscheidungsermächtigungen. Die bestehenden Subsumtionsspielräume sind beträchtlich. 3. Zweckprogramme Zusätzlich wird der Handlungsspielraum der Verwaltung durch Zweckprogramme ausgeweitet. Sie lassen Raum für eine „experimentelle Verwaltungspraxis“ (Scharpf), die auf Veränderungen der Umwelt reagiert und im Zeitpunkt des Gesetzerlasses noch unbekannte Mittel-Zweck-Kausalitäten bewältigt. Auf diese Weise wird der Gesetzgeber von technischen Detailregelungen entlastet, auch ist der Konsensbedarf geringer. Als Beispiele können Stabilitäts- und Wachstumsgesetz, Treuhandgesetz und bestimmte Planungsgesetze erwähnt werden. Das Gesetz überlässt hier der Verwaltung weitgehend Freiheit bei der Wahl der Mittel. Auch die mangelnde Bestimmtheit der Zwecke finaler Gesetzesprogramme, die je nach der Bedeutsamkeit der betreffenden Regelung unterschiedlich ist, lässt Freiräume bis an die Grenze der Rechtsstaatlichkeit. 4. Relationierungsprogramme Eine weitere Strategie zur Erfassung einer sich ständig verändernden Wirklichkeit sind Relationierungsprogramme, d. h. Aufträge, kollidierende Rechtsgüter und unterschiedliche Instrumente in ein angemessenes Verhältnis zu bringen. Danach wird soziales Verhalten nicht direkt normiert. Vielmehr werden nur Organisation und Verfahren reguliert. Oder anders ausgedrückt: Der Maßstab der Verwaltung besteht dann im Ausmaß der ihr überlassenen Optionen, wie dies beispielsweise in § 50 BImSchG vorgesehen ist. Zusätzlich zu den genannten Flexibilisierungsinstrumenten ist auf die allgemeinen Maßstäbe wie die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit oder der Wirtschaftlichkeit hinzuweisen, die zeigen, dass die vom Gesetzgeber für das Verwaltungshandeln gesetzten Grenzen weit gesteckt sind. Als Zwischenergebnis kann festgehalten werden, dass die vorhandenen Öffnungen dem Gesetzgeber ausreichende Handlungsmöglichkeiten bieten, um der Komplexität und Dynamik tatsächlicher Entwicklungen und um den „Befindlichkeiten“ der Bürger gerecht werden zu können. Diese Aussage beschränkt sich allerdings auf die vorhandenen Regelungstechniken. Sie sagt nichts zu sozialpsychologischen Möglichkeiten, Akzeptanz zu verbessern.

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V. Die Entscheidungsrichtigkeit 1. Das Bestreben nach Richtigkeit Gesetzliche Normen determinieren nur noch begrenzt. Auch wesentliche Regelungen werden Dritten überlassen. Die Variationsbreite in Bezug auf den Adressatenkreis und die Notwendigkeit einer situativen Gesetzesanpassung sind Beispiele für einen usus modernus. Die Allgemeinheit der Normierung wird nur noch als eine Form phasenspezifischer Problemverarbeitung, der andere folgen müssen, angesehen. Dem Gesetz kommt vor allem eine Impuls- und Orientierungsfunktion, erst in zweiter Linie eine Grenzziehungsfunktion zu. Die Befugnis zur Fortentwicklung der Gesetze im Rahmen einer zurückgenommenen Gesetzesdirektive wird auch durch den Bestimmtheitsgrundsatz kaum mehr gebremst, da dieser vom Bundesverfassungsgericht im Hinblick auf die Notwendigkeit situationsgerechter Flexibilität von noch bestehenden rigiden Anforderungen gelöst wurde. Der Gesetzgeber hat der Verwaltung eine „faktische Normbildungsmacht“ (Schmidt-Aßmann) zuerkannt.21 Außer Frage steht, dass dem Parlamentsgesetzgeber innerhalb eines arbeitsteiligen Rechtserzeugungsprozesses ein bestimmter Bereich vorbehalten bleiben muss. Der Verwaltung darf keine beliebig große Rechtsetzungsmacht eingeräumt werden.22 Verwaltungshandeln ist aber nicht nur an den Maßstäben der Rechtmäßigkeit zu messen. Die Entscheidungsrichtigkeit muss auch und gerade unter dem Gesichtspunkt der Akzeptanzsicherung ein wichtiges Ziel bleiben. Zumindest rechtspolitisch ist entscheidend, wer funktional, organisatorisch und von der Ausgestaltung des Verfahrens am besten geeignet ist, normsetzend zu wirken. Verlagerungsprozesse zugunsten der untergesetzlichen Normgebung, vor allem im Umwelt- und Technikrecht („umgekehrte Wesentlichkeitstheorie“) und die gewachsene Bedeutung privater Normsetzung einschließlich des Einflusses dezentraler internationaler Normprozesse sind Indiz für die abnehmende Bedeutung des Parlamentsgesetzes. Entscheidend bleibt, wo der Prozess der Gradualisierung im Rahmen der bestehenden Abstufungs- und Relativierungsmöglichkeiten endet. Eine Grenze lässt sich abstrakt schlecht markieren. Der Gesetzgeber behilft sich mit voraussetzungsvollen unbestimmten Rechtsbegriffen wie angemessener Preis, gerechter Preis, wirtschaftliche Vertretbarkeit, Wirtschaftlichkeit, Kosten-Nutzen-Analyse. Auch die Ausrichtung der damit verbundenen Unsicherheiten auf einen steuerungswissenschaftlichen Ansatz23 vermag das Grundproblem nicht zu lösen. Recht, Regulierung haben nach den Grundsätzen des Rechtsstaates (Schorkopf) zu erfolgen. 21 Zum Ganzen vgl. Reiner Schmidt, Flexibilität und Innovationsoffenheit im Bereich der Verwaltungsmaßstäbe, in: Hoffmann-Riem, Schmidt-Aßmann (Hg.), Schriften zur Reform des Verwaltungsrechts, 1994, 67 (78 f.). 22 So auch Appel, Das Verwaltungsrecht zwischen klassischem dogmatischen Verständnis und steuerwissenschaftlichem Anspruch, VVDStRL 67 (2008), 226 (259). 23 So wohl auch Appel, a.a.O., „normative Orientierung“, 226 f.

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Zwar kann Verwaltungsrecht aus einer neuen Perspektive als Instrument verstanden werden, das nicht nur Grenzen für rechtmäßiges Handeln setzt, sondern zugleich programmatische Aufträge enthält und Handlungsoptionen bereitstellt. Die anzustrebende „Richtigkeit“ ist aus dieser Sicht etwas anderes als Rechtmäßigkeit. Die gesetzgeberische Schutzpflicht fordert zum Beispiel die Vorgabe eines Ordnungsrahmens für wirtschaftliches Handeln, inwieweit aber auch Marktergebnisse vorgegeben werden sollen, ist eine Frage der Richtigkeit. Die Kategorie eines Maßstabs „Entscheidungsrichtigkeit“ beantwortet allerdings nicht die Frage, wieweit der Gesetzgeber bei der Liberalisierung von Handlungsmaßstäben gehen darf.24 Der „strukturelle Rückbau des Rechtsstaates“ lässt sich mit den Funktionsbedingungen von Regulierung nicht rechtfertigen. Regulierung würde sonst in eine Analogie zum Verwaltungsbegriff des Vorkonstitutionalismus geraten.25 2. Die äußerste Grenze: das Regulierungsermessen Beim Versuch, das Gebiet der Telekommunikation sachangemessen zu behandeln, ist die neue Kategorie des Regulierungsermessens entwickelt worden. Auch sie soll dazu beitragen, die Akzeptanz durch die Betroffenen zu erhöhen. Rechtsstaatlich ist damit allerdings eine Grenze erreicht.26 Hier ist etwas weiter auszuholen. Traditionelle Rechtsbegriffe, wie öffentliche Sicherheit und Gefahr oder öffentliche Ordnung, sind mit einer umfassenden gerichtlichen Kontrolle verbunden. Die ihnen zugrundeliegende inhaltliche Ordnungsidee bezieht sich auf den Schutz bestimmter Rechtsgüter. Rechtsstaatlich sind sie vertretbar, weil sie dazu beitragen, die von den jeweiligen Gesetzen vorausgesetzten Wertentscheidungen zu verankern. Im Gegensatz hierzu ist im Telekommunikationsrecht ein Paradigmenwechsel festzustellen. Der Regulierungsbehörde wird nämlich ohne eine leitende materiell-inhaltlich klar umrissene Ordnungsidee erheblicher Gestaltungs- und Entscheidungsspielraum eingeräumt. Der unbestimmte Rechtsbegriff wird nicht mehr als Bindungsquelle, sondern als pauschale Delegationsgrundlage für die Verwaltungsentscheidung aufgefasst. Trute hat dies wie folgt formuliert: „Die Dynamik des Sachbereichs infolge technologischen Wandels, strategischer Entscheidungen von Marktteilnehmern, die geringe Stabilität der vorhandenen Wissensstände, die Eigenlogik des jeweiligen Bereichs führen dazu, dass die Verwaltung nicht gesetzlich hinreichend präzise determiniert werden kann“.27 Das Telekommunikationsgesetz bindet die Verwaltung damit nicht an einen inhaltsfesten und stabilisierenden Ordnungsgedanken, sondern an das ermächtigungskonforme Ordnungsziel einer regulierten Selbstbindung. Die Verpflichtung der Behörde besteht dann darin, die Regulierungsstrategien entsprechend den raschen Ent24

Vgl. Schorkopf, JZ 2008, 20 (25). So richtig Schorkopf, a.a.O., 28. 26 Vgl. statt vieler Shu-Perng Hwang, AöR 136 (2011), 553. 27 Trute, FS Brohm, 2002, 169 (172).

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wicklungen der Telekommunikationsmärkte rechtzeitig zu aktualisieren. Das Bundesverwaltungsgericht scheint dies anzuerkennen, wenn es sagt, dass der zu treffenden Entscheidung in hohem Maße wertende Elemente anhaften, und wenn das Gesetz deshalb ein besonderes Verwaltungsorgan für zuständig erklärt, dieses mit besonderer fachlicher Legitimation in einem besonderen Verfahren entscheidet.28 Genauer gesagt: Die Ermächtigung an die Fachbehörde setzt einen Rahmen, welcher die Verwaltungsentscheidung nicht an die inhaltlichen Vorausbestimmungen des unbestimmten Rechtsbegriffs, sondern an die sich aus der Ermächtigung der jeweiligen unbestimmten Rechtsbegriffe ergebenden Aufgabe bindet. Die Gerichtsbarkeit hat entsprechend einem Regulierungskonzept der regulierten Selbstregulierung diesen Ermächtigungsrahmen zu finden und den Kontrollmaßstab sicherzustellen. Die Verwaltungsentscheidung ist damit nicht an eine bestimmte Ordnungsidee, sondern an eine Wandlungspflicht gebunden.29 Allgemein formuliert: Mit der Ermächtigung im Rahmen von Leitbegriffen wie chancengleicher Wettbewerb, nachhaltig wettbewerbsorientierte Märkte, effiziente Infrastrukturinvestitionen, wird zu einer gestaltenden Marktregulierung hart an der Grenze des Rechtsstaats ermächtigt.30 Weiter konnte der Gesetzgeber mit dem Anliegen, das Gesetz für alle Beteiligten akzeptabel zu machen, nicht gehen. Flankiert wird dies alles von umfassenden Informationspflichten.31 VI. Akzeptanzmanagement Um die gesetzestechnischen Möglichkeiten, die Wirklichkeit zu erfassen, steht es nicht schlecht. Zur Durchsetzung des Rechts ist dies offensichtlich nicht ausreichend. Das mag erstaunen, denn mit dem Gesetz ist wie selbstverständlich der Anspruch auf dessen Befolgung verbunden. Ein modernes Staatsverständnis begnügt sich aber nicht mit der Durchsetzung von Gesetzesbefehlen durch Zwang, sondern es setzt auf die Akzeptanz und die Einsicht der Betroffenen. Die wissenschaftlichen Bemühungen, zu denen Thomas Würtenberger Wesentliches beigetragen hat,32 zentrierten sich auf ein Akzeptanzmanagement vor allem auf protestanfällige Verwaltungsentscheidungen. Dem Gesetzgeber gegenüber sind vergleichbare Überlegungen angebracht. 28

BVerwGE 130, 39 (48 f.); 131, 41 (62). So zu Recht Shu-Perng Hwang (Fußn. 26), 571. 30 Vgl. auch v. Danwitz, DÖV 2004, 977, der deutlich macht, dass nicht die allgemeinen Zielvorgaben des Gesetzes, sondern die konkreten Handlungsermächtigungen der Verwaltung maßgeblich seien. Aus dem Entscheidungsprogramm der jeweiligen Handlungsermächtigung müsse sich ergeben, welche Aufgabe die Verwaltung konkret zu bewältigen habe (981). 31 Hierzu Masing, Soll das Recht der Regulierungsverwaltung übergreifend geregelt werden? Gutachten zum 66. Deutschen Juristentag, 2006, D 36 f. 32 Würtenberger (Fußn.1); ders. (Fußn. 3), 61 ff.; Karpen, ZRP 2007, 234; Hill (Fußn. 12), 377. 29

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Die wesentlichen Bemühungen um eine bessere Annahme der Gesetze beziehen sich auf eine Beseitigung oder Verringerung der bestehenden Gesetzesmängel. Unter diesen sind die folgenden besonders bemerkenswert:33 Ein Hauptproblem ist die Normenflut, d. h. die Vermehrung der gesetzlichen Regelungen. Normen erfassen zusätzliche Regelungsgebiete und verdichten bestehende Regelungen, vielfach auch in Folge supranationaler und internationaler Verflechtung. Zum Parlament sind weitere Normproduzenten, auch Private, hinzugetreten. Die Folgen liegen auf der Hand. Das Recht wird unübersichtlich. Sein wesentliches Ziel, die Verwaltung in ihrem Handeln zu begrenzen, wird verfehlt. Im Normendickicht, in dem sich niemand mehr zu Recht findet, entstehen neue Freiräume. Frido Wagener hat dies schon im Jahr 1978 als „Not der Selbstbestimmung durch Regelungsüberlastung“ bezeichnet.34 Eine zweite Gruppe von Unzulänglichkeiten des Gesetzes kann mit dem Stichwort Strukturmängel bezeichnet werden. Eine Untersuchung über Defizite in der Gesetzgebung, die 198 formelle und 500 materielle Bundesgesetze in der Zeit vom November 2005 bis zum Sommer 2007 erfasste, kam zum Ergebnis, dass 76 % der Gesetze noch mehr Bürokratiekosten verursachen, 58 % seien nach kurzer Zeit wieder geändert worden. 50 % seien sprachlich unverständlich.35 Hinzu kommen inhaltliche Unrichtigkeiten wie schiefe Interessenwertungen, die Vernachlässigung fundamentaler materialer Grundsätze, die Nichtberücksichtigung von außerrechtlichen Rahmenbedingungen. Schließlich sind auch kommunikative Unkorrektheiten zu erwähnen. Gesetze nehmen keine Rücksicht auf die Normadressaten und sie sind begrifflich unpräzise und verwildert. „Über alles lagert sich die wachsende Schwierigkeit der sinnvollen Kundmachung, der verlässlichen Kenntnisnahmen, des sicheren Zugangs zum ,Law in action‘ mit Einschluss seiner Dogmatik. Wirkungen sind, dass das gesetzte Recht nicht ausreichend verstanden, die freiwillige Befolgung gefährdet, die gesicherte Durchsetzung erschwert wird.“36 Die Liste ließe sich fortsetzen. Die Vorschläge zur Entwicklung akzeptanzbildender Faktoren umfassen die Verbesserung der Einsicht in das Zustandekommen von Recht, die Förderung von Transparenz, die Teilhabe am Entstehungsprozess von Recht und vieles andere mehr.37 Eine besondere Bedeutung wird der „Darreichungsform des Rechts“ zugemessen. Dazu gehören die Beachtung des Gebots der Normen33 Im Folgenden wird teilweise den in ihrer Präzision nach wie vor unübertroffen Ausführungen von Eichenberger gefolgt, vgl. ders. Gesetzgebung im Rechtsstaat, VVDStRL 40 (1981), 15. 34 Vgl. Wagener, Der öffentliche Dienst im Staat der Gegenwart, VVDStRL 37 (1979), 215 (244). 35 Eine knappe, präzise Darstellung findet sich bei Biermann, Verwaltungsmodernisierung in Mecklenburg-Vorpommern, 2011, S. 252. 36 Vgl. Eichenberger (Fußn. 33), 17. 37 Vgl. statt vieler Hill (Fußn. 12), 378.

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klarheit und die Erleichterung des Zugangs zum Recht, d. h. die Verschaffung angemessener Informationsmöglichkeiten über Rechte und Pflichten. Auch muss klargestellt werden, was der Gesetzgeber bewusst nicht entschieden hat, um es der gesellschaftlichen Entwicklung und Selbstgestaltung zu überlassen.38 Es gehört zu den Kernfragen der Rechtswissenschaft, die Grenze zwischen Offenheit und Geschlossenheit einer Regelung richtig zu ziehen.39 Zu den allgemeinen Grundsätzen für die Formulierung von Gesetzen ist das magische Fünfeck von Umfang, Aussagekraft, Präzision, Verständlichkeit und Adäquanz, d. h. Adressatengerechtigkeit und Anwendungsgeeignetheit, zu rechnen. Selbst wenn alle Vorschläge zu einer besseren Rechtsvermittlung, vor allem auch die Forderung nach einer besseren Gesetzessprache, berücksichtigt würden40, selbst wenn man ein professionelles Gesetzesmarketing betreiben würde,41 würden die beherzigenswerten Verbesserungsvorschläge zwar zur Qualitätssteigerung der Gesetze beitragen können, nicht jedoch zu einer wesentlichen Akzeptanzverbesserung in einer breiteren Öffentlichkeit führen. Damit soll nicht gesagt werden, dass diese Versuche aufgegeben werden sollten. Ganz im Gegenteil. Sie werden aber vor allem dem Gesetzesanwender, also dem Verwaltungsbeamten und dem Richter nützen, nicht aber eine breitere Öffentlichkeit erreichen. VII. Gesetzgebungsverfahren Überträgt man die Erkenntnisse aus der Diskussion um die Verbesserung von Verwaltungsentscheidungen auf den Gesetzgeber, dann verbleiben etwa das Plädoyer für eine offensive Öffentlichkeitsarbeit, der Versuch, für Gesetzesentscheidungen „soziale Evidenz und alltagsweltliche Plausibilität“ zu erreichen, ein akzeptanzförderndes soziales Klima des Vertrauens herzustellen und manches andere mehr.42 All diese, teilweise seit langem geäußerten und teilweise verwirklichten Verbesserungsvorschläge haben nicht verhindern können, dass die Politikverdrossenheit ständig zugenommen hat, dass es zu Fehlentwicklungen wie bei „Stuttgart 21“43 gekommen ist und dass die Kluft zwischen Staat und Bürger in den letzten Jahren zugenommen 38 Auf diesem Gesichtspunkt macht Paul Kirchhof, Die Bestimmtheit und Offenheit der Rechtssprache, 1987, S. 25 aufmerksam. Grundsätzlich Waldmann, Österreichische Zeitschrift für öffentliches Recht, Bd. 22 (1971), 113. 39 Vgl. Hill (Fußn. 12), 379 unter Berufung auf P. Kirchhof. 40 Grundsätzlich zum Thema Sprache und Recht Kahl, Sprache als Kultur und Rechtsgut, VVDStRL 65 (2006), 386. Nach dem im Jahr 2009 eingefügten § 80a GO-BT sollen Gesetzesentwürfe auf Beschluss des federführenden Ausschusses durch einen Redaktionsstab auf sprachliche Richtigkeit und Verständlichkeit geprüft werden. 41 Selbst das Bundesverfassungsgericht mahnt grundrechtlich begründete Aufklärung, Auskunfts- und Belehrungspflichten an, vgl. BVerfGE 65, 1 (46, 59). 42 Vgl. Mecking, NVwZ 1992, 354. 43 Hierzu ausgewogen und weiterführend Gärditz, Gewerbearchiv 2011, 273 ff.

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hat.44 Dies mag erstaunen angesichts einer medial wirksam hergestellten und verstärkten Öffentlichkeit für wichtige Fragen unseres Gemeinwesens, etwa die friedliche Nutzung der Kernenergie, die Präimplantationsdiagnostik (PID) und die Nutzung gentechnischer Verfahren. Der Zusammenhang zwischen den Bürgern und dem politischen System in der Bundesrepublik ist brüchig geworden, eine besonders bedenkliche Erscheinung angesichts dessen, dass Öffentlichkeit Funktions- und Freiheitsvoraussetzung der Demokratie ist. Die Mitwirkung der Bürger an der demokratischen Willensbildung hat nachgelassen, weil immer weniger an die Möglichkeit der positiven Gestaltung ihrer Lebensverhältnisse glauben. Gegenmaßnahmen sind weitgehend wirkungslos geblieben. Die Einführung von Plebisziten auf kommunaler und Länderebene hatte keine Auswirkungen auf die Zufriedenheit mit nationalen oder europäischen Entscheidungen.45 Demokratische Öffentlichkeit ist nur unter Einbeziehung eines veränderten Mediennutzungsverhaltens zu verstehen.46 Das Leseverhalten im Internet ist anders als in Bezug auf gedrucktes Papier. Ohnehin informieren sich zunehmend junge Leute vorwiegend im Internet, wo Meldungen häufig nur flüchtig „angelesen“ werden, und nicht mehr durch die Presse, die eine anspruchsvollere Politikvermittlung zumindest versucht. Im Kampf um das knappe Gut „Aufmerksamkeit“ könnte es im Übrigen durchaus das Übermaß an Öffentlichkeit sein, das Zweifel an der Güte des demokratischen Prozesses aufkommen lässt. Hyperresponsivität nach Maßgabe vermeintlicher oder tatsächlicher Stimmungslagen dürfte eher schädlich sein.47 Der Rückgang der Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie in Deutschland48 kann auch darauf zurückzuführen sein, dass ein Übermaß an Öffentlichkeit hergestellt wird. Zu den Fehlentwicklungen, verstärkt durch eine neue Art von Öffentlichkeit, gehört auch, dass die zu beobachtende frühzeitige Skandalisierung politischer Vorhaben dazu führt, dass sich die Politik geheime Nischen oder Fluchtorte zu sichern sucht. Es wäre falsch, wenn das Parlament in einen Wettbewerb um die tagespolitische Meinungshoheit eintreten wollte. Das parlamentarische Gesetzgebungsverfahren soll vor allem öffentlich Mehrheit verschaffen.49 Das bedeutet auch, dass immer eine Minderheit überstimmt wird. Das Gesetz ist seiner Idee nach „das klassische Instrument zur Herstellung von Distanz“.50 Der Abstand zwischen abstrakter Gesetzesentscheidung und konkreter 44

Holznagel, VVDStRL 68 (2009), 409 ff. Nachweise bei Holznagel, a.a.O., 405. 46 Vgl. Nachw. bei Holznagel, a.a.O., 406, Fußn. 142. 47 Gärditz, (Fußn. 43), 276, Fußn. 53. 48 Vgl. hierzu auch Horn, VVDStRL 68 (2009), 444. 49 Vgl. Kloepfer, VVDStRL 40 (1982), 67. 50 Kloepfer, a.a.O., 66. 45

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Gesetzesanwendung ermöglicht eine heilsame zeitliche Entfernung des konkreten Gesetzesvollzugs. Das Gesetz bleibt so tendenziell zukunftsoffen. Die abstrakte und generelle Fassung entrückt die gesetzliche Regelung dem Einzelfall. Die Folgen des gesetzgeberischen Versuchs , der jeweiligen Stimmung gerecht zu werden bzw. ihr hinterherzulaufen, sind fatal, zum einen, weil der Wettlauf ohnehin nicht zu gewinnen ist, zum anderen, weil Gesetze auf Dauer angelegte Verhaltenssicherheit vermitteln sollen, und schließlich auch, weil die Gesetzesflut auf diese Weise weiter zunimmt. Wie gezeigt wurde, bestehen ausreichende gesetzestechnische Möglichkeiten, um einer komplexen Wirklichkeit gerecht zu werden. Die Grenzen für den Gesetzgeber bestehen weniger in den Eigenheiten des Gesetzgebungsverfahrens, sondern im unzureichenden wissenschaftlichen Erkenntnisstand (man denke an die Diskussion um die Gefährlichkeit des Elektrosmogs), in Kompetenzgrenzen (internationale Konjunkturprobleme, globale Klimaprobleme), vor allem aber in politischen Einsatzhemmnissen. Die Finanzkrise hätte sich beispielsweise durch erhöhte Kapitalanforderungen an Banken, verschärfte Haftungsanforderungen für Vorstände und Aufsichtsräte und eine Deckelung von Vorstandsbezügen vermeiden, zumindest mildern lassen. Der Einwand, das Gesetzgebungsverfahren müsse grundsätzlich geändert, vor allem beschleunigt werden, verfängt nicht. Hierzu liegen zahlreiche Vorschläge vor. Man könnte beispielsweise die Zahl der Gesetzeslesungen51 reduzieren oder andere Verfahrensvereinfachungen vorsehen. Das Gebot der Stunde ist aber nicht die Beschleunigung, sondern die Verlangsamung. Nur durch eine breite, in der Öffentlichkeit des Parlaments geführte faire Diskussion zu Grundfragen unseres Gemeinwesens kann verlorenes Vertrauen zurück gewonnen werden. Im Übrigen wäre es Aufgabe der politischen Bildung, Verständnis dafür zu wecken, dass im hochindustrialisierten Staat, der einen vernünftigen Ausgleich zwischen Einzelwohl- und Gemeinwohlinteressen versucht, viele der zu treffenden Regulierungen notwendigerweise unverständlich bleiben müssen und nicht jedem Partikularinteresse gerecht werden können. In einer Zeit überzogener Individualisierung tut sich das allgemeine Gesetz schwer. Es täte sich leichter, würde das Parlament seine Chance nutzen, um Grundfragen, wie die Architektur Europas, den Schutz menschlichen Lebens oder den der Privatsphäre, auf der Basis eines noch bestehenden Konsenses im Rahmen unserer bewährten Verfassungsordnung zu bewältigen.

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Vgl. § 78 GO-BT.

Akzeptanz für Energieleitungen durch Planungsverfahren Von Jens-Peter Schneider, Freiburg I. Einleitung In seiner Freiburger Antrittsvorlesung rückte Thomas Würtenberger das Thema „Akzeptanz durch Verwaltungsverfahren“ mit Worten in den Fokus der Rechtswissenschaft, die nichts an ihrer Aktualität verloren haben: „Verwaltungsentscheidungen, die eine örtlich unerwünschte Nutzung von Land betreffen, lassen sich gegen einen breiten Widerstand nur schwer durchsetzen“1. Das derzeit prominenteste Beispiel für derartige Probleme des Infrastrukturplanungsrechts bietet das Projekt „Stuttgart 21“ zum Umbau des Stuttgarter Bahnhofs von einem Kopfbahnhof zu einem unterirdischen Durchgangsbahnhof2. Nachdem der gesellschaftliche Konflikt durch die nachträgliche Schlichtung und eine Volksabstimmung nur sehr aufwendig wieder kanalisiert werden konnte, gibt es inzwischen erste gesetzgeberische und gubernative Initiativen, die entsprechend eskalierende Konflikte insbesondere bei Verkehrsinfrastrukturmaßnahmen für die Zukunft durch verstärkte partizipative Elemente in den Planungsprozessen vermeiden sollen3. 1 Würtenberger, NJW 1991, 257 (257); s. ferner: ders., Die Akzeptanz von Verwaltungsentscheidungen, 1996; ders., in: Staatsministerium (Hg.), Verwaltungsreform in BadenWürttemberg, 1993, Anl. 8; ders., in: Pichler (Hg.), Rechtsakzeptanz und Handlungsorientierung, 1998, 287 ff.; ders., in: Ferz/Pilcher (Hg.), Mediation im öffentlichen Bereich, 2003, 31 ff.; ders., FS Bartlsperger, 2006, 233 ff. 2 Umfassend: Wulfhorst, DÖV 2011, 581 ff.; T. Groß, in: Hill/Sommermann/ Stelkens/ Ziekow (Hg.), 35 Jahre Verwaltungsverfahrensgesetz – Bilanz und Perspektiven, 2011, 31 ff.; zur Vorerörterung: Antrag des Landes Baden-Württemberg für eine Bundesratsentschließung zur Stärkung der Öffentlichkeitsbeteiligung bei Großvorhaben, BR-Drs. 135/11; Beirat Verwaltungsverfahrensrecht beim BMI, NVwZ 2011, 859 f.; zur Stärkung von Raumordnungsverfahren: Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland e. V., Fünf-Punkte-Programm zum Ausbau und zur Effektuierung der Bürgerbeteiligung, S. 3 f. (abrufbar unter www.bund.net – diese und alle nachfolgend zitierten Internetquellen wurden letztmalig im April 2012 abgerufen); dazu eher skept.: A. Schmidt, ZUR 2011, 296 (304); s. a. J.-P. Schneider, Planungs-, genehmigungs- und naturschutzrechtliche Fragen des Netzausbaus und der untertägigen Speichereinrichtung zur Integration erneuerbarer Energien in die deutsche Stromversorgung, 2011, S. 11 f. (abrufbar unter www.umweltrat.de/cln_137/SharedDocs/Downloads/DE/ 03_Materialien/2011_Mat43_Fragen_Netzausbau.html); s. ferner: Ewer, NJW 2011, 1928 ff.; Schönenbroicher, VBlBW 2010, 466 ff.; Steinberg, FAZ vom 14. 12. 2010, 8. 3 Bundesregierung, Entwurf für ein Planungsvereinheitlichungsgesetz, BT-Drs. 17/9666; s. ferner die Konsultation des BMVBS für ein Handbuch zur Bürgerbeteiligung (abrufbar unter www.bmvbs.de/SharedDocs/DE/Artikel/UI/handbuch-buergerbeteiligung.html?view=render

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Während sich diese allgemeinen Ansätze zur Akzeptanzgewinnung durch partizipative Verwaltungsverfahren noch in der parlamentarischen Beratung befinden, hat die nach der Atomreaktorkatastrophe von Fukushima im Jahr 2011 massiv beschleunigte Energiewende bereits konkrete gesetzgeberische Reformprojekte zum Abschluss gebracht4. Angeregt durch ein Sondergutachten des Sachverständigenrats für Umweltfragen5 hat der Gesetzgeber in starkem Kontrast zu den rechtspolitischen Tendenzen der vergangenen Jahre Partizipationsmöglichkeiten in Verwaltungsverfahren nicht noch weiter beschnitten6, sondern im Gegenteil vielfältige partizipationsorientierte Verfahrenselemente für staatliche und sogar für private Planungen vorgeschrieben. Er sieht heute in frühzeitigen Partizipationsmöglichkeiten einen Faktor zur nachhaltigen Beschleunigung der Planungsprozesse durch die Gewinnung von Akzeptanz in der Bürgerschaft7. Nebenbei reduziert der Gesetzgeber damit zugleich Spannungen im Verhältnis zum bereits seit Längerem stark partizipationsorientierten Europa- und Völkerumweltrecht8. Die neuen Ansätze sollen im Folgenden dargestellt (IV.) und unter Rückgriff auf von Würtenberger und anderen herausgearbeitete Akzeptanzfaktoren gewürdigt werden (V.). Zuvor ist jedoch ein kurzer analytischer Rückblick auf den Akzeptanzbedarf (II.) und die vorherige Rechtslage (III.) erforderlich. II. Analyse des Akzeptanzgewinnungsbedarfs Die Energiewende verlangt einerseits Akzeptanz bei der Zulassung der Anlagen zur regenerativen Stromerzeugung wie Windparks oder Photovoltaikanlagen9. Noch kritischer ist die Akzeptanz für den andererseits erforderlichen Netzausbau. Die verstärkte Nutzung insbesondere der Offshore-Windenergie in Deutschlands Norden – ebenso wie die ebenfalls in Norddeutschland geplanten neuen Kohlekraftwerke – bei Druckansicht&nn=81086) sowie die erwogene Ausweitung von Internetkonsultationen im Referentenentwurf für ein E-Government-Gesetz (abrufbar unter www.bmi.bund.de/DE/The men/OeffentlDienstVerwaltung/Informationsgesellschaft/EGovernment/EGovGesetz/EGov_Ge setz_node.html). 4 Vgl. insbesondere das Netzausbaubeschleunigungsgesetz (NABEG), BGBl 2011 I, 1690; dazu Gesetzentwurf, BT-Drs. 17/6073 mit Beschlussempfehlung des BT-Wirtschaftsausschusses, BT-Drs. 17/6366; M. Appel, UPR 2011, 406 ff.; ders./Eding, NVwZ 2012, 343 ff.; Durner, DVBl. 2011, 853 ff.; Erbguth, DVBl. 2012, 325 ff.; ders., NVwZ 2012, 325 ff.; Grigoleit/Weisensee, UPR 2011, 401 ff.; Kment, RdE 2011, 341 ff.; Moench/Ruttloff, NVwZ 2011, 1040 ff.; Schmitz/Jornitz, NVwZ 2012, 332 ff.; Wagner, DVBl. 2011, 1453 ff. 5 Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU), Wege zur 100 % erneuerbaren Stromversorgung, Sondergutachten, 2011; das Gutachten beruht seinerseits auf einem Rechtsgutachten des Verfassers: J.-P. Schneider (Fußn. 2). 6 Zu den „partizipationsfeindlichen“ Novellen der vergangenen Jahre: J.-P. Schneider, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band II, 2. Auflage 2012, § 28 Rn. 69 ff. im Erscheinen; krit. SRU (Fußn. 5), Tz. 619 f.; Holznagel/ Nagel, DVBl. 2010, 669 ff. 7 Gesetzesbegründung zum NABEG, BT-Drs. 17/6073, 18, 25, 28, 35. 8 s. J.-P. Schneider (Fußn. 6), Rn. 85, 86 ff. 9 Hierzu SRU (Fußn. 5), Tz. 491 ff.

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gleichzeitiger Abschaltung der süddeutschen Atomkraftwerke sowie generell die veränderten Bedingungen eines europäischen Strombinnenmarktes erfordern einen erheblichen Ausbau des deutschen und europäischen Strom-Übertragungsnetzes10. Auf die damit verbundenen Akzeptanzprobleme werden sich die weiteren Ausführungen konzentrieren11. Zwar genießt die Nutzung erneuerbarer Energieträger im Grundsätzlichen eine im Vergleich zu anderen Stromerzeugungsmethoden außergewöhnlichen Rückhalt in der deutschen und europäischen Bevölkerung12. Diese grundsätzliche Akzeptanz verhindert aber keineswegs konkrete Standortkonflikte13. Dies gilt insbesondere, wenn den Betroffenen nicht hinreichend der Nutzen einer neuen Leitung im Rahmen eines energiepolitischen Gesamtkonzepts vermittelt wird14. Ein spezifisches Akzeptanzproblem für weiträumige Übertragungsnetzleitungen besteht darin, dass von solchen Projekten vielfach Regionen betroffen sind, die selbst nicht unmittelbar von diesen Leitungen profitieren15. III. Analyse der normativen Ausgangslage Da die frühere Rechtslage bereits mehrfach analysiert wurde16, genügen hierzu knappe Bemerkungen: Die frühere gesetzliche Ausgestaltung der Planungsstufung und Planungsverantwortlichkeiten für Stromübertragungsleitungen besaß gewisse Parallelen zur Lage bei Eisenbahnbetriebsanlagen. Für die liberalisierte Stromwirtschaft war allerdings die zusätzliche Komplexität einerseits durch die Systemverantwortung und damit Planungsverantwortlichkeit einer Mehrzahl privater Übertragungsnetzbetreiber sowie andererseits aufgrund der Netzentgeltregulierung durch die Bundesnetzagentur einzukalkulieren. Empirische Untersuchungen verkehrsbezogener Planungsverfahren weisen eine deutliche Überformung und Modifikation der gesetzlichen Konzeption nach. Für die Planung von Stromleitungen waren vergleichbare Überformungen anzunehmen. Kennzeichnend für die verkehrsbezogene Planungspraxis sind die starke faktische Bindung der formalen Planungsverfahren an informelle Trassenfestlegungen bereits auf der höchsten Planungsstufe, die Dominanz der Vorhabenträger bei der Alternativenprüfung sowie der Wandel des Raumordnungsverfahrens zu einem Quasi-Fachplanungsverfahren. Das Raumordnungs10

Vgl. Gesetzesbegründung zum NABEG, BT-Drs. 17/6073, 25. Nebenbei sei erwähnt, dass sich auch der Jubilar, wenngleich aus einer anderen Perspektive, gelegentlich mit dem Energieplanungsrecht beschäftigt hat: Würtenberger, BayVBl. 1982, 673 ff.; ders., WiVerw 1985, 188 ff. 12 SRU (Fußn. 5), Tz. 491. 13 SRU (Fußn. 5), Tz. 492; vgl. auch Wagner, DVBl. 2011, 1453 (1458 a.E.). 14 SRU (Fußn. 5), Tz. 498, 502, 628. 15 SRU (Fußn. 5), Tz. 618, 626 f., s. auch Tz. 505 ff. 16 SRU (Fußn. 5), Tz. 558 ff.; dem zugrundeliegend: J.-P. Schneider (Fußn. 2), S. 6 ff., s. ferner: ders., FS Bullinger, 2011, 69 ff.; Droste-Franke et al., Balancing Renewable Electricity, 2012, S. 196 ff. 11

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verfahren wurde dadurch funktionell überfordert, Raumordnung und Fachplanung funktionell entdifferenziert. Beides minderte die Transparenz und Akzeptanz der einzelnen Verfahrensstufen. Zentrale Steuerungsfunktion beim Infrastrukturausbau kam und kommt daneben dem Energieregulierungsrecht zu17. Die Entflechtung des Netzbetriebs hat aufgrund ambivalenter Anreizeffekte vermutlich eine geringere positive Wirkung, als oft erwartet wird. Als wenig funktional erweisen sich punktuelle Investitionspflichten nach dem Muster von § 9 EEG. Angemessener sind systematische Investitionspflichten. Sie bedürfen jedoch einer planerischen Grundlage. Insoweit gab es nach altem Recht nur diverse Einzelansätze wie insb. § 12 IIIa EnWG a.F., die aber noch wenig aufeinander abgestimmt und prozedural oft nicht ihrer Bedeutung entsprechend ausgestaltet waren. Insbesondere fehlten normativ klar fundierte Abstimmungsverfahren zwischen Raum- und Fachplanung mit der Netzentgeltregulierung. Die für die Entgeltregulierung besonders wichtigen Investitionsbudgets boten keine hinreichend frühe und stabile Investitionsgrundlage, auch wenn die Bundesnetzagentur ihre strategische Steuerungsaufgabe zunehmend erkannte. IV. Die gesetzliche Neuordnung der Planung von Energieleitungen im Zuge der Energiewende 1. Die Vorschläge des Sachverständigenrats für Umweltfragen Die Reformvorschläge des SRU beruhen auf folgenden Prinzipien18 : Verfahrensstufung mit transparenter Aufgabenzuweisung ohne Doppelprüfungen; Verfahrensstufung mit entscheidungsadäquater Öffentlichkeits- und Betroffenenbeteiligung; Stärkung der europäischen und gesamtstaatlichen Belange bei der Trassenfestlegung; verbesserte Koordination zwischen Raumordnung, Fachplanung und Netzregulierung; flexible Verfahrensoptimierung zur projektadäquaten Verfahrensgestaltung19. Konkret wurde als eine (vorzugswürdige) Option eine zweistufige Fachplanung für strategische Übertragungsnetzprojekte vorgeschlagen20. Das zentrale neue Element war ein Bundesfachplan Übertragungsnetz zur hochstufigen Bedarfsfestlegung, Trassenkorridorfestlegung und Alternativendebatte. Ausgestaltet werden sollte die Bundesfachplanung als administratives Planungsverfahren unter der Federführung von Bundesbehörden mit gubernativer Letztentscheidung durch die Bundesre17 SRU (Fußn. 5),Tz. 535 ff.; J.-P. Schneider (Fußn. 2), S. 21 ff.; ders., FS Bullinger, 2011, S. 69 ff. 18 SRU (Fußn. 5), Tz. 571 ff.; J.-P. Schneider (Fußn. 2), S. 54 ff. 19 Wichtiges Anschauungsmaterial zur Entwicklung von Reformoptionen bietet rechtsvergleichend insbesondere das schweizerische Recht mit einem zweistufigen Planungsverfahren und dem Experiment eines standardisierten Beurteilungsschemas für die Wahl zwischen Freileitungsbau und Erdverkabelung; dazu: J.-P. Schneider (Fußn. 2), S. 38 ff. 20 SRU (Fußn. 5), Tz. 577 ff.; J.-P. Schneider (Fußn. 2), S. 57 ff.

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gierung, wobei die konkrete Zuständigkeitszuweisung bewusst offen gelassen wurde. Zur Nutzung des Sachverstands und zur Gewinnung der Akzeptanz durch die wirtschaftlich maßgeblichen Akteure sollte die Bundesfachplanung an die regulierungsrechtlich erforderlichen Investitionspläne der Übertragungsnetzbetreiber anknüpfen21. Raumordnungsverfahren sollten nicht komplett für den Energiebereich abgeschafft werden, aber auf eine ergänzende Funktion für die Planung von Leitungsbauprojekten mit geringerer Bedeutung und planerischer Komplexität, die von der Bundesfachplanung nicht erfasst werden, beschränkt werden. Da es sich bei der Bundesfachplanung um eine gesetzlich vorgeschriebene raumwirksame Planung durch die Exekutive handelte, wäre mit ihr notwendig eine Strategische Umweltprüfung ebenso wie eine FFH-Verträglichkeitsprüfung verbunden. Dies entspricht auch dem Charakter des vorgeschlagenen Verfahrens, großräumig Korridoralternativen zu bewerten und auszuwählen. Zugleich wäre dadurch eine frühzeitige Öffentlichkeitsbeteiligung sichergestellt, wovon eine Steigerung der Kapazität des Planungsprozesses zur Akzeptanzgewinnung erwartet wurde. Hinsichtlich des sich anschließenden Planfeststellungsverfahrens wurden gegenüber der geltenden Rechtslage keine fundamentalen Veränderungen vorgeschlagen22. Als bedenkenswert wurde jedoch eine Erweiterung der Planfeststellungspflicht auf alle Höchst- und Hochspannungsleitungen unabhängig davon, ob diese als Freileitung oder Erdkabel ausgebaut werden, erachtet. Dies sollte es erleichtern, übergreifende Planungsabschnitte zu definieren und in den Ländern behördliche Kompetenzzentren zur Planfeststellung von Übertragungsleitungen einzurichten. Der Rat ging bei seinen Vorschlägen davon aus, dass die großräumige Variantenwahl durch die Bundesfachplanung auf Planfeststellungsebene und im nachfolgenden Gerichtsverfahren vermutlich nur in seltenen Einzelfällen substantiiert erschüttert werden könnte. Dies ist auch unter Rechtsschutzgesichtspunkten akzeptabel, weil diese Abschichtungsleistung der Bundesfachplanung im Vergleich zu den bisherigen informellen Trassenfindungsprozessen mit einer prozedural erheblich verbesserten Stellung etwa von Umweltbelangen im Bundesfachplanungsverfahren kombiniert wird. Das neue Verfahren sollte mit dem oft geforderten (Grund-)Rechtsschutz durch Verfahren ernst machen23. Bezüglich der Planfeststellungsverfahren sah der Rat für weitere Reformen nur noch wenig Potential, sofern man nicht qualitäts- und zugleich akzeptanzsichernde Verfahrenselemente weiter abbauen und damit eventuell sogar Verzögerungen durch politische Proteste riskieren wollte. Als förderlich bewertete der Rat ein geschärftes Bewusstsein der Behördenbediensteten für einen gesellschaftlichen Beschleunigungsbedarf. Insoweit komme der öffentlichen Diskussion über den Netzausbaubedarf große Bedeutung zu. Als weitere Beschleunigungselemente brachte der Rat Entscheidungsfristen, behördliche und anwaltliche Projektmanager sowie entlastende 21

SRU (Fußn. 5), Tz. 583; J.-P. Schneider (Fußn. 2), S. 60. SRU (Fußn. 5),Tz. 585; J.-P. Schneider (Fußn. 2), S. 61. 23 SRU (Fußn. 5), Tz. 584; J.-P. Schneider (Fußn. 2), S. 61. 22

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Gestaltungsvorgaben für Erörterungstermine in behördlichen Leitlinien in die Diskussion. Demgegenüber sprach er sich gegen den häufig geforderten generellen Verzicht auf Erörterungstermine aus24. 2. Das gesetzgeberische Konzept Diese Anregungen wurden vom Bundesgesetzgeber in starkem Maße aufgegriffen, aber auch in einigen wichtigen Aspekten modifiziert. Verwirklicht wurde die Reform durch zwei aufeinander abgestimmte Gesetzentwürfe einerseits zur ohnedies wegen des EU-Energiepakets 2009 anstehenden Reform des EnWG, in deren Rahmen unter anderem die bereits bestehenden Investitionsplanungspflichten der Übertragungsnetzbetreiber erheblich ausgebaut sowie das neue Instrument eines Bundesbedarfsplans eingeführt wurde25, und andererseits zur Einführung des NABEG26. Nach der Neuregelung erfolgt die Planung bzw. Zulassung des künftigen Übertragungsnetzausbaus in vier Schritten27: • jährlicher gemeinsamer Szenariorahmen für die (Übertragungs-)Netzentwicklung gem. § 12a EnWG, • jährlicher gemeinsamer (Übertragungs-)Netzentwicklungsplan gem. § 12b-12d EnWG als Basis des Bundesbedarfsplans gem. § 12e EnWG, • Bundesfachplanung zur Trassenkorridorfestlegung für (bundes-)länderübergreifende oder grenzüberschreitende Leitungsprojekte gem. §§ 4 – 17 NABEG, • Planfeststellung gem. §§ 18 – 28 NABEG. Damit greift der Gesetzgeber die Anregung des Sachverständigenrats für eine bundesweite Fachplanung und deren Anknüpfung an die regulatorisch vorgegebene unternehmerische Investitionsplanung auf28. Letztere wird allerdings eigenständig weiter ausdifferenziert. Vor allem aber wird die als einheitliche gubernative Entscheidung vorgeschlagene Bundesfachplanung aufgespalten in einen Legislativakt nach dem Muster des EnLAG29 und eine dem Linienbestimmungsverfahren im Straßenplanungsrecht vergleichbare Trassenkorridorfestlegung, die überdies von der ministeriellen Ebene auf die Bundesnetzagentur als Bundesoberbehörde verlagert wird. 24

Zum Vorstehenden SRU (Fußn. 5), Tz. 598 ff.; J.-P. Schneider (Fußn. 2), S. 64 ff. BGBl I 2011, 1554; s. ferner den zugrundeliegenden Gesetzesentwurf, BT-Drs. 17/6072. 26 s. oben Fn. 4. 27 Ein Überblick über das neue Regelungssystem und seine Ergänzung um weitere Varianten für verschiedene Typen von Stromleitungen findet sich bei Schmitz/Jornitz, NVwZ 2012, 332 (333). 28 s. auch Durner, DVBl. 2011, 853 (854). 29 Zu diesem krit. Hermes, in: Schneider/Theobald (Hg.), Recht der Energiewirtschaft, 3. Aufl. 2011, § 7 Rn. 44 ff.; s. ferner Schirmer, DVBl. 2010, 1349 ff.; Holznagel/Nagel, DVBl. 2010, 669 ff.; Hermanns/Austermann, NdsVBl. 2010, 175 ff.; Säcker, RdE 2009, 305 ff.; Lecheler, RdE 2010, 41 ff. 25

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Einschneidend ist schließlich die vom Sachverständigenrat nicht vorgeschlagene und in der Literatur verfassungsrechtlich hinterfragte Kompetenzverlagerung ggf. auch für das anschließende Planfeststellungsverfahren von den bisher zuständigen Landesbehörden auf die Bundesnetzagentur, sofern die Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrates von der Ermächtigung in § 2 II NABEG für eine entsprechende Zuständigkeitsverlagerung im Verordnungswege Gebrauch macht30. Für unseren Zusammenhang besonders bemerkenswert an diesen vier Planungsschritten sind erstens ein Wechselspiel von privaten und staatlichen Verfahrensbeiträgen bzw. Verfahrensverantwortlichkeiten im Sinne einer regulierten Selbstregulierung (näher dazu a)) sowie zweitens die Integration von insgesamt sieben Partizipationsphasen mit ausgreifender, teilweise internetbasierter Öffentlichkeits- und Verbandsbeteiligung (näher dazu b)). Während mit dem Einbau ausgeprägter selbstregulativer Elemente das Wissen der Übertragungsnetzbetreiber genutzt sowie zugleich deren Akzeptanz der Planungsergebnisse und damit deren Bereitschaft zur Planverwirklichung sichergestellt werden soll, zielen die vielfältigen Partizipationsoptionen neben der Gewinnung von kontrastierendem Regulierungswissen auf die Akzeptanz durch die vom Netzausbau Betroffenen. a) Kombination selbstregulativer und regulativer Planungselemente Die Kombination selbstregulativer und regulativer Planungselemente zeigt sich zunächst beim jährlichen gemeinsamen Szenariorahmen. Dieser wird von den Übertragungsnetzbetreibern gemeinsam erarbeitet (§ 12a I 1 EnWG), bedarf aber der Genehmigung durch die Bundesnetzagentur (§ 12a III EnWG). Mit diesem neuen Institut reagiert der Gesetzgeber auf die erhebliche Unsicherheit über die künftige Entwicklung sowohl der Erzeugungs- als auch der Verbrauchsstrukturen angesichts der gegenwärtigen Umbruchsituation in der Energieversorgung. Diese Unsicherheit wirkt sich selbstverständlich auf die von den Übertragungsnetzbetreibern bedarfsgerecht vorzuhaltenden Netze aus und hat nicht nur wirtschaftliche, sondern in erheblichem Maße auch energiepolitische Gründe. Der Szenariorahmen kann ein energiepolitisches Gesamtkonzept nicht ersetzen und auch nicht die Investitionsentscheidungen der Erzeuger bzw. die lastrelevanten Nutzungsänderungen der Verbraucher determinieren. Gleichwohl bleibt zu hoffen, dass die drei von den Übertragungsnetzbetreibern identifizierten Entwicklungspfade (Szenarien) für die nächsten zehn Jahre einerseits die wirklich wahrscheinlichen Entwicklungen abbilden und andererseits im Sinne von Leitbildern zugleich stabilisieren und dadurch teure Fehlinvestitionen vermeiden. Schwierige Regelungsfragen, denen hier nicht näher nachgegangen wer30

Dieser Frage kann in diesem Rahmen nicht nachgegangen werden; insoweit krit.: Durner, DVBl. 2011, 853 (857 f.); Moench/Ruttloff, NVwZ 2011, 1040 (1041); a.A.: Wagner, DVBl. 2011, 1453 (1456); M. Appel, UPR 2011, 406 (410 f.); ders./Eding, NVwZ 2012, 343 (347); Schmitz/Jornitz, NVwZ 2012, 332 (334); zur kompetenzrechtlichen Zulässigkeit der SRU-Vorschläge: SRU (Fußn. 5), Tz. 586 f.; J.-P. Schneider (Fußn. 2), S. 51 ff., 58 f.

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den kann, resultieren dabei aus der regulativ zur Wettbewerbseröffnung und -sicherung gewollten vertikalen Entflechtung des Netzbetriebs. Deshalb muss das Gesetz zunehmend Regelungen für ein (reintegrierendes) Informationsmanagement der Übertragungsnetzbetreiber aufnehmen, mit denen unter anderem die notwendige Informationsbasis für die Erarbeitung des Szenariorahmens bzw. Netzentwicklungsplans geschaffen werden soll31. Ein ähnlich enges Zusammenspiel zwischen den privaten Übertragungsnetzbetreibern und staatlichen Organen zeigt sich beim Netzentwicklungsplan. Dieser wird von Übertragungsnetzbetreibern erarbeitet (§ 12b EnWG), bedarf aber einer Bestätigung durch die Bundesnetzagentur (§ 12c EnWG), die man schon wegen der für sie vorausgesetzten Öffentlichkeitsbeteiligung, den Regelungen zur Anfechtbarkeit und zu Änderungsverlangen ebenfalls als förmliche Genehmigung verstehen muss. Weiter intensiviert wird die Kopplung privaten und staatlichen Handelns dadurch, dass der von der Bundesnetzagentur bestätigte Netzentwicklungsplan alle drei Jahre zugleich deren Entwurf an die Bundesregierung für den Bundesbedarfsplan darstellt (§ 12e I 1 EnWG), den diese wiederum dem Bundesgesetzgeber zur Beschlussfassung als Bundesgesetz vorlegt (§ 12e I 2 EnWG). Auch die sich anschließende Bundesfachplanung, die der Festlegung von Trassenkorridoren dient, verkoppelt behördliche und private Verfahrensbeiträge. Die privaten Übertragungsnetzbetreiber bereiten die unter anderem für die Öffentlichkeitsbeteiligung maßgeblichen Planungsunterlagen vor (§§ 6, 8 NABEG). Die Unterlagen werden allerdings in einer Antragskonferenz vorstrukturiert, im Rahmen einer nachvollziehenden Amtsermittlung überprüft und münden in einer zumindest nach dem normativen Leitbild eigenständigen Abwägungsentscheidung durch die Bundesnetzagentur (§§ 7; 12 NABEG). Im Ergebnis kommt es zu einer partiellen funktionalen Verfahrensprivatisierung, während die Letztverantwortung erkennbar bei der Bundesnetzagentur verbleiben soll32. Ganz parallel strukturiert ist im NABEG das abschließende Planfeststellungsverfahren (§§ 19 – 21; 24 NABEG). b) Partizipationsoptionen Wie erwähnt, eröffnet die Neuregelung insgesamt sieben Partizipationsoptionen33. Während beim Szenariorahmen als erstem der oben genannten Planungsschritte lediglich eine Partizipationsoption vorgesehen ist, existieren auf den drei weiteren Schritten jeweils zwei Beteiligungsoptionen. Einige der Optionen wiederholen sich

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Vgl. §§ 12 IV 1; 12b III 3 EnWG. Vgl. zu derartigen kooperativen Verfahrensstrukturen: J.-P. Schneider, Nachvollziehende Amtsermittlung bei der Umweltverträglichkeitsprüfung, 1991; ders., VerwArch 87 (1996), 38 ff.; ders. (Fußn. 6), § 28 Rn. 38 ff. im Erscheinen. 33 Zu den Anforderungen, welche an die konzeptionelle und inhaltliche Ausgestaltung der Öffentlichkeitsbeteiligungen zu stellen sind, siehe Wagner, DVBl. 2011, 1453 (1459). 32

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sogar jährlich. Die Bundesnetzagentur spricht insoweit von „iterativen Diskussionsprozessen“34. Die erste Option ist eine Internetkonsultation durch die Bundesnetzagentur im Verfahren zur Genehmigung des jährlichen Szenariorahmens (§ 12a II EnWG). Diese Konsultation bezieht sich alle drei Jahre nicht nur auf zwischenzeitige Änderungen, sondern auf eine vollständige Überprüfung des Rahmens (§ 12d S. 2 EnWG). Die zweite Option ist eine weitere jährliche Internetkonsultation, die sich auf einen Vorentwurf für den nationalen Netzentwicklungsplan bezieht und anders als alle anderen Partizipationsverfahren nicht von einer Behörde, sondern durch die Übertragungsnetzbetreiber zur Vorbereitung ihres von der Bundesnetzagentur zu bestätigenden Planungsentwurfs durchgeführt wird (§ 12b III EnWG). Auch hier wird zwischen normalen Fortschreibungen, bei denen sich die Beteiligung lediglich auf die Änderungen bezieht, und die vollständige Überprüfung der Planung bei wesentlichen Änderungen und zwingend alle drei Jahre unterschieden (§ 12d S. 2 EnWG). Eine weitere (dritte) Option bezieht sich ebenfalls auf den Entwurf des Netzentwicklungsplans gemäß § 12b EnWG, aber zumindest alle drei Jahre oder bei wesentlichen Änderungen zugleich auf den aus dem Netzentwicklungsplan durch die Bundesnetzagentur entwickelten Entwurf für den Bundesbedarfsplan gemäß § 12e EnWG. Dieses dritte Beteiligungsverfahren wird gemäß § 12c III EnWG durch die Bundesnetzagentur vor deren Bestätigung des von den Übertragungsnetzbetreibern vorgelegten Netzentwicklungsplan durchgeführt und folgt mit gewissen Modifikationen den üblichen Regeln der §§ 9, 14i UVP und § 73 III 1, IV-VII VwVfG. Besonderheiten sind die zwingende Bekanntmachung im Internet und der mangels entsprechender Regelung im EnWG aus § 14i III 3 UVPG folgende Verzicht auf einen Erörterungstermin. Die Ergebnisse der Beteiligung sind entsprechend den allgemeinen Regeln bei der Bestätigungsentscheidung der Bundesnetzagentur zu berücksichtigen. Bindungswirkung entfaltet die Bestätigung allerdings allein gegenüber den Übertragungsnetzbetreibern, sie ist dementsprechend für Dritte auch nicht selbständig anfechtbar (§ 12c IV EnWG). Ähnliches gilt für den mit Gesetzeswirkung versehenen Bundesbedarfsplan. Einem etwas anderen Muster folgen die jeweils zweifachen Beteiligungsoptionen auf den Stufen drei und vier des Planungsprozesses, d. h. bzgl. der Bundesfachplanung bzw. der Planfeststellung gemäß NABEG. Auf einer ersten Stufe wird das aus der Umweltverträglichkeitsprüfung bekannte Scopingverfahren als sogenannte Antragskonferenz für partizipative Elemente geöffnet. Die zweite Stufe besteht in „klassischen“ Öffentlichkeitsbeteiligungen auf der Basis der ausgelegten Planungsbzw. Planfeststellungsunterlagen. Während § 5 S. 4 UVPG die Beteiligung von Dritten am Scopingverfahren in das Ermessen der zuständigen Behörde stellt, sehen §§ 7, 20 NABEG für die Antragskonferenzen zwingend die Einladung von anerkannten 34 Siehe www.bundesnetzagentur.de/DE/Sachgebiete/Elektrizitaet Gas/Strom NetzEntwicklung/StromNetzEntwicklung_node.html.

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Umweltverbänden i.S.d. Umweltrechtsbehelfsgesetzes sowie die Öffentlichkeit der Konferenzen vor. Für die zweite Stufe enthält das NABEG in den §§ 9, 10 bzw. 22 ebenfalls einige bemerkenswerte Sonderregelungen insbesondere über die parallele Unterlagenauslegung im Internet und zur grundsätzlich zwingenden Durchführung des Erörterungstermins35. V. Potential und Grenzen der Akzeptanzgewinnung durch die Neuregelung Gegenüber der früheren Rechtslage verspricht die Neuregelung eine erhebliche Steigerung der Kapazität der Energieleitungsplanung zur Akzeptanzgewinnung36. Entscheidend ist insoweit insbesondere die Einbindung der anerkannten Umweltverbände wie auch der breiten Öffentlichkeit bereits in der Frühphase der Planungsprozesse, d. h. bei der Entwicklung des Szenariorahmens und der Netzentwicklungsplanung. Ein Problem der bisherigen Verfahren war, dass Trassenfestlegungen oft schon im informellen Vorfeld von landesplanerischen Verfahren oder Planfeststellungsverfahren entstanden, ohne dass die Öffentlichkeit daran mitwirken konnte oder das Wissen der Umweltverbände genutzt wurde. Die Öffentlichkeitsbeteiligung in den formalen Verfahren war dann nicht mehr ergebnisoffen und folglich wurden Partizipationserwartungen der Bevölkerung enttäuscht und die Akzeptanz der Verfahrensergebnisse zumindest gefährdet37. Ein Fortschritt bedeutet insoweit auch die Einbindung der Öffentlichkeit und Verbände in die Antragskonferenzen zur Festlegung des Untersuchungsrahmens der Bundesfachplanung bzw. des Planfeststellungsverfahrens, nicht zuletzt mit Blick auf die zu untersuchenden Alternativplanungen gemäß §§ 5 I 4; 19 S. 4 NABEG. Ein weiterer Faktor zur Akzeptanzgewinnung gerade bei Überlandleitungen mit geringen oder keinen unmittelbaren Vorteilen für die betroffenen „Durchleitungsregionen“ können Kompensationsmechanismen sein38. In Ergänzung zum NABEG hat der Gesetzgeber in § 5 IV StromNEV insoweit zumindest regulierungsrechtlich die Umlage derartiger Kompensationszahlungen der Netzbetreiber auf die Stromnetzentgelte erlaubt, sofern bestimmte Obergrenzen pro Kilometer Leitungslänge eingehalten werden und die Zahlungen auf Vereinbarungen mit Kommunen oder Interessenverbänden beruhen39. 35

Vgl. dazu Moench/Ruttloff, NVwZ 2011, 1040 (1042 ff.). s. auch: Wagner, DVBl. 2011, 1453 (1459); zweifelnd demggü. Moench/Ruttloff, NVwZ 2011, 1040 (1041, positiver: 1045). 37 Zur Bedeutung frühzeitiger und ergebnisoffener Beteiligung der Öffentlichkeit auch bei der Alternativenbewertung s. nur: SRU (Fußn. 5), Tz. 500, 503, 619 f.; s. auch: Würtenberger (Fußn. 1), S. 109 ff.; ders., NJW 1991, 257 (260). 38 SRU (Fußn. 5), Tz. 505, 626 f.; Würtenberger, NJW 1991, 257 (262). 39 Hierzu: BT-Drs. 17/6073, 35; s. auch Durner, DVBl. 2011, 853 (854); Moench/Ruttloff, NVwZ 2011, 1040 (1045). 36

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Keine formalen Vorgaben finden sich in dem Gesetzespaket zur Beschleunigung des Netzausbaus für Mediationsverfahren, die ebenfalls als ein wichtiges Instrument der Akzeptanzgewinnung angesehen werden40. Durch das gesetzlich vorgegebene enge Kommunikationsgeflecht mit Antragskonferenzen, aber auch mit der zwingenden Durchführung des Erörterungstermins gibt es jedoch genügend Ansatzpunkte, um entsprechende Aushandlungsprozesse informell einzuleiten41. § 5 IV StromNEV setzt solche Aushandlungsprozesse mit seinem Hinweis auf Vereinbarungen zwischen Übertragungsnetzbetreibern und Kommunen bzw. Interessenverbänden implizit sogar voraus. Gegenüber dem EnLAG mit seiner weitgehend informellen Auswahl der besonders bedeutsamen Projekte gewinnt der als Gesetz verabschiedete Bundesbedarfsplan gemäß § 12e EnWG durch die vorbereitenden Schritte des Szenariorahmens und der Netzentwicklungsplanung unter Einbeziehung der Öffentlichkeit und von Verbänden deutlich an Transparenz und Legitimität. Unter dieser Maßgabe mag die gesetzgeberische Prioritätensetzung tatsächlich die von Würtenberger allgemein einer parlamentarischen Konfliktschlichtung zugesprochene Akzeptanzwirkung42 entfalten. Wichtig wird es dabei sicherlich sein, dass den Bürgern die Ableitung des Bedarfsplans aus einem übergreifenden energiepolitischen Gesamtkonzept deutlich wird43. Der vorgesehene Szenariorahmen bietet dafür ein grundsätzlich taugliches Instrumentarium. Dieses Instrument entfaltet seine positive Wirkung aber nur, wenn der Szenariorahmen auch tatsächlich an einem verlässlichen energiepolitischen Gesamtkonzept anknüpfen kann. Insoweit sind gewisse Zweifel angesichts der Probleme des politischen Systems bei der Entwicklung bzw. Aushandlung eines solchen Konzepts durchaus begründet. Wie das Beispiel der Konflikte um „Stuttgart 21“ zeigt, wird es bei alledem ganz wesentlich auf eine weitere gesetzlich nur schwer vorzustrukturierende Leistung des politisch-administrativen Systems ankommen, auf die Würtenberger ebenfalls in seiner Antrittsvorlesung hingewiesen hat44, eine proaktive Öffentlichkeitsarbeit außerhalb der formalen Planungsverfahren mit dem Bemühen, den Bürgern die Notwendigkeit der sie belastenden Infrastrukturmaßnahmen durch valide und nachvollziehbare Kosten-Nutzen-Analysen und Alternativenbewertungen sozial zu vermitteln. 40

SRU (Fußn. 5), Tz. 630; Würtenberger (Fußn. 1), S. 146 ff.; ders., NJW 1991, 257 (260 f.); hierzu allg. ausf.: I. Appel, in: in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band II, 1. Auflage 2008, § 32 Rn. 102 ff.; Holznagel, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann (Hg.), Effizienz als Herausforderung an das Verwaltungsrecht, 1998, S. 205 ff.; J.-P. Schneider, VerwArch 87 (1996), 38 (60 ff.). 41 Zur Bedeutung solcher Kontaktanlässe zur Initiierung kooperativer Verfahren wie der Mediation: J.-P. Schneider, VerwArch 87 (1996), 38 (54). 42 Vgl. Würtenberger (Fußn. 1), S. 76 ff.; ders., NJW 1991, 257 (259). 43 Zur Akzeptanzwirkung solcher energiepolitischer Gesamtkonzepte: SRU (Fußn. 5), Tz. 498, 502, 628. 44 Würtenberger, NJW 1991, 257 (260), der von einer offensiven Öffentlichkeitsarbeit und dem Bemühen um soziale Evidenz spricht.

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Diese Kommunikationsfähigkeit des politisch-administrativen Systems wird sich auch darauf richten müssen, den Bürgern die vorstehend aufgezeigten komplexen Verfahrensstrukturen mit bis zu sieben Beteiligungsoptionen, die teilweise auch noch iterativ angelegt sind, und die damit verknüpften Abschichtungs- und Selektionszwänge verständlich zu machen. Andernfalls könnten die vielfältigen Partizipationsangebote die Bürger überfordern und im Ergebnis eher frustrieren als gezielt zu aktivieren. Die für die Energiewende notwendige Akzeptanz in der Bevölkerung könnte dann nur noch schwerlich gewonnen werden. Die damit verbundenen Hemmnisse für die Realisation der anspruchsvollen deutschen Ziele für unsere künftige Energieversorgung sind offenkundig und entsprechen der eingangs zitierten warnenden Analyse raumbezogener Nutzungskonflikte durch Würtenberger.

IV. Europarecht, internationales, ausländisches Recht

Art. 6 EMRK und Art. 47 GRC in Verfahren der internationalen Amts- und Rechtshilfe Von Stephan Breitenmoser, Basel* I. Einleitung Der vorliegende Beitrag knüpft an verschiedene spannende Diskussionen und Gespräche mit dem Jubilar im Rahmen mehrerer gemeinsamer Eucor-Seminare1 über den Grundrechtsschutz in Europa an, die mit Studierenden der Juristischen Fakultäten der Universitäten aus Basel, Freiburg und Straßburg durchgeführt wurden. Ihr Ausgangspunkt war jeweils der weitgehende Ausschluss der Garantien von Art. 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) bei Maßnahmen der internationalen Amts- und Rechtshilfe in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg. Die Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK, die grundlegende Verfahrensgarantien gewährleistet, setzt gemäß ihrem Wortlaut entweder eine Streitigkeit über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen oder eine strafrechtliche Anklage voraus. Der EGMR verneint grundsätzlich das Vorliegen dieser alternativen Tatbestandsvoraussetzungen bei Maßnahmen und Leistungen der internationalen Amts- und Rechtshilfe durch den ersuchten Staat. Im vorliegenden Beitrag soll zunächst die gegenwärtige Rechtslage dargestellt und kritisch hinterfragt werden. Anschliessend wird eine Ausweitung des Anwendungsbereichs von Art. 6 EMRK auf Verfahren des Amts- und Rechtshilfevollzugs im ersuchten Staat vorgeschlagen. Der Beitrag legt das Schwergewicht dabei auf die polizeiliche Amtshilfe sowie die Rechtshilfe in Strafsachen. Nicht behandelt wird demgegenüber die Einhaltung der Garantien von Art. 6 EMRK im Ausgangsbzw. Hauptverfahren des um Unterstützung nachsuchenden Staats, für welches diese Konventionsbestimmung in den 47 Mitgliedstaaten des Europarats ohnehin gilt. Immerhin kann – in Weiterentwicklung der sog. Soering-Rechtsprechung des

* Ich danke meinem Assistenten, Herrn lic. iur. Robert Weyeneth, Advokat, sehr herzlich für seine wertvolle Mitarbeit. 1 Die Eucor-Seminare bilden Bestandteil der Zusammenarbeit von sieben oberrheinischen Universitäten, darunter die Universitäten von Basel, Freiburg und Straßburg. Die Abkürzung Eucor steht für „Europäische Conföderation Oberrhein“.

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EGMR2 – Art. 6 EMRK bei Amts- und Rechtshilfeleistungen an einen außereuropäischen Drittstaat ebenso wie das Folterverbot gemäß Art. 3 EMRK eine wirksame Amts- oder Rechtshilfeschranke3 bei einer konkreten Gefahr eines in klarer und schwerwiegender Weise gegen die Mindestgrundsätze des Art. 6 EMRK verstoßenden Hauptverfahrens im ersuchenden Staat sein.4 II. Rechtslage de lege lata 1. Herausbildung einer Amts- und Rechtshilfedogmatik a) Begriffliche Abgrenzungen Die Kooperationsformen der internationalen Amts- und Rechtshilfe werden insbesondere nach ihrer Zwecksetzung unterschieden.5 Zweck der Rechtshilfe ist die Unterstützung eines justiziellen Verfahrens vor einer Justizbehörde.6 Bei der Rechtshilfe in Strafsachen wird unterschieden zwischen der sog. kleinen Rechtshilfe, die insbesondere die Beschaffung von Beweisen betrifft, der Auslieferung von angeschuldigten bzw. angeklagten Personen und verurteilten Straftätern, der stellvertretenden Strafverfolgung und der Vollstreckung von Strafurteilen. Die Amtshilfe bezweckt demgegenüber die Unterstützung einer Verwaltungsbehörde außerhalb eines justiziellen Verfahrens. Der Zweck der Amtshilfe unter Polizeibehörden entspricht im Wesentlichen der Zielsetzung polizeilicher Tätigkeit, d. h. in erster Linie der Vorbeugung von Straftaten.7 Die polizeiliche Amtshilfe erfasst 2

EGRM, Soering/Vereinigtes Königreich, Urteil vom 7. 7. 1989, A/161. Zur Soering-Folgerechtsprechung vgl. Breitenmoser/Riemer/Seitz, Praxis des Europarechts, 2006, S. 38 ff. Der EGMR hat in einem obiter dictum in den Fällen Soering (Rn. 113) sowie Mamatkulov und Askarov/Türkei, Urteil GrK vom 4. 2. 2005, Rec. 2005-I, Rn. 90 f., die Möglichkeit offengelassen, die Auslieferung auch wegen drohender Missachtung der Garantien von Art. 6 EMRK zu verweigern. 3 Nach Art. 2 des Schweizer Rechtshilfegesetzes vom 20. 3. 1981 (IRSG, SR 351.1) stellt die (drohende) Verletzung von Verfahrensgrundsätzen der EMRK eine Schranke der Rechtshilfe dar. 4 Vgl. Peukert, in: Frowein/Peukert (Hg.), EMRK-Kommentar, 3. Aufl. 2009, Art. 6 Rn. 2; Schweizer, Anforderungen der EGMR-Rechtsprechung an die internationale Amts- und Rechtshilfe, in: Lorandi/Staehelin (Hg.), FS Schwander, 2011, S. 998 ff.; Trechsel, Grundrechtsschutz bei der internationalen Zusammenarbeit in Strafsachen, EuGRZ 1987, 69 (75); kritisch jedoch Hailbronner, Art. 6 EMRK als Hindernis der Auslieferung und Abschiebung, in: FS Ress, 2005, 997 ff. 5 Vgl. Breitenmoser, Internationale Amts- und Rechtshilfe, in: Uebersax/Rudin/Hugi Yar/ Geiser (Hg.), Ausländerrecht, 2. Aufl. 2008 („Ausländerrecht“), Rn. 23.13, m.w.H. 6 Nach Art. 1 des Europäischen Übereinkommens über die Rechtshilfe in Strafsachen vom 20. 4. 1959 (EUeR), ETS 30, hat die Rechtshilfe im Rahmen des Übereinkommens zur Unterstützung eines Verfahrens vor einer Justizbehörde zu erfolgen. 7 Vgl. Breitenmoser (Fußn. 5), Rn. 23.20.

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aber auch erste polizeiliche Ermittlungen im Nachgang an eine Straftat außerhalb, d. h. zur Vorbereitung und Einleitung eines Strafverfahrens.8 Ein besonders bedeutsamer Fall der polizeilichen Amtshilfe ist dabei der Austausch von persönlichkeitsnahen Personendaten im Einzelfall.9 Im Gegensatz zu Amts- und Rechtshilfe, welche sich stets auf bestimmte natürliche oder juristische Personen beziehen, besteht bei der allgemeinen Verwaltungszusammenarbeit mangels eines Individualbezugs kein besonderes Rechtsschutzbedürfnis. b) Unterscheidung zwischen internationaler und nationaler Amts- und Rechtshilfe Bei der Amts- und Rechtshilfe ist aus Gründen der Zuständigkeit und des Rechtsschutzes zwischen der rein innerstaatlichen und der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit zu unterscheiden. Eine solche Unterscheidung ist aufgrund verschiedener Rechtsgrundlagen erforderlich. So beruht die innerstaatliche Amts- und Rechtshilfe in Bundesstaaten wie Deutschland, Österreich und der Schweiz auf der verfassungsmäßigen Verpflichtung der Gliedstaaten zur Zusammenarbeit untereinander und im Verhältnis zum Bund, die regelmäßig in Gesetzen und Verordnungen näher ausgestaltet ist. Die innerstaatliche Amts- und Rechtshilfe zeichnet sich demzufolge durch eine qualifizierte Pflicht der (Gerichts- und Verwaltungs-)Behörden zur gegenseitigen Unterstützung aus. Im internationalen Verhältnis beruht die Amts- und Rechtshilfe demgegenüber auf völkerrechtlichen Verträgen; diese sehen spezifische Voraussetzungen und Schranken vor, welche sich aus der Souveränität der beteiligten Staaten ergeben, wie z. B. das Erfordernis der beidseitigen bzw. doppelten Strafbarkeit bei der Rechtshilfe in Strafsachen oder den Vorbehalt des ordre public. Im Verhältnis zwischen den EU-Mitgliedstaaten werden die traditionellen völkerrechtlichen Amts- und Rechtshilfeverträge nun zunehmend durch Richtlinien und Verordnungen der EU ersetzt.10 Die Amts- und Rechtshilfe zwischen den EU-Mitgliedstaaten gestaltet sich deshalb vermehrt bundesstaatsähnlich, umso mehr als die EU-Mitgliedstaaten im Anwendungsbereich des EU-Rechts bereits auf der Grundlage des in Art. 4 Abs. 3 EUV festgelegten Grundsatzes der loyalen Zusammenarbeit sowohl untereinander als auch gegenüber den Organen und Einrichtungen der EU zur gegenseitigen Zusammenarbeit verpflichtet sind.11

8 Vgl. Lobsiger, Polizeiliche Amtshilfe und Schengen, in: Breitenmoser/Gless/Lagodny (Hg.), Schengen in der Praxis, 2009, S. 311 f. 9 Vgl. Lobsiger (Fußn. 8), S. 310 f., S. 324. 10 Vgl. von Bogdandy/Arndt, Die Zusammenarbeit der Finanzverwaltungen in der Europäischen Union, EWS 2000, 1 ff. 11 EuGH, Kommission/Portugal, Urteil vom 10. 11. 2005, Rs. C-432/03, Slg. 2005, I-9665, Rn. 46 f.

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c) Amts- und Rechtshilfe als Verwaltungssache Verfahren auf Vollzug von Amts- und Rechtshilfeersuchen im ersuchten Staat dienen der Unterstützung eines Hauptverfahrens vor Verwaltungs- oder Gerichtsbehörden im ersuchenden Staat. Der Vollzug12 erfolgt damit – unter Vorbehalt spezifischer, meist strafprozessualer Bestimmungen – unabhängig von der Rechtsnatur des Ausgangs- oder Hauptverfahrens im ersuchenden Staat in einem Verwaltungsverfahren des ersuchten Staats.13 Dies zeigt sich bei der Rechtshilfe in Strafsachen besonders deutlich: Im Unterschied zum Ausgangs- bzw. Hauptverfahren im ersuchenden Staat, in welchem die Beurteilung von Tat-, Rechtfertigungs- und Schuldfragen entsprechend der vorhandenen Beweise im Vordergrund steht, die durch Rechtshilfe ergänzt werden sollen, geht es beim innerstaatlichen Rechtshilfeverfahren im ersuchten Staat lediglich um den Rechtshilfevollzug und damit nicht um die Beurteilung von Tatfragen. Der in einem Rechtshilfeersuchen dargestellte Sachverhalt ist deshalb für die ersuchten nationalen Behörden verbindlich, sofern nicht offensichtliche Widersprüche oder Lücken bestehen, die den Verdacht sofort entkräften (sog. Alibibeweis).14 Immerhin hat die verwaltungsrechtliche Amts- und Rechtshilfe Auswirkungen auf das unterstützte Hauptverfahren. Handelt es sich bei diesem um ein Strafverfahren, so bejaht das neuere Schrifttum15 zunehmend das Erfordernis der strafrechtlichen Anklage und damit die entsprechende Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK. Dies wird mit der Arbeitsteiligkeit von grenzüberschreitenden Strafverfahren begründet. Auch wenn dieser neueren Auffassung grundsätzlich unter dem Vorbehalt zugestimmt werden kann, dass die organisatorische und funktionelle Trennung zwischen Haupt- und Vollzugsverfahren hinreichend berücksichtigt wird, erscheint eine Ausweitung von Art. 6 EMRK zusätzlich über das Tatbestandsmerkmal der zivilrechtlichen Ansprüche auf Verfahren der Amts- und Rechtshilfe als ebenso sachgerecht, umso mehr als die zwischenstaatliche Kooperation auch Bereiche außerhalb des Strafrechts beschlagen kann. Die Qualifikation des Amtshilfe- und Rechtshilfevollzugs als Verwaltungssache ändert jedoch nichts daran, dass die ersuchte Behörde die Voraussetzungen und 12 Der Vollzug eines Gesuchs um Amts- oder Rechtshilfe kann u. a. die Sperre von Bankkonten, die Beschlagnahme und Herausgabe von Kontounterlagen und anderen Gegenständen sowie die Übermittlung von Steuer- oder sonstigen Personendaten umfassen. 13 Vgl. Botschaft des Schweizer Bundesrats zum IRSG, BBl 1976 II 444, 448; BGE 120 Ib 112 E. 4; Breitenmoser, Strafrechtshilfe – eine Verwaltungssache, Jusletter vom 23. 9. 2002, Rn. 1 ff.; Weissenberger, Grenzüberschreitende Amtshilfe auf dem Prüfstand, Wege zu mehr Rechtssicherheit, Rechtsschutz und Effizienz, ASA 2009, 825, 830. Teilweise a.M. Gless, Internationales Strafrecht, 2011, Rn. 218 f.; Popp/Zollinger, Gegen Einschränkung des Rechtsschutzes, Jusletter vom 2. 9. 2002, Rn. 3 ff. 14 Vgl. BGE 132 II 81 E. 2.1. 15 Vgl. Gless (Fußn. 13), Rn. 69; Schomburg/Hackner, in: Schomburg/Lagodny/Gless/ Hackner, IRG-Kommentar, 5. Aufl. 2012, vor §§ 21, 22, Rn. 33 ff.

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Schranken der Unterstützungsleistung zu beurteilen hat. Dies gilt insbesondere für deren vertragliche und gesetzliche Grundlage sowie das Erfordernis der Verhältnismäßigkeit. d) Maßnahmen und Leistungen der Amts- und Rechtshilfe als Grundrechtseingriffe Maßnahmen und Leistungen der Amts- und Rechtshilfe stellen stets Eingriffe in Grundrechte der davon betroffenen Personen dar. Im Vordergrund stehen neben den grundlegenden Verfahrensgarantien16 das Recht auf Privatsphäre17 und auf Eigentum.18 Die Weitergabe personenbezogener Informationen im Rahmen der polizeilichen Informationshilfe stellt insbesondere einen Eingriff in das Grundrecht auf Achtung des Privatlebens und des Datenschutzes dar.19 Der EGMR hat bereits früh anerkannt, dass die Speicherung und Weitergabe von personenbezogenen Daten i. d. R. in das Grundrecht auf Privatleben eingreifen.20 Dieser Rechtsprechung ist auch der EuGH gefolgt.21 Die grenzüberschreitende Weitergabe von personenbezogenen Angaben stellt zudem einen qualifizierten Grundrechtseingriff dar, weil dadurch Daten in Amtsund Rechtshilfeverfahren in ein fremdes Rechtssystem mit für die Betroffenen ungewohnten Rechtsgrundlagen, Verfahren, Behörden und Sprachen gelangen.22 2. Rechtsprechung des EGMR a) Auslegung und Tragweite von Art. 6 EMRK Die Garantien der EMRK sind autonom, d. h. aus der Konvention heraus und nach ihrem Sinn und Zweck auszulegen.23 In einer reichhaltigen Rechtsprechung hat der

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Art. 6 und 13 EMRK sowie Art. 47 GRC. Art. 8 EMRK und Art. 7 f. GRC. 18 Art. 1 ZP I-EMRK und Art. 17 GRC. 19 Art. 8 EMRK und Art. 7 f. GRC. Differenziert Würtenberger/Heckmann, Polizeirecht in Baden-Württemberg, 6. Aufl. 2005, Rn. 684, 694, wonach sich die Grundrechtsrelevanz auch nach der Erheblichkeit einer Maßnahme für den Betroffenen bestimme. 20 EGMR, Leander/Schweden, Urteil vom 26. 3. 1987, A/116, Rn. 48, betreffend die Verwendung einer geheimen Polizeiakte bei der Prüfung einer Bewerbung als Museumstechniker; Rotaru/Rumänien, Urteil GrK vom 4. 5. 2000, Rec. 2000-V, Rn. 43 f. Zur Entwicklung der einschlägigen Rechtsprechung des EGMR vgl. Schefer/Stämpfli, Die Grundlagen des Datenschutzes im Rahmen von Schengen, in: Breitenmoser/Gless/Lagodny (Fußn. 8), S. 138 f. 21 EuGH, Volker und Markus Schecke und Hartmut Eifert, Urteil vom 9. 11. 2010, verb. Rs. C-92/09 und 93/09, Slg. 2010-I, Rn. 51 f. 22 Vgl. Breitenmoser, Das Risiko von Grundrechtsverletzungen im Recht der internationalen Amts- und Rechtshilfe, in: Sutter-Somm/Hafner/Schmid/Seelmann (Hg.), Risiko und Recht, 2004, S. 238 f. 23 EGMR, König/Deutschland, Urteil vom 28. 6. 1978, A/27, Rn. 88 f. 17

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EGMR die folgenden, sich aus Art. 6 EMRK ergebenden Verfahrensgarantien konkretisiert und verstärkt:24 – Das Recht auf (effektiven) Zugang zu einem unabhängigen und unparteiischen sowie auf Gesetz beruhenden Gericht, das volle Überprüfungsbefugnis in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht hat; – das Recht auf ein faires Verfahren vor diesem Gericht, welches u. a. das Recht auf prozessuale Waffengleichheit, auf Akteneinsicht und auf Anhörung in einer öffentlichen Verhandlung umfasst; – das Recht auf Beurteilung innert angemessener Frist. Der Anwendungsbereich von Art. 6 EMRK ist eröffnet, sofern eines seiner beiden alternativen Tatbestandsmerkmale, nämlich das Vorliegen zivilrechtlicher Ansprüche und Verpflichtungen („civil rights and obligations“) oder einer strafrechtlichen Anklage („criminal charge“) gegeben ist. Das Merkmal der strafrechtlichen Anklage wird in der Rechtsprechung des Gerichtshofs dann bejaht, wenn eine Streitigkeit unmittelbare Auswirkungen auf ein strafrechtliches Verfahren hat und die dabei drohenden Sanktionen überdies strafrechtlichen Charakter aufweisen.25 Für die Annahme der Betroffenheit eines „civil right“ hat der EGMR drei Voraussetzungen entwickelt: (1) Zunächst muss ein aus der innerstaatlichen Rechtsordnung abzuleitender Anspruch geltend gemacht werden; (2) sodann muss eine materielle Streitigkeit vorliegen, deren Ausgang für diesen Anspruch unmittelbar entscheidend ist; (3) schließlich muss dieser Anspruch einen „zivilrechtlichen Charakter“ haben.26 Bestehen sowohl öffentlich-rechtliche als auch privatrechtliche Merkmale, genügt es für die Annahme einer zivilrechtlichen Angelegenheit, wenn die privatrechtlichen Merkmale überwiegen, selbst wenn sie für sich allein gesehen nicht ausschlaggebend sind. Als Auffangkriterium für die Annahme eines „civil right“ hat der Gerichtshof den bloßen Vermögensbezug und -wert anerkannt.27 In Anwendung seiner Kriterien hat der EMGR den Anwendungsbereich von Art. 6 EMRK teilweise auch auf Verfahren ausgedehnt, die in den kontinentaleuropäischen Staaten als verwaltungs- oder verfassungsrechtlich gelten.28 So hat er die Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK etwa auf die Zulassung zur selbstständigen Aus24

Vgl. Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, 5. Aufl. 2012, S. 399 ff.; Peters/Altwicker, Europäische Menschenrechtskonvention, 2. Aufl. 2012, S. 145 ff.; Peukert, in: Frowein/Peukert (Hg.), EMRK-Kommentar, Art. 6 Rn. 45 ff. 25 EGMR, Öztürk/Deutschland, Urteil vom 15. 12. 1981, A/11. Vgl. Wildhaber, Verwaltungsstrafen, Art. 6 EMRK und „Heilung“ von Verfahrensmängeln, in: FS Jaeger, 2011, S. 823 ff. 26 Vgl. EGMR, Mennitto/Italien, Urteil GrK vom 5. 10. 2000, Rec. 2000-X, Rn. 23. 27 Vgl. Breitenmoser/Riemer/Seitz (Fußn. 2), S. 109. 28 Kritisch dazu Haefliger/Schürmann, Die Europäische Menschenrechtskonvention und die Schweiz, 2. Aufl. 1999, S. 451 f.

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übung des Arztberufs in einer privaten Praxis,29 auf die Bereiche des Sozialversicherungsrechts30 sowie – aufgrund des Bezugs zur Ausübung des Eigentumsrechts – auf das Bau- und Planungsrecht bejaht.31 In diesen Bereichen mussten die Vertragsstaaten ihre Verwaltungsgerichtsbarkeit ausbauen. Ausgenommen sind nach wie vor das Steuer- und das Zollrecht32 sowie Bereiche des Ausländerrechts, wie z. B. die Ausweisung und Ausschaffung von Ausländern.33 Der EGMR argumentiert, dass hier Kernbereiche des öffentlichen Rechts betroffen seien.34 b) Keine Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK auf Verfahren der Amts- und Rechtshilfe Der Gerichtshof verneint bislang die Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK auf Verfahren, in denen über eine Auslieferung entschieden wird.35 Er setzt Auslieferungsverfahren ausdrücklich mit Entscheidungen über die Ausweisung von Ausländern gleich. Beide Verfahrensformen hätten weder zivilrechtliche Ansprüche noch eine strafrechtliche Anklage zum Gegenstand; allein der Umstand, dass die in Frage stehende Entscheidung auf das Privat- und Familienleben sowie auf die Berufsaussichten des Betroffenen erheblichen Einfluss habe, genüge nicht.36 Für die Amts- und Rechtshilfe in der Form der Weitergabe von personenbezogenen Daten ist der Fall M.S./Schweden37 von Interesse, wo sich der EGMR gegen die Anwendung von Art. 6 EMRK auf die innerstaatliche Übermittlung von Krankheitsakten eines staatlichen Spitals an eine Krankenversicherung aussprach, weil die na29

EGMR, Kraska/Schweiz, Urteil vom 19. 4. 1993, A/254-B, Rn. 23 ff. EGMR, Feldbrugge/Niederlande, Urteil vom 29. 5. 1986, A/99; EGMR, Deumeland/ Deutschland, Urteil vom 29. 5. 1986, A/100; EGMR, Schuler-Zgraggen/Schweiz, Urteil vom 24. 6. 1993, A/263. 31 EGMR, Ortenberg/Österreich, Urteil vom 25. 11. 1994, A/295-B. 32 EGMR, Ferrazzini/Italien, 12. 7. 2001, Rec. 2001-VII, Rn. 20 ff.; EGMR, Emesa Sugar N.V./Niederlande, Zulässigkeitsentscheidung vom 13. 1. 2005, Nr. 62023/00. Vgl. nun jedoch EGMR, Chambaz/Schweiz, Urteil vom 5. 4. 2012, Nr. 11663/04, wo der EGMR mehrere parallele Steuerverfahren als insgesamt strafrechtlich qualifizierte und dementsprechend die Verfahrensgarantien von Art. 6 EMRK, in concreto das Recht auf Akteneinsicht als Ausfluss eines fairen Verfahrens, für anwendbar erklärte. 33 EGMR, Maaouia/Frankreich, Urteil GrK vom 5. 10. 2000, Rec. 2000-X, Rn. 39 f., mit Bezug auf die Ausweisung eines straffälligen Ausländers; EGMR, Mamatkulov und Askarov/ Türkei, Urteil GrK vom 4. 2. 2005, Rec. 2005-I, Rn. 81 ff., betreffend Auslieferung an Usbekistan. 34 EGMR, Ferrazzini/Italien, Urteil vom 12. 7. 2001, NJW 2002, 3453 ff. 35 So ausdrücklich mit Bezug auf die Auslieferung EGMR, Mamatkulov und Askarov/ Türkei, Urteil GrK vom 4. 2. 2005, Rec. 2005-I, Rn. 81 ff. 36 EGMR, Maaouia/Frankreich, Urteil GrK vom 5. 10. 2000, Rec. 2000-X, Rn. 38 f., mit Bezug auf die Ausweisung eines straffälligen Ausländers. Diese Rechtsprechung steht nunmehr in einem gewissen Widerspruch zur neueren, durch das Urteil im Fall Enea mitbegründeten Rechtsprechung des EGMR (vgl. unten III. 6.). 37 EGMR, M.S./Schweden, Urteil vom 27. 8. 1997, Rec. 1997-IV, Rn. 47 ff. 30

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tionale Rechtsordnung kein Recht auf vorgängige Anhörung und auf Hinderung einer entsprechenden Datenweitergabe statuiere.38 Diese Argumentation steht im Widerspruch dazu, dass der Begriff des „civil right“ autonom und damit weitgehend unabhängig vom innerstaatlichen Recht auszulegen ist. Der EGMR bejaht jedoch die Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK auf Verfahren zur Vollstreckung einer Entscheidung über einen zivilrechtlichen Anspruch, sofern dieser durch die Vollstreckung erst wirksam werde.39 Damit unterstehen einzelstaatliche Verfahren der Vollstreckungshilfe als Unterart der innerstaatlichen Rechtshilfe grundsätzlich den Garantien von Art. 6 EMRK. Generell gilt, dass zahlreiche Maßnahmen der Amts- und Rechtshilfe, wie z. B. die Sperre von Bankkonten oder die Beschlagnahme von Datenträgern, vorsorglicher Natur sind. Der Gerichtshof bejahte die Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK auf Verfahren, in denen über vorsorgliche Maßnahmen entschieden wird, lange Zeit nur sehr zurückhaltend.40 Er begründete dies im Wesentlichen damit, dass vorsorgliche Maßnahmen nicht definitiv über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen entscheiden würden;41 ein definitiver Entscheid in der Sache selbst erfolge vielmehr erst später.42 Lediglich in Fällen, wo vorsorgliche Maßnahmen aufgrund ihrer Dauer die Entscheidung in der Hauptsache praktisch vorwegnahmen, bejahte der Gerichtshof die Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK.43 Vor dem Hintergrund der bisherigen Straßburger Rechtsprechung setzt beispielsweise das Schweizer Rechtshilfegesetz (IRSG) für die Anfechtbarkeit von Kontensperren in Verfahren der Strafrechtshilfe einen unmittelbaren und nicht wiedergutzumachenden Nachteil voraus.44 Das Schweizer Bundesgericht legt diese Vorausset-

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Die betreffende Erwägung lautet wie folgt: „it appears from the very terms of the legislation in issue that ,right‘ to prevent communication of such data could not, on arguable grounds, be said to be recognised under national law…“ (Rn. 49). 39 EGMR, Estima Jorge/Portugal, Urteil vom 21. 4. 1998, Rec. 1998-II, Rn. 37 f.; EGMR, Saccoccia/Österreich, Urteil vom 18. 12. 2008, Nr. 69917/01, Rn. 60 f. Vgl. Villiger, Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), 2. Aufl. 1999, Rn. 390. 40 EGMR, Dassa Foundation/Liechtenstein, Zulässigkeitsentscheidung vom 10. 7. 2007, Nr. 696/05, betreffend Kontensperre; Mamatkulov und Abdurasulovic/Türkei, Urteil vom 6. 2. 2003, Nr. 46827/99 und 46951/99 (nicht in der amtl. Slg.), Rn. 80; Maaouia/Frankreich, Urteil GrK vom 5. 10. 2000, Rec. 2000-X, Rn. 40. 41 EGMR, Dogmoch/Deutschland, Zulässigkeitsentscheidung vom 18. 9. 2006, Nr. 26315/ 03, Rec. 2006-VIII, zur Kontensperre zwecks Sicherstellung von Schadenersatzansprüchen: „such measures cannot, as a general rule, be regarded as involving the determination of civil rights and obligations.“ 42 EGMR, APIS a.s./Slovakei, Zulässigkeitsentscheidung vom 13. 1. 2000, Nr. 39754/98. 43 EGMR, Markass Car Hire Ltd./Zypern, Urteil vom 2. 7. 2002, Nr. 51591/99 (nicht in der amtl. Slg.), Rn. 39 f., wo der Gerichtshof auf die übermäßige Dauer des vorsorglichen Verfahrens verwies, was sich mit der Tatsache gerieben habe, dass das wirtschaftliche Überleben der Beschwerdeführerin aufgrund der vorsorglichen Verfügung auf dem Spiel gestanden habe. 44 Art. 80e Abs. 2 Bst. a IRSG.

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zungen restriktiv aus.45 Entsprechend der neuen Micallef-Rechtsprechung des Straßburger Gerichtshofs46 ist die Legitimation zur Beschwerde gegen Kontensperren jedoch bereits dann zu bejahen, wenn der Betroffene erhebliche Nachteile zu gewärtigen hat. Im Nada-Fall47 beurteilte das Bundesgericht eine Kontensperre, welche die Schweizer Behörden in Umsetzung von Sanktionen des UN-Sicherheitsrats gegenüber Terrorverdächtigen angeordnet hatten. Aus einer wohl etwas überschießenden europarechtsfreundlichen Grundhaltung heraus schloss sich das Bundesgericht dabei ohne hinreichende Würdigung der sich stellenden Rechtsfragen und ohne vertiefte Auseinandersetzung mit den kritischen Stimmen im Schrifttum dem Urteil des Gerichts (EuG) im gleich gelagerten Fall Kadi48 an, wonach die völkerrechtliche Pflicht zur Umsetzung von UN-Resolutionen selbst im Rahmen des EU-Rechts die Überprüfung der Kontensperre auf ihre Vereinbarkeit mit den Grundrechten grundsätzlich ausschließe. Das Bundesgericht prüfte deshalb lediglich, ob die Sanktionsbeschlüsse der Vereinten Nationen gegen zwingendes Völkerrecht verstießen. Obwohl dem Beschwerdeführer nach der Einschätzung des Bundesgerichts auf der Ebene der Vereinten Nationen kein genügender Rechtsschutz zur Verfügung stehe, da das sog. Delisting-Verfahren „gewichtige Mängel aus der Sicht der Grundrechte“ aufweise, verneinte es einen Verstoß gegen sog. ius cogens. Mit der Begründung, dass die Auffassung des EuG das Grundrecht auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz gemäß Art. 47 der EU-Grundrechtecharta verletze, hat der EuGH das Kadi-Urteil des EuG in der Folge jedoch aufgehoben.49 Der EGMR, an den der Fall Nada weitergezogen wurde, hat sich dieser grundrechtsfreundlichen Rechtsprechung angeschlossen und die Schweiz u. a. wegen Verletzung des Rechts auf eine wirksame Beschwerde (Art. 13 i.V.m. Art. 8 EMRK) verurteilt.50 Immerhin gibt es in der Rechtsprechung des Straßburger Gerichtshofs erste Ansätze, das Merkmal der strafrechtlichen Anklage ausnahmsweise auch in Verfahren der Rechtshilfe zu bejahen, sofern diese besonders eng mit einem Strafverfahren verknüpft sind. So hat der Gerichtshof im Fall Buijen die Garantien von Art. 6 EMRK auch auf ein Verfahren der Überstellung eines verurteilten Straftäters an seinen Heimatstaat zur Verbüßung seiner Strafe angewandt. Er bejahte dabei das Tatbestandsmerkmal der strafrechtlichen Anklage, weil das Verfahren der Überstellung aufgrund

45 BGE 130 II 329 ff. E. 2. Kritisch Eymann, Zur Frage der selbstständigen Anfechtung von Zwischenverfügungen gemäß IRSG, AJP 2008, 847 ff. 46 Vgl. unten III. 2. 47 BGE 133 II 450 ff. 48 EuG, Kadi, Urteil vom 21. 9. 2005, Rs. T-315/01, Slg. 2005, II-3649, Rn. 212 ff. 49 EuGH, Kadi, Urteil vom 3. 9. 2008, Rs. C-402/05 P und C-415/05 P, Slg. 2008, I-6351, Rn. 280 ff., 326 f. 50 EGMR, Nada/Schweiz, Urteil GrK vom 12. 9. 2012, Nr. 10593/08, Rn. 209 ff. Vgl. Breitenmoser/Weyeneth, Europarecht, 2012, S. 109.

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besonderer Umstände eng mit dem – rechtskräftig abgeschlossenen – Strafverfahren verbunden sei.51 Zusammenfassend ergibt sich aus der restriktiven, wenig gradlinigen Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass Maßnahmen und Leistungen der Amts- und Rechtshilfe grundsätzlich nicht von Art. 6 EMRK, sondern lediglich entsprechend den unterschiedlichen einzelstaatlichen Rechtsweggarantien erfasst werden.52 Durch solche Rechtsweggarantien ist aber noch nicht zwingend sichergestellt, dass die mit Fragen des Amts- und Rechtshilfevollzugs befassten innerstaatlichen Gerichte die ihnen zustehende Kognition in umfassender Weise ausschöpfen und den betroffenen Personen die verfahrensrechtlichen Garantien von Art. 6 EMRK ohne Einschränkungen gewähren. Jedenfalls fehlt diesbezüglich eine nachträgliche Überprüfung durch den EGMR. Damit fehlt in diesem Bereich ein hinreichender europaweiter Minimalstandard zum Verfahrensschutz. Erfolgt die Amts- oder Rechtshilfe zugunsten eines anderen Vertragsstaats der EMRK, stehen dem Betroffenen immerhin im Hauptverfahren die Garantien von Art. 6 EMRK zur Verfügung. Dies gilt für Straf- und Zivilverfahren sowie für solche verwaltungsrechtlichen Verfahren, welche nach den vom Gerichtshof entwickelten Kriterien einen engen strafrechtlichen Konnex aufweisen oder zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen im Sinne von Art. 6 EMRK betreffen. Gegenüber Drittstaaten ohne einen mit der EMRK vergleichbaren Rechtsschutz rechtfertigt sich deshalb eine strengere Prüfung von Beschwerden gegen Amtsund Rechtshilfeleistungen, mit der Folge, dass Beschwerden bei einer tatsächlichen Gefahr („real risk“) von Verletzungen der Mindestgarantien von Art. 6 EMRK eher gutzuheißen sind.53 3. Schrifttum Im Schrifttum wird die Ausweitung der Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK auf verwaltungsrechtliche Verfahren kontrovers beurteilt. Während etwa Häfliger/Schürmann54 unter Verweis auf den Grundsatz der Subsidiarität generell für eine stärkere Zurückhaltung des EGMR bei der Beurteilung des Anwendungsbereichs von Art. 6 EMRK plädieren, bejaht Schweizer die Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK beim Austausch von personenbezogenen Daten bei der polizeilichen Amtshilfe, da der Schutz dieser Daten ein „civil right“ darstelle.55 Peukert spricht sich generell für eine weite 51

EGMR, Buijen/Deutschland, Urteil vom 1. 4. 2010, Nr. 27804/05, Rn. 40 ff. Z.B. Art. 19 Abs. 4 des Deutschen Grundgesetzes oder Art. 29a der Schweizer Bundesverfassung. 53 So legt das Schweizer Bundesgericht in ständiger Praxis bei der Beurteilung von Beschwerden gegen Amts- und Rechtshilfeersuchen aus EMRK-Vertragsstaaten einen milderen Massstab an; vgl. z. B. BGE 123 II 511 E. 4 – 8 betreffend die Auslieferung an Kasachstan, wo das Gericht die von der ausführenden Behörde einverlangten Garantien präzisierte. 54 Haefliger/Schürmann (Fußn. 28), S. 451 f. Nach ihnen hätten über dessen Ausweitung die Vertragsstaaten selbst zu entscheiden. 55 Schweizer (Fußn. 4), S. 1002. 52

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Auslegung des Tatbestandsmerkmals der „civil rights“ aus, sofern nicht Bereiche betroffen sind, die durch ein besonderes staatliches Hoheitsverhältnis oder ein qualifiziertes staatliches Ermessen gekennzeichnet sind.56 Für eine generelle Berücksichtigung der Garantien von Art. 6 EMRK in Verfahren der internationalen Strafrechtshilfe plädiert auch Meyer.57 Zur Begründung verweist er auf den Umstand, dass die grenzüberschreitende Strafrechtspflege in zunehmendem Maß arbeitsteilig erfolge. So hätten die neuen Rechtshilfeinstrumente der EU zum Zweck, dem ein Strafverfahren durchführenden Mitgliedstaat einen – wenn auch über die Behörden des Mitgliedstaats vermittelten – „direkten extraterritorialen Zugriff“ auf Personen und Beweise zu gewähren. Dies müsse bei der Auslegung des Begriffs der strafrechtlichen Anklage berücksichtigt werden. Entgegen dieser neueren Tendenz in der Lehre hatte zuvor Vogler58 die Auffassung vertreten, wonach das Auslieferungsverfahren kein Teilausschnitt des gesamten Strafverfahrens sei. Dies mit dem Argument, das Vollzugsverfahren umfasse nicht die Schuldfrage, sondern ermögliche lediglich die Bestrafung in einem anderen Staat. Noch nicht gefestigt sind die Ansichten in der Literatur zur Frage der Anwendung von Art. 6 EMRK auf vorsorgliche Maßnahmen. Luginbühl59 wirft die Frage auf, ob durch die Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK Verfahren auf Erlass von Zwischenverfügungen nicht verzögert werden. Demgegenüber begrüßen Grabenwarter/Pabel grundsätzlich eine Ausweitung des Anwendungsbereichs der Verfahrensgarantien von Art. 6 EMRK auf vorsorgliche Maßnahmen im Lichte des Urteils i.S. Micallef.60 Mit Bezug auf die Auslieferung als ein Instrument der Rechtshilfe zeichnet sich im Schrifttum demgegenüber ein Konsens zur Ausweitung des Anwendungsbereichs von Art. 6 EMRK über das Merkmal der strafrechtlichen Anklage ab.61 Trechsel62 äußert sich insoweit kritisch zum Ausschluss der EMRK bei Verfahren der Auslieferung, als es um Verfahrensschritte gehe, die schließlich zu einem Entscheid über eine strafrechtliche Anklage führen sollten. Er weist jedoch darauf hin, dass der Betroffene sich immerhin auf das in Art. 13 EMRK verankerte Recht auf eine wirksame Beschwerde berufen könne, sofern er in vertretbarer Weise die Verletzung seiner Grundrechte durch die Auslieferung geltend mache. 56

Peukert, in: Frowein/Peukert (Hg.), EMRK-Kommentar, Art. 6 Rn. 22 ff. Meyer, in: Karpenstein/Mayer (Hg.), EMRK-Kommentar, 2012, Art. 6 Rn. 31. 58 Vogler, IntKommEMRK, Art. 6 Rn. 247. 59 Luginbühl, Erweiterte Anwendbarkeit von Art. 6 Abs. 1 EMRK auf Zwischenverfügungen aufgrund des EGMR-Urteils Micallef c. Malta, Jusletter vom 8. 3. 2010, Rn. 22 ff. 60 Grabenwarter/Pabel (Fußn. 24), S. 391. 61 Vgl. Gless (Fußn. 13), Rn. 69, wonach das Merkmal der strafrechtlichen Anklage in Verfahren der internationalen Strafrechtshilfe grundsätzlich bejaht werden könne; Miehsler/ Vogler, IntKommEMRK, Art. 6 Rn. 160, 186, 247 ff., 253 ff. 62 Trechsel, Grundrechtsschutz bei der internationalen Zusammenarbeit in Strafsachen, EuGRZ 1987, 69 (71). 57

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III. Argumente für eine Ausweitung der Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK auf Verfahren der Amts- und Rechtshilfe 1. Das Urteil des EGMR i.S. Eskelinen In seiner früheren Pellegrin-Rechtsprechung63 hat der Gerichtshof die Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK im Bereich des öffentlichen Dienstrechts differenziert umschrieben. Im Zusammenhang mit einer hoheitlichen Funktion im engeren Sinne – z. B. bei Polizisten, Justiz- und Armeeangehörigen, Angehörigen der Steuerverwaltung – konnten sich die entsprechenden Beamten und sonstigen Funktionsträger demnach nicht auf Art. 6 Abs. 1 EMRK und „civil rights“ berufen. Ausgenommen blieben Verfahren, die Renten und Pensionen betrafen. Diese waren nach Art. 6 EMRK zu beurteilen, da der Eintritt in den Ruhestand die besondere Beziehung mit dem Staat beende. Damit erfolgte eine gewisse Ausweitung des Schutzbereichs durch Art. 6 EMRK, weil alle Belange des öffentlichen Dienstrechts, solange sie nicht einen Bezug zu einer hoheitlichen Tätigkeit hatten, als zivilrechtliche Ansprüche gewertet werden. Im Fall Eskelinen hat der Gerichtshof seine Pellegrin-Rechtsprechung jedoch aufgegeben und den Anwendungsbereich von Art. 6 EMRK bei beamtenrechtlichen Streitigkeiten präzisiert und erweitert.64 Danach kann die Anwendung von Art. 6 EMRK nicht ausgeschlossen werden, wenn der Staat lediglich darlegt, dass der betroffene öffentliche Bedienstete an der Ausübung öffentlicher Gewalt teilnehme oder dass ein besonderes Band der Treue und Loyalität zwischen dem öffentlich Bediensteten und dem Staat als Dienstgeber bestehe. Vielmehr muss ein Staat, der den Anwendungsbereich von Art. 6 EMRK in Beamtenstreitigkeiten ausschliessen möchte, darlegen, dass sich der Streitgegenstand auf die Ausübung staatlicher Gewalt beziehe; die entsprechende Beweislast liegt damit beim Staat. Für einen solchen Ausschluss bedarf es zudem einer ausdrücklichen Regelung. Arbeitsrechtliche Streitigkeiten über Bezüge, Zulagen oder Zuschüsse können deshalb nicht den Garantien des Art. 6 EMRK entzogen werden. Somit besteht eine Vermutung der Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK, die durch den jeweiligen Staat widerlegt werden kann. Diese Rechtsprechung ist nun wohl auch bei der Frage der Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK auf Maßnahmen und Leistungen der Amts- und Rechtshilfe zu berücksichtigen. Denn die Maßnahmen und Leistungen der Amts- und Rechtshilfe sind i. d. R. nicht spezifisch hoheitlich im Sinne der vorgenannten Rechtsprechung, weshalb sie – unter Anwendbarkeit der Kriterien von Art. 6 EMRK – gerichtlich überprüfbar sein müssen. Soweit sich ein Vertragsstaat bei der Durchführung eines Amtsoder Rechtshilfeverfahrens nicht auf staatspolitische und souveränitätsbezogene Interessen, wie z. B. den ordre public, beruft und damit keine der staatlichen Hoheitssphäre besonders nahe stehenden Bereiche betroffen sind, muss Art. 6 EMRK auf 63 64

EGMR, Pellegrin/Frankreich, Urteil GrK vom 8. 12. 1999, Rec. 1999-VIII, 207/251. EGMR, Vilho Eskelinen/Finnland, Urteil GrK vom 19. 4. 2007, Rec. 2007-II, Rn. 62.

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entsprechende Akte anwendbar sein.65 Verweigert der ersuchte Staat die Unterstützung gestützt auf den ordre public, so entfällt auch das Rechtsschutzbedürfnis des Betroffenen. 2. Das Urteil des EGMR i.S. Micallef In einem neuen Urteil im Fall Micallef hat der EGMR seine restriktive Praxis weiter gelockert und die Anwendbarkeit der Verfahrensgarantien von Art. 6 EMRK auf vorsorgliche Maßnahmen erweitert, sofern diese „civil rights“ erheblich betreffen.66 Begründet wurde diese Praxisänderung unter anderem damit, dass vorsorgliche Verfügungen mitunter eine lange Geltungsdauer hätten. Wendet man diese neue Rechtsprechung des EGMR auf vorsorgliche Maßnahmen in Verfahren der Amts- und Rechtshilfe an, bedeutet dies auch hier eine Ausweitung der Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK. So muss die Beschlagnahme von Gegenständen und Bankkonten zumindest dann von Art. 6 EMRK erfasst werden, wenn sie aufgrund ihrer Tragweite und voraussichtlicher Dauer erheblich in die Rechtsstellung des Betroffenen eingreift. Damit wird die Möglichkeit eröffnet, die Garantien von Art. 6 EMRK auch auf vorsorgliche Maßnahmen der Amts- und Rechtshilfe anzuwenden, sofern diese „civil rights“ erheblich betreffen. Erfasst werden dadurch Kontensperren und andere vorsorgliche Maßnahmen, die voraussichtlich von längerer Dauer sind. 3. Art. 47 Grundrechtecharta Mit der seit dem 1. Dezember 2009 rechtsverbindlichen Grundrechtecharta der EU (GRC)67 erhält Art. 6 EMRK ein Gegenstück im EU-Recht. Gemäß Art. 47 GRC hat jede Person, deren durch das EU-Recht garantierte Rechte oder Freiheiten verletzt worden sind, das Recht, bei einem Gericht einen wirksamen Rechtsbehelf einzulegen. Das Gericht muss zuvor durch Gesetz errichtet worden, unabhängig und unparteiisch sein und über die Sache in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb einer angemessenen Frist verhandeln. Art. 47 GRC lehnt sich damit mit Bezug auf den Wortlaut der gewährten Garantien an Art. 6 EMRK an.68 Im Gegensatz zu Art. 6 EMRK enthält Art. 47 GRC jedoch keine Einschränkung seines Anwendungsbereichs auf strafrechtliche Anklagen und zivilrechtliche Ansprüche.

65 Ähnlich Peukert, in: Frowein/Peukert (Hg.), EMRK-Kommentar, Art. 6 Rn. 23, mit Bezug auf im Ermessen stehende staatliche Leistungen und besondere Gewaltverhältnisse. 66 EGMR, Micallef/Malta, Urteil GrK vom 15. 10. 2009, Rec. 2009, Rn. 83 ff. („…can be considered effectively to determine…“). Kritisch Luginbühl (Fußn. 59), Rn. 22 ff. 67 Charta der Grundrechte der Europäischen Union vom 12. 12. 2007 (GRC), ABl. C 303 vom 12. 12. 2007, 1. 68 Vgl. etwa die Wendung „in einem fairen Verfahren…“ in beiden Bestimmungen.

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Vielmehr sind sämtliche im EU-Recht festgelegten Rechte und Freiheiten unter Einschluss der vom EuGH entwickelten allgemeinen Rechtsgrundsätze erfasst.69 Die Garantien der GRC binden die Organe und übrigen Einrichtungen der EU sowie die Behörden der Mitgliedstaaten, soweit diese EU-Recht durchführen.70 Die Verwaltungsbehörden und Gerichte der Mitgliedstaaten sind somit dann zur Beachtung der GRC verpflichtet, wenn sie im Anwendungsbereich des EU-Rechts tätig sind.71 Wie einleitend ausgeführt, erfolgt die Amts- und Rechtshilfe zwischen den Mitgliedstaaten der EU heute vermehrt auf der Grundlage von EU-Recht, das die bisherigen bi- und multilateralen Amts- und Rechtshilfeverträge im Wesentlichen ersetzt.72 Ist die Anwendbarkeit von Art. 47 GRC zu bejahen, haben die einzelstaatlichen Gesetzgeber die Verfahren auf Vollzug von Amts- und Rechtshilfe entsprechend den Garantien von Art. 47 GRC auszugestalten. Aufgrund der Bemühungen sowohl der EU als auch des Europarats zur Schaffung eines homogenen und kohärenten Grundrechtsschutzes in Europa73 ist der sachliche Anwendungsbereich von Art. 6 EMRK im Lichte von Art. 47 GRC umfassend zu verstehen. Wird an der bisherigen restriktiven Praxis bei der Auslegung des Anwendungsbereichs von Art. 6 EMRK festgehalten, fällt der vom EGMR im Rahmen von Art. 6 EMRK gewährleistete Schutzstandard mit Bezug auf elementare Verfahrensgarantien hinter den Grundrechtsschutz des EU-Rechts zurück. Eine solche Diskrepanz würde dem Ziel der EU und des Europarats um eine gegenseitige Annäherung der jeweiligen Grundrechtsstandards zuwiderlaufen. Sie würde überdies in einem Gegensatz zum Anspruch der EMRK stehen, maßgebende Rechtsgrundlage für den Grundrechtsschutz in Europa und Vorbild für Grund- und Menschenrechtssysteme und -mechanismen anderer Staaten und Organisationen zu sein. Der EuGH anerkennt in seiner Rechtsprechung denn auch bereits seit längerem ein Recht auf wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz und hat diesem den Status eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes zugewiesen.74 Einschlägige Rechtsprechung 69 Vgl. die diesbezüglichen Erläuterungen des Konvents zu Art. 47 GRC (mit ergänzenden Anmerkungen), in: Breitenmoser/Riemer/Seitz (Fußn. 2), S. 338 ff.; Meyer, Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 3. Aufl. 2011, Art. 47 Rn. 16, m.w.H. 70 Art. 51 Abs. 1 GRC. 71 Erläuterungen des Konvents zu Art. 51 GRC, in: Breitenmoser/Seitz/Riemer (Fußn. 2), S. 343 ff. 72 Z.B. Rahmenbeschluss des Rates über die Europäische Beweisanordnung zur Erlangung von Sachen, Schriftstücken und Daten zur Verwendung in Strafsachen vom 18. 12. 2008, ABl. L 350 vom 30. 12. 2008, 72. 73 Vgl. Art. 52 Abs. 3 GRC, wonach die in der GRC enthaltenen Rechte, sofern sie den durch die EMRK garantierten Rechten entsprechen, dieselbe Bedeutung haben sollen wie unter der EMRK. 74 Vgl. EuGH, Unibet Ltd., Urteil vom 13. 3. 2007, Rs. C-432/05, Slg. 2007, I-2271, Rn. 37 ff., betreffend eine in Großbritannien ansässige Buchmacherin, welche u. a. die Ver-

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zu Maßnahmen und Leistungen der Amts- und Rechtshilfe ist bislang, soweit ersichtlich, jedoch noch nicht ergangen.75 4. Art. 14 UN-Pakt II Nach Art. 14 UN-Pakt II76 hat jedermann Anspruch darauf, dass über eine „gegen ihn erhobene strafrechtliche Anklage“ oder seine „zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen“ durch ein zuständiges, unabhängiges, unparteiisches und auf Gesetz beruhendes Gericht in billiger Weise und öffentlich verhandelt wird. Art. 14 UN-Pakt II ist damit im Wortlaut mit Art. 6 EMRK vergleichbar. Die Bestimmung ist aufgrund ihrer hinreichenden Bestimmtheit und ihrer Zwecksetzung in den einzelnen Staaten direkt anwendbar („self-executing“), so dass sich Betroffene vor nationalen Gerichten unmittelbar auf diese berufen können. Ungeachtet ihrer fast wörtlichen Übereinstimmung mit Art. 6 EMRK wurde die Bestimmung durch den UN-Menschenrechtsausschuss als Vorgängergremium des UN-Menschenrechtsrats insbesondere im Bereich des Beamtenrechts wesentlich weiter ausgelegt.77 So hat dieser die Anwendbarkeit der Garantien von Art. 14 UN-Pakt II auf die Entlassung von Polizeibeamten, welche die Wiedereinstellung beantragten, in mehreren Fällen bejaht und ist dementsprechend auf die Beschwerde eingetreten.78 Im Fall Casanovas79 begründete er sein entsprechendes Eintreten damit, dass das Konzept von Art. 14 Abs. 1 UN-Pakt II an die Natur des betreffenden Anspruchs anknüpfe und weniger am Status des Klägers. Auch die neuste Rechtsprechung der UN-Organe hält am weiten Anwendungsbereich von Art. 14 UN-Pakt II fest.80 Die Rechtsprechung des EGMR bleibt damit hinter der Art. 14 UN-Pakt II zuerkannten Tragweite zurück. Betroffene, deren Sache gemäß der herkömmlichen Rechtsprechung des EGMR nicht im Anwendungsbereich von Art. 6 EMRK steht, letzung der im EU-Recht vorgesehenen Dienstleistungsfreiheit durch das schwedische Lotteriegesetz rügte. 75 Vgl. jedoch EuGH, Advocaten voor de Wereld, Urteil vom 3. 5. 2007, Rs. C-303/05, Slg. 2007, I-3633, zur Vereinbarkeit des Rahmenbeschlusses zum Europäischen Haftbefehl (ABl. L 190 vom 18. 7. 2002, 1) mit den Grundsätzen der Gesetzmäßigkeit und der Gleichbehandlung. 76 Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte vom 16. 12. 1966 (UN-Pakt II), UN Treaty Series, Bd. 999, 294. 77 Vgl. Achermann/Caroni/Kälin, in: Kälin/Malinverni/Nowak (Hg.), Die Schweiz und die UNO-Menschenrechtspakte, 2. Aufl. 1997, S. 187 f. 78 Hermoza/Peru (Communication No. 203/1986 vom 17. 11. 1988, UN Doc. CCPR/C/34/ D/203/1986). 79 Casanovas/Frankreich (Communication No. 441/1990 vom 10. 7. 1994, UN Doc. CCPR/ C/5/D/441/1990. Bestätigt wurde dieser Entscheid im Fall Perterer/Österreich (Communication No. 1015/2001 vom 20. 8. 2004, UN Doc. CCPR/C/81/D/1015/2001). 80 L.D.L.P./Spanien (Communication No. 1622/2007 vom 26. 7. 2011, UN Doc. CCPR/C/ 102/D/1622/2007) betreffend das Arbeitsverhältnis eines Berufsmilitärs.

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können und müssen sich somit ebenfalls auf den – unmittelbar anwendbaren – Art. 14 Abs. 1 UN-Pakt II berufen. Die entsprechend angerufenen einzelstaatlichen Gerichte haben den Gehalt von Art. 14 Abs. 1 UN-Pakt II unter Berücksichtigung der Rechtsprechung der UN-Organe festzustellen. 5. Einzelstaatliche Rechtsweggarantien Mit Art. 19 Abs. 4 des deutschen Grundgesetzes enthält das Verfassungsrecht seit Jahrzehnten eine Rechtsweggarantie. Diese erstreckt sich grundsätzlich auf sämtliche Fälle, in denen jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt wird, und beschränkt sich damit im Gegensatz zum Wortlaut von Art. 6 EMRK nicht auf zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen bzw. eine strafrechtliche Anklage.81 Auch die Schweiz verfügt nunmehr über eine umfassende Rechtsweggarantie, die im Rahmen der sog. Justizreform mit dem – am 1. Januar 2007 in Kraft getretenen – Art. 29a in die Schweizer Bundesverfassung (BV)82 eingefügt worden ist.83 Danach hat jede Person bei Rechtsstreitigkeiten das Recht auf eine Beurteilung durch eine gerichtliche Behörde. Art. 29a Satz 2 BV sieht zwar „in Ausnahmefällen“ die Möglichkeit eines Ausschlusses dieses Rechts gestützt auf ein Gesetz vor.84 Ein solcher muss jedoch mit den übergeordneten völkerrechtlichen Vorgaben der EMRK und des UN-Pakts II vereinbar sein. Der umfassende Anwendungsbereich von Art. 19 Abs. 4 GG und Art. 29a BV kann mitunter als Hinweis darauf gesehen werden, dass die Vertragsstaaten den durch den EGMR definierten Schutzbereich von Art. 6 EMRK als zu restriktiv ansehen. 6. Die EMRK als sog. „living instrument“ Die EMRK ist ein völkerrechtlicher Vertrag. Es gelten deshalb die völkergewohnheitsrechtlichen Auslegungsgrundsätze, wie sie in Art. 31 ff. der Wiener Vertragsrechtskonvention (WVK)85 festgelegt sind. Danach muss jede Auslegung vom Text der Konvention ausgehen, wobei die englische und französische Fassung der EMRK als maßgeblich gelten, und deren Ziel und Zweck berücksichtigen. Diese autonome, d. h. auf eine eigenständige Auslegung abzielende Interpretation wird in zweierlei Hinsicht ergänzt: zunächst durch eine rechtsvergleichende Berücksichti81

Dazu Epping/Hillgruber (Hg.), Kommentar zum Grundgesetz, Art. 19 Abs. 4 Rn. 1 ff.; Zippelius/Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 32. Aufl. 2008, S. 125 ff. 82 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. 4. 1999, SR 101. 83 Vgl. Breitenmoser, Verfassungsrechtliche Probleme der Terrorismusbekämpfung in der Schweiz, in: Würtenberger/Gusy/Lange (Hg.), Innere Sicherheit im europäischen Vergleich, S. 269 f., m.w.H. 84 Dazu Mohler, Grundzüge des Polizeirechts in der Schweiz, 2012, Rn. 1477 ff. 85 Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge (WVK) vom 23. 5. 1969, BGBl. 1985 II, 927 ff. Vgl. Villiger, Commentary on the 1969 Vienna Convention on the Law of Treaties, 2009, Art. 31 – 33.

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gung sowohl der Gemeinsamkeiten als auch der Unterschiede der einzelnen Rechtsordnungen der Vertragsstaaten und sodann durch die Berücksichtigung der Veränderungen der gesellschaftlichen Umstände und Wertvorstellungen.86 Vor diesem Hintergrund ist die EMRK, wie der Gerichtshof in seiner Rechtsprechung festhält, als „living instrument“ gemäß den „present-day conditions“ auszulegen.87 Dies führt zu einer Verstärkung der praktischen Wirksamkeit („effet utile“) der EMRK. Der Gerichtshof betont in seiner Rechtsprechung, dass die EMRK nicht dazu bestimmt sei, „theoretische oder illusorische Rechte zu garantieren, sondern Rechte, die konkret sind und Wirksamkeit entfalten“.88 Die – allein verbindliche – deutsche und französische Sprachfassung verwendet den Ausdruck „civil rights and obligations“ bzw. „droits et obligations de caractère civile“. Der Ausdruck „civil rights“ entstammt dem angelsächsischen Recht und ist vor diesem Hintergrund zu verstehen. Im common law besteht nämlich keine Unterscheidung zwischen privatem und öffentlichem Recht. Vielmehr erfolgt die wesentliche Trennlinie zwischen zivil- und strafrechtlichen Bereichen.89 Dementsprechend hat der EGMR zahlreiche Streitigkeiten aus den Bereichen des Verwaltungs- und Verfassungsrechts als zivilrechtliche Streitigkeiten im Sinne von Art. 6 Abs. 1 EMRK qualifiziert.90 Es ist somit unerheblich, ob staatliche Behörden an der Streitigkeit als Partei beteiligt waren und ob diese dabei hoheitlich gehandelt haben.91 Es wäre in diesem Lichte sachgerecht, das Begriffspaar der zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen entsprechend dem Zweck der EMRK, einen wirksamen Schutz der Individuen vor staatlichen Eingriffen sicherzustellen, in einem weiten, über das kontinentaleuropäische Privatrecht hinausgehenden Sinn auszulegen. Dies würde auch der vom EGMR herangezogenen Auslegungsmethode des effet utile und der allgemeinen Entwicklung der Verstärkung des gerichtlichen Rechtsschutzes in Bereichen des Verwaltungs- und Verfassungsrechts entsprechen. Eine offenere Auslegung des Begriffspaars „civil rights“ wurde auch von einzelnen Richtern des Gerichtshofs im Fall Maaouia in einem überzeugenden Sondervotum gefordert.92 So argumentierten Richter Loucaides und Traja, alle Individualrechte nicht strafrechtlicher Natur seien als „civil rights“ zu klassifizieren. Sie begründeten ihre Auffassung mit dem Zweck der EMRK, einen wirksamen Rechtsschutz sicherzustellen, und mit dem Bedürfnis der von staatlichen Eingriffen Betroffenen nach einer gerichtlichen Kontrollmöglichkeit. Und im Fall Kraska hat Richter De 86 Ausführlich EGMR, Ferrazzini/Italien, Urteil vom 12. 7. 2001, Rec. 2001-VII, Rn. 26 ff., mit Bezug auf Steuerverfahren. Vgl. Breitenmoser/Riemer/Seitz (Fußn. 2), S. 10. 87 Vgl. EGMR, Matthews/Vereinigtes Königreich, Urteil vom 18. 2. 1999, Rec. 1999-I, Rn. 39. 88 EGMR, Artico/Italien, Urteil vom 13. 5. 1980, A/37, Rn. 33, EuGRZ 1980, 662. 89 Miehsler, IntKommEMRK, Art. 6 Rn 74 ff. 90 Vgl. oben II. 2. 91 Vgl. bereits EGMR, Ringeisen/Österreich, Urteil vom 16. 7. 1971, A/13, Rn. 94. 92 EGMR, Maaouia/Frankreich, Urteil GrK vom 5. 10. 2000, Rec. 2000-X.

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Meyer dafür plädiert, alle Rechte, die nicht spezifisch auf die Stichhaltigkeit einer strafrechtlichen Anklage im Sinne von Art. 6 EMRK bezogen seien, als „civil rights“ zu behandeln; die rechtsstaatlichen Garantien von Art. 6 EMRK seien von solcher Bedeutung, dass sie auf die Entscheidung („determination“) sämtlicher (Individual-)Rechte anwendbar sein sollten.93 Eine weitere Ausweitung der Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK über das Merkmal der „civil rights“ zeichnet sich denn auch bereits aufgrund des Urteils des EGMR im Fall Enea ab.94 Dabei hatte der EGMR die Unterbringung in einem Hochsicherheitstrakt eines Gefängnisses zu beurteilen. Da diese für den Betroffenen Familienbesuche einschränkte und (zusätzliche) finanzielle Nachteile bewirkte, nahm der Gerichtshof die Betroffenheit persönlicher Rechte an, deren Charakter zivilrechtlich im Sinne von Art. 6 EMRK sei.95 Was aber für die Unterbringung in einem Hochsicherheitsgefängnis gilt, sollte auch für solche Maßnahmen der Amts- und Rechtshilfe Geltung haben, die in die Privatsphäre der Betroffenen oder in ihre vermögenswerten Rechte eingreifen. Die Erhebung bzw. Weitergabe personenbezogener Daten, wie z. B. der Austausch von Namen registrierter Fußball-Hooligans zwischen Polizeibehörden, kann unmittelbar das Ansehen und damit die – sowohl zivil- als auch verfassungsrechtlich geschützten – Persönlichkeitsrechte der Betroffenen tangieren und zu ernsthaften Nachteilen persönlicher oder beruflicher Natur, wie z. B. die Anhaltung beim Grenzübertritt oder die Nichtberücksichtigung bei der Besetzung einer Staatsstelle, führen.96 Damit betrifft die Weitergabe von personenbezogenen Daten häufig in direkter Weise vermögenswerte Interessen. Dies gilt umso mehr für die Erhebung und Weitergabe von Steuer- und Bankkundendaten im Rahmen der Amts- und Rechtshilfe in Steuersachen. Diese können in Nachsteuerverfahren verwendet werden und Grundlage für Steuernachforderungen und Steuerbussen bilden. Überhaupt haben Maßnahmen und Leistungen der Amts- und Rechtshilfe durch den ersuchten Staat häufig unmittelbare Auswirkungen auf rechtlich schützenswerte Interessen des Betroffenen. Dies gilt zunächst für die Sperre von Bankkonten sowie die Beschlagnahme von Gegenständen oder Datenträgern. Entsprechende Akte greifen in die Eigentumsgarantie des Betroffenen und generell in seine vermögensrechtlichen Interessen ein.

93 EGMR, Kraska/Schweiz, Urteil vom 19. 4. 1993, A/254-B, Sondervotum von Richter De Meyer. 94 EGMR, Enea/Italien, Urteil GrK vom 17. 9. 2009, Rec. 2009, Rn. 103 ff. 95 Die maßgebliche Passage findet sich in Rn. 103: „some of the restrictions alleged by the applicant – such as those restricting his contact with his family and those affecting his pecuniary rights – clearly fell within the sphere of personal rights and were therefore civil in nature“. 96 Vgl. z. B. EGMR, Khelili/Schweiz, Urteil vom 18. 10. 2011, Nr. 16188/07, Rn. 64.

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Schließlich können unrechtmäßige Maßnahmen der Amts- und Rechtshilfe Ansprüche der Betroffenen aus Staatshaftung auslösen.97 Nicht zuletzt aufgrund dieser vermögensrechtlichen Auswirkungen greifen entsprechende Maßnahmen und Leistungen nach der hier vertretenen Ansicht in „civil rights“ ein.98 7. Rechtsschutzbedürfnis der Betroffenen Aufgrund der Grundrechtsrelevanz von Maßnahmen und Leistungen der Amtsund Rechtshilfe99 haben die Betroffenen i. d. R. ein schutzwürdiges Interesse daran, von den Verfahrensgarantien des Art. 6 EMRK erfasst zu werden. Ein solches Interesse ergibt sich aus den faktischen Nachteilen, welchen die Betroffenen durch entsprechende Maßnahmen ausgesetzt werden. So kann die vorsorgliche Beschlagnahme von Vermögenswerten und Gegenständen im Wege der Amts- und Rechtshilfe für die Betroffenen erhebliche persönliche und finanzielle Auswirkungen haben, was auch der EMGR festgehalten hat.100 Ebenfalls kann die Weitergabe von personenbezogenen Daten für die Betroffenen einschneidende Folgen haben.101 Die umfassende Anwendbarkeit der Garantien von Art. 6 EMRK auf Maßnahmen und Leistungen von Amts- und Rechtshilfe durch den ersuchten Staat würde die verfahrensrechtliche Rechtsstellung der Betroffenen stärken. Es würde dadurch auch für Verfahren der Amts- und Rechtshilfe ein – bis anhin weitgehend fehlender – rechtsstaatlicher Mindeststandard geschaffen, der von allen 47 Vertragsstaaten der EMRK zu beachten wäre. Verneint man die Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK in Verfahren auf Vollzug von Amts- und Rechtshilfegesuchen, so verbleibt dem Betroffenen im Rahmen der Verfahrensgrundrechte der EMRK immerhin das in Art. 13 EMRK statuierte Recht auf eine wirksame Beschwerde wegen Verletzung von Konventionsgarantien. Dieses garantiert jedoch nach der ständigen Rechtsprechung des EGMR keinen Zugang zu einem unabhängigen und unparteiischen Gericht; vielmehr kann die Möglichkeit einer wirksamen Beschwerde an eine von der handelnden Behörde hinreichend unabhängige Verwaltungsbehörde genügen.102 Die Bestimmung von Art. 13 EMRK 97 Vgl. Art. 116 Abs. 1 Übereinkommen zur Durchführung des Übereinkommens von Schengen vom 14. 6. 1985 zwischen den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen vom 19. 6. 1990 (Schengener Durchführungsübereinkommen, SDÜ), ABl. L 239 vom 22. 9. 2000, 19, mit Bezug auf das Schengener Informationssystem; Art. 5 Abs. 5 EMRK, betreffend unrechtmäßige Haft. 98 So auch Schweizer (Fußn. 4), S. 1002. 99 Vgl. oben II. 1. d). 100 EGMR, Markass Car Hire Ltd./Zypern, Urteil vom 2. 7. 2002, Nr. 51591/99 (nicht in der amtl. Slg.), Rn. 39 f. 101 Vgl. oben II. 1. d). 102 Vgl. EGMR, Silver u. a./Vereinigtes Königreich, Urteil vom 25. 3. 1983, A/61, Rn. 113; Grabenwarter/Pabel (Fußn. 24), S. 483 ff.

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umfasst sodann – anders als Art. 6 EMRK – kein Recht auf eine mündliche Anhörung des Betroffenen.103 Überhaupt ist die reichhaltige Rechtsprechung des Straßburger Gerichtshofs zum Gebot des fairen Gerichtsverfahrens nicht ohne Weiteres auf Verfahren vor Verwaltungsbehörden übertragbar. Damit ist die Rechtsstellung eines Betroffenen im Anwendungsbereich von Art. 13 EMRK deutlich schwächer als gemäß Art. 6 EMRK. In Verfahren der Auslieferung sind sodann die Garantien von Art. 5 EMRK anwendbar, sofern die betroffene Person in Auslieferungshaft versetzt wird. Diese hat das Recht zu beantragen, dass ein Gericht „innerhalb kurzer Frist“ über die Rechtmäßigkeit der Haft entscheidet (Abs. 4).104 Art. 5 EMRK erfasst jedoch nicht den Akt der Auslieferung als solchen. 8. Art. 6 EMRK als „Brücke“ zur Gewährleistung materieller Grundrechte Schließlich stellen die Verfahrensgarantien von Art. 6 EMRK die Beachtung anderer, materieller Grundrechte sicher. Verwaltungsbehörden, die über Amts- und Rechtshilfegesuche entscheiden, stehen mitunter unter erheblichem politischem Druck, die Ersuchen aus staatspolitischen Interessen gutzuheißen. Grundrechtsanliegen haben in solchen Fällen einen schweren Stand. Umso stärker besteht die Notwendigkeit, einen Rechtsweg an die von der Exekutive unabhängigen und unparteiischen Gerichte zu gewährleisten. Wird der Zugang zu solchen Gerichten im Interesse einer möglichst hürdenlosen Zusammenarbeit geopfert, so führt dies zu einer Erosion auch der Freiheitsrechte.105 Zwar besteht aufgrund der Grundrechtsrelevanz von Amts- und Rechtshilfemaßnahmen die Pflicht zur Beachtung der Schranken des Legalitäts- und Verhältnismäßigkeitsprinzips, wie sie sich insbesondere aus Art. 8 Abs. 2 EMRK und Art. 52 Abs. 1 GRC ergeben. Wird den Betroffenen jedoch der Schutz der Garantien von Art. 6 EMRK verwehrt, welche insbesondere ein faires Gerichtsverfahren gewährleisten, drohen diese Schranken leerzulaufen. 9. Justiziabilität der Amts- und Rechtshilfe Obwohl die im Amts- und Rechtshilfeverfahren zu prüfenden Voraussetzungen und Schranken im Rahmen von völker- und europarechtlichen Rechtsakten wegen 103 Peukert, in: Frowein/Peukert (Hg.), EMRK-Kommentar, Art. 13 Rn. 6; Schweizer, IntKommEMRK, Art. 13 Rn. 88 ff. 104 Vgl. EGMR, Adamov/Schweiz, Urteil vom 21. 6. 2011, Nr. 3052/06 (noch nicht in der amtl. Slg. publiziert), Rn. 51 ff., betreffend die Auslieferung des früheren russischen Atomministers an Russland. 105 Vgl. Schweizer (Fußn. 4), S. 1009. Zu den auf dem Spiel stehenden Freiheitsrechten vgl. oben II. 1. d).

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der zunehmenden Kooperationsbereitschaft der Staaten insbesondere bei der Bekämpfung der internationalen Kriminalität und des Terrorismus sukzessive abgeschwächt werden, sind sie weiterhin einer gerichtlichen Überprüfung zugänglich. So kann und soll etwa die Verhältnismäßigkeit der Amts- und Rechtshilfe als elementares Merkmal eines jeden Rechtsstaats von einem den Anforderungen von Art. 6 EMRK genügenden Gericht in einem fairen Verfahren beurteilt werden. 10. Flexibilität von Art. 6 EMRK Im Schrifttum wird teilweise die Befürchtung geäußert, eine Ausweitung des Anwendungsbereichs der Garantien von Art. 6 EMRK auf vorläufige Maßnahmen würde zu einer Verlangsamung der Verfahren führen.106 Diese Befürchtung erscheint jedoch weitgehend unbegründet. Denn der EGMR betont, dass gewisse Garantien von Art. 6 EMRK ungeachtet der Anwendbarkeit der Bestimmung in besonderen Fällen – beispielhaft genannt wird die zeitliche Dringlichkeit – eingeschränkt werden können. Dies gilt nicht für die Garantie des unabhängigen und unparteiischen Gerichts, wohl aber für diejenige der (vorgängigen) mündlichen Verhandlung.107 IV. Zusammenfassung und Schlussfolgerungen Die gegenwärtige Rechtslage, wonach die Verfahrensgarantien von Art. 6 EMRK i. d. R. nicht auf Verfahren der Amts- und Rechtshilfe anwendbar sind, erscheint nicht sachgerecht. Sie steht konträr zur sukzessive erfolgten Ausweitung des Anwendungsbereichs von Art. 6 EMRK durch den Straßburger Gerichtshof auch auf verwaltungs- und verfassungsrechtliche Verfahren. Sie widerspricht damit der in den letzten Jahrzehnten zu beobachtenden Verstärkung des Grundrechts auf wirksamen gerichtlichen Rechtsschutz in Europa, wie sie nun auch in Art. 47 GRC zum Ausdruck kommt. Die Kooperationsformen der Amts- und Rechtshilfe sind denn auch stets mit teils erheblichen Eingriffen in Grundrechte verbunden, weshalb die Betroffenen ein legitimes Bedürfnis nach wirksamem Rechtsschutz haben. Die hohe Zahl an jährlich beim Strassburger Gerichtshof eingehenden Beschwerden vermag den Ausschluss von Art. 6 EMRK nicht zu rechtfertigen. Der starken Beanspruchung des Gerichtshofs kann wirkungsvoller durch eine Änderung der Verfahrensmechanismen begegnet werden. Diskussionswürdig wäre unter anderem ein Auswahlverfahren, wie es der US-amerikanische Supreme Court kennt und wiederholt auch vom ehemaligen Präsidenten des EGMR, Luzius Wildhaber, vorgeschlagen wurde.108 106

So Luginbühl (Fußn. 59), Rn. 24 ff. EGMR, Micallef/Malta, Urteil GrK vom 15. 10. 2009, Rec. 2009, Rn. 86. Kritisch zu einer solchen Einschränkungsmöglichkeit Grabenwarter/Pabel (Fußn. 24), S. 391. 108 Vgl. Wildhaber, Der Menschenrechtsgerichtshof für Europa – überlastet, überlastend oder gerade richtig?, Menschenrechte konkret, Bd 4., 2011, m.w.H. 107

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Neuere Lehrmeinungen fordern überdies die Ausweitung des Anwendungsbereichs von Art. 6 EMRK im Rahmen der „strafrechtlichen Anklage“. Dies mit der Begründung, dass zunehmend von einem internationalen arbeitsteiligen Strafverfahren auszugehen sei und in diesem vorgenommene Maßnahmen erhebliche Auswirkungen auf das strafrechtliche Hauptverfahren hätten. Eine solche Argumentation erscheint aufgrund der in der Tat in vermehrtem Umfang bestehenden Verflechtung von Haupt- und Vollzugsverfahren sachgerecht, begegnet jedoch zweierlei Bedenken: Zunächst könnten einige der für Strafverfahren vorgesehenen Garantien, insbesondere die Unschuldsvermutung, gleichwohl nicht zur Anwendung kommen, da der Vollzug von Amts- und Rechtshilfegesuchen lediglich der Unterstützung des Hauptverfahrens im ersuchenden Staat dient und Fragen der Schuld nicht Verfahrensgegenstand sind. Zudem sind Verfahren auf Vollzug von Amts- und Rechtshilfegesuchen nach der hier vertretenen Ansicht Verwaltungsverfahren zur Unterstützung eines Hauptverfahrens; Fragen des Hauptverfahrens sind von der ersuchten Behörde deshalb grundsätzlich nicht zu beurteilen.109 Eine Ausweitung des Anwendungsbereichs von Art. 6 EMRK könnte ebenfalls auch über die Auslegung des Begriffspaars „zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen“ erfolgen. Entsprechend dem Urteil i.S. Micallef sind vorsorgliche Maßnahmen im Rahmen der Amts- und Rechtshilfe dann von Art. 6 EMRK erfasst, wenn sie – insbesondere aufgrund ihrer Dauer – eine direkte Auswirkung auf „civil rights“ haben. Dies muss insbesondere für Kontensperren gelten, deren Anfechtbarkeit damit den Garantien von Art. 6 EMRK genügen muss; von Bedeutung ist dabei auch die aus Art. 6 EMRK resultierende Garantie eines fairen Verfahrens, wozu die umfassende Ausschöpfung der dem urteilenden Gericht zustehenden Kognition gehört. Ein Ausschluss der Verfahrensgarantien von Art. 6 EMRK in Verfahren der Amtsund Rechtshilfe erscheint im Sinne der Eskelinen-Rechtsprechung nur dort sachlich begründet, wo sich ein ersuchter Staat auf seine Souveränität in spezifisch hoheitlichen Belangen beruft. Im Vordergrund stehen staatspolitische Interessen bzw. der ordre public, die gegen die Gewährung der nachgesuchten Unterstützung sprechen. Ein entsprechender ordre public darf dabei neben rein staatsbezogenen Aspekten durchaus auch einen menschenrechtlichen Gehalt haben, wie die Verweigerung der Auslieferung des Filmregisseurs Polanski gezeigt hat.110 Mit der Ausweitung der Garantien von Art. 6 EMRK auf die Amts- und Rechtshilfe würden für alle 47 Vertragsstaaten der EMRK elementare verfahrensrechtliche Mindeststandards geschaffen. Damit würde insbesondere bei der Amtshilfe, die in zahlreichen Verwaltungsbereichen informell und ohne hinreichende Anhörungsund Beschwerdemöglichkeiten des Betroffenen erfolgt,111 eine wichtige Rechtsschutzlücke geschlossen und die verfahrensrechtliche Rechtsstellung der Betroffe109

Vgl. oben II. 1. c). NZZ vom 13. 7. 2010, S. 9. 111 Schweizer (Fußn. 4), S. 995.

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nen erheblich gestärkt. Wie der EGMR in seinem Urteil im Fall Micallef festhält, können die Verfahrensgarantien von Art. 6 EMRK auf die Besonderheiten des Sachverhalts angepasst werden. Denkbar wäre z. B., dass dem Betroffenen kurze Fristen zur Stellungnahme gesetzt werden und auf eine mündliche Verhandlung verzichtet wird. Die Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK in entsprechenden Verfahren braucht damit nicht zu einer ungerechtfertigten Erschwerung und Verlangsamung der Amts- und Rechtshilfe zu führen. Zwar sind die Verfahrensgarantien von Art. 6 EMRK in zahlreichen einzelstaatlichen Verfassungen und Gesetzen verankert. Dies jedoch auf unterschiedliche Weise. Aufgrund der starken Zunahme der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit ist es deshalb unabdingbar, auch für Verfahren auf Vollzug von Amts- und Rechtshilfeersuchen einen europaweiten Mindeststandard mit Bezug auf die Verfahrensrechte sicherzustellen. Damit wird nicht nur der Zwecksetzung der EMRK, einen wirksamen Rechtsschutz gegenüber staatlichen Eingriffen sicherzustellen, Genüge getan, sondern zugleich auch dem Bedürfnis der Betroffenen nach einer gerichtlichen Überprüfungsmöglichkeit entsprochen.

Ciudadanía democrática en la constitución española de 1978: Entre la potenciación y la limitación del ejercicio multicultural de los derechos fundamentales Demokratische Staatsbürgerschaft in der spanischen Verfassung von 1978: Zwischen Förderung und Einschränkung der multikulturellen Ausübung der Grundrechte Von Benito Aláez Corral, Oviedo Dieser Beitrag befasst sich aus einer rechtsvergleichenden Perspektive mit dem Verhältnis zwischen der Gewährleistung einer demokratischen Staatsbürgerschaft und der potenziell multikulturellen Ausübung der Grundrechte in der Spanischen Verfassung von 1978. Ausgehend von einer funktionellen und rechtspositivistischen Abgrenzung der Staatsangehörigkeit von der Staatsbürgerschaft arbeitet der Beitrag heraus, dass die meisten demokratischen Rechtsordnungen einschließlich Spanien Demokratie als „Betroffenheitsdemokratie“ und nicht als „Identitätsdemokratie“ verstehen und dass sich daher weder das Staatsvolk noch die Grundrechte im allgemeinen ethnisch-kulturell konzipieren lassen. Von diesem Ausgangspunkt aus erweist sich, dass eine demokratisch konzipierte Staatsbürgerschaft ein Konzept begünstigt, das als „Einwanderungsmultikulturalismus“ bezeichnet werden kann. Dies gilt nicht nur weil ein solches Staatsbürgerschaftsverständnis die Art der Ausübung der Grundrechte im Großen und Ganzen offen lässt, sondern auch weil aus einem solchen demokratischen Verständnis der Staatsbürgerschaft auch Schranken für die Staatsangehörigkeitsgesetzgebung entwickelt werden können. Gleichzeitig spielt dieses demokratische Staatsbürgerschaftsverständnis jedoch auch eine entscheidende Rolle als Grenze einer potenziell multikulturellen Ausübung der Grundrechte. Denn für die multikulturelle Ausübung der Grundrechte ist die Aufrechthaltung des demokratischen Rahmens erforderlich, der diese Grundrechtsausübung ermöglicht. Diese einschränkende Rolle der demokratischen Kultur für den „Einwanderungsmultikulturalismus“ lässt sich an vier Bereichen verdeutlichen: Erstens sind die meisten Grundrechte in den demokratischen Verfassungen unter kulturelle Vorbehalte gestellt und einschränkbar. Zweitens wird die verpflichtende Schulbil-

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dung verfassungsrechtlich oder völkerrechtlich auf demokratische Ziele hin ausgerichtet. Sie wird damit ein Werkzeug der präventiven streitbaren Demokratie, die die wachsende multikulturelle Identität des Kindes einschränkt. Drittens setzt der durch die Verfassung ermächtigte Gesetzgeber politische und kulturelle Assimilationserfordernisse für den Erwerb der Staatsangehörigkeit fest, auch wenn diese nicht immer im Einklang mit dem demokratischen Grundsatz stehen. Schließlich folgt aus der demokratischen Staatsform, dass die jeweilige soziale Mehrheit über die konkrete Grundrechtspolitik entscheidet, was auch bedeutet, dass die politischen Entscheidungen für oder gegen Multikulturalismus in den Händen der kulturellen Mehrheit liegen. I. Introducción Hablar de ciudadanía e integración en las sociedades europeas del siglo XXI es, entre otras cosas, hablar de multiculturalismo, no sólo porque algunas de estas sociedades, como la española, se hayan gestado a partir de una pluralidad políticocultural interna – por no utilizar el término plurinacionalidad o plurietnicidad – ya desde los primeros momentos de su nacimiento como Estado-nación (multiculturalismo interno), sino sobre todo porque se ven afectadas, como consecuencia de los movimientos migratorios de los últimos años, por una creciente pluralidad cultural externa, derivada de los diversos círculos culturales a los que pertenece la población inmigrante (multiculturalismo externo)1. El concepto constitucional de la ciudadanía se ha construido y reconstruido durante los últimos dos mil años en el mundo occidental como un instrumento al servicio de la libertad de cada vez más clases de individuos2, lo cual puede hacer albergar a los grupos culturales minoritarios la expectativa de que también ellos puedan ver garantizadas sus prácticas culturales frente a la tendencia asimilacionista de la mayoría cultural dominante en la sociedad de acogida. Pero al mismo tiempo, dicha ciudadanía ha sido siempre un instrumento para integrar a los individuos y a los grupos en las distintas esferas de comunicación social existentes, lo cual sin duda alienta la expectativa de la mayoría cultural de la sociedad de acogida de que, en aras de la integración, los grupos minoritarios vean limitada su capacidad de desarrollo de dicho multiculturalismo. El objeto de este trabajo es esbozar el marco constitucional-democrático dentro del que se han de desarrollar en España estos dos procesos, el pluralismo cultural y sus límites. Antes de seguir, permítaseme aclarar algunas cuestiones previas, sin las que podrían mal interpretarse algunas de mis reflexiones. La primera hace referencia al concepto de “cultura” aquí utilizado, que ha de ser entendido en un sentido amplio, como conjunto de habilidades básicas producto de la interacción humana en el

1 Sobre las distintas fuentes de la pluralidad cultural en una sociedad, y en particular sobre estas dos fuentes interna y externa, cfr. Kymlicka (1995), pp. 10 ss. 2 Cfr. Costa (1999 – 2001).

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marco de las cuales toda persona se individualiza y socializa desde su nacimiento3, y que abarcan desde la ideología, la religión, las tradiciones y costumbres, o el propio derecho, hasta las destrezas o conocimientos suplementarios adquiridos y transmitidos intergeneracionalmente que conforman el concepto de cultura en un sentido más estricto (al que hacen referencia por ejemplo los arts. 3, 46 o 143 CE). La segunda cuestión pretende poner de manifiesto que el término “multiculturalismo”, a pesar de su sufijo -ismo, se utiliza aquí como descriptivo de una situación fáctica de pluralismo cultural, no como modelo filosófico político que constituya un valor normativo en sí mismo, en deliberado distanciamiento metodológico de doctrinas multiculturalistas como la de Kymlicka, o antimulticulturalistas como la de Sartori, dado que cada texto constitucional democrático adopta un modelo regulatorio de este pluralismo cultural diferente, y la Constitución Española de 1978 ha adoptado un modelo híbrido entre las dos posturas extremas mencionadas. Finalmente, la tercera y última cuestión es la de que, de los dos tipos de multiculturalismo mencionados (el interno y el externo), sólo voy a ocuparme en este trabajo del externo, es decir, del derivado de los fenómenos migratorios, pero no del interno, dado que, mientras que respecto del multiculturalismo interno son muy abundantes los estudios jurídico-constitucionales -probablemente por su directa y evidente vinculación con la estructura territorial española, con respecto al multiculturalismo externo son muchos menos los estudios constitucionales que se ocupan de su análisis. La cuestión jurídico-constitucional a resolver es la de si la integración ciudadana de los nuevos habitantes por la vía de su ejercicio de los derechos fundamentales (ciudadanía democrática)4 o, más allá de ello, por la vía de su acceso pleno a la ciudadanía política a través de su nacionalización (nacionalidad), debe ser la expresión de una acomodación y ajuste recíprocos entre la cultura mayoritaria y las culturas provenientes de los movimientos migratorios5 o, por el contrario, está condicionada por la asimilación de dicha cultura mayoritaria por parte de los inmigrantes6. Ante este dilema, son posibles diversas respuestas que van, en lo general, desde el melting pot estadounidense de los años sesenta o el actual Plan Estratégico de Ciudadanía e Integración del Gobierno de España7, hasta la 3

En el sentido ya clásico en el que la utiliza Häberle (1998), pp. 2 ss.; y en España, Clavero (2007), p. 204. 4 Sobre la ciudadanía como “plena integración del individuo en la sociedad”, cfr. Marshall (1992), p. 8. 5 Sobre la vinculación entre democracia y multiculturalismo, véase Modood (2000), pp. 192 ss. 6 Sobre los distintos sentidos del término asimilación (cultural), cfr. Brubaker (2001), pp. 531 – 548. 7 Que hace hincapié en la adopción de medidas de acomodación intercultural, es decir, de adaptación mutua de la sociedad española de acogida y de los inmigrantes que han llegado a nuestro país, así como los colectivos en los que se integran, sobre la base del concepto de integración establecido.

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exigencia del “contrato de integración” francés8, pasando, en lo particular, por las recientes prohibiciones de diversos países europeos de portar vestimentas o símbolos religiosos en espacios públicos9, y por la opuesta aceptación británica de dichos símbolos siempre que los mismos no alteren el normal desarrollo de la actividad escolar10. Ciertamente, la Unión Europea ha dado unos “Principios básicos comunes para una política de integración de los inmigrantes en la Unión Europea”, aprobados el 19 de noviembre de 2004 por el Consejo Europeo y los representantes de los Estados miembros, conforme a los cuales la integración es un proceso bidireccional y dinámico de ajuste mutuo por parte de todos los inmigrantes y residentes de los Estados miembros, que implica, entre otras cosas, respeto a los valores básicos de la Unión Europea. Pero éstos, además de moverse en el plano de las directrices políticas (jurídicamente no vinculantes), dejan la cuestión bastante abierta a las normas constitucionales y legales de ámbito nacional sobre la materia. Desde una perspectiva más concreta, para valorar estas posibles respuestas debemos tener en cuenta que uno de los elementos que sin duda más ha contribuido desde principios del siglo XX a perfilar la estructura del Estado nacional, y que más deja ver su incidencia en la relación existente entre inmigración, nacionalidad y ciudadanía, es el principio democrático, cuyo entendimiento jurídico contemporáneo no lo reduce al imperio de la regla de la mayoría sino que añade a ese gobierno por la mayoría la exigencia de respeto de los derechos constitucionales garantizados a la minoría11, y que utiliza el pluralismo y la igualdad como disolventes de la homogeneidad identitaria tanto de la mayoría social como de los grupos sociales 8

Otras fórmulas que se van ensayando en Europa desde los años noventa del siglo XX son los cursos de integración cívica holandeses, de cumplimentación obligatoria en origen para obtener un visado de entrada en Holanda, los cursos de integración previstos en los §§ 43 a 45 de la Gesetz über den Aufenthalt, die Erwerbstätigkeit und die Integration von Ausländern im Bundesgebiet (AufenthG) alemana, o la gradual exigencia de integración socio-cultural prevista en la propuesta del path to citizenship británico, que incluye hasta una “nacionalidad a prueba” (probationary citizenship). Sobre dichos cursos, cfr. Giraudon (2008). 9 Véase, entre otras, la Ley francesa 228 de 15 de marzo de 2004, prohibitiva de símbolos religiosos ostensibles en los centros escolares públicos, la Ley francesa 1192 de 11 de octubre de 2010, de prohibición de ocultación del rostro en espacios públicos; la Ley belga prohibitiva del uso de prendas que oculten total o parcialmente el rostro de 1 de junio de 2011,; y en España recientemente la modificación de la Ordenanza Municipal de Civismo de Lleida, de 8 de octubre de 2010, por la que se prohíbe el acceso a espacios o locales destinados al uso o al sevicio público con velo integral. 10 Cfr. el punto núm. 4 de la “Guidance to schools on school uniform and related policies”, así como el núm. 3.9.7 y 8 de la “School discipline and pupil behaviour policies guidance for school”, ambas del Departamento de Infancia, centros escolares y familia del Reino Unido. Un estudio exhaustivo de la respuesta legal y jurisprudencial a esta cuestión de los símbolos religiosos en diversos países europeos, se puede ver en McGoldrick (2006): pp. 34 ss. Aunque la jurisprudencia británica está dando un giro para converger con la citada tendencia europea desde la Sentencia de la House of Lords en el caso R (on the application of Begum) v. Headteacher and Governors of Denbigh High School (Appellants), [2006] UKHL 15. 11 Cfr. ya Kelsen (1929), pp. 53 ss.. En la actualidad y con relación a la nacionalidad y los movimientos migratorios, cfr. Massing (2001), pp. 20 ss.; y Alaez Corral (2006), pp. 5 – 9.

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minoritarios en los que se integra el individuo12. Que el origen histórico del nacimiento de la moderna nacionalidad fuera el reflejo de una homogeneidad cultural y/o política de la sociedad puede que tuviera trascendencia a la hora de explicar la vinculación de los conceptos de nacionalidad y ciudadanía, el predominio de criterios de asimilación cultural para la adquisición de la primera, o la limitación del ejercicio de los derechos fundamentales que componen la segunda en base a unas condiciones constitucionales de carácter cultural13, tal y como ha puesto de relieve la historiografía jurídica más relevante en los distintos países14. Pero desde el momento en el que las Constituciones contemporáneas – y la española de 1978 no es una excepción – se han convertido en normas jurídicas supremas y, para preservar esta posición, tienden a democratizar plenamente el ejercicio del poder15, el estatuto fundamental de libertad e igualdad del individuo y de los grupos en los que se integra pasa a derivarse de la configuración constitucional del principio democrático, y no de ninguna otra circunstancia o estatus previo, como la pertenencia a una comunidad cultural16, incluso aunque el disfrute de algunos derechos que componen la ciudadanía -los políticos- se condicione total o parcialmente a la adquisición de la nacionalidad. En este sentido, la exigencia de que los sometidos al poder del Estado puedan participar de forma libre, igual y plural en la creación normativa a la que van a estar sujetos (“democracia de afectación”)17 constituye el elemento identitario-cultural más importante de muchos sistemas jurídicos contemporáneos18 y sienta un condicionamiento estructural aplicable tanto al legislador de los derechos fundamentales (que lo es también, con ello, de la ciudadanía), como al legislador de la nacionalidad, e impide, como norma de principio, una construcción totalitaria y homogeneizadora tanto de las identidades de los grupos culturales minoritarios como de la colectividad política nacional sobre la que se construye el Estado. 12

En un sentido parecido en este punto, Sartori (2001), pp. 61 ss. Para un análisis de la evolución histórico-funcional de la nacionalidad y la ciudadanía véase Alaez Corral (2005). 14 Cfr. entre muchos, Brubaker (1992); Gosewinkel (2001); Fahrmeir (2000). 15 Sobre el principio democrático como aquella forma de organización de la creación normativa que mejor impele las condiciones funcionales de existencia del sistema jurídico – su autorreferencialidad y su positividad –, cfr. Bastida Freijedo (1998): pp. 389 ss. 16 En este sentido, cfr. Bryde (1995), pp. 307 ss. En un sentido opuesto, haciendo depender el status democrático del ciudadano de la pertenencia al pueblo como sujeto metapositivo soberano, fuente del poder constituyente, cfr. Isensee (1989), pp. 728 – 729 ss. 17 Cfr. Bryde (1989): pp. 257 – 258, aunque no sea la interpretación dominante del principio democrático y de la soberanía popular del art. 20.1 GG alemana, que lo identifica con aquélla reconducción del poder a un sujeto-fuente prejurídico y soberano. En lo que se refiere a nuestro país véase la tampoco mayoritaria interpretación normativo-funcional del art. 1.1 y 1.2 CE que realiza Bastida Freijedo (1998), pp. 389 ss. 18 En un sentido diverso, cfr. Uhle (2004): pp. 112 ss., para quien el principal elemento identitario del ordenamiento alemán es la garantía de la dignidad de la persona, y a ella reconduce el principio democrático. 13

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Lo anterior ha de tener con toda certeza una poderosa influencia en los condicionamientos que, en aras de su integración social, puede establecer el ordenamiento democrático respecto del ejercicio multicultural de los derechos fundamentales por parte de los extranjeros residentes en España, así como respecto de su potencial adquisición de la nacionalidad española, en tanto puerta de acceso a su plena ciudadanía política. Para saber en qué medida el reconocimiento constitucional de una ciudadanía democrática sirve como vía de integración de los inmigrantes a través de su ejercicio multicultural de los derechos fundamentales, y en qué medida esa misma ciudadanía o la nacionalidad pueden operar como límites a dicho multiculturalismo externo, es preciso, en primer lugar, realizar un somero recorrido por la vinculación existente entre la nacionalidad y la ciudadanía. En segundo lugar, será necesario explicar cómo la ciudadanía democrática vehicula la integración social de los inmigrantes y con ello, al mismo tiempo, canaliza la integración dentro de la sociedad de acogida de la pluralidad cultural que pueden transmitir. Sólo así, finalmente, será posible en tercer y último lugar esbozar los distintos límites que se deducen para aquel multiculturalismo de esa misma ciudadanía democrática y de la adquisición de la nacionalidad. II. Ciudadanía democrática e integración social a través del ejercicio multicultural de los derechos fundamentales 1. Los diversos grados de ciudadanía democrática Aunque no existe una definición legal de ella, la ciudadanía moderna puede ser concebida a la luz de su uso por los textos constitucionales contemporáneos como el instrumento que permite, a través del ejercicio de los derechos fundamentales – sobre todo los de carácter político-participativo –, una praxis cívica funcionalmente orientada a preservar el marco constitucional que la hace posible y la pluralidad cultural de los sujetos y los grupos que se hallan sujetos a él, entre los que se encuentran tanto los nacionales como los extranjeros inmigrantes19. Por tanto, si la ciudadanía debe ser la expresión de la plena pertenencia del individuo a la comunidad20, su desarrollo jurídico ha de estar totalmente vinculado al principio democrático y a la maximización de las facultades a cuyo través se articula dicha praxis cívica. La ciudadanía no se identifica, pues, con la nacionalidad21, ni la 19 Cfr. Habermas (1994), pp. 642 – 643. Crítico con esta concepción por el carácter unidireccional de la integración social (del nuevo miembro en la sociedad de acogida, pero no a la inversa), cfr. Lucas (2003), pp. 88 ss., que, en la línea de los teóricos del multiculturalismo, reclama un marco más amplio para la integración de los extranjeros que elimine la exigencia de patriotismo constitucional de Habermas. 20 Marshall (1992), p. 8. 21 Definida en el art. 2 del Convenio Europeo sobre nacionalidad de 6 de noviembre de 1997 (curiosamente ratificado por casi todos los países de a UE, pero no por España) como “ el

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requiere en todo caso, ni se orienta a la conservación de una identidad étnica mayoritaria (ciudadanía nacionalizada) o minoritaria (ciudadanías diferenciadas equivalentes), sino únicamente de una cultura política que, en un Estado constitucional democrático, es compatible con una pluralidad cultural individual y colectiva22. En efecto, la necesidad de estructurar democráticamente el ejercicio del poder de forma que no se formen grupos socialmente subordinados a otros y la progresiva humanización de los ordenamientos jurídicos estatales conforme a un ideal ético de persona digna23 han conducido a que los distintos textos constitucionales democráticos hayan extendido una buena parte de los derechos civiles y sociales a todas las personas que tengan contacto con el ordenamiento jurídico. Prueba de ello es, por ejemplo, que la libertad personal, ideológica o religiosa, pero también la atención sanitaria de carácter urgente, necesaria para la salvaguardia del derecho a la vida, o incluso el derecho a la educación básica (obligatoria y gratuita), no se vinculen a la posesión de la nacionalidad española, y se reconozcan a toda persona (ex arts. 15, 16, 17 y 27 CE), debido a su funcionalidad para facilitar la integración del individuo en las diversas esferas de comunicación social. Esta democratización de la ciudadanía tampoco implica, sin embargo, que a toda persona se le atribuyan los derechos políticos de participación (como el sufragio activo y pasivo en elecciones nacionales o el acceso a cargos y funciones públicas), sino que éstos permanecen parcialmente vinculados a los integrantes de una colectividad nacional24. De ahí que, a pesar de la presencia en casi todos los ordenamientos democráticos modernos de fórmulas de atribución de la soberanía a un sujeto colectivo nacional, lo cierto es que no todos los derechos de participación política en sentido amplio aparecen atribuidos únicamente a los miembros de una colectividad definida por la nacionalidad. Así, en el ordenamiento español, por ejemplo, los derechos de asociación, reunión, sindicación o huelga son derechos de titularidad universal, es decir, corresponden tanto a extranjeros como a españoles ex constitutione25. Inversamente, la mayoría de los ordenamientos, incluido el español (arts. 13.2 y 23 CE), suelen optar respecto de los derechos de participación política por un sistema mixto que, partiendo de su inicial atribución (derecho de sufragio en las elecciones vínculo legal entre la persona y el Estado que no hace referencia al origen étnico de la persona”. 22 Habermas (1994), pp. 642 – 643. 23 Ambos paradigmas argumentativos como fundamento de la extensión de derechos a los inmigrantes quedan reflejados respectivamente (para los EE.UU.) en Fiss (1999), pp. 3 ss. y (para Alemania) en Preuss (1999), pp. 52 ss. 24 Aunque así se pida desde diversos sectores doctrinales, no solo en relación con los extranjeros residentes legales (residentes permanentes) sino también en relación con los ilegales; como propuestas más atrevidas en este sentido, cfr. Rubio-Marín (2000), pp. 235 ss. y Presno Linera (2003), pp. 45 ss., 62 ss. 25 STC 115/1987, de 7 de julio, FF.JJ. 28 y 38; y las recientes STC 236/2007, de 7 de noviembre de 2007, FF.JJ. 38-98 y STC 259/2007, de 19 de diciembre de 2007, F.J. 78.

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al Parlamento nacional/federal o a los Parlamentos estatales/autonómicos/regionales) únicamente a los nacionales26, al mismo tiempo permiten bajo ciertas condiciones la participación de los extranjeros en las elecciones en las que la entidad de la decisión política es más reducida (elecciones municipales) o tiene un ámbito territorial supranacional (elecciones al Parlamento Europeo), y del mismo modo reservan para los ciudadanos nacionales únicamente el acceso a las funciones públicas que implican ejercicio de jurisdicción, permitiendo a los inmigrantes distintas fórmulas de acceso a las funciones y empleos públicos que no la conlleven, en función de sus diverso origen nacional27. En esta misma línea de integración a través de la participación política de los extranjeros inmigrantes se orienta la noción extensa de ciudadanía europea o “ciudadanía cívica” de la que habla el Dictamen 593/2003, de 14 de mayo de 2003, del Consejo Económico y Social Europeo, sobre la “Incorporación a la ciudadanía de la Unión Europea”, en el que se aboga por construir la ciudadanía europea en torno al criterio de la residencia y no al de la nacionalidad de un Estado miembro, a partir de la atribución a los extranjeros no comunitarios residentes en el territorio de la Unión de derechos de ciudadanía (libertad de establecimiento y de circulación, acceso a archivos y registros o al Defensor del Pueblo Europeo, etc…) ya existente en los Tratados de la Unión. De ahí que no quepa identificar la ciudadanía monolíticamente con el derecho de sufragio, dado que existen otros mecanismos de participación política y social en general, pero tampoco quepa identificarla con la totalidad de los derechos civiles, políticos y sociales que los textos constitucionales atribuyen a la persona, dado que no todas las personas son titulares de todos los derechos en las mismas condiciones, sino que existen diversos grados o niveles de ciudadanía según la intensidad de la participación del individuo en la comunidad política en la que está integrado. De estos grados de ciudadanía el que corresponde a los ciudadanos nacionales es, en principio, el más intenso, dado que les permite ejercer la plena ciudadanía política28, y el de los ciudadanos extranjeros no comunitarios que no residen en España es el menos intenso, dado que les permite ejercer ciertos derechos civiles sólo cuando esporádicamente entran en contacto personal con el poder público español en actuaciones extraterritoriales de éste. 26 Excepciones a esta regla son, por ejemplo, los ordenamientos de Chile, Uruguay o Nueva Zelanda, donde los extranjeros residentes poseen el derecho de sufragio también en las elecciones al Parlamento nacional, aunque en alguno de ellos, como Uruguay, se condicione a cierta asimilación cultural por parte de los inmigrantes, a los que se requiere poseer “buena conducta, familia constituida en la República, capital en giro o propiedad en el país, o profesión de alguna ciencia, arte o industria” (art. 78 CU). 27 En este punto, véase el art. 10.2 de la Ley Orgánica 4/2000, de 11 de enero, sobre derechos y libertades de los extranjeros y su integración social, que ha extendido en el ámbito de la contratación laboral por parte de las Administraciones Públicas a los inmigrantes no comunitarios, ni asimilados, el mismo régimen jurídico que se deduce del Derecho de la Unión Europea tal y como lo ha interpretado la jurisprudencia comunitaria (Sentencia del Tribunal de Justicia de la Unión Europea de 30 de septiembre de 2001, C405/01 – Caso Colegio de oficiales de la marina mercante española –). 28 A una conclusión parecida llega Bosniak (2006), pp. 34 – 35.

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Por todo lo anterior, la nacionalización de la ciudadanía, que condujo en el siglo XIX a circunscribir la capacidad de participación en el ejercicio de la soberanía únicamente a los individuos pertenecientes a un colectivo29, la nación, definido la mayor parte de las veces étnico-culturamente conforme a parámetros que poco o nada tienen que ver con su mayor o menor sujeción al ordenamiento jurídico, es uno de los aspectos que presenta mayores dificultades de compatibilidad con el principio democrático y con sus presupuestos (libertad, igualdad y pluralismo)30, mucho más vinculado (aunque no idéntico) con el elemento subjetivo de la voluntad de los individuos de habitar en un determinado lugar y, con ello, sujetarse a las disposiciones -mayoritariamente territoriales- de un ordenamiento jurídico, en cuya elaboración deben poder participar; e inversamente está desvinculado de una homogeneidad cultural31 limitativa del libre desarrollo de la personalidad (art. 10.1 CE). Una adecuada compatibilización entre el principio democrático y la necesidad de definir un colectivo al que imputar la soberanía a través de la nacionalidad32 requiere reconstruir esta última desde una perspectiva democrática, puesto que ello permite integrar al máximo número de “súbditos” en el ejercicio de la ciudadanía política. Ello exige alejarse de un concepto objetivo de nación y aproximarse a un concepto subjetivo en el que el factor determinante lo constituya la igual sujeción al ordenamiento jurídico de quienes han expresado con la residencia su consentimiento a un hipotético pacto social fundacional. Esta recíproca civilización de la nacionalidad permitiría compensar la decimonónica nacionalización de la ciudadanía derivada de la casi constante atribución constitucional de la soberanía a un sujeto colectivo nacional.

29 Muy ilustrativas son las palabras de Isensee (1989), p. 711, opuestas a que se contraponga “el extranjero plenamente integrado en la sociedad al nacional que vive desde hace mucho en el extranjero y se ha alejado de su patria“, a la que conduciría una lógica democrática que no parte de un pueblo homogéneo soberano, como la que propone Bryde (1995): pp. 307 ss. 30 Un ejemplo de las consecuencias de la errónea etnificación y nacionalización de los derechos fundamentales que conforman la ciudadanía es el razonamiento del Tribunal Constitucional español en la STC 13/2001, de 29 de enero, F.J. 98 (caso Williams-Lecraft), en la que, apartándose de buena parte de su jurisprudencia anterior sobre la prohibición de discriminación por razón de raza, afirma que una persona de negra presenta una mayor probabilidad de no ser española que otra caucasiana, y ello justifica un trato diferenciado a la hora de verse sometido a un control policial de identidad realizado para controlar la inmigración ilegal. Este caso le ha valido a España la reciente condena del Comité de Derechos Humanos de Naciones Unidas por violación de la prohibición de discriminación por raza establecida en el art. 12 del Pacto Internacional de Derechos Civiles y Políticos (Dictamen del Comité de Derechos Humanos de la ONU de 20 de julio de 2009 sobre la comunicación N8 1493/2006). 31 Cfr. Habermas (1994), pp. 642 – 643. 32 Alaez Corral (2005), pp. 133 – 134.

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2. Integración social a través del ejercicio multicultural de los derechos fundamentales De lo anterior cabe deducir que, en la medida en que el ejercicio de derechos fundamentales permita integrar socialmente a inmigrantes procedentes de ámbitos culturales distintos del de la sociedad de acogida, se abre la puerta al multiculturalismo externo derivado de las culturas de origen de aquéllos, es decir, la libertad y el pluralismo que expresan los derechos fundamentales abren la puerta a la necesaria coexistencia de diferentes culturas33. Los inmigrantes – igual que los nacionales – no tienen circunscrito el ejercicio de la mayoría de sus derechos fundamentales a la realización de un objeto de protección iusfundamental culturalmente asimilado a las costumbres o pautas culturales mayoritarias, sino que la apertura y abstracción constitucional, consustanciales al principio democrático, les permiten su ejercicio multicultural por encima de aquéllas34. Allí donde no se ha distinguido entre ciudadanos nacionales y ciudadanos extranjeros a la hora de atribuir la titularidad de ciertos derechos fundamentales se sigue que, del mismo modo que la jurisprudencia constitucional española ha proscrito al legislador que los desarrolle o regule su ejercicio (arts. 81 y 53 CE) utilizar la nacionalidad como criterio diferencial para su ejercicio, especialmente cuanto más vinculados estén esos derechos a la dignidad de la persona35, tampoco cabría exigir directa o indirectamente de los inmigrantes su asimilación a la cultura mayoritaria para permitirles o facilitarles la integración social que se deriva del ejercicio de dichos derechos, sino que ésta se debe producir en un marco de recíproca acomodación intercultural entre las culturas minoritarias que aquéllos puedan desarrollar y la cultura mayoritaria de la sociedad de acogida, tal y como pretende al Plan estratégico de ciudadanía e integración 2011 – 201436. De hecho, la definición del objeto y contenido de la mayor parte de los derechos fundamentales se suele hacer, en las democracias constitucionales, desvinculada de una predeterminación cultural concreta y permite, por tanto, el ejercicio de los mismos alineado o desviado de las pautas culturales mayoritarias37. Ello cuestiona, al menos en el ordenamiento español, la constitucionalidad de algunas variantes de los llamados contratos o cursos obligatorios de integración, en 33

Como sostiene Waldron (2007), pp. 144 ss., la previsión de espacios de libertad y de tolerancia – que es lo que hacen los derechos fundamentales en ordenamientos con Constituciones formales – permite a los sistemas legales adaptarse y acomodar las diferencias culturales. 34 Cfr. los “Principios básicos comunes para la política de integración de los inmigrantes en la Unión Europea” (principio 88), aprobados por el Consejo de la Unión Europea de Ministros de Justicia e Interior, de 19 de noviembre de 2004, respecto de la Carta de Derechos Fundamentales de la Unión. 35 Cfr. STC 236/2007, de 7 de noviembre, FF.JJ. 38 a 98. 36 Que califica la integración como un “proceso bidireccional de adaptación mutua” (p. 94). 37 Respecto de la Constitución alemana, por ejemplo, cfr. Uhle (2004), pp. 309 – 311.

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la medida en que exijan al ciudadano extranjero renunciar a lícitas opciones multiculturales del ejercicio de sus derechos fundamentales a cambio de obtener la extensión de otros derechos fundamentales de titularidad inicial solo de los nacionales, como la libre entrada en el país y la libertad de residencia, o el derecho de sufragio al parlamento nacional, subsiguiente a la naturalización. Las democracias modernas, especialmente las que no son militantes, no pueden limitar la libertad individual y el pluralismo que expresa el ejercicio de los derechos fundamentales en aras de preservar unas condiciones socio-culturales en las que aquéllas se han gestado sin, al hacerlo, destruir los mismos elementos que las caracterizan e identifican. De existir una obligación, más bien sería la contraria, la de preservar la pluralidad social, a tenor la garantía constitucional del pluralismo político como valor superior del ordenamiento jurídico, consustancial al principio democrático (art. 1.1 CE), siempre, claro está, que dicho pluralismo no vaya en contra de sus propios elementos identitarios, entre los que se encuentra el respeto a los derechos fundamentales de los demás, que también son expresión de su dignidad como personas (art. 10.1 CE) y, con ello, de los valores superiores de libertad e igualdad (art. 1.1 CE)38. En este sentido, la cuestión clave es la de si el ordenamiento constitucionaldemocrático permite un multiculturalismo externo ilimitado, que coloque a las culturas minoritarias procedentes de la inmigración en posición de igualdad o en una posición privilegiada con respecto no ya a una particular cultura mayoritaria, sino a la cultura constitucional-democrática que hace posible la existencia del pluralismo cultural. Como ya se ha dicho antes, la ciudadanía que hace posible ese multiculturalismo externo es una ciudadanía democrática, cuyo máximo grado (ciudadanía político-participativa plena) requiere (aún) la posesión de la nacionalidad. De una y otra, es decir, del carácter democrático de la ciudadanía y de la necesidad de adquirir la nacionalidad para disfrutar de la plena ciudadanía política, se desprenden en casi todos los ordenamientos democráticos ciertas limitaciones para el desarrollo de ese multiculturalismo externo, que grosso modo podemos identificar con la necesidad de respetar y/o comprometerse positivamente con los valores y principios del Estado constitucional-democrático, es decir, con una asimilación de la cultural democrática39. Ello es tanto más así en la medida en que el Derecho forma parte de un sistema cultural40 y refleja una determinada identidad 38 Sobre el pluralismo como garantía de la igualdad en la diferencia, cfr. Rosenfeld (2007), pp. 156 ss. 39 A los que el Plan estratégico de ciudadanía e integración (p. 95) suma los valores entonces recogidos en el art. I-2 del non nato Tratado por el que se establecía una Constitución para Europa, y hoy enunciados en el art. 2 del Tratado de la Unión Europea con la siguiente fórmula: “La Unión se fundamenta en los valores de respeto de la dignidad humana, libertad, democracia, igualdad, Estado de Derecho y respeto de los derechos humanos, incluidos los derechos de las personas pertenecientes a minorías. Estos valores son comunes a los Estados miembros en una sociedad caracterizada por el pluralismo, la no discriminación, la tolerancia, la justicia, la solidaridad y la igualdad entre mujeres y hombres”. 40 Sobre el derecho como cultura, cfr. Mezey (2001), pp. 35 ss.

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cultural (democrática) en sus disposiciones constitucionales, especialmente en las relativas a los derechos fundamentales y a los principios y valores fundamentales, de los que, sin duda, forma parte la apertura al pluralismo cultural41. En efecto, cuando el ordenamiento jurídico como sistema de comunicación social se democratiza, y utiliza los derechos fundamentales como herramientas de preservación de su autorreferencialidad y positividad, permite la introducción y desarrollo en el mismo de nuevas culturas, imponiéndoles el límite funcional de ajustarse en su desarrollo a sus propias pautas comunicativas, esto es, desarrollarse por medios legales, por lo menos en las democracias procedimentales en las que no hay límites materiales absolutos a la reforma constitucional. La cultura jurídicademocrática se convierte – por el valor coercitivo del Derecho – no solo en garantía de la producción y coexistencia de diversas subculturas, mayoritarias o minoritarias, sino también en un límite a esas subculturas42, puesto que éstas bien no podrán prescindir del marco cultural democrático de referencia que la Constitución establece, o bien sólo podrán hacerlo a través de una cultura antidemocrática contraria tan mayoritaria como para, sirviéndose del procedimiento democrático, superar las barreras de la reforma constitucional con mayorías cualificadas43. Las “democracias militantes”, dotadas de cláusulas de intangibilidad, van más allá incluso e identifican en estos límites materiales absolutos a la reforma constitucional44 una identidad cultural estática dentro del sistema jurídico45, constriñendo mucho más la reciprocidad en en la acomodación multicultural. Si dejamos a un lado estas cláusulas de intangibilidad como límite al multiculturalismo, el resto de límites constitucional-democráticos a la acomodación intercultural se pueden agrupar entorno a cuatro ámbitos que se analizarán seguidamente con un poco más de detalle: los límites derivados genéricamente de las condiciones constitucionales de ejercicio de los derechos fundamentales; los derivados de la presencia de un ideario democrático como ideario educativo constitucional; los derivados de las condiciones legales de adquisición de la nacionalidad por parte de los inmigrantes; y finalmente los derivados de las concretas políticas de derechos fundamentales que las mayorías parlamentarias 41

Sobre ello en detalle, cfr. Uhle (2004), pp. 351 – 352. En este mismo sentido, en conjunto, Raz (1998), p. 202. 43 No se trata de contraponer la democracia como valor, como propone Sartori (2001), pp. 54 – 55, sino como procedimiento, por lo menos en los ordenamientos, como el español, en los que no hay una defensa militante de la democracia (cfr. STC 48/2003, de 12 de marzo, FFJJ 78–108). 44 Con la consiguiente clausura de la capacidad cognitiva del sistema jurídico respecto de su entorno social, o lo que es lo mismo, con la consiguiente incapacitación del sistema jurídico para interiorizar esquemas culturales que no se correspondan con la cultura presente en la cláusulas de intangibilidad; sobre esta disfunción de las cláusulas de intangibilidad para la autorreferencialidad y positividad del sistema jurídico, cfr. Alaez Corral (2000), pp. 405 ss. 45 Sobre la positivización de esta identidad cultural intangible en la Constitución alemana de 1949, cfr. Uhle (2004), pp. 109 ss. 42

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quieran llevar a cabo en cada momento. Aunque todos ellos pueden estar presentes en cualquier ordenamiento constitucional-democrático, trataré de concentrar las referencias ejemplificativas en el derecho positivo español. III. Límites derivados de las condiciones constitucionales de ejercicio de los derechos fundamentales El primer ámbito en el que se plasma la búsqueda de un equilibrio entre la acomodación intercultural y la asimilación del marco constitucional-democrático tiene que ver con el hecho de que el multiculturalismo externo se encuentra limitado por los propios límites y delimitaciones46 que cada ordenamiento constitucional le ha impuesto al ejercicio, multicultural o no, de los derechos fundamentales. Estos límites al multiculturalismo externo dependen tanto de la concreta redacción de los enunciados definitorios del objeto, contenido y límites de cada derecho fundamental, como también de la configuración de los principios estructurales de cada texto constitucional, puesto que de los mismos se deduce la teoría constitucionalmente adecuada que ha de servir como parámetro o guía de su interpretación47, y consiguientemente influir en el multiculturalismo que su ejercicio puede desplegar. Esta teoría constitucionalmente adecuada de los derechos fundamentales se sirve de toda una panoplia de conceptos dirigidos a conciliar una igual ciudadanía democrática con las diferencias derivadas del ejercicio multicultural de los derechos, tales como la cláusula del contenido esencial, la noción de garantías institucionales, la eficacia horizontal y no sólo vertical de los derechos, su dimensión objetiva, el principio de proporcionalidad, etc …, cuya obligatoriedad jurídico-constitucional se configura con sutiles matices de forma variable en cada concreto ordenamiento constitucional. En este mismo sentido, a pesar de que se pueda hablar de unas tradiciones y principios constitucional-democráticos comunes a algunos Estados (arts 2 y 6.3 TUE respecto de los Estados miembros de la Unión Europea), y de que todos los Estados de la Unión Europea estén vinculados por el CEDH tal y como lo interpreta auténticamente el TEDH, lo cierto es que estos instrumentos varían, incluso entre ordenamientos democráticos, en la medida en que la teoría constitucional ínsita en unos y otros textos constitucionales presenta ligeras diferencias derivadas de su distinta tradición nacional. Así, por ejemplo, no resultarán los mismos límites para el ejercicio multicultural de los derechos fundamentales de la delimitación de estos últimos en una democracia militante como la alemana (arts. 18.III, 21.II y 79.III GG), que en una democracia procedimental como la española (arts. 6 y 168 CE); en 46

Sobre la diferencia entre unos y otras, cfr. Villaverde Menéndez (2004), pp.141 ss, Sobre la necesidad de extraer de cada texto constitucional una teoría constitucionalmente adecuada de los derechos fundamentales que sirva de guía (jurídico-positiva) para su interpretación, véase Böckenförde (1993), pp 66 – 71; y para España, siguiendo a Böckenförde, Bastida Freijedo (2004), pp. 77 ss. 47

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un Estado laicista como el francés (art. 1 CF), que en Estado aconfesional o de neutralidad positiva como el español (art. 16.3 CE), o en un Estado confesional como el noruego (art. 2 CN); en un Estado que reconoce a los padres un derecho/ obligación natural a la educación de sus hijos como Italia (art. 20 CI) o Alemania (art. 7 GG), que en un Estado, como el español, que no lo reconoce y únicamente establece la obligación iusfundamental de los padres de prestar asistencia de todo orden a sus hijos (art. 39.2 CE). Éstas y muchas otras diferencias marcarán el concreto punto de equilibrio entre acomodación intercultural y asimilación de una determinada cultura constitucional-democrática que se desprenda de las condiciones constitucionales de ejercicio de los derechos fundamentales48. Esta misma necesidad de equilibrio entre acomodación intercultural y asimilación de la cultura constitucional-democrática es especialmente importante en lo relativo a las relaciones entre la minoría y la mayoría cultural tanto en el interior del grupo (del individuo como minoría frente al grupo cultural minoritario) como en su exterior (del grupo minoritario frente a la cultura social mayoritaria)49. En este sentido, aunque la realización y desarrollo de la personalidad del individuo tienen lugar no sólo aisladamente sino también en los grupos en los que se integra (art. 9.2 CE), lo cierto es que el valor fundamental sobre el que se apoyan los ordenamientos constitucional-democráticos, incluido el nuestro (art. 10.1 CE), es la dignidad de la persona. De ahí que el multiculturalismo externo derivado del disfrute por parte de los inmigrantes de sus derechos fundamentales sólo quepa al servicio de la libertad e igualdad del individuo dentro y fuera de los grupos culturales en los que se quieran integrar, no para limitar o aniquilar la dignidad o los derechos de sus integrantes en aras de la supervivencia de una determinada minoría cultural a la que pertenecen50. Por la misma razón, la dignidad de la persona que opera como límite a ciertas prácticas iusfundamentales multiculturales ha de ser construida a partir del entendimiento que de la misma tenga cada persona afectada, no del entendimiento que de esa dignidad tenga la mayoría social51. Constitucionalmente hablando, no cabe, pues, oponer los derechos de los grupos culturales (minoritarios o mayoritarios) frente a los derechos del individuo, sino que los derechos de cualesquiera 48

Tampoco cabe acudir a los instrumentos internacionales de protección de los derechos humanos, en especial al CEHD y su interpretación por el TEDH, como fuente clarificadora y homogeneizadora de los límites al ejercicio multicultural de los derechos fundamentales, porque su redacción deliberadamente abierta a multitud de Estados signatarios, con pluralidad de sistemas constitucionales muy distintos entre sí, hace que los mismos, a pesar de su eficacia interpretativa ex art. 10.2 CE, posean sólo el carácter de un estándar mínimo adaptable a la configuración constitucional que cada derecho haya obtenido en cada texto constitucional; sobre ello, véase Alaez Corral (2008), pp. 19 – 20. 49 Distinción basada en la de Kymlicka (1995), pp. 35 ss. 50 Cfr. el Dictamen del Comité de Derechos Humanos de la ONU en el caso Sandra Lovelace v. Canada, Communication No. R.6/24, U.N. Doc. Supp. No. 40 (A/36/40) at 166 (1981). 51 Cfr. Sentencia del Tribunal Europeo de Derechos Humanos K. A. et A. D. contre la Belgique de 23 de mayo de 2002.

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grupos son un instrumento al servicio de los derechos del individuo, cuya garantía de dignidad es la base del ordenamiento constitucional. Como señala Habermas desde una perspectiva filosófico-política, los derechos fundamentales protegen la autonomía individual tanto en su vertiente privada como en su vertiente pública, por lo que no se puede decir que los mismos sean incompatibles con una política de reconocimiento de libertades colectivas; al contrario, requieren dicha política para proteger la integración del individuo en los contextos sociales en los que se forma su identidad, pero sobre la base de que cada individuo conserva el derecho a que se respete su diferencia, producto de su autonomía privada y pública, con el límite tanto individual como colectivo del respeto a la cultura política democrática que viene de la mano del orden constitucional52. Precisamente porque en las democracias occidentales los derechos fundamentales tienen eficacia también en las relaciones privadas, no cabe ejercicio colectivo de un derecho fundamental en perjuicio de los derechos fundamentales de un miembro de dicho colectivo que no ha consentido dicha limitación y, además, será preciso tener muy en cuenta los condicionantes fácticos de la formación de su voluntad individual. Semejante criterio nos puede servir, por ejemplo, de guía para dar respuesta jurídicoconstitucional tanto a cuestiones de multiculturalidad relativamente sencillas (ablaciones, matrimonios forzados, poligamia), como también a otras más complejas (limitación de los derechos de un sexo en el interior de grupos asociativos, limitación del ejercicio de derechos por parte de menores en el seno de la relación familiar, etc…). En este sentido, si bien los derechos fundamentales son garantías constitucionales de la minoría frente a la mayoría, y ello requiere una cierta neutralidad ideológica y religiosa del poder público, lo cierto es que nuestro ordenamiento constitucional no es absolutamente neutral desde un punto de vista de sus preferencias culturales (lo que incluye las ideológicas y las religiosas) a la hora de delimitar y limitar los derechos fundamentales. No lo es, de un lado, porque la definición constitucional del objeto y contenido de cada uno de los derechos fundamentales (piénsese, por ejemplo, en la definición de lo que sea un símbolo religioso) responde a un determinado patrón filosófico-político (liberal-democrático), imbricado ya en la cultura social dominante y que se refleja en la teoría constitucionalmente adecuada que le sirve de criterio interpretativo53. Así, por ejemplo, la exigencia constitucional de plena igualdad jurídica de hombre y mujer en el matrimonio (art. 32 CE) excluye los matrimonios poligámicos; el expreso derecho a no ser obligado a declarar sobre las propias creencias (art. 16.2 CE) aporta un refuerzo a la vertiente individual de la libertad religiosa, que no está presente en otros ordenamientos; o en fin, la ausencia de un derecho natural de los 52 Cfr. Habermas (1994), pp. 113 ss. En un sentido parecido véase Doppelt (2001 – 2002), pp. 670 ss. En contra, sin embargo, Kymlicka (1995), pp. 59 ss., con el argumento de que no hay cultura política sin la preeminencia de una cierta cultura étnica socialmente mayoritaria, lo que implicaría la desprotección parcial de las minorías étnicas. 53 Cfr. también respecto de Alemania Uhle (2004), pp. 347 – 350.

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padres a la educación y cuidado de sus hijos, titulares de los derechos fundamentales (art. 39 CE), refuerza también la autonomía del individuo menor de edad respecto de su asimilación cultural dentro del grupo familiar y limita los poderes de la patria potestad. De otro lado, el ordenamiento jurídico tampoco es neutral porque, como se verá después, los poderes públicos pueden, en el ejercicio de sus competencias constitucionales, adoptar políticas que inciden en el disfrute de la libertad e igualdad de los individuos y los grupos en los que se integran (art. 9.2 CE), lo que implica una toma de postura que, aunque en principio puede beneficiar los intereses culturales tanto de los grupos sociales mayoritarios como minoritarios, al ser competencia de los representantes de la mayoría social, previsiblemente se inclinará por los intereses de los primeros. Puede que incluso el propio texto constitucional haya establecido esa diferencia a través de la mención expresa de una confesión religiosa (la Iglesia Católica) y no de las demás con las que deben cooperar los poderes públicos (art. 16.3 CE). Ahora bien, dicho lo anterior, deben distinguirse los condicionantes derivados de una interpretación de los derechos fundamentales conforme a la dogmática constitucional democrática, de aquellos otros, ajenos a esta cultura política democrática, que pretenden circunscribir el ejercicio de los derechos a las prácticas asimiladas a la cultura social mayoritaria. Por lo que se refiere al ordenamiento español, a la hora de regular el ejercicio de todos los derechos fundamentales (art. 53.1 CE) o de desarrollar los derechos recogidos en la Sección 1 del Cap. 28 del Tít. I CE (art. 81 CE), el poder público no puede discriminar negativamente el ejercicio multicultural de los derechos fundamentales en favor de su ejercicio asimilado a las pautas culturales mayoritarias, mucho menos si ello se encuentra textualmente desvinculado del objeto, contenido y límites de cada derecho fundamental, es decir, no puede utilizar la política de extranjería como vía para, mediante limitaciones no justificadas constitucionalmente del ejercicio multicultural de los derechos fundamentales, consolidar una sociedad culturalmente homogénea. Ello se apoya en tres elementos presentes en la regulación constitucional española de los derechos fundamentales: primero, en la existencia de muy pocos condicionantes culturales expresos al su ejercicio; segundo, en la inexistencia de una reserva general para la limitación de los derechos fundamentales con la finalidad de proteger bienes o valores de rango infraconstitucional como podrían ser los integrantes de una cultura social mayoritaria, y la correlativa existencia de muy pocos derechos con una específica reserva de ley para semejante limitación; y tercero y último, en la presencia de una genérica obligación de maximización de la libertad e igualdad de los individuos y los grupos en los que éstos se integran, que debería permitir reforzar la protección de los derechos fundamentales ejercidos por los integrantes de culturas minoritarias allí donde se pueda dar una situación de preeminencia de la cultura mayoritaria que interfiera en el libre ejercicio de sus derechos por parte de los integrantes de la cultura minoritaria, pues la promoción

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del pluralismo es un elemento de la cultura democrática identificativa del sistema constitucional54. No cabe, pues, en nuestro sistema constitucional una política de inmigración basada en la asimilación cultural que exija a los extranjeros que quieran residir en nuestro país más que el respeto a las condiciones constitucionales y a los límites constitucionalmente admisibles para el ejercicio de sus derechos fundamentales (art. 9.1 CE), pero nunca una decimonónica orientación de dicho ejercicio iusfundamental a las pautas culturales mayoritarias de la sociedad de acogida, como ambiguamente parece sugerir alguna propuesta de contrato de integración o algunas interpretaciones de la exigencia de suficiente integración en la sociedad española para la adquisición de la nacionalidad. Semejantes condicionamientos culturales del ejercicio de los derechos fundamentales, tampoco serían conformes con la restrictiva interpretación que ha dado el Tribunal Constitucional español al papel del legislador respecto de la configuración de los derechos fundamentales de los extranjeros ex art. 13 CE, condicionado por la voluntad constitucional de que el contenido esencial de ciertos derechos -tanto más cuanto más vinculados estén a la dignidad de la persona- se disfrute en idénticas condiciones por españoles y extranjeros, residentes o no residentes, legales o ilegales55. Del mismo modo que, por ejemplo, no es constitucionalmente legítimo exigir que el ejercicio del derecho de manifestación se realice únicamente con ciertas finalidades, ni se puede condicionar su acceso a cargos o funciones públicas al ejercicio de otros derechos, como la libertad de elección de profesión u oficio, desvinculado de la función pública a ejercer (v. gr. excluyendo a los licenciados universitarios del concurso a un puesto de administrativo por su sobrecualificación), tampoco cabe condicionar culturalmente el ejercicio de los derechos fundamentales por parte de los extranjeros bajo la amenaza de no concederles la extensión de un derecho fundamental inicialmente sólo atribuido a los españoles, como el derecho de entrada en el territorio nacional, pues ello implicará la lesión del derecho fundamental condicionado, en tanto principio objetivo que impregna todo el ordenamiento jurídico (dimensión objetiva), así como de la prohibición de arbitrariedad de los poderes públicos (art. 9.3 CE).

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Cfr. Uhle (2004), pp. 436 ss. Con toda claridad la STC 236/2007, de 7 de noviembre de 2007, F. J. 48: “… la libertad del legislador se ve asimismo restringida por cuanto las condiciones de ejercicio que establezca respecto de los derechos y libertades de los extranjeros en España sólo serán constitucionalmente válidas si, respetando su contenido esencial (art. 53.1 CE), se dirigen a preservar otros derechos, bienes o intereses constitucionalmente protegidos y guardan adecuada proporcionalidad con la finalidad perseguida”. 55

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IV. Límites derivados del ideario educativo constitucional como mecanismo de asimilación a la cultura democrática La educación es uno de los mejores cauces para lograr la integración social de los individuos, especialmente los menores de edad, y por tanto la asimilación de la cultura democrática y al mismo tiempo la recíproca adaptación al pluralismo cultural, tal y como ha puesto de relieve la Declaración de los Ministros de Educación de los Estados miembros del Consejo de Europa sobre educación intercultural, adoptada en Atenas el 12 de noviembre de 2003. En este sentido, que el modelo democrático previsto en la CE de 1978 sea el procedimental y no el alemán militante56, no obsta a que el texto constitucional haya tratado de preservar la cultura democrática como marco habilitador del multiculturalismo interno y externo. Una buena forma de conseguirlo es, sin duda, colocar los valores democráticos como inspiración positiva del sistema educativo, lo que les hará operar preventivamente como un límite al ejercicio multicultural de la ciudadanía57, minando con ello tanto el desarrollo de culturas antidemocráticas – pues no se renovarán los elementos culturales del grupo representativos de valores antidemocráticos o lo harán con mayor dificultad –, como su propia conservación – surgirán elementos culturales disidentes, impregnados por los valores democráticos, que continuarán conviviendo parcialmente dentro del grupo y contribuirán a darle una nueva forma democrática a su cultura originaria –58. Se trata de prevenir la formación o desarrollo de pautas culturales que sean contrarias al marco constitucional-democrático, y por tanto, favorecer en el mejor ámbito posible, el de la escolarización obligatoria de los menores de edad, la asimilación de esa cultura democrática por todos los individuos y los grupos en los que se integran, homogeneizando e identificando la comunidad solo a partir de unos valores fundamentales comunes, los democráticos59. Ello cuestiona, por ejemplo, la compatibilidad con un sistema liberal-democrático de prácticas culturales aislacionistas como la de los Amish, los proyectos educativos segregacionistas (racial o sexualmente), o incluso el denominado homeschooling sin la adecuada supervisión y homologación por parte de los poderes públicos, dado que todas ellas pueden oponerse a los valores democráticos, se entiendan éstos en un sentido militante o en un sentido procedimental. Es cierto que la garantía del derecho a la educación – y la correlativa obligación estatal de proveerla (art. 27.4 y 5 CE) – puede obedecer a más finalidades que la de preservar un sistema democrático del que forma parte el libre desarrollo de la 56

Cfr, STC 11/1981, de 8 de abril, F.J. 78; y STC 48/2003, de 12 de marzo, F.J. 78. Sobre la capacidad de los poderes públicos para modular la formación de las identidades de los grupos culturales en un Estado liberal-democrático, cfr. Spinner (1994), pp. 167 ss. 58 En un sentido parecido, Uhle (2004): pp. 424 ss. 59 Sobre esta función integradora de la escuela en Alemania, cfr. Langenfeld (2001), pp. 216 – 218. 57

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personalidad y los derechos fundamentales de los educandos, tales como la provisión de las condiciones necesarias para la igualdad de oportunidades de los individuos, o en fin la orientación de la sociedad desde sus miembros más moldeables al logro de ciertas finalidades60, pero todo ello o bien es instrumental o bien es secundario, y está subordinado a la finalidad de integración democrática del individuo en la sociedad. A este paradigma filosófico-político responde, sin duda, el art. 27.2 CE, que, dando una forma positiva e inspiradora – y no meramente negativa y limitativa –61 al conjunto de derechos fundamentales, principios y valores democráticos constitucionalmente garantizados, establece que “la educación tendrá por objeto el pleno desarrollo de la personalidad humana en el respeto a los principios democráticos de convivencia y a los derechos y libertades fundamentales”62. Las distintas facultades iusfundamentales a través de las cuales el art. 27 CE garantiza el derecho de todos a una educación en libertad – entre las que están libertades cuyo ejercicio multicultural es posible, como la libertad de enseñanza, la libertad de creación de centros docentes, o el derecho de los padres a elegir la formación religiosa y moral para sus hijos que esté de acuerdo con sus convicciones –, se encuentran delimitadas por el logro de dicho ideario educativo de la Constitución63. De ello resulta una doble vinculación jurídica64 : negativa, de un lado, en la medida en que deben respetar dicho ideario, no menoscabarlo y no oponerse materialmente al mismo; y positiva, de otro lado, en la medida en que las facultades iusfundamentales de padres, alumnos y centros escolares, así como las competencias educativas de los poderes públicos (curriculares, organizativas, planificadoras, inspectoras, financiadoras, etc…) deben estar orientadas en el ámbito educativo al logro de este ideario constitucional. La razón última de esta vinculación finalista del ejercicio de los derechos educativos a la realización de una educación cívico democrática65, excluyente de orientaciones contrapuestas o alejadas de la misma, quizás haya que verla en la extraordinaria importancia legitimadora que las democracias modernas depositan en la participación libre plural e igual de todos los sometidos al ordenamiento en los procesos de creación del mismo, que sólo es posible allí donde los individuos llamados a participar son conscientes desde su más temprana edad y se ejercitan en las reglas de juego democrático, los valores que las inspiran y los derechos fundamentales a través de 60

Sobre estas finalidades, cfr. Langenfeld (2001), pp. 215 y ss. Cfr, STC 5/1981, de 13 de febrero, F.J. 78-88 y STC 77/1985, de 27 de junio, F.J. 108. 62 Sobre dicho precepto, en general, véase Cámara Villar (1988), pp. 2166 ss. 63 Cfr. Aláez Corral (2008): pp. 25 ss. 64 Sobre este valor jurídico del ideario educativo constitucional, cfr. Cámara Villar (1988): pp. 2185 ss. 65 Esta vinculación democrático-funcional del ejercicio del derecho a la educación, impropia de una democracia procedimental como la nuestra, en la que la reforma de cualquier elemento del sistema constitucional es posible por expresa decisión constitucional (art. 168 CE) ha llevado a algún sector de la doctrina a considerar al art. 27.2 CE el único precepto constitucional en el que se expresa la construcción de una democracia militante; véase, Otto y Pardo (1985). 61

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los cuales aquéllos pueden vehicular dicha participación legitimadora del sistema66. El mandato constitucional de una “educación cívico democrática”67 sólo se puede realizar, pues, si se consideran la libertad de transmisión y adquisición de conocimientos (libertad de enseñanza), y las libertades educativas anejas de padres, alumnos y centros escolares privados, como elementos instrumentales para la adquisición de una formación cívica (derecho a la educación). Conscientes de lo anterior, el contrato de integración francés (art. L311 – 9 del Código de entrada y estancia de los extranjeros y del derecho de asilo), y el curso de integración alemán (§ 44.2 AufenthG alemana), por ejemplo, eximen a los extranjeros que estén en edad de escolarización obligatoria, de su integración republicana, es decir, de la obligación de adquirir una formación cívica y lingüística, puesto que los mismos son objeto de enseñanza obligatoria en los centros escolares. De igual modo, en España, también los inmigrantes en edad escolar obligatoria (menores de 6 a 16 años) deben cursar -al igual que los españoles- la asignatura “Educación para la ciudadanía”, (arts. 18.3, 24.3 y 34.6 de la Ley Orgánica 2/2006, de 3 de mayo, de Educación – LOE -), cuyo contenido curricular consiste, según el Real Decreto 1513/2006, de 7 de diciembre, y el Real Decreto 1631/2006, de 29 de diciembre, en la transmisión de los principios y valores constitucional-democráticos de la CE de 197868, sin perjuicio de que, además, esta educación en valores democráticos esté presente de forma transversal, como una finalidad implícita en el resto de las materias del currículo (arts. 1 y 2 LOE). V. Límites derivados de las condiciones de acceso a la nacionalidad como vía para el disfrute de una ciudadanía plena Otro de los límites al ejercicio multicultural de los derechos fundamentales por parte de los inmigrantes procede de las condiciones de asimilación cultural que los ordenamientos establecen para la adquisición de la nacionalidad, al amparo de la remisión constitucional del art. 11.1 CE. Nuestro Código Civil (CC) impone ciertas condiciones a los inmigrantes extranjeros que, tras un cierto tiempo de residencia en España (variable, según el art. 22 CC, en atención a diversas presunciones

66 Ya le atribuía esta función democrático-funcional al derecho a la educación expresamente Kelsen (1913), pp. 1 ss. 67 En Alemania se ha llegado a hablar de “democracia enseñable” parafraseando el concepto de “democracia militante”; cfr. Dittmann (1995), p. 71. 68 La constitucionalidad de los contenidos curriculares fijados por los Reales Decretos estatales mencionados, así como por los respectivos Decretos de las Communidades Autónomas, ha sido confirmada recientemente por tres STS, de 11 de febrero de 2009 (Sala 3a). Sobre ellas y sobre el problema de la existencia de una asignatura de educación cívica obligatoria, véase Aláez Corral (2009): pp. 24 ss.

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legislativas sobre el grado de asimilación político-cultural del inmigrante69) desean nacionalizarse y, con ello, acceder a grado máximo de ciudadanía democrática. En la línea de otros ordenamientos de nuestro entorno, el Código Civil español exige para la adquisición derivativa de la nacionalidad, además de un plazo relativamente largo de residencia en España, el conocimiento de la lengua castellana u otra lengua española cooficial (art. 22.4 CC genéricamente y art. 220.5 del Reglamento del Registro Civil –RRC- específicamente, en la línea del § 10.1.N8 6 y 7 de la Ley de Nacionalidad alemana (StAG), del art. 21 – 24 CC francés o de la Sec. 312 Immigration and Naturalization Act de los EE.UU.) y la prueba de su integración socio-cultural (art. 22.4 CC y art. 220.5 RRC, en la línea del art. 21 – 24 CC francés, y del test de nacionalización del § 10.2 StAG alemana y de los §§ 43 – 45 AufenthG alemana), que perfilan la construcción de un ente colectivo étnico-culturalmente homogéneo. También se requiere buen comportamiento cívico (art. 22.4 CC y art. 220.5 RRC, en la línea de los arts. 21 – 23 y 21 – 27 CC francés y del art. 36 del Decreto 93 – 1362, de 30 de desarrollo de esos artículos) y la no comisión de actos criminales (art. 22.4 CC genéricamente y art. 220.3 RRC específicamente, en la línea de los arts. 21 – 23 y 21 – 27 CC francés y del art. 36 del Decreto 93 – 1362, de 30 de desarrollo de esos artículos, del art. 10.1, Núm. 2, 3, 4 y 6 Ley austriaca de ciudadanía, de la Sec. 316 Immigration and Naturalization Act de los EE.UU., o del § 11 StAG alemana), a la búsqueda de una cierta homogeneidad político-cultural del sujeto colectivo de la nacionalidad. Sin embargo, el carácter procedimental y no militante de nuestra democracia explica que no se pueda exigir un nivel de conocimiento del sistema políticoconstitucional (como, por ejemplo, hace la Sec. 312 Immigration and Naturalization Act de los EE.UU.) o una lealtad política con el colectivo nacional (por ejemplo, la Sec. 316 Immigration and Naturalization Act de los EE.UU., y el § 10.1.N8 1 StAG alemana), pues, aunque el art. 23 a) CC exige prestar juramento de fidelidad al Rey y de obediencia a la Constitución y a las leyes, la jurisprudencia constitucional sobre el juramento de lealtad constitucional lo ha entendido como un mero ritual carente de contenido obligatorio adicional a la general obligación de respeto a la Constitución y al resto del ordenamiento jurídico que impone el art. 9.1 CE70. ¿Hasta qué punto son admisibles estas limitaciones culturales o políticas del ejercicio multicultural de los derechos fundamentales por parte de los inmigrantes que quieren nacionalizarse? En primer lugar, hay que indicar que el art. 2 del Convenio Europeo sobre Nacionalidad, firmado en Estrasburgo el 6 de noviembre de 1997, da a la nacionalidad una definición legal expresa y vinculante para los Estados parte (entre los que no está España), describiéndola como el vínculo legal entre una persona y un Estado que no hace referencia a su pertenencia a un grupo 69

Sobre ello en detalle, Aláez Corral (2006): pp. 166 – 168. Cfr. STC 122/1983, de 23 de diciembre, F.J. 58; STC 119/1990, de 21 de junio, FF.JJ. 48 ss.; STC 74/1991, de 8 de abril, FF.JJ. 48 y 58; y STC 48/2003, de 12 de marzo, F.J. 78. 70

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étnico. En segundo lugar, cabe decir que la constitucionalidad de estas exigencias de asimilación cultural o política, de nuevo, depende de la concreta configuración jurídico-constitucional que cada ordenamiento haya hecho de sus principios estructurales: así, no es la misma en democracias militantes como la alemana (art. 79.III, art. 21.II y art. 18.III GG), que en democracias procedimentales como la española (art. 6, art. 168 CE)71; ni en ordenamientos en los que los extranjeros tienen constitucionalmente reconocidos más derechos fundamentales que donde tienen reconocidos menos derechos; ni tampoco en ordenamientos internamente multiculturales y territorialmente descentralizados (como España) que en ordenamientos que pretenden una homogeneidad cultural interna y por ello se organizan centralizadamente (como Francia). En tercer lugar, se debe añadir que resulta más fácil justificar aquellos requisitos – como la posesión de unos mínimos conocimientos lingüísticos, necesarios para la comunicación con los poderes públicos, o la buena conducta cívica y la no comisión de actos criminales – que tienen una estrecha vinculación con la función constitucional y políticamente neutra de la nacionalidad de contribuir a la eficacia del ordenamiento estatal con la construcción de un pueblo o una nación de súbditos estables y permanentes72. Por el contrario, la asimilación cultural que requiere la prueba de “suficiente grado de integración en la sociedad española” (art. 22. 4 CC), y sobre todo de “adaptación al estilo de vida y a las costumbres españolas” (art. 220.5 RRC), pero también los test o cursos de asimilación cultural anglosajones o alemanes, se dejan justificar mucho menos desde el punto de vista de una configuración pluralista del principio democrático73. Dichas exigencias en ningún caso pueden sustentarse74, como, sin embargo, ha pretendido en algunas ocasiones nuestro Tribunal Supremo, en que el legislador tenga una competencia o poder soberano para la concesión de la nacionalidad75, en una presunta competencia discrecional (incluso política) de los poderes administrativo y/o judicial para rellenar conceptos jurídicos indeterminados como los de orden público o interés nacional76, ni tampoco en una presunta necesidad democrática de homogeneidad 71 Sobre la comparación entre el entendimiento del principio democrático en los dos ordenamientos, ya Otto y Pardo (1985), pp. 27 ss. 72 Como, por ejemplo, ponen de relieve la STS de 23 de septiembre de 2004, Sala 3a; la STS de 29 de octubre de 2004, Sala 3a; la STS de 11 de octubre de 2005, Sala 3a; la STS de 13 de septiembre de 2006, Sala 3a ; la STS de 9 de abril de 2007, Sala 3a o la STS de 4 de diciembre de 2007. 73 Cfr. Aláez Corral (2006), pp. 181 ss.; en un sentido opuesto, cfr. Wallrabenstein (1999): pp. 163 ss. 74 Así, en menor número de ocasiones nuestro Tribunal Supremo, como en la STS de 16 de febrero de 2004, Sala 3a; o en la STS de 22 de abril de 2004, Sala 3a 75 Véanse, entre muchas, la STS de 30 de noviembre de 2000, Sala 3a, o la STS de 12 de noviembre de 2002, Sala 3a. 76 Véanse la STS de 8 de febrero de 1999, Sala 3a, la STS de 1 de julio de 2002, Sala 3a; la STS de 17 de febrero de 2003, Sala 3; la STS de 17 de febrero de 2003, Sala 3a ; la STS de 17 de octubre de 2007, Sala 3a.

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cultural (de valores distintos de los derivados del principio democrático) del pueblo soberano. Desde el punto de vista del principio democrático, los requisitos para la naturalización solo se justifican en que la residencia legal haya tenido lugar de conformidad – tanto negativa como positivamente – con los principios y valores constitucional-democráticos, tal y como la CE de 1978 los ha garantizado77. Cualesquiera otras fundamentaciones asimilacionistas, distintas de la vinculada a la cultura constitucional-democrática, entrarían en contradicción con la supremacía de la CE de 1978 y con el mayor valor de la libertad, la igualdad, la justicia y el pluralismo político, como sus valores superiores, de los que son reflejo unos derechos fundamentales, mayoritariamente atribuidos en condiciones de igualdad a españoles y extranjeros, a través de los cuales éstos pueden desarrollar multiculturalmente su personalidad. Y menos aún, si se tiene en cuenta que la nacionalidad es la condición de titularidad y ejercicio de los derechos consustanciales a la ciudadanía política, puesto que semejante potestad discrecional o soberana afectaría a su capacidad jurídica iusfundamental y al desarrollo de su dignidad como personas. VI. Límites derivados del margen de decisión política que preside las políticas de derechos fundamentales El último grupo de limitaciones al multiculturalismo se deriva del margen de decisión política que tienen las mayorías parlamentarias y gubernamentales a la hora de desarrollar unas u otras políticas de derechos fundamentales, y que terminan siendo la expresión de las preferencias culturales mayoritarias. El multiculturalismo puede experimentar un postrero y decisivo límite precisamente como consecuencia de dicha posibilidad de fomentar o cooperar positivamente con la maximización del disfrute de unas u otras formas de ejercicio de los derechos fundamentales, derivada de su consideración como principios objetivos que inspiran el ordenamiento jurídico78, dependiendo de que dichas prácticas sean más o menos acomodadoras o más o menos asimilacionistas. Aquí sí que cabe constitucionalmente que los poderes públicos en ejercicio de sus competencias legislativa, reglamentaria o ejecutiva orienten positivamente (no mediante limitaciones sino mediante preferencias de optimización) la configuración de la sociedad hacia una mayor homogeneidad o heterogeneidad cultural, puesto que los fines constitucionales que las condicionan operan como normas finalistas (principios rectores de la política social económica, etc…) o como normas de principio (dimensión objetiva 77 Como se desprende muy correctamente de la STS de 14 de julio de 2004, Sala 3a y la STS de 19 de junio de 2008, Sala 3a, que convalidan la decisión administrativa de considerar la bigamia una prueba de la falta de acreditación de ese suficiente grado de integración en la sociedad española, en la medida en que la misma es reflejo de unos valores contrarios al principio de igualdad y la prohibición de discriminación por razón de sexo en el matrimonio, garantizado por los arts. 14 y 32 CE. 78 STC 25/1981, de 14 de julio, F.J. 58.

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de los derechos fundamentales) y dejan un amplio margen de decisión política al legislador democrático. Que opte por unas u otras se manifiesta en lo igualitaria o diferenciada que sea la regulación del régimen jurídico de ejercicio de los derechos por los grupos culturales. Estas limitaciones al desarrollo del multiculturalismo externo surgen tanto si el legislador se mantiene dentro de un entendimiento de la igualdad como identidad y trata de forma idéntica, mediante leyes generales, las situaciones en las que se encuentran los individuos y los grupos culturales, como si entiende la igualdad como diferencia y trata diferenciadamente las distintas posiciones en las que estima que se encuentran los individuos y los grupos culturales79. En el primer caso, porque la generalización al final responde a la percepción socialmente mayoritaria de que ciertas características son idénticas en los individuos y en los grupos y por ello merecen un tratamiento igual, lo que responde a un determinado patrón cultural mayoritario; en el segundo caso, porque la decisión acerca de si dos situaciones son culturalmente diferentes y merecen un trato diferenciado es competencia, en los Estados democráticos, de los Parlamentos representativos de la pluralidad social, que pueden decidir por criterios mayoritarios siempre que no se vea afectada la igualdad básica80, identificable con las condiciones constitucionales de ejercicio de los derechos fundamentales de la ciudadanía democrática. La intervención del Estado moderno en las relaciones sociales se ha demostrado no sólo como inevitable para eliminar los conflictos sociales derivados del choque entre individuos y culturas a la hora de ejercer sus derechos (Estado liberal), sino también como deseable para configurar la sociedad conforme a ciertos valores de justicia (Estado social), lo que incluye la posibilidad de intervención del Estado para maximizar el ejercicio, multicultural o monocultural, individual o colectivo, de los derechos fundamentales a través de distintas políticas, asociativas, tributarias, educativas, medioambientales, etc…81. Entre las medidas a adoptar82 no sólo se encuentran la articulación jurídico-constitucional de formas autogobierno (más habitual en el caso del multiculturalismo interno), o las medidas de protección jurídica de la conducta cultural de un grupo, tanto internamente frente a sus miembros como externamente frente a la mayoría social a través de la correcta limitación o delimitación de los derechos fundamentales, sino también, y sobre todo, las medidas de acción positiva de los poderes públicos, que van desde subvenciones financieras para la integración social de las formas asociativas en las 79

Sobre las diferencias entre igualdad como identidad e igualdad como diferencia, véase Rosenfeld (2007): pp. 158 – 165. 80 Cfr. Waldron (2007), pp. 129 ss. 81 Para Offe (1998), pp. 124 y ss., los derechos de los grupos constituyen una técnica jurídica para actuar sobre los conflictos de identidad que surge como adicionales a los derechos civiles y políticos (conflictos ideológicos) y los derechos sociales (conflictos de intereses). 82 Una clasificación de todas estas formas de intervención del Estado en el multiculturalismo interno y externo se pueden ver en Kymlicka (2000), pp. 24 ss.

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que se manifiestan estos grupos culturales minoritarios, hasta la articulación de formas de representatividad especial en el ámbito local que garanticen su derecho a ser oídos en asuntos que les afecten – consejos municipales de inmigración españoles, o consejeros extranjeros adjuntos de algunos municipios italianos, etc … –, pasando por la creación de espacios públicos (sobre todo en la escuela) para la manifestación de este pluralismo cultural (como los acuerdos con las distintas confesiones religiosas al amparo del art. 16.3 CE). Aunque todas estas fórmulas de acción positiva permiten la protección de las minorías culturales frente a la mayoría social dominante83, presuponen la toma de postura política por parte de los poderes constituidos acerca de cuáles son los grupos culturales que deben ver reconocida jurídicamente esa pretensión de protección y qué medios se va a poner a su disposición, sobre todo cuando para la protección se necesita utilizar bienes escasos, esto es, acerca de cuáles son las circunstancias diferenciales que justifican objetivamente un trato normativo diferente y cuáles no. Y estas decisiones, que constituyen concretas políticas de derechos fundamentales, vienen condicionadas por la voluntad de los representantes de la comunidad en las que se toman. Piénsese por ejemplo, en las subvenciones financieras a las asociaciones de interés o utilidad pública, la cooperación económica o educativo-cultural con la Iglesia Católica y con las demás confesiones religiosas, así como en los distintos requisitos establecidos por el legislador educativo para el acceso a los conciertos educativos84. Ciertamente, es posible que el avance del ordenamiento jurídico en su capacidad para absorber la creciente complejidad social demande cada vez más normas diferenciadas, basadas en el criterio de la igualdad-diferencia, que ahonden en el pluralismo en lugar de reducirlo, pero los propios condicionamientos estructurales de un ordenamiento democrático, requieren que semejante decisión quede en manos de los representantes de la mayoría social de cada momento. En un Estado democrático, marco abierto de opciones políticas diversas, el legislador no es un mero ejecutor del programa constitucional, sino que dispone de ciertos márgenes de decisión política que tanto pueden potenciar como pueden limitar el multiculturalismo externo, en la medida en que establezcan exigencias explícitas (en forma de requisitos) o implícitas (vedando el acceso a las ayudas a otros grupos no asimilados) de asimilación a la cultura socialmente mayoritaria, más allá de requerir el mero respeto del marco constitucional-democrático. Dichas exigencias sólo se ven limitadas constitucionalmente por el respeto a la configuración constitucional de los derechos fundamentales de los inmigrantes y por los principios de razonabilidad y 83

Kymlicka (2000), pp. 25 – 26. Variables en función de cada Comunidad Autónoma, dado el carácter compartido de la competencia en materia de educación. Así, por ejemplo, del mandato de preferencia de la coeducación mixta para la financiación pública (arts. 84, 116 y Disp. Adicional 25a LOE), se han deducido diversidad de políticas autonómicas en materia de conciertos escolares, una rescindiendo los conciertos de los centros de educación diferenciada que separan niños y niñas (Castilla-La Mancha) y otras manteniendo dichos conciertos financieros (Madrid). 84

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de proporcionalidad, pero no por el principio de igualdad, dada la diferenciación que en sí misma ya conlleva la pluralidad cultural. Bibliografía Aláez Corral, Benito (2000), Los límites materiales a la reforma de la Constitución Española de 1978, CEPyC, Madrid – (2005), Nacionalidad y ciudadanía: una aproximación histórico-funcional, Historia Constitucional. Revista electrónica, Vol. 6 – (2005), Nacionalidad y ciudadanía ante las exigencias del Estado constitucional democrático, Revista de Estudios Políticos, N8 127 – (2006), Nacionalidad ciudadanía y democracia: ¿a quién pertenece la Constitución?, Centro de Estudios Políticos y Constitucionales, Madrid – (2008), Caso Folgero y respeto a las convicciones morales de los padres en materia educativa, Repertorio Aranzadi del Tribunal Constitucional, N8 3 – (2009), Ideario educativo constitucional y respeto a las convicciones morales de los padres. A propósito de las Sentencias del Tribunal Supremo sobre Educación para la ciudadanía, El Cronista del Estado Social y Democrático de Derecho, N8 5 Bastida Freijedo, Francisco (1998), La soberanía borrosa: la democracia, Fundamentos, N8 1 – (2004), La interpretación de los derechos fundamentales, en: Varios autores, Teoría general de los derechos fundamentales en la Constitución española de 1978, Tecnos, Madrid Böckenförde, E. W. (1993), Teorías e interpretación de los derechos fundamentales, en: E.-W. Böckenförde (edit.), Escritos sobre derechos fundamentales, Nomos, Baden-Baden Bös, Matthias (2000), The legal construction of membership: nationality Law in Germany and the United States, Harvard Programme for the Study of Germany and Europe Working Paper Series, N8 00.05 Bosniak, Linda (2006), The citizen and the alien, Dilemmas of Contemporary Membership, Princeton University Press, Princeton/Oxford Brubaker, Rogers (1992), Citizenship and Nationhood in France and Germany, Cambridge University Press, Cambridge (Mass.) – (2001) The return of assimilation? Changing perspectives on immigration and its sequels in France, Germany, and the United States, Ethnic and Racial Studies, Vol. 24, N8 4 Bryde, Brun-Otto (1989), Ausländerwahlrecht und grundgesetzliche Demokratie, Juristen Zeitung, Vol. 44 – (1995), Die bundesrepublikanische Volksdemokratie als Irrweg der Demokratietheorie, Staatswissenschaft und Staatspraxis, N8 3 Camara Villar, Gregorio (1988), Sobre el concepto y los fines de la educación en la Constitución española, en: Varios Autores, X Jornadas de Estudio de la Dirección General del Servicio Jurídico del Estado. Introducción a los Derechos Fundamentales, Vol. III, Ministerio de Justicia, Madrid

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„Governance“ und europäisches Regulierungsrecht in Netzwerkindustrien Von Klaus W. Grewlich, Bonn I. „Regulierungsrecht“ Den Begriff der „Regulierung“ übernahm das deutsche Wirtschaftsverwaltungsrecht im letzten Viertel des vergangenen Jahrhunderts, als Schlüsselbereiche der Wirtschaft wie Telekommunikation und später Energie und Transport liberalisiert und privatisiert wurden1. Ausgelöst durch die technologische Revolution im Übergang von der Elektromechanik zur Elektronik („Digitalisierung“), aus systemimmanenten ordnungspolitischen Gründen und nicht zuletzt als Folge des aus den USA kommenden handelspolitischen Drucks gaben die Mitgliedstaaten der EU ebenso wie andere OECD-Mitglieder wirtschaftliche Machtpositionen als Eigentümer der Infrastruktur und Monopolunternehmer auf und dehnten den privatwirtschaftlichen Wettbewerb auf Netzwerkindustrien („network industries“) wie Elektronische Kommunikation, danach Elektrizität & Gas, schließlich Transport und zu einem geringen Teil auch Wasser aus2. Die Staaten behielten aber das Recht und die Pflicht, eine qualitativ angemessene und preislich erschwingliche Versorgung der Bevölkerung zu „gewährleisten“. Ordnungspolitisch bedeutete letztere Entwicklung, daß Umfang und Qualität des Angebots und Preisbildung zwei widerstreitenden Prinzipien überlassen wurden, nämlich dem liberalen Wettbewerb einerseits und der sozialen Fürsorge andererseits. Bald schon zeigte sich aber, daß die Aufgabe, in dieser Dichotomie durch „Recht als Steuerungsinstrument“ einen adäquaten Ausgleich zu schaffen und darüber hinaus zusätzliche gesellschaftliche Ziele wie den Umweltschutz zu erreichen, mit dem traditionellen „Kräfteparallelogramm“ – bestehend aus „wirtschaftlicher

1

M. Bullinger, Regulierung als modernes Instrument zur Ordnung liberalisierter Wirtschaftszweige, DVBl. 2003, 1355 ff.; M. Fehling, Regulierung als Staatsaufgabe im Gewährleistungsstaat Deutschland, Zu den Konturen eines Regulierungsverwaltungsrechts, in: H. Hill (Hg.), Die Zukunft des öffentlichen Sektors, 2006, 91 ff.; M. Fehling/M. Ruffert, Regulierungsrecht, 2010 (passim). 2 M. Ruffert, Regulierung im System des Verwaltungsrechts – Grundstrukturen des Privatisierungsfolgerechts der Post und Telekommunikation, AöR 124 (1999), 237 f.; insbes. zur völker- und europarechtlichen sowie nationalen „Wasserregulierung“ K. W. Grewlich, „Wasser-Governance“, Wasserrecht und „Wasserakademie“, Zeitschrift für Wasserrecht 2/2012.

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Freiheit“ und „gesetzmäßiger behördlicher Kontrolle“ (Aufsicht) – nur unzureichend gelöst werden konnte3. In Europa stellte sich dieses Problem konzeptionell nicht nur den EU-Mitgliedstaaten, sondern vor allem auch der EU Kommission, als letztere sich zum Zeitpunkt ihrer Vorarbeiten für die Modernisierung der Rahmenbedingungen für die technische Kommunikation und insbesonders die Reform der europäischen Telekommunikationsgesetzgebung mit der Tätigkeit der unabhängigen Regulierungsbehörden der Vereinigten Staaten („regulatory agencies“), insbesonders der „Federal Communications Commission“ auseinandersetzte4. Die Gesetzgebung der EU – bis hin zu dem 2009 überarbeiteten und ergänzten europäischen Regulierungsrecht der elektronischen Kommunikation („Konsolidiertes Reformpaket“)5 und zum 3

M. Bullinger, Regulierung von Wirtschaft und Medien, 2008, V f. E.-J. Mestmäcker, Kommunikation ohne Monopole, 1995, 27 f.; K. W. Grewlich, Konflikt und Ordnung in der globalen Kommunikation – Wettstreit der Staaten und Wettbewerb der Unternehmen, 1997, 79 ff.; ders., Konstitutionalisierung des „Cyberspace“ – Zwischen europarechtlicher Regulierung und völkerrechtlicher Governance, 2001, 23 ff.; grundlegend: Kommission der Europäischen Gemeinschaften, „Forecasting and Assessment in the field of Science and Technology“ (FAST) II Programm „European Futures“, 1985. 5 Directive 2002/21/EC of the European Parliament and of the Council of 7 March 2002 on a common regulatory framework for electronic communications networks and services (Framework Directive); Directive 2002/19/EC of the European Parliament and of the Council of 7 March 2002 on access to, and interconnection of, electronic Communications networks and associated facilities (Access Directive); Directive 2002/20/EC of the European Parliament and of the Council of 7 March 2002 on the authorization of electronic communications networks and services (Authorisation Directive); Directive 2002/22/EC of the European Parliament and of the Council of 7 March 2002 on universal service and users’ rights relating to electronic communications networks and services (Universal Service Directive); Regulation (EC) No 1211/2009 of the European Parliament and of the Council of 25 November 2009, establishing the Body of European Regulators for Electronic Communications (BEREC) and the office; Commission Recommendation (2007/879/EC) of 17 December 2007 on relevant product and services markets within the electronic communications sector susceptible to ex ante regulation in accordance with Directive 2002/21/EC of the European Parliament and of the Council of 7 March 2002 on a common regulatory framework for electronic communications networks and services; Commission Recommendation (2003/311/EC) of 11 February 2003 on relevant product and service markets within the electronic communications sector susceptible to ex ante regulation in accordance with Directive 2002/21/EC of the European Parliament and of the Council on a common regulatory framework for electronic communications networks and services; Commission guidelines (2002/C 165/03) on market analysis and the assessment of significant market power under the Community regulatory framework for electronic communications networks and services; Commission Recommendation (2008/850/EC) on notifications, time limits and consultations provided for in Article 7 of Directive 2002/21/EC of the European Parliament and of the Council on a common regulatory framework for electronic communications networks and services; Commission Decision (2002/627/EC) of 29 July 2002 establishing the European Regulators Group for Electronic Communications Networks and Services; Council Decision (1999/468/EC) of 28 June 1999 laying down the procedures for the exercise of implementing powers conferred on the Commission; Commission Directive 1002/77EC of 16 September 2002 on competition in the markets for electronic communications networks and services; Commission Directive 2008/63/EC of 20 June 2008 on competition in the markets in telecommunications terminal equipment; Directive 2008/58/EC of the 4

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„Dritte Energiepaket“6 – ist insgesamt eher vom Geiste angloamerikanischer als kontinental-europäischer Rechtstradition geprägt7. Die sich in das Telekommunikationsrecht einarbeitenden Verwaltungsjuristen waren anfänglich wohl etwas erstaunt über die Bezeichnungen „Regulierung“ und „Regulierungsbehörde“, folgten aber sehr bald dem Impetus der EU-Kommission, Regulierungsbehörden auch für weitere liberalisierte Wirtschaftszweige zu befürworten bzw. die Kompetenzen neu entstehender „Netzbehörden“ auszuweiten. Festzuhalten ist, daß sich „Regulierung“ heute zu einer häufig benutzten Bezeichnung für „staatliche Steuerung liberalisierter Wirtschaftszweige im Übergang vom leistungsgewährenden zum leistungsgewährleistenden Staat“ entwickelt hat8. European Parliament and of the Council of 12 July 2002 concerning the processing of personal data and the protection of privacy in the electronic communications sector; Regulation 2007/ 717/EC of the European Parliament and of the Council of 27 June 2007 on roaming in public mobile telephone networks within the Community and amending Directive 2002/21/EC; Regulation (EC) No 544/2009 of the European Parliament and of the Council of 27 June 2007 on roaming on public mobile telephone networks within the Community and amending Directive 2002/21/EC on a common regulatory framework for electronic communications networks and services; „Telecoms Reform Package 2009“: Regulation (EC) No 1211/2009 of the European Parliament and of the Council of 25 November 2009, establishing the Body of European Regulators for Electronic Communications (BEREC) and the Office; Directive 2009/140/EC of the European Parliament and of the Council of 25 November 2009 amending Directives 2002/21/EC on a common regulatory framework for electronic communications networks and services, 2002/19/EC on access to, and interconnection of, electronic communications, networks and associated facilities, and 2002/20/EC on the authorization of electronic communications networks and service („Better Regulation Directive“); Directive 2009/136/EC of the European Parliament and of the Council of 25 November 2009 amending Directive 2002/22/ EC on universal service and users’ rights relating to electronic communications networks and services, Directive 2002/58/EC concerning the processing of personal data and the protection of privacy in the electronic communications sector and Regulation (EC) No 2006/2004 on cooperation between national authorities responsible for the enforcement of consumer protection laws („Citizens Rights Directive“). 6 Regulation No 713/2009 of the European Parliament and of the Council of 13 July 2009 establishing an Agency for the Cooperation of Energy Regulators; Regulation No 714/2009 of the European Parliament and of the Council of 13 July 2009 on conditions for access to the network for cross-border exchanges in electricity and repealing Regulation (EC) No 1228/ 2003; Regulation No 715/2009 of the European Parliament and of the Council of 13 July 2009 on conditions for access to the natural gas transmission networks and repealing Regulation (EC) No 1775/2005; Directive 2009/72/EC of the European Parliament of the Council of 13 July 2009 concerning common rules for the internal market in electricity and repealing Directive 2003/54/EC; Directive 2009/73/EC of the European Parliament and of the Council of 13 July 2009 concerning common rules for the internal market in natural gas and repealing Directive 2003/55/; EU Commission, Commission Staff Working Paper, Interpretative Note on the Directive 2009/72/EC concerning common rules for the internal market in electricity and Directive 2009/73/EC concerning common rules for the internal market in natural gas. 7 M. Bullinger, Regulierung von Wirtschaft und Medien, 2008, 123 f. 8 M. Bullinger, Regulierung von Wirtschaft und Medien, 2008, 124 f. u. a. bezugnehmend auf G. F. Schuppert, Vom produzierenden zum gewährleistenden Staat: Privatisierung als Veränderung staatlicher Handlungsformen, in: K. König/A. Benz (Hg.), Privatisierung und staatliche Regulierung – Bahn, Post und Telekommunikation, Rundfunk, 1997, 539 ff.;

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Unabhängig von der Fundamentalfrage, ob für diese normative Entwicklung ein besonderes „Gewährleistungsverwaltungsrecht“ hervorgebracht werden sollte9, bedürfen die Bezeichnung „Regulierung“ und der Ausdruck „Regulierungsrecht“ einiger Differenzierungen: In den Fällen der Selbstregulierung erhalten bzw. ergreifen die Privaten die Initiative, was meistens voraussetzt, daß der Staat seinen imperativen Einfluß zurückfährt. Der Staat bleibt aber als rechtliche Rahmenkraft gegenwärtig. Zwischen den normativen Regelwerken, die sich eindeutig dem Staat zuordnen lassen, und privaten Regeln existieren Zwischenformen, sog. „hybride Regulierungen“10. Sie sind dadurch gekennzeichnet, daß bei ihrer Entstehung, Anwendung und Fortentwicklung Staat und Private gemeinsam oder komplementär regelnd tätig werden. Typologisch läßt sich „Regulierung“ in einer Dreiteilung untergliedern11, nämlich in (1) staatlich-imperative Regulierung, (2) die „hybride Regulierung“ (sei es imperative Regulierung in teilweiser Kombination mit selbstregulativen Elementen, bzw. staatlich regulierte „Selbstregulierung“), (3) die private Selbstregulierung. Wagt man von hier aus den Sprung ins Wirtschaftsvölkerrecht, dann findet man dort eine Ebene der „Regulierung der Regulierung“ („Meta-Regulierung“). Auf dieser Ebene angesiedelt sind beispielsweise eine Reihe von Instrumenten der Welthandelsordnung. Auf der darunterliegenden regionalen, bzw. zwischenstaatlichen Ebene wären die dort erfolgenden Regulierungsmaßnahmen im Lichte der von der globalen normativen Ordnung ausgewiesenen Ziele und normativen Vorgaben nach ihren Wirkungen zu unterscheiden, nämlich in Regulierungen mit zwischenstaatlich positiven, marktschaffenden bzw. markterhaltenden Wirkungen und solchen mit negativen, nämlich protektionistischen Effekten. In der Tat bringen manche der genannten nationalen oder regionalen Regulierungen (im grenzüberschreitenden „Wettstreit der Regulierungen“) Nullsummenspiele hervor, in denen der Vorteil der gewinnenden Teilnehmer notwendigerweise dem Verlust der Verlierer entspricht. Andere Regulierungen führen zu Positivsummenspielen, in denen am Ende alle Teilnehmer – wenngleich in unterschiedlichem Umfange – Vorteile verselbstkritisch zur „unspezifischen Neuerungs- und Wandlungsrhetorik“ und in Fortentwicklung seiner Position G. F. Schuppert, Governance und Rechtsetzung – Grundfragen einer modernen Regelungswissenschaft, 2011, 99 ff. 9 A. Voßkuhle, VVDStRL 62 (2003), 266, 304 Anm.156; J. Masing, Grundstrukturen eines Regulierungsverwaltungsrechts, 2002. 10 M. Weiss, Hybride Regulierungsinstrumente, 2010, 50 ff. 11 W. Hoffmann-Riem, Öffentliches Recht und Privatrecht als wechselseitige Auffangordnungen – Systematisierung und Entwicklungsperspektiven, in: W. Hoffmann-Riem/E. Schmidt-Aßmann (Hg.): Öffentliches Rech und Privatrecht als wechselseitige Auffangordnungen, 1996, 261 ff.; K. W. Grewlich, Governance in „Cyberspace“ – Access and Public Interest in Global Communications, 1999, 129 f.; zum Begriff „Regulierte Selbstregulierung“ in verschiedenen Regulierungsbereichen: W. Berg/St. Fisch/W. Schmitt Glaeser/F. Schoch/H. Schulze-Fielitz (Hg.), Regulierte Selbstregulierung als Steuerungskonzept des Gewährleistungsstaates, DV 2001, Beiheft 4.

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buchen können. Ein gutes Beispiel für insgesamt positive Effekte ist die Regulierungsaktivität, die ihre normative Grundlage im „General Agreement on Trade in Services“ (GATS) der Welthandelsorganisation (WTO) findet. Mit diesem Instrument verfolgen die WTO-Mitgliedstaaten einen handelsliberalisierenden Deregulierungsschub. Viele WTO-Mitgliedstaaten brachten in der Tat in beachtlichem Umfang sog. „schedules“ ein, mit denen sie sich zu nationalen Deregulierungsbzw. Umregulierungsmaßnahmen, z. B. in der elektronischen Kommunikation, auf dem Gebiet der Finanzdienstleistungen und in anderen Dienstleistungsbereichen verpflichteten. Veranlaßt durch die normative Kraft wirtschaftsvölkerrechtlicher „Meta-Regulierung“ bauten sie Regulierungsschranken ab und öffneten ihre Dienstleistungsmärkte für den grenzüberschreitenden Wettbewerb. Die dem aufgeklärten Eigeninteresse folgenden Ausgestaltungen der nationalen „schedules“ wurden dann zu Trumpfkarten im Standort- bzw. Systemwettstreit um wirtschaftlich vorteilhafte und somit international attraktive Rechtsordnungen. Letztere Feststellung läßt sich empirisch erhärten: Die Erfahrung zeigt, daß in der Dienstleistungswirtschaft beträchtliche Regulierungsdifferentiale zwischen den WTO-Mitgliedstaaten bestehen. In der Elektronischen Kommunikation beispielsweise haben manche Staaten ihre Monopole beibehalten. Andere haben „ihre“ Monopole zerschlagen und sind zu einer Mischung sektorspezifischer Regulierung und allgemeinen Wettbewerbsrechts übergegangen. Wieder andere wollen sich primär auf das Wettbewerbsrecht verlassen. Im Bezug auf die „Regulierung des Regulierungswettstreits“ durch Metarechtsordnungen ist erwähnenswert, daß die WTO über ein (als solches nicht bindendes) aber im WTO-GATS-Rahmen inhaltlich in eine große Zahl rechtlich bindender nationaler „schedules“ übernommenes Meta-Regulierungs-Instrument verfügt, das im Bereich der Elektronischen Kommunikation die Regulierungsdifferentiale durch die Annahme von Mindeststandards zumindest erträglich gestaltet. Es handelt sich um das mit dem „Vierten Protokoll des GATS“12 verbundene „Reference Paper on Telecommunications“.13 Zum besseren Verständnis ist hier der „regulierungsrechtliche Entscheidungsbaum“ („decision tree“) hervorzuheben: Im Regulierungsrecht ist zu unterscheiden zwischen solchen Regulierungsmaßnahmen, die dem öffentlichen Interesse, der staatlichen Sicherheit, der menschlichen Würde oder zum Beispiel dem Jugendschutz dienen („public interest regulation“) und einer anderen Regulierungsgruppe, in der die Marktöffnung bzw. die Aufrechterhaltung des Wettbewerbs („access regulation“) im Vordergrund steht. Bei letzterer Regulierung, die Marktzugänge sichern soll, unterscheiden wir zwischen der sektorspezifischen „ex-ante“ Regulierung und dem grundsätzlich „ex-post“ wirkenden Wettbewerbsrecht, wobei idealerweise die normative Dynamik so angelegt sein sollte, daß auf der Zeitschiene die 12

Das 4. Protokoll v. 15. 04. 1997, BGBl II. 2990 ff. Reference Paper, Fourth Protocol to the General Agreement on Trade in Services 436 (WTO 1997), [1997] 36 ILM 354 ff. (367) (Die Bezeichnung „Reference Paper“ rührt her von „reference made to“). 13

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sektorspezifische Regulierung kontinuierlich zugunsten des Wettbewerbsrechts heruntergefahren würde („phasing out“)14. II. Governance Ungeachtet des Unbehagens, das viele Juristen gegenüber interdisziplinär genutzten exploratorischen „Brückenbegriffen“ wie „Governance“ zu empfinden scheinen, erfreut sich der Ausdruck „Governance“ zunehmender Verbreitung. Begrüßenswert wäre, wenn parallel zur Häufigkeit der Verwendung der Bezeichnung „Governance“ auch die rechtswissenschaftliche Begrifflichkeit dieses Ausdrucks geschärft würde. „Governance“ kommt vom lateinischen „gubernare“ (steuern). Von „gubernator“ (Steuermann) leitet sich die englische Bezeichnung Governor bzw. französisch Gouverneur ab. Wie die „rule of law“, die Herrschaft des Rechts, bedeutet „Governance“ zunächst einmal, daß Verhaltenssteuerung sich geordnet vollziehen, insbesondere durch Festlegung und Durchsetzung von „(Steuerungs)Regeln“ berechenbar und somit willkürfrei erfolgen soll. Die Bezeichnung „Governance“ fand ursprünglich im Ökonomischen, genauer im institutionell-betriebswirtschaftlichen Bereich15 eine allgemeinere Verwendung. Unter „Corporate Governance“ werden Rechte, Pflichten und die Regelung der Machtbeziehungen innerhalb des Vorstands eines Unternehmens, zwischen Vorstand und Aufsichtsrat, Aktionären und Hauptversammlung, Belegschaft und anderen „Stakeholdern“ von Kapitalgesellschaften oder die Verteilung von Herrschaft und Einfluß bei der Gründung eines Gemeinschaftsunternehmens (joint venture) verstanden16. Demgegenüber steht „Good Governance“ in der Entwicklungspolitik oder z. B. in den Politikzielen der „Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa“ (OSZE) für die normative Verwirklichung von Rechtsstaat, Demokratie, Menschenrechten und einer Entwicklung hin zur Marktwirtschaft. Und im Arbeitsprogramm der EU-Kommission für ein Weißbuch zur „Governance“ in der Europäischen Union, das auch in der europäischen Verfassungsdebatte eine Rolle spielte, wird die „gegenseitige Abhängigkeit und Interaktion der verschiedenen Entscheidungsträger auf den verschiedenen Handlungsebenen der EU in den Blick

14 „Telecommunications Reform Package 2009“, Fußn. 5; P. Larouche, Competition Law and Regulation in European Telecommunications, 2000, 409 f. 15 O. E. Williamson, The Economics of Governance: Framework and Implications, 140 Zeitschrift für die Gesamte Staatswissenschaft 1984, 195 ff.; OECD, Corporate Governance – A basic foundation for the global economy, OECD Observer (11. 12. 2000). 16 D. D. Prentice/P. R. J. Holland, Contemporary Issues in Corporate Governance, 1993, 25 ff.

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genommen17. Es wird daher betont, daß „Governance“ auch die „Mitwirkung nachgeordneter und nichtstaatlicher Akteure“ (NGOs) umfaßt.18 Staaten haben zwar ein Gewaltmonopol im Inneren, aber kein umfassendes „Governance“-Monopol. Vielmehr teilen sich die Staaten die „Governance“ in bestimmten Fällen und in unterschiedlichem Ausmaß mit anderen Akteuren, wie etwa das Beispiel der „Internet Corporation for Assigned Names and Numbers“ (ICANN) zeigt19. Staaten, aber auch Regionalorganisationen mit überstaatlichen Kompetenzen wie die EU, stehen nach außen in einem Rechts- und Systemwettstreit20, in einem „Governance“-Wettbewerb, während sie nach innen den ökonomischen Wettbewerb um Marktpositionen und Marktzugänge (hoheitlich) regulieren21. Diese Situation des „zwischenstaatlichen“ Wettstreits dürfte in das Kalkül des Recht setzenden und regulierenden Handelns der Staaten wie auch der EU antizipativ einfließen. Idealerweise könnte der „zwischenstaatliche Systemwettstreit“ auf diese Weise zum Entdeckungsinstrument für gute „Governance“ und verbesserte regulierungsrechtliche Lösungen werden. Mit der „Governance“ der Staaten einher geht die bereits genannte „private Governance“22. Ein klassisches Beispiel ist die Selbstregulierung eines Industrieverbands im Falle dessen Einigung auf Verhaltens- und Qualitätsstandards23. Wie die staatliche hat auch die private „Governance“ ihre rechtlichen Grenzen: Eine private Absprache im Rahmen einer Selbstregulierung rechtfertigt nicht ohne weiteres den Eingriff in Freiheitsrechte Dritter. Legen die Zivilgerichte das Privatrecht im Lichte der Verfassung aus, dann würden sie der entsprechenden privaten Absprache in gravierenden Fällen die staatliche Sanktionierung (Rechtsdurchsetzung) entziehen24. Das Hinzutreten neuer Stakeholder und Akteure der „Governance“, nicht zuletzt in der Form von „Nichtregierungsorganisationen“ (NGOs)25, geht einher mit einer 17

M. Jachtenfuchs, The Governance Approach to European Integration, in: Journal of Common Market Studies 2001 Vol. 39 No.2 245 ff. 18 EU, SEK (2000) 1547/7 endg. (4) (11. 10. 2000). 19 K. W. Grewlich, „Internet governance“ und „völkerrechtliche Konstitutionalisierung“ – nach dem Weltinformationsgipfel 2005 in Tunis, Kommunikation & Recht (K&R) 2006/4, 156 ff. 20 A. Peters, Wettbewerb der Rechtsordnungen, in: Gemeinwohl durch Wettbewerb? VVDSTRL 69 (2010), 7 ff. 21 Th. Giegerich, Wettbewerb der Rechtsordnungen, in: Gemeinwohl durch Wettbewerb VVDSTRL 69 (2010), 57 ff. 22 J. N. Rosenau, Governance, Order and Change in World Politics, in: J. N. Rosenau/E.-O. Czempiel (Hg), Governance without Government, 1992. 23 K. W. Grewlich, Umweltschutz durch Umweltvereinbarungen nach nationalem und Europarecht, DÖV 1998, 54 ff. 24 Ch.Engel, A Constitutional Framework for Private Governance, Reprints Max Planck Institute for Research on Collective Goods, 2001, 35 ff. 25 K. W. Grewlich, Nichtregierungsorganisationen, in: HStR X3, 2012 (im Erscheinen)

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Umschichtung der Möglichkeiten der Beeinflussung und der Verhaltenssteuerung. Die Teilung eingegrenzter Bereiche der Macht durch die Staaten mit Wirtschaftsunternehmen bzw. deren Verbänden, aber auch mit Vertretern der Zivilgesellschaft und vor allem die Bemühung letzterer um Einfluß und „Gleichberechtigung“ mag dazu verführen, „Governance“ mit der Vorstellung eines zunehmenden „demokratischen“ Gehalts verschiedenster Politikfelder bis hin zu einem Zurückdrängen der Staatlichkeit gleichzusetzen. Der Blick auf die Wirklichkeit führt aber zur Feststellung, daß die Staaten ihre Vorrangstellung und ihre Durchhaltekraft bewahren, was nicht ausschließt, daß auch andere Stakeholder gestaltungsmächtiger werden. Vielleicht sind „Governance“, „Zivilgesellschaft“ und „Selbstregulierung“ aber dennoch eine Erscheinung der säkular fortschreitenden Demokratisierung in dem „umwälzenden“ Sinn wie Alexis de Tocqueville den Begriff gebraucht26: „Glaubt man, dass die Demokratie nach Vernichtung von Königtum und Adel vor Bürgern und Geldleuten zurückschreckt? Wird sie jetzt innehalten, jetzt wo sie so stark und ihre Gegner so schwach geworden sind? … Das ganze Buch … wurde unter dem Eindruck einer Art religiösen Schreckens niedergeschrieben, der sich der Seele des Verfassers beim Anblick dieser unwiderstehlichen Revolution (der Demokratisierung) bemächtigte.“ Gilt diese dramatische Perzeption der Demokratisierung als „permanenter unwiderstehlicher Revolution“ in gleicher Weise für die Vertiefung des Rechtsstaats? „Demokratie“ und „Rechtsstaat“ sind nicht gleichzusetzen. Ist das Demokratieprinzip auf die Frage der Erlangung der Herrschaftsmacht und ihrer Kontrolle konzentriert und daher untrennbar vom Grundsatz fairer und freier Wahlen, so beantwortet demgegenüber das Rechtsstaatsprinzip die Frage nach Inhalten und Verfahrensweisen staatlicher Tätigkeit27. Wirksamkeit entfaltet „Governance“ auf allen Handlungsebenen, insbesondere auch in dem über die einzelnen Staaten hinausgehenden Raum der „Global Governance“, der je nach Stand der normativen Entwicklung ein anarchischer Bereich unilateraler Machtpolitik und des „Rechts des Stärkeren“ oder aber ein Raum wachsender „international rule of law“ sein kann, nämlich der Regeln und Verhaltenssteuerungen, die herkömmlich für die Beziehung zwischen Völkerrechtssubjekten gelten, – zunehmend erweitert aber auf das Wechselspiel zwischen Staaten, Wirtschaftsakteuren und Zivilgesellschaft.28 26 A. de Tocqueville, De la Démocratie en Amérique, 1835, 15 ff., Übersetzung ins Deutsche von H. Raschhofer für die Reihe „Klassiker der Staatskunst“ (Wagner/Westphalen, Hg.), Wien Band 5 (1950). 27 J. Isensee, Staat und Verfassung, in: HStR II3, 2004, § 15 Rn. 145 ff.; E.-W. Böckenförde, Staat, Verfassung, Demokratie, 2. Aufl. 1992, 365 ff.; R. Zippelius/Th. Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 32. Aufl. 2008, 79 ff. 28 K. D. Wolf, Emerging Patterns of Governance: The New Interplay between the State, Business and Civil Society, in: A. G. Scherer/GG. Palazzo (Hg), Handbook of Research on Global Corporate Citizenship, 2008, 225 ff.; K. W. Grewlich, Konstitutionalisierung des

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Fazit: Welchen Erkenntnisgewinn kann die Bezeichnung „Governance“ also liefern? Der Begriff „Governance“ reicht über das Vorhandensein rechtlich bindender Regeln hinaus. Er umfaßt auch die „governance without government“, die private Governance29, auch die Verhaltenssteuerung durch Sitte, vorgeprägte Verhaltensmuster, vorrechtliche „technische Vorgaben“ oder Selbstregulierung – und zwar in einem „Multiebenen-, Multiakteur- und Multiinstrumental-Ansatz“. „Recht“ und Governance sind nicht kongruent. Governance ist im Vergleich zum bindenden Recht zwar die umfassendere Sammlung der Erscheinungsformen der Verhaltenssteuerung. Das Recht aber, obwohl nur eine Untermenge im umfassenderen System der Governance, ist ihr signifikantester, herausgehobenster und wirkungsmächtigster Teil. Governance erlaubt eine Gesamtsicht auf Handlungsebenen, Akteure und Handlungsformen. Governance bezeichnet aber keinen Endzustand, schon gar nicht ein „ausgewachsenes normatives Regelsystem“. Auch im internationalen Bereich steht der Ausdruck „Global Governance“ nicht unbedingt für vollfunktionsfähige völkerrechtliche Regime. Governance ist ein exploratorischer Begriff („BrückenBegriff“). Er bezeichnet einen Weg und nicht ein erreichtes Ziel. Er beinhaltet klassische Fragen der Politik und der Steuerkraft des Rechts, nämlich: wer übt Herrschaft aus, unter welchen Bedingungen und zu wessen Vorteil? Von dem deskriptiv-analytischen Begriff der Governance somit zu unterscheiden ist der normative Governance Begriff, z. B. „Good Governance“ als Maßstab bei der Umsetzung der „rule of law-Konditionalitäten“ der Weltbank30. Mit „Global Governance“ angesprochen sind insbesondere auch Fragen der Auswirkungen einer perzipierten „Entstaatlichung transnationaler Rechtsbeziehungen“ unter dem Aspekt einer sich laufend entwickelnden und wandelnden internationalen Ordnung. Governance – vollzieht sich auf mehreren Handlungsebenen – lokal, national, regional, global –, die aber nicht voneinander abgeschottet, sondern durchlässig sind (MultiEbenen Ansatz); – reicht über den Staat hinaus, d. h. umfaßt auch internationale Organisationen, transnationale Unternehmen, auch NGOs und weitere mit Wirkungsmacht ausgestattete nicht-staatliche Akteure privater oder hybrider Art (Multi-Akteur-Ansatz);

„Cyberspace“ – Zwischen europarechtlicher Regulierung und völkerrechtlicher Governance, 2001, 53 ff. 29 Ch. Engel, Constitutional Framework for Private Governance, Reprints Max Planck Institute for Research and Collective Goods, 2001, 35 ff. 30 G. F. Schuppert/M. Zürn (Hg), Governance in einer sich wandelnden Welt, PVS (Politische Vierteljahresschrift) Sonderheft 41/2008; M. Ruffert/Ch. Walter, Institutionalisiertes Völkerrecht, 2009, 216 ff.

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– setzt nicht allein imperative Instrumente wie völkerrechtliche Verträge, Entscheidungen internationaler Gerichte und Behörden, nationale (wie auch EU-) Gesetze, Verordnungen, bindende Richtlinien ein, sondern aktualisiert sich auch durch sonstige vertragliche Beziehungen und rechtlich nicht formalisierte Verhaltenssteuerungen wie „soft law“, insbesondere Selbstverpflichtungen, „hybride Regulierung“ („im Schatten von Hierarchie“), „Verhaltenskodizes“ wie auch „moral suasion“ bis hin zu „technischen Lösungen mit quasi-normativen Wirkungen“ (Multi-Instrumentalansatz)31.

III. „Kooperative Regulatory Governance“ für Netzwerke der elektronischen Kommunikation („BEREC“) und der Energieübertragung (Strom & Gas) („ACER“) Einhergehend mit dem „markterhaltenden“, grundsätzlich ex-post wirkenden Wettbewerbsrecht32 (Verbot von Wettbewerbsbeschränkungen Art. 101 AEUV; Verbot mißbräuchlicher Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung, Art. 102 AEUV; sowie „EU-Fusionskontrollverordnung“33) bleibt bis auf weiteres die sektorspezifische, „marktschaffende“ ex-ante-Regulierung (basierend insb. auf Art. 106 AEUV (Liberalisierung ehemaliger Monopole) sowie Art. 114 ff. AEUV (Angleichung der Rechtsvorschriften – Binnenmarktkompetenz) im Einsatz. 1. Netzindustrien Nach den Liberalisierungsfortschritten im Markt der elektronischen Kommunikation konzentrierten sich die politischen und rechtlichen Anstrengungen der EU – wie bereits beschrieben – auf die „Regulatory Governance“ einer Reihe weiterer Netzindustrien wie Post, Transport und insbesondere Energie (Strom & Gas). Die auf den Erkenntnissen der „Netzwerkökonomie“ („network effects“)34 aufbauende wettbewerbs- und regulierungsverwaltungsrechtliche Ausgangsüberlegung für die Regulierung von Netzindustrien ist folgende: Wie in der Telekommunikation kann schon das bloße Vorhandensein von Netzen, z. B. in der Energieversorgung mit Hilfe von Strom- und Gas-Übertragungs- und Verteilnetzen, Hindernisse für den Wettbewerb begründen und den Zugang zu nationalen Märkten erheblich erschweren. Schon wegen der Kosten für Netzinvestitionen und der damit zusam31

„Code is law“ i.S. von L. Lessig, Code, and other laws of cyberspace, 1999; K. W. Grewlich, Aussprache zu den Berichten von Peters und Giegerich zum Beratungsgegenstand „Wettbewerb von Rechtsordungen“, VVDStRL 69 (2010) 123 f. 32 M. Herdegen, Europarecht, 3. Aufl. 2011, 328 ff. 33 Verordnung (EG) Nr. 139/2004 über die Kontrolle von Unternehmenszusammenschlüssen, ABl. 2004 L 24, 1 ff. 34 N. Economides, The economics of networks, 14 International Journal of Industrial Organization 1996, 673 ff. (678); M.L. Katz/C. Shapiro, Systems Competition and Network Effects, 8 Journal of Economic Perspectives 1994, 93 ff.

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menhängenden meist schlechten oder gar mangelnden Rentabilität bilden bestehende Netze „natürliche Monopole“.35 In solchen Fällen sind Durchleitungsverpflichtungen („Open Network Access“) der Netzbetreiber regulierungsrechtliche Instrumente zur Öffnung des Wettbewerbs. – Unabhängig davon besteht aus wettbewerbsrechtlicher Sicht im Falle von Oligopolen von Versorgungsunternehmen, die zugleich Eigentümer von Leitungsnetzen sind, die Gefahr des Mißbrauchs marktbeherrschender Stellungen (Art. 102 AEUV)36, so daß das Wettbewerbsrecht neben der sektorspezifischen ex-ante Regulierung eine rechtliche Eigendynamik behält. 2. Regulatory Governance: Elektronische Kommunikation und Energie Durch die Öffnung des Zugangs zu elektronischen Kommunikationsnetzen bzw. zu Übertragungsnetzen für Strom und Gas zielen die überarbeitete Rahmenrichtlinie 2002/21/EG37 als Teil des „Konsolidierten Reformpakets-2009 für die elektronische Kommunikation“38 sowie das im September 2009 verabschiedete „Dritte Energie-Paket“39 auf die Schaffung nachhaltigen Wettbewerbs in einem nach außen offenen funktionsfähigen EU-Binnenmarkt. Das konsolidierte Reformpaket-2009 für die elektronische Kommunikation ist die regulierungsrechtliche Antwort auf EU-Ebene auf das durch die Digitalisierung beförderte wirtschaftlich-technologische Phänomen der „Konvergenz von Telekommunikation, Medien und Informationstechnologie“40 und bezweckt die Herstellung von Interkonnektivität und einheitlicher Regulierung für die Vielzahl von digitalisierten und daher interoperablen Netzen und Diensten der elektronischen Kommunikation im EU-Binnenmarkt. Nach der Verabschiedung des „Dritten Energie-Pakets“, das die Novellierung der Erdgasbinnenmarkt-Richtlinie und der Elektrizitätsbinnenmarkt-Richtlinie enthält, stehen den EU-Mitgliedstaaten nunmehr drei verschiedene Möglichkeiten der Entflechtung („unbundling“) zur Wahl: (1) die eigentumsrechtliche Entflechtung41, was eine Verpflichtung der Netzbetreiber zum Verkauf ihrer Netze bedeutet („full ownership unbundling“); (2) das Modell des Unabhängigen Netzbetreibers 35

R. Baldwin/C. Cave, Understanding Regulation – Theory, Strategy, Practice, 1999, 9 ff. (Why Regulate?); G. Majone, Regulating Europe, 1996, 47 ff. 36 Herdegen, Europarecht, 3. Aufl. (2011), 357 ff. 37 ABl. 2002 L 108, 33 f. 38 Fußn. 5. 39 Fußn. 6. 40 Fußn. 20, 156 f.; W. Möschel, Der zukünftige Ordnungsrahmen für die Telekommunikation: Allgemeines Wettbewerbsgesetz statt sektorspezifischer Regulierung!, MMR 2008, 503 ff. 41 M. Schmidt-Preuß, Der Wandel der Energiewirtschaft vor dem Hintergrund der europäischen Eigentumsordnung, EuR 2006, 463 ff.; M. Herdegen, Europarecht, 3. Auflage 2011, 357.

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(ISO – Independent System Operator), was eine Übertragung der Netze auf einen vom vertikal integrierten Konzern unabhängigen Betreiber bedeutet; d. h. es würde keine eigentumsrechtliche Entflechtung, wohl aber ein Verlust der Verfügungsgewalt über das Netz erfolgen; (3) das Modell des unabhängigen Übertragungsnetzbetreibers (ITO – Independent Transmission Operator), was bedeutet, daß ein Übertagungsnetzbetreiber bestimmt wird, der zwar zum Mutterkonzern gehören kann, aber in Organisation und Betriebsführung unabhängig vom Energieerzeugungsbereich bzw. vom Geschäft mit dem Kunden/Endabnehmer wäre. 3. „Kooperative Regulatory Governance“ Für die Netzwerke der elektronischen Kommunikation42 wie auch der Energieübertragung (Strom und Gas)43 wurden auf EU-Ebene kooperative Einrichtungen der Regulatory Governance geschaffen, nämlich der „Body of European Regulators for Electronic Communications“ (BEREC) sowie ein zugehöriges „Office“ und die „Agency for the Cooperation of Energy Regulators“ (ACER). Sowohl bei BEREC44 als auch bei ACER handelt es sich um institutionelle „Regulierung im Werden“ und zwar nicht nach dem Vorbild nationaler Regulierungsagenturen wie der „US-Federal Communications Commission“, dem OFTEL im Vereinigten Königreich oder der deutschen Bundesnetzagentur, sondern im Sinne eines „vernetzten Regulierens“, einer „distributed governance“. ACER hat zum Ziel, die freiwillige Zusammenarbeit zwischen den einschlägigen nationalen Energie-Regulierungsbehörden im EU-Bereich institutionell in einer Gemeinschaftsstruktur mit eingegrenzten Zuständigkeiten und Entscheidungskompetenzen zu gestalten und laufend fortzuentwickeln. Ordnet man diese Funktionen in das oben dargestellte dreidimensionale „Multi-Ebenen, Multi-Akteur und MultiInstrumental Governance-Modell“ ein, so ist ACER (1) hinsichtlich der MultiEbenen Dimension zwischen den staatlich-kooperativen und den von EU-Gemeinschaftsinstitutionen hervorgebrachten Handlungen, auf jeden Fall also oberhalb der nationalen Ebene angesiedelt. (2) In der Multi-Akteur Dimension interagiert ACER im Verhältnis zu den Netzen und Verbänden der Betreiber, insbes. den „Transmission Systems Operators“ (ENTSOs Gas bzw. Elektrizität) beobachtend bzw. beratend – und ist in diesen Funktionen der EU-Kommission gegenüber berichtspflichtig. Letzterer Governance-Dimension zuzuordnen ist auch die Beratung der jeweiligen Gas & Elektrizitäts-Regulierungsbehörden der EU-Mitgliedstaaten, vor allem auch die subsidiäre Hilfestellung bei der Beilegung grenzüberschreitender Streitigkeiten, wenn die nationalen Regulierungsbehörden im Verhältnis zu einander nicht selbst zu gangbaren Lösungen gelangen. (3) In der Multi-instrumental 42

Fußn. 4. Fußn. 5. 44 S. Simpson, New Governance as Political compromise in European Telecommunications: The Amended European Union Electronic Communications Regulatory Framework, 2010. 43

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Dimension zeichnet sich ACER durch eine spezifische Entscheidungsmacht im Falle grenzüberschreitend wirkender technischer Streitfälle aus – mit dem Ziel der Sicherstellung der Netzinterkonnektivität und der Netzinteroperabilität. Bedeutend werden kann letztere grenzüberschreitend netztechnische Entscheidungskompetenz von ACER unter dem Aspekt der „Energiesicherheit“, und zwar für den wirksamen Einsatz „interkonnektiver Nachfragemacht“ gegenüber mächtiger „Anbieter-Oligopolen“ wie zum Beispiel Gasprom45. Manche Kritiker bezeichnen den Zuschnitt der Kompetenzen von ACER als „sunshine regulation“46, vor allem weil ACER über keine effektive Aufsichtszuständigkeit, verbunden mit Vetorechten gegenüber den ENTSOs und den einschlägigen Regulierungsbehörden der Mitgliedstaaten verfüge, sondern mit den ungeschärften Instrumenten eines wenig griffigen „soft-law“-Werkzeugkastens (bestehend aus Gutachten, Empfehlungen, „Netzkodizes“, nichtbindenden guidelines) arbeite. Dabei wird aber außer Acht gelassen, daß ACERs Entscheidungsbefugnisse im Falle grenzüberschreitender technischer Netzprobleme durchaus bedeutsam sind und daß erfahrungsgemäß auf der Zeitschiene mit hinzutretenden klareren Handlungsgrundlagen bzw. einer „Härtung“ der jetzigen „soft law“-Zuständigkeiten (Multi-Instrumental Governance) zu rechnen sein dürfte. Nimmt man das Wünschenswerte als Maßstab – indem man etwa ACER an einer US-amerikanischen „Federal Regulatory Agency“ mißt – so ist die geäußerte Kritik verständlich. Konzentriert man sich jedoch auf das Schritt für Schritt Erreichbare, dann fällt die Beurteilung vielleicht etwas günstiger aus. Auf der Grundlage einer Analyse der rechtlich abgesicherten Zuständigkeiten und organisationssoziologischer Beobachtungen kann man die Auffassung vertreten, daß die EU-Kommission dann eher auf die Schaffung von Regulierungsagenturen verzichtet, wenn sie selbst bereits über ausgeprägte supranationale Kompetenzen und Regulierungsmacht verfügt, wie etwa im Falle des europäischen Wettbewerbsrechts. In Fällen hingegen, in denen ihr Zuständigkeiten fehlen, scheint sie sich auf den Kompromiß „vernetzter Regulierung“ einzulassen, – vor allem wenn es zunächst einmal darum geht, „einen Fuß in die Tür“ zu bekommen.

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Die neuesten Gesetzesvorschläge in Richtung „Energiesicherheit“ intendieren einen flexiblen, durch Interkonnektoren vernetzten und mit Gasflußumkehrungsvorrichtungen ausgerüsteten Gasbinnenmarkt, d. h. „paneuropäische“ Energieautobahnen“ als „Projekte von europäischem Interesse“ und gleichzeitig eine Verstärkung der „EU-Energieaußenpolitik“; K.W. Grewlich, International Regulatory Governance of the Caspian Pipeline Policy Game, Journal of Energy & Natural Resources Law Vol 29 No1 2011, 87 ff. 46 N. Lavrijssen/L. Hancher, Networks on Track: From European Regulatory Networks to European Regulatory „Network Agencies“, 34 (1) Legal Issues of Economic Integration 2008, 23 ff.

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4. „Mission creep“ des Wettbewerbsrechts in Richtung zeitnah wirksamer Regulierung? Auszuleuchten bleibt das Verhältnis von EU-Wettbewerbsrecht und sektorspezifischer ex-ante Regulierung und zwar unter der Fragestellung, ob der jetzige Einsatz des Wettbewerbsrechts im Bereich der Netzwerkindustrien die Wirksamkeit der sektorspezifischen ex-ante Regulierung möglicherweise schwächt und die Entwicklung leistungsfähiger Netzwerkregulierungseinrichtungen wie BEREC und ACER konterkariert. Das Verhältnis zwischen sektorspezifischer ex-ante Regulierung und Wettbewerbsrecht wird seit Jahren erörtert.47 In neuester Zeit ist diese Frage im Zusammenhang mit dem Ziel eines verstärkten „unbundling“ im Bereich der elektronischen Kommunikation und vor allem der Energienetze in den Vordergrund gerückt. Das Instrument des „unbundling“ ist im Brennpunkt der Regulierung gesamtwirtschaftlich bedeutsamer Netzwerkindustrien verortet. Die Zusammenhänge sind wie folgt: Die EU-Kommission hatte mit ihrem Versuch, durch die Erlangung und den Einsatz sektorspezifischer Regulierungsmacht eine zügige eigentumsrechtliche Entflechtung der Betreiber von Energienetzen zu erreichen nur beschränkten Erfolg. Ziel der EU-Kommission war es, die marktstrukturelle Voraussetzungen für „smart energy networks“ (mit durchgängig optimierter Computersteuerung, insbes. auch Gas-Umkehrfluß („reverse flow“) insbes. im Krisenfall) zu verwirklichen. In dieser Lage erschien das Wettbewerbsrecht als geeignetes Mittel, um im Endeffekt durch die Erreichung hochtechnologischer Interkonnektivität die „geopolitische“ Energienachfragemacht der Europäer gegenüber der Anbietermacht von „Öl & Gas“-Produzenten aus Rußland (Gasprom) aber auch Nahost wirksam werden zu lassen.48 Das Verhältnis von sektorspezifischer Regulierung und Wettbewerbsrecht in Netzindustrien war im „Deutsche Telekom Urteil“ des EUG (Gericht Erster Instanz) wie folgt geklärt worden49: Die Anwendung des EU-Wettbewerbsrechts – hier besteht ein wesentlicher Unterschied zum US-amerikanischen Recht50 – sei

47 K.W. Grewlich, Sector-specific regulation and competition rules in European Telecommunications, Common Market Law Review 1999, 937 ff. 48 EU Commission, Commission Staff Working Paper – Impact Assessment, Accompanying the document Proposal for a Regulation of the European Parliament and the Council on guidelines for trans-European energy infrastructure and repealing Decision No 1364/2006/EC, SEC(2011) 1233 final 19.102011 (Annex 14: The current regulatory framework for infrastructure delivery); EU Commission, Communication from the Commission to the European Parliament, the Council, the European Economic and Social Committee and the Committee of the Regions on Security of energy supply and international cooperation – „The EU Energy Policy: Engaging with Partners beyond our Borders“, COM(2011) 539 final 7. 09. 2011. 49 Case F-271/03 Deutsche Telekom AG v. Commission [2008] ECR II-477. 50 Verizon Comm’ns Inc. v. Law Offices of Curtis V. Trinko, LLP, 540 U.S. 398 (2004).

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auch dann nicht ausgeschlossen, wenn das wettbewerbsrechtlich unzulässige Verhalten im Einklang mit Vorgaben nationaler sektorspezifischer Regulierung steht.51 Die Wirksamkeit, ja das Abschreckungspotential des in Ergänzung bzw. an Stelle sektorspezifischer Regulierung für marktöffnende Zwecke im Bereich von Energieübertragungsnetzen eingesetzten „instrumentalisierten„ Wettbewerbsrechts ist als hoch einzuschätzen. Beispielsweise hat sich RWE der EU-Kommission gegenüber verpflichtet das Gasübertragungsnetz zu verkaufen.52 Doch dürfte – wie das Beispiel ACER zeigt – die Nutzung des Wettbewerbsrechts für Zwecke des sektorspezifischen Regulierungsrechts mit Prozeßvergleichen und damit einhergehenden bindenden Verpflichtungen (Settlements und Commitments53) wie im US-amerikanischen Antitrust-Recht – abgesehen von fundamentalen ordnungspolitischen Fragen im Bezug auf die Wahrung der „Eigengesetzlichkeit“ des Wettbewerbs54 – noch andere Probleme mit sich bringen. Erstens, könnte sich ein Legitimitätsproblem ergeben und zwar aus folgendem Grund: Die Multiebenen-, Multiakteur- und Multiinstrumental („distributed“) Governance von ACER wurde in einem Kompromiß zwischen Mitgliedstaaten, nationalen Regulierungsagenturen und EU-Institutionen zustandegebracht. Im Gegensatz dazu steht die – nicht generell sektorspezifisch ex ante wirkende – vielmehr fallorientierte wettbewerbsrechtlich basierte „Regulierung“ (Art. 102 AEU) von Netzwerkindustrien außerhalb des beschriebenen, auf eine Multi-Ebenen- Multi-Akteur- und Multi-Instrumental Governance gerichteten Kompromisses. Zweitens, verglichen mit der „Methode ACER“ ist es zumindest fraglich, ob das Wettbewerbsrecht geeignet ist, den Bereich der Energie effektiv zu regulieren. Die aus der wettbewerbsrechtlichen Terminologie resultierende Unsicherheit, die im Falle von Begriffen wie „geographischer Markt“, „relevanter Produktmarkt“ oder „collective abuse“ mit wettbewerbsökonometrischen Begriffen bzw. mathematischen Oligopolmodellen eingedämmt wird, könnte einer „regulatory governance“ in der Form eines informations- und verhaltenssteuernden Verbunds wie ACER unterlegen sein, wenn es darum geht, zielgenau, verhältnismäßig und nachhaltig eine investitionsfreundliche Verhaltenssteuerung in Netzwerkindustrien hervorzubringen.

51 Dazu P.-A. Buignes/R. Klotz, Margin Squeeze in Regulated Industries: The CFI Judgement in the Deutsche Telekom Case, Global Competition Policy (Online Magazine), Juli 2008, 1 ff.; D. Gerardin/R. O’Donoghue, The Concurrent Application of Competition Law and Regulation: The Case of Margin Squeeze Abuses in the Telecommunications Sector, 1 (2) J. Competition Law & Econ. 2005, 355 ff. 52 CaseComp/B-1/39.402 – RWE Gas Foreclosure – Commission Decision of 18 March 2009 relating to a proceeding under Article 82 of the EC Treaty and Article 54 of the EEA Agreement OJ (2009) C133/8. 53 M. Wirtz/Silke Möller, E.ON: Commitment Decision – Gas Foreclosure, in: 1 (5) Journal of European Competition Law & Practice 2010, 418 ff. 54 E.-J. Mestmäcker, Recht in der offenen Gesellschaft, 1993 (passim); F. Böhm, Wettbewerb und Monopolkampf, 1933, 57 ff.

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In verschiedenen „essential facilities“-Entscheidungen, insbesondere im Bereich der Gasnetze stellte die EU-Kommission fest, daß vorhandene Netzkapazitäten und Netzteile nicht effektiv zugänglich gemacht wurden, was durch organisatorischtechnische Maßnahmen zu beheben sei. Ist angesichts dieser Entwicklung die Sorge berechtigt, in der Zukunft könnten über das Wettbewerbsrecht industrie- und gesellschaftspolitisch gewünschte Netzinvestitionen quasi-imperativ erzwungen werden?55 Mit Hilfe der Instrumentalisierung des Wettbewerbsrecht für Zwecke der sektorspezifischen ex-ante Regulierung dürfte die EU-Kommission zumindest aus ihrer Sicht in den Netzwerkindustrien Fortschritte erreicht haben, die sie mit der klassischen ex ante-Regulierung allein nicht so zügig erzielt hätte. Die Dialektik dieses Vorgehens liegt darin, daß gerade deswegen das sektorspezifische Regulierungsrecht – gestärkt durch den „mission creep“ des Wettbewerbsrechts – wohl nicht so schnell wie ursprünglich angenommen zugunsten des horizontal und ex post anzuwendenden Wettbewerbsrechts heruntergefahren wird. Wird nunmehr das Paradox, daß wirtschaftliche Freiheit durch Regulierungsbürokratie erreicht werden soll, noch langsamer ausgeräumt? Ordnungspolitisch würde ein solcher Befund enttäuschen, denn durch das möglichst frühe „Ausphasen“ der sektorspezifischen ex-ante Regulierung sollte doch gerade den Gefahren technokratischen Verhaltens und des dirigistischen Machtmißbrauchs begegnet werden. 5. Metarechtsordnung des Wettbewerbsrechts und Governance von Netzwerkindustrien Da der Versuch planmäßiger Sozialgestaltung durch Governance erfolgt, stellt der Wettstreit verschiedener Ausprägungen von Governance, insbesondere der Wettstreit der Rechtsordnungen einen wesentlichen Aspekt des Ringens um politischen und wirtschaftlichen Einfluß dar.56 Möglicherweise ist dem zwischenstaatlichen, bzw. multiregionale Wettstreit um die optimale sektorspezifische „regulatory governance“ ein Korrekturpotential eigen, das systemimmanent optimierend wirken könnte, zumindest die schlimmsten Irrwege zu verhindern mag. In diesem Sinne bewirken WTO/GATS eine unterschiedlich intensive Metaregulierung im Bereich der regionalen und nationalen ex-ante Regulierung. Andererseits aber wird das Fehlen einer „internationalen Wettbewerbsordnung“ schmerzlich spürbar. Zwar 55 In dieser Richtung U. Scholz/Stephan Purps, The Application of EC Competition Law in the Energy Sector, in: 1(1) Journal of European Competition 2010, 37 ff.; zu den beabsichtigten „Europäischen Energie-Autobahnen“ und „Smart grids“: EU Commission, Proposal for a Regulation of the European Parliament and of the Council on guidelines for trans-European energy infrastructure and repealing Decision No 1364/2006/EC, COM(2011) 658 final 29.102011; EU Commssion, Communication from the Commission to the European Parliament, the Council, the European Economic and Social Committee and the Committee of the Regions – Energy infrastructure priorities for 2020 and beyond – A Blueprint for an integrated European energy network, COM(2010) 677 final 17. 11. 2010. 56 K. M. Meessen, Wirtschaftsrecht im Wettbewerb der Systeme, 2005.

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gibt es interessante Ansätze zu einer grenzüberschreitenden Wettbewerbsordnung: Zu denken ist an den „München-Kodex“ oder an das Instrument der „positive comity“.57 Doch sind wir noch weit entfernt von einer global effektiven Metarechtsordnung des Wettbewerbsrecht als Teil einer „kooperativen Governance von Netzwerkindustrien“. 6. Herrschaft des Rechts Governance erlaubt eine „kontrollraumartige“ Gesamtsicht auf Handlungsebenen, Akteure und Handlungsformen, – mit den möglichen Folgen einer Anstachelung des Steuerungswillens, aber auch einer Stärkung der Rechtstreue der Regulierer. An der Feststellung, daß Recht und Governance nicht kongruent sind und daß Recht die signifikanteste Untermenge von Governance darstellt, wird festgehalten. Governance ist im Vergleich zum bindenden Recht die umfassendere Sammlung der Erscheinungsformen der Verhaltenssteuerung. Aber Recht positioniert sich im System der Governance als ihr wirkungsmächtigster Teil. Die Gesamtsicht der „Governance“ ändert nichts an der überlegenen normativen Kraft des Rechts und der fundamentalen Durchhaltekraft der Staaten, die der Europäischen Union als deren Mitgliedstaaten „Zuständigkeiten zur Verwirklichung ihrer gemeinsame Ziele übertragen“58. Anders ausgedrückt, gerade in der Komplexität der Netzwerkindustrien ist „Kooperative Regulatory Governance“ nicht mehr als eine Krücke auf dem Weg zu einer immer umfassenderen Herrschaft des Rechts, in der die Entscheidungen offen und bürgernah getroffen werden.

57 K. W. Grewlich, Wettbewerbsordnung als Bestandteil völkerrechtlicher Konstitutionalisierung, RIW/Recht der internationalen Wirtschaft 2001, 641 ff. 58 Art. 1 Vertrag über die Europäische Union.

Die Stellung des Europäischen Bürgerbeauftragten im Rechtsschutzsystem der EU Von Jörg Gundel, Bayreuth I. Der Bürgerbeauftragte der EU als (nicht mehr ganz) neue Institution der nichtförmlichen Streitschlichtung In den letzten Jahrzehnten hat die nichtförmliche Beilegung von Streitigkeiten zwischen Bürger und Verwaltung in Europa eine deutliche Aufwertung erfahren, die sich vor allem in der Errichtung entsprechender Institutionen nach dem skandinavischen Vorbild des Ombudsmanns niedergeschlagen hat: So verfügt inzwischen die überwältigende Mehrheit der EU-Mitgliedstaaten über solche Einrichtungen,1 und auch die Europäische Union besitzt mit dem durch den Vertrag von Maastricht2 geschaffenen, nun in Art. 228 AEUV geregelten Bürgerbeauftragten3 ein solches unabhängiges Organ, das auf Beschwerden Einzelner oder aus eigener Initiative Mißstände in der Tätigkeit der EU-Organe – bzw. genauer: in ihrer Ver-

1 Für einen vergleichenden Überblick s. Kucsko-Stadlmayer (Hrsg.), Europäische Ombudsmann-Institutionen, 2008; danach bestehen nun in 25 der 27 EU-Mitgliedstaaten entsprechende Einrichtungen (als Ausnahmen werden Italien und Deutschland angeführt, wo das Instrument nur in einzelnen Bundesländern existiert; s. auch Franke, Ein Ombudsmann für Deutschland?, 1999). Zuletzt war aus Frankreich die Schaffung des „Défenseur des droits“ durch die Verfassungsreform von 2009 (Art. 71 – 1 Verf.) zu vermelden, in dem die Kompetenzen verschiedener sektoraler Institutionen zusammengeführt wurden; zur gesetzlichen Regelung (LO No 2011 – 333 v. 29. 3. 2011 relative au Défenseur des droits, JORF 30. 3. 2011, S. 5497) s. Aumond, RFDA 2011, 913 ff.; Dord, AJDA 2011, 958 ff.; Verpeaux, JCP 2011, 823 ff.; Zarka, Rec. Dalloz 2011, 1027 ff., sowie die Beiträge in RFAP No 139 (2011). 2 Die Aufnahme ging wesentlich auf Initiativen Dänemarks und Spaniens zurück, s. z. B. Tsadiras, in: Craig, EU Administrative Law, 2. A. 2012, S. 739 (741); Dänemark hatte schon zuvor durch die frühe Übernahme des schwedischen Modells im Jahr 1953 maßgeblich zur Verbreitung des Ombudsmann-Systems beigetragen, s. J. Stern, in: Kucsko-Stadlmayer (Fußn. 1), S. 129 ff. 3 Die wesentlichen Regelungen zu Status und Befugnissen finden sich im Beschluss des EP v. 9. 3. 1994 „über die Regelungen und allgemeinen Bedingungen für die Ausübung der Aufgaben des Bürgerbeauftragten“, ABl. EG 1994 L 113/15, geändert durch Beschluss des EP v. 18. 6. 2008, ABl. EU 2008 L 189/25; ergänzt durch die vom Bürgerbeauftragten auf Grundlage von Art. 14 des Beschlusses erlassenen Durchführungsbestimmungen (zuletzt in der durch Beschluß v. 3. 12. 2008 geänderten Fassung, veröffentlicht unter www.ombudsman.europa.eu).

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waltung4 – untersuchen soll.5 Die Institution, die nun bereits auf eine fast 20jährige Tradition6 zurückblicken kann, ist heute nicht nur primärrechtlich geregelt, sondern hat mit Art. 43 GRCh auch Aufnahme in die Grundrechtecharta gefunden; über die symbolische Bedeutung hinaus ist mit dieser grundrechtlichen Verankerung allerdings kein Mehrwert verbunden, weil die Grundrechtecharta für Ausübung und Grenzen des Befassungsrechts gemäß Art. 52 Abs. 2 GRCh auf die Verträge zurückverweist. Folgt man diesem Rückverweis, so zeigt sich allerdings rasch, daß der Zuständigkeitsbereich des EU-Bürgerbeauftragten begrenzt ist: Er beschränkt sich allein auf das Handeln der EU-Institutionen.7 Beschwerden, die sich gegen die Anwendung oder Mißachtung von EU-Recht durch die mitgliedsstaatlichen Behörden wenden, sind damit unzulässig8 ; sie können allerdings mit Zustimmung des Beschwerdeführers innerhalb des Netzwerks der europäischen Bürgerbeauftragten (European Network of Ombudsmen – ENO)9 an die zuständige nationale Stelle abgegeben werden.10 Das Verhalten nationaler Behörden kann damit allenfalls 4 Die deutsche Fassung spricht sehr allgemein von „Mißständen bei der Tätigkeit“; die englische bzw. französische Fassung („maladministration“/„mauvaise administration“) lassen deutlicher erkennen, daß die Verwaltung im Blickpunkt steht, womit z. B. die inhaltliche Evaluation von Regelungen des EU-Gesetzgebers ausgeschlossen ist; s. dazu z. B. Tsadiras, 26 YEL (2007), 157 (173); Guckelberger, DÖV 2003, 829 (835); s. auch noch u. bei Fußn. 94). 5 Aus der Literatur s. die Beiträge in Karagiannis/Petit (dir.), Le médiateur européen: Bilan et perspectives, 2007; Cominelli, Il mediatore europeo, ombudsman dell’unione: risoluzione alternative delle dispute tra cittadini e istituzioni comunitarie, 2005; Peters, 42 CMLRev. (2005), 697 ff.; Yeng-Seng, RTDH 2004, 527 ff.; De Matteis, RIDPC 2003, 1191 ff.; Heede, European Ombudsman: redress and control at european level, 2000. 6 Die erste Ernennung des Bürgerbeauftragten erfolgte drei Jahre nach Inkrafttreten des Vertrags von Maastricht im Jahr 1995; die Position wurde dann für zwei Amtsperioden durch Jacob Söderman bekleidet; für eine Bilanz seiner Amtszeit s. Leino, 10 EPL (2004), 333 ff. Seit 2003 wird das Amt von Nikiforos Diamandouros ausgeübt, der mit Beschluß des EP v. 20. 1. 2010, ABl. EU 2010 L 39/4, für eine weitere Amtszeit bestätigt wurde. 7 Sein Aktionsradius ist insoweit enger als derjenige der Europäischen Grundrechteagentur, die im Anwendungsbereich des EU-Rechts auch für die Mitgliedstaaten zuständig ist, aber wiederum kein Mandat zur Verfolgung individueller Fälle hat; zu ihren Aufgaben s. Art. 4 der VO (EG) Nr. 168/2007 des Rates v. 15. 2. 2007 „zur Errichtung einer Agentur der Europäischen Union für Grundrechte“, ABl. EU 2007 L 53/1; s. auch Eckhardt, Die Akteure des außergerichtlichen Grundrechtsschutzes in der Europäischen Union, 2010, S. 354 ff. 8 Diese Einschränkung betrifft die überwiegende Zahl der erhobenen Beschwerden: So lagen im Jahr 2010 von 2727 bearbeiteten Beschwerden nur 744 im Zuständigkeitsbereich (s. den Jahresbericht 2010 des Bürgerbeauftragten, S. 20); zur Frage des Rechtsschutzes gegen diese Einstufung s.u. IV. 1. bei Fußn. 52. 9 Zu ihm s. Harlow/Rawlings, 13 ELJ (2007), 542 (555 ff.); Tsadiras, 33 ELRev. (2008), 101 ff.; Grard, in: Karagiannis/Petit (Fußn. 5), S. 35 (37 ff.); s. auch Diamandouros, in: Potvin-Solis (dir.), Vers un modèle européen de fonction publique, 2011, S. 271 (273 f.). 10 s. Art. 2 Abs. 5 der Durchführungsbestimmungen (Fußn. 3); s. dazu Tsadiras, 33 ELRev. (2008), 101 (105 f.). Bei Mitgliedstaaten wie Deutschland, die über keine entsprechende Stelle

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mittelbar in Fällen vor den Bürgerbeauftragten gelangen, in denen die Behandlung von Vertragsverletzungsbeschwerden durch die Kommission gerügt wird11; auch dann ist aber unmittelbarer Gegenstand allein das Vorgehen der Kommission bei der Behandlung der Beschwerde. Anders als die Bezeichnung suggeriert, werden „normale“ Unionsbürger also nur selten Gelegenheit haben, den Bürgerbeauftragten mit Beschwerden zu befassen, nachdem das EU-Recht ihnen gegenüber weiterhin durch die Mitgliedstaaten vollzogen wird12 ; wichtige Gruppen von Beschwerdeführern bilden dagegen die EU-Bediensteten selbst (in Bezug auf ihre Personalangelegenheiten) und die im EU-Binnenmarkt tätigen Unternehmen. Auch in den Bereichen, in denen damit eine Zuständigkeit des Bürgerbeauftragten ausscheidet, ist allerdings festzustellen, daß die Europäische Union verstärkt auf die nichtförmliche Streitbeilegung als Alternative zur Befassung der Gerichte setzt: So besteht seit 2001 das SOLVIT-System13 zur Koordination der mitgliedsstaatlichen Verwaltungen bei der Anwendung der Binnenmarkt-Regeln; in seinem Rahmen sollen die Probleme des Beschwerdeführers im (nichtförmlichen und kostenfreien) Dialog zwischen der Verwaltung seines Heimatstaats und den Behörden des Mitgliedstaats gelöst werden, in dem das Problem aufgetreten ist.14 Selbst für die Streitschlichtung unter Privaten sieht das Sekundärrecht nun Regelungen vor15; die Schaffung entsprechender Mechanismen in den Mitgliedstaaten ist teils sogar vorgegeben, soweit es um Streitigkeiten zwischen Verbrauchern und Infrastrukturunternehmen, etwa im Post- oder Energiesektor geht.16 Vorschläge zur zwingenden verfügen (s. o. Fußn. 1), ist stattdessen die Abgabe an die EU-Kommission zur Prüfung einer Vertragsverletzung möglich. 11 Zu diesem wichtigen Tätigkeitsfeld des Bürgerbeauftragten s. noch u. III. bei Fußn. 33. 12 De lege ferenda für eine Erweiterung der Zuständigkeit auf diese Konstellation z. B. Gaitanides, in: Heselhaus/Nowak (Hrsg.), Handbuch der Europäischen Grundrechte, 2006, § 50 Rn. 46; allerdings bestehen hier (neben dem gerichtlichen Rechtsschutz) bereits hinreichende Beschwerdemöglichkeiten, etwa an die Kommission (s.u. Fußn. 36) oder die nationalen Beschwerdestellen (s. o. Fußn. 1 u. 10). 13 s. die Empfehlung der Kommission v. 7. 12. 2001 „über Grundsätze zur Nutzung von ,SOLVIT‘, dem Problemlösungsnetz für den Binnenmarkt“, ABl. EG 2001 L 331/79; s. auch die Kommissionsmitteilung „Eine wirksame Problemlösung im Binnenmarkt (,SOLVIT‘)“, KOM (2001) 702 endg. v. 27. 11. 2001. 14 Für die Schilderung eines konkreten Anwendungsfalls s. Salgado, EuZW 2011, 422 ff. 15 s. die RL 2008/52/EG des EP und des Rates v. 21. 5. 2008 über bestimmte Aspekte der Mediation in Zivil- und Handelssachen, ABl. EU 2008 L 136/3; zu ihr z. B. Hess, Europäisches Zivilprozeßrecht, 2010, S. 595 ff.; de Walsche, in: Mélanges Georges Vandersanden, 2008, S. 505 ff. 16 So verlangt Art. 19 der RL 97/67/EG des EP und des Rates v. 15. 12. 1997 über gemeinsame Vorschriften für die Entwicklung des Binnenmarktes der Postdienste der Gemeinschaft und die Verbesserung der Dienstequalität, ABl. 1998 L 15/14, für den Postsektor „transparente, einfache und kostengünstige Verfahren“ zur Beilegung von Nutzerbeschwerden gegenüber dem Universaldienstleister; die Mitgliedstaaten können die Verpflichtung auch auf andere Anbieter ausdehnen, s. EuGH, 13. 10. 2011 Rs. C-148/10 (DHL International NV); dazu Kauff-Gazin, Europe 12/2011, 24 f.; für die Umsetzung in Deutschland s. § 10 PostdienstleistungsVO v. 21. 8. 2001, BGBl. I S. 2178. Für den Energiesektor s. parallel dazu Art. 3

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Ausweitung solcher Vorkehrungen auf sämtliche Verbraucherstreitigkeiten befinden sich im Gesetzgebungsverfahren.17 II. Die Konkurrenz zu und die Koordination mit den bestehenden Strukturen Die neue Form der Streitbeilegung durch den Bürgerbeauftragten trat allerdings in der Rechtsgemeinschaft der EU – ebenso wie in den Mitgliedstaaten – neben die bestehenden Instrumente der förmlichen wie nichtförmlichen Streitbeilegung; zu letzteren gehört insbesondere das in Art. 24 Abs. 2, Art. 227 AEUV und Art. 44 GRCh geregelte Petitionsrecht zum Europäischen Parlament, das zwar erst gleichzeitig mit dem Bürgerbeauftragten durch den Vertrag von Maastricht im Primärrecht verankert wurde, anders als dieser aber in die Anfangsjahre der europäischen Integration zurückreicht.18 Dieses Konkurrenzverhältnis hatte zunächst für große Zurückhaltung im Europäischen Parlament in der Frage der Einführung des Bürgerbeauftragten gesorgt19 und erklärt die im EU-Recht gewählte institutionelle Zuordnung des Bürgerbeauftragten zum Parlament, von dem er gewählt wird und an das er berichtet. Nachdem dieses Konkurrenzverhältnis zum Petitionsrecht in der Literatur bereits vertieft ausgeleuchtet wurde20, soll im Folgenden vor allem das Verhältnis dieser neuen nichtförmlichen Streitbeilegung zu den etablierten Strukturen des EURechtsschutzsystems untersucht werden: Diese Fragestellung kann zunächst überraschend erscheinen, weil das Instrument gerade auf die nichtstreitige Erledigung von Konflikten ausgerichtet ist und daher eine parallele Inanspruchnahme gerichtAbs. 13 mit Anh. I (1) f der RL 2009/72/EG des EP und des Rates v. 13. 7. 2009 „über gemeinsame Vorschriften für den Elektrizitätsbinnenmarkt und zur Aufhebung der RL 2003/ 54/EG“, ABl. EU 2009 L 211/55, nun umgesetzt in §§ 111 a – c EnWG in der Fassung des Gesetzes v. 26. 7. 2011, BGBl. I S. 1554; dazu Lange, RdE 2012, 42 (43 ff.). Das Sekundärrecht sieht die Nutzung als für den Verbraucher fakultativ vor, die Mitgliedstaaten können aber auch die Verbindlichkeit anordnen, so (zu den entsprechenden Regelungen im Telekommunikationssektor) EuGH, 18. 3. 2010 verb. Rs. C-317/08 u. a. (Alassini u. a.), Slg. 2010, I-2213. 17 s. den Vorschlag für eine Richtlinie des EP und des Rates über Formen der alternativen Beilegung verbraucherrechtlicher Streitigkeiten (…), KOM (2011) 793 endg. v. 29. 11. 2011; weiter den Vorschlag für eine VO des EP und des Rates über die Online-Beilegung verbraucherrechtlicher Streitigkeiten, KOM (2011) 794 endg. v. 29. 11. 2011. 18 Es fand sich bereits in Art. 42 der Geschäftsordnung der Beratenden Versammlung der EGKS, s. ABl. EGKS 1954 S. 393; dazu z. B. Blumann, in: Karagiannis/Petit (Fußn. 5), S. 59 (65). 19 Zur Entwicklung der Haltung des Europäischen Parlaments s. z. B. Tsadiras, in: Craig (Fußn. 2), S. 739 ff. 20 s. nur Guckelberger, Der Europäische Bürgerbeauftragte und die Petitionen zum Europäischen Parlament, 2004; dies., DÖV 2003, 829 (837 f.); Hamers, Der Petitionsausschuss des Europäischen Parlaments und der Europäische Bürgerbeauftragte, 1999, 234 ff.; Meese, Das Petitionsrecht beim Europäischen Parlament und das Beschwerderecht beim Bürgerbeauftragten der Europäischen Union, 2000, S. 305 ff.

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lichen Rechtsschutzes schon durch das Primärrecht ausdrücklich ausgeschlossen wird21; darüber hinaus wird auch der Lauf gerichtlicher Klagefristen durch seine Befassung nicht unterbrochen.22 Auch sind die Maßstäbe nicht identisch: Die Feststellung eines „Mißstandes“ durch den Bürgerbeauftragten bezeichnet nicht notwendig einen Rechtsverstoß23, sondern erfaßt auch eine unterhalb dieser Schwelle liegende, bloß „unangemessene“ Verwaltungspraxis. Auch der Verfahrensrahmen ist wesentlich weniger förmlich gestaltet: So verfügt der Bürgerbeauftragte zwar über Ermittlungsbefugnisse, ist für ihre Durchsetzung aber auf das Europäische Parlament angewiesen24; in Bezug auf die Rechtsfolgen ist er auf bloße Empfehlungen an die betroffene Institution beschränkt, die in einem mehrstufigen Verfahren erarbeitet werden25. Nur in Fällen von allgemeiner Bedeutung kommt schließlich als schärfstes Mittel die Erstattung eines Sonderberichts an das Parlament26 zum Einsatz. Nach dem Konzept des geltenden EU-Rechts, das zwischen der gerichtlich-juristischen Bewertung eines Sachverhalts und seiner Beurteilung durch den Bürgerbeauftragten grundsätzlich trennt, muß der Rechtschutzsuchende sich also für eine der Möglichkeiten entscheiden. Dabei fallen zugunsten der Beschwerde zum Bürgerbeauftragten die Kostenfreiheit und der erweiterte Prüfungsmaßstab ins Gewicht, zu ihren Lasten allerdings die Unverbindlichkeit des Ergebnisses; ein Betroffener wird danach wohl der gerichtlichen Klage den Vorzug geben, wenn diese hinreichende Aussicht auf Erfolg hat, insbesondere die Zulässigkeitshürden überwindet.27 Allerdings existieren durchaus Konstellationen, in denen diese Voraus21 Art. 228 Abs. 1 Uabs. 2 S. 1 AEUV stellt klar, daß die Untersuchungsbefugnis des Bürgerbeauftragten nicht für Sachverhalte gilt, die „Gegenstand eines Gerichtsverfahrens sind oder waren“; die Konsequenzen zieht Art. 2 Abs. 7 des Beschlusses v. 9. 3. 1994 (Fußn. 3), wonach der Bürgerbeauftragte seine Untersuchung beendet, wenn die Sache nach Einreichung der Beschwerde rechtshängig wird. Dieselbe Nachrangregelung gilt im SOLVIT-System, s. Punkt. II. A. 2. der Kommissionsempfehlung (Fußn. 13). 22 So ausdrücklich Art. 2 Abs. 6 des Beschlusses (Fußn. 3). Hier unterscheidet sich die Ausgestaltung von den Vorgaben für die Schlichtung unter Privaten: Dort verlangt Art. 8 der RL 2008/52/EG (Fußn. 15), daß eine nachfolgende gerichtliche Geltendmachung nicht durch den Ablauf von Verjährungsfristen verhindert wird. 23 Dazu z. B. Diamandouros, in: Liber Amicorum Bo Vesterdorf, 2007, S. 315 (330 ff.); Blumann, in: Karagiannis/Petit (Fußn. 5), S. 59 (71 ff.). 24 Art. 3 Abs. 4 des Beschlusses (Fußn. 3); zu den Befugnissen s. Tsadiras, 45 CMLRev. (2008), 757 ff. 25 Dazu Art. 228 Abs. 2 AEUV, weiter Art. 8 der Durchführungsbestimmungen (Fußn. 3). Stellt der Bürgerbeauftragte einen Mißstand fest, der im Nachhinein nicht mehr korrigiert werden kann und auch keine allgemeinen Auswirkungen hat, so beschränkt er sich auf die Dokumentation in Form einer „kritischen Anmerkung“, s. Art. 7 der Durchführungsbestimmungen; für ein Beispiel s.u. Fußn. 95. 26 s. dazu Art. 8 Abs. 4 der Durchführungsbestimmungen (Fußn. 3); für Beispiel s.u. Fußn. 38 u. 42. 27 s. zum Vergleich der Alternativen z. B. Karagiannis, in: ders./Petit (Fußn. 5), S. 89 (96 ff.).

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setzung nicht ohne weiteres zu erfüllen ist, so daß die Wahl der Beschwerde trotz ihrer Begrenzungen ein sinnvoller Weg sein kann (dazu III.). Darüber hinaus haben sich in der Praxis der letzten Jahre doch Überschneidungen ergeben, die vor allem auf das Bestreben von Beschwerdeführern zurückgehen, beide Wege in Anspruch zu nehmen und ihre Vorteile in der einen oder anderen Weise zu verknüpfen (dazu unter IV.). III. Rechtlich oder tatsächlich überschneidungsfreie Felder: Der „Mehrwert“ des Bürgerbeauftragten gegenüber gerichtlichem Rechtsschutz Zunächst aber sind die Felder zu erwähnen, auf denen die Institution des Bürgerbeauftragten tatsächlich eine zuvor nicht vorhandene Funktion abdeckt. Hierzu gehören zunächst die auf eigener Initiative des Bürgerbeauftragten beruhenden Untersuchungen: Hier liegt auf der Hand, daß der gerichtliche Rechtsschutz im Einzelfall nicht die gleiche Reichweite entfalten kann wie das quasi-normative Vorgehen des Bürgerbeauftragten. Beispiele bieten die systematische Aktion zum Zugang zu Dokumenten der EU-Institutionen28, die schon vor der primärrechtlichen Verankerung durch den Vertrag von Amsterdam29 weichenstellend gewirkt hat30, und der von ihm erarbeitete Europäische Kodex für gute Verwaltungspraxis31, der selbst zwar unverbindlich geblieben ist, von den EU-Institutionen aber in seinen Grundlinien akzeptiert und zur Grundlage eigener Regelungen gemacht wurde.32

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Dazu Söderman, 3 EPL (1997), 351 (355 f.); de Leeuw, 3 EPL (1997), 339 (349 f.). Erstmals Art. 255 EGV, nun Art. 15 Abs. 3 AEUV und daneben Art. 42 GRCh. 30 s. zu dieser 1996 eingeleiteten Untersuchung den Sonderbericht im Anschluß an die Initiativuntersuchung betreffend den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten (616/ PUBAK/F/IJH) v. 15. 12. 1997; die nun als sekundärrechtliche Grundlage bestehende VO (EG) Nr. 1049/2001 des EP und des Rates v. 30. 5. 2001 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission, ABl. EG 2001 L 145/43, macht die enge Verbindung dadurch deutlich, daß Art. 8 Abs. 1 der VO in einer für das Sekundärrecht ungewöhnlichen Weise im Fall einer Ablehnung die Pflicht zum Hinweis auf die Beschwerde zum Bürgerbeauftragten als Alternative zur Klage vorsieht. 31 In einer überarbeiteten Fassung aus dem Jahr 2005 verfügbar unter www.ombudsman.europa.eu; zum Kodex s. aus der Entstehungszeit insbes. Martínez Soria, EuR 2001, 682 ff.; Harden, 7 EPL (2001), 165 (171 ff.); Lais, ZEuS 2002, 447 ff.; in jüngerer Zeit Bourquain, DVBl. 2008, 1224 (1231 ff.); K. D. Classen, Gute Verwaltung im Recht der Europäischen Union, 2008, S. 387 ff.; Bousta, Essai sur la notion de bonne administration en droit public, 2010, S. 130 ff. 32 So hat die Kommission einen auf diesem Vorbild beruhenden, allerdings nicht identischen „Kodex für gute Verwaltungspraxis in den Beziehungen der Bediensteten der Kommission zur Öffentlichkeit“ als Anhang in ihre GO aufgenommen, s. den Beschluss 2000/633/ EG, EGKS, Euratom, ABl. EG 2000 L 267/63 (ebenso die Neufassung der GO, ABl. EG 2000 L 308/32); für das Europäische Parlament s. den „Leitfaden für die Pflichten der Beamten und Bediensteten des Europäischen Parlaments – Verhaltenskodex“, ABl. EG 2000 C 97/1. 29

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Überschneidungsfrei sind weiter Bereiche, in denen Klagerechte des Einzelnen eindeutig nicht bestehen, wie es etwa bei der Behandlung von Vertragsverletzungsbeschwerden Einzelner an die Kommission der Fall ist: Hier ist in der Rechtsprechung geklärt, daß kein Anspruch des Einzelnen auf ein Tätigwerden besteht und entsprechende Untätigkeits- oder Nichtigkeitsklagen gegen die Kommission unzulässig sind.33 Eine Rechtsschutzlücke entsteht dadurch zwar nicht34, weil der Einzelne seine Rechte unmittelbar gegenüber dem Mitgliedstaat vor den nationalen Gerichten geltend machen kann35 ; dennoch liegt eine ordnungsgemäße Behandlung solcher Beschwerden, zu deren Erhebung die Kommission im Interesse der Durchsetzung des EU-Rechts selbst einlädt36, im allgemeinen Interesse an einer ordnungsgemäßen Verwaltung. Die auf Initiative des Bürgerbeauftragten erfolgte Selbstverpflichtung der Kommission zum angemessenen Umgang mit solchen Beschwerden37 ist daher ein echter Fortschritt in einem Bereich, der im toten Winkel des gerichtlichen Rechtsschutzes liegt. Ein anderes Feld, das den Bürgerbeauftragten immer wieder beschäftigt38, ist die Beachtung der Sprachenregeln durch die EU-Institutionen39 : Hier ist der Rechtsschutz zwar nicht ausgeschlossen, aber nur schwer zu erlangen, wenn die Prüfung des Verstoßes nicht inzident im Rahmen einer Klage gegen eine andere (verbindliche) Maßnahme möglich ist40; der Einzelne wird hier nur selten die Gelegenheit 33 St. Rspr., s. z. B. EuGH, 15. 1. 1998 Rs. C-196/97 P (Intertronic/Kommission), Slg. 1998, I-199; EuGH, 17. 5. 1990 Rs. C-87/89 (Sonito/Kommission), Slg. 1990, I-1981. 34 Anders wohl Blumann, in: Karagiannis/Petit (Fußn. 5), S. 59 (64). 35 s. dazu die Leitentscheidungen EuGH, 15. 5. 1986 Rs. 222/84 (Marguerite Johnston), Slg. 1986, 1651, Tz. 18; EuGH, 15. 10. 1987 Rs. 222/86 (Unectef/Heylens), Slg. 1987, 4097, Tz. 14 ff., jeweils mit Verweis auf Art. 6 und 13 EMRK; jetzt 19 Abs. 1 EUV und Art. 47 GRCh. 36 s. das in ABl. EG 1989 C 26/6 veröffentlichte Beschwerde-Formblatt. 37 s. dazu die Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament und den Europäischen Bürgerbeauftragten über die Beziehungen zum Beschwerdeführer bei Verstößen gegen das Gemeinschaftsrecht, ABl. EG 2002 C 244/5; zu ihr z. B. Muñoz, RevMC 2003, 610 ff.; Harden, RDUE 2002, 460 (477 ff.). 38 s. z. B. die Entscheidung v. 30. 4. 2008 im Fall 0259/2005/(PB)GG zur Beschwerde einer deutschen Organisation gegen eine Ausschreibung von Entwicklungshilfeprojekten durch die EU-Kommission, die eine Bewerbung nur auf Englisch, Französisch oder Spanisch zuließ (für ein gewisses Aufsehen hat in diesem Fall der Einwand der Kommission gesorgt, wonach die Zulassung weiterer Gemeinschaftssprachen eine Diskriminierung anderer Sprachen wie Thai, Suaheli, Arabisch oder Russisch bedeute; dazu auch FAZ Nr. 127 v. 3. 6. 2008, S. 17); weiter den Sonderbericht v. 30. 11. 2006 im Fall 1487/2005/GG zur Website der Ratspräsidentschaft, deren Fehlen in deutscher Sprache gerügt wurde; zuletzt die Empfehlungsentscheidung v. 24. 11. 2011 im Fall 0640/2011/AN mit der Beanstandung einer öffentlichen Konsultation durch die Kommission, die nur in englischer Sprache erfolgte. 39 Zum Sprachenregime der EU s. z. B. Hayder, ZEuS 2011, 343 ff.; s. auch die Beiträge in Hanf/Malacek/Muir (dir.), Langues et construction européenne, 2010. 40 Für eine Ausnahme s. EuG, 12. 7. 2001 Rs. T-120/99 (Kik/HABM), Slg. 2001, II-2235 = EuR 2001, 764 m. krit. Anm. Gundel (bestätigt durch EuGH, 9. 9. 2003 Rs. C-361/01 P, Slg. 2003, I-8283); selbst Klagen der Mitgliedstaaten wurden hier zunächst als unzulässig

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finden und die Hartnäckigkeit besitzen, einen Prozeß um ihre Einhaltung zu führen. Schwierig sicherzustellen ist direkter Rechtsschutz auch gegenüber Ermittlungen der (in die Kommission integrierten) Betrugsbekämpfungseinheit OLAF, weil diese nicht durch verbindliche, nach Art. 263 AEUV angreifbare Entscheidungen abgeschlossen werden, sondern mit der bloßen Weitergabe der Informationen an die nationalen Strafverfolgungsbehörden enden, die aus ihnen dann in eigener Verantwortung Konsequenzen ziehen.41 Im bekannten Fall des deutschen Journalisten Tillack, den OLAF auf unzureichender Tatsachengrundlage der Bestechung von EU-Bediensteten verdächtigt hatte, war daher die Beschwerde beim Bürgerbeauftragten naheliegend, der insoweit auch einen Mißstand festgestellt und (allerdings erfolglos) Abhilfe empfohlen hat42 ; gerichtlicher Rechtsschutz war dagegen zumindest unmittelbar gegenüber den EU-Institutionen nicht erreichbar.43 Eine vergleichbare Konstellation betrifft die zuletzt durch den Bürgerbeauftragten geführte Untersuchung zum sogenannten EU-Frühwarnsystem (FWS) der Kommission44, nach dem verdächtige Unternehmen in der von ihr geführten internen Datenbank mit Warnstufen gekennzeichnet werden, die den Zugang zu öffentlichen Aufträgen der EU beeinträchtigen können; die betroffenen Unternehmen werden hierzu nur in der gravierendsten Kategorie – dem Ausschluß von der Auftragsvergabe – angehört. Der Bürgerbeauftragte hat hier die Kommission aufgefordert, das Anhörungsrecht der betroffenen Unternehmen in allen Konstellationen sicherzustellen.45 In solchen Fällen ist das Instrument des Bürgerbeauftragten im Ergebnis dem gerichtlichen Individualrechtsschutz zumindest dann überlegen, wenn das betroffene Organ dieser Empfehlung folgt: Zwar hat das Gericht in jünangesehen, s. EuGH, 15. 3. 2005 Rs. C-160/03 (Spanien/Eurojust), Slg. 2005, I-2077; anders dann EuG, 20. 11. 2008 Rs. T-185/05 (Italien/Kommission), Slg. 2008, II-3207; EuG, 13. 10. 2010 verb. Rs. T-156/07 u. T-232/07 (Spanien/Kommission); EuG, 13. 10. 2010 verb. Rs. T166/07 u. T-285/07 (Italien/Kommission); EuG, 3. 2. 2011 Rs. T-205/07 (Italien/Kommission); EuG, 31. 3. 2011 Rs. T-117/08 (Italien/WSA). 41 Dazu m.w.N. Gundel, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach (Hrsg.), Europarecht, 2. A. 2010, § 3 Rn. 51. 42 Entscheidung v. 20. 11. 2003 im Fall 1840/2002/GG; s. noch im Anschluß auf eine Folgebeschwerde über irreführende Behauptungen von OLAF gegenüber dem Bürgerbeauftragten den Sonderbericht v. 12. 5. 2005 im Fall 2485/2004/GG. OLAF hat die Ermittlungen schließlich im Frühjahr 2010 ergebnislos eingestellt, s. FAZ Nr. 53 v. 4. 3. 2010, S. 41. 43 EuG, 4. 10. 2006 Rs. T-193/04 (Tillack/Kommission), Slg. 2006, II-3995, hat eine Nichtigkeitsklage als unzulässig und eine Schadenersatzklage als mangels direkter Kausalität unbegründet abgewiesen, s. dazu Wakefield, 45 CMLRev. (2008), 199 ff; Tournepiche, RAE 2006, 735 ff. Belgien, dessen Behörden die Ermittlungen übernommen hatten, wurde dagegen durch den EGMR wegen Verstoßes gegen Art. 10 EMRK zu 10.000 Euro Schmerzensgeld verurteilt, s. EGMR (2. Sektion), 27. 11. 2007 – Tillack ./. Belgien, NJW 2008, 2565 = JCP 2008 II No 10008 m. Anm. Derieux = Légipresse 2008 III, 33 m. Anm. Guedj. 44 Beschluß 2008/969/EG, Euratom der Kommission v. 16. 12. 2008 über das von den Anweisungsbefugten der Kommission und den Exekutivagenturen zu verwendende Frühwarnsystem, ABl. EU 2008 L 344/125. 45 s. die Empfehlungsentscheidung v. 16. 12. 2011 im Fall OI/3/2008/FOR.

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gerer Zeit geklärt, daß Rechtsschutz hier im Einzelfall möglich ist, weil die Aufnahme in die Warndatei als anfechtbare Handlung mit Rechtswirkungen im Sinne des Art. 263 AEUV einzustufen ist.46 Die Rechtsverfolgung hängt aber wie häufig in solchen Fällen davon ab, daß der Betroffene zunächst überhaupt von dem Eingriff erfährt47 und zudem zur streitigen Geltendmachung seiner Rechte bereit ist; und auch im Erfolgsfall könnte das Gericht den Klagegegner nicht zu einer allgemeinen Änderung seines Vorgehens auffordern, sondern nur die Entscheidung des Einzelfalls beanstanden. IV. Wege der Verschränkung zwischen nichtförmlicher und gerichtlicher Streitbeilegung 1. Klagen des Beschwerdeführers gegen den Bürgerbeauftragten Eine erste Verknüpfung von gerichtlichem Rechtsschutz und außergerichtlicher Streitbeilegung kann dadurch entstehen, daß der Sachverhalt die Gerichte durch eine Klage des Beschwerdeführers gegen den Bürgerbeauftragten erreicht. Die Alternativität von förmlicher und nichtförmlicher Streitbeilegung steht hier nicht unmittelbar entgegen, weil die Parteien des Ausgangskonflikts und des FolgeRechtsstreits sich unterscheiden; dennoch kann es hier zu Konstellationen kommen, in denen inzident die Berechtigung der ursprünglichen Beanstandung geklärt werden soll. Die Zulässigkeit von Nichtigkeits- oder Untätigkeitsklagen gegen den Bürgerbeauftragten scheitert dabei nicht daran, daß dieser in Art. 263 Abs. 1 bzw. Art. 265 AEUVnicht aufgeführt ist; die Rechtsprechung des Gerichts hatte auf diesen Gesichtspunkt unter der Vorgängerfassung der Art. 230 bzw. Art. 232 EGV zwar zunächst abgestellt48, doch war dieses Ergebnis schon damals zweifelhaft49 ; seit In46 So zu Recht EuG, 13. 4. 2011 Rs. T-320/09 (Planet AE/Kommission), Tz. 37 ff. gegen das Vorbringen der Kommission, die die Einstufungen nur als interne Informationsmaßnahmen werten wollte. 47 Im Fall Planet (Fußn. 46) hatte die Kommission dem Kläger mitgeteilt, dass die Zahlungen für ein bereits vor der Eintragung bewilligtes Projekt nur auf ein Sperrkonto überwiesen werden könnten; hätte die Eintragung bereits zuvor vorgelegen, so wäre die Auftragserteilung wohl schon aus diesem Grund unterblieben, ohne daß das betroffene Unternehmen dies notwendig erfahren hätte. 48 So zuerst EuG, 22. 5. 2000 Rs. T-103/99 (Associazione delle Cantine Sociali Venete/ Bürgerbeauftragter und Parlament), Slg. 2000, II-4165, Tz. 46; ebenso EuG, 5. 9. 2006 Rs. T144/06 (O’Loughlin/Bürgerbeauftragter und Irland), Tz. 15 (nicht in der Slg. veröff.); EuG, 3. 11. 2008 Rs. T-196/08 (Srinivasan/Bürgerbeauftragter), Tz. 13 (nicht veröff.). 49 Kritisch z. B. Michel, Europe 1/2009, 16 (17) mit Verweis auf EuG, 8. 10. 2008 Rs. T411/06 (Sogelma/AER), Slg. 2008, II-2771 = EuR 2009, 369 m. Anm. Gundel zur Eröffnung des Rechtsschutzes gegen Maßnahmen der in Art. 230 EGV ebenfalls nicht aufgeführten EGAgenturen; der Rechtsprechung im Ergebnis zustimmend dagegen Eckhardt (Fußn. 7), S. 157 ff.

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krafttreten des Vertrags von Lissabon ist es zudem durch die neue Fassung des Art. 263 Abs. 1 AEUV überholt, der die möglichen Beklagten nicht mehr abschließend aufführt, sondern auch Klagen gegen Handlungen der „Einrichtungen oder sonstigen Stellen der Union mit Rechtswirkungen gegenüber Dritten“ zuläßt. Entsprechend dem nicht rechtsförmlichen Charakter der Tätigkeit des Bürgerbeauftragten ist Primärrechtsschutz in Form der Nichtigkeitsklage in Bezug auf seine Handlungen oder Unterlassungen allerdings dennoch regelmäßig nicht eröffnet50; Ausnahmen bestehen nur, soweit er selbst verbindliche Regelungen trifft, so etwa bei der Verweigerung des Zugangs zu Dokumenten in seinem Amtsbereich.51 Von einer solchen verbindlichen Maßnahme wird man auch ausgehen müssen, soweit eine Beschwerde als unzulässig behandelt wird52 oder ihre Behandlung unterbleibt, denn der in Art. 24 Abs. 3 AEUV und Art. 43 GRCh niedergelegte Anspruch auf Befassung des Bürgerbeauftragten wird damit im Einzelfall endgültig verneint.53 Das ändert allerdings nichts daran, daß die inhaltliche Beurteilung der Beschwerde durch den Bürgerbeauftragten auf diesem Weg nicht angreifbar ist. Generell möglich bleibt Sekundärrechtsschutz54 in Form von gegen den Bürgerbeauftragten gerichteten Schadenersatzklagen gemäß Art. 268, Art. 340 Abs. 2 AEUV.55 Die ersatzpflichtige Rechtsverletzung kann z. B. in der Verletzung von Persönlichkeitsrechten in den Stellungnahmen des Bürgerbeauftragten bestehen56, nicht allerdings darin, daß der Beschwerde nicht stattgegeben wurde57, weil der 50 Im Ergebnis zutreffend daher EuG, 3. 11. 2008 Rs. T-196/08 (Srinivasan/Bürgerbeauftragter), insbes. Tz. 11; bestätigt durch EuGH, 25. 6. 2009 Rs C-580/08 P, Slg. 2009, I-110* (abgek. Veröff.). 51 So das Beispiel von Tsadiras, 32 ELRev. (2007), 607 (613). 52 Für diesen Fall hat EuG, 14. 9. 2011 Rs. T-308/07 (Tegebauer/EP), Tz. 21 die Zulässigkeit der Nichtigkeitsklage gegen eine Entscheidung des Petitionsausschusses des EP bejaht; zustimmend Larché, Europe 11/2001, 14 (15); die Entscheidung dürfte auf den Bürgerbeauftragten übertragbar sein. 53 Ebenso Tsadiras, 32 ELRev. (2007), 607 (614). 54 Die Rechtsschutzgarantie im EU-Recht bedeutet – anders als nach deutschem Vorverständnis – nicht notwendig Primärrechtsschutz, s. für den Rechtsschutz gegenüber der EU EuGH, 12. 9. 2006 Rs. C-131/03 P (Reynolds Tobacco u. a./Kommission), Slg. 2006, I-7795, Tz. 79 ff.; für den Rechtsschutz gegenüber den Mitgliedstaaten EuGH, 13. 3. 2007 Rs. C-432/ 05 (Unibet), Slg. 2007, I-2271, Tz. 55 ff. = JA 2007, 830 m. Anm. Gundel. 55 Zur Zulässigkeit von Schadenersatzklagen s. EuG, 10. 4. 2002 Rs. T-209/00 (Lamberts/ Bürgerbeauftragter), Slg. 2002, II-2203, bestätigt durch EuGH, 23. 3. 2004 Rs. C-234/02 P, Slg. 2004, I-2803 = RFDA 2005, 824 m. Anm. Noury S. 813 ff.; weiter EuG, 24. 9. 2008 Rs. T-412/05 (M./Bürgerbeauftragter), Slg. 2008, II-197* (abgek. Veröff.). 56 So im Fall von EuG, 24. 9. 2008 Rs. T-412/05 (M./Bürgerbeauftragter), Slg. 2008, II197* (abgek. Veröff.); dazu Michel, Europe 11/2008, 28 f. 57 Für einen solchen Fall die Haftung zu Recht grundsätzlich verneinend EuGH, 23. 3. 2004 Rs. C-234/02 P (Lamberts/Bürgerbeauftragter), Slg. 2004, I-2803 = RFDA 2005, 824 m. Anm. Noury S. 813 ff.; dazu Sanna, Riv. dir. int. priv. proc. 2004, 1327 ff.; Meisse, Europe 5/ 2004, 12 f.; Suski, 42 CMLRev. (2005), 1765 ff.; s. auch Peters, 42 CMLRev. (2005), 697 (725 ff.); für einen ähnlichen Fall s. die anhängige Rs. T-217/11 (Staelen/ Bürgerbeauftragter).

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Beschwerdeführer keinen Anspruch auf ein bestimmtes Ergebnis oder auch nur eine ermessensfehlerfreie Entscheidung über die Begründetheit seine Beschwerde hat; zu guter Letzt wäre auch die Kausalität zu verneinen, da auch ein für den Beschwerdeführer positives Ergebnis der Prüfung durch den Bürgerbeauftragten das betroffene EU-Organ nicht bindet. Der Beschwerdeführer kann also den Eintritt der Bestandskraft der ursprünglichen Entscheidung nicht dadurch umgehen, daß er seinen Schaden nun gegenüber dem Bürgerbeauftragten58 geltend macht. 2. Versuche einer gestaffelten Nutzung von Beschwerde und Klage a) Die Einschaltung des Bürgerbeauftragten vor Ergehen einer verbindlichen Verwaltungsentscheidung Nachdem der Bürgerbeauftragte in bereits gerichtshängigen Fällen nicht tätig wird und eine eingeleitete Untersuchung im Fall der Klageerhebung einstellt, ist eine gestaffelte Nutzung beider Instrumente in zwei Konstellationen denkbar: Zum einen durch die Einschaltung des Bürgerbeauftragten noch vor dem Ergehen einer verbindlichen Verwaltungsentscheidung, zum anderen durch die Inanspruchnahme der Gerichte im Anschluß an seine Befassung. Die erste Variante ist v. a. im Kartellsektor praktisch bedeutsam geworden, also einem Bereich, den man bei der Schaffung des Bürgerbeauftragten weniger im Blick gehabt haben dürfte59, zumal hier bereits mit dem Anhörungsbeauftragten60 eine zwar interne, aber ebenfalls unabhängige Stelle zur Überwachung des Verfahrens der Kommission in Wettbewerbssachen existiert61, zu der der Bürgerbeauftragte in gewisser Weise in Konkurrenz tritt. Dennoch erscheint seine Befassung in diesem Bereich naheliegend, nachdem die Kommission hier jedenfalls in den bedeutsameren Fällen weiter selbst

58 Zur Konstellation von Schadenersatzklagen gegen das ursprünglich handelnde Organ unter Berufung auf die Erkenntnisse des Bürgerbeauftragten s.u. IV. 2. b). 59 Eine ähnliche „Zweckentfremdung“ ist beim Informationszugangsrecht nach der VO (EG) Nr. 1049/2001 (Fußn. 30), feststellbar, das vermehrt zur Informationsbeschaffung bei der Vorbereitung kartellrechtlicher Schadenersatzklagen durch Wettbewerber genutzt wird, dazu z. B. Hempel, in: FS Möschel, 2011, S. 265 ff.; s. auch Kellerbauer, WuW 2011, 668 ff. 60 s. zu seinen Aufgaben und Befugnissen nun den Beschluß des Kommissionspräsidenten v. 13. 10. 2011 über Funktion und Mandat des Anhörungsbeauftragten in bestimmten Wettbewerbsverfahren, ABl. EU 2011 L 275/29; zuvor galt die Entscheidung 2001/46/EG, EGKS der Kommission v. 23. 5. 2001, ABl. EG 2001 L 162/21. 61 Zu dieser seit 1982 bestehenden und in der Folge durch mehrfache Umgestaltungen gestärkten Institution s. Albers/Jourdan, 2 Journal of European Competition Law and Practice (2011), 185 ff.; Durande/Kellerbauer, WuW 2007, 865 ff.; Heidenreich, Anhörungsrechte im EG-Kartell- und Fusionskontrollverfahren, 2004, S. 200 ff.; aus der älteren Literatur Johannes, in: FS Deringer, 1993, S. 293 ff.; van der Woude, 33 CMLRev. (1996), 531 ff.

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das Verfahren führt; Aufsehen haben hier insbesondere die Beschwerden des Mobilfunkbetreibers O262 und des Mikrochipherstellers Intel63 erregt64. Die Attraktivität der Beschwerde zum Bürgerbeauftragten beruht hier darauf, daß förmlicher Rechtsschutz gegen die Verfahrensschritte der Kommission, soweit sie sich nicht als eigenständige Entscheidungen darstellen65, noch gar nicht eröffnet ist, weil diese Maßnahmen von der Rechtsprechung als bloße Vorbereitungshandlungen für die das Verfahren abschließende Entscheidung qualifiziert werden. Mit der Nichtigkeitsklage angegriffen werden kann erst diese abschließende Entscheidung; in diesem Rahmen erfolgt dann auch die Prüfung vorangegangener Verfahrensfehler. Zugleich ist von Seiten des Bürgerbeauftragten nur die Behandlung von Beschwerden ausgeschlossen, die Gegenstand gerichtlicher Verfahren sind oder waren, nicht aber solcher, die möglicherweise künftig als Rechtsstreit anhängig werden; der Bürgerbeauftragte kann also auch im Vorfeld eines Rechtsstreits mit einem Sachverhalt befaßt werden, er muß seine Untersuchung allerdings einstellen, sobald der Streit tatsächlich rechtshängig wird. Gerade in Kartellverfahren kann aber angesichts der häufig langwierigen Ermittlungen die Behandlung einer im laufenden Verfahren erhobenen Beschwerde durch den Bürgerbeauftragten schon abgeschlossen sein, bevor eine rechtsmittelfähige Abschlußentscheidung ergeht; wurde seine Untersuchung mit der Feststellung eines Mißstands abgeschlossen, so kann dies in einem späteren gerichtlichen Verfahren gegen die schließlich ergangene Entscheidung zumindest ein beachtliches Argument gegen die Rechtmäßigkeit ergeben, auch wenn diese Feststellung weder das betroffene Organ bindet noch die Beurteilung des Geschehens durch die Gerichte präjudiziert.66 Verneint der Bürgerbeauftragte dagegen einen Verstoß, entsteht dem Beschwerdeführer dadurch jedenfalls kein Nachteil, weil er die vertrauliche Behandlung der Beschwerde verlangen kann. Das Potential ist an den Vorgängen im Fall Intel gut nachzuzeichnen: Hier wurde die Beschwerde zum Bürgerbeauftragten während des noch laufenden Kartellver62 Entscheidung des Bürgerbeauftragten v. 30. 9. 2008 zum Fall 1881/2006/JF; dazu Amory/Desmedt, ECLR 2009, 205 ff. 63 Entscheidung des Bürgerbeauftragten v. 14. 7. 2009 zum Fall 1935/2008/FOR; dazu Barbier de la Serre/Lavedan, Rev. Lamy de la Concurrence (RLC) 2/2010, 67 ff.; s. auch FAZ Nr. 186 v. 13. 8. 2009, S. 11 unter der Überschrift: „Ein Handlanger namens Ombudsmann“; ausführlich zu diesem Fall aus der Sicht des Bürgerbeauftragten Diamandouros, 1 Journal of European Competition Law and Practice (2010), 379 ff. 64 Für weitere Fälle s. die Darstellung bei Scordamaglia-Tousis, 3 Journal of European Competition Law and Practice (2012), 29 ff. 65 Grundsätzlich ist davon auszugehen, daß alle Maßnahmen von EU-Organen, die andere Verfahrensbeteiligte zu einem bestimmten Verhalten verpflichten, eigenständig angreifbar sind, s. für eine Auskunftsanordnung im Beihilfeaufsichtsverfahren EuGH, 13. 10. 2011 verb. Rs. C-463/10 P u. C-475/10 P (Deutsche Post u. Deutschland/Kommission), Tz. 50 ff. 66 So EuG, 4. 10. 2006 Rs. T-193/04 (Tillack/Kommission), Slg. 2006, II-3995, Tz. 126, 128; EuGH, 25. 10. 2007 Rs. C-167/06 P (Komninou u. a./Kommission), Slg. 2007, I-141* (abgek. Veröff.), Tz. 44 (dazu Dewachter, JDE 2008, 112 ff.).

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fahrens im Juli 2008 erhoben, die abschließende Kommissionsentscheidung erging im Mai 200967; die Entscheidung des Bürgerbeauftragten mit der Feststellung von Mißständen bei der Führung des Verfahrens folgte wenig später im Juli 2009, wenige Tage nach dieser Stellungnahme wurde die Klage von Intel erhoben.68 In der Literatur wurde hier schon die – nicht unplausible – Vermutung angestellt, daß der Bürgerbeauftragte seine Arbeit gezielt beschleunigt habe, um noch vor der (durch den Ablauf der Klagefrist bestimmten) Klageerhebung ein Ergebnis präsentieren zu können69 ; andernfalls hätte er seine Untersuchung ergebnislos einstellen müssen. Nun kann der seinerzeitige Beschwerdeführer seine aktuelle Klage mit den Bewertungen des Bürgerbeauftragten „unterfüttern“; die Gerichte sind an seine Beanstandungen freilich in keiner Weise gebunden und können auch bei übereinstimmender Beurteilung ohne weiteres z. B. die Kausalität eines Fehlers für die schließlich erlassene Entscheidung verneinen. b) „Wiederaufnahme“ abgeschlossener Fälle nach der Feststellung eines Mißstands durch den Bürgerbeauftragten? Die zweite Variante betrifft Fallgestaltungen, in denen eine verbindliche Maßnahme eines EU-Organs vorliegt, gegen die zunächst nicht der Rechtsweg gemäß Art. 263 AEUV beschritten, sondern – entsprechend der vorgegebenen Alternativität – der Bürgerbeauftragte eingeschaltet wurde; hat dieser nun einen Mißstand festgestellt, ohne das betroffene Organ zur Abhilfe bewegen zu können, so erscheint die nachträgliche Umsetzung dieses Ergebnisses vor den Gerichten zunächst durch die zwischenzeitlich gemäß Art. 263 Abs. 6 AEUV eingetretene Bestandskraft versperrt, nachdem die gerichtlichen Klagefristen durch die Beschwerde zum Bürgerbeauftragten nicht unterbrochen werden.70 Dieses Hindernis kann zwar zunächst durch einen Antrag auf eine neue Entscheidung des Organs umschifft werden; die Ablehnung einer solchen erneuten Befassung wäre allerdings nach der etablierten Rechtsprechung als bloße (dekla67

Entscheidung der Kommission v. 13. 5. 2009 in einem Verfahren nach Art. 82 EG-Vertrag und Art. 54 EWR-Abkommen (COMP/C-3/37.990 – Intel), zusammengefaßte Veröffentlichung in ABl. EU 2009 C 227/13 mit dem Abschlussbericht des Anhörungsbeauftragten in ABl. EU 2009 C 227/7. 68 Klage vom 22. 7. 2009 in der noch anhängigen Rs. T-286/09 (Intel/Kommission). 69 s. Barbier de la Serre/Lavedan, RLC 2/2010, 67 (72); Intel hatte auch während der laufenden Untersuchung des Bürgerbeauftragten eine Klage eingereicht (Rs. T-457/08; der zugleich gestellte Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz wurde wegen Unzulässigkeit der Hauptsacheklage abgewiesen durch EuG, 27. 1. 2009 Rs. T-457/08 R – Intel/Kommission) und darüber auch den Bürgerbeauftragten informiert, der aber der Einschätzung des Unternehmens folgte, wonach dort andere Fragen geltend gemacht wurden. 70 s. o. Fußn. 22; EuGH, 4. 10. 2010 Rs. C-532/09 P (Ivanov/Kommission), Tz. 42 f. verneint insoweit einen Verstoß gegen die Rechtsschutzgarantie des EU-Rechts, weil dem Beschwerdeführer bis zum Eintritt der Bestandskraft die Wahl des Rechtswegs freistand.

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ratorische) Bestätigung der zuvor getroffenen Entscheidung nicht eigenständig angreifbar.71 Diese Hürde könnte allerdings dadurch überwunden werden, daß die Feststellung eines Mißstandes durch den Bürgerbeauftragten als neue Tatsache eingeordnet wird, die eine Neuentscheidung des bestandskräftig abgeschlossenen Falls durch die Kommission verlangt72. Diese Argumentation wurde erstmals in einem Fall erprobt, der den Zugang zu Dokumenten auf der Grundlage der VO Nr. 1049/200173 betraf: Hier stützte sich der erneute Antrag des späteren Klägers nach der zunächst erfolgten Ablehnung des Zugangs durch die Kommission auf die Bewertung des danach angerufenen Bürgerbeauftragten, der sich die Kommission aber nicht anschließen konnte. Während das Gericht insoweit von einer nur bestätigenden Entscheidung und damit von der Unzulässigkeit der im Anschluß erhobenen Nichtigkeitsklage ausging74, hat der Gerichtshof zugunsten der Zulässigkeit entschieden75 ; der Fall ist allerdings insoweit besonders gelagert, als im Bereich des Dokumentenzugangs erneute Anträge auf einen zunächst verweigerten Zugang grundsätzlich zulässig sind76 und damit die Bestandskraft keine wirkliche Hürde darstellt, der Rückgriff auf die zwischenzeitliche Bewertung durch den Bürgerbeauftragten als neues Element also gar nicht notwendig war. Bei einer Anwendung dieser Konstruktion auf andere Felder könnte allerdings tatsächlich eine Aushöhlung der Bestandskraft drohen; bisher sind entsprechende Klagen auch bei Berücksichtigung der Stellungnahme des Bürgerbeauftragten allerdings ohne Erfolg geblieben: So hat das Gericht in einer späteren Entscheidung die Klage eines abgelehnten Stellenbewerbers differenziert geprüft und die ursprüngliche Ablehnung der Bewerbung als bestandskräftig (und damit nicht mehr inzident überprüfbar) angesehen77, während die spätere Entscheidung, den Vor71 Zur Kategorie des bestätigenden Rechtsakts und seiner prozessualen Behandlung s. D. Schroeder, EuZW 2007, 467 ff.; s. auch noch u. Fußn. 78. 72 Sehr weitgehend in diesem Sinne Rn. 160 ff. der Schlussanträge von Generalanwalt Mengozzi v. 15. 9. 2009 zu EuGH, 26. 1. 2010 Rs. C-362/08 P (Internationaler Hilfsfonds/ Kommission), Slg. 2010, I-669: Er nimmt im Ergebnis eine Wiederaufgreifenspflicht des betroffenen Organs an, wenn der Bürgerbeauftragte einen Mißstand festgestellt hat, der sich auf die Rechtmäßigkeit der betroffenen bestandskräftigen Entscheidung auswirkt; der EuGH ist in seiner Entscheidung auf diese Argumentation allerdings nicht eingegangen, dazu u. bei Fußn. 76. 73 s. o. Fußn. 30. 74 EuG, 5. 6. 2008 Rs. T-141/05 (Internationaler Hilfsfonds/Kommission), Slg. 2008, II-84* (abgek. Veröff.). 75 EuGH, 26. 1. 2010 Rs. C-362/08 P (Internationaler Hilfsfonds/Kommission), Slg. 2010, I-669. 76 So EuGH (Fußn. 75), Tz. 57 ff. 77 EuG, 30. 9. 2009 Rs. T-166/08 (Ivanov/Kommission), Slg. 2009, II-190* (abgek. Veröff.), Tz. 51 ff.; Tatsächlich lag der Fall noch etwas komplizierter, weil die Prüfung hier inzident im Rahmen einer Schadenersatzklage erfolgen sollte; zum indirekten Einfluß der Bestandskraft auf die Zulässigkeit solcher Klagen s. sogleich Fußn. 81.

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schlägen des Bürgerbeauftragten nicht zu folgen, nun als eigenständig überprüfbare Maßnahme – und damit nicht nur als unselbständige Bestätigung der Ursprungsentscheidung – eingeordnet wurde78 ; inhaltlich wurde insoweit freilich wieder festgehalten, daß keine Verpflichtung zur Befolgung der Auffassung des Bürgerbeauftragten besteht. Noch anhängig ist die auf eine entsprechende Argumentation gestützte Klage eines erfolglosen Bewerbers um einen von der Kommission vergebenen öffentlichen Auftrag.79 Zur gerichtlichen „Umsetzung“ von Feststellungen des Bürgerbeauftragten gegenüber bestandskräftig gewordenen Maßnahmen von vornherein besser geeignet erscheint die Schadenersatzklage: Sie kann zum einen darauf gestützt werden, daß das betroffene Organ der Empfehlung des Bürgerbeauftragten nicht gefolgt sei, zum anderen grundsätzlich aber auch unabhängig von der Bestandskraft auf die Fehlerhaftigkeit der ursprünglichen Maßnahme, da das EU-Haftungsrecht keinen strikten Vorrang des Primärrechtsschutzes kennt, sondern die Haftungsklage unabhängig von der Bestandskraft binnen der eigenständigen fünfjährigen Verjährungsfrist80 zuläßt. Allerdings besteht auch hier eine Einschränkung: Danach sind Schadensersatzklagen unzulässig, die auf die Herstellung der (finanziellen) Situation gerichtet sind, die der Aufhebung der indirekt angegriffenen bestandskräftigen Entscheidung entspräche.81 Auch soweit diese Sperre nicht eingreift82, haben solche Klagen im Ergebnis wenig Aussicht auf Erfolg, weil das Gericht in der Bewertung der ursprünglichen Maßnahme nicht an die Auffassung des Bürgerbeauftragten gebunden

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Tz. 61 des Beschlusses (Fußn. 77); weitere Bestätigungen dieser Position auf erneute Gegenvorstellung des Klägers wurden dagegen nicht mehr als eigenständige Entscheidungen gewertet, s. Tz. 68. Die Unterscheidung weckt Anklänge an die deutsche Rechtsprechung zum Wiederaufgreifen bestandskräftiger Verwaltungsakte „im weiteren Sinne“ außerhalb des § 51 VwVfG; dazu z. B. Meyer, in: Knack/Hennecke (Hrsg.), VwVfG, 9. A. 2010, § 51 Rn. 15 ff. 79 Rs. T-442/11 (Evropaïki Dynamiki/Kommission), ABl. EU 2011 C 290/17 (Nichtigkeits- und Schadenersatzklage). 80 Art. 46 EuGH-Satzung; zur Eigenständigkeit der Haftungsklage s. z. B. Pechstein, EUProzeßrecht, 4. A. 2011, Rn. 696 ff. 81 s. EuG, 30. 9. 2009 Rs. T-166/08 (Ivanov/Kommission), Slg. 2009, II-190* (abgek. Veröff.), Tz. 51 ff.: Unzulässig ist danach die Haftungsklage eines unterlegenen Stellenbewerbers, der die Auswahlentscheidung nicht gerichtlich angegriffen, sondern stattdessen den Bürgerbeauftragten eingeschaltet hatte, auf Schadenersatz in Höhe des entgangenen Gehalts. Dieser verengte Schutz der Bestandskraft entspricht der sog. „exception de recours parallèle“ des französischen Verwaltungsprozeßrechts; zu ihr s. m.w.N. Chapus, Contentieux administratif, 13. A. 2008, Rn. 838 ff.; Favret, Les influences réciproques du droit communautaire et du droit national de la responsabilité publique extracontractuelle, 2000, S. 296 f.; aus der deutschen Literatur Gundel, EWS 2004, 8 (10); Schoißwohl, Staatshaftung wegen Gemeinschaftsrechtsverletzung: Anspruchsgrundlage und materielle Voraussetzungen, 2002, S. 154, 169 ff. 82 Das ist z. B. der Fall, soweit andere Schadenspositionen wie z. B. immaterielle Schäden geltend gemacht werden.

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ist83 und das jeweilige Organ auch keine Verpflichtung zur Befolgung seiner Schlußfolgerungen trifft.84 Einen anderen Weg zur nachträglichen gerichtlichen „Verwertung“ der Einschaltung des Bürgerbeauftragten hat die Rechtsprechung der EU-Gerichte bereits abgeschnitten:Auch wenn diese Einschaltung erfolgreich war, das betroffene Organ also seine Position auf Intervention des Bürgerbeauftragten zugunsten des Beschwerdeführers geändert hat, kann dieser die ihm für das Verfahren entstandenen Kosten – etwa für anwaltlichen Beistand bei der Erhebung der Beschwerde – nicht als Schaden gemäß Art. 340 Abs. 2 AEUV gegenüber dem verantwortlichen Organ geltend machen85, obwohl entsprechende Kosten im gerichtlichen Verfahren ersatzfähig wären und die Voraussetzungen einer Haftung der EU auf den ersten Blick auch erfüllt scheinen. Die Begründung dieses Ergebnisses dürfte in einer Unterbrechung der Kausalität liegen, weil der Beschwerdeführer in freier und bewußter Entscheidung den nicht-förmlichen Weg eingeschlagen hat.86 Die Rechtsprechung wahrt damit den nicht-rechtsförmlichen Charakter der Beschwerde, dem die Beiziehung anwaltlichen Beistands eigentlich auch nicht entspricht.87 c) Zwischenfazit Eine der Inanspruchnahme gerichtlichen Rechtsschutzes „vorgeschaltete“ Befassung des Bürgerbeauftragten ist danach möglich und kann im Fall der Feststellung eines Mißstandes für das nachfolgende Gerichtsverfahren zumindest Argumentationsmaterial liefern, auch wenn das Gericht an die Feststellungen nicht gebunden ist; der Erfolg einer solchen Operation hängt allerdings von den zeitlichen Abläufen ab, die der Beschwerdeführer nur beschränkt beeinflussen kann. Immerhin riskiert er keinen Rechtsverlust, wenn die gerichtlich angreifbare Entscheidung des Organs vor Abschluß der Untersuchungen des Bürgerbeauftragten ergeht und er sich nun zur Klageerhebung entschließt: Einzige Konsequenz dieses Vorgehens ist, daß der Bürgerbeauftragte seine Untersuchung ergebnislos einstellen muß. Gravierender sind die Konsequenzen, wenn anstelle der Beschreitung des bereits eröffneten Rechtswegs die Beschwerde zum Bürgerbeauftragte erhoben wurde und 83

Dazu bereits o. Fußn. 66. s. zuletzt EuG, 30. 9. 2009 Rs. T-166/08 (Ivanov/Kommission), Slg. 2009, II-190* (abgek. Veröff.), Tz. 74; anders in der Tendenz die Schlußanträge von Generalanwalt Mengozzi in der Rs. C-362/08 P, s. o. Fußn. 70. 85 So EuG, 11. 7. 2005 Rs. T-294/04 (Internationaler Hilfsfonds/Kommission), Slg. 2005, II-2719, bestätigt durch EuGH, 28. 6. 2007 Rs. C-331/05 P, Slg. 2007, I-5475; dazu Tsadiras, 45 CMLRev. (2008), 559 ff.; anders wohl noch EuG, 17. 3. 2005 Rs. T-160/03 (AFCon Management Consultants/Kommission), Slg. 2005, II-981. 86 s. EuGH, Rs. C-331/05 P, Slg. 2007, I-5475, Tz. 25 ff. 87 Hierauf stellt auch EuG, 11. 7. 2005 Rs. T-294/04 (Internationaler Hilfsfonds/Kommission), Slg. 2005, II-2719, Tz. 51, 56 ab; kritisch allerdings Petit, in: Karagiannis/Petit (Fußn. 5), S. 3 (32). 84

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im Anschluß versucht wird, dessen Feststellungen gegen eine bestandskräftig gewordene Regelung ins Feld zu führen; wenn das betroffene Organ hier nicht aus eigenem Entschluß seine Position korrigiert, sind die Chancen einer gerichtlichen Umsetzung gering – was zum Schutz der Bestandskraft und im Sinne der im Primärrecht angelegten Alternativität von förmlichem Rechtsschutz und nicht-förmlicher Streitbeilegung aber auch konsequent erscheint. 3. Parallele Beschreitung beider Wege durch verschiedene Kläger bzw. Beschwerdeführer Insbesondere in Bezug auf Rechtsakte, die mehrere Beteiligte oder gar eine ganze Unternehmensbranche betreffen, ist noch ein weiterer Weg zur kumulativen Nutzung von förmlichen und nichtförmlichen Rechtsbehelfen möglich: Er besteht darin, daß ein Betroffener Beschwerde zum Bürgerbeauftragten einlegt, während andere den Rechtsweg einschlagen. Ein Beispiel für dieses Vorgehen bildet der Streit um den Erlaß der sogenannten Roaming-Verordnung88, mit der die von Mobilfunkunternehmen verlangten Entgelte für die Zustellung von Telefonanrufen aus dem (europäischen) Ausland gegen den heftigen Widerstand der betroffenen Unternehmen begrenzt wurden89: Hier richtete der Verband der betroffenen Unternehmen eine Beschwerde an den Bürgerbeauftragten mit der Rüge, daß die Kommission vor der Vorlage ihres Vorschlages den beteiligten Kreise nicht genug Zeit zur Stellungnahme eingeräumt und teils unzutreffende Daten zugrundegelegt habe90 ; gleichzeitig haben einzelne Unternehmen gegen die Verordnung die Ungültigkeitsvorlage eines nationalen Gerichts an den EuGH91 herbeigeführt.92 In solchen Fällen wird man aufgrund der Personenverschiedenheit der Akteure nicht vom gleichen Sachverhalt ausgehen können, so daß eine parallele Befassung des Bürgerbeauftragten und der Gerichtsbarkeit tatsächlich möglich erscheint93 ; die 88 VO (EG) Nr. 717/2007 des EP und des Rates v. 27. 6. 2007 über das Roaming in öffentlichen Mobilfunknetzen in der Gemeinschaft und zur Änderung der Richtlinie 2002/21/ EG, ABl. EU 2007 L 171/32. 89 s. zu den Hintergründen Keyaerts, 35 ELRev. (2010), 869 ff.; Brenncke, 47 CMLRev. (2010), 1793 ff.; Pöcherstorfer, ZfRV 2011, 100 ff.; s. auch Neitzel, GPR 2006, 188 ff. 90 Entscheidung des Bürgerbeauftragten v. 3. 7. 2008 im Fall 3617/2006/JF auf Beschwerde der GSM Association. 91 EuGH, 8. 6. 2010 Rs. C-58/08 (Vodafone u. a.), Slg. 2010, I-4999 = EuZW 2010, 539 m. Anm. Schohe = EWS 2010, 380 m. Anm. Gundel; an dem nationalen Ausgangsverfahren war die GSM Association ebenfalls – allerdings nicht als Klägerin – beteiligt. 92 Eine Nichtigkeitsklage schied aufgrund der fehlenden individuellen Betroffenheit der Unternehmen im Sinne des Art. 230 Abs. 4 EGV aus; auch nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon wäre die neue dritte Alternative des Art. 263 Abs. 4 AEUV, die in Bezug auf „Rechtsakte mit Verordnungscharakter“ auf dieses Merkmal verzichtet, nicht einschlägig, weil hiervon Gesetzgebungsakte nicht erfaßt sind, s. EuG, 6. 9. 2011 Rs. T-18/10 (Inuit Tapiriit Kanatami u. a./Rat und Parlament), EWS 2012, 90 m. Bespr. Gundel S. 65 ff. 93 Zudem waren auch die Sachverhalte trotz des übereinstimmenden Angriffsgegenstands nicht vollständig identisch, weil vor dem EuGH vor allem um die Frage der richtigen

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tatsächliche Bedeutung dieser offenen Flanke erscheint allerdings relativ gering, weil es selten gelingen dürfte, einen Verwaltungs-Mißstand beim Erlaß normativer Rechtsakte nachzuweisen94; auch dürften selbst festgestellte Versäumnisse der Kommission im administrativen Vorfeld des Gesetzgebungsverfahrens kaum Konsequenzen für die Rechtmäßigkeit des schließlich erlassenen Rechtsakts haben.95 Der Fall der Roaming-Verordnung bestätigt aber nochmals, daß das Instrument der Beschwerde an den Bürgerbeauftragten von Unternehmen und ihren Verbänden durchaus gezielt eingesetzt wird. V. Ergebnisse Die Institution des Europäischen Bürgerbeauftragten hat sich um die Fortentwicklung des europäischen Verwaltungsrechts unzweifelhaft verdient gemacht, auch wenn diese Wirkung eher seinen – hier nicht vertieft behandelten – systematischen Aktionen als den Beschwerdeentscheidungen in Einzelfällen zukommen dürfte. Der begrenzte Einfluß der Einzelfall-Entscheidungen ist schon durch den eingeschränkten Aktionsradius des Bürgerbeauftragten bedingt, der nur die Verwaltungstätigkeit der EU-Organe umfaßt und damit weniger den „normalen“ Unionsbürger, sondern eher Gruppen wie die EU-Bediensteten und Unternehmen von europaweiter Bedeutung betrifft. Er kann in seinem Zuständigkeitsbereich allerdings auch in Konstellationen tätig werden, in denen gerichtlicher Rechtsschutz noch nicht gewährt wird – so im prominenten Fall der noch nicht abgeschlossenen Kartellverfahren – oder überhaupt nicht eröffnet ist – so im Fall der Beschwerden Einzelner bei der Kommission gegen Vertragsverletzungen der Mitgliedstaaten. Gerade im Fall der Vertragsverletzungsbeschwerden hat sich gezeigt, daß die Zuständigkeit des Bürgerbeauftragten den fehlenden Rechtsschutz des Einzelnen (der hier allerdings auch nicht geboten ist) in sinnvoller Weise ausgleichen kann. Die Einrichtung solcher Strukturen der nichtförmlichen Streitbeilegung birgt allerdings auch die Gefahr, dass der strikte Rahmen der justiziellen Streitentscheidung, also der eigentlichen Rechtsschutzgewährung, in Frage gestellt und aufgeweicht wird, indem z. B. Wege zur Aushöhlung der Klagefristen eröffnet werden. Dieser Gefahr begegnet das EU-Recht zwar im Ausgangspunkt durch die ausdrücklich normierte Alternativität von förmlicher und nichtförmlicher Streitbeilegung; diese Abgrenzung wird aber durch die kreativen Konstruktionen mancher Beschwerdeführer in Frage gestellt. Solchen Umgehungsstrategien muß – und kann – das Rechtsschutzsystem der Verträge standhalten, so daß die Institution des Rechtsgrundlage, nicht aber um die Ermittlung der Tatsachengrundlagen durch die Kommission gestritten wurde. 94 Eine inhaltliche Bewertung normativer Rechtsakte sieht der Bürgerbeauftragte zu Recht nicht als seine Aufgabe an, s. bereits o. Fußn. 4. 95 Auch im Roaming-Fall hat der Bürgerbeauftragte einen Teil der Beschwerde zwar als begründet angesehen, dies in seiner Entscheidung aber nur zum Anlaß einer „kritischen Anmerkung“ genommen (Fußn. 90, Pt. 2.34).

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Bürgerbeauftragten sich insgesamt doch als Bereicherung des europäischen Verwaltungsrechts erweist.

Datenschutz in der europäischen Innenpolitik Von Dieter Kugelmann, Münster I. Europäische Justiz- und Innenpolitik Die europäische Justiz- und Innenpolitik hat wesentlichen Einfluss auf die Gestaltung der Sicherheitsarchitektur der Bundesrepublik Deutschland.1 Es handelt sich im Rahmen der Union um ein vergleichsweise junges Politikfeld. Die Rechtsgrundlagen wurden mit der Gründung der Europäischen Union durch den Vertrag von Maastricht eingeführt, aber erst durch die auf dem Vertrag von Amsterdam beruhenden Modifikationen funktionalisiert. In den letzten Jahren ist dieser Politikbereich stark gewachsen. Seit dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon und der Abschaffung der Säulenstruktur kommen statt der intergouvernementalen die supranationalen Mechanismen zur Anwendung. Durch diese Änderungen der Rahmenbedingungen gewinnt die Europäische Justiz- und Innenpolitik noch an Dynamik.2 Die Verwendung des Begriffs einer Innenpolitik der EU ist von der Feststellung zu unterscheiden, dass bestimmte Gebiete der deutschen Politik so stark von der Union geprägt sind, dass sie als europäisierte Innenpolitik aufzufassen sind. Dies betrifft etwa die Gestaltung des europäischen Integrationsprozesses selbst oder auch das Umweltrecht.3 Dem liegt ein vertikales Verständnis von Innenpolitik zu Grunde, das aufgrund der Gegebenheiten des Mehrebenensystems die Spielräume für Handlungen und Entscheidungen durch das Unionsrecht minimiert sieht. Dagegen geht es im Zusammenhang der Europäischen Justiz- und Innenpolitik um die einschlägigen Politikfelder des Unionsrechts selbst. Auf der Grundlage der Verträge und der einschlägigen Kompetenzausstattung können in horizontaler Sichtweise Regelungsfelder identifiziert und abgegrenzt werden, die diesem Sachgebiet der Europäischen Union Gestalt verleihen. Die Justiz- und Innenpolitik der Union bezieht die Mitgliedstaaten mit ein. Ohnehin sind diese Teil der Union und wirken nach Maßgabe des Unionsrechts an der Ausgestaltung der einzelnen Politiken mit. Im Zusammenhang der Justiz- und Innenpolitik spielen die Mitgliedstaaten eine vergleichsweise große und bedeutende Rolle, weil vielfach der Bezug zu ihrer Souveränität besonders stark ist. 1

Würtenberger, FS Steiner, 2009, S. 948. Überblick bei Kugelmann, Sicherheit unter dem Grundgesetz, 2010, S. 97 ff.; umfassend Schöndorf-Haubold, Europäisches Sicherheitsverwaltungsrecht, 2010. 3 Streinz, in: Sachs (Hrsg.), GG, 5. Aufl. 2009, Art. 23, Rn. 91. 2

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Der Begriff der Europäischen Justiz- und Innenpolitik und seine Verwendung stehen für einen konzeptionellen Ansatz, der bestimmte Sachgebiete des Unionsrechts unter einen Oberbegriff fasst, der traditionell mit der Beschreibung von Staatswesen verbunden ist. Entsprechend der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und anderen Bereichen des Unionsrechts unterliegt die Europäische Justiz- und Innenpolitik spezifischen Bedingungen ihrer Formulierung und verfügt über spezifische Gehalte. Diese Gehalte beruhen auf den vertraglichen Grundlagen und ihrer Reichweite, die interpretatorisch auszuleuchten ist. Die zu Beginn als Ausgleichsmaßnahmen für die Verwirklichung des Binnenmarktes gedachten Maßnahmen des Sicherheitsrechts haben mit dem Vertrag von Lissabon einen eigenständigen Charakter erhalten. Die Seite der Justiz wird institutionell insbesondere durch Eurojust abgebildet.4 Geplant ist die Schaffung einer europäischen Staatsanwaltschaft, die vorrangig für die Verfolgung von Delikten gegen die finanziellen Interessen der Union zuständig sein soll (Art. 86 AEUV).5 Inhaltlich schlägt sich die Kooperation der innerstaatlichen Justizbehörden in Maßnahmen nieder, die auf die grenzüberschreitende Verfolgung von Straftaten abzielen. Der Europäische Haftbefehl ist als Ausdruck des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung das konzeptionell einschneidenste Instrument der Zusammenarbeit von Justizbehörden und Polizeibehörden unterschiedlicher Mitgliedstaaten.6 Allerdings ist seine Durchführung in der Praxis mit der Wahrung innerstaatlicher Hoheitsrechte verknüpft, da eine administrative und gerichtliche Prüfung des Einzelfalls stattfindet (§ 79 IRG).7 Im Ergebnis erfolgt daher keine automatische gegenseitige Anerkennung. Die europäische Innenpolitik ist ein wachsendes Rechtsgebiet, in dem nicht mehr nur die Kooperation von Behörden, sondern in zunehmendem Maße exekutivische Eingriffe in die Grundrechte des Bürgers eine Rolle spielen.8 Die Übermittlung und weitere Verarbeitung von personenbezogenen Daten bildet die Grundlage für Eingriffe innerstaatlicher oder europäischer Behörden.9 Die Wichtigkeit des Datenschutzes in der europäischen Innenpolitik lässt sich auch an den Entschließungen der Konferenz der Datenschutzbeauftragten des Bundes und der Länder ablesen. Sie hat sich immer wieder mit Datenschutzproblemen beschäftigt, die aus europäischen Rechtsakten und Dokumenten resultierten. Die Datenschutzbeauftragten haben auf ihrer 81. Konferenz Defizite bei der Umsetzung des 4

Dazu Grotz, in: Satzger (Hrsg.), Europäisches Strafrecht, 2011, § 45, Rn. 1. Damecker, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 86 AEUV, Rn. 6 f. 6 Satzger, Internationales und Europäisches Strafrecht, 4. Aufl. 2010, § 10, Rn. 27 ff. 7 Nelles/Tinkl/Lauchstädt, Strafrecht, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach (Hrsg.), Europarecht, Handbuch für die deutsche Rechtspraxis, 2. Aufl. 2010, § 42, Rn. 160. 8 Überblick bei Aden/Busch, in: Roggan/Kutscha (Hrsg.), Handbuch zum Recht der inneren Sicherheit, 2. Aufl. 2006, S. 511. 9 s. die Beiträge von Gusy (S. 265), Esser (S. 281), Weßlau (S. 318) und Gless/Zerbes (S. 346), in: Wolter u. a. (Hrsg.), Alternativentwurf Europol und europäischer Datenschutz, 2008. 5

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SWIFT-Abkommens angeprangert und die Rasterung von Flugpassagierdaten abgelehnt.10 Die europäische Justiz- und Innenpolitik segelt überwiegend unter der Flagge des Raumes der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts. Die in Art. 4 Abs. 2 EUV festgelegten Ziele sind daher eng mit dem Wegfall der Binnengrenzen verbunden. Die rechtspolitischen Vorgaben zur europäischen Justiz- und Innenpolitik für den Zeitraum 2010 bis 2014 enthält das Stockholmer Programm.11 Die operativen Regeln finden sich in den Art. 67 ff. AEUV. Nach Art. 67 Abs. 3 AEUV kann die Union dort näher eingegrenzte Maßnahmen treffen, um Sicherheit zu gewährleisten. Den Schwerpunkt der innenpolitischen Regelungen des Unionsrechts bildet das Migrationsrecht (Art. 77 ff. AEUV), das einen engen Bezug zum Wegfall der Grenzkontrollen und damit der gemeinsamen Außengrenze der Union aufweist. Regelungen des Asyl- und Flüchtlingsrechts waren ab 1999 in einem ersten Bündel von Rechtsakten Gegenstand der Diskussion und dann der Gesetzgebung. Das nach Maßgabe des Haager Programms im Jahr 2004 zusammengestellte Bündel von Rechtsakten ist seitdem nur in geringem Maße weiterentwickelt worden.12 Reformen sind aber Teil des Stockholmer Programms, das die Verwirklichung eines Gemeinsamen Europäischen Asylsystems vorsieht. Die Kommission arbeitet zudem an der Weiterentwicklung der bereits bestehenden Rechtsakte.13 Gegenstände der europäischen Innenpolitik können durchaus eine große Zahl von Personen betreffen. Dies gilt insbesondere auch bei der Übermittlung von Daten an Drittstaaten. Nach dem SWIFT-Abkommen können Daten über grenzüberschreitende finanzielle Transaktionen an dritte Staaten, insbesondere die USA weitergegeben werden.14 Es geht um den Zugriff auf die einschlägigen Bankdaten und Kontenbewegungen, die von dem in Belgien ansässigen Unternehmen, das die Abwicklung europaweit vornimmt, verarbeitet werden. Von großer Tragweite ist die Weitergabe von Passagierdaten über Fluggäste. Die Übermittlung der Passenger Name Records (PNR) an die USA und andere Drittstaaten wurde im Zuge der Bekämpfung des Terrorismus nach dem 11. September 2001 eingeführt. Auf der Grundlage des Abkommens der EU mit den USA werden Daten von Flugpassagieren, die von einem Flughafen der EU in die USA reisen, an die Behörden der Vereinigten Staaten weiter gegeben.15 Die Sicherung des Datenschutzes

10 Entschließungen der 81. Konferenz am 16./17. März 2011 in Würzburg, abrufbar unter http://www.sachsen-anhalt.de/index.php?id=48454 (Referenz 12. 04. 2012). 11 Kugelmann (Fußn. 2), S. 112 ff. 12 Kugelmann, Einwanderung und Asyl, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach (Hrsg.), Europarecht, Handbuch für die deutsche Rechtspraxis, 2. Aufl. 2010, § 41, Rn. 82 ff. 13 s. J. Hecker, ZAR 2011, 46. 14 Vgl. Tamm, VuR 2010, 215. 15 Gusy, Goltdammers’s Archiv 152 (2005), 216 (224).

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ist insoweit ebenso notwendig wie in der Verwirklichung schwierig.16 Nach Vorstellungen in der Europäischen Kommission sollen künftig auch Passagierdaten von Fluggästen, die von einem Drittstaat in die EU reisen, an die Behörden des betreffenden Mitgliedstaates übermittelt werden. Ein entsprechender Rechtsakt ist in der Diskussion. Die Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung17 soll erneuert und modifiziert werden. Über Einzelheiten scheint in der Kommission noch keine Einigkeit zu bestehen. Allerdings ist die Richtlinie auf der Grundlage der Kompetenz zur Regelung des Binnenmarktes (Art. 114 AEUV) erlassen worden. Der Europäische Gerichtshof hat bestätigt, dass sie im Schwerpunkt das grenzüberschreitende wirtschaftliche Tätigwerden der Diensteanbieter regele.18 Nach der Rechtslage bei Verabschiedung der Richtlinie konnte damit das Europäische Parlament bereits mitentscheiden. Vor diesem Hintergrund ist der Entscheidung des EuGH zuzustimmen.19 Damit ist die Richtlinie formal nicht vorrangig Teil der Innenpolitik, sondern zählt zur Wirtschaftspolitik. Nach heutiger Rechtslage wäre auch bei Anwendung der Kompetenzen aus der europäischen polizeilichen Zusammenarbeit das ordentliche Gesetzgebungsverfahren anwendbar. Unter Beachtung des Art. 8 Grundrechte-Charta (GR-Ch) kommt es damit für eine künftige neue Richtlinie auf die Anwendung der umfassenden Kompetenzgrundlage des Art. 16 Abs. 2 AEUV an, der weit reichende Regelungen auch für die Datenverarbeitung durch die Mitgliedstaaten zulässt. Da die Einzelheiten noch nicht absehbar sind, soll in der weiteren Erörterung der Innenpolitik der EU die Richtlinie zur Vorratsdatenspeicherung nicht im Mittelpunkt stehen. Sie betrifft nicht die Befugnisse der staatlichen Behörden, auf Daten zuzugreifen, sondern verpflichtet die privaten Diensteanbieter, die Daten zu speichern. Ermächtigungen für den Zugriff regelt das innerstaatliche Recht. Das Bundesverfassungsgericht hat daher zutreffend angenommen, dass die innerstaatlichen Gesetzgeber über Spielräume zur effektiven Wahrung der Grundrechte im Hinblick auf die Vorratsdatenspeicherung verfügen.20 II. Datenschutz in der EU-Innenpolitik 1. Allgemeine Rechtsgrundlagen Der Datenschutz ist in der Europäischen Union rechtlich umfassend gewährleistet.21 Im Primärrecht wird er nicht nur in Art. 16 AEUV, sondern auch in der Grundrechte-Charta festgeschrieben. Die grundrechtliche Absicherung des Datenschutzes 16 Hanschmann, EuGRZ 2011, 219 (221), hält das Grundrecht auf Datenschutz insoweit für leer laufend. 17 Richtlinie 2006/24/EG, ABl. L 105, S. 54. 18 EuGH, Rs. C-301/06 (Irland/Rat und Parlament), Slg. 2009, I-593. 19 A.A. z. B. Simitis, NJW 2009, 1782. 20 BVerfGE 125, 260. 21 Überblick bei Rudolf, in: FS Bethge, 2009, S. 623.

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im Unionsrecht hat die Diskussion um seine Gestaltung und Entfaltungen befeuert.22 Der Art. 8 GR-Ch nimmt die Gehalte von Art. 8 EMRK auf und konkretisiert sie zugleich für die Organe und Einrichtungen der Europäischen Union.23 Das grundlegende Dokument des Sekundärrechts ist die Richtlinie 95/46/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 24. Oktober 1995 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr.24 Sie wird unter der Geltung von Art. 16 AEUV reformiert. Für die europäische Innenpolitik geht der Rahmenbeschluss 2008/977/JI als lex specialis der Datenschutz-Richtlinie 95/46/EG vor.25 Die Rechtsakte unterscheiden sich in ihrem Anwendungsbereich. Nach der Rechtslage vor dem Vertrag von Lissabon fand die Datenschutz-Richtlinie nach ihrem Art. 3 Abs. 2 keine Anwendung auf die Verarbeitung personenbezogener Daten in der damaligen „Dritten Säule“, also dem Bereich der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen.26 Ein gemeinsames Niveau des Datenschutzes und somit eine höhere Gewährleistung von Sicherheit sollte deshalb der Rahmenbeschluss 2008/977/JI herbeiführen.27 Er betrifft lediglich Sachverhalte mit grenzüberschreitendem Bezug und soll auf den Gebieten gelten, in denen die Datenschutz-Richtlinie 95/46/EG keine Anwendung findet.28 Nicht berührt werden Rechtsakte, die zeitlich vor dem Rahmenbeschluss erlassen wurden und ein vollständiges, in sich geschlossenes Regelwerk enthalten, welches alle relevanten Datenschutzaspekte erfasst (Grundsätze der Datenqualität, Vorschriften über Datensicherheit, Regelung der Rechte und Garantien für die betroffenen Personen, Ausgestaltung der Überwachung und Haftung), also die Rechtsakte zu Europol und Eurojust, zum Schengen-Informationssystem, zum ZIS sowie der PrümBeschluss).29 2. Spezielle Rechtsgrundlagen des Datenschutzes Regelungen zum Datenschutz sind zwar vorhanden, sie sind aber verstreut und unübersichtlich. Ihre Effektivität muss durch mehr Kohärenz gesteigert werden. Einige Rechtsakte verweisen auf das Übereinkommen des Europarats vom 28. Januar 1981 zum Schutz des Menschen bei der automatischen Verarbeitung personenbezogener Daten als Minimalstandard, andere lediglich auf das innerstaatliche Recht der Mitgliedstaaten. Darüber hinaus enthalten Rechtsakte wie der Europol-Beschluss, 22 Britz, EuGRZ 2009, 1; Kotzur, EuGRZ 2011, 105; Spiecker gen. Döhmann, JZ 2011, 169; Streinz, DuD 2011, 602; s. auch Epiney, AJP 2011, 641 zur Schweiz. 23 Esser (Fußn. 6), S. 282. 24 Dazu Rudolf, in: Merten/Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Band IV, 2012, § 90, Rn. 17 ff. m.w.N. 25 Kugelmann, Polizei- und Ordnungsrecht, 2. Aufl. 2012, 14/129. 26 Rahmenbeschluss 2008/977/JI v. 28. 12. 2008, ABl. L 350 v. 30. 12. 2008, S. 60, rwägungsgrund 5. E 27 Rahmenbeschluss 2008/977/JI v. 28. 12. 2008, ABl. L 350 v. 30. 12. 2008, S. 60. 28

Zu den Inhalten Kugelmann (Fußn. 2), S. 109 ff.

29 Rahmenbeschluss 2008/977/JI v. 28. 12. 2008, ABl. L 350 v. 30. 12. 2008, S. 60, Erwägungsg

rund 39.

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das Schengen-Durchführungsübereinkommen oder der Prüm-Beschluss eigene Vorschriften zum Datenschutz. Im Hinblick auf die Tätigkeiten von Europol treffen die Art. 17 ff. Europol-Beschluss Regelungen, die als Anknüpfungspunkt für die Fortschreibung von datenschutzrechtlichen Instrumenten dienen können. Die Einhaltung der Zweckbindung wird durch detaillierte Unterrichtungs- und Verwendungsvorschriften angestrebt. Einzelne Verweise sind unbestimmt, etwa wenn es allgemein um die Erfüllung der Aufgaben von Europol geht. Allerdings sind solche Verweisungsketten mit unbestimmten Rechtsbegriffen auch dem deutschen Recht nicht fremd, etwa wenn Eingriffsnormen der Polizeigesetze auf die Voraussetzungen anderer Eingriffsnormen oder auf Vorschriften der Strafprozessordnung verweisen. Die grenzüberschreitende Übermittlung von Daten erfordert datenschutzrechtliche Regelungen, die der Vertrag von Prüm und der Prüm-Beschluss auch enthalten.30 Im Mittelpunkt steht der Grundsatz der Zweckbindung der Daten (Art. 26 Prüm-Beschluss). Ein Mitgliedstaat darf die ihm übermittelten Daten ausschließlich zu den Zwecken verwenden, zu denen sie ihm übermittelt wurden. Eine abweichende Verarbeitung zu anderen Zwecken ist nur nach vorheriger Zustimmung des Staates, der die Datei führt, zulässig, bedarf also einer gesonderten behördlichen Entscheidung. Das Datenschutzregime stellt Anforderungen an die Dokumentation der Datenverarbeitungsvorgänge (Art. 30 Prüm-Beschluss). Jede automatisierte und nichtautomatisierte Datenbewegung muss von den beteiligten Mitgliedstaaten aufgezeichnet und unter Nennung von Datum und Anlass der Übermittlung sowie der tätig gewordenen Stelle protokolliert werden. Die unabhängige Kontrolle der Datenverarbeitung soll von unabhängigen Datenschutzbehörden gesichert werden, die über ungehinderten Zugang zu den Protokollen der Datenübermittlungen verfügen. Jedermann kann sich mit der Bitte der Überprüfung der Rechtmäßigkeit eines Vorgangs an sie wenden (Art. 30 Abs. 5 Prüm-Beschluss). Den gerichtlichen Rechtsschutz sollen die nationalen Gerichte gewährleisten (Art. 31 Abs. 1 des Prüm-Beschlusses). Da die nationalen Gerichte nur gegenüber den nationalen Behörden tätig werden können, muss das Fehlverhalten der Behörde eines anderen Mitgliedstaates dort geltend gemacht werden. Die so genannte „Schwedische Initiative“, ein Rahmenbeschluss von 2006, befindet sich im Umsetzungsprozess in der Bundesrepublik Deutschland.31 Ein Gesetzentwurf der Bundesregierung von 2011, der insbesondere Änderungen des IRG und der StPO enthält, ist Gegenstand der Diskussion. Die datenschutzrechtlichen Vorschriften der Schwedischen Initiative sind nicht Teil des Gesetzentwurfes. Nach Auffassung einiger Landesgesetzgeber sind sie bereits durch die existierenden gesetzlichen Regeln hinreichend abgedeckt. 30

Würtenberger/Mutschler, Der Vertrag von Prüm, in: Breitenmoser/Gless/Lagodny (Hrsg.), Schengen und Dublin in der Praxis, 2010, 137 (146 ff.); Mutschler, Der Prümer Vertrag, Neue Wege der Kriminalitätsbekämpfung auf europäischer Ebene, 2010. 31 Kugelmann (Fußn. 2), S. 105 ff.; Zöller, ZIS 2011, 64, 65 f.

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Die speziellen Vorschriften der einzelnen Rechtsakte wirken nicht immer aufeinander abgestimmt und werfen Zweifel an ihrer Effektivität auf. Für den einzelnen Sachbearbeiter kann es schwierig sein, die auf den konkreten Sachverhalt anzuwendende Norm und ihre Reichweite zu bestimmen. Das gilt umso mehr in komplexen Situationen, in denen als Rechtsgrundlage zur Übermittlung von Daten mehrere Übertragungswege nebeneinander und damit mehrere rechtliche Grundlagen in Betracht kommen. III. Herausforderungen 1. Der Grundsatz der Verfügbarkeit und der Datenschutz Das Haager Programm hat bereits 2004 die Einführung des Grundsatzes der Verfügbarkeit für den polizeilichen Informationsaustausch bis zum Jahr 2008 gefordert.32 Falls innerstaatliche Sicherheitsbehörden oder Europol Informationen benötigen, die in einem Mitgliedstaat verfügbar sind, sollen sie diese erhalten.33 Die konsequente Verwirklichung dieses Grundsatzes hätte zur Folge, dass die Mitgliedstaaten die Datenhoheit verlieren.34 Das Prüm-Konzept und die Schwedische Initiative können als Maßnahmen zur Realisierung der Verfügbarkeit betrachtet werden. Der Grundsatz der Verfügbarkeit trägt den Charakter eines politischen Programmsatzes. Er kann damit das Grundrecht auf Datenschutz nicht beschränken oder gar aushebeln. Die Schaffung von Mindeststandards im Straf- und Strafprozessrecht ist unter diesen Vorzeichen vorsichtig zu betreiben.35 Dies liegt auch in der Logik des Lissabon-Urteils des Bundesverfassungsgerichts, das wesentliche Elemente der Strafrechtspflege zu den Hoheitsrechten zählt, die nach der dort vertretenen Konzeption nicht an die Europäische Union abgegeben werden könnten.36 2. Reibungsverluste im Mehrebenensystem Der Datenschutz auf den Gebieten Justiz und Inneres wurde schon vor dem Vertrag von Lissabon als verbesserungsbedürftig angesehen.37 Die Übermittlung von Daten im europäischen Mehrebenensystem kann zu grundrechtlich relevanten Reibungsverlusten führen.38 Unterschiedliche Vorverständnisse und unterschiedliche 32

Haager Programm zur Stärkung von Freiheit, Sicherheit und Recht in der Europäischen Union, ABl. C 53 vom 3. 3. 2005, S. 1 (7). 33 Böse, Der Grundsatz der Verfügbarkeit von Informationen in der strafrechtlichen Zusammenarbeit der Europäischen Union, 2007; Meyer, NStZ 2008, 188 (190 ff.). 34 Würtenberger/Mutscheler (Fußn. 12), S. 148. 35 Überblick bei Dannecker, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 82, Rn. 1 ff. 36 BVerfGE 123, 267 (410 f.) – Abs. Nr. 358 f. 37 Braum, KritV 2008, 82; Hijmanns / Scirocco, CMLRev 46 (2009), 1485. 38 Hanschmann, EuGRZ 2011, 219.

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Regelungen für die Erhebung von Daten können im Zusammenhang der Übermittlung und Verarbeitung von Daten Gefahren für das Recht auf Datenschutz bergen. Wenn mehrere Behörden mit erhobenen Daten umgehen, ist zunächst zu klären, welche Behörde in welchem Mitgliedstaat zu welchem Zweck die personenbezogenen Daten erhoben hat. Es gilt das jeweilige innerstaatliche Datenschutzrecht, das durch Richtlinien harmonisiert sein kann. Werden Daten von einer Ebene auf eine andere übermittelt, handelt es sich um einen rechtfertigungsbedürftigen Grundrechtseingriff. Er bedarf erst recht einer Rechtsgrundlage, wenn eine Zweckänderung erfolgt. Aus deutscher Sicht auf die polizeiliche Zusammenarbeit nimmt das Bundeskriminalamt eine zentrale Stellung ein. Seine Rolle als nationale Zentralstelle für die internationale Kooperation wird durch § 3 BKAG festgelegt. Spezifische Regelungen für die Übermittlung von Daten enthält § 14 BKAG. Das Bundeskriminalamt verfügt über Verbindungsbeamte bei Europol, die bei ihrem Tun an das deutsche Recht gebunden sind. Die Übermittlung von Daten erfolgt auf der Grundlage des Europol-Gesetzes oder BKA-Gesetzes, die handelnden Personen befinden sich aber teils in Den Haag. Dies erschwert die Kontrolle durch deutsche Datenschutzbeauftragte. Der Datenschutzbeauftragte des BKA hat dabei noch eher Ansätze für konkrete Kontrollmöglichkeiten im Einzelfall als der Bundesdatenschutzbeauftragte. Über das BKA werden die Daten dann wiederum an die Behörden der deutschen Länder übermittelt. Die dortigen Landesdatenschutzbeauftragten sollen dann die Verarbeitung begleiten. Das anwendbare deutsche Datenschutzrecht ist in sich weit gehend tragfähig.39 Es wird künftig durch die geplante Richtlinie der EU über den Datenschutz im Bereich Justiz und Inneres modifiziert werden. IV. Maßstäbe für Fortentwicklungen An der Notwendigkeit der Fortentwicklung des Datenschutzes in der europäischen Innenpolitik kann kein Zweifel bestehen. Schon die Neufassungen der Rechtsgrundlagen machen Neuerungen nötig. Das „Ob“ ist klar, es geht um das „Wie“.40 1. Rechtslage Die allgemeine Datenschutz-Richtlinie bedarf der Abstimmung mit dem spezifischen Rechtsakt für die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit. Die Europäische Kommission plant eine allgemeine Verordnung über den Datenschutz und eine spezielle Richtlinie zur Datenverarbeitung bei Polizei und Justiz.41 Es würde damit bei Sonderregelungen für den Datenschutz in der Innenpolitik bleiben. Die Da39

Vgl. Würtenberger, FS Stern, 2009, S. 5 (7). Ansätze bei Gusy (Fußn. 6), S. 265, 270 ff. 41 Kritisch Masing, Süddeutsche Zeitung Nr. 6 vom 9. Januar 2012, S. 10. 40

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tenschutzgrundverordnung wird voraussichtlich frühestens Ende 2014 in Kraft treten. Gleiches gilt für die Richtlinie, wobei sodann noch die Umsetzungsfrist zu beachten ist, welche in der Regel zwei bis drei Jahre beträgt, d. h. mit einer innerstaatlichen Regelung wird erst Ende 2016 zu rechnen sein. Diese Reformvorschläge wurden am 25. Januar 2012 von der Kommission vorgestellt und sollen eine Aktualisierung und Modernisierung des europäischen Datenschutzrechts darstellen. Die „Verordnung zum Schutze natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr (Datenschutz-Grundverordnung)“42 soll einen einheitlichen Rechtsrahmen bilden und beinhaltet unter anderem eine verschärfte Haftung bei Datenschutzverletzungen, die Etablierung des One-Stop-Shop-Gedankens, indem nur eine nationale Datenschutzbehörde die Zuständigkeit erlangt, neue Einwilligungsmechanismen bei der Verarbeitung von Daten und das verbraucherfreundliche „Recht auf Vergessen“ von Daten, sobald die Gründe der Vorhaltung entfallen sind. Die korrespondierende „Richtlinie zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten durch die zuständigen Behörden zum Zwecke der Verhütung, Aufdeckung, Untersuchung oder Verfolgung von Straftaten oder der Strafvollstreckung sowie zum freien Datenverkehr“43 ist ebenfalls von der Konzeption geprägt, einheitliche Datenschutzgrundsätze zu etablieren. Diese werden bereichsspezifisch auf den Bereich Polizei und Justiz erstreckt. Die Richtlinie soll gemäß ihren Erwägungsgründen ein hohes Datenschutzniveau schaffen sowie das gegenseitige Vertrauen der Polizei- und Justizbehörden der Mitgliedstaaten stärken und den Datenaustausch erleichtern indem innerstaatliche wie grenzüberschreitende Datenverarbeitung denselben Regeln unterliegen.44 Bereichsspezifischer Datenschutz für Polizei- und weitere Strafverfolgungsbehörden ist auch im innerstaatlichen Bereich gängig. Denn die Erhebung und Übermittlung von Daten durch Sicherheitsbehörden weist einige besondere Gegebenheiten auf. Auf dem Gebiet der Gewährleistung von Sicherheit bestehen besondere Informationsbedürfnisse und besondere Geheimhaltungsbedürfnisse, denen auch in den spezifischen Datenschutzregeln Rechnung zu tragen ist. Die Daten sind oft überaus sensibel und an ihre Verarbeitung können weit reichende Rechtsfolgen geknüpft sein, die zum Beispiel im Fall der Freiheitsentziehung mit tiefen Grundrechtseingriffen verbunden sind. Diese Rechtsfolgen können sich zudem durch ihre Eilbedürftigkeit auszeichnen, wobei die Entscheidungen der zuständigen Behörden auf möglichst tragfähiger Datengrundlage getroffen werden sollen. Sperren oder Begrenzungen von Datenerhebungen und Datenübermittlungen enthalten zumeist Ausnahmeregelungen, weil zum Schutz hochwertiger Rechtsgüter wie

42

http://ec.europa.eu/justice/data-protection/document/review2012/com_2012_11_de.pdf. KOM (2012) 10 endg. vom 25. 01. 2012. 44 Kugelmann, DuD 2012 (Heft 7). 43

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Leib, Leben oder Freiheit der Datenschutz im Einzelfall zurückstehen muss. Derartigen Besonderheiten trägt auch der Richtlinienentwurf Rechnung. Auf dem Gebiet der EU-Innenpolitik ist eine Rückübertragung der Zuständigkeiten von Unionsebene auf die mitgliedstaatliche Ebene weder wünschenswert noch realistisch. Den Herausforderungen grenzüberschreitender Kriminalitätsformen kann nur gemeinsam begegnet werden. Eine weitere Übertragung diesbezüglicher Hoheitsrechte ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum „unantastbaren Kerngehalt der Verfassungsidentität“, zu dem auch die Sicherung des Rechtsfriedens in Gestalt der Strafrechtspflege zählen soll, an den verfassungsrechtlichen Vorgaben zu messen.45 Schon nach geltender Rechtslage bestehen vielfältige Möglichkeiten der Erhebung, Verarbeitung und Übermittlung von Daten durch die Organe und Einrichtungen der Europäischen Union, die weiter ausgebaut werden, z. B. die Weiterentwicklung des Schengener Informationssystems zu einem SIS II, die allerdings nur schleppend voran kommt. In der Konsequenz der Europäisierung von Elementen der Innenpolitik liegt eine Europäisierung der datenschutzrechtlichen Rahmenbedingungen. Auf die europäische Frage kann nur eine europäische Antwort gegeben werden. Der europäische Datenschutz braucht aber eine schlüssige Konzeption und klare Regeln. Die vorhandenen inhaltlichen Konzepte können in einer spezifischen Richtlinie für den Datenschutz auf dem Gebiet der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit auf die besonderen Gegebenheiten dieses Politikbereiches angepasst werden. 2. Anknüpfungspunkte in der Rechtsprechung des EuGH Der Europäische Gerichtshof hat eine Reihe von Urteilen zu Fragen des Datenschutzes gefällt. Dabei ist er auf die Zweckbindung ebenso eingegangen46 wie auf die Abwägungsproblematik bei der Veröffentlichung von Namen.47 Zu institutionellen Fragen hat der EuGH insbesondere in seinem Urteil zur Unabhängigkeit der Datenschutzbeauftragten in der Bundesrepublik Deutschland Stellung genommen.48 Der EuGH hat in seiner Rechtsprechung bereits die Datenschutz-Richtlinie als Grundsatzregelung behandelt, indem er einer Reihe von Vorschriften unmittelbare Wirkung zuerkannt hat.49 45

BVerfGE 123, 267 – LS 4 und Abs.Nr. 355 ff. EuGH, Rs. C-524/06, (Heinz Huber / Deutschland), Slg. 2008, I- 9705 (EuGRZ 2009, 28 = EuZW 2009, 183 = NVwZ 2009, 379). 47 EuGH, Rs. C-92/09 und C-93/09 (Volker und Markus Schecke GbR, Hartmut Eifert / Land Hessen), EuZW 2010, 939; dazu Guckelberger, EuZW 2011, 126. 48 EuGH, Rs. C-518/07 (Kommission / Deutschland), Slg. 2010, I-1885 (EuGRZ 2010, 58 = K&R 2010, 326 m.Anm. Taeger = EuZW 2010, 296 m. Anm. Roßnagel = JZ 2010, 784 m. Anm. Spiecker); dazu Bull, EuZW 2010, 488. 49 EuGH, Rs. C-468/10, C-469/10 (ASNEF und FECEMED/Adminstracion del Estado), K&R 2012, 40, Rn. 52. 46

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Allerdings hat er sich im Hinblick auf den Datenschutz in der europäischen Innenpolitik auf Kompetenzaspekte zurückgezogen. Dies betrifft zum einen das Urteil zum Abkommen über die Übermittlung von Fluggastdaten an die USA (Passenger Name Records), in dem er weder die Binnenmarktkompetenz (damals Art. 95 EGV, heute Art. 114 AEUV) noch die Datenschutz-Richtlinie 95/46/EG als ausreichende Rechtsgrundlage für das Abkommen ansah.50 Es betrifft zum anderen das Urteil zur Richtlinie über die Vorratsdatenspeicherung, in dem er die Binnenmarktkompetenz (damals Art. 95 EGV, heute Art. 114 AEUV) als zutreffende Rechtsgrundlage erachtet und nicht die Kompetenz über die Polizeiliche Zusammenarbeit.51 3. Institutionelle Maßnahmen Die Sicherung des Schutzes personenbezogener Daten bedarf institutioneller Vorkehrungen. Institutionell kann der Ausbau justizieller Kontrolle, etwa durch die geplante Europäische Staatsanwaltschaft ebenso eine Rolle beim Grundrechtsschutz spielen wie die Kooperation der innerstaatlichen mit dem Europäischen Datenschutzbeauftragten. Eine Kontrolle durch unabhängige Datenschutzbeauftragte ist unabdingbar. Eine rechtsstaatlich wichtige Funktion nimmt die nach dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon vorgenommene Trennung der Bereiche Justiz und Inneres in der Europäischen Kommission ein. Die Generaldirektion Inneres verantwortet die Vorschläge für die einschlägige Datenschutzgesetzgebung betreffend die EU-Innenpolitik. Durch die eigenständige Generaldirektion Justiz besteht dabei bereits in der Phase der Erarbeitung der Gesetzgebungsvorschläge ein Gegengewicht innerhalb der Kommission. Auch im europäischen Recht können Behördenleitervorbehalte errichtet werden. Dies gilt insbesondere für Europol, wenn diese Behörde mit weitergehenden Befugnissen ausgestattet werden sollte. Die beabsichtigte Errichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft (Art. 86 AEUV), die insbesondere für Straftaten zu Lasten der finanziellen Interessen der Europäischen Union zuständig sein soll, kann im Zusammenhang mit der Verfahrensleitung mit Kontrollbefugnissen im Hinblick auf die Einhaltung von Datenschutzregelungen verbunden sein. Da eine Kooperation mit Europol und auch OLAF nahe liegt, spielen Informationsübermittlungen eine große Rolle.52 Einen Beitrag zum institutionellen Datenschutz kann auch die Fortentwicklung von Eurojust leisten. Die justizielle Kontrolle durch Eurojust folgt den Zustän-

50 EuGH, Rs. C-317/04 und C-318/04 (Europäisches Parlament/Rat), Slg. 2006, I-4721; dazu Ehricke/Becker/Walzel, RDV 2006, 149. 51 EuGH, Rs. C-301/06 (Irland / Rat und Europäisches Parlament), Slg. 2009, I-593; DVBl. 2009, 371 m.Anm. Frenz = EuGRZ 2009, 17 = EuZW 2009, 212; dazu Terhechte, EuZW 2009, 199; Simitis, NJW 2009, 1782. 52 Dannecker (Fußn. 34), Art. 86, Rn. 17.

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digkeiten. Die Einzelheiten der Ausgestaltung der Europäischen Staatsanwaltschaft und der Weiterentwicklung von Eurojust sind noch offen. Im horizontalen Verhältnis zwischen Behörden und Einrichtungen der EU ist insbesondere die gerichtliche Kontrolle des Datenschutzes zu beachten. Angesichts anderer Rechtstraditionen ist auch die Einrichtung eines Ermittlungsrichters beim EuG für von der Europäischen Staatsanwaltschaft geleitete Verfahren zu erwägen. Der Schwerpunkt der Datenschutzfragen wird aber auch künftig bei der Übermittlung von Daten zwischen den Mitgliedstaaten und zwischen den Behörden der Mitgliedstaaten und der EU liegen. 4. Materielle Maßnahmen a) Grundrechtsschutz Der materielle Datenschutz findet seine zentrale Verankerung in Art. 8 GR-Ch. Das Grundrecht auf Datenschutz ist mit konkreten Maßstäben versehen, die den gesicherten Erkenntnissen entspringen. Die Verarbeitung darf nur nach Treu und Glauben und nach Einwilligung oder aufgrund einer ausdrücklichen Rechtsgrundlage erfolgen, die Zweckbindung muss gewährleistet sein (Art. 8 Abs. 2 S. 1 GR-Ch). Die Rechte auf Auskunft und Berichtigung sind abgesichert (Art. 8 Abs. 2 S. 2 GR-Ch). Die Kontrolle durch eine unabhängige Stelle wird garantiert (Art. 8 Abs. 3 GR-Ch). Hinzu tritt das Grundrecht auf wirksamen Rechtsschutz nach Art. 47 GR-Ch. Das Zusammenspiel von Art. 8 und Art. 47 GR-Ch bedarf noch weiter gehender Untersuchung. Die Notwendigkeit, Datenschutz effektiv zu gewährleisten, ist jedenfalls grundrechtlich zwingend. Das Verhältnis von Art. 16 AEUV zu Art. 8 GR-Ch ist deshalb nicht leicht zu klären, weil Art. 16 Abs. 1 AEUV die grundrechtliche Gewährleistung wiederholt, der Anwendungsbereich des Art. 16 Abs. 2 AEUV mit den Regelungen der Art. 8 Abs. 2 und Art. 51, 52 GR-Ch aber nicht ganz kompatibel ist.53 Die Regelungen über die Grundrechtsschranken der Grundrechte-Charta werden jedoch von der Kompetenznorm des Art. 16 Abs. 2 AEUV nicht ausgehebelt.54 Aus Art. 52 Abs. 2 GR-Ch kann demnach nicht auf eine spezifische Schrankenregelung für den Datenschutz geschlossen werden. Es bleibt vielmehr bei den allgemeinen Regeln. Nach Art. 8 Abs. 2 GR-Ch sind die Zweckbindung und das Erfordernis einer Einwilligung oder einer gesetzlichen Grundlage grundrechtlich ebenso festgeschrieben wie die Rechte auf Auskunft und Berichtigung. Kompliziert ist aber die Bestimmung des Anwendungsbereichs der europäischen Grundrechte. Denn neben die viel diskutierte Regelung des Art. 51 GR-Ch, wonach die Charta auch für die Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Unionsrechts gilt,55 ist auch Art. 16 Abs. 2 AEUV zu be53

J.-P. Schneider, Die Verwaltung 44 (2011), S. 499 (503 f.) m.w.N. Britz, EuGRZ 2009, 1 (2). 55 Dazu Streinz/Michl, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 8 GR-Ch, Rn. 6 ff. m.w.N. 54

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achten. Die insoweit sehr weit reichende Gesetzgebungskompetenz der EU umfasst demnach auch die Datenverarbeitung durch die Mitgliedstaaten im Rahmen der Ausübung von Tätigkeiten, die in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen. Das Sekundärrecht kann weit gehende Regelungen für die mitgliedstaatlichen Stellen enthalten, die dann als Durchführung des Unionsrechts im Sinne des Art. 51 GRCh anzusehen sind. Die Abgrenzung der Anwendungsbereiche von innerstaatlichen Grundrechten und Grundrechten der Union kann im Einzelfall schwierige Fragen aufwerfen. Es handelt sich teils um automatisierte Vorgänge, teils um die Abarbeitung informeller Absprachen zwischen den beteiligten Behörden. Die Erhebung von personenbezogenen Daten erfolgt regelmäßig durch mitgliedstaatliche Behörden nach mitgliedstaatlichem Recht. Auf europäischer Ebene erfolgen die Verarbeitung und weitere Übermittlung der Daten. Die europäischen Organe und Einrichtungen, insbesondere Europol, sind dabei an die Grundrechte-Charta gebunden. b) Kompetenzgrundlage für die Union Als Teil der allgemein für das gesamte Handeln der Union geltenden Bestimmungen regelt Art. 16 AEUV die Geltung des Datenschutzes und die Kompetenz der Union zum Erlass von Rechtsakten. Nur der Datenschutz im Rahmen der GASP unterliegt der speziellen Vorschrift des Art. 39 EUV.56 Richtlinien oder Verordnungen zum Datenschutz in der Justiz- und Innenpolitik finden ihre Rechtsgrundlage damit in Art. 16 Abs. 2 S. 1 AEUV. Die Kontrolle durch unabhängige Behörden, die Art. 16 Abs. 2 S. 2 AEUV anordnet, gilt in vollem Umfang. In der zum Vertrag von Lissabon ergangenen Erklärung 21 erkennen die Vertragsparteien den besonderen Charakter des Rechtsgebietes der Innenpolitik im Zusammenhang des Datenschutzes an und sehen die Möglichkeit, aufgrund von Art. 16 AEUV insoweit spezifische Vorschriften zu erlassen. Damit werden besondere Bedürfnisse der Geheimhaltung angesprochen, die bei der Strafverfolgung und Kriminalitätsbekämpfung besondere datenschutzrechtliche Regelungen erfordern können. Dem trägt der Richtlinienentwurf der Kommission vom Januar 2012 Rechnung. c) Maßstäbe für die Innenpolitik Auf dem Gebiet der Innenpolitik und insbesondere der Gewährleistung von Sicherheit im Zusammenhang der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen können als materielle Maßstäbe die Zweckbestimmung und die Festlegung allgemeiner Grundsätze in einem konsistenten Grundsatzdokument besondere Bedeutung erlangen. Die Zweckbindung darf nicht infolge mehreren Übermittlungsvorgänge ausgehebelt werden. Die Problematik ist derjenigen ähnlich, die im innerstaatlichen Bereich bei der Führung von Verbunddateien auftritt. 56

Kugelmann, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 39 EUV, Rn. 3.

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Es ist nicht zu verkennen, dass Gefährdungen des Datenschutzes auf der Ebene der Europäischen Union insbesondere auf Verträgen der EU mit Drittstaaten beruhen, die nicht der uneingeschränkten Regelungsgewalt der Unionsorgane unterliegen. Die Mitwirkung des Parlaments bringt zusätzliche Legitimation und eine Stärkung des Datenschutzniveaus. Jedoch nötigen Verhandlungszwänge auf internationaler Ebene zu Kompromissen, die zur Absenkung datenschutzrechtlicher Standards geführt haben und auch künftig führen könnten. Dies ist aber nur insoweit hinnehmbar, als Art. 8 GR-Ch nicht verletzt wird. Auch sonstige Regelungen der Europäischen Union zum Datenschutz dürfen nicht durch Vereinbarungen mit Drittstaaten relativiert werden. Der Datenschutzstandard der Union muss auch im Verhältnis zu Drittstaaten gelten. Gerade hier stellen sich besonders schwierige Herausforderungen, weil die datenschutzrechtlichen Standards in den Vertragsverhandlungen mit den Drittstaaten nicht preisgegeben werden dürfen, auch wenn diese Staaten andere Standards haben. Vor diesem Hintergrund sind das SWIFT-Abkommen und das PNR-Abkommen auf ihre Standards zu prüfen, um zumindest künftige Rechtsakte und Vereinbarungen datenschutzbezogen zu optimieren. V. Zusammenfassung Der Schwerpunkt europäischer Kooperation zwischen Justiz- und Polizeibehörden liegt auf der Speicherung und Verarbeitung von Daten. Die Erhebung der Daten obliegt regelmäßig den Behörden der Mitgliedstaaten mit der Ausnahme von Europol. Für die europäische polizeiliche Zusammenarbeit spielen die Verarbeitung und insbesondere die Übermittlung der Daten eine zentrale Rolle. Damit rückt aus Sicht des Bürgers der Datenschutz in das Zentrum der Sicherung individueller Rechte. Die geltenden Vorschriften in unterschiedlichen Rechtsakten sind jeweils in sich schlüssig, reichen allerdings unterschiedlich weit. Aufgrund der Vielzahl der Rechtsgrundlagen des Datenschutzes in der EU-Innenpolitik fehlt es aber an Übersichtlichkeit.57 Rechtsklarheit und rechtsstaatliche Bestimmtheit sind durch einen grundlegenden Rechtsakt in Fortentwicklung des Rahmenbeschlusses 2008/ 675/JI herzustellen. Der Richtlinien-Entwurf der Kommission vom Januar 2012 enthält eine Reihe überzeugender materieller Regelungen. Allerdings wird der Kommission institutionell eine übermäßig starke Rolle eingeräumt. Schon deshalb dürften die Vorschläge noch vielfältigen Änderungen unterworfen sein. Der Widerstand in den Mitgliedstaaten wird dadurch deutlich, dass der französische Senat eine Subsidiaritätsrüge nach dem Protokoll zu Art. 12 lit. b EUV erhoben hat.58 Auch der Bundesrat beabsichtigt, eine Subsidiaritätsrüge einzulegen.59 Diese Rügen sind im weiteren Ge-

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Würtenberger/Mutschler (Fußn. 12), S. 147. Mitteilung des Rechtsausschusses des Europäischen Parlaments vom 20. 03. 2012 (32/ 2012) über die Entschließung des französischen Senats vom 04. 03. 2012. 59 BR-Drs. 52/12 vom 30. 03. 2012. 58

Datenschutz in der europäischen Innenpolitik

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setzgebungsverfahren zumindest zu berücksichtigen, im Fall des Erreichens bestimmter Quoren muss der Entwurf überprüft werden.60 Die Weiterentwicklungen des Unionsrechts im Hinblick auf die Gewährleistung von Sicherheit betreffen strafprozessuale Aspekte wie die europäische Beweisanordnung, die Rolle und die Aufgaben von Europol, die europäische polizeiliche Zusammenarbeit, aber auch die spezifisch auf die Erhebung und Übermittlung von Daten ausgerichteten Problemkreise der Bankdaten (SWIFT) und insbesondere der Fluggastdaten (PNR). Diese datenschutzrechtlichen Probleme der europäischen Innenpolitik sind im Mehrebenensystem vorrangig auf der Ebene des Unionsrechts zu lösen. Innerstaatliche Rechtsvorschriften sichern die Übermittlung von Daten auf die europäische Ebene und die Verarbeitung von Daten, die von der europäischen Ebene in den Mitgliedstaat übermittelt werden. Rechtsvorschriften der Union nehmen eine Scharnierfunktion ein und sind damit der Schlüssel für den Datenschutz. Der Ausgleich zwischen Freiheit und Sicherheit muss nach den Gegebenheiten des europäischen Mehrebenensystems gefunden werden.

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Huber, in: Streinz (Hrsg.), EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 12, Rn. 35 f.

台灣訴願制度之發展 Die Entwicklung des Widerspruchsverfahrens in Taiwan 劉建宏(國立中正大學法律學系暨法律學研究所專任教授, 德國佛萊堡大學法學博士) Von Chien-hung Liu, Taiwan 中文摘要 恩師Würtenberger教授曾於2009年3月11日應台灣國家科學委員會之邀 請,到筆者所服務之國立中正大學法學院講演,其講題為「德國行政訴訟法 之新發展」(Neuere Entwicklungen im Verwaltungsprozessrecht)1。演講 內容中,曾提及晚近德國有廢除訴願制度(Widerspruchsverfahren)之主 張,過去數年間甚且已有部分之邦付諸實現2。 台灣之訴願制度,已有長遠之歷史。晚近此一制度愈受重視,與德國之發 展情況有所不同。本文擬以「台灣訴願制度之發展」為題,紀念Würtenberger教授及夫人當年來訪之行,並祝恩師福如東海,壽比南山。 台灣之訴願制度,自始即深受歐洲大陸法系影響,其起源最早可溯至1914 年北京政府仿效法國“Conseil d’Etat“所設置之「平政院」,掌理「百姓告 官」之事務。 訴願法自1930年公布施行後,多年以來,其內容並無重大修正。及至1980 年代,台灣社會情勢丕變,政府解除戒嚴令,民主思潮興起。由於行政爭訟 法制多年以來未曾大幅修正,早已老舊不堪,無法有效解決人民權益受各級 政府公權力侵害之爭端,導致各種示威抗議活動不斷,社會紛擾不已。為謀 對策,各界乃有健全行政爭訟制度之倡議。幾經波折,訴願法及行政訴訟法 終於1998年10月2日經立法院審議通過,總統於1998年10月28日公布,新制 行政爭訟法制於2000年7月1日開始施行。 1 Würtenberger, Neuere Entwicklungen im Verwaltungsprozessrecht,中正法學集 刊,第26期,頁259 – 282,2009年5月;該篇演講稿由筆者翻譯為中文,參閱:劉建宏 譯,德國行政訴訟法之新發展,中正法學集刊,第26期,頁245 – 258,2009年5月。 2 Überblick bei Hufen, Verwaltungsprozessrecht, 7. Aufl. 2008, § 5 Rn. 5; Abschaffung des Widerspruchsverfahrens u. a. in Bayern (Art. 15 Abs. 2 BayAGVwGO), Niedersachsen (§ 8a AG VwGO) und Sachsen-Anhalt (§ 8a AG VwGO); 轉引自Würtenberger, Neuere Entwicklungen im Verwaltungsprozessrecht,中正法學集刊,第26期, 頁268,2009年5月。

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2000年7月1日施行之訴願法,其條文多達101條。觀其內容,包含:管 轄、期日及期間、訴願人、送達、訴願卷宗、訴願審議委員會之組織、訴願 之提起、訴願審議、訴願決定、再審程序等章節,其內容與法院程序已無重 大差異,儼然一部小型之行政爭訟程序法典。 2000年新訴願法施行至今,已逾十年。其具體成效包括:建立訴願會公正 形象、提升訴願決定品質、促進理論與實務交流、釐清行政爭訟事件爭點, 以及減輕行政法院之負擔等。 晚近,受理訴願機關於審理訴願事件時,對於訴願程序中人民之程序參與 權日趨重視。如遇事件重大或案情複雜者,往往依當事人之申請甚至依職權 舉行言詞辯論,或給予當事人陳述意見之機會。上述措施不僅能夠強化訴願 制度之功能,誠如恩師所言,對於增進人民對於行政之信賴,亦有極大助 益。回顧台灣訴願制度之發展,並展望其將來,如何能夠進一步提升人民於 訴願制度中程序參與權之保障,可為未來訴願制度發展努力之方向。 I. 台灣訴願制度之起源 台灣之訴願制度,自始即深受歐洲大陸法系影響,其起源最早可溯至1914 年北京政府仿效法國“Conseil d’Etat“所設置之「平政院」,掌理「百姓告 官」之事務3。 1930年訴願法公布施行,1932年行政訴訟法公布施行,訴願與行政訴訟制 度正式建制。自此,我國以訴願為前置程序,行政訴訟為最終救濟途徑之行 政爭訟體系,乃告正式確立。 行政爭訟制度建制之初,囿於彼時之時空環境及政治氛圍,其功能不彰。 單就收案件數觀之,自1933年至1947年十五年間,行政法院(依當時之制度 設計,僅設有一所行政法院)於全國(當時國民政府之治權尚及於全中國) 之平均年度收案件數僅四十餘件4。行政機關受理訴願事件之件數雖已不可 考,惟其數量必然不多。行政救濟體系之功能,殆可想見。 年新訴願法 II. 2000年 訴願法自1930年公布施行後,多年以來,其內容並無重大修正。及至1980 年代,台灣社會情勢丕變,政府解除戒嚴令,民主思潮興起。由於行政爭訟 法制多年以來未曾大幅修正,早已老舊不堪,無法有效解決人民權益受各級 政府公權力侵害之爭端,導致各種示威抗議活動不斷,社會紛擾不已。為謀 對策,各界乃有健全行政爭訟制度之倡議,行政院與司法院亦開始著手研擬 修正訴願法及行政訴訟法。幾經波折,訴願法及行政訴訟法終於1998年10月

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參閱:吳庚,行政爭訟法論,頁11,自版,2011年1月5版。 參閱:吳庚,行政爭訟法論,頁11 – 12,自版,2011年1月5版。

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2日經立法院審議通過5,總統於1998年10月28日公布,新制行政爭訟法制於 2000年7月1日開始施行。 1. 2000年7月1日施行之新訴願法內容概述 2000年7月1日施行之新訴願法,其修正之重要內容,茲略述如下6: a) 強化行政機關自我省察功能 為避免民眾不知應向何機關請求救濟之困擾,本次修正特改採提起訴願應 經由原行政處分機關層轉之程序,除收便民之效,使民眾不致混淆訴願管轄 機關外,亦可促使原行政處分機關發揮自我省察之功能,原行政處分機關在 收到訴願書後,若認訴願為有理由時,得即時依職權加以撤銷或變更原行政 處分,如認為無理由時,則逕行檢卷答辯,程序上可節省時間及調卷之麻 煩,俾訴願人之權利迅速獲得救濟7。 b) 擴大訴願主體之救濟範圍 原訴願法第1條僅規定「人民」為訴願主體,新法則明定自然人、法人、 非法人之團體或其他受行政處分之相對人及利害關係人均得提起訴願8。另仿 照德國與日本之立法例,對於地方自治團體及其他公法人,如權益受侵害 時,可以訴願主體之地位提出訴願9。故擴大訴願主體範圍,給予更多行政救 濟機會。

5 訴願法及行政訴訟法修法過程波折不斷,行政部門對於大幅修正行政爭訟法制採 取抗拒之立場。有關行政爭訟法制之修法過程,詳參:吳庚,行政爭訟法論,頁14 – 16,自版,2011年1月5版。 6 參閱:立法院公報,第87卷31期2980號上冊,頁347~351。 7 訴願法第58條規定:「訴願人應繕具訴願書經由原行政處分機關向訴願管轄機關 提起訴願。原行政處分機關對於前項訴願應先行重新審查原處分是否合法妥當,其認 訴願為有理由者,得自行撤銷或變更原行政處分,並陳報訴願管轄機關。原行政處分 機關不依訴願人之請求撤銷或變更原行政處分者,應儘速附具答辯書,並將必要之關 係文件,送於訴願管轄機關。原行政處分機關檢卷答辯時,應將前項答辯書抄送訴願 人。」,可資參照。 8 訴願法第18條規定:「自然人、法人、非法人之團體或其他受行政處分之相對人 及利害關係人得提起訴願。」,可資參照。 9 訴願法第1條規定:「人民對於中央或地方機關之行政處分,認為違法或不當, 致損害其權利或利益者,得依本法提起訴願。但法律另有規定者,從其規定。各級地 方自治團體或其他公法人對上級監督機關之行政處分,認為違法或不當,致損害其權 利或利益者,亦同。」,可資參照。

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c) 增設訴願參加制度,以維護利害關係人權利 為保障與訴願人具有利害關係者之權益,爰增設訴願參加制度,以應需要10。 其次,參考德國立法例,對於可能因為訴願決定而受不利益之利害關係人,應 通知其參加訴願程序,參與表示意見,以維護其正當權益11。 d) 加強訴願程序中訴願人之參與權利 舊法之規定,對於訴願之審理方式,採書面審理為原則,例外始行言詞辯 論。惟為便於查明事證,並維護人民權益,有必要加強訴願當事人之參與, 故特別賦予訴願人等可以聲請調查証據12以及聲請閱覽卷宗資料13以及到達指 定處所陳述意見14,並行言詞辯論之權利15,而得暢所欲言充分表達意見,以 濟書面審理之不足。 e) 增列訴願再審之救濟制度 參照民事訴訟法有關判決再審訴訟之規定,增列訴願決定確定後,如發現 錯誤,訴願人得聲請再審之救濟16。 10

訴願法第28條第1項規定:「與訴願人利害關係相同之人,經受理訴願機關允 許,得為訴願人之利益參加訴願。受理訴願機關認有必要時,亦得通知其參加訴 願。」,可資參照。 11 訴願法第28條第2項規定:「訴願決定因撤銷或變更原處分,足以影響第三人權 益者,受理訴願機關應於作成訴願決定之前,通知其參加訴願程序,表示意見。」, 可資參照。 12 訴願法第67條規定:「受理訴願機關應依職權或囑託有關機關或人員,實施調 查、檢驗或勘驗,不受訴願人主張之拘束。受理訴願機關應依訴願人或參加人之申 請,調查證據。但就其申請調查之證據中認為不必要者,不在此限。受理訴願機關依 職權或依申請調查證據之結果,非經賦予訴願人及參加人表示意見之機會,不得採為 對之不利之訴願決定之基礎。」,可資參照。 13 訴願法第75條規定:「原行政處分機關應將據以處分之證據資料提出於受理訴願 機關。對於前項之證據資料,訴願人、參加人或訴願代理人得請求閱覽、抄錄或影印 之。受理訴願機關非有正當理由,不得拒絕。第一項證據資料之閱覽、抄錄或影印, 受理訴願機關應指定日、時、處所。」,可資參照。 14 訴願法第63條規定:「訴願就書面審查決定之。受理訴願機關必要時得通知訴願 人、參加人或利害關係人到達指定處所陳述意見。訴願人或參加人請求陳述意見而有 正當理由者,應予到達指定處所陳述意見之機會。」,可資參照。 15 訴願法第65條規定:「受理訴願機關應依訴願人、參加人之申請或於必要時,得 依職權通知訴願人、參加人或其代表人、訴願代理人、輔佐人及原行政處分機關派員 於指定期日到達指定處所言詞辯論。」,可資參照。 16 訴願法第97條規定:「於有左列各款情形之一者,訴願人、參加人或其他利害關 係人得對於確定訴願決定,向原訴願決定機關申請再審。但訴願人、參加人或其他利 害關係人已依行政訴訟主張其事由或知其事由而不為主張者,不在此限:一、適用法 規顯有錯誤者。二、決定理由與主文顯有矛盾者。三、決定機關之組織不合法者。 四、依法令應迴避之委員參與決定者。五、參與決定之委員關於該訴願違背職務,犯 刑事上之罪者。六、訴願之代理人,關於該訴願有刑事上應罰之行為,影響於決定 者。七、為決定基礎之證物,係偽造或變造者。八、證人、鑑定人或通譯就為決定基 礎之證言、鑑定為虛偽陳述者。九、為決定基礎之民事、刑事或行政訴訟判決或行政 處分已變更者。一、發見未經斟酌之證物或得使用該證物者。前項聲請再審,應於三

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f) 改進訴願審議委員會組織 訴願審議委員會職司訴願案件之審理,攸關訴願制度機能之發揮,對於政 府威信與人民權益之影響極為深遠,為求訴願審議之公平,避免固步因循之 疑慮,並兼顧實際運作之可行性,新法增訂訴願審議委員會之委員須二分之 一以上由社會公正人士、學者、專家擔任17。

g) 增設情況決定制度,並填補人民損害 貫徹法治,糾正行政機關之違法或不當處分,為訴願制度功能之一,惟當 其撤銷或變更違法、不當之行政處分,將對公益發生重大損害時,宜衡量公 共利益與私權之保護孰重孰輕,例如行政機關誤徵收非道路用地內之土地興 建道路,如將原徵收處分撤銷,必影響已興建之道路,使公共利益遭受重大 損害,故參考日本立法例,增設情況決定制度,亦即經斟酌訴願人所受損 害、賠償程度、防止方法及其他一切情事後,得駁回其訴願;惟應同時宣示 原行政處分之違法或不當,並指示原行政處分機關與訴願人進行協議賠償, 俾加強行政機關人員之警覺,促進行政權之合法行使,並使訴願人所受損害 獲得賠償,以兼顧公益與私益之保護18。 h) 廢除再訴願程序,改以行政訴訟取代 為保障人民權益,配合行政訴訟全面改採二級二審制度19,加上訴願程 序,行政救濟實質上已有「三級三審」,因此,為避免行政救濟程序過長, 致影響行政效能,爰以多一級行政訴訟程序取代再訴願程序。 2. 小結 2000年7月1日施行之訴願法,其條文多達101條。觀其內容,包含:管 轄、期日及期間、訴願人、送達、訴願卷宗、訴願審議委員會之組織、訴願 十日內提起。前項期間,自訴願決定確定時起算。但再審之事由發生在後或知悉在後 者,自知悉時起算。」,可資參照。 17 訴願法第52條規定:「各機關辦理訴願事件,應設訴願審議委員會,組成人員以 具有法制專長者為原則。訴願審議委員會委員,由本機關高級職員及遴聘社會公正人 士、學者、專家擔任之;其中社會公正人士、學者、專家人數不得少於二分之一。訴 願審議委員會組織規程及審議規則,由主管院定之。」,可資參照。 18 訴願法第83條規定:「受理訴願機關發現原行政處分雖屬違法或不當,但其撤銷 或變更於公益有重大損害,經斟酌訴願人所受損害、賠償程度、防止方法及其他一切 情事,認原行政處分之撤銷或變更顯與公益相違背時,得駁回其訴願。前項情形,應 於決定主文中載明原行政處分違法或不當。」;第84條規定:「受理訴願機關為前條 決定時,得斟酌訴願人因違法或不當處分所受損害,於決定理由中載明由原行政處分 機關與訴願人進行協議。前項協議,與國家賠償法之協議有同一效力。」,可資參 照。 19 2011年行政訴訟法修法,在各地方法院增設行政訴訟庭,已改採三級二審制。

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之提起、訴願審議、訴願決定、再審程序等章節,儼然一部小型之行政爭訟 程序法典。訴願程序之審議,除書面審理外,對於重要案件,訴願審議委員 會並得依訴願人、參加人之申請或依職權通知其於指定期日到達指定處所言 詞辯論,或指定委員聽取訴願人、參加人或利害關係人到場之陳述。此外, 受理訴願機關並得調查證據、囑託鑑定20、命文書或其他物件之持有人提出 該物件並留置之21、調取公務員或機關掌管之文書或其他物件22,並得就必要 之物件或處所實施勘驗23,其內容與法院程序已無重大差異。 II. 訴願新制實施之成效 2000年新訴願法施行至今,已逾十年。有關其成效,可分述如下: 1. 建立訴願會公正形象 曩昔,訴願審議委員會之委員,多由行政機關內部之高階文官擔任。審議 訴願案件時,不免有本位主義之心態,偏袒原處分機關,因而招致「官官相 護」之譏評。舊時行政法院遭人謔稱為「駁回法院」,號稱司法獨立之行政 法院尚且有此譏評,設置於行政機關內部之訴願審議委員會,給予外界之形 象如何,殆可想見。 新訴願法為革除此一流弊,乃於第52條第2項規定,訴願審議委員會之委 員須二分之一以上由社會公正人士、學者、專家擔任。行政院及各級行政機 關訴願審議委員會組織規程第4條第1項復規定:「訴願會置委員五人至十五 人,其中一人為主任委員,由機關首長就本機關副首長或具法制專長之高級 職員調派專任或兼任;其餘委員由機關首長就本機關高級職員調派專任或兼 任,並遴聘社會公正人士、學者、專家擔任;其中社會公正人士、學者、專 家不得少於委員人數二分之一。委員應有二分之一以上具有法制專長」。 新訴願法實施之後,各級政府競相遴聘社會形象較佳之學者、專家擔任訴 願審議委員會委員,以建立訴願審議委員會之公正形象。部分機關為強調訴 願審議委員會之獨立性,甚至將學者、專家之比例調高。以台北市政府為 例,該會除主任委員及副主任委員為綜理全會行政事務而為市府編制人員 外,其餘參與訴願審議之委員,全數均由府外之學者、專家與社會公正人士

20 訴願法第69條第1項規定:「受理訴願機關得依職權或依訴願人、參加人之申 請,囑託有關機關、學校、團體或有專門知識經驗者為鑑定。」,可資參照。 21 訴願法第73條第1項規定:「受理訴願機關得依職權或依訴願人、參加人之申 請,命文書或其他物件之持有人提出該物件,並得留置之。」,可資參照。 22 訴願法第73條第2項規定:「公務員或機關掌管之文書或其他物件,受理訴願機 關得調取之。」,可資參照。 23 訴願法第74條第1項規定:「受理訴願機關得依職權或依訴願人、參加人之申 請,就必要之物件或處所實施勘驗。」,可資參照。

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所擔任24。對於建立訴願會公正形象,進而提升人民對於訴願決定之信賴, 頗有助益。 2. 提升訴願決定品質 引進機關外之學者、專家與社會公正人士擔任訴願審議委員會委員,對於 訴願實務有極大影響。訴願審議委員會遴聘學者、專家擔任委員,非但較能 公正審議訴願事件,亦能去除外界對於訴願審議委員會委員立場不夠公正客 觀之質疑。訴願法新法實施之後,各級政府競相遴聘具有行政法專長之學 者、專家擔任訴願會委員。學者、專家亦能藉此機會,將其所學發揮於實務 工作中,提升訴願決定品質。 3. 促進理論與實務交流 引進機關外之學者、專家與社會公正人士擔任訴願審議委員會委員,不僅 對於訴願實務有極大影響,對於行政法學之研究亦有莫大助益。台灣並無類 似德國行政法院法上「兼職法官」(Richter im Nebenamt)之制度25,學者 無從到行政法院擔任審判實務工作。往昔行政法學之理論與實務無從交流, 對於社會上重要之行政法課題,往往各說各話,毫無交集。行政法之實務運 作無法獲得學術界理論之奧援,欠缺進步之動力。行政法學之發展亦欠缺實 務界提供案例作為研究之土壤,致其根基不實。訴願法新法實施之後,各級 政府競相遴聘具有行政法專長之學者擔任訴願會委員26,借重其行政法學專 業,提升訴願決定品質。另一方面,擔任訴願委員之學者亦得依藉此充實其 實務經驗,獲得研究素材,加深行政法學研究之本土化程度。 4. 釐清行政爭訟事件爭點 訴願制度亦有釐清行政爭訟事件爭點之功能,有助於訴訟經濟原則。在訴 願程序中,行政處分之合法性將受到事實上及法律上之審查。尋求權利救濟 者或許折服訴願決定而不發動行政訴訟程序。縱使其仍提起行政訴訟,由於 該事件之事實問題及法律問題已在兩階段之訴願審查程序中預先釐清,在行 政訴訟中即得以集中審理其爭點,故有爭點整理之效果27。

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參見台北市政府訴願審議委員會網頁,http://www.appeal.taipei.gov.tw/ct.asp? xItem=62428&ctNode=6390&mp=120031。 25 德國行政法院法(Verwaltungsgerichtsordnung, VwGO)第16條參照。依據該條 之規定,專任法學教授得於一定期間內,擔任兼職法官。其任職期間,最短為二年, 最長為其本職期間。參閱:陳敏等譯,Eyermann著,德國行政法院法逐條釋義,頁 103,司法院印行,2002年10月版。 26 以筆者為例,返國任教以來,曾擔任交通部、財政部及行政院勞工委員會等中央 部會,以及高雄市政府、台中市政府及嘉義市政府等地方政府之訴願審議委員會委 員,藉此充實實務經驗,獲益良多。 27 Würtenberger, Neuere Entwicklungen im Verwaltungsprozessrecht, 中正法學集 刊,第26期,頁267 – 268,2009年5月。

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晚近德國有關廢除訴願制度之主張,對於行政爭訟制度之發展恐有負面影 響。不僅行政訴訟之案件量恐將增加,且行政法院法官尚需調查其事實、爭 點及法律關係。如此,行政訴訟一審法官之任務與民事訴訟一審法官相近, 必需先確認訴訟當事人主張之真正內容,並闡明原、被告所提出之攻擊防禦 方法。訴願制度之廢除與訴訟經濟原則,恐相違背。蓋廢除訴願制度或許能 節省若干行政成本,但因此所增加之法院訴訟程序成本可能更高28。 5. 減輕行政法院之負擔 台灣訴願制度之成效,其最為顯著者,即為減輕行政法院之負擔。 以2010年為例,自2010年1月1日起至2010年12月31日止,行政院及其所屬 機關收辦之訴願件數共21,301件。經訴願程序後,不服訴願決定進而提起行 政訴訟者3,404件,約占決定件數比20.16%29。地方機關(台灣省政府、直轄 市、縣市)收辦之訴願件數共7,304件,經訴願程序後,不服訴願決定進而提 起行政訴訟者556件,占決定件數比10.43%30。約略而言,經過訴願程序之 後,行政法院之訴訟案件減少80%;在人民不服地方機關處分之爭訟中,其 訴訟案件減少之比例更高達近90%。若無訴願程序為行政法院疏減訟源,行 政法院受理之案件恐將增加數倍。 再以行政機關所投入之人力成本觀之,訴願制度之成效,更為顯著。以收 辦件數較多之中央部會為例,2010年財政部辦理訴願案件之人力共約24人, 全年度辦結件數3,556件,平均每人辦結件數約148件。行政院辦理訴願案件 之人力共約18人,全年度辦結件數3,671件,平均每人辦結件數為208件。總 計2010年行政院及其所屬機關辦結之訴願件數共18,011件,各機關之辦理訴 願案件之人力共約132人,平均每人辦結件數約為136件31。 以收辦件數較多之地方機關為例,2010年臺北市政府辦理訴願案件之人力 共約19人,全年度辦結件數1,980件,平均每人辦結件數為104件。臺北縣 (現已改制為直轄市新北市)辦理訴願案件之人力共約10人,全年度辦結件 數1,430件,平均每人辦結件數為143件。總計2010年地方機關辦結之訴願件 數共6,150件,各機關辦理訴願案件之人力共約109人,平均每人辦結件數約 為56件32。 綜合以上數據觀之,2010年全國行政機關投入約240人之人力,消化約 80%之行政爭訟案件(總件數為28,605),其成效可謂卓著。 28

Würtenberger, Neuere Entwicklungen im Verwaltungsprozessrecht, 中正法學集 刊,第26期,頁269,2009年5月。 29 參閱:http://www.ey.gov.tw/Upload/RelFile/7/82938/183015172771.pdf;最後瀏 覽日:2012 – 05 – 26。 30 參閱:http://www.ey.gov.tw/Upload/RelFile/7/82938/183015174571.pdf;最後瀏 覽日:2012 – 05 – 26。 31 參閱:http://www.ey.gov.tw/Upload/RelFile/7/82943/18301521571.pdf;最後瀏覽 日:2012 – 05 – 26。 32 參閱:http://www.ey.gov.tw/Upload/RelFile/7/82943/183015211971.pdf;最後瀏 覽日:2012 – 05 – 26。

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III. 回顧與展望:強化訴願制度之功能,增進人民對於行政之信賴 台灣行政爭訟制度之發展,自始即深受歐洲大陸法系影響,自1930年代 起,即確立以訴願為前置程序,行政訴訟為最終救濟途徑之行政爭訟體系。 至1980年代,台灣社會情勢丕變,民主思潮興起,舊有之行政爭訟制度已不 足以因應社會之需求,乃有健全行政爭訟制度之倡議,終於2000年7月1日起 施行新訴願法。 相對於晚近德國有關行政救濟制度改造之芻議中,有主張廢除訴願制度 (Widerspruchsverfahren)者,台灣之發展趨勢,則是充實訴願制度之內 容,使之「司法程序化」。2000年7月1日施行之訴願法,其條文多達101 條,內容與法院程序已無重大差異。 新訴願法施行至今,轉眼已逾十年。其間各級政府莫不致力提升訴願決定 之品質,以期有效解決各種官民糾紛。晚近,受理訴願機關於審理訴願事件 時,對於訴願程序中人民之程序參與權日趨重視。如遇事件重大或案情複雜 者,往往依當事人之申請甚至依職權舉行言詞辯論,或給予當事人陳述意見 之機會。就統計數字觀之,其普及性雖仍有待加強33。惟若干機關給予當事 人陳述意見機會之案件占總件數比例已達三成以上34,若干機關舉行言詞辯 論之案件占總件數比例高達四成35,殊值肯定。 上個世紀70年代,歐美各國陸續爆發大規模示威抗議活動36,各國為此付 出鉅大經濟與社會成本37。深入觀之,上述風潮其實導因於人民「政治法律 意識」(das politisch-rechtliche Bewusstsein)之改變。蓋傳統人民之政治法 律意識較為被動,多數人民相信,透過民主程序組成之政府,能針對各種社 會上所發生之問題找出正確的解決之道。1960年代中葉起,歐美開始所謂 33

以2010年為例,行政院所屬機關訴願案件舉行言詞辯論者僅30件,占決定件數比 僅0.18%;聽取當事人陳述意見者483件,占決定件數比2.86%;參閱:http://www.ey. gov.tw/Upload/RelFile/7/82942/183015201571.pdf;最後瀏覽日:2012 – 05 – 26;地方 機關訴願案件舉行言詞辯論者僅140件,占決定件數比僅2.63%;聽取當事人陳述意見 者221件,占決定件數比4.14%;參閱:http://www.ey.gov.tw/Upload/RelFile/7/82942/ 183015203271.pdf;最後瀏覽日:2012 – 05 – 26。 34 2010年教育部訴願案件聽取當事人陳述意見者占決定件數比34.78%,通傳會訴 願案件聽取當事人陳述意見者占決定件數比更高達41.18%;參閱:http://www.ey.gov. tw/Upload/RelFile/7/82942/183015201571.pdf;最後瀏覽日:2012 – 05 – 26。 35 2010年花蓮縣政府訴願案件舉行言詞辯論者占決定件數比40%;參閱:http:// www.ey.gov.tw/Upload/RelFile/7/82942/183015203271.pdf;最後瀏覽日:2012 – 05 – 26。 36 1970年代發生於歐美各國之示威抗議活動,最初導因於各國人民反對核能發電政 策,即所謂「反核運動」。其後此一風潮逐漸擴散,每逢對環境有重大影響設施之設 置或興建,例如:工業區、垃圾處理場之設置,機場、公路之興建等,人民均發動大 規模示威抗議活動。有關1970年代歐美各國反抗運動之歷史背景,參閱:Würtenberger, Akzeptanz durch Verwaltungsverfahren, NJW 1991, S. 257 ff. 37 前述大規模示威抗議活動推遲行政決定之執行,導致各種重大經濟建設無法順利 推動,非但增加各該設施之經濟成本,亦危及國家在國際上之競爭力(internationale Wettbewerbsfähigkeit)。最嚴重者,此一現象造成整個70年代歐美社會衝突不斷,騷 動四起。人民與政府嚴重對立,各國為此付出鉅大社會成本。參閱:Würtenberger, Akzeptanz durch Verwaltungsverfahren, NJW 1991, S. 257 f.

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「參與革命」(partizipatorische Revolution)。人民不再相信政府,對政府 之各種行動採取懷疑之態度,進而要求參與其決定過程38。為回應此一人民 「政治法律意識」變革,傳統「法治國家」(Rechtsstaat)概念之內涵亦有 所改變。新的理念強調行政決定之過程應儘可能開放人民參與,以增進人民 對行政之信賴。 誠如恩師所言,增進人民對於行政之信賴,對於現代民主國家而言極其重 要。蓋國家之權力實植基於人民志願服從之上,國家統治權只有在人民志願 服從的前提下才能持續存在39。人民參與行政決定之過程,恰好是人民與政 府「對話」(Dialog)的機會,並使人民能夠發揮其對於行政決定之影響 力,減低「政治無力感」(Gefühl politischer Ohnmacht)40,進而加強人民 對於國家之向心力,促進人民之「國家意識」(Staatsbewusstsein)41。 人民如被迫接受完全由行政機關作成之決定,毫無參與之空間,無異淪為 「單純行政決定之客體」(reines Objekt der Verwaltungsentscheidung), 貶損其作為權利主體之「人性尊嚴」(Menschenwürde)。此與行政機關作 成決定前,曾透過一定程序由人民參與,適度發揮其對於行政決定之影響 力,就心理層面而言有極大差異42。給予人民參與行政決定之機會,有助於 增進人民對於行政之信賴,進而接受行政決定之結果,不再尋求司法救濟, 真正達成「法律和諧」(Rechtsfrieden)之目的43。 晚近受理訴願機關重視人民程序參與權之種種努力,不僅能夠強化訴願制 度之功能,對於增進人民對於行政之信賴,亦有極大助益。回顧台灣訴願制 度之發展,並展望其將來,如何能夠進一步提升人民於訴願制度中程序參與 權之保障,可為未來訴願制度發展努力之方向。 Zusammenfassung Als der Jubilar am 11. 3. 2009 auf Grund einer Einladung des National Science Council an der National Chung Cheng University einen Vortrag über „Neuere Entwicklungen im deutschen Verwaltungsprozessrecht“ hielt, wies er darauf hin, dass in Deutschland wiederholt die Forderung laut wurde, das Widerspruchsverfahren abzuschaffen und dass dies in einigen Bundesländern bereits geschehen sei. 38

Würtenberger, Zeitgeist und Recht, 2. Aufl., 1991, S. 110 ff. „Auch der Stärkste ist nicht stark genug, seine Herrschaft auf Dauer zu behaupten, wenn er nicht die Gewalt in Recht und den Gehorsam in Pflicht verwandelt“, so Rousseau in Contrat social, I. 3; vgl. auch Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 13. Aufl. 1999, § 9 I. 2. 40 Bulling, Kooperatives Verwaltungshandeln (Vorverhandlungen, Arrangements, Agreements und Verträge) in der Verwaltungspraxis, DÖV 1989, S. 288. 41 Würtenberger, Die Akzeptanz von Verwaltungsentscheidungen, 1996, S. 69. 42 Hill, Kommunikative Problembewältigung bei umweltrelevanten Großvorhaben, DÖV 1994, S. 282. 43 Würtenberger, Verwaltungsprozessrecht, 2. Aufl. 2006, Rn. 9. 39

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Das taiwanische Widerspruchsverfahren hat bereits eine lange Geschichte und erfreut sich im Unterschied zu Deutschland in jüngerer Zeit zunehmender Beachtung. Der vorliegende Artikel erweist also dem Jubilar insofern eine besondere Ehre, als er mit der ,neueren Entwicklung des taiwanischen Widerspruchsverfahrens‘ an die Reise des Jubilars und seiner Frau Gemahlin erinnert. Hoffentlich erfreuen sich beide eines langen Lebens und guter Gesundheit. Das taiwanische Beschwerdeverfahren war von Anfang an tief vom kontinentaleuropäischen Recht beeinflusst. Es nahm seinen Anfang im Jahr 1914, als die Pekinger Regierung sich am Modell des französischen „Conseil d’Etat“ orientierte und den „Pingzheng Yuan“ (平政院), den ,Hof zur Befriedung der Verwaltung‘ gründete, dessen Aufgabe darin bestand, zu ermöglichen, dass „Bürger Behörden verklagen“ (百姓告官) können. Das Widerspruchsgesetz hatte seit seiner Verkündung im Jahr 1930 lange ohne nennenswerte Änderungen bestanden. Als sich die Verhältnisse in Taiwan jedoch in den 1980er Jahren nach Ende des Kriegsrechts und mit Einsetzen der Demokratisierung rasch veränderten, wurden Forderungen nach einer Reform des bereits lange überholten Widerspruchsverfahrens laut. Weil das ursprüngliche Verfahren es nicht vermochte, die Konflikte, die sich aus Eingriffen der Exekutive in die Rechte und Interessen der Bürger ergaben, effektiv zu lösen, kam es häufig zu Demonstrationen und Protesten, ja zu einer ernst zu nehmenden Störung der Gesellschaft. Als Gegenmaßnahme verlangten weite Kreise ein effizientes und umfassendes System der Verwaltungsklage. Nach vielem Hin und Her konnten die beiden Gesetze über den Widerspruch und über den Verwaltungsprozess endlich am 2. 10. 1998 die Legislative passieren, so dass sie am 28. 10. 1998 vom Staatspräsidenten verkündet wurden und am 1. 7. 2000 in Kraft traten. Das Gesetz über den Widerspruch in der Fassung vom 1. 7. 2000 umfasst 101 Paragraphen. Inhaltlich finden sich Zuständigkeit, Zeiten und Fristen, Widerspruchsführer, Zustellung, Widerspruchsschrift, Organisation der Widerspruchskommission, Erhebung, Untersuchung und Entscheidung des Widerspruchs, Verfahrenswiederaufnahme etc. in eigenen Kapiteln geregelt. Da keine deutlichen Unterschiede zu einem gerichtlichen Verwaltungsprozess bestehen, könnte man das Widerspruchsgesetz auch als ein kleines Verwaltungsprozessrechtsgesetz charakterisieren. Seit der Einführung des neuen Widerspruchsgesetzes im Jahr 2000 ist bereits ein Jahrzehnt vergangen. Konkrete Ergebnisse des neuen Verfahrens sind die Errichtung von Widerspruchskommissionen, die sich den Ruf der Fairness erarbeiten konnten, die qualitative Verbesserung der Widerspruchsentscheidungen, die Anregung zu einem Austausch von Theorie und Praxis, die Klärung von Konfliktpotentialen, welche zu Widersprüchen führen, und die Entlastung der Verwaltungsgerichte.

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Innerhalb der angenommenen Widerspruchsverfahren erfreut sich das Recht des Widerspruchsführers auf Verfahrensteilnahme auf Seiten der den Widerspruch entscheidenden Institutionen zunehmender Beachtung. Wenn es sich um einen Widerspruch handelt, der weitreichende Konsequenzen hat oder dessen Sachverhalt kompliziert ist, wird häufig entweder auf Grund des Antrags des Widerspruchsführers oder auf Grund der Kompetenz der Widerspruchskommission eine mündliche Verhandlung angesetzt, so dass der Beschwerdeführer die Möglichkeit hat, seine Belange mündlich vorzutragen. Diese Vorgehensweise verstärkt nicht nur die Funktion des Widerspruchsverfahrens, sondern vergrößert auch – so wie das der Jubilar immer herausgestellt hat – das Vertrauen der Bürger in die Verwaltung. Wenn wir also das taiwanische Widerspruchsverfahren nicht nur im Rückblick untersuchen, sondern uns Gedanken über dessen zukünftige Weiterentwicklung machen, lohnt es sich, zu überlegen, wie man die Rechte der Betroffenen auf Verfahrensbeteiligung noch weiter stärken kann.

Europas Identität im Selbstbestimmungsrecht. Eine Behauptung Von Johannes W. Pichler, Graz I. Prämissen Mit Thomas Würtenberger verbindet mich seit Langem ein rechtssoziologischer Diskurs über die Rechtsakzeptanz. Diesen Diskurs konnten wir zuletzt in der von Würtenberger maßgeblich gestalteten großen „Sicherheits-Konferenz“ in Berlin 20091 wieder einmal vertiefen2. Wir teilen den achtungsvoll anteilnehmenden Zugang zum Recht. Recht ist Anliegen und Aufgabe3. Freilich, an die Gründlichkeit in der Bewältigung der Aufgabe, so wie Würtenberger sie maßgeblich und maßgebend mit seinem Zeitgeist und Recht4 erwiesen hat, ist schwer aufzuschließen. Auch eine neue, drängende Aufgabe, die der Beobachtung der Entwicklung des europäischen Demokratierechtskanons nach dem Vertrag von Lissabon5, haben wir gerne angenommen. Thomas Würtenberger widmet sich dabei mit äußerster Umsicht wie Vorsicht u. a. dem sensiblen Bereich der über Art 17(3) AEUV denkbaren Wiederannäherung von Recht und europäischen Werten, wie sie in Art 2 EUVnF aufgeführt sind, man könnte auch sagen der denkbaren Wiederannäherung von Recht und Moral. Aber an dem „gerne angenommen“ könnte sich ein.e distanzierte.r, konservative.r Wissenschaftstheoretiker.in6 stoßen: Objektive Distanz zum eigenen Forschungsthe1 Getragen von Max-Planck-Gesellschaft / Frauenhofer-Institut / Bundesministerium für Justiz, veranstaltet im MPG-Harnack-Haus Berlin-Dahlem; 26.–29. November 2009. 2 Würtenberger, Konvergenzen und Divergenzen im Sicherheitsrecht Frankreichs und Deutschlands, in: Würtenberger et al (Hg.), Innere Sicherheit im europäischen Vergleich. Sicherheitsdenken, Sicherheitskonzepte und Sicherheitsarchitektur im Wandel, 2011, 231 ff.; Pichler, Mobilizing Acceptance of Law, in: Würtenberger et al, Innere Sicherheit, 331 ff. 3 Diese Herausforderung hat Franz Bydlinski, Rechtsgesinnung als Aufgabe, in: Canaris (Hg.), FS Larenz, 1983 allen Rechtsanwendern allgemein als Berufsobliegenheit aufgetragen, aber der Professorenschaft des Rechts noch nachdrücklicher als ganz spezifische Verantwortung zugeschoben. Dieses Stufenkonzept ist realistischer als die allgemeine Anmahnung von Rudolf von Jhering, Kampf ums Recht, Wien 1872, der die Normadressatenschaft insgesamt in Pflicht genommen hat. 4 1987, 2. Aufl. 1991. 5 Insb in den Art 9 – 12 EUVnF und Art 17(3) AEUV. 6 Ab hier sei ausnahmsweise auf meinen sonst üblichen gendering-Stil verzichtet.

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ma sei in den Wissenschaften geschuldet, es gehöre nicht zur Professionsethik des Wissenschaftlers, seinen Gegenstand zu mögen. Das würde nur die Objektivität gefährden. Niemand schreibt nämlich angeblich schlechtere Liebesgedichte als ein Verliebter. Freilich, weder den Rechtspolitiker noch den Menschenrechtler vermag diese Methodenstrenge zu beeindrucken, denn den einen wie den andern prägt einbekannter Weise ein persönlicher Zugang zum Recht – und es ist auch anbetrachts (meines) fortgeschrittenen Alters nicht daran gedacht, diesen je noch abzulegen. Dabei kommt einem natürlich die jüngere und gewiss noch nicht etablierte Forderung Toward a More Empathic Science in a Collaborative World7 entgegen, die Jeremy Rifkin8 zwar nicht erfunden, aber massiv ausgebaut hat und als wirksamer Multiplikator und Kommunikator erfolgreich verbreitet. Der Ansatz schickt sich daher an, sich zu verbreiten: Affect and Legal Education9 ist mittlerweile ein eigenständiges inner-rechtswissenschaftliches Forschungsthema mit affirmativem Drall geworden und der Bedarf eines etwas anderen Zugangs zum juristischen Professionalismus At the Edge of Law10 ist evident geworden. Diese etwas unübliche Einbegleitung erschien notwendig, um insbesondere dem zu Ehrenden Rechenschaft darüber abzulegen, wieso man sich dem europäischen Recht und hier wiederum der Demokratierechtsentwicklung mit einem so ganz persönlichen Zugang verbunden fühlen kann. Der Grund ist das Empfinden, auf diesem seinem Kontinent über das Selbstbestimmungsrecht den Zugang zur eigenen Identität gefunden zu haben, was weiters zum Versuch führt, zur Diskussion zu stellen, ob nicht im Selbstbestimmungsrecht überhaupt und allgemein die Identität Europas zu finden sein könnte. Um aber nicht suggestiv zu vereinnahmen, wenn etwa die gewählte Prämisse nicht geteilt zu werden vermag, sei unter Berufung auf die Rifkin’sche Aufforderung zur Offenlegung der Prämissenwahl der weitere Duktus erklärtermaßen auf eine persönliche Wahrnehmung und einen persönlichen Zugang gebaut. Proklamiert man Selbstbestimmungsrecht zum Medium der Identitätsfindung, ist man schon in der ersten Kontroverse gelandet: Identitätsfindung über das Recht? Das ist eine Frage, der Joseph Weiler vermutlich bejahend beipflichten würde, Ulrich Haltern hingegen vermutlich widersprechen: Weilers Ansage zur „Integration through Law“11 ist für Haltern12 keine wirksame Option, auch keine europäische. 7

Jeremy Rifkin, Empathic Civilisation: An Address before the British Royal Society of Arts, March 15th 2010, Chapter III www.coe.int/t/dg4/…/cwe/EmpathcCIV_EN.pdf. 8 Empathic Civilisation, 2009, 306 ff. 9 Maharg/Maughan (Eds), Affect and Legal Education. Emotion in Learning and Teaching the Law, London 2011, siehe insb Beitrag Del Mar, Legal Understanding and Affective Imagination, 177ss. 10 Andrews, At the Edge of Law. Emergent and Divergent Models of Legal Professionalism, 2011, siehe insb Towards a Contingent Legal Professionalism, pp 163ss. 11 General Integration, in: Cappeletti / Seccombe / Weiler (Eds), Integration Through Law, 1986, Vol I, B.3, 3ss.

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Ohne nun hier in diese stupende Debatte13 einzutreten und ohne auch weit ausholend die Nähe von Integration und Identität beweisen zu wollen, sei hier volitiv für Weilers Ansatz optiert, ohne zu übersehen, dass Halterns Bedenken höchst seriös begründet sind – und sich offensichtlich in einem Prozess des Überdenkens befinden14. Dieses Dilemma, sich nicht auf konsensfestem Terrain zu bewegen, gilt es zur Kenntnis zu nehmen. Wohlan. Versucht man sich seinen so persönlichen Zugang zu seinem langjährigen Objekt in Lehre und Forschung sowie in rechtspolitischer Aktivität selber zu erklären, dann muss man sich zunächst fragen, was denn eigentlich die gesammelte, implementierte Erfahrung ist, die einen dazu bewegt und die übrigens eine durchaus subjektive Wahrnehmung des Alltags sein kann. Die Antwort ist einfach: Es ist die eigene Erfahrung (oder nur Wahrnehmung?), sich in diesem Europa sicher und gut aufgehoben zu fühlen, zumindest sehr, sehr viel besser aufgehoben als in allen anderen Regionen dieser Welt. Aber das wäre erst der rationale Anteil, den schnell einmal auch zu teilen vermag, wer diesen Vorteil annimmt, aber Europa trotzdem nicht mag, weil man nicht unbedingt mögen muss, was oder wer einem Vorteile verschafft. Kurz, das ist übrigens die Lehre, die man aus der jüngeren amerikanischen Doktrin der politischen Kommunikationslehre15 und der amerikanischen Politikpsychologie ziehen kann, es führt von der ratio keine direkte und schon gar keine zwingend logische Brücke in die Emotion. Also gilt es weiter bei sich anzufragen: Was ist es, warum ich Europa mag? Dann fällt als Antwort zu, was hinter dem Sich-sicher-und-geborgen-Fühlen als Urgrund steht: Es sind die Werte Europas, wie sie ganz prominent in Art 2 des Europäischen Unionsvertrags konstitutionalisiert sind, in der Europäischen Grundrechtecharta emaniert sind und wie sie schließlich in deren beider Überbau, der Europäischen Menschenrechtskonvention grundgelegt sind, die Vertrauen einflößen. Es ist dies weiters der solid funktionierende Durchsetzungsweg über subjektive Rechtsansprüche und darüber erkennende supranationale Höchstgerichte in Straßburg und Luxemburg, der einen sich sicher fühlen macht. In dieser – das sei ganz ohne plumpen Eurozentrismus gesagt, weil ja der lange und von vielen Irrtümern begleitete Weg, insbesondere die in der Menschheitsgeschichte so nirgendwo je erreichte Finsternis im ohnedies nur „kurzen“16 zwanzigsten Jahrhundert, Europa zugleich recht abstoßend aussehen lässt – singulären Rechtserrungenschaft der Verbindlichmachung dieser 12

Integration durch Recht, in: Bieling / Lerch (Hg), Theorien der europäischen Integration, 399 ff.; ähnlich in Haltern, Europarecht. Dogmatik im Kontext (2. Ausg.) 2007, Rz 31 ff. und 1353 ff. 13 Die sinnhafterweise durchaus weiterbetrieben wird, siehe vor allem Beiträge in Augenstein (Ed), „Integration Through Law“ Revisited. The Making of European Polity, 2012. 14 Siehe das angekündigte Projekt von Haltern, Law as Political Identity: http://www.rechtals-kultur.uni-bonn.de/programm/Fellows/ehemalige-fellows/prof.-dr.-ulrich-haltern. 15 Westen, The Political Brain, 2008; Lakoff, The Political Mind, 2009; Brader, Campaigning for Hearts and Minds, 2006. 16 Hobsbawm, The Age of Extremes, 1983.

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Werte wurzelt das Sich-Einlassen auf beide Europas, das politische Unions-Europa und das individualberechtende EMRK-Europa. Es ist mein Europa. Ich finde es überall als meines wieder, jetzt und in der Vergangenheit ebenso. Egal ob ich in den Tempeln von G’gantija in Gozo oder denen in Hagar Quim oder Mnajdar in Malta stehe, bei den Felszeichnungen von Alta in Nordnorwegen, in Palos de Huelva, wo Columbus aufgebrochen ist, egal ob ich am alten Gerichtsberg Areopag in Athen stehe oder vor dem Portal des Europäischen Gerichtshofs in Luxemburg auf dem Kirchberg-Plateau, egal ob ich tief betroffen, wirklich erschüttert, von Auschwitz nach Birkenau hinüber gehe, egal ob ich im Dom zu Aachen stehe oder auf allen Vieren in das kleinste Erdkirchlein in der Mani am Südzipfel des Peloponnes hineinkrieche, ich finde mich überall irgendwie wieder, es ist überall ein Teil von mir, ich fühle von überall dort her ein kleines Erbe in mir. Ein geistiges, ein kulturelles Erbe, ein identitätsstiftendes Europa des Rechts. (Es ist kein geopolitisches Europa, um das es mir geht, auch das sei hier gleich untergebracht.) Es gibt kein Gefühl der Fremdheit an all diesen Plätzen, auch ohne all die Sprachen auch nur irgendwie zu verstehen. Es sei um Geduld gebeten für dieses etwas langatmige Erklären, warum das so ist und warum das zugleich (m)eine Ode an Europa werden muss. Europa wird gerne aus unterschiedlichsten Gründen der „Sonderfall“ genannt, wegen seiner Wirtschaftsformen, wegen seiner besonderen Blutrünstigkeit und Unmenschlichkeit, wegen seiner in der Geschichte in der Tat pathologischen Expansionshysterie und wegen ähnlicher Größenwahnsinnigkeiten. Damit hat Europa aber Schiffbruch erlitten, hin und hin. Scheitern reicht nicht, um einen Sonderfall zu begründen. Der einzige Grund, der mir dazu einfällt, Europa zu einem Sonderfall zu erklären, ist der, dass Europa eine beständige Signatur, ein ungebrochen durchgehendes Thema, eben seinen Weg erkennen lässt: Den von der Fremdbestimmung zum Selbstbestimmungsrecht, zum Selbstbestimmungsrecht in allen nur denkbaren Facetten des individuellen wie politischen Selbstbestimmungsrechts. Derselbe rote Faden führt von Unfreiheit zu Halbfreiheit, von Halbfreiheit zu wenig Freiheit und von wenig Freiheit zu mehr und von dort zu jener stolzen Freiheit und Würde, wie sie im Artikel 1 der Europäischen Grundrechtecharta steht: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie ist zu achten und zu schützen. Das ist es, was Europa ist und was es kennzeichnet. Dass es endlose Debatten darüber gibt, was Würde ist und was sie rechtens vermag (oder nicht vermag), ficht nicht an. Auch nicht dass sie im (noch) engen Anwendungsbereich dieses Art 1 noch weniger vermögen mag als im nationalstaatlichen Recht und ebenso wenig, dass da vielleicht vom Vorsitzenden des Grundrechtekonvents, Roman Herzog, nur das Bonner GG durchgepaust worden sei. Die prominente Platzierung an sich ist es, die Signalwirkung entfaltet.

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Dieses auf die eine, quasi die einzige, einmalige Person17 und ihre nahezu Verabsolutierung bezogene Europa kann man zwar schnell einmal als einen Kontinent der vom Recht geschürten Egomanie und Monomanie entlarven wollen. Und in der Tat darf man die integrierte und immanente Option, die volle und vollendete Selbstbestimmtheit in Richtung Autodivinisierung missverstehen und missbrauchen zu können, natürlich nicht übersehen. Aber es kann ja wohl der immer korrespondierende Missbrauch von Rechten nicht zum Argument dafür gereichen, dass man besser gleich Rechte nicht zugesteht, deswegen, weil sie irgendwann Gegenstand von exzessivem Gebrauch oder eben gar Missbrauch sein könnten. Ehe wir also daran gehen, eine Europäische Charta der Menschenobliegenheiten als Derivat der – durchaus sympathischen, aber eher wie eine Mischung aus Beichtspiegel und Glaubensbekenntnis, denn ein justiziables Rechtsdokument klingenden – Universellen Erklärung der Menschenpflichten18 zu schreiben, und damit ins hohe Naturrecht zurückkehren würden, müssen zunächst einmal die europäischen „Menschen-Rechte“ in der Rechtswirklichkeit etabliert sein. Und erst dann erlaubt sich eine Wiederkehr in das Naturrecht. Freilich, dann gebietet diese sich möglicherweise sogar. II. Europas langer, wirrer, steiniger, aber dennoch „gerader“ Weg Europa hat auf seinem schwierigen Weg von allem etwas mitgenommen. Manchmal haben die mitgenommenen Dinge lange geschlummert, sie sind aber immer wieder erweckt worden. Oft und wieder – und oft und wieder auch das Falsche. Aber von allem Sinnhaften und von allen Geistern ist Europa etwas geblieben, im Denken, im Fühlen, im Handeln und von dort hinüber in sein Recht eingezogen – und immer ging es um ein Mühen ums Recht. Dabei ging es immer um das Selbstbestimmungsrecht – das Recht der selbstverantwortenden Person. Es ging also immer um Autonomie. Schon dieser Begriff „Auto-Nomie“ zeigt, dass das Recht, über sich selbst zu bestimmen, Recht und moralische Pflicht in sich trägt: Über sich selbst bestimmen heißt zwar bestimmen zu dürfen, birgt zugleich aber eine Ausübungspflicht in sich und heißt nicht, nach Belieben auch nicht zu bestimmen, sondern eben verpflichtend sich selbst zu bestimmen, weil es sonst andere tun müssten. Denn geordnet muss jede Gesellschaft nun einmal werden. Absolute, grenzenlose Freiheit würde nämlich nicht nur die Schwächeren, sondern sofort auch sich selbst strangulieren19, mit großer 17 Man fühlt sich fast schon ein wenig an die Botschaft von Stirner, Der Einzige und sein Eigentum, 1844, erinnert. 18 Dokument des Interaction Council, www.interactioncouncil.org; siehe auch Küng, Projekt Weltethos, 1990, der übrigens auch der Spiritus Rector der Deklaration und des unter Vorsitz von Helmut Schmidt stehenden Interaction Councils ist. Siehe auch www.weltethos.org. 19 Gierke, Die soziale Aufgabe des Privatrechts, 1889, 22 f.

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freiheitlicher Lust sogar. In Europa weiß man um diese Gesellschaftsverwiesenheit der eigenen Person. Was allemal auch Beziehung und Verbundenheit mit anderen in sich begreift und damit die Pflicht, sich beim Selbstbestimmen auf die anderen abzustimmen. Das ist es, was die allmählich ins Bewusstsein einsickernde Rede von der Global Responsibility meint, die Europa in besonderer Weise tragen zu wollen verkündet. Selbstverständlich ist von den Worten20 ein weiter Weg zu den Taten, aber am Anfang, so auch die große Metapher, steht das Wort. Das war auch im Recht immer so. Ohne Wort kein Weg, ohne Weg kein Ziel und wenn Hugo Grotius etwa ganz unfertig noch über Menschenrecht tastend zu schreiben beginnt, dann ist der schon sehr reife Kanon der Französischen Deklaration der Menschenrechte irgendwo auf der Mitte des Weges und das Ziel mit der Europäischen Grundrechtecharta doch noch immer nicht erreicht. Europa hat von allen seinen Zeiten Bleibendes. Vom christlichen Grundkonzept sowieso, das muss man allen sagen, auch denen, die das als historisch belastetes Ärgernis empfinden. Man lese nur den ersten Satz der Europäischen Grundrechtecharta noch einmal. Kann man Würde, dignitas, dignity, dignité in diesem Kontext anders auflösen als metaphysisch? Ohne provozieren zu wollen: Was soll denn „unverzichtbare Würde“ anderes sein21, als die semantisch reizfrei gemachte, säkularisierte Umschreibung von der Einmaligkeit eines Menschen und von der christologisch einstmals eben so genannten Imago Dei, Gottebenbildlichkeit? Daher ist auch die Aufgeregtheit der christlichen Fraktionen im Verfassungskonvent, nachdem sie mit ihrem Anliegen, einen Gottesbezug in der Verfassung aufzunehmen, nicht durchgekommen waren, nicht ganz verständlich. Auch der Jurist Joseph Weiler22, der mit einer an sich ausgezeichneten kultur- wie religionsgeschichtlichen und zusätzlich verfassungsvergleichenden Analyse in diese Klage einstimmt23, hat das für Protagonisten eines christlichen Europas viel wesentlichere „Portal“ nicht ausreichend gewürdigt: Das Wesentliche und im Gegensatz zu einem Präambelbestandteil auch Judiziable steht eben in Art 1 GRCh. Das scheint inzwischen aber verstanden worden zu sein, denn das Bemühen der christlichen Kirchen um die Grund- und Menschenrechte, so auch um die Europäische Grundrechtecharta, ist inzwischen unübersehbar. Und der Europäische Wertedialog, Art 17(3) AEUV, scheint ja wohl auch ein unionsrechtlicher Verfassungsauftrag dafür zu sein, dass u. a. auch die Kirchen zum Transportieren der europäischen Werte aufgefordert sind. 20

Immerhin werden die nicht nur von zurecht bewegten Bewegungen verkündet, sondern auch von der obersten europäischen Politikebene, etwa jüngst wieder von Angela Merkel. 21 Siehe auch Korinek, Die Gottebenbildlichkeit des Menschen als Grundlage moderner Grundrechtskataloge, in: Kapellari / Schambeck (Hg), FS Donato Squicciarini, 2002. 22 Ein christliches Europa. Erkundungsgänge, 2004. 23 Was ihm in der „scientific community“ hinter vorgehaltener Hand herbe Kritik beschert hat, übrigens ganz im obigen Kontext, dass Empathie einem Wissenschafter nicht zur Zier gereiche. Haltern, Europarecht, Rz 33, der die Kritik im Grunde teilt, mildert sie in jüngerer Zeit aber in eleganter Weise ab.

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Die, die dem Christlichen die Autorenschaft zu den Menschenrechten absprechen wollen und diese der reinen Aufklärung zuweisen wollen, übersehen zweierlei, erstens, dass die „Menschenrechtsmeldung“ nun einmal unabweisbar vor-aufklärerischer Dokumentationslage entspricht und zum anderen die Künder der Aufklärung selber auch im Christlichen wurzeln. Auch das gerne mitgenommene Seitenargument der lange erwiesenen Menschenrechtsfeindlichkeit der Kirche in der Geschichte, das gerne als wirkungsvolle Keule zum Kahlschlag vermeint wird, macht die Argumentationslage zur Urheberschaft nicht konsistenter. Dass die den Thronen staatsgefällig-staatstragend sein wollende Kirche sich selber so lange und so gründlich von den aus ihrem geistigen Schoß entsprungenen Menschenrechten abgeschnitten hat, wird ihr bei den aktuellen Bemühungen um die Menschenrechte ohnehin noch geraume Zeit Glaubwürdigkeitsprobleme bescheren. Aber die Genealogie kann dadurch nicht umgeschrieben werden. Natürlich war Rom nicht der Schoß dieser Menschenrechte. Aber die Klöster und Orden waren es, Vitoria etwa war Dominikaner (ich weiß schon, Torquemada, Heinrich Institoris und Jakob Sprenger allerdings auch), und die bilden ein festeres Fundament als die zunächst vom römischen Patriziat gewählten Bischöfe von Rom. Darauf gilt es noch einmal zurückzukommen. Europa hat – die Präambel des Unionsvertrages i. d. F. Lissabon ringt um eine eher peinlich anmutende Äquidistanz in der „Ent-Gewichtung“ der stattgehabten Einflüsse – unbestreitbar Bleibendes von Aristoteles, von Plato, von Ovid, von Seneca, ja schon auch von Vergil. Hat viel Bleibendes aus den Evangelien, von Konstantin, von Dante Alighieri, von Thomas von Aquin, von Thomas Morus, von Hugo Grotius, von Erasmus von Rotterdam, von Thomas Hobbes, von John Locke, von Montesquieu, von Rousseau, von Lafayette, von Olympe de Gouges, von Immanuel Kant, von Karl Marx, von Bertha von Suttner, von Vogelsang, von Rosa Luxemburg, von Jean Monnet und, und, und von all jenen, die man mehrheitlich weglassen muss, um nicht durch eine Aufzählerei von Namen zu langweilen, die schon endlos anmuten müsste, selbst wenn man nur die herausragendsten europäischen Geister nannte. Keine und Keiner von diesen hat umsonst gelebt. Keine und Keiner ist wirklich tot. Sie sind wir und wir sind dieses gewordene Europa, das sich ins Recht eingemeißelt hat wie die zehn Gebote. Alles, was an Errungenschaften erdacht wurde, ist langsam im Wald des Rechts aufgegangen. Man könnte gar nicht leicht sagen, bei welchem Baum welche Wurzel von welcher Idee gespeist wurde. Aber es ist ein schöner Wald geworden. Zugegeben ein ruhiger, aber ist das schlecht? Heute stellt sich dieser Wald im europäischen Menschenrechtsbestand dar. Er könnte sich nicht friedensbesorgter und gerechtigkeitsbemühter darstellen, auch wenn die Einbettung in die Rechtswirklichkeit einerseits noch stockt, aber andere dennoch meinen, dass sich Wohltat schon zur Plage gewandelt habe. Grund genug jedenfalls, auch für jene, die das neue, politisch geeinte Europa nicht „mögen“, um diesem nach langem Ringen so gewordenen Europa wenigstens Respekt zu erweisen. Alles, was Europa heute an Rechten genießt und doch die „Rechtswohltat“ scheinbar gar nicht mehr richtig wahrnimmt und vergisst, dass nichts davon

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selbstverständlich ist, ist mit viel Leid und viel Blut bezahlt worden. Es sei behauptet, dass nur die Millionen der in den Ausrottungsfabriken Geschundenen und Ermordeten uns die Europäische Menschenrechtskonvention unmittelbar beschert haben und dass schon ein Jahrzehnt später vermutlich kein politischer Konsens zustande gekommen wäre, den ganzen Kontinent einem, dem nationalen Zugriff entzogenen Recht und einer über den Staaten stehenden Gerichtsbarkeit zu unterwerfen. Zurück zu den dynamischen Zügen Europas: Es ist dies der Kontinent, der alles in sich und in sein kollektives Gedächtnis aufgenommen hat, was je gewesen ist. Ein Kontinent, der scheinbar alle Lehren auch immer wieder vergessen hat. Aber eben nur scheinbar. Denn dieser Kontinent ist sich doch nach jeder Untiefe auf einem höheren Sockel des Bewusstseins seines Erworbenen bewusst geworden. Schon allein seine Mythologie und sein Gründungsnarrativ spiegeln dieses hybride Ringen, das im Geglückten endet: Europa erzählt sich als Gründungslegende eine Frauenraubsgeschichte, die man mit heutigen Maßstäben gemessen wohl zugleich eine Vergewaltigungsgeschichte nennen müsste, aber es erzählt sich eben nicht, dass der Täter Zeus dem Kontinent Identität und Namen gegeben hätte, sondern das Opfer Europa. Es erzählt sich auch nicht, dass sich in seinem Namen das Männliche verewigt hätte, nein, es ist eben die Europa, die ereb, das unbekannte Land, zu Europa macht. Trotz aller seiner Kain und Abel Wiederholungen, trotz aller seiner Verstrickungen und Verirrungen hat Europa den Glauben an die Metamorphose nicht verloren und ist heute wie Philemon und Baucis ineinander verwachsen. Diese Metamorphose des aus schier unendlichen Verletzungen hervorgegangen Europas des Rechts und Europas unter einem Recht ist das Kulturgut, das als die geistige Identität Europas anzusehen ist. Der Beginn des Selbstbestimmungsrechts liegt in der Archaik, aber es geht da zunächst mehr um das politische als um das individuelle Selbstbestimmungsrecht. Die Archaik hat noch nicht nach Gut und Böse gefragt, also noch nicht nach dem subjektiven Bestimmungsanteil, sondern nur nach Richtig und Falsch. Die Folgen eines Tuns ergaben sich nur aus dem eingetretenen Erfolg als Element der Zurechnung. Das haben wir zwar heute in „Einsprengseln“ auch wieder, aber nur aus ganz pragmatischen Gründen in den sogenannten Gefährdungshaftungen. Aber es geht hier nicht um das Thema der Wiederkehr von Rechtsfiguren24, sondern um das Suchen nach dem gewählten Grundthema. Das Gremium, das in der Archaik ein Tun beurteilt, ist die Versammlung aller Rechtsgenossen, das sogenannte Thing. Dieses baut auf dem Prinzip auf, dass nur Gleiche über Gleiche Recht sprechen dürfen, ein klassischer Ausdruck der Absage an Fremdbestimmung. Zugleich ein klassischer Ausdruck der Selbstbestimmung, weil eben dieses Thing nicht nur zur Rechtsprechung berufen ist, sondern auch zur Rechtsetzung. Dass der Vorsitzende durchaus schon aus vertikalen Gesellschaftsstrukturen hervorgegangen sein konnte und es Herrschaftsbefugnisse gegeben haben mag, verschlägt nicht, dass auch unter allenfalls einem 24

Mayer-Maly, JZ 1971, 1 ff.

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solchen Vorsitzenden und möglicherweise Spruchverkünder die Rechtsgestaltung bei den selbstbestimmenden Rechtsadressaten selbst verbleibt. Dieses Prinzip hält sich in den europäischen Taidingen zäh bis ins Mittelalter und sogar noch in die Neuzeit hinein, als also die Bauern schon klar unter Grundherrschaft geraten sind. Letztere wird als Teil innerhalb eines funktionalen Dualismus verstanden, in denen die Bauern auf ihrem genossenschaftlichen Selbstbestimmungsrecht beharren und Prozesse gegen übergriffige Grundherrschaften25 zeugen von einem lebendigen Bewusstsein, dass die „Arbeitsteilung“ funktionalen Ursprungs ist, also quasi-gesellschaftsvertraglich bestellt. Mit dieser Art des Selbstbestimmungsrechts steht auch eine gewisse Heiligkeit in Verbindung. Weil man Recht und Religion gar nicht trennt, tagt man nahe heiliger Stätten, die sich ihrerseits in Nähe der Gräber der Ahnen befinden oder mit diesen ident sind, so ist das von G’gantija auf Gozo bis zu skandinavischen Richterringen oder bis Stonehenge. Die Gemeinschaft ist ja schließlich berufen, das „Richtige“ zu erkennen. Dieses Denkmuster einer genossenschaftlichen Gerichtsbarkeit durch selbstbestimmte Selbstbestimmende, sui juris in einem generellen Verständnis, haben wir heute noch ganz stark in der amerikanischen Jury und auch noch, abgeschwächt, in der heimischen Laiengerichtsbarkeit – Schöffen- und Geschworenengerichtsbarkeit – die jedoch wegen behaupteter Störanfälligkeit hinsichtlich des Richtigkeitsund Gerechtigkeitsvermögens ausgedünnt werden soll. Kurioserweise greifen jedoch jüngere Rechtsentwicklungen gegenläufigerweise erst recht wieder vermehrt dazu, Konfliktparteien die Lösung des Konflikts in Autonomie und zur Selbstgestaltung rückzuübertragen: Mediation. Das ist ein Paradigmenwechsel in Richtung Selbstbestimmung, den wir im Übrigen auch in größeren Zusammenhängen beobachten können. Man findet die Ergebnisse der Rechtserzeugung, wie wir sie in unseren Verfassungen üblicherweise grundgelegt haben, merklich verbesserbar, indem Betroffene zwecks Gewinnung von Betroffenenverstand und verbesserter Akzeptanz in den Prozess der Willensbildung auch jenseits der verbindlich zur Rechtssetzung Berufenen eingebunden werden. Dies tritt im zusehends an Boden gewinnenden Prinzip der Governance zu Tage, die in Europa am Weg ist, schleichend verbindlich gemacht zu werden26 und sich letztlich als lex imperfecta unter dem unverfänglichen Titel der beiden „zivilen Dialoge“ mit der Zivilgesellschaft wie auch als „sozialer Dialog“ der EU Kommission mit den Kräften des Wirtschafts- und Erwerbslebens und der klingenden Verkündung eines „Prinzips der partizipatorischen Demokratie“ im verblassten Verfassungsvertrag, Art I 47, auch in die Verfassung eingenistet hat. Das alles ist Ausdruck des Setzens auf Selbstbestimmung, das im kollektiven Kleid eben nur Mitbestimmung heißen kann.

25 Siehe Pichler, Necessitas. Ein Element des mittelalterlichen und neuzeitlichen Rechts, 1983, 64. 26 Siehe Weissbuch „Europäisches Regieren“, KOM (2001) 428 endg.

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Die Antike geht dann schon einen Schritt weiter und fragt nach den Gründen eines Tuns, nach den Motiven. Aber da sich mit der Staatswerdung auch in Europa zunächst wie immer in Transitionen ein herrschaftliches System gegen die älteren genossenschaftlichen Strukturen durchgesetzt hat, geht dieses Recht des Urteilens an die Noblen. Das ist eine Adelsgerichtsbarkeit und dies geht mit einem Verlust an Selbstbestimmung der Unterworfenen einher. Der berühmteste Platz einer solchen Adelsgerichtsbarkeit ist der Areopag unterhalb der Akropolis von Athen, schon allein die Stehfläche ist der untrügliche Hinweis, dass hier nur ein kleiner elitärer Zirkel Recht gesprochen haben kann. Europa ist aber Europa. Es will, wie schon gesagt, über sich selbst bestimmen. Daher bilden sich die ersten Bürgergesellschaften. Am bekanntesten ist die von Athen. Aber es gibt andere zu gleicher Zeit auch. Am Weg von den Badeorten auf Kreta, Agios Nikolaos oder Elunda, hinauf zur Zeushöhle in Psykro am Lassithihochplateu kommt man an der frühen Republikstadt Lahtu vorbei. Diese befand sich nicht minder am Selbstbestimmungsweg, was man am dortigen Karree des Rechtssetzungs- und Rechtssprechungsplatzes noch gut nachvollziehen kann. Diese jungen Bürgergesellschaften verjagen also den Adel kurzerhand. Es wurde schon gesagt, Europa will selbstbestimmt leben. Natürlich gehört es auch zum europäischen Erfahrungsbestand, dass ein Adel durch jede nur denkbare Hintertür wieder hereinkommt, aber auch da spricht der endgültige Ausgang dieser Geschichte für die Vitalität des nicht und nicht brechbaren Selbstbestimmungswillens, auch wenn gemunkelt wird, dass die Union schon wieder in den Händen einer Oligarchie gelandet sei. So eben entwickeln sich im antiken Griechenland die ersten Bürgerversammlungen und werden europäisches Erbe, wie gesagt kein ungebrochenes und es wäre auch historisch falsch, hier einen ungebrochenen Kontinuitätsweg behaupten zu wollen. Auch diese Versammlungen im Stil des in Nordeuropa gängigen Things haben nicht nur Parlamentsfunktion, sondern auch Richterfunktion. Viel an gesellschaftlichem Aufwand – im jungen bürgerschaftlich-demokratisch verfassten Athen wandern nunmehr Hundertschaften an Richtern allwöchentlich auf den neuen Gerichtsberg Pnyx – wird ab nun auf die Frage der Einzelgerechtigkeit verwendet, die das notwendige Komplementärstück zum individuellen Selbstbestimmungsrecht ist. Ein hohes Ideal entsteht, das uns bis heute nicht mehr verlassen hat. Auch das ist ein europäisches Kulturgut. Kein anderer Kontinent müht sich so sehr ab mit der Gerechtigkeit. Man blicke nur auf den Jakob von Metzler Fall oder den eines schon neunfach überführten Triebtäters, der dennoch Freigang bekommt und in diesem dann erst recht wieder einen Buben missbraucht und dann ermordet. Andere Kulturen hätten mit derlei Tätern längst kurzes Federlesen gemacht. Wir plagen uns ab, um auch hier noch Gerechtigkeit zu suchen. Dieser erste griechische Kulturschritt, Rechtskulturschritt zu Selbstbestimmung und Gerechtigkeitssuche hat nur ein arges Manko: Es bestimmen nur Vollbürger, sagen wir Patrizier. Heloten, das sind in etwa die Nicht-Vollbürger, und Frauen haben so gut wie keine Mitbestimmungsrechte, im Politischen zumindest nicht.

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Im Privatrecht hingegen spürt man auch hier schon das Ringen um individuelle Selbstbestimmung. Eine merkwürdige Stelle in den prachtvollen Stadtrechts-Steintafeln von Gortyn, das so einigermaßen mittig zwischen den Königsstädten Knossos und Phaistos liegt, deutet darauf hin, dass es um 500 v. Chr. Erbtöchter gibt, epikleroi, die sich irgendwie schon die Vermögensfähigkeit zu erwerben verstanden haben. Dass muss noch nicht gleich Verfügungsfähigkeit heißen, ist aber wohl der logische Schritt davor und dazu hin. Im Kontext einer Aktiv- und Passivklagslegitimation, der Eidesfähigkeit der Frau und eines Güterstandes der Zugewinngemeinschaft in Gortyn wird man die Trendrichtung nicht wegdeuten können. Nun wird Kreta schon in den homerischen Gesängen ob seines dynamischen Rechts gelobt, aber sollte sich dieser Selbstbestimmungsrechtstrend wirklich nur so kleinräumig entwickelt haben? Die erste Volksherrschaft, Demokratie, baut also auf der Idee auf, dass Bürger sich selber untereinander und gegeneinander vertraglich verpflichten. Das ist der frühe Spross des Gesellschaftsvertrags, auf dem wir heute immer noch fußen. Der führt konsequenterweise auch zu einem Modell der Selbstverwaltung. Von den Bürgern gewählte und nur auf tunlich kurze Zeit bestellte „Politiker“ leisten Arbeit am Funktionieren der selbstbestimmenden Gesellschaft. Und eine kleine Kaste wird freigestellt oder stellt sich selber frei zum Nachdenken über Gerechtigkeit, Staat und Person, Sokrates, Aristoteles oder Plato. Die bringen eine europäische Staats-, Rechtsund Gesellschaftsphilosophie zuwege, die sich zwar nicht in allem, aber in einigem heute immer noch sehen lassen kann und die Grundfragen menschlichen Seins so abgearbeitet haben, dass wir heute immer noch bei ihnen nachschlagen können. Dann kam Rom. Das hat mehrere große Erzählungen. Die Erzählung von der Selbstbestimmung in voller und freier Selbstverantwortung stellt Ovid, so um Christi Geburt herum, an den Beginn der Menschheit, in deren noch „Goldenem Zeitalter“27: (…) aetas, quae vindice nullo, sponte sua sine lege fidem rectumque colebant. Freilich unterlässt er nicht, die gleichsam notwendige Vorbedingung für so viel rechtschaffene Ausübung der Selbstbestimmung nachzuschicken: … poena metusque aberant (…). Bei so viel Unangefochtensein von den Widrigkeiten in späteren Zeitaltern, in denen Milch und Honig nicht mehr fließen und dafür Feindseligkeit, Nachstellung und Hass regieren, ist die „richtige“ Ausübung des Selbstbestimmens vermutlich keine so große Sache. Aber wann soll dieses Goldene Zeitalter gewesen sein und wo in Europa? Auch die zweite große Erzählung, das Gründungsnarrativ von Rom, zeigt schon sehr viel mehr Selbstbestimmtheit als noch das griechisch-europäische. Zwar sind auch bei der Gründung Roms immer noch Götter am Werk. Aber den Romgründern Romulus und Remus ergeht es ungleich herausfordernder als ihrem „Gründerkollegen“ in Kreta. Minos ist zwar auch aus einer Entführungs- und Gewaltgeschichte hervorgegangen, aber er kam noch als Halbgott zur Ehre, König von Kreta zu sein. Die Brut von Rhea Silvia, über die Mars schwängernd hergefallen ist, tritt uns nicht mehr 27

Metamorphosen, I, 3, 89 – 91.

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als privilegierte Halbgötter entgegen, sondern als zwei, weil sich durch Ungemach durchschlagen müssend, wetterfest gewordene Erfolgsbürger. Sie gründen Rom, etwas überzogen gesagt, sozusagen wie zwei dann in einem letztlich tödlich endenden Vernichtungswettbewerb stehende Jungunternehmer, von denen jeder vermeint, den besseren business plan für dasselbe start up zu haben. Da ist nicht mehr so viel an Geworfensein im Spiel, sondern auf Tüchtigkeit und Durchsetzung hin angelegte Tatkraft und Selbstbestimmung. Auch das Recht ist in Rom schon nicht mehr nur von den Göttern gegeben (denen bleiben noch ein paar Nischen von fas und nefas), sondern schon Teil einer gezielten gesellschaftlichen, selbstbestimmten Eigenplanung. Da wird schon ganz auf modernes Europa gespielt. Man sieht sich nach einem „best practice model“ um – und holt sich das Beste und Rationalste für seine „zwölf Tafeln“ aus Griechenland ab. Eine Expertenkommission überarbeitet das Ganze dann noch nach den Erfordernissen von Ort und Zeit. Frühes Brüssel. Man ist klug geworden – leider gleich auch einmal größenwahnsinnig, kurz imperialistisch. Auch Rom landet alsbald wieder bei einem Königtum und einer Adelsherrschaft. Auch da protestieren dem Narrativ nach die Bürger und leisten erstmals jene Form der Bürgerselbstbestimmung, die wir heute zivilen Ungehorsam nennen. Die Bürger und Handwerker ziehen einfach aus Rom aus, das meint die herzige Geschichte von der secessio in monte plebis, eine Volksabstimmung mit den Füßen. Die verkünden vom Berg herab, auch so ein dauerhaftes Symbolbild, ihr Programm. Macht euch, wenn ihr uns nicht mitbestimmen lassen wollt, (salopp gesagt) euren „Schmarrn“ doch alleine. Das will der Adel einleuchtender Weise nicht. Man arrangiert sich. Ein recht europäisches Stück, das man sich selber erzählt in Rom, ein erster sozialpartnerschaftlicher Akt in mehreren Aufzügen sozusagen. Von da ab bekamen die mitbestimmenden Bürger ihre Volkstribunen innerhalb des Systems und einen Senat, der angeblich nur mehr gemeinsam mit dem Volk Gesetze beschließen konnte. Aber immerhin, diese Verfassungsgarantie sehen wir in Rom, all überall verewigt auf allen Säulen (und heute noch auf allen Kanaldeckeln Roms): SPQuR, Senatus Populusque Romanus, der Senat und das Volk von Rom gemeinsam beschließen über was auch immer. Der Senat kommt in der Aufzählung, und das nicht zufälligerweise, freilich zuerst. Nun, zumindest der Theorie nach ist der Kampf ums Mitbestimmungsrecht gewonnen. Was nach repräsentativer Demokratie aussieht, dürfte in der Verfassungswirklichkeit nicht so bürgerfreundlich ausgefallen sein. Rom bleibt feudalistisch, gentilistisch und patrizisch – und kolonialistisch. Aber wird dafür ein Weltreich. Das ist es, was viele, die „das Projekt Europa“ über die römische Großgeschichte verkaufen wollen, für herzeigenswert und marketingwirksam halten. Anderes scheint jedoch hier wert, um es zu paradigmatisieren: Nichtsdestotrotz überlässt die aristokratisch-römische Verfassung den Bürgern – allerdings auch hier zunächst wieder nur den echten römischen Vollbürgern – ein hohes Maß an Selbstbestimmungsfreiheit. Bürger konnten untereinander über allgemeine Vertragsfreiheit ihre Verabredungen selbstbestimmt treffen, mussten dafür

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aber auch die Selbstverantwortung tragen. Tua res agitur, kümmere dich um deine Angelegenheiten selber, ist das Komplementärstück zur grundsätzlichen Position des Selbstbestimmens. Recht entsteht nun nicht mehr nur vertikal durch Gesetz, sondern selbstbestimmt auf gleicher Bürgeraugenhöhe auch durch Vertrag, ius ex pactu. Diese Idee bleibt Europa erhalten und Rechtsverhältnisse entstehen üblicherweise selbstbestimmt über Verträge. In der Form der unternehmerischen Freiheit steht diese Gestaltungshoheit sogar ausdrücklich so in der Europäischen Grundrechtecharta, Art 16. Allerdings ist sie eingebettet in ein wohlausbalanciertes System der Arbeitnehmermitbestimmung, Art 27 GRCh und in den Anspruch von kollektivvertraglich, wohlgemerkt vertraglich und nicht gesetzlich, geregelter Gestaltung der Arbeitswelt und Arbeitsverfassung. Auch dies wurde wert befunden, in den Rang eines unionseuropäischen Fundamentalrechts gehoben zu werden, Art 28 GRCh. Es hat sich früh schon auch ein hohes Maß an Rechtsstaatlichkeit eingefunden, diese freilich kündigt alsbald das Prinzip der Archaik und frühen Antike auf, dass nur auf gleicher Augenhöhe übereinander zu Gericht gesessen werden darf. Anders als die Griechen, die dichotomisierend die Philosophie über das Recht in die Hände von Denkern und die Anwendung des Rechts in die Hände von gewählten Bürgerrichtern gelegt hatten, ist in Rom die Sache des Rechts bei Gelehrten, bei Juristen, angesiedelt worden. Die griechische Justiz kam den Römern zu sehr aus dem Bauch heraus, der Volksspruch schien zu undurchdacht und wegen zu unmittelbarer Nähe von Ereignis und Beurteilung zu anfällig für ein vages „Volksgefühl“. Just wegen dieser mangelnden Ebenburts-, Sach- und Volksnähe des römisch(-kanonisch)en Prozesses und der Verschleppbarkeit von Verfahren entscheiden sich viele Jahrhunderte später die amerikanischen Verfassungsväter Washington, Madison und Jefferson deutlich gegen das professionalisierte römisch-kanonische Verfahrensrecht und favorisieren das griechische Modell der Bürgerselbstbestimmung und Laiengerichtsbarkeit, während Europa im römischen Modell verhaftet blieb. Man kann sagen, dass dieses römische Recht Europa auf einer tiefen Ebene, nach Justinian oft scheinbar gar ganz verschüttet, letztlich durchträgt, und mit der Wiedergeburt des Corpus Iuris Civilis ab dem Mittelalter die Grundlage aller europäischen Zivil- und Alltagsrechte wird und ob seines Abstraktionsniveaus auch heute in allen Reformkommissionen für ein neues europäisches Privatrechtsgesetzbuch immer noch als Verständigungsplattform dient. Mithin bleibt das römische Ideal des zur Selbstbestimmung befähigten und berufenen Bürgers die europäische Grundsignatur. Dann kommt nach dem Mailänder Toleranzedikt von 313 eine neue Ordnungsphilosophie und Rechtsphilosophie nach Europa. Sie kommt, wie fast alles, was ins frühe Europa kommt, aus Kleinasien. Es ist dies das Denken des Christentums. Die Christen, von Diokletian zum letzten Mal verfolgt, huldigen einem Gott, der den etwas beliebigen Göttern der paganen römischen Religionen erkennbar überlegen ist. Dessen zur Erde gesandter und gar bis in das Reich des Todes hinabgestiegener Sohn, Jesus Christus, stiftet eine Religion, die nicht unterzukriegen und nicht

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auszurotten ist. Sie ist eben die neue Religion (und Politik) der kleinen Leute. Es geht schon wieder um Selbstbestimmung, diesmal in Form – und vielleicht zunächst auch nur als Verkleidung der „Umstürzler“ verstanden – der Religionsfreiheit, die der römische Staat just diesen Christen nicht mehr zugestehen will, weil sie ein allzu festes inneres Substrat mit einem quasi-politischen Durchsetzungswillen haben, der in der Tat staatsbedrohlich wirkt. Konstantin der Große (für den das Attribut schon gelten mag, wir sollten aber dennoch nicht alle, die diesen Beinamen tragen, blind als europäische Leitfiguren preisen, sondern ihnen mit einer gewissen Vorsicht begegnen), ein Wahlenkel des letzten Christenverfolgers, weiß die Sache des römischen Staates verloren, wenn er diese neu erwachende, von einem revolutionären Stiftungsprogramm der Befreiung von den dominanten horizontalen gesellschaftlichen Bindungen geleitete Bürgermacht nicht in den politischen Prozess integrieren kann. In hoc signo vinci, Konstantins Schlachtruf, ist schon wieder ein so eingängiges europäisches Narrativ. (Erstaunlich, warum es heute nicht und nicht gelingen will, dass sich Europa ein wirklich packendes Narrativ erzählt, an herzeigbaren Erfolgen mangelt es doch nicht. Ist das so, weil Erreichtes, wie Frieden, sich nicht mehr zum Sich-selber-Erzählen und Imaginieren eignet und man jedoch andererseits, um Jacques Delors zu bemühen, einen Markt nun einmal eben nicht lieben kann?) Weil er sich dann dazu bekannte, im Zeichen des Kreuzes gesiegt zu haben, macht Konstantin das Christentum zu einer anerkannten Religionsgesellschaft und diese macht sich daraufhin sofort zur führenden. Staatsreligion wird sie erst etwas später. Damit beginnt zwar die Chance dieser Religion, damit beginnt aber zugleich ihre Versuchung. Waren in nach-archaischer Zeit Recht und Religion am Weg, sich zu entflechten, scheint die Aussicht, sich die Regelgebung zur Verbindlichmachung der eigenen religiösen Inhalte und Ziele nutzbar machen zu können, so verlockend, dass man die langfristigen Risken ignoriert. Nun beginnt daher wieder eine so typisch europäische „Geschichte“. Konstantin versteht sich natürlich als irdisches Oberhaupt dieser Kirche und er versteht diese Kirche rangmäßig als unterhalb der Staatsebene positioniert. Dieses Vorverständnis tarnt er gut in der Rolle ihres „Beschirmers“. Die Kirche lässt sich auf dieses Rollenspiel und die damit verbundene Unterwerfung zunächst ein, sehenden Auges. Sie weiß, sie hat Zeit und sie weiß, die Zeit arbeitet für sie. Denn mit einem Programm, in dem die Letzten die Ersten sein werden, in dem man nicht mehr wie in Griechenland über Auserwähltsein und Göttergefälligkeit, nicht mehr wie im mosaischen Bekenntnis über blanke Gesetzestreue in den Himmel kommt, sondern in der der Letzte und Kleinste unmittelbar Teil hat an Gott, er und sie (!) Teil Gottes und Gott in ihr und in ihm ist und er und sie einen direkten Zugang zu ihm, über Liebe und Glauben haben, schafft man eine politische Revolution. Das ist natürlich das Tor zur allgemeinen Selbstbestimmtheit und von da weiter zur Befreiung von Staat, von der Gesellschaft und letztlich auch von den mannigfachen Bindungen an die Mitbestimmtheit durch Verwandtschaft.

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Aber der Weg zur Verwirklichung des neuen Ideals der Selbstbestimmung wird kein Spaziergang für die Menschen. Mosaische Gesetzestreue, Recht bloß nicht zu brechen, erfordert nicht gar so sehr viel, eigentlich nur Artigkeit und Anpassungsfähigkeit. Und „Pharisäer-Stehvermögen“. Sein Verhalten auf das abzustellen, was einem die Gebote der Liebe und der Nächstenliebe ansagen und dann auch noch als neue und geradezu höchste Rechtsquelle, das Gewissen, zuruft – und am langen Ende eine Staatskirche noch dazu diktiert – das ist alles andere als eine bequeme Umwälzung und Abwälzung alter Rechtskorsette. Auch wenn es zunächst so aussieht. Man ist ab nun zur Selbstbestimmung freigestellt aber gleichsam auch verurteilt, vor die Selbstwahl gestellt, zu Gott Ja sagen oder aber auch Nein sagen zu können. Allerdings bei voller Selbstverantwortung für den Missgriff mit der ultima ratione Sanktion des vollen Verlusts des Seelenheils. Die Messlatte der Selbstbestimmung wird also zugleich so hoch hingehängt wie noch nie zuvor. Gott weiß ab nun alles, sieht ins Innerste, ist in einer oder einem sogar drinnen. Jetzt kann man sogar auch schon in Gedanken sündigen und durch einen bloß mentalen Vorgang, der keine realen Folgen zeitigen kann und auch nicht einmal einen messbaren und spürbaren Schaden stiften kann, zum Brecher der Liebesordnung werden. Confiteor quia peccavi, in Gedanken, Worten und Werken. In Gedanken sündigen zu können – das streng und ohne Entlastungsbenefiz zu Ende gedacht – ist inhuman und geeignet, Persönlichkeitsstörungen auszulösen. Ein so hoch hingehängtes „Para-Rechts“-System kann daher nur überleben, in dem es gezielt systemische „Doppelbödigkeit“ zulässt, andernfalls es erst recht Gefahr des neuerlichen Revoltierens in Kauf nehmen müsste. Daher kommt erstmals auch gleich eine neue Rechtsphilosophie, eine zutiefst europäische, und überdies grundvernünftige, entlastende Remedur. Bereue, ehrlich, in pectore, vor dir selbst, das genügt! Dann wird das Getane auch wieder getilgt. Die Tilgungsfrist ist passabel, sie beginnt bildhaft gesagt sozusagen ab Sonntag zu laufen. Wenn man am Montag schon wieder umschmeißt und den vielen Versuchungen erliegt, genügt es sonntags darauf diese Unzulänglichkeit in der Ausübung des an sich richtig gerichteten, aber umsetzungsschwachen Selbstbestimmungswillens vor Gott hinzulegen und zu sagen, Herr Du siehst mich doch in meiner Schwäche, ich will ja, aber alles ist stärker, Herr verzeih mir – und die Lehre sagt: er verzeiht. Das ist der Anfang europäischer Rechtspsychologie. Ein lebensnahes Angebot, um mit sich und scandalum humanum menschlicher Fehleranfälligkeit leben zu können. Da wird erstmals in der Geschichte – und nicht nur in der europäischen, sondern in der Geschichte der Menschheit – der Mensch vor sich selbst im Verhältnis zu einer höheren Ordnung ganz und gar frei gestellt, seine eigene Entscheidung zu treffen. Er kann zum Guten auch Nein und zum Bösen Ja sagen. Der volle freie Wille ist da, Willensfreiheit als frühe europäische Grundsignatur. Wer sich willentlich zum Bösen entschieden hat, also der Hartnäckige, der nicht Bereuende, zahlt eben mit seinem Seelenheil. Es geht ab jetzt um alles oder nichts. Das wiederum ist eine arg harte Sanktion, wir würden sie wegen Unverhältnismäßigkeit für rechtswidrig erklären.

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Diese grundeuropäische Kirche, wie universalistisch sie sich selber auch sehen mag, lernt das natürlich auch sehr schnell, dass man nicht Freiheit verkünden kann und dass man dann, wenn der Umgang mit dieser nicht den vorausgesetzten Erwartungen entspricht, Menschen nicht gleich in die Aussichtslosigkeit und ewige Verdammnis treiben darf, so wie es Tantalus und Sisyphos beschieden war – und sie bietet daher ab dem Mittelalter einen posthumen und doch humanen Brückenbau zum Himmel an. Zeit zieht als barmherzige Zwischendecke zur Ewigkeit ein. Die nachträgliche Bereinigung eines noch offenen „Sünden-Saldos“ wird möglich. Das Purgatorium, das Fegefeuer, wird erfunden. Frühe Psychologie der Befreiung und der Hoffnung zieht rechtsstrukturell in das Abendland. Und noch eine neue europäisch gebliebene Rechtsidee kommt ganz früh einher, im Vater Unser, im Gebet des Herrn, wie es schon aus dem Neuen Testament überliefert ist und bis heute valid geblieben ist. Denn da gibt es einen üblicherweise recht unterbelichteten Satz, der auch die weiteren Rechtsentwicklungen beeinflusst und mit dem das Recht aufhört, streng in Vergeltungsdimensionen, Aug um Aug, Zahn um Zahn zu denken, sondern einmal mehr in psychologische Fundamentierung einschwenkt: „Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.“ Das heißt erkannt zu haben, dass man zur Kenntnis nehmen soll (empirisch besehen: es wohl auch muss), dass immer irgendwer irgendwem irgendetwas schuldig bleibt, kurz: Zustehendes vorenthalten und Unrecht zugefügt wird, aber zugleich auch von dem, der Unrecht erlitten hat, unentrinnbar seinerseits auch Unrechtszufügung weitergereicht wird und dass die Lehre, die daraus zu ziehen ist, nahelegt, einander Einsicht in diese unausmerzbare Unzulänglichkeit und in die Kreislaufhaftigkeit des einander Schuldigbleibens entgegenbringen zu sollen: „… wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“. Das Selbstbestimmungsrecht, so wird schon früh erkannt, hat grundsätzliche und integrale Bruchzonen, weil es die Befreiten auch überfordern kann, insbesondere deshalb, wenn und weil sie oder er bisweilen eben doch nicht so frei ist, wie das Konzept der Konsequenzialität dies rigoros voraussetzt und um der Schlüssigkeit des Konzepts wegen auch voraussetzen muss. Diese Einsicht in die dem Menschen wesenseigene Unzulänglichkeit im Selbstbestimmen ruft nach einem Nachsichtventil beim Zumessen der Folgen. Das reißt auch das Recht um. Da purzelt die Idee der Billigkeit über die christliche Vordertür herein und über die logische Hintertür kommt dann noch ein Element herein, das Rom schon kannte, aber nicht so hoch wie die Kirche hingehängt hatte, das ist eben diese im Vater Unser problematisierte culpa, die Schuld, das streng konsequente Zurechnungspendant zu einer Freistellung zur Selbstbestimmung. Das wird Europa dramatisch verändern. Wir haben dieses Denkmonument bis heute, wenngleich das Recht stets versucht, die Schärfe der Konsequenz des Indeterminismus zu mildern, weil wir nicht gut leugnen können, dass es eine Vielzahl von Quellen von oftmals nicht beherrschbaren Willensbeeinträchtigungen gibt. Die jüngste Hirnforschung bringt die „culpa-Juristerei“ in noch größere Bedrängnis als es die Psychologie schon geraume Weile tut. Wir haben dieses Denkmonument der „Schuld“ nicht nur im Beichtstuhl, diesem Ort der Selbsteinsicht und zugleich Selbstbezichtigung,

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beim mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa. Nein, wir haben die Schuld komplementär zur Rechtswidrigkeit als leitendes Element allen Einstehenmüssens, vom Strafrecht bis zum Zivilrecht. Nur was jemand schuldhaft begangen hat, dafür muss er oder sie ab jetzt einstehen. Alles andere war ein Unglück oder Unfall. Die Archaik ist endgültig zu Ende. Nicht mehr die Tat tötet den Mann sondern die Absicht tötet ihn. Jetzt kommt es nur mehr auf den subjektiven Wollensanteil im Handeln an. Diese Verschuldenshaftung kommt erst jetzt wieder ein wenig ins europäische Gerede. Es sei doch praktischer, manchmal nicht langwierig sich abzumühen, den Täter zu überführen, sondern dem Opfer schnell zu helfen durch eine verschuldensunabhängige Entschädigung und, so möglich, Opfer und Täter sich ausgleichen zu lassen: Diversion. In dieser europäischen Ur-„Liebesordnung“ des Christentums gibt es jedoch von jeher Unstimmigkeit. (Es wäre nicht Europa, wenn es anders wäre.) Konstantin beruft 325 daher das Konzil von Nicäa ein. Es geht, wie so oft auch später noch in Konzilien, um einen kircheninternen Lehrstreit, diesmal um die Gnosis. Dieser Schulenstreit ist zwar theologisch theoretisch bedeutend, aber nicht für unseren Duktus. Heraus kommt unter der Schutzherrschaft von Kaiser und Staat jenes klärende und den intellektuellen Konflikt durch banalen Machtspruch beendende Glaubensbekenntnis, das im Wesentlichen bis heute gilt. Jeder Satz darin beginnt mit einem „Ich“, dies eben ist die absolute Voraussetzung des neuen Konzepts der Ich-Bezüglichkeit allen selbstbestimmten Handelns. Es ist dieses Glaubensbekenntnis zugleich eine Art europäisches Verfassungsbekenntnis, ein Bürgereid, der einer späteren Staatskirche zwar nicht die subtile Häresie, jedoch das Faktum von wieder und wieder bestätigter Zugehörigkeit oder andernfalls Abfall leicht nachprüfbar macht. Sie braucht den Menschen sprichwörtlich nur auf den Mund zu schauen. Ab jetzt wird diese Kirche der inneren Freiheit, der Entgrenzung, der Lösung des Einzelnen von seinem Kollektiv, von Stammesbindungen, von Staat und von Gesellschaft, der Überantwortung der Person an die volle Selbstbestimmung bei Selbstverantwortung, Teil der neuen Rechtsordnung und letzter Rechtswertestifter. Sie, diese Kirche ist es, die den europäischen Staat baut, in der Grundarchitektur fast gleich den byzantinischen Staat wie den weströmischen. Das ist, warum Osteuropa gänzlich Europa ist, nicht weil es auch christlich war und ist, sondern weil es bis auf das im Osten stärker caesaropapistische Element dem Grunde nach die gleichen Bauelemente aufweist. Ist die Erlösungslehre des im Rahmen der „Zwei-Seiens-Lehre“, ganz Gott und ganz Mensch, sein irdisches Leben selbst hinopfernden Christus, und zwar in der höchsten Selbstbestimmungsform: aus Liebe statt aus Recht, nur ein naiver Versuch zur richtigen Wahl und zur Nachahmung einer altruistisch orientierten Freiheitsgestaltung anzuleiten? Ist der verheißene Direktzugang zu Gott, ferner die Neuvergesellschaftung der Gerechtigkeit mit Billigkeit der Versuch, das strenge Recht der Pharisäer zu überwinden und die Anpassung dessen, was rechtens zu tun ist, durch das Gewissen zu erwirken? Ist also das, was das Gewissen gebietet, neues

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Recht, besseres Recht, höheres Recht und ist im wahrsten Sinn des Wortes wieder die urparadiesische Freiheit angebrochen? So viel Freiheit und Selbstfreistellung, sagt ab nun eine die Deutungshoheit übernehmende Theologie, die sich seit Aurelius Augustinus breit macht, kann man den Menschen doch „um Himmels Willen“ gar nicht zumuten, das überfordert doch die Menschen. Und nun kommen neuerdings erst wieder neue Rechtskorsette. Diesmal kirchenrechtliche. Die werden so kleinlich, investigativ wie nie zuvor, wie sie sich später in den bis in die Absurdität getriebenen Beichtspiegeln spiegeln. Was, wann, warum, wie oft, wo, wie lange, alleine, an sich selbst, an anderen, zu zweit oder mit mehreren anderen, so kommt die ganz alltägliche, tief implementierte, Schuldgefühle potenzierende Seeleninquisition in Beichtspiegeln über ganz Europa – und ein „Neurosenkontinent“ wächst heran, wie später einmal Sigmund Freud diagnostizieren wird. Der gerade große Freiheits- und Selbstbestimmungswurf dieser Kirche wird also flugs wieder eingeebnet. Diese Staatskirche wird ängstlich, aber dafür mächtig (und reich). Und sie selbstvergeiselt sich ab nun in einem Kirchenrecht und erst recht in einem Ketzerrecht, das unmenschliche Züge annimmt und von der Liebesordnung, der Gnade und Barmherzigkeit, die in der Auslage gepredigt wird, wenig wiedererkennen lässt. Selbstbestimmung? Albigenser, Katharrer, Glaubensabtrünnige also, Ketzer, brennen schon knapp hinter der ersten Millenniumswende auf Scheiterhaufen und sie brennen lange noch als Hexen, all jene, die der Teufel in Besitz genommen hat. Die recherchierten Zahlen schwanken, aber sie überschreiten in keiner der Hochrechnungen die Marke von zweihunderttausend im Verlaufe von etwa sechs Jahrhunderten, was Statistiker zur Jahresschnittziffer von cirka 300 armen Opfern per Jahr in ganz Europa geführt hat. Ohne einer wie immer gearteten Aufrechnung auch nur irgendwie Raum zu geben, sondern nur um einen bildhaften Vergleich zu versuchen: Diesen Schnitt hätten, wenn man denselben Statistikansatz wählte, die Nazis in etwa jeder Stunde ihrer schlimmsten Wirkenszeit geschafft und Stalin gar in jeder Viertelstunde seiner „Zenithphase“. Kehren wir sofort wieder zur Habenseite Europas und zur nächsten großen Zeit der Entdeckung des Egos und der Selbstbestimmung zurück. Die beginnt nach der ersten Verchristlichungswelle schon wieder mit dem Christlichen, diesfalls mit dem christlichen Naturrecht. Dieses muss sich einem Fürstenstaat entgegenstemmen, der ziemlich erfolgreich am Weg ist, alle Pluraliltät und Freiheit, die sich im urbanen europäischen Mittelalter üppig entfalten konnte, zu kassieren. Nun gut, die Menschen scheinen die Selbstbestimmung in der Tat recht „barock“ angelegt zu haben. Jedenfalls sind der auf die exzessive Selbstbestimmung reagierenden „Ordnungen“ sonder Zahl, Reichspolizeiordnungen, Landespolizeiordnungen, Stadtordnungen, Marktordnungen, Dorfordnungen, Handwerksordnungen, Kleiderordnungen, Waldordnungen, Sonn- und Feiertagsordnungen usf. Alles muss „geordnet“ werden, weil der Hurerey, der Puberey (Homosexualität), des Saufens, Fluchens, Lästerns, Kartenspiels, Betrügens und Belügens usf kein Ende ist. Die Badhäuser,

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man würde heute Swingerclubs sagen, wurden gesperrt, die Wirtshäuser observiert, die Prunk- und Putzsucht verboten, Hochzeitsfeiern durften nicht mehr länger als drei Tage dauern und die dabei üblichen fünf Mahlzeiten zu je wiederum bis zu zehn Gängen wurden per „Ordnung“ drastisch gekürzt. Sebastian Brant dürfte sein Narrenschiff schon ganz treffsicher angelegt und Rubens die Lust der Zeit ebenfalls ganz gut getroffen haben. Aber ist Maß und Art sowie Lebenslust, was alles zur maßlosen Freiheitsübung und Freiheitsrechtsausübung erklärt wird, ein hinreichender Grund, um die Legitimität des Selbstbestimmungsrechts ontologisch begründet in Frage zu stellen und vice versa die absolute Herrschaft des Fürstenregimes zu legitimieren? Wohl kaum und deswegen rennt das christliche Naturrecht, das ist das frühe Naturrecht, sofort gegen die angemaßte Allmacht der Fürsten an, der die selbstbestimmenden freien Bürger des Mittelalters zu seinen eigenen, durch Gesetz und Weisung gesteuerten „Untertanen“ degradiert hat. Die Welt, so war das aufrührerische Kampfargument gegen diese fremdbestimmende Fehlentwicklung, ist mit ihrer Schöpfung doch schließlich in Freiheit entlassen worden, um sich selber weiter zu schöpfen und zu entfalten. Daher philosophiert Hugo Grotius in De jure belli ac pacis libri tres28 sogar vor sich hin – nicht ungefährlich um 1590 – dass diese Emanzipation irreversibel sei und selbst Gott seine eigene (An-)Ordnung nicht mehr rückgängig machen könne, auch wenn er wollte, dass zwei mal zwei nicht mehr vier sein sollen. Das heißt nicht weniger, als dass das göttliche Naturrecht ein unveränderbar begebenes Recht ist und die Menschen die Spielräume des sekundären Naturrechts fortan selber vermessen dürfen. Mithin ist für die sich auflehnende Lehre des christlichen Naturrechts der Fürst von Gottes Gnaden nicht mehr der „Alleininterpret“ der Rechtssetzung. Das ist eine Erinnerung an die Freiheit(en) des europäischen Mittelalters. Dieses hat seine Rechtswerte der Vielfalt in höchstem Ausmaß kultiviert. Und Europa leiht, ohne sich dessen so recht bewusst zu sein, heute noch heftig dort an. Die Idee der Subsidiarität beginnt nämlich gerade damals zu blühen. Jede der vielen Teilgesellschaften hatte im Europa des Mittelalters ihr eigenes, weitgehend von ihr selbst gefundenes Recht. In der Stadt des europäischen Mittelalters entsteht nämlich nach Rom und nach dem Ende der ersten Herrschaftszeit der großen Dynastien, personalisiert in Karl dem Großen, der als Emanation des dynastischen Prinzips ein straffes, vertikales, weisungsgebundenes Regime reichsweit etablieren konnte, wieder einmal die Idee, niemand anderen als die Bürgerschaft, vertreten durch einen von ihr selbst gewählten Richter, über sich richten zu lassen und von da weg auch selber die Rechtssetzung in die Hand zu bekommen. Um diese selbstbestimmten Stadtrechte und die Selbstverwaltung ging der Kampf gegen die Kronen und Reiche. Siena, Florenz, San Marino, Gubbio, Narni, Todi jedoch ebenso gut Visby auf Gotland und noch unzählige andere Städte legen heute noch sichtbar Zeugnis davon ab. Es ist überall das gleiche Europa, mit einer einzigen Rechtsidee, die davon ausging, dass auf der den Menschen je näheren Ebene alle Herausforderungen bewältigt werden sollen, die auf die28

1.1.X.5.

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ser Ebene bewältigt werden können. Daher war der Kompetenzhierarchiesatz der, dass Stadtrecht Landrecht bricht und Landrecht Reichsrecht bricht. Der Wesenszug dieser „bottom up“-Idee ist, dass es kein Flächenstaatsrecht gab, obwohl es Königreiche und Länder gibt, und keine harmonisierte Rechtsdurchsetzung, außer der der Kirche für ihren Zuständigkeitsbereich. Das ist Stärke des Mittelalters, die zugleich nach dem Machtniedergang der Kirche nach Avignon zur Schwäche wird, weil damit für den beginnenden modernen Staat, der natürlich noch nicht Nationalstaat ist, ein Neu-Raum offen ist, wenn sich mangels einer quasi-gesamteuropäischen Steuerungskraft, wie die Kirche sie innehatte, ehemals „grenzüberschreitende“ Verwaltungsstaatsaufgaben, nunmehr zu „innerstaaatlichen“ definieren lassen, eben polizey, und die Durchsetzung dieser polizey-en als necessitas behaupten lassen. Die Verdienste dieses Polizey-Staates sind groß, zugegeben. Denn endlich gibt es ein den Binnenfrieden sicherndes Rechts- und Gewaltmonopol. Aber das schafft eben auch den fragwürdigen Titel für die neue Rückabwicklung der im Mittelalter erworbenen Selbstbestimmungsrechte. Denn diese totale „Ordnungs-Wucht“ wirkt. Den Menschen wird einmal im Gegenzug zur Rechtsvereinheitlichung in einem beherrschafteten Recht eines Fürsten „ihr“ subsidiäres, lokal, regional vielfältiges Recht entzogen. Und zum anderen werden alle in einem Herrschaftsstaat, eben dem Fürstenstaat, der die Intermediären, die Grundherrschaften, ebenso abschafft, zu allgemeinen Staatsuntertanen. An dieser neuen Untertänigkeit aus der Neuzeit laboriert das europäische Bürgerwesen lange, zu lange. Eigentlich beginnt die stille, tief implementierte Unterwürfigkeit unter eine „Obrigkeit“ erst mit der 68er-Auflehnung langsam auszuklingen. Um diesen neuen Machtrausch zu überwinden, haben Leute wie Giordano Bruno, Thomas Münzer, Michael Gaismaier und viele andere, etwa Thomas Morus, ihr jeweiliges Utopia ersonnen und sind dafür auch schnell einmal hingerichtet worden. (Ich besuche gerne das Grab von Morus im Tower of London, um einem der großen Suchenden in Europa Referenz zu erweisen.) Aber mit dem, den einen oder anderen zu köpfen oder zu hängen hat sich’s in Europa nie gehabt. Denn dann haben Leute wie Thomas Hobbes, der noch halbwegs angepasste, oder aber der restlos unbotmäßige John Locke und der Vielschreiber, auch Vielabschreiber, Jean-Jacques Rousseau, die Idee des Gesellschaftsvertrags erst recht wieder und wieder ausgegraben. Diese haben sie den Fürsten ins Gesicht geschmettert, dass die Menschen sie, die Fürsten, vertraglich angeheuert hätten, eingekauft, angestellt, um Sicherheit zu organisieren und nicht um unter dem durchsichtigen Titel ihres Amtes von Gottes Gnaden die Menschen zu unterjochen und für ihre eitlen Wettbewerbe auszubeuten und für Versailles, Schönbrunn, Sans Souci, Escorial, Blenheim Palace und die restliche europäische Schlösser-Prunk-und-Protzlandschaft ausbluten zu lassen. So sehr es danach auch bis heute „kulturoptisch“ aussieht, als hätten Fürsten und Staat sich behauptet, so sehr hat das Naturrecht nicht mehr aufgehört, den Ruf nach Menschenrechten hinauszuposaunen – und damit Fürsten nach Längerem doch verunsichert und die Menschen aufgeweckt.

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Das führt direkt in die europäische Aufklärung. Aber die ist – wer es nicht lesen will muss die nächste Zeile schwärzen – eben doch auch wieder nur die säkulare Tochter des christlichen Naturrechts. Dass alle Menschen frei geboren sind und natürliche unveräußerliche angeborene Rechte haben, die ihnen niemand aber auch schon gar niemand abnehmen kann, das sind doch zunächst Sätze von Benediktinern, Augustinern und Dominikanern und nicht ursprünglich die von Voltaire, auch wenn sich der damit im wahrsten Sinn des Wortes gut und teuer europäisch verkauft hat. Und wieder einmal etabliert sich eine gesamteuropäische Rechtsidee, die durch das Recht und vermittels des Rechts den Untertanen zur Person aufwertet. Zur einmaligen Person, die rechtlich geschützt ist vor unrechtmäßigen Eingriffen, geschützt denken und sagen können soll, wonach ihr gerade zumute ist. Unglückseligerweise bekommt diese mächtig angewachsene, unaufhaltsame europäische Rechtsidee ihre Realisierungschance nicht bei uns, sondern in Virginia. Was am Badischen Hof oder am Sekundogenitur-Hof zu Florenz konspiriert wurde, wanderte über den Atlantik: Leopold II hatte all dies an menschenrechtlichem, selbstverwaltungsmäßigem, freiheitsrechtlichem, selbstbestimmungsrechtlichem, mitbestimmungsrechtlichem „Staatshochverrat“ in seinem Progetto de Legge Fondamentale ersonnen. Obwohl sogar am Hof der Zarin Katharina und dem des Preußenkönigs Friedrich salonmäßig „gemenschenrechtelt“ wird, wird Leopold dann doch gehasst, zuvorderst von seinem Kaiserbruder Josef II. Wenn er dann später selber Kaiser wird, ist er nicht mehr der alte Kämpfer, zu sehr lässt die Franzöische Revolution schon ihre Radikalität und Gewaltbereitschaft erkennen und es bleibt also die Ergreiferprämie für die Umsetzung der bisherigen Ideenerrungenschaften dem sich emanzipierenden Europa in Übersee. Die Virginia Bill of Rights von 1776 – gerne als erster rechtskräftiger Menschenrechtskanon gefeiert – ist also wahrlich kein genuin „amerikanisches“ Produkt. Darin kann man Satz für Satz Locke, Montesquieu, Rousseau, Leopold nachlesen, genau hingesehen sogar auch noch Plato. Daher wollen die Aufklärer diese Errungenschaft denn auch sofort wieder nach Europa reimportieren, Lafayette, der schon von „Vereinigten Staaten von Europa“ spintisiert, zuvorderst. Aber das gelingt tragischer Weise nicht ohne blanke, nackte Gewalt: in der ab 1792 entgleisten Französischen Revolution, 1848 in der so gut wie ganz Europa in Brand steckenden Revolution. Metternich als europäische Leitfigur der Reaktion ist nicht zimperlich in der Wahl der Niederstreckungsmittel. Und dennoch sind von da ab die europäischen Menschenrechte als Sammelbegriff für die vielen Facetten des Selbstbestimmungsrechts nicht mehr von der europäischen Tagesordnung verschwunden. Und was ist aus Metternich geworden? Er, der zeitweise größte Staatsmann in Europa, wurde kurzerhand verjagt. Dessen Geschick sollte als Narrativ sich erzählen lassen, wer sich dem unaufhaltsamen Gang des Selbstbestimmungsrechts im Politischen, in welcher Verkleidung auch immer und mit welcher vielleicht wohlmeinenden Argumentation auch immer, entgegenstellt. Unglückseligerweise haben sich die Nationalstaaten auch auf „das“ Thema „draufgesetzt“ und die Menschenrechte zu Bürgerrechten heruntergebrochen. Die

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galten, wenn sie nun einmal schon nicht ganz zu verhindern waren, eben nur für die eigenen Bürger mit Staatsbürgerschaft. Und diese aufgeheizten Bürgernationen bringt man im 19. Jahrhundert erfolgreich gegeneinander auf. Man erzählt ihnen, auf je allen Seiten, dass eine Kultur, eine Ethnie, eine in einem Staat gefasste Gesellschaft das unabdingbare und uneinschränkbare kollektive Selbstbestimmungsrecht namens Souveränität habe und die je eigene Rechtsordnung denen der anderen überlegen und daher auch berechtigt sei, andere zu überrollen. Und der gerade noch verdienstliche Verwaltungsstaat mutiert zum Nationalstaat und wird, unter feurigen Zurufen von Rousseau, dass die Nation heilig und ihr letzter Selbstzweck sei, zur schlimmsten Panne Europas überhaupt. Über dem nunmehr geheiligten Nationalstaat, für den in den Hymnen alle begeistert und beseelt gar nicht genug davon bekommen können, zu den Waffen zu eilen, as armas as armas, zum Tod bereit, siam pronti alla morte, in Griechenland gar jedes Kind nach Sieg es oder Tod strebt und selbst die angeblich kühlen Schweden noch med Gud skall jag kämpa, för hem och för herd „schwülsteln“ und daher alle, Franzosen voran, aus Liebe, amour sacré de la Patrie, ihr Blut darbringen und die cohortes étrangères, die natürlich nur von sang impur sein können, vernichten wollen, hat keine andere Rechtsidee mehr Platz als die eigene. In diesem offensichtlich gesamteuropäischen Grundvorverständnis hat dann wohl sogar das Napoleonische Europakonzept noch seine genuine Richtigkeit. Großeuropa, unter einer Krone, der ewige Großmannssuchtstraum der einen oder Festung-Europa-Traum der anderen seit Pierre Dubois, Dante Alighieri oder dem Böhmenkönig Georg von Podiebrad. Die dahinter liegende Angst ist in all deren gesamteuropäischen Verfassungskonstrukten der Selbstbestimmungsverlust durch die drohende Islamisierung Europas. Das legt sich dann nach der Vertreibung der Türken vor Wien von 1683 aufwärts allmählich wieder und in den großen Würfen der Europakonzepte von Abbé de Saint Pierre, William Penn, Jean-Jacques Rousseau, Henri de Saint-Simon dominiert dann wieder die Sehnsucht nach einem weltbeherrschenden Europa mit stark missionarischen Zügen. Eine der Missionsbotschaften ist u. a. die Freiheits- und Selbstbestimmungsverkündung. Eine freilich ist auch diese, die der Frühsozialist Saint-Simon in tiefer Überzeugung erkennbar ungeniert ausspricht: Den Erdkreis mit der europäischen Rasse bevölkern, die allen anderen Menschenrassen überlegen ist (…)29. Das ist nicht weniger als die Idee von einer „Nation Europa“. Kommt dann im 20. Jahrhundert eine vollends verrückte Bande daher, die über den nationalen Wahnsinn auch noch eine „Rassenmassenpsychose“ drüberstülpen kann, dann ist es um eine europäische Rechtsidee ganz geschehen. Dann werden Nürnberger Rassengesetze möglich und Auschwitz schon ab 1935 wahrscheinlich – und dann auch wirklich. Was sich dann so ab 1926 auch noch in Russland, das ja vorher wohl auch immer Europa war, abgespielt hat, ist unbeschreiblich. Hegels Allite29 Über die Wiederherstellung der Europäischen Gemeinschaft, oder über die Notwendigkeit die europäischen Völker in einer einzigen politischen Körperschaft zusammenzufassen, 1815; abgedruckt bei de Rougemont, Europa. Vom Mythos zur Wirklichkeit, 1961, 195 ff.

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ration von Staat und Recht hat ihre vollendete Widerlegung erfahren. Gustav Radbruchs, Thomas Würtenbergers (sen.), Fritz von Hippels und anderer Bestürzung über die unerwartete Entdeckung des Phänomens eines Unrechtsstaates, der im Unrecht gründet, ist groß. Europa hat eben immer auch Schuld auf sich geladen, sein Recht immer wieder auch mit Füßen und noch mehr mit Stiefeln getreten und den Menschen auch immer wieder und wieder ihr Selbstbestimmungsrecht ganz und gar nehmen wollen. III. Europas steilstes, aber endlich gelungenes Wegwerk Aber so ist Europas Rechtsidee und Rechtskultur im langen Verlauf: Sie ist nach jeder dunklen Epoche ungebrochen wieder da. Und immer erscheint sie auf einer kleinen Stufe höher stehend als sie bei der letzten Station stand. So, wenn alles zusammenbricht – etwa um den 8. Mai 1945 – dann ist, in einer Metapher gesagt, am 9. Mai 1945 alles Erworbene schon wieder da – und wird gleich wieder mehr. Ein paar der in Österreich beliebten Bilder für diese Metapher der Selbstorganisation sind, dass ein junger, eben aus dem Krieg nachhause gekommener junger Richter (der nachmalige Justizminister Christian Broda) kurzerhand an sein Gericht Ried geht und ohne viel zu fragen sein früheres Amt aufnimmt, auch ohne zu wissen, ob es denn überhaupt schon wieder ein authorisiertes Justizwesen gibt, das ihn beauftragt und entlohnt, dass ein Polizist auf der Wiener Opernkreuzung den (fiktiven) Verkehr regelt und dass das, was vom Wiener Staatsopernensemble sich noch übrig wiederfand, kurzerhand in die Volksoper geht, weil das Haus am Ring zerbombt worden war, und dort die Hochzeit des Figaro aufführt. Wann? Am 1. Mai 1945. Kultur, auch in der Figur der Rechtskultur, hat Europa eben immer durchgetragen. Und dann endlich kommt es zu einem in der Menschheitsgeschichte noch nie dagewesenen Stakkato des Rechts im Allgemeinen und des Selbstbestimmungsrechts im Besonderen. Gründung des Europarates, Erarbeitung der Europäischen Menschenrechtskonvention, 1952 Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl, Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft als erkennbar nach oben hin offenes Projekt. Das Webmuster ist zu erkennen: Gulliver kennt sich und beginnt daher, sich mit vielen Fesseln rundum selbst zu fesseln, vermittels einer Internationalisierung und Europäisierung des Rechts. Müßig zu erwähnen, dass die supranationale Rechtsstruktur innerhalb Europas von bei Weitem dauerhafterer und belastbarerer Natur ist, als die bilaterale oder multilaterale völkerrechtliche Schiene. Leviathan gibt seine Allmacht an Gerichte ab, an überstaatliche Gerichtshöfe wie an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg oder an den der EGKS – den Beginn des Europäischen Gerichtshofs. Leviathan unterwirft sich also sogar Gerichtshöfen über den Staaten. Erstmals in der Geschichte der Menschheit und in dreitausend Jahren überblickbarer Geschichte Europas lassen Staaten zu, dass ihre eigenen Staatsbürger sie verklagen können. Über diesen ganz eindeutig justiziablen Rechten der Person baut sich

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nunmehr jüngst auch noch eine Europäische Grundrechtecharta auf, die nicht nur alle schon vorhandenen justiziablen Rechte in sich aufnimmt und gleichsam in nach innen gerichteter Unionsverbindlichkeit wiederverlautbart, sondern zusätzlich neue „fundamentale“ Rechte kreiert. Man mag der Durchsetzbarkeit und Spruchgeeignetheit mancher Rechte in der Charta skeptisch begegnen und sie eher als Staatszielbestimmung erkennen, es handelt sich dennoch um die größte Grund- und Menschenrechtsinnovation seit dem Grundrechtekatalog der Weimarer Verfassung. Schließlich bleibt wieder einmal abzuwarten, was der Europäische Gerichtshof aus kleinen Anfängen zu machen willens ist. Immerhin ist der vorerwähnte Artikel 1 GRCh eben mehr als nur eine präambelhafte Bekundung: Das ist die endgültige Verneigung vor der selbstbestimmten Person. Das sollte nun eine hinreichende Erklärung sein, warum man zum eigenen Gegenstand einen Zugang mit Empathie entwickelt und füglich entwickeln darf und zugleich Argument, warum die Suche nach der europäische Identität im Selbstbestimmungsrecht legitim ist. Damit ist das individuelle Selbstbestimmungsrecht innerhalb der Nationalstaatsrechte nunmehr auch europäisch konstitutionalisiert. Und es hat damit seine „natürlichen“, so § 16 ABGB noch immer klangvoll tönend, „angeborenen“ Ableger in der politischen Variante als demokratische Mitbestimmungsrechte auf der Ebene über den Nationalstaaten. Das ist aber auf Dauer noch immer nicht genug, wenn eine neue, sich über den Nationalstaaten als Mitgliedstaaten aufbauende politische Verbindung, eben Union, ihrerseits ebenso einer eigenen, inneren Legitimität bedarf. Die gängige statische Erklärung, dass die Europäische Union ihre Legitimität durch und über die Mitgliedsstaaten und deren Vertragsabschlusswillen bezieht, wird brüchig, wenn man den verfassungssoziologischen Befund über die Wirklichkeit akzeptiert und einsehen muss, dass die Theorie der Politologie über die „Output-Legitimität“ ins Leere geht und die Bürgerschaft die Union gerade nicht als „ihre“ empfindet und ihr daher kurzerhand die Akzeptanz verweigert, Tendenz fallend. Nun kann man natürlich die Augen verschließen und verfassungspositivistisch argumentieren und vermeinen, es käme anbetrachts der Vertragskonstruktion auf die Legitimitätsverleihung durch die Bürgerschaft doch gar nicht an. Nur und ausschließlich die Staaten trügen die Rechtsbelehnung und es genüge die wechselseitige Einhaltung des in den Verträgen Bedungenen. Fiat iustitia, pereat mundus? Die Mitglieder des Verfassungskonvents scheinen die Gefahr so gesehen zu haben, anders ließe es sich nicht erklären, warum sie das Streben nach tunlichst direkter Einbindung der Bürgerschaft in eine neue „Governance-Architektur“ proklamieren und im Verfassungsvertrag ein „Prinzip der partizipatorischen Demokratie“, Art I-47 Verfassungsvertrag verkünden. Dass sie zugleich die Verneigung vor dem nicht nur vorangereihten Art I-46 Verfassungsvertrag, sondern auch verfassungssemantisch priorisierten „Prinzip der repräsentativen Demokratie“ machen (müssen), entspricht der geltenden Vertrags- und Verfassungslo-

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gik. Man sollte auch nicht kleinreden, was sich an demokratischen Bürger-Mitbestimmungsoptionen aus dem Verfassungsvertrag in den Europäischen Unionsvertrag in der Fassung des Vertrags von Lissabon hinein weiter zu behaupten vermochte. So sehr das Konsultationsverfahren nach Art 11(3) EUVnF auch angefochten werden mag, es steht mit den nationalstaatlichen Begutachtungsverfahren durchaus auf gleicher Redlichkeitsaugenhöhe. Der sog vertikale zivile Dialog, Art 11(2) EUVnF ist sicher ausbaufähig, aber er ist immerhin schon einmal am Weg. Es wirken zivilgesellschaftliche Organisationen und Verbände in einzelnen Generaldirektionen schon ganz passabel mit. Freilich muss, wie es jedem sauberen Selbstbestimmungsrecht wesenseigen ist und sein muss, nun noch eine Minimalordnung definiert werden, wer aufgrund welchen Substrats, aufgrund welcher Dignität, bei welcher numerischen Densität in welchem Ausmaß auf die politische Gestaltung Einfluss nehmen kann und darf. Aber das sind jene Fragen, mit denen das Corps der Juristerei seit jeher beschäftigt ist. Der sog horizontale zivile Dialog, Art 11(1) EUVnF, der zur Sammlung der politisch mitbestimmen wollenden Zivilgesellschaft und der Deliberation innerhalb dieser und damit der Vorbereitung der politischen Mitwirkung dienen soll und daher auf die Erfahrungskraft der Koalition von politischen Bewegungen setzt, ist sicher noch unterentwickelt. Aber auch in ihm schlummert rechtspolitisches Potenzial für die Herausbildung von selbstbestimmungsfähigen und nicht nur selbstbestimmungswilligen sondern durch politischen Diskurs auf verantwortete Selbstbestimmung besonders vorbereiteten politischen Neukräften, die der Befriedung Europas zuarbeiten. Obwohl insbesondere auf Betreiben von UK alle auf die Existenz einer Verfassung deuten könnenden Elemente, näherhin Übertitelungen wie ,Prinzipien‘ oder Staatssymbole, fallen mussten, so sind doch die Instrumente auch im neuen Unionsvertrag in der Fassung des Vertrags von Lissabon, nunmehr nur mehr unglückselig bescheiden Reformvertrag genannt, selbst alle ungebrochen am Platz. Es ist schon ein Curiosum Juris, dass die Verfassung eines Kontinents semantisch als Reparaturflickwerk dargestellt wird. Kein Wunder auch von da her, dass die Bürgerbegeisterung bescheiden bleibt. Es gibt also auch im Reformvertrag eine holistische Architektur für eine der realen Auffüllung weithin offenstehende Bürgermitbestimmung. Dass das vermeintliche Kernstück der Partizipationsrechte, die Europäische Bürgerinitiative nach Art 11 (4) EUVnF, gerade eben als Meilenstein der Bürgerselbstbestimmung gedeutet wird, hängt mit dem soeben zum 1. 4. 2012 stattgefundenen Wirksamkeitseintritt zusammen. Es muss befürchtet werden, dass die für einen vorsichtigen Anfang zu hoch hingehängten Erwartungen an die basisdemokratische selbstbestimmend-mitbestimmende Sprengkraft dieses Hebels zu einer Erwartungsenttäuschung führen müssen, weil viel zu plakativ ausgepriesen wurde, dass es sich dabei um ein erstmals transnationales, gesamteuropäisches, direktdemokratisches Eingriffsinstrument der Bürgerschaft handle, das sich im gleichen verfassungsformalen Rang der Interpellation

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von Rat und EU Parlament befände. Was es formalrechtlich zweifellos tut, denn die Kommission kann ihr genuines Initiativrecht scheinbar nach Belieben aktivieren und theoretisch in gleicher Weise auf „Zuruf“ des Europäischen Parlaments wie auf den von einer Million Initiativ-Bürgern reagieren. Man sollte jedoch das neue Bestimmungsrecht nicht unter Zuhilfenahme dieses Arguments kommunizieren, weil dies geradezu zu einer kontraproduktiven Wirkung führen müsste. Eine oder auch ein paar Millionen Menschen glauben zu machen, dass sie auf der politischen Waage das Gewicht des Europäischen Parlaments aufwiegen könnten, ist demokratieedukatorisch wie demokratiepsychologisch unverantwortlich. Richtig ist hingegen, dass die Bürgermitbestimmung nach Art 11(4) EUVnF unbekannte faktische politische Wirkungsgrade entfalten könnte, insbesondere dann, wenn eine Initiative ein Vielfaches des Mindesterfordernisses aufböte. Es könnte sogar durchaus auch einmal die eigentümliche Koinzidenz eintreten, dass eine Forderung in das rechtspolitische Konzept der Kommission passt und die Kommission sich dann u. a. darauf beruft, sich von dieser Bürgerinitiative geleitet haben zu lassen. Politische Kleinmünze könnte auch in der Union geschlagen werden. Aber man sollte eben doch von der verfassungsmäßigen Wirklichkeit des Rechtsverbindlichkeitsgrades her argumentieren. Da ist die neue Bestimmungsform freilich nicht mehr als eine „agenda setting-Initiativaufforderung“ an die EU Kommission. Im Erfolgsfall des Erreichens von wenigstens einer Million Zustimmenden – unter in der einschlägigen Verordnung spezifizierten Kautelen – hat dies zwar zu einer Debatte der Kommission mit den Initiatoren vor dem EU Parlament zu führen, die Kommission kann ihre Reaktion jedoch im Rahmen ihrer politischen Kalküle nach Belieben anlegen – und sie wird dies auch tun. Respektive, sie wird dies sogar tun müssen, denn bei der derzeitigen Konzeption, in der nur Zustimmungsvoten erhoben werden können und keine Gegenprobe auf „Nein“ erfolgen kann, wie etwa in den amerikanischen Referendumsinitiativrechten, müsste die Kommission aus demokratiepolitischen Gründen sogar zwingend einwenden, dass in einem Elektorat von vierhundert Millionen einer Million Stimmen gegenrechnerisch dreihundertneunundneunzig Millionen Nicht-Zustimmungen entgegenstehen, die im äußersten Fall sogar Ablehnung sein könnten. Im Getümmel der aktuellen Aktivitäten und der Aktivisten rund um die Europäische Bürgerinitiative ist die viel wichtigere Komponente unterbelichtet geblieben, dass Art 11(4) EUVnF ja nur der letzte Absatz in einer Art holistischen Gesamtarchitektur der Partizipationsrechte ist, in der die schon erwähnten Instrumente der zivilen Dialoge und des Konsultationsverfahren noch durch einen Wertedialog, Art 17 (3) AEUV, ergänzt werden, der von Kirchen und philosophischen Organisationen mit der Union zu führen ist, und schließlich alle diese Kollektivpartizipationsrechte noch begleitet sind vom individuellen Petitionsrecht an das EU Parlament. Der Umstand, dass die beiden Beratungsorgane der europäischen Institutionen, der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss und der Ausschuss der Regionen, offensichtlich nicht ganz unabgesprochen, ihre seit Längerem hinterlegte Forderung auf Abwicklung eines Grünbuch-Weissbuch-Verfahrens zur partizipatorischen Demokratie wie-

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derholen30 und das Parlament diese Forderung ebenfalls mitträgt und dass nunmehr offen materielle Verfassungstreue angemahnt wird, dürfte bei Kenntnis der Unionsgepflogenheiten dazu führen, dass die bislang erwiesene Implementationsignoranz – unter Berufung auf den in Art 11(1) und 11(2) eben nicht so deutlich ausgesprochenen Umsetzungsauftrag wie in Art 11(4) – nicht mehr allzu lange aufrechterhalten werden wird können. Erst wenn man sich entschließt, nicht die Strahlkraft und Wirksamkeitskraft der verba earum jedes einzelnen dieser Instrumente analysieren zu wollen, sondern vim ac potestatem aus der Gesamtarchitektur zu gewinnen sucht, die von einem irgendwann nicht ganz auszuschließender Weise erwachten Europa (Sloterdijk) mit demokratischem Leben gefüllt wird, dann erst kann man über die Zukunftschancen der partizipatorischen Demokratie tragfähiger befinden. Dass von sehr exponierten Persönlichkeiten innerhalb der Unionsentscheidungsträger, etwa Tony Blair, Jean Claude Juncker, Wolfgang Schäuble u. a. offen über ein Europäisches Referendum sinniert wird, dass über eine Bürgerdirektwahl der Präsidenten von entweder EU Kommission oder Europäischem Rat spekuliert wird, wie zuletzt von Angela Merkel, kann zu einer Eigendynamik von Bürgerbegehrlichkeit nach mehr und mehr Mitwirkung führen. Dass „Revolutionen“ in Europa heute anders aussehen müssten als 1789/1792 oder 1848 liegt auf der Hand, dass es sie gar nicht geben könnte, scheint nach 2010 und 2011 jedoch geradezu unwahrscheinlich. Von der eCititzenship Bewegung darf noch viel an selbstbestimmungsbezogener Überraschung erwartet werden. Freilich könnte diese auch anders ausfallen und anstelle der wahrscheinlicher Weise zu erwartenden direktdemokratischen Welle – der sich politisch klugerweise wie kurioserweise die repräsentative Demokratie plötzlich eifrig entsinnt, wohl aus Kalmierungsambition heraus – sich auch eine deliberative Demokratiewelle in Habermas’schem Drall ausbreiten. Es könnte jedoch noch einmal anders kommen: Die lange herbeigeredete Deliberativdemokratiestufe könnte ungenutzt übersprungen werden, und das politische Selbstbestimmungswollen individualisiert und unorganisiert auf den Mitteilungsweg der kollaborativen Demokratie gebracht werden, gänzlich unmediatisiert. Müsste man dann aber nicht davon ausgehen, dass ein derart amorpher politischer Demos ins Belieben welcher Willensbündelungs-Entität auch immer gestellt wäre und damit durch Verzettelung zur politischen Bedeutungslosigkeit bestimmt wäre? Keineswegs. Open Government ist seit Präsident Obamas per saldo doch als gelungen zu bezeichnendem Experiment mehr als eine Worthülse und ist kein toter Briefkasten. Dass dieses Modell in Form eines Open Government UK in Europa angelangt ist, zeigt, dass sich die Behauptung, dass derlei nur vor dem Hintergrund der amerikanischen politischen Kultur wirksam sein könne, nicht aufrecht erhalten werden kann, und Open Government durchaus für den unionseuropäischen Gebrauch 30 Siehe nur CESE 465/2010 und CESE 993/2010; die jüngste Empfehlung wird in Kürze beschlossen werden.

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adoptiert und adaptiert werden könnte. Die – nach den so lange für Theoriespiel gehaltenen Autopoiesis-Überlegungen von Gunther Teubner31 – selbstreferentiellen, spielerisch-experimentell anmutenden Rechtserzeugungssimulationssysteme und Evaluierungssysteme, etwa The Law Factory / La Fabrique de la Loi32 in den Formen der Liquid Democracy-Logik33 in der nichtssagend als web 2.0 Generation genannten neuen Netzdemokratiegesellschaft in Kombination mit dem soeben in praktische Umsetzung und Anwendbarkeit erwachsenden „semantischen“ Web schaffen maximale Transparenz über die vielen Selbstbestimmungsambitionen. Die hoch entwickelte, insb auf dem semantischen Web basierte eDemocracy-Technologie hat auch das Potential in sich, die scheinbar unendlich diversen politischen Äußerungen sehr wirksam zu analysieren, zu gruppieren, zu bündeln und dies zumal wirksamer und punktgenauer als es die auf innerparteilichen Querausgleich verwiesene Parteiendemokratie je bewerkstelligen könnte. Darin liegt das ganz neu geartete, Parteien als Makler und Broker der weltanschaulich-politischen Willensbildung hinter sich lassende, temporäre, anlassfallbezogene oder interessenbezogene, sog issue based Zweckgemeinschaften bildende Mitbestimmungs-Zukunftspotential von wikigovernment und collaborative democracy34. Ehe man sich aber in rechtspolitischer Extrapolation über eine Neo-Organisation politischer Selbstbestimmung in neuen und weithin noch unbekannten Repräsentativitätsformen verliert, strebe man wieder nach dem Boden des vorhandenen Rechtsbestandes. Dieser harrt einer langwierigen Umsetzungsarbeit, aber er ist seit dem Vertrag vom Lissabon bereitgestellt. Der Unionsvertrag in der Fassung des Vertrags von Lissabon mag durchaus damit abgetan werden, dass er doch im Wesentlichen nur Bestehendes kompiliert habe und der Neubestand überschaubar sei. Mit diesem Relativierungsstil wurden Aufbruchsstimmungen anlässlich der Implementation der Kodifikationen des 19. Jahrhunderts auch schon abgewiegelt. Heute kann als gesichert gelten, dass unverfänglich und neutralistisch als „Kodifikationen“ bezeichnete Kompilationswerke eben doch einen gravierenden Rechtswerteumwertungsschub mit sich gebracht haben. So darf man mit Fug und Recht die durch den Vertrag von Lissabon hergestellte Eintätigkeit der Europäischen Grundrechtecharta und des Neubestands der politischen Mitwirkungsrechte im Unionsvertrag dahingehend bilanzieren, dass die zur Selbstbestimmung berufene Person in ihrer Einmaligkeit in der Tat einmal mehr noch weiter ins Zentrum der Ambition des europäischen Rechts gerückt wurde und das Unionsrecht damit weltweit Vorbildwirkung entfaltet. Es geht nicht an, Europa als in der Krise festgefahren zu beschreiben, solange es Auswege gibt – und die 31

Recht als autopoietisches System, 1989. www.lafabriquedelaloi.fr. 33 www.adhocracy.de. 34 Noveck, Wiki Government: How Technology Can Make Government Better, Democracy Stronger and Citizens More Powerful, 2012; siehe auch Shane, Democracy Online. The Prospects for Political Renewal Through the Internet, 2004; Sirianni, Investing in Democracy. Engaging Citizens in Collaborative Governance, 2009. 32

Europas Identität im Selbstbestimmungsrecht

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beginnen immer bei den Bürgern selbst35. Grund genug, mit Empathie aber natürlich bei nur sehr bescheidenem Anspruch, versteht sich, zur Weiterentwicklung dieses im Selbstbestimmungsrecht basierten Europa des Rechts beizutragen. Denn Recht und Freiheit, zusammen ein Synonym für Selbstbestimmungsgarantie, scheinen endgültig die neue europäische Signatur zu sein. Warum sollte dieses Selbstbestimmungsrecht dann aber nicht auch tauglich sein für die Findung einer europäischen Identität?

35 Siehe Habermas, Zur Verfassung Europas. Ein Essay, 2011, der damit selber seine etwas resignativere Phase wieder überwunden zu haben scheint, wie sie onomatopoetisch im Titel des vorangegangenen Buches zum Ausdruck kam, das erkennbar mit einem wehmütigen Seufzer beginnt: Ach, Europa. Kleine politische Schriften XI, 2008.

Die britische Verfassung im Stadium der Präkodifikation Von Gernot Sydow, Limburg/Freiburg I. Einleitung: Die Verfassungsidee in der europäischen Verfassungsgeschichte Die Idee der Verfassung hat die europäische Verfassungsgeschichte seit dem 18. Jahrhundert nachhaltig geprägt. Die Verfassungsgebung in den mittel- und osteuropäischen Reformstaaten und die Verfassungsdiskussion in der Europäischen Union zeugen von der ungebrochenen Vitalität dieser Verfassungsidee. Thomas Würtenberger hat ihren Ursprung, ihre Entwicklung und Prägekraft in zahlreichen grundlegenden Beiträgen erarbeitet und dabei den Blick weit gespannt: Immer wieder galt sein Interesse in einem mentalitätsgeschichtlichen Zugriff auch dem Verfassungsbewusstsein einer Epoche1 und der reichen Verfassungssymbolik des 18. und 19. Jahrhunderts2. Zum heutigen deutschen Staatsrecht hat er vielfältig rechtsdogmatisch gearbeitet, die Verfassungsgebung in Mittel- und Osteuropa nach 1989 hat er in verschiedenen beratenden Funktionen mitgeprägt. Die Verfassungsidee ist in den letzten Jahren auch zum Kristallisationspunkt von Reformvorhaben in einem Staat geworden, dessen Verfassungsentwicklung das Verfassungskonzept aus den USA und Frankreich im ausgehenden 18. und 19. Jahrhundert nicht rezipiert hatte3: im Vereinigten Königreich von Großbritannien und Nordirland. Der dortige Konstitutionalisierungsprozess lässt sich an Hand von Beobachtungen analysieren, die Thomas Würtenberger mit Blick auf 1776, 1789, 1806 und 1815 als Zäsurjahre moderner deutscher Verfassungsgeschichte formuliert hat: „Der Genius der Zeitenwende, le génie du siècle, [hat] nicht in plötzlicher Erleuchtung die neuen Verfassungen auf die ehernen Verfassungstafeln geschrieben. Vielmehr bringt die Wendung zum Verfassungsstaat in diesen Zäsurjahren einen langsamen Prozess 1

Bspw. Th. Würtenberger, Der Konstitutionalismus des Vormärz als Verfassungsbewegung, in: Der Staat 37 (1998), S. 165 ff. 2 Th. Würtenberger, Die Verfassung als Gegenstand politischer Symbolik im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert, in: FS Rehbinder, 2002, S. 617 ff.; ders., Die Verfassungssymbolik der Revolution von 1848/49 im deutsch-französischen Vergleich, in: FS Jurt, 2005, S. 627 ff. 3 Zu Bezügen zwischen englischer, amerikanischer, französischer und deutscher Verfassungsdiskussion im 18. Jh.: U. Müßig, Die europäische Verfassungsdiskussion des 18. Jahrhunderts, 2008, insb. S. 11 ff.; zu Gründen der damaligen englischen (Sonder-)Entwicklung D. Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte 1776 – 1866, 1988, S. 33 ff.

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politischer Bewusstseinsbildung und verfassungsrechtlicher Erneuerung zu einem vorläufigen Abschluss. Denn bereits vor diesen Zäsurjahren liegen engagierte verfassungspolitische Diskussionen und vorsichtig tastende verfassungsrechtliche Reformen, in denen die neuen verfassungsstaatlichen Prinzipien Konturen gewinnen.“4 Ein Prozess politischer Bewusstseinsbildung und verfassungsrechtlicher Erneuerung, eine Zeit verfassungspolitischer Diskussionen und vorsichtig tastender verfassungsrechtlicher Reformen, sich abzeichnende Konturen neuer verfassungsstaatlicher Prinzipien – all’ dies kennzeichnet auch die aktuelle Verfassungsentwicklung Großbritanniens. Drei Schlaglichter können dies aufzeigen: • Das britische Kabinett hat im Oktober 2011 ein Cabinet Manual verabschiedet, das sich als „guide to laws, conventions and rules on the operation of government“ versteht.5 Da government in diesem Kontext nicht die Regierung, sondern das Handeln aller Staatsgewalten bezeichnet, gleicht das Manual in seiner Gesamtanlage einer Verfassungskodifikation. Vernon Bogdanor, ein führender Verfassungsrechtler, hat es als „the first step and a pretty big step towards a written constitution“ apostrophiert.6 Teilkodifikationen, Gesamtentwürfe einer britischen Verfassung und entsprechende Kodifikationsdebatten gibt es sowohl im politischen wie im akademischen Kontext zuhauf (unten III. und IV). • In einer Staatssymbolik, die in ungebrochener Tradition (zumindest) auf die Glorious Revolution von 1688/89 zurückverweist, hat die Queen am 9. Mai 2012, als sie wie jedes Jahr zur Parlamentseröffnung im House of Lords vor den versammelten Mitgliedern beider Parlamentskammern das Regierungsprogramm verlas, als ein zentrales Vorhaben ihrer Regierung die weitere Reform der britischen Verfassung benannt. Kontinuität in der Staatssymbolik und tiefgreifende Veränderungen der Verfassungsstrukturen treffen so unvermittelt aufeinander. • Für den Herbst 2014 hat die schottische Regierung ein Referendum über die schottische Unabhängigkeit terminiert, dessen Ausgang als offen gelten muss7. Damit ist die Frage nach einer künftigen Verfassung Schottlands aufgeworfen (und nach Rückwirkungen auf die Verfassung der dann gegebenenfalls noch verbleibenden 4

Th. Würtenberger, Staatsverfassung an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, in: Der Staat, Beiheft 10, 1993, S. 85. 5 The Cabinet Manual. A Guide to laws, conventions and rules on the operation of government, Oktober 2011 (http://www.cabinetoffice.gov.uk/sites/default/files/resources/cabinet-manual.pdf); näher dazu unten IV. 2. 6 V. Bogdanor, in: The Constitution Society (Hg.), The UK Cabinet Manual. Briefing Paper (www.re-constitution.org.uk), S. 6. 7 Vgl. etwa die Berichterstattung über Umfragewerte zu dieser Frage, FAZ vom 26. 05. 2012, S. 6. Auf welcher verfassungsrechtlichen Grundlage die schottische Regierung die Kompetenz zur Ansetzung eines solchen Referendums besitzt, ob es eines Zusammenwirkens mit dem Westminster Parliament bedarf und wer letztlich die Abstimmungsfrage formuliert, ist hoch umstritten. Diese Fragen dürften aber nicht in letzter Schärfe verfassungsrechtlich ausgetragen werden, weil aus Londoner Sicht ein Konsens gegeben scheint, die als eigenwillig wahrgenommenen Schotten zur Not in die Unabhängigkeit zu entlassen.

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Teile des Vereinigten Königreichs). Ein politischer Konsens besteht gegenwärtig darüber, dass Elisabeth II. auch bei einer völkerrechtlichen Separation – dann als schottische Königin – Staatsoberhaupt werden bzw. bleiben soll, wie sie es gegenwärtig schon in fünfzehn Staaten des früheren Commonwealth ist.

II. Verfassungskodifikation unter den Bedingungen der Parlamentssuprematie Die britische Verfassungsordnung beruht auf Normen unterschiedlichster Normqualität: auf Parlamentsgesetzen, ungeschriebenen Verfassungskonventionen, autoritativen Texten, bisweilen auf schlichter Staatspraxis, auf der monarchischen Prärogative und auf den das common law entfaltenden Gerichtsentscheidungen. Zentralnorm ist die Parlamentssuprematie.8 Die Doktrin der Parlamentssuprematie hätte es zu keinem Zeitpunkt ausgeschlossen, die bestehenden Normen, die materiell verfassungsrechtlicher Natur sind, durchgängig schriftlich niederzulegen und sie sodann in einem Verfassungsdokument zusammenzufassen. Die Doktrin schließt es aber in ihrem traditionellen Verständnis aus, einem solchen Verfassungsdokument normhierarchischen Vorrang gegenüber späteren Parlamentsgesetzen einzuräumen oder seine Änderung durch besondere Verfahrens- oder Mehrheitserfordernisse zu erschweren. Auch die bestehenden Teilkodifikationen des britischen Verfassungsrechts, insbesondere der Human Rights Act von 1998, sind formal nichts anderes als einfache Parlamentsgesetze, die gerade nicht durch Vorrang und erschwerte Abänderbarkeit qualifiziert sind. Eine vollständige Kodifikation des gegenwärtigen britischen Verfassungsrechts kann unter diesen Voraussetzungen nur eine Momentaufnahme enthalten. Denn das Parlament könnte auch nach Verabschiedung eines Verfassungsdokuments ohne besondere Verfahrens- oder Mehrheitserfordernisse und außerhalb der kodifizierten Verfassung Normen mit verfassungsrechtlichem Inhalt erlassen, die nach dem lex-posterior-Grundsatz Vorrang hätten. Die Verfassungsdiskussion wird in Großbritannien vor diesem Hintergrund verfassungspolitisch, verfassungstheoretisch und methodisch auf mehreren Ebenen geführt9: • Punktuelle Einzelreformen: Gegenstand von Reformen und Reformforderungen sind zunächst immer wieder einzelne Verfassungsnormen, ohne dass durch solche punktuellen Verfassungsänderungen die Grundstruktur der Verfassung berührt würde. Als solche – für sich bedeutsame, für die Grundstruktur der Verfassung aber wenig relevante – Verfassungsreformen sind aus den letzten Jahren insbeson-

8

G. Sydow, Parlamentssuprematie und rule of law, 2005, S. 7 ff., 28 f. Umfassende Nachzeichnung des Diskussionsstandes bis 2005: G. Sydow (Fußn. 8), S. 13 ff. 9

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dere zu nennen: der Übergang zu festen Legislaturperioden von fünf Jahren10; die Übertragung der höchsten Gerichtsbarkeit auf einen neu errichteten Supreme Court11; die Beschneidung der Stellung des Lord Chancellor mit zwischenzeitlicher Errichtung eines Ministeriums für Verfassungsfragen12 ; die Normierung eines Handlungsrahmens für Wahlkämpfe, Referenden und das Wirken der politischen Parteien13 sowie Modifizierungen in der Zusammensetzung des House of Lords14. • Kodifizierung als Teil- oder Gesamtkodifikation: Weitergehende Reformen und Reformüberlegungen zielen auf eine umfassendere Verfassungsgesetzgebung, sei es im Sinne einer Gesamtkodifikation, sei es für Teilbereiche des Verfassungsrechts. Beispiele realisierter Teilkodifikationen des britischen Verfassungsrechts bilden der Human Rights Act sowie die Gesetzgebung zur föderalen Struktur des Vereinigten Königreichs. Einem inhaltlich umfassenden Ansatz folgt das bereits erwähnte Cabinet Manual von 2011. Vom Ansatz her kann eine Teil- oder Gesamtkodifikation als rein redaktionelle Zusammenfassung der bestehenden Normen in einem Dokument konzipiert sein, wie dies beim Cabinet Manual der Fall ist. In aller Regel verbinden sich indes mit einer Kodifizierungsforderung auch konkrete Vorstellungen zu materiellen Änderungen.15 Hiervon abgesehen verändert ein Kodifizierungsansatz aus einer genuin verfassungsdogmatischen Perspektive nichts Grundsätzliches: Ein kodifizierter Verfassungstext mag von symbolischer Bedeutung sein, die Integration des Gemeinwesens fördern16 und politische Relevanz entfalten, aber er bliebe unter den Bedingungen der Parlamentssuprematie ein einfaches Parlamentsgesetz. 10

Fixed-term Parliaments Act 2011, der mit der festen Wahlperiode von fünf Jahren das bis dahin bestehende Recht des Premierministers aufhebt, den Monarchen jederzeit um Auflösung des Parlaments zu bitten; dazu Ryan, Public Law 2012, 213 ff. 11 Constitutional Reform Act 2005, dazu im Vorfeld Sydow, ZaöRV 64 (2004), 65 ff.; zur vorangehenden Reformdiskussion Lord J. Steyn, Law Quarterly Review 2002, 382 ff., D. Oliver, Constitutional Reform in the UK, 2003, S. 345 ff. 12 Constitutional Reform Act 2005; das 2005 aus dem früheren Lord Chancellor’s Department hervorgegangene Department for Constitutional Affairs ist inzwischen unter der Leitung eines Junior Minister in das Cabinet Office integriert worden, das übergreifende Regierungsfunktionen wahrnimmt (nationale Sicherheit, Verfassungsreform, Effizienz und Transparenz des Regierungshandelns). 13 Political Parties, Elections and Referendums Act 2000. 14 House of Lords Act 1999, weitere, zunächst nicht realisierte Reformankündigungen im September 2003: Aufhebung aller erblichen Sitze. Zur Frage der verfassungsrechtlichen Grundlagen einer Fortführung dieser Reformen des Parlaments, insb. zur Frage, ob sie verfassungsrechtlich auch gegen das House of Lords durchgesetzt werden können: Pannick, Public Law 2012, 230 ff. 15 Eindrücklich der Verfassungsentwurf von Gordon, Repairing British Politics, 2010, mit Zusammenfassung der materiellen Kernänderungsvorschläge auf S. 33 f. 16 In dieser Richtung die Überlegungen von V. Bogdanor, The New British Constitution, 2009, S. 216, dass eine kodifizierte britische Verfassung den Zentrifugalkräften namentlich in Schottland einen Identifikationspunkt entgegensetzen könnte.

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• Veränderung der rechtsnormativen Qualität des Verfassungsrechts: In den letzten Jahren mehren sich Forderungen nach einer grundsätzlichen Veränderung der Qualität des britischen Verfassungsrechts, was gleichbedeutend mit einer Überwindung der Doktrin der Parlamentssuprematie in ihrem bisherigen Verständnis wäre. Verfassungsforderungen beinhalten vermehrt auch das Postulat, dass eine solche Verfassung in der Lage sein müsse, der jeweiligen Parlamentsmehrheit normative Grenzen zu setzen. Der Sache nach geht es um erschwerte Abänderbarkeit und um Vorrang vor dem Parlamentsgesetz, in britischer Fachterminologie und Denkweise um limited government und um entrenchment – wörtlich: um ein „Eingraben“, eine „Verschanzung“ der Verfassung zum Schutz vor nachfolgender Veränderung im Wege der parlamentarischen Gesetzgebung. Reformforderungen auf allen genannten Reformebenen sind nicht grundsätzlich neu, sondern datieren teilweise schon aus den 1970er Jahren. So hatten schon damals Lord Scarman und Lord Hailsham, der spätere Lord Chancellor in der Regierung Thatcher, die Schaffung eines Supreme Court zum Schutz von Minderheiten- und Menschenrechten gefordert, die der Disposition einfacher Parlamentsmehrheiten entzogen sein sollten.17 Die Forderung nach Verfassungsnormen höheren Ranges als das Parlamentsgesetz war in eine institutionelle Frage nach der Gerichtsverfassung eingekleidet und damit bereits damals präsent. Seitdem ist die Frage nach der Wünschbarkeit einer Verfassungskodifikation, sei es mit oder ohne normhierarchischen Vorrang, im akademischen Schrifttum immer wieder einmal aufgegriffen worden.18 Seit einer ausführlichen Parlamentsdebatte zur Kodifikationsfrage im House of Lords von 200419 können diese Fragen nicht mehr als akademisch interessante, politisch aber chancenlose Außenseiterpositionen abgetan werden. Es sind in den letzten Jahren gerade einzelne Regierungsvertreter, so 2012 der Erste Minister von Wales, und Konsultationspapiere der Londoner Zentralregierung zur Vorbereitung größerer Gesetzgebungsvorhaben, die die Fragen nach Verfassungskodifikation und Vorrang der Verfassung aufgreifen.20

17 Lord L. Scarman, English Law – The New Dimension, 1974, S. 81 f., Lord Hailsham, The Dilemma of Democracy, 1978, S. 11 ff., S. 217 ff. 18 R. Brazier, Statute Law Report 1992, 104 ff., ders., Constitutional Reform, 2. Aufl. 1998, S. 7 (skeptisch zu den Realisierungsmöglichkeiten), anders dann die Folgeauflage: ders., Constitutional Reform, 3. Aufl. 2008, S. 154 ff., D. Oliver (Fußn. 11), S. 4 ff. 19 House of Lords, Debatte vom 15. September 2004 (H. L. Deb., vol. 664, col. 1242 ff.). 20 Ministry of Justice, The Governance of Britain (Juli 2007); Ministry of Justice, Rights and Responsibilities: Developing our Constitutional Framework (März 2009), Commission on a Bill of Rights, Discussion Paper: Do we need a UK Bill of Rights?, August 2011 (www. justice.gov.uk/about/cbr/index.htm).

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III. Teilkodifikationen der britischen Verfassung 1. Grundrechtskatalog: Human Rights Act und Diskussionen über eine Bill of Rights Die Verabschiedung eines geschriebenen Grundrechtskatalogs für das Vereinigte Königreich war seit den 1970er Jahren ein Verfassungsreformprojekt, das mehrfach Gegenstand parlamentarischer Beratungen war: 1978 hatte ein Ausschuss des House of Lords empfohlen, zu diesem Zweck die EMRK in britisches Recht zu inkorporieren. 1987 war ein entsprechender Gesetzentwurf in das House of Commons eingebracht worden. Dieses Ziel hat der Human Rights Act realisiert, der 1998 verabschiedet worden und im Oktober 2000 in Kraft getreten ist. Er inkorporiert die zentralen Gewährleistungen der EMRK in britisches Recht.21 Dieses System des Grundrechtsschutzes im Human Rights Act hat sich in einem guten Jahrzehnt – wie es scheint – gut etabliert.22 Im März 2011 hat die britische Regierung gleichwohl eine Kommission eingesetzt23, die über die Schaffung einer eigenen, britischen Bill of Rights beraten soll.24 Die Kommission soll Ende 2012 nach umfassenden öffentlichen Konsultationen einen Bericht vorlegen. Welcher Reformbedarf nach dem Human Rights Act mit Blick auf den Grundrechtsschutz noch bestehen soll, wird indes nicht recht erkennbar. Auch das Konsultationspapier selbst beschränkt sich im wesentlichen darauf, die gegenwärtige Rechtslage auf etlichen Seiten zu referieren25, ohne dass Ansatzpunkte benannt würden, aus denen sich die aufgeworfene Frage nach der Notwendigkeit einer Bill of Rights plausibel ableiten ließe. Letztlich dürfte dieser Konsultationsprozess – mit Blick auf seinen Ursprung in der Koalitionsvereinbarung von 2010 – als eher beiläufiges Zugeständnis an die Liberaldemokraten zu verstehen sein, die eine gewisse Aktivität in Fragen des Menschenrechtsschutzes unter Beweis stellen wollten. Dass die Notwendigkeit einer eigenen Bill of Rights und der grundlegende Unterschied dieses Verfassungsreformprojekts zum Rechtsschutzsystem des Human Rights Act nicht zwingend dargelegt werden können, schließt nicht aus, dass das Thema politisch vor dem nächsten Wahltermin aufgegriffen wird. Das Thema könnte sich eignen, Tatkraft zur Erhaltung britischer Eigenständigkeit unter Beweis zu stel21

Inkorporiert werden Art. 2 bis 12 und 14 EMRK sowie das 1. Zusatzprotokoll. Davon zeugt die lange Reihe an einschlägigen britischen Gerichtsurteilen unter dem Human Rights Act, die insbesondere auch die Funktionsfähigkeit des Mechanismus unter Beweis stellen, mit dem die britischen Gerichte britisches Parlamentsrecht auf seine Vereinbarkeit mit der EMRK prüfen (Prüfungs-, aber keine Verwerfungskompetenz mit Ausspruch einer declaration of incompatibility und nachfolgender Änderung konventionswidriger Gesetzgebung durch ein vereinfachtes Gesetzgebungsverfahren; dazu Sydow, Fußn. 8, S. 55 ff.). 23 M. Harper (Parliamentary Secretary, Cabinet Office), HC Deb, 18. März 2011. 24 Grundlage: Commission on a Bill of Rights, Do we need a UK Bill of Rights? (Fußn. 20). 25 Discussion Paper (Fußn. 20), S. 5 ff. 22

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len und sich gegenüber der Labour-Regierung abzugrenzen, der ein Souveränitätsverzicht durch Unterwerfung unter die EMRK vorgeworfen werden könnte. Auf diese Weise könnte die britische Verfassung um einen eigenen, geschriebenen Grundrechtskatalog ergänzt werden, ohne dass damit materiell größere Abweichungen zum gegenwärtigen, auf die EMRK gestützten Menschenrechtsschutz verbunden sein müssten. 2. Föderale Binnenstruktur des Vereinigten Königreichs Die zentralstaatliche Organisation des Vereinigten Königreichs ist 1998 durch die devolution, die gesetzliche Übertragung von Legislativ- und Exekutivkompetenzen an gewählte Organe in Schottland, Wales und Nordirland, wesentlich modifiziert worden.26 London hat seit 1998 einen direkt gewählten Bürgermeister und eine städtische Exekutive, deren Kompetenzen weit über die (in den 1980er Jahren erheblich beschnittenen) Kompetenzen der übrigen britischen Lokalverwaltungen hinausreichen.27 Die Gesetzgebung aus dem Jahr 1998 hat eine asymmetrische Staatsstruktur geschaffen: Für Schottland, Wales und Nordirland wurden jeweils eigenständige, untereinander differierende Regelungen getroffen. England als Ganzes und die historischen englischen Regionen sind aus den Reformen ausgeklammert,28 was Legitimationsprobleme durch eine Überrepräsentation der nicht-englischen Regionen im Westminster Parliament schafft.29 In Schottland, Wales und Nordirland wurden jeweils zwei Institutionen errichtet: eine gewählte Versammlung, in Schottland als Parlament bezeichnet, und eine Exekutive mit kollegialer Leitung in Form eines Kabinetts. 26

Scotland Act 1998, Government of Wales Act 1998, Northern Ireland Act 1998; zentrale Urteile zur Ausgestaltung dieser Gesetze sind bisher zu Schottland ergangen: Martin v HM Advocate [2010] UKSC 10, und AXA General Insurance Ltd, Petitioners (2011) UKSC 46, dazu Himsworth, Public Law 2012, 205 ff. 27 Grundlage im Greater London Authority (Referendum) Act 1998; die Direktwahl des Bürgermeisters ist insofern ein Bruch mit der britischen Verfassungstradition, als er keinem gewählten Repräsentationsorgan verantwortlich ist (dazu N. Johnson, Reshaping the British Constitution, 2004, S. 24) und er durch die unmittelbare Persönlichkeitswahl eine parteipolitische Unabhängigkeit gewinnen kann, wie sich durch die erste Wahl K. Livingstons erwiesen hat. Zur Lokalverwaltung insg. M. Supperstone/T. Pitt-Payne, Public Law 1999, 581 ff. 28 Zur englischen Regionalverwaltung Ch. Stevens, in: M. O’Neill (ed.), Devolution and British Politics, 2004, S. 251 ff., und D. Oliver (Fußn. 11), S. 278 ff. 29 Die bislang unbeantwortete West Lothian Question fragt nach der Legitimation dafür, dass der Abgeordnete des Westminister Parliament für den schottischen Wahlkreis West Lothian über Fragen des englischen Rechts abstimmen darf, während englische Abgeordnete desselben Parlaments seit der devolution nicht mehr über schottische Rechtsfragen abstimmen, näher D. Oliver (Fußn. …), S. 288. Die Conservative Party hat vor den Wahlen von 2005 insofern eine Reform des Abstimmungsmodus im House of Commons propagiert, der schottischen Abgeordneten bei Abstimmungen zu rein englischen Fragen das Stimmrecht entzieht: „It’s time for action“ – Conservative Election Manifesto 2005, S. 22 (http://www.conservatives/com/pdf/manifesto-uk-2005.pdf).

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Der First Minister von Wales, Carwyn Jones, hat im März 2012 seine Forderung nach einer geschriebenen Verfassung für das Vereinigte Königreich und nach Einsetzung eines vorbereitenden Verfassungskonvents explizit mit der fehlenden verfassungsrechtlichen Absicherung dieser Gesetzgebung begründet,30 die ja in der Tat nur auf einem einfachen Parlamentsgesetz beruht. Doch die Gesetzgebung von 1998 gilt politisch als unumkehrbar, und auch die Conservative Party hat sich das zu Grunde liegende Föderalisierungskonzept nach ursprünglichen Widerständen gegen die Labour-Gesetzgebung von 1998 inzwischen zu eigen gemacht. So besteht gegenwärtig ein weitreichender politischer Konsens von Konservativen, Liberaldemokraten und Labour zur Bewahrung dieses fragilen staatsrechtlichen Gefüges gegenüber den dezidierten Unabhängigkeitsbestrebungen der Scottish National Party, die in Edinburgh die Regionalregierung stellt und ihre Wahlerfolge nach 1998 noch weiter steigern konnte. Das 1998 eventuell vorhandene Kalkül, der schottischen Unabhängigkeitsbewegung durch Entgegenkommen die Spitze zu nehmen, hat sich nicht erfüllt. Das Unabhängigkeitsreferendum im Herbst 2014 darf mit Spannung erwartet werden. IV. Gesamtkodifizierung der britischen Verfassung 1. Kodifikationsdebatte Seit mehreren Jahren erscheint keine Darstellung des britischen Verfassungsrechts mehr, die nicht ein – meist umfangreiches – Kapitel zur Verfassungskodifikation enthielte.31 Das teilweise in der Kapitelüberschrift gesetzte Fragezeichen deutet an, dass nicht alle Autoren vom Kodifikationsziel überzeugt sind. Doch das Kodifikationsthema ist inzwischen sowohl im politischen Kontext32 als auch in der akademischen Diskussion so präsent, dass niemand es mehr ignorieren kann. Grundsätzliche Meinungsverschiedenheiten bestehen über das gebotene zeitliche und inhaltliche Verhältnis zwischen verfassungsrechtlicher Einzelreform und Kodifizierung: Bogdanor hält die Kodifikationsforderung grundsätzlich und in längerfristiger Perspektive für berechtigt, gegenwärtig aber den Zeitpunkt nicht für opportun, um eine 30

www.walesonline.co.uk/news/welsh-politics/welsh-politics-news/2012/03/01/uk. Bspw. C. Turpin/A. Tomkins, British Government and the Constitution, 6. Aufl. 2007, S. 29 ff. (Kapitel unter der Überschrift „A written constitution?“); R. Brazier, Constitutional Reform, 3. Aufl. 2008, S. 154 ff. (Kapitel „Codifying the constitution“);V. Bogdanor (Fußn. 16), S. 215 ff. (Kapitel „Towards a written constitution? “); vgl. auch V. Bogdanor, The Coalition and the Government, 2011, S. 135 ff. (Kapitel „A constitution for a post-bureaucratic age“, das allerdings weniger Kodifikation thematisiert als die Frage, was die Summe der Reformen seit 1998 ausmacht und welche Verfassungsprinzipien ihnen zu Grunde liegen könnten). 32 Ministry of Justice, The Governance of Britain (Juli 2007); Ministry of Justice, Rights and Responsibilities: Developing our Constitutional Framework (März 2009), für einen Teilbereich auch: Commission on a Bill of Rights, Discussion Paper: Do we need a UK Bill of Rights?, August 2011 (www. justice.gov.uk/about/cbr/index.htm). 31

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Kodifizierung in Angriff zu nehmen: Der 1998 initiierte Verfassungsreformprozess sei unabgeschlossen und in seiner Finalität zu offen, als dass dieser Entwicklungsprozess nun an einem Punkt durch eine kodifzierte, „verschanzte“ Verfassung gestoppt werden sollte.33 Richard Gordon hat 2010 demgegenüber sehr dezidiert begründet, warum er eine Kodifizierung für dringend geboten hält, und einen vollständigen Verfassungsentwurf zur Diskussion gestellt, jeweils mit eingehender Begründung der vorgeschlagenen Regelungen.34 Gordon hält eine tiefgreifende Umgestaltung des politischen Systems unter den Vorzeichen einer konsequenten Demokratisierung und Säkularisierung für geboten. Ohne den klaren Fokus einer Verfassungskodifikation hält er diese Reformziele nicht für erreichbar. Unabhängig von der Frage, ob man seine konkreten verfassungspolitischen Ziele teilt, ist zu konstatieren, dass bei ihm die Kodifikationsforderung – in begrüßenswerter Offenheit35 – in den Dienst konkreter materieller Reformvorhaben gestellt wird. Bogdanor hält das umgekehrte Verhältnis von verfassungsrechtlichen Einzelreformen und Gesamtkodifikation der Verfassung für überzeugender: Eine Kodifizierung des Verfassungsrechts sei erst dann sinnvoll, wenn die aktuellen verfassungsrechtlichen Streitfragen – von der föderalen Staatsstruktur über das Wahlsystem bis hin zu Funktion und Zusammensetzung des House of Lords – in einem inkrementalen Reformprozess geklärt seien. 2. Kodifizierung durch Kompilation: Das Cabinet Manual von 2011 als kodifizierte Quasi-Verfassung Das britische Kabinett hat im Oktober 2011 die eingangs erwähnte Handreichung unter dem Titel „Cabinet Manual. A guide to laws, conventions and rules on the operation of government“ verabschiedet. Die Ausarbeitung des Textes beruht auf einem mehrjährigen parlamentarischen und öffentlichen Konsultationsprozess, den noch die vorherige Labour-Regierung initiiert hatte.36 Seine Autorität leitet das Cabinet Manual von einem Beschluss des britischen Kabinetts her, in das der Premierminister aus den zahlreichen ministers, die in Großbritannien Regierungs- und Justizfunktionen wahrnehmen (bis zu 95), einen engen Kreis an Entscheidungsträgern beruft, insbesondere die Leiter der großen, klassischen Ministerien. Unter Zugrundelegung des üblichen umfassenden Begriffsverständnisses von government, das nicht allein institutionell die Regierung, sondern alle Staatsgewalten 33

V. Bogdanor (Fußn. 16), S. 230 f. R. Gordon (Fußn. 15), S. 37 ff. (kompletter Verfassungsentwurf). 35 Eindeutig etwa der Rückseitentext in R. Gordon (Fußn. 15): „Without a clear focus, constitutional reform will not happen. The approach taken here ist therefore … designed to provide a focal point around which a wider debate might be centred.“ 36 Dazu insb.: House of Commons, Political and Constitutional Reform Committee: Constitutional implications of the Cabinet Manual, 6th Report of Session 2010 – 11 (HC Paper 734), und House of Lords, The Cabinet Manual, 12th Report of the Select Committee on the Constitution, Session 2010 – 11 (HL Paper 107). 34

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in ihrer Verfasstheit, ihrer Funktion und ihrer Wirkungsweise bezeichnet, regelt (bzw. thematisiert) das Cabinet Manual sämtliche Regelungsbereiche verfassungsrechtlicher Art. Im einzelnen umfasst das Cabinet Manual eine Einführung mit grundsätzlichen Aussagen zu Staatsform und Verfassung und sodann elf Kapitel: 1.

The Sovereign (mit Regelungen zur anglikanischen Staatskirche)

2.

Elections and government formation

3.

The Executive – the Prime Minister, ministers and the structure of government

4.

Collective Cabinet decision-making

5.

The Executive and Parliament (mit Regelungen des Gesetzgebungsverfahrens)

6.

The Executive and the law (mit Bezugnahmen auf die EMRK und den Human Rights Act)

7.

Ministers and the Civil Service

8.

Relations with the Devolved Administrations (Schottland, Nordirland und Wales) and local government

9.

Relations with the European Union and other international institutions

10. Government finance and expenditure 11. Official information Nicht nur die Gliederung, sondern auch Stil und Diktion des Cabinet Manual entsprechen einem Verfassungstext. Der erste Satz mag dies mit seiner strukturellen Parallele zu Art. 1 der französischen Verfassung oder zu Art. 20 des Grundgesetztes illustrieren: „The UK is a Parliamentary democracy which has a constitutional sovereign as Head of State; …“. In der äußeren Form gibt es nur eine Ausnahme von der prägenden Verfassungsstilistik, die dem kompilatorischen Charakter des Textes geschuldet ist: In den Text sind Fußnoten aufgenommen, die am Ende jedes Kapitels die (Rechts-)Grundlage der jeweiligen Bestimmung nachweisen. Diese Fußnoten sind ein eindrucksvoller Beleg für die Pluralität an Rechtsquellen, die für das britische Verfassungsrecht kennzeichnend ist. In bunter Mischung verweisen diese Endnoten teilweise auf konkrete Bestimmungen einzelner Parlamentsgesetze des 17. bis 21. Jahrhunderts, teilweise auf alte, autoritative Abhandlungen, teilweise auf präjudizielle Staatspraxis oder – mangels entsprechender Staatspraxis – auf den aktuellen Koalitionsvertrag.37 Insofern ist das Cabinet Manual in seiner Rechtsqualität eine heterogene Sammlung. Bemerkenswert ist der nicht seltene Verweis auf andere Reports, 37 Die Situation eines hung parliament ohne eindeutige Mehrheitsverhältnisse nach den Wahlen von 2010 war jahrzehntelang ohne Vorbild, so dass manche Fragen zunächst offen waren, etwa das Verhältnis zwischen einer Art Richtlinienkompetenz des Premierministers zum Erfordernis eines Konsenses zwischen den die Koalitionsregierung tragenden Parteien; monographisch zu dieser Konstellation V. Bogdanor, The Coalition and the Government, 2011, etwa S. 51 ff. über Agreements to differ, und R. Hazell/B. Yong, The Politics of Coalition – How the Conservative – Liberal Democratic Government Works, 2012.

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Codes und Guides38, die in irgendeiner Form von Parlaments- oder Regierungsstellen approbiert worden sind, die aus sich heraus aber keine Rechtsverbindlichkeit beanspruchen können, die nun aber ebenso wie die rechtsverbindliche Quellen des Verfassungsrechts als Nachweis für Bestimmungen des Cabinet Manual dienen. Sie dürften damit eine faktische Verfestigung erhalten. Die Grenzen zwischen gerichtlich durchsetzbarem Verfassungsrecht, nicht-justitiablen Verfassungskonventionen und sonstigen Sätzen, die inhaltlich einen wie auch immer gearteten Verfassungsbezug haben, verschwimmen. Die Frage nach der Bindungswirkung des Cabinet Manual ist vor diesem Hintergrund differenziert zu beantworten: Das Cabinet Manual schafft für sich betrachtet keine weitergehende Rechtsverbindlichkeit, als sie den im Cabinet Manual zusammengefassten Sätzen jeweils aus sich heraus zukommt. Das Cabinet Manual beansprucht aber über diese abgestufte Rechtsverbindlichkeit seiner Einzelbestimmungen hinaus im Ganzen eine politische Bindungswirkung. Kurz: Es ist nicht aus sich heraus rechtsverbindlich, beansprucht aber insgesamt politische Verbindlichkeit. Die beiden Vorworte (des Premierministers und des Cabinet Secretary) zeigen deutlich, wie das Cabinet Manual zwischen verschiedenen Verbindlichkeitsebenen changiert: Es sei „a source of information on the laws, conventions and rules“, „a key work of reference“ und keine „source of any rule“. Es sei „not intended to be legally binding“. Es sei vielmehr zu verstehen als „an authoritative guide for ministers and officials“, und der Premierminister erwartet von allen Amtsträgern „to be mindful of the guidance it contains“39. Schließlich dürfte das Cabinet Manual auch die Verfassungsdiskussion bereichern, weil mit dieser Handreichung nun nicht nur ein privater oder akademischer Verfassungsvorschlag, sondern ein offizieller Referenztext vorliegt, der für Gliederung, Diktion und Inhalte einer möglichen Verfassungskodifizierung prägend werden dürfte. V. Ansätze zu einer veränderten rechtsnormativen Qualität des Verfassungsrechts 1. Limited government als Verfassungsreformforderung Eine verfassungsrechtliche Sicherung gegen das Parlament und eventuelle Willkürakte der Gesetzgebung ist im Konzept der Parlamentssuprematie, wie sie Albert Venn Dicey40 in klassischer Weise formuliert hat, nicht enthalten. Gleichwohl hat seine Argumentationsführung für britische Verfassungsjuristen lange Zeit hohe 38 Grundsätzlich zum Phänomen und Begriff des soft law M. Knauff, Der Regelungsverbund: Recht und Soft Law im Mehrebenensystem, 2010, S. 213 ff. 39 Alles Zitate aus den kurzen Vorworten von D. Cameron bzw. Sir G. O’Donnell, in: Cabinet Manual (Fußn. 5), S. III, S. IV. 40 Dicey, Lectures introductory to the law of the constitution, 1. Aufl. 1885, von der dritten bis zur zehnten Auflage von 1959 unter dem Titel: Introduction to the study of the law of the constitution.

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Überzeugungskraft besessen. Der Willkürakt erschien als undenkbar: Auch wenn das Parlament die Kompetenz habe, in Schottland eine Episcopal Church einzuführen, die Kolonien zu besteuern oder die Monarchie abzuschaffen – so die Beispiele Diceys –, werde dies „in the present state of the world“ nicht geschehen.41 Es erschien Dicey als unnötig, diese außerrechtliche Voraussetzung für seine Verfassungskonzeption verfassungsrechtlich zu garantieren. Die gegenwärtige Verfassungsdebatte in Großbritannien ist auch und gerade durch dieses Fehlen normativer Bindungen der Parlamentsgesetzgebung motiviert. Die politischen Sicherungsmechanismen, auf die Dicey vertraut hatte, werden nicht mehr als ausreichend erachtet. Die überkommene Verfassungsordnung befindet sich in einer Legitimationskrise. Deren Legitimation ist nach verbreiteter Auffassung angesichts veränderter gesellschaftlicher und politischer Grundkonstellationen brüchig geworden. In Großbritannien seien Funktionsvoraussetzungen des überkommenen politischen Systems in den 1970er Jahren entfallen, die in der Retrospektive durch Schlagworte wie Unregierbarkeit, parteipolitische Polarisation und Krise gekennzeichnet seien.42 Zudem hätten die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts gezeigt, dass auch demokratisch gewählte Parlamente und Regierungen totalitär werden könnten43 und dass es deshalb normativer Bindungen der Mehrheit bedarf, die durch eine unabhängige Gerichtsbarkeit durchgesetzt werden können. Denn eine politische Verfassung biete keinen Schutz vor Tyrannei.44 Zentrales Charakteristikum der überkommenen Verfassung sei nicht die Parlamentssuprematie, sondern „elective dictatorship“45. Wenn überkommene civil liberties und Gewährleistungen der rule of law auf einer fragilen verfassungsrechtlichen Grundlage beruhen, so liegt die Forderung nach verfassungsrechtlichen Sicherungen durch eine geschriebene Verfassung nahe. Es muss 41

A. V. Dicey, Introduction to the Study of the Law of the Constitution, 10. Aufl. 1959, S. 79. 42 A. Gamble, Between Europe and America, 2003, S. 150: „The conventions and checks which had preserved the balance have been eroded or destroyed.“ Vgl. auch die Einschätzung des Politikwissenschaftlers A. King, dass das politische System Großbritanniens seit den 1970er Jahren durch einen konfrontativen, kämpferischen Stil geprägt sei, der durch das ZweiParteien-System als fast zwangsläufige Folge eines Mehrheitswahlsystems begünstigt wird: A. King, Does the UK still have a constitution, 2001, S. 45 f., S. 77; zudem A. Gamble, in: H. Kastendiek/R. Stinshoff (eds.), Changing Conceptions of Constitutional Government, 1994, S. 13. Grundsätzlich anderer Auffassung: O. O’Neill, A Question of Trust, 2002, S. 9 et passim, die bereits bestreitet, dass es eine Vertrauenskrise in das politische System gebe – dies sei eine Fehlwahrnehmung. 43 J. Jowell, Public Law 2000, 671 ff. (682). 44 T. R. S. Allan, Constitutional Justice, 2001, S. 261 f.; Sir J. Laws, Public Law 1995, 72 ff. (81). 45 Lord Hailsham (Fußn. 17), S. 9 ff.; der konservative Kritiker des gesamten Verfassungsreformprozesses N. Johnson ist der Auffassung, dass Tendenzen zum elective dictatorship in den letzten Jahren, namentlich seit dem Wahlsieg von New Labour von 1997, noch zugenommen hätten, dass also das gesamte Reformprojekt das propagierte Ziel verfehle, N. Johnson, Reshaping the British Constitution, 2004, S. 308 ff.

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darum gehen, die weitreichende Gestaltungsfreiheit der auf eine Parlamentsmehrheit gestützten Regierung zu beschränken. In britischer Terminologie geht es um limited government unter gerichtlicher Kontrolle, wobei sich auch dieser gängige Terminus des limited government nicht allein und primär auf die Regierung als Institution bezieht, sondern auch und gerade Regieren durch Gesetzgebung bezeichnet. Deshalb konzentrieren sich die Reformforderungen nach limited government häufig auf die Frage nach gerichtlichen Normenkontroll- und Normverwerfungskompetenzen gegenüber der Parlamentsgesetzgebung. 2. Aufnahme der Reformforderungen Die Verfassungsreformgesetze der letzten Jahre übertragen den Gerichten eine Reihe expliziter Kontrollkompetenzen: Gerichtliche Normenkontrollen sind ohne weiteres im Hinblick auf exekutive Rechtsetzung in Form von delegated legislation möglich:46 Die Gerichte kontrollieren die Tätigkeit der devolved bodies (schottisches Parlament etc.) einschließlich der dort ausgeübten Gesetzgebung auf die Einhaltung der Kompetenzgrenzen, die die Gesetzgebung zur devolution festgeschrieben hat. Die Gerichte überprüfen zudem generell die Vereinbarkeit allen hoheitlichen Handelns mit den Gewährleistungen der EMRK. Dies schließt eine Kontroll-, nicht aber eine Verwerfungskompetenz gegenüber der Parlamentsgesetzgebung des Westminster Parliament ein. Schließlich überprüfen die britischen Gerichte die Parlamentsgesetzgebung auf ihre Vereinbarkeit mit direkt anwendbarem Recht der Europäischen Union und setzen den Anwendungsvorrang des Europarechts durch.47 Der Zuwachs gerichtlicher Kontrollkompetenzen ist aber nicht allein Folge einzelner Parlamentsgesetze, sondern in erster Linie Folge einer Weiterentwicklung der Rechtsprechung durch die Gerichte selber: Sie haben Auslegungsregeln entwickelt, nach denen implizite Änderungen bedeutsamer, materiell verfassungsrechtlicher Parlamentsgesetze durch nachfolgendes Parlamentsgesetz ausgeschlossen sind.48 Das bezieht sich etwa auf den European Communities Act 1972 sowie den Human Rights Act 1998. Diese gerichtlichen Auslegungsregeln verschaffen diesen Parlamentsgesetzen keinen normhierarchischen Vorrang, aber sie führen zu einer erschwerten Abänderbarkeit. Denn ein späteres Gesetz müsste in bestimmter Weise qualifiziert sein, um das vorangehende Gesetz zu ändern – zwar nicht durch besondere Mehrheitserfordernisse, wohl aber durch eine explizite Bestimmung zur Änderung des vorangehenden Gesetzes. Das mag nicht viel sein, zeigt aber eine Richtung auf, wie auch innerhalb der nicht normhierarchisch differenzierenden Lehre der Par46 Zur Zulässigkeit und den prozessualen Einzelheiten von Normenkontrollen über secondary legislation: O. Hood Phillips/P. Jackson/P. Leopold, Constitutional and Administrative Law, 8. Aufl. 2001, S. 671, S. 729 f. 47 Sydow (Fußn. 8), S. 88 ff. 48 Ansatzpunkte schon in Nairn v. University of St. Andrews, (1909) A. C. 147, sodann R. v. Secretary of State for the Home Department, ex parte Pirson, (1998) A. C. 539 (587); Will v. Bowley, (1982) 2 All ER 654 (662); näher Sydow (Fußn. 8), S. 84 ff.

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lamentssuprematie entrechment, Verfestigung von Verfassungsrecht, erreicht werden kann. Noch einen Schritt weiter würde es gehen, wenn die Parlamentsgesetzgebung entgegen dem traditionellen Verständnis der Parlamentssuprematie auch ungeschriebenen Bindungen aus dem common law unterläge. Damit würde grundrechtlichen Gewährleistungen des tradierten common law Vorrang vor der Parlamentsgesetzgebung eingeräumt, der auch gegenüber einer expliziten Gesetzesbestimmung gerichtlich durchgesetzt werden müsste. VI. Resümee Es ist auffällig, wie wenig die britische Verfassungsdiskussion auf verfassungstheoretische Konzeptionen, Topoi und Begrifflichkeiten zurückgreift, die für das kontinentaleuropäische Verfassungsdenken von grundlegender Bedeutung sind: • Die Unterscheidung von pouvoir constituant und pouvoirs constitués ist terminologisch weder in den französischen Begriffen noch in einer englischen Übersetzung und auch der Sache nach kaum präsent. Letztlich verbleibt selbst die grundlegende Frage, wie die verfassungsgebende Gewalt zwischen Volk, Monarchen und Parlament verteilt sein könnte, in einer vagen Offenheit.49 In aller Regel wird diese Frage nach Vorhandensein und Verortung einer verfassungsgebenden Gewalt erst gar nicht gestellt. Denn der evolutive Charakter der britischen Verfassungsentwicklung hat über mehrere Jahrhunderte hinweg keine Zäsur, keinen grundsätzlichen Neubeginn gekannt, an dessen Anfang ein verfassungsgebender Akt gestanden hätte. • Vergleichbares gilt für das Konzept der Normenhierarchie. Es ist zwar für das Verhältnis von Parlamentsrecht und abgeleiteter, exekutiver Rechtsetzung vorhanden, wird aber gerade nicht auf das Verfassungsrecht bezogen. Das ist insofern wenig erstaunlich, als dem gegenwärtigen Verfassungsrecht kein normhierarchischer Vorrang gegenüber der Parlamentsgesetzgebung zukommt. Aber auch die breite rechtspolitische Diskussion über mögliche Veränderungen dieser Ausgangslage fasst das Reformanliegen nicht als Hierarchisierungsfrage auf, sondern diskutiert die Sachfragen unter dem Aspekt der parlamentarischen Selbstbindung. Termino49 Bspw. Bodganor (Fußn. 16), S. 228 ff., der alle möglichen Varianten über das Zustandekommen einer Verfassung rechtsvergleichend zusammenträgt, ohne sich zu positionieren, welches Verfahren für Großbritannien aus welchen Gründen geboten sein könnte; ähnlich unschlüssig R. Brazier (Fußn. 31), S. 164 ff.; eindeutige Festlegung demgegenüber im Verfassungsentwurf R. Gordons (Fußn. 15), Preamble (S. 47): „We the People of the United Kingdom … establish and adopt this Constitution for the United Kingdom.“, verbunden mit einem Gesetzesvorschlag über zwei konsekutive Verfassungsreferenden (S. 169 ff.). Das Cabinet Manual (Fußn. 5), Ziffer 1, spricht von „a sovereign Parliament, which is supreme to all other government institutions“. Diese Suprematie des Parlaments wird aber zum einen nicht explizit auf die verfassungsgebende Gewalt bezogen und sie bedeutet zum anderen auch nicht, dass die Gerichte mit ihren Kontrollkompetenzen auf einem – realen oder fingierten – Errichtungsakt des Parlaments beruhen würden; ihre Existenz und Stellung ist vielmehr im tradierten common law begründet.

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logisch geht es wie erwähnt um entrechment, um die Verfestigung verfassungsrechtlicher Normen, nicht um die Schaffung einer lex superior. An Stelle der kontinentaleuropäischen Verfassungsentwicklung orientiert sich die britische Verfassungsdiskussion an den Staaten des Commonwealth, denen man sich nicht nur durch die Geschichte, die englische Sprache und häufig durch das gemeinsame Staatsoberhaupt verbunden weiß. Diese Orientierung liegt auch aus Gründen nahe, die unmittelbar im Rechtssystem wurzeln, das nach dem common-law-Verständnis primär ein Rechtsprechungssystem ist: Mit dem Privy Council besteht in London nach wie vor ein gemeinsamer Gerichtshof für letztinstanzliche Berufungsverfahren aus den britischen Überseeterritorien, aus den Crown Dependencies und aus verschiedenen Commonwealth-Staaten. Auch über dessen Rechtsprechung hinaus genießen Urteile hoher Gerichte aus common-law-Rechtsordnungen zwar keine formale Bindungskraft, wohl aber wechselseitig hohe Autorität – grundsätzlich nicht anders als im Verhältnis zwischen den eigenständigen Rechtsordnungen Englands, Schottlands und Nordirlands. Vor diesem Hintergrund liest sich der explizite Verweis auf das Cabinet Manual von Neuseeland als Vorbild des britischen Cabinet Manual50 in britischen Augen als Selbstverständlichkeit und nicht als ein etwas bizarrer Hinweis auf gänzlich fernliegende Referenzen, wie eine deutsche Gesetzgebung nach Maßgabe neuseeländischer Vorbilder empfunden werden dürfte. Diese Befunde müssen zu einer gewissen Skepsis gegenüber der These veranlassen, dass die britische Verfassungsbewegung durch kontinentaleuropäische Vorbilder oder durch die Mitgliedschaft in der Europäischen Union induziert sei.51 Ohne dass punktuelle europäische Einflüsse zu bestreiten wären52, übersieht diese Einschätzung neben dem Referenzrahmen, den die Commonwealth-Staaten bilden, ein eigenständiges Verfassungsbewusstsein und eine erhebliche Eigendynamik der britischen Verfassungsentwicklung. Sie beruht zu wesentlichen Teilen auf einer Fortentwicklung von common-law-Prinzipien, insbesondere auf einer Auseinandersetzung über Aussagegehalt, Reichweite und wechselseitiges Verhältnis von Parlamentssuprematie und rule of law.53 50

Cabinet Manual (Fußn. 5), Vorwort von G. O’Donnell, S. V. So aber St. Schieren, Die stille Revolution, 2001, S. 19; ähnliche Grundthese bei D. Nicol, EC Membership and the Judicialization of British Politics, 2001, insb. S. 178 ff. 52 Bspw. für Modifikationen der Parlamentssuprematie im Bereich des Anwendungsvorrangs des Europarechts; zentrale Urteile dazu R. v. Secretary of State for Transport, ex parte Factortame (No. 1), (1990) 2 AC 85, und R. v. Secretary of State for Transport, ex parte Factortame (No. 2), (1991) 1 AC 603, in Reaktion auf EuGH RS. C-213/89 (Factortame), Slg. 1990, I-2433 ff., sodann R. v. Secretary of State for Employment, ex parte the Equal Opportunities Commission, (1995) AC 1, und Thoburn v. Sunderland City Council, (2003) QB Division 151; ausführlich Sydow (Fußn. 8), S. 106 ff. 53 Ausgangspunkt aller Auseinandersetzungen: A. V. Dicey (Fußn. 40), S. 39 ff., S. 188 (in der 10. Aufl. 1959) und passim; umfassend in entwicklungsgeschichtlicher Perspektive und unter Betonung der politischen Gestaltungsfreiheit des Parlaments J. Goldsworthy, The Sovereignty of Parliament, 1999. Zu Grundpositionen der aktuellen Verfassungsdebatte G. Sydow (Fußn. 8), S. 13 ff. 51

Rechtlich begrenzte Zukunftsforschung? Die Totalsequenzierung des menschlichen Genoms aus der Perspektive des internationalen und nationalen Rechts Von Silja Vöneky, Freiburg I. Einleitung1 Seit fast 10 Jahren ist die Sequenzierung des menschlichen Genoms vollständig möglich. Betrachtet man die Totalsequenzierung des menschlichen Genoms zunächst aus einer nicht juristischen Perspektive, die die rechtlichen Probleme und Fragen erst verstehen lässt, so erscheint Folgendes bemerkenswert: Mit der Totalsequenzierung des menschlichen Genoms ist es möglich, genetisch betrachtet ein totales Bild des jeweiligen Menschen zu erlangen. Dabei werden die ausführenden Ärzte und Forscher nach Erhalt der Ergebnisse und bis zu der Information des jeweiligen Patienten immer mehr Wissen über ihn haben als er selbst. Man könnte in diesem Zusammenhang von asymmetrischem Wissen, möglicherweise auch Herrschaftswissen, sprechen, das deswegen besonders regelungsbedürftig erscheint, weil es eine Asymmetrie zu Lasten der Person ist, deren Daten erlangt wurden und deren Identität durch den Untersuchungsgegenstand, ihre Gene, mitbestimmt wird. Davon unabhängig wurden und werden großen Summen in die Genforschung auch deswegen investiert, weil durch diese Forschung Ursachen für zahlreiche Krankheiten aufgespürt und Möglichkeiten gefunden werden sollen, Krankheiten effektiver zu behandeln.2 Im Jahr 2012 geht man von ca. 14.000 bis 21.000 monogenetisch verursachten Krankheiten aus,3 wenn auch diese Krankheiten meistens sehr 1

Dieser Beitrag ist eine überarbeitete Fassung des Vortrages der Verfasserin im Rahmen des Symposiums „Forschung und Verantwortung im Konflikt? Ethische, rechtliche und ökonomische Aspekte der Totalsequenzierung des menschlichen Genoms“, Heidelberg, März 2012; er möchte einen Bogen schlagen zu den vielen, weitreichenden und erkenntnisreichen Publikationen von Thomas Würtenberger zu Fragen des Wissenschaftsrechts. 2 Vgl. Albrecht/Kastilan, Seid entziffert, Milliarden, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22. 02. 2010, abrufbar unter: http://www.faz.net/aktuell/wissen/mensch-gene/genomsequenzierung-seid-entziffert-milliarden-1937325.html. 3 Siehe Datenbank „Online Mendelian Inheritance in Man“, aktuelle Zahlen abrufbar unter: http://omim.org/statistics/entry.

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selten sind und für andere häufiger auftretende Krankheiten – wie Asthma, Bluthochdruck oder Diabetes – gerade nicht ein einziges Gen verantwortlich scheint.4 Doch auch wenn nicht ein bestimmtes Gen für jede Krankheit gefunden werden kann, so kann es zumindest in Zukunft durch die Genomforschung möglich sein, jeder Patientengruppe ihre persönliche Medizin anzubieten, also richtige Medikamente in der richtigen Dosierung für die richtigen Personen. Es könnte damit eine passgenauere, wenn auch nicht völlig individualisierte, Behandlung erreicht werden. Alternativ könnte, wenn derjenige, dessen Genom untersucht wird, noch nicht krank ist, sondern er nur eine genetische Vorbelastung für eine Krankheit in sich trägt, eine genauere individuelle Prävention ermöglicht werden. Diese auf neue Art personalisierte, ausdifferenzierte Medizin wäre sicher eine wichtige Errungenschaft der Genomforschung; sie würde nicht nur den einzelnen Patienten helfen, sondern auch dazu führen, dass der Einsatz von Medikamenten kosteneffizienter durchgeführt werden könnte und dass die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung insgesamt – durch einen besseren Einsatz der Ressourcen – gesteigert werden könnte. Es herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass das Erreichen dieser Ziele grundsätzlich wünschenswert wäre. Ob die Genomforschung diese Ziele erreichen kann, werden die nächsten Jahrzehnte zeigen. In dem Austausch mit den Naturwissenschaften und der Medizin ist aus rechtswissenschaftlicher Perspektive wichtig zu betonen, dass auch die positivsten Ziele nur unter Beachtung der grundlegenden, (insbesondere der verrechtlichten) Rechte und Prinzipien erreicht werden dürfen, also insbesondere unter Beachtung der Grund- und Menschenrechte: Auch ein wünschenswerter und gerechtfertigter Zweck heiligt – mit Blick auf das Grundgesetz, aber auch mit Blick auf die internationalen Menschenrechte – gerade nicht alle Mittel. Aus internationalrechtlicher Perspektive ist hinzuzufügen, dass in Zeiten der Globalisierung und in Zeiten einer globalisierten Forschung nicht zu viele nationale Sonderwege beschritten werden sollten. Verfassungsrechtlich lässt sich diese Öffnung für internationale Standards mit der grundsätzlichen Völkerrechtsfreundlichkeit unseres Grundgesetzes begründen.5 Allerdings gilt dies nur, sofern und solange die bundesrepublikanische Verfassung nicht verbindlich engere Grenzen vorgibt, als die völkerrechtlichen Regelungen enthalten. Eben dieser Frage nach dem Zusammenspiel von Forschung und nationalen bzw. internationalen Verantwortungsmaßstäben soll im Folgenden nachgegangen werden. Ein zentraler, rechtlich zu normierender Aspekt ist dabei die Reichweite des Prinzips der freien, informierten Einwilligung, das eng verknüpft ist mit den Autonomieund Menschenwürdekonzeptionen einer Rechtsordnung. Dabei ist ein dringliches Problem, Fragen des Umgangs mit sogenannten Zufallsbefunden zu klären, also 4

Vgl. Albrecht/Kastilan (Fußn. 2), ibid. Dazu näher statt anderer Tomuschat, in: Dolzer (Hg.) Bonner Kommentar, 2009, Art. 25 Rn. 6; BVerfGE 6, 309 (362); 18, 112 (121); 111, 307; Bleckmann, DÖV 1996, 137 ff. 5

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mit solchen Befunden durch eine Totalsequenzierung, die gerade nicht intendiert waren und über die daher auch nicht vorher spezifisch aufgeklärt werden konnte. Auch diese Fragen sollen im Folgenden näher untersucht werden. II. Völkerrechtliche Regelungen Betrachtet man völkerrechtliche Regelungen, so ist vorab festzuhalten, dass im Völkerrecht grundsätzlich zwischen sogenanntem Hard Law und Soft Law („weichem“ Völkerrecht) unterschieden wird: Hard Law, also völkerrechtliche Verträge, das Völkergewohnheitsrecht und die allgemeinen Rechtsgrundsätze, ist Völkerrecht im engen Sinne: Es entstammt einer der anerkannten Rechtsquellen, aufgeführt in Art. 38 Abs. 1 lit. a – c IGH-Statut;6 bei der Verletzung einer solchen völkerrechtlichen Norm darf zur Rechtsdurchsetzung mit einem ebenfalls grundsätzlich völkerrechtswidrigen Akt reagiert werden, um den Rechtsverletzer zur Rechtskonformität zu bewegen (sog. Repressalie).7 Für den Bereich der Genomsequenzierung finden sich hier jedoch, quantitativ betrachtet, nicht viele für die Bundesrepublik (im engen Sinne) verbindliche Völkerrechtsnormen. Dies sind nur die gewohnheitsrechtlich bzw. vertragsrechtlich bindenden Menschenrechte, vertraglich insbesondere niedergelegt im Internationalen Pakt für bürgerliche und politische Rechte (IPbpR)8, dem Internationalen Pakt für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (IPwskR)9 und der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK).10 Der speziellste völkerrechtliche Vertrag auf diesem Gebiet, die Biomedizinkonvention des Europa-

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Art. 38 des Statuts des Internationale Gerichtshofs (BGBl. II, 1973, 505): „1. Der Gerichtshof, dessen Aufgabe es ist, die ihm unterbreiteten Streitigkeiten nach dem Völkerrecht zu entscheiden, wendet an (a) internationale Übereinkünfte allgemeiner oder besonderer Natur, in denen von den streitenden Staaten ausdrücklich anerkannte Regeln festgelegt sind; (b) das internationale Gewohnheitsrecht als Ausdruck einer allgemeinen, als Recht anerkannten Übung; (c) die von den Kulturvölkern anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätze; (d) vorbehaltlich des Artikels 59 richterliche Entscheidungen und die Lehrmeinung der fähigsten Völkerrechtler der verschiedenen Nationen als Hilfsmittel zur Feststellung von Rechtsnormen. (…).“ 7 Zur Zulässigkeit von Repressalien vgl. Ruffert, Reprisals, in: Wolfrum (Hg.), The Max Planck Encyclopedia of Public International Law, 2012, Band XIII, 927 ff.; Verdross/Simma, Universelles Völkerrecht, 2010, 1342 ff. 8 International Covenant on Civil and Political Rights (999 UNTS 171; BGBl. II, 1973, 1534). 9 International Covenant on Economic, Social and Cultural Rights (993 UNTS 3; BGBl. II, 1973, 1570). 10 European Convention for the Protection of Human Rights and Fundamental Freedoms (213 UNTS 221; BGBl. II 1954, 14; neu verkündet in BGBl. II, 2002, 1054).

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rates und deren Zusatzprotokolle,11 wurden von der Bundesrepublik nicht unterzeichnet.12 Im Gegensatz zu diesem völkerrechtlichen Hard Law entfalten internationale Soft Law-Normen und Prinzipien eine (nur) faktische Bindungswirkung: Sie sind keine der anzuwendenden Rechtssätze nach dem IGH-Statut13 und bei einer Verletzung von Soft Law-Normen darf nicht mit einer Repressalie reagiert werden.14 Für den Bereich der Totalsequenzierung des menschlichen Genoms sind als internationales Soft Law insbesondere15 drei UNESCO-Deklarationen relevant: Die erste UNESCO-Deklaration über das menschliche Genom von 1997,16 die zweite zum 11 Übereinkommen zum Schutz der Menschenrechte und der Menschenwürde im Hinblick auf die Anwendung von Biologie und Medizin (SEV-Nr. 164); Zusatzprotokoll zum Übereinkommen zum Schutz der Menschenrechte und der Menschenwürde im Hinblick auf die Anwendung von Biologie und Medizin über das Verbot des Klonens von menschlichen Lebewesen (SEV-Nr. 168; ZP I); Zusatzprotokoll zur Konvention über Menschenrechte und der Biomedizin bezüglich der Transplantation von menschlichen Organen und Gewebe (SEVNr. 186; ZP II); Zusatzprotokoll zum Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin betreffend biomedizinische Forschung (SEV-Nr. 195; ZP III); Zusatzprotokoll vom 27. 11. 2008 zur Konvention über Menschenrechte und Biomedizin betreffend der Gentests zu gesundheitlichen Zwecken (SEV-Nr. 203; ZP IV); alle abgedruckt in: Müller-Terpitz (Hg.), Das Recht der Biomedizin, Textsammlung, 2006, 63 ff., 115 ff., 123 ff., 161 ff. 12 Die Biomedizinkonvention wurde bislang von 29 Staaten ratifiziert. Das ZP I wurde von 21 Staaten, das ZP II von 12 Staaten, das ZP III von sieben Staaten und das ZP IV von zwei Staaten ratifiziert (Stand: Mai 2012). Deutschland hat weder die Biomedizinkonvention noch eines der Protokolle ratifiziert, vgl. dazu Albers, EuR 2002, 801 ff.; Laufs/Kern, Handbuch des Arztrechts, 2010, § 4 Rn. 17. 13 Vgl. Fußn. 6. 14 Es bleibt daher bei einer Rechtsverletzung allein beim naming and shaming, also bei der Benennung der Verletzung und des Verletzenden und dem dadurch erzeugten Druck zur Einhaltung der Normen. 15 Es gibt noch weit mehr internationale Soft Law-Normen und private Standardsetzungen, wie die Deklarationen des Weltärztebundes, die Guidelines der ICH, die CIOMS Guidelines etc., die im vorliegenden Kontext ebenfalls relevant sein können; dies muss jedoch weiteren Untersuchungen vorbehalten werden; vgl. näher Chang, Die Autorität ethischer Guidelines und Menschenrechtsrelevanz globaler Arzneimittelforschung, 2012 (Dissertation, erscheint demnächst). Zu beachten ist dabei, dass vorliegend, zur besseren begrifflichen Klarheit, zwischen Soft Law und privater Standardsetzung unterschieden wird: Als internationales Soft Law werden nur die Normen bezeichnet, die von einem Völkerrechtssubjekt erzeugt werden, also beispielsweise nicht die Deklarationen des Weltärztebundes (WMA), da die WMA keine Internationale Organisation und damit kein Völkerrechtssubjekt ist. Die Normen privater Standardsetzung sind, anders als internationales Soft Law, grundsätzlich für Völkerrechtssubjekte unverbindlich, haben also auch keine faktische Bindungswirkung, solange sie nicht durch Völkerrechtsnormen (Hard oder Soft Law) in das Völkerrecht integriert werden. Erst Völkerrechtsnormen können diesen Standardsetzungen daher Rechtswirkung in der Völkerrechtsordnung verleihen. 16 Allgemeine Erklärung über das menschliche Genom und Menschenrechte vom 11. 11. 1997, UNESCO Resolution 16 adopted by the General Conference at its 29th session; abgedruckt in deutscher Fassung in: Müller-Terpitz (Hg.) (Fußn. 11), 213 ff.; deutsche Fassung auch abrufbar unter: http://www.unesco.de/445.html.

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Schutz genetischer Daten von 200317 und die dritte, allgemeinere, über Bioethik und Menschenrechte von 2005.18 Dabei wäre es falsch, diese Deklarationen als NichtRecht zu bezeichnen, wie dies zum Teil vertreten wird.19 Auch diese Deklarationen haben normative Verbindlichkeit, die zwar geringer ist als die des Völkerrechts im engen Sinne, die aber dennoch nicht unbeachtet bleiben kann, da sie für die Staaten, die diesen Resolutionen zugestimmt haben, eine große faktische Bindungswirkung entfalten.20 Auch völkerrechtliches Soft Law ist daher für die Bundesrepublik als Maßstab relevant, wenn und soweit sie diesem, wie bei allen drei genannten UNESCO-Deklarationen, zugestimmt hat.21 1. Völkerrecht im engen Sinn Zunächst zu den völkerrechtlichen Bestimmungen im engen Sinne: Betrachtet man dieses für die Fragen der Totalsequenzierung des menschlichen Genoms, so ist der normative Bestand gering. a) Prinzip der Menschenwürde? Das Prinzip der Menschenwürde ist völkerrechtlich weit weniger weitreichend verankert, als es im deutschen Grundgesetz normiert ist.22 Als Prinzip zählt es grundsätzlich nicht zu den subjektiven Menschenrechten23 und es wird oftmals nur als In17 Internationalen Erklärung über humangenetische Daten vom 16. 10. 2003, UNESCO Resolution 22 adopted by the General Conference at its 32nd session, abgedruckt in englischer Fassung in: Müller-Terpitz (Fußn. 11), 221 ff.; englische Fassung abrufbar unter: http:// www.unesco.org/new/en/social-and-human-sciences/themes/bioethics/human-genetic-data/. 18 Allgemeine Erklärung über Bioethik und Menschenrechte vom 19. 10. 2005, UNESCO Resolution 36 adopted by the General Conference at its 33rd session, abgedruckt in englischer Fassung in: Müller-Terpitz (Fußn. 11), 233 ff.; deutsche Fassung abrufbar unter: http:// www.unesco.de/erkl_bioethik_05_text.html. 19 Kritisch aber von Heinegg, Die weiteren Quellen des Völkerrechts, in: Ipsen (Hg.), Völkerrecht, 5. Aufl., 2004, 251; allgemein Thürer, Soft Law, in: Wolfrum (Hg.), The Max Planck Encyclopedia of Public International Law, 2012, Band IX, 269 ff. 20 Vgl. näher auch Vöneky, Recht, Moral und Ethik, Grundlagen und Grenzen demokratischer Legitimation für Ethikgremien, 2010, 282 ff. 21 Dies im Übrigen im Unterschied zu den USA, die nicht an die UNESCO-Deklaration von 1997 gebunden sind, da sie 1997 nicht Mitglied der UNESCO waren (http://erc.unesco.org/portal/UNESCOMemberStates.asp?language=en). 22 Vgl. mit weiteren Nachweisen zum Völkerrecht Wolfrum/Vöneky, Who is protected by Human Rights Conventions? Protection of the Embryo vs. Scientific Freedom and Public Health, in: Vöneky/Wolfrum (Hg.), Human Dignity and Human Cloning, 2004, 133 ff. Historisch vertiefend zum Menschenwürdeschutz des Grundgesetzes, vgl. Goos, Innere Freiheit – Eine Rekonstruktion des grundgesetzlichen Würdebegriffs, 2011, insbes. 75 ff. 23 Dies zeigt sich auch daran, dass in völkerrechtlichen Dokumenten von „Menschenwürde und Menschenrechten“ gesprochen wird, also die Menschenwürde nicht zu den Menschenrechten gezählt wird; vgl. nur Art. 1 S. 1 Allgemeine Erklärung der Menschrechte vom 10. 12.

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terpretationsprinzip für weitere, konkrete Menschenrechte oder Verbote angesehen, wie beispielsweise das Verbot der Folter,24 der Sklaverei,25 etc. Selbst wenn man seine völkergewohnheitsrechtliche Geltung annimmt,26 und auch dies ist umstritten, so kann daraus doch wenig Konkretes für die Fragen der Totalsequenzierung gewonnen werden. Entscheidend scheint mir jedoch Folgendes zu sein: Das Prinzip der Menschenwürde wird in der völkerrechtlichen Diskussion, auch durch den Einfluss angelsächsischer Staaten, wesentlich stärker als Prinzip der autonomen Selbstbestimmung verstanden als in der bundesdeutschen Rechtsordnung. Menschenwürdeschutz bedeutet völkerrechtlich danach primär Autonomieschutz.27 Das Erfordernis der freien, aufgeklärten Einwilligung für Interventionen entspricht diesem Verständnis von Menschenwürde. Nicht autonomiebasierte Ansätze des Menschenwürdeschutzes, also des Schutzes der Würde eines Menschen gegen dessen eigenen Willen,28 ist diesem völkerrechtlichen Verständnis wesentlich fremder als dies mit Blick auf die Menschenwürdekonzeption in Art. 1 Abs. 1 GG erscheint.29 Eine Verletzung des völkerrechtlichen Prinzips der Menschenwürde im Bereich der Totalsequenzierung anzunehmen, auch wenn dafür eine freie, informierte Einwilligung, also eine positive, autonome Entscheidung des Betroffenen vorliegt, scheint daher schwer begründbar. Im Übrigen kann auch das Konzept der Nicht-Abwägbarkeit, d. h. der Absolutheit der Menschenwürde, wonach jeder Eingriff in diese, unab-

1948 (UN Doc. A/RES/217(III) A) und die Präambel des Internationalen Pakts für bürgerliche und politische Rechte vom 19. 12. 1966 (vgl. Fußn. 8). 24 Vgl. dazu Kretzmer, Torture, Prohibition of, in: Wolfrum (Hg.), The Max Planck Encyclopedia of Public International Law, 2012, Band IX, 950 ff.; Nowak, U.N. Covenant on Civil and Political Rights, CCPR Commentary, 2005, Art. 7 Rn. 1 ff.; Joseph/Schultz/Castan, The International Convenant on Civil and Political Rights, 2004, 194 ff. 25 Vgl. dazu Weissbrodt, Slavery, in: Wolfrum (Hg.), The Max Planck Encyclopedia of Public International Law, 2012, Band IX, 216 ff.; Nowak (Fußn. 24), Art. 8 Rn. 1 ff. 26 Bejahend aber Petersen, Human Dignity, International Protection, in: Wolfrum (Hg.), The Max Planck Encyclopedia of Public International Law, 2012, Band IV, 1013 ff., Rn. 28 ff. 27 Petersen (Fußn. 26), 1013 ff., Rn. 28; Barilan, Journal of Medicine and Philosopy 2011 (36), 496 (504). 28 Wie beispielsweise beim Verbot des sog. Enhancement gegen den Willen derjenigen, die sich „verbessern“ möchten. Anders liegt es beim Verbot des reproduktiven Klonens wegen des Verstoßes gegen die Menschenwürde, da zwar der Geklonte, nicht aber der Klon in die Klonierung einwilligen kann. 29 Zum Schutz der Menschenwürde eines Menschen trotz Einwilligung und damit gegen seinen Willen, vgl. VG Neustadt a.W., NVwZ 1993, 98 (99) (Zwergenweitwurf), BVerwGE 64, 274 (279) (Peep-Show), BVerwGE 115, 189 (Omega), bestätigt durch EuGH, NVwZ 2004, 1471. Dagegen zum Menschenwürdeschutz als Schutz der inneren Freiheit, vgl. Goos, (Fußn. 22), insbesondere 139 ff.

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hängig von seiner Art und den Zwecken, eine Verletzung der Menschenwürde darstellt,30 völkerrechtlich nicht als das herrschende Verständnis angesehen werden.31 Zunächst zu den wichtigsten internationalen Menschenrechten zu Fragen der Totalsequenzierung des menschlichen Genoms. b) Menschenrecht auf Achtung des Privatlebens Dies ist zum einen das – beispielsweise durch Art. 8 EMRK32 – geschützte Recht auf Achtung des Privatlebens. Dieses wird weit ausgelegt und bedeutet zunächst ein Recht auf Selbstbestimmung über den eigenen Körper und Schutz der physischen und psychischen Unversehrtheit,33 so dass jede erzwungene medizinische Behandlung untersagt ist.34 Durch dieses Menschenrecht auf Achtung des Privatlebens wird zudem die informationelle Selbstbestimmung geschützt und damit auch das Recht auf Kenntnis oder Nicht-Kenntnis der eigenen Identität:35 Daraus ist ableitbar, dass einerseits jedes staatliche Verbot oder Gebot der Totalsequenzierung gegen den Willen der Betroffenen gerechtfertigt werden müsste und dass andererseits, mit Blick auf die Schutzpflichten, bei einer Erlaubnis der Totalsequenzierung diese Verfahren rechtlich so ausgestaltet werden müssen, dass Dritte die Sequenzierung nicht gegen die Interessen des Betroffenen nutzen können. Jedes Sammeln, Gewinnen, Verwenden und Speichern dieser Daten, auch von Zufallsfunden, greift in das Privatleben der Betroffenen ein, sofern keine entsprechende Einwilligung der Betroffenen vorliegt. Da das Recht auf Achtung des Privatlebens auch die selbstbestimmte Lebensgestaltung umfasst, ist daraus meines Erachtens auch grundsätzlich das Verbot ableitbar, ein bestimmtes Krankheitspräventionsverhalten einem Betroffenen nach einer Genomsequenzierung verpflichtend vorzuschreiben. Zu beachten ist jedoch auch, dass nicht jeder Eingriff in dieses Recht und dessen Ausdifferenzierungen eine rechtswidrige Verletzung darstellt, sondern nur, wenn

30 BVerfG 93, 266 (293), wonach selbst eine Rechtfertigung durch kollidierendes Verfassungsrecht ausgeschlossen ist, ebenso Classen, DÖV 2009, 689 ff., Poscher, JZ 2004, 756 ff.; relativierend Wittreck, DÖV 2003, 873 ff; Goos (Fußn. 22), 164 ff. 31 Petersen (Fußn. 26), S. 1013 ff.; für einen umfassenden Überblick zum Thema siehe McCrudden, EJIL 2008, 655 ff. 32 Vgl. Fußn. 10. 33 Statt anderer Meyer-Ladewig, EMRK Handkommentar, 2011, Art. 8 Rn. 7; Karpenstein/ Mayer, Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten. Kommentar, 2012, Art. 8 Rn. 7. 34 Vgl. Meyer-Ladewig (Fußn. 33), Art. 8 Rn. 13; Karpenstein/Mayer (Fußn. 33), Art. 8 Rn. 8. 35 Vgl. Meyer-Ladewig (Fußn. 33), Art. 8 Rn. 22; Karpenstein/Mayer, (Fußn. 33), Art. 8 Rn. 24.

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dieser Eingriff nicht durch eine gesetzliche Grundlage und mit Blick auf ein legitimes Ziel als notwendig, insbesondere verhältnismäßig, gerechtfertigt werden kann.36 Für die Staatenpflichten aus dem IPbpR37 ist nur hinzuzufügen, dass die Reichweite des Schutzes des Privatlebens nach Art. 17 IPbpR entsprechend auszulegen ist; auch hier schützt das Recht auf Privatleben, die „identity, integrity, intimacy and autonomy“38 der Betroffenen gegen Eingriffe, in die nicht eingewilligt wurde, und führt zu einer staatlichen Verpflichtung, entsprechende Eingriffe Privater zu verhindern (Art. 17 (2) IPbpR). Unbestritten ist dabei, dass die menschliche Identität auch durch den genetischen Code bestimmt wird.39 Der Schutz der Integrität verlangt, dass es keine medizinische Behandlung ohne Einwilligung geben darf, außer wenn eine solche mit einem legitimen Zweck und als verhältnismäßig gerechtfertigt werden kann.40 Zusätzlich zu diesem Recht des Schutzes der Privatsphäre ist im IPbpR ausdrücklich das Verbot normiert, ohne freiwillige Zustimmung medizinischen oder wissenschaftlichen Versuchen unterworfen zu werden. Als Spezifizierung des Verbots von Folter oder erniedrigender Behandlung in Art. 7 IPbpR ist dieses Verbot eindeutig auf den Menschenwürdeschutz bezogen.41 c) Menschenrecht auf Höchstmaß an Gesundheit und Menschenrecht auf Teilhabe an den Errungenschaften des wissenschaftlichen Fortschritts Die Schutzrichtung der sogenannten sozialen Menschenrechte ist eine andere: Der IPwskR42 verankert als soziales Menschenrecht das Recht auf ein höchstmögliches Maß an Gesundheit (Art. 12 IPwskR) und verlangt damit, dass die Staaten alle möglichen Schritte unternehmen, die Maßnahmen zur Vorbeugung, Behandlung und Bekämpfung von Krankheiten umfassen. Art. 15 IPwskR statuiert zudem für jeden das Recht, an den Errungenschaften des wissenschaftlichen Fortschritts teilzuhaben, was wiederum die Erhaltung, Entwick36

22. 37

Meyer-Ladewig (Fußn. 33), Art. 8 Rn. 13; Karpenstein/Mayer (Fußn. 33), Art. 8 Rn. 13,

Vgl. Fußn. 8. Nowak (Fußn. 24), Art. 17 Rn. 16 ff; in ausführlicher Analyse: Joseph/Schultz/Castan (Fußn. 24), 476 ff. 39 Nowak (Fußn. 24), Art. 17 Rn. 18; UN Human Rights Committee, Concluding Observations on Denmark, 15. 11. 2000, UN Doc. CCPR/CO/70/DNK, Abs. 15. 40 Nowak (Fußn. 24), Art. 17 Rn. 8 ff.; General Comment No. 16: The right to respect of privacy, family, home and correspondence, and protection of honour and reputation (Art. 17), 08. 04. 1988, UN Doc. HRI/GEN/1/Rev.6, S. 142, Rn. 3 f. 41 Nowak (Fußn. 24), Art. 17 Rn. 20; UN Human Rights Committee, General Comment No. 20: The prohibition of torture or to cruel, inhuman or degrading treatment or punishment (Art. 7), 10. 03. 1992, UN Doc. HRI/GEN/1/Rev.6, S. 151, Rn. 2. 42 Vgl. Fußn. 9. 38

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lung und Verbreitung von Wissenschaft voraussetzt. Auch wenn die Forschungsfreiheit damit völkerrechtlich nicht, wie im deutschen Grundgesetz in Art. 5 Abs. 3 GG, abwehrrechtlich und vorbehaltlos verankert ist, bleibt es doch auch auf völkerrechtlicher Ebene bei einer Förderungspflicht für Wissenschaften für die Staaten, die diesen Menschenrechtspakt unterzeichnet und ratifiziert haben. Insgesamt ergibt sich damit bereits durch die völkerrechtlichen Menschenrechte ein differenziertes Bild von staatlichen Unterlassungspflichten und staatlichen Schutz- bzw. Förderpflichten. In deren Zentrum steht jedoch – gerade weil die Forschungsfreiheit völkerrechtlich nicht als liberales Freiheits- und Abwehrrecht ausgestaltet ist43 – deutlich der Schutz der Privatsphäre und der Schutz der Autonomie des einzelnen Patienten bzw. Probanden. 2. „Weiches Völkerrecht“ Dieser menschenrechtliche Befund lässt sich durch das speziellere völkerrechtliche Soft Law und hier insbesondere durch die drei genannten, die Bundesrepublik bindenden UNESCO-Deklarationen ergänzen und bestätigen, die detailliert Fragen der Genomsequenzierung regeln.44 Bemerkenswert an den Deklarationen ist zunächst, dass diese den rein menschenrechtsbasierten Ansatz verlassen. So ist bezeichnend, dass die Deklaration von 2005 „Deklaration über Bioethik und Menschenrechte“ heißt.45 Wie lauten die wesentlichen Prinzipien und Regeln dieser Deklarationen? Und was sagen sie aus über die Totalsequenzierung, insbesondere dabei über das Prinzip der freien, informierten Einwilligung und das Problem der Zufallsbefunde? a) UNESCO-Deklaration über das menschliche Genom (1997) In der ersten Deklaration von 199746 wird das menschliche Genom als Grundlage der Einheit aller Mitglieder der menschlichen Gesellschaft bezeichnet und zudem „in einem symbolischen Sinn“ als Erbe der Menschheit (heritage of humanity; Art. 1 UNESCO-Deklaration 1997). Letzteres ist ein Hinweis auf die Notwendigkeit einer materiellen Verteilungsgerechtigkeit zwischen wissensbesitzenden und wissensbedürftigen Staaten,47 die eine einseitige Ausnutzung der Genomforschung 43 Vgl. Müller, Human Rights Law Review 2010 (10), 765 ff. zu Art. 15 lit. b) IPwskR, sowie allgemein Ashcroft, Human Rights Law Review 2010 (10), 639 ff. 44 Die erste wurde zeitgleich mit dem Biomedizinübereinkommen des Europarates vereinbart (vgl. Fußn. 11) und weißt mit diesem Übereinstimmungen auf, so dass sich hier völkerrechtliches Soft und Hard Law materiell überschneiden. 45 Näher zu dieser Deklaration Vöneky (Fußn. 20), 368 ff. 46 Vgl. Fußn. 16. 47 Ossorio,The Journal of Law, Medicine & Ethics 2007, 425 (437).

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durch die Industriestaaten ausschließen soll.48 Dieses Prinzip des „Erbes der Menschheit“ wird jedoch in den nachfolgenden UNESCO-Deklarationen nicht wiederholt. Die normative Bindungswirkung erscheint daher gering, insbesondere auch, da die USA nicht an diese 1997er Deklaration gebunden sind.49 Wichtig ist dagegen die ausdrückliche Verankerung des Diskriminierungsverbot aufgrund genetischer Eigenschaften (Art. 2, 6 UNESCO-Deklaration 1997) und die genaue Ausdifferenzierung der Rechte der betroffenen Personen, die durch klare Mindestanforderungen (Art. 5 UNESCO-Deklaration 1997) für Forschung, Behandlung und Diagnose, die das Genom eines Menschen betreffen, bestimmt werden. Danach gilt: (1.) Die Notwendigkeit einer vorhergehenden Risiko-Nutzen-Abwägung. Dieses ist ein grundsätzlich „autonomiefeindliches“ bioethisches, kein menschenrechtliches Prinzip, da eine negative Abwägung, d. h. ein zu großes Risiko bei zu geringem Nutzen, nicht durch eine Einwilligung „geheilt“ werden kann. (2.) Das grundsätzliche Vorliegen einer vorherigen, freien, informierten Einwilligung nach fachgerechter Aufklärung. Dies ist eine ausdrückliche Klarstellung in Konsequenz und in Kongruenz zu den – oben dargelegten – menschenrechtlichen Vorgaben. (3.) Die Achtung des Rechts jedes Einzelnen, darüber zu entscheiden, ob er von den genetischen Untersuchungen und den daraus sich ergebenden Folgen unterrichtet werden will. Dieses Recht auf Wissen bzw. Nicht-Wissen, bzw. genauer das Recht auf Information bzw. Nicht-Information als Ausfluss des Autonomieprinzips oder Menschenwürdeprinzips ist damit auch völkerrechtlich ausdrücklich verankert. Zu beachten ist jedoch, dass nach Art. 9 UNESCO-Deklaration 1997 Einschränkungen der Grundsätze der Einwilligung möglich sind, wenn diese gesetzlich geregelt und aus zwingenden Gründen im Rahmen des Völkerrecht und der Menschenrechte erforderlich sind. Dies zeigt, dass einzelne Staaten umstrittene Fragen – wie den Umgang mit Zufallsbefunden und ob diese von einer generalisierten Einwilligung abgedeckt sein müssen oder dürfen – unterschiedlich gesetzlich regeln können, sofern es legitime Gründe dafür gibt und die Regelungen nicht unverhältnismäßig in Menschenrechte der Betroffenen eingreifen. Es zeigt aber auch, dass die Staaten, diese ausdrücklichen gesetzlichen Regelungen treffen müssen, wenn sie von den Grundanforderungen der Deklaration abweichen wollen. Normieren die Staaten also keine abweichenden rechtlichen Regelungen, bleiben sie an die Standards der Deklaration gebunden. 48

Vgl. Art. 4 (Verbot des finanziellen Gewinns durch Genom in seinem natürlichen Zustand) und Art. 18 (Förderung der Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnisse) UNESCODeklaration 1997. 49 Vgl. Fußn. 21.

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Dies gilt auch für die Forderung nach der grundsätzlichen Vertraulichkeit nicht anonymisierter Daten (Art. 7 UNESCO-Deklaration 1997). Auch diese Vertraulichkeit kann (nur) auf gesetzlicher Grundlage und aus den oben genannten zwingenden Gründen eingeschränkt werden. Beachtenswert ist zudem, dass eine zusätzliche verfahrensmäßige Absicherung einer interdisziplinären Erörterung und Bewertung der aufgeworfenen Fragen in der 1997er Deklaration enthalten ist, indem diese die Staaten auffordert, die Bedeutung von unabhängigen, fächerübergreifenden und pluralistischen Ethikräten anzuerkennen, die Fragen der Genomforschung prüfen sollen (Art. 17 UNESCO-Deklaration 1997). Flankierend ist der Anspruch auf Schadensersatz für Schäden, die als unmittelbare oder zwangsläufige Folge eines Eingriffs in das Genom entstehen, normiert (Art. 8 UNESCO-Deklaration 1997). Es werden aber auch Aspekte der Forschungsförderung geregelt: Nach Art. 14, 15 sind die Staaten, die durch die Deklaration als Mitglieder der UNESCO gebunden sind, dazu verpflichtet, geeignete Rahmenbedingungen für die Forschung am menschlichen Genom zu schaffen und dabei die in der Deklaration niedergelegten Grundsätze zu berücksichtigen. Der Schutz der Gesundheit der Bevölkerung (public health) sowie die Forschungsförderung allgemein und für besondere genetische Krankheiten werden dabei ausdrücklich als legitime Ziele benannt. b) UNESCO-Deklaration zum Schutz genetischer Daten (2003) Diese Kernprinzipien werden durch die nachfolgende UNESCO-Deklaration über den Schutz genetischer Daten von 200350 bestätigt und zum Teil auch weiter ausgeformt: Die UNESCO-Deklaration von 2003 legt auf internationaler Ebene erstmalig Grundprinzipien zum Umgang mit genetischen Daten menschlichen Ursprungs nieder und enthält hier allgemeine Bestimmungen sowie Vorschriften zum Erheben, Verarbeiten, Nutzen und Speichern dieser Daten (Art. 1 – 22 UNESCO-Deklaration 2003). Als legitime Zwecke für diese Sammlung, Verarbeitung, Nutzung und Aufbewahrung werden diagnostische, therapeutische und wissenschaftliche Ziele ausdrücklich genannt (Art. 5 UNESCO-Deklaration 2003). Die Anforderungen an die erforderliche Einwilligung werden dabei sehr detailliert und weitgehend definiert. Nach Art. 2 (iii) UNESCO-Deklaration 2003 muss die Einwilligung nicht nur vorhergehend, frei und informiert sein (so schon die

50

Vgl. Fußn. 17.

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UNESCO-Deklaration von 1997), sondern auch spezifisch und ausdrücklich (Art. 6 (d) UNESCO-Deklaration 2003). Wichtig ist, dass in dieser Deklaration erstmalig auch die Aufklärungsanforderungen konkret normiert werden. Die Aufklärung, die einer Einwilligung vorhergehen muss, muss klar, ausgewogen, adäquat und angemessen sein, sowie alle notwendigen Details enthalten (Art. 6 (d) UNESCO-Deklaration 2003); insbesondere muss sie den Zweck spezifizieren, zu dem diese Daten gewonnen, genutzt und gespeichert werden (Art. 16 UNESCO-Deklaration 2003). Daraus folgt aber auch, dass grundsätzlich eine neue Einwilligung eingeholt werden muss, wenn sich der Zweck, beispielsweise auch durch Zufallsbefunde, ändert (Art. 16 UNESCO-Deklaration 2003). Risiken und Konsequenzen, die aus der Datengewinnung etc. folgen, sollen, falls notwendig, ebenfalls in der Aufklärung genannt werden. Zudem muss über das Recht aufgeklärt werden, die Einwilligung zu widerrufen, ohne dass nachteilige Folgen und/oder Strafen drohen (Art. 6 (d) UNESCO-Deklaration 2003). Darüber hinaus gibt es für die Sammlung von Daten nochmals spezielle Einwilligungsvoraussetzungen: Danach muss die Einwilligung zusätzlich ohne Anreiz durch finanziellen oder anderen persönlichen Gewinn erfolgen (inducement by financial or other personal gain). Das Gebot der Nicht-Kommerzialisierung wird hier noch einmal betont. Allerdings wird hier ausdrücklich bemerkt, dass Einschränkungen dieser Anforderungen möglich sind, wenn zwingende Gründe vorliegen, die im nationalen Recht normiert sind und nicht gegen Menschenrechte verstoßen (Art. 8 (a), S. 2 UNESCO-Deklaration 2003). Zudem gibt es Sonderregelungen für genetische Daten, die im Rahmen von Forschungsvorhaben gewonnen werden: Als Teil der Aufklärung muss der Betroffene (nur) in diesen Fällen auch über das Recht auf Wissen bzw. Nicht-Wissen über Forschungsergebnisse aufgeklärt werden. Dieses Recht auf Wissen bzw. Nicht-Wissen gilt nur nicht für Daten, die unwiederbringlich völlig anonymisiert wurden oder zu keinen individuellen Ergebnissen führen. Diese Aufklärung muss daher nach meinem Verständnis auch die Möglichkeit von Zufallsbefunden einschließen (Art. 10 UNESCO-Deklaration 2003). In Bezug auf verwandte Personen gilt jedoch: Nur sofern es angemessen ist, soll ein Recht auf Nicht-Wissen (und die Aufklärung darüber) auf diese ausgedehnt werden (Art. 10 S. 3 UNESCO-Deklaration 2003). Zudem ist in diesen Fällen die Rücknahme der Einwilligung ohne Nachteile oder Strafe nochmals ausdrücklich benannt (außer wenn die Daten unwiederbringlich nicht mehr einer Person zugeordnet werden können; Art. 9 UNESCO-Deklaration 2003). Bei einer Rücknahme besteht dann auch grundsätzlich keine Nutzungsbefugnis mehr für diese Daten (Art. 9 (b) UNESCO-Deklaration 2003). Die Einzelne bleibt also gerade im Bereich der Forschungsaktivitäten Herrin ihrer Daten.

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Im Grundsatz sollen Daten zudem anonymisiert werden und auch diese Daten sollen geschützt werden. Ausnahmen können nur gemacht werden, wenn dies für die Forschung erforderlich ist (Art. 14 (c), (d) UNESCO-Deklaration 2003) und auch nur so lange, wie dies für den bezeichneten Zweck erforderlich ist. Es gilt zudem, dass nach Art. 13 UNESCO-Deklaration 2003 jeder das Recht hat, auf eigene genetische Daten zuzugreifen, sofern dies technisch möglich ist. Ausnahmen aus Gründen des innerstaatlichen Rechts im Interesse der Gesundheit der Bevölkerung oder der öffentlichen Ordnung bzw. der nationalen Sicherheit sind jedoch möglich. Nach Art. 14 UNESCO-Deklaration 2003 gelten auch der Grundsatz des Schutzes der Privatsphäre und das Verbot der Weitergabe von Daten an Dritte. Allerdings sind auch hier in eng begrenzten Fällen nach nationalem Recht bei wichtigem öffentlichem Interesse in Übereinstimmung mit den internationalen Menschenrechten oder bei Einwilligung der Betroffenen Ausnahmen möglich. Als Verfahrensanforderung werden wieder transparente und „ethische“ Verfahren der Gewinnung, Verarbeitung, Nutzung und Aufbewahrung angemahnt; dafür sollen Ethikkommissionen von den Staaten eingerichtet werden (Art. 6 (b) UNESCO-Deklaration 2003). Interessant ist hier auch eine Vorgabe für Regelungslücken: Fragen, für die es noch keine nationalen Gesetze gibt, sollen durch Ethikkommissionen entschieden werden. Bei transnationalen Vorgängen sollen Ethikkommissionen in den jeweils betroffenen Ländern einbezogen werden (Art. 6 (b) und (c) UNESCO-Deklaration 2003). Betont wird dabei der besondere Status menschlicher genetischer Daten wegen ihrer besonderen Aussagekraft für den Einzelnen und für Verwandte in der Gegenwart; aber auch wegen der in ihnen enthaltenen Informationen, die erst in der Zukunft entdeckt werden können (Art. 4 UNESCO-Deklaration 2003); und das Prinzip der Nichtdiskriminierung, hier in Gestalt des Sicherstellens einer nichtdiskriminierenden Verwendung der gewonnenen Daten (Art. 7 UNESCO-Deklaration 2003). 3. Erstes Ergebnis Als erstes Ergebnis für den Bereich des Völkerrechts gilt: Das menschenrechtlich verankerte Prinzip der Notwendigkeit einer freien, informierten Einwilligung ist durch die UNESCO-Deklarationen weitreichend verankert und ausdifferenziert worden; das totale genetische Bild über den Menschen darf grundsätzlich bei einer positiven Risiko-Nutzen-Abwägung gewonnen werden, wenn und soweit der Betroffene einwilligt und wenn diese Einwilligung bestimmten qualitativen Anforderungen genügt; dies gilt insbesondere im Bereich der Forschung. Das Einwilligungserfordernis gilt aber nicht absolut, sondern Einschränkungen desselben können gerechtfertigt sein, müssen aber innerstaatlich gesetzlich geregelt werden.

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Für umstrittene Spezialfragen, wie den Umgang mit Zufallsbefunden, geben die UNESCO-Deklarationen hingegen nur vage Anhaltspunkte. Hier gilt vielmehr das Prinzip, dass den Staaten ein Gestaltungsspielraum gelassen wird, der aber rechtlich normiert werden muss, und dass zudem in Zweifelsfragen oder bei Gesetzeslücken unabhängige, pluralistische, multidisziplinäre Ethikkommissionen in den einzelnen Staaten entscheiden sollen. In diesen besonders heiklen Fragen wird also der Ausgleich zwischen Forschung und Verantwortung auf die einzelnen Staaten bzw. die einzurichtenden Ethikkommissionen verlagert. III. Das Recht der Bundesrepublik 1. Relevante Grundrechte des Grundgesetzes Die Rechtsfragen und auch die rechtlichen Wertungen der Genomsequenzierung auf nationaler Ebene unterscheiden sich in vielen Punkten nicht von denen auf internationaler Ebene. Auch nach dem deutschen Grundgesetz gelten, neben dem besonders ausgestalteten Schutz der Menschenwürde, das Menschenrecht auf körperliche Unversehrtheit, das allgemeine Persönlichkeitsrecht und daraus abgeleitet das Recht der Achtung der Intim- und Privatsphäre, bzw. das Recht auf informationelle Selbstbestimmung.51 Daraus folgt nicht nur, dass die Einzelne Bestimmungsrechte über ihre genetischen Daten und grundsätzlich ein Recht auf Wissen bzgl. bereits erhobener Daten über ihre genetische Konstitution hat (nicht aber ein Recht auf Durchführung genetischer Tests52),53 sondern auch ein Recht auf Nicht-Wissen (bzw. Nicht-Information), wenn sie genetische Daten nicht zur Kenntnis nehmen möchte.54 Aus den Grundrechten des Grundgesetzes folgen zum einen – wie aus den internationalen Menschenrechten – Eingriffsverbote, wenn kein legitimer Zweck vorliegt oder der Eingriff trotz eines legitimen Zwecks unverhältnismäßig ist, aber auch Schutzpflichten, die der Staat nach dem Untermaßverbot erfüllen muss, damit Schädigungen dieser Rechte durch Dritte bei einer Sequenzierung des Genoms unterbleiben. So ist die Einzelne – als Folge ihres Rechts auf Wissen – beispielsweise durch Regelungen davor zu schützen, dass zugängliche Informationen, auch Zufallsbefunde, ihr selbst dann vorenthalten werden, wenn sie diese er51

Di Fabio in: Maunz/Dürig (Hg.), Grundgesetz-Kommentar, 2011, Art. 2 GG Rn. 179; Genenger, NJW 2010, 113. 52 Zum entsprechenden Freiheitsrecht aber Radau, Prädikative Gentests, in dies. (Hg.), Die Biomedizinkonvention des Europarates: Humanforschung – Transplantationsmedizin – Genetik, Rechtsanalyse und Rechtsvergleich, 2006, 173 (188); Donner/Simon, DÖV 1990, 907 (913). 53 Genenger, NJW 2010, 113; Radau, (Fußn. 52), 186. 54 Vgl. zu der Diskussion Radau, (Fußn. 52), 187, Fußn. 933; Di Fabio (Fußn. 51), Art. 2 Rn. 192; Heyers, MedR 2009, 507 (509); Stockter, Wissen als Option, nicht als Obliegenheit – Aufklärung, Einwilligung und Datenschutz in der Gendiagnostik in: Duttge et al. (Hg.), Das Gendiagnostikgesetz im Spannungsfeld von Humangenetik und Recht, 2011, 27 ff.

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halten möchte. Zudem müsste geregelt werden, dass es eine Pflicht zur Mitteilung gesundheitsrelevanter Ergebnisse gibt, auch wenn diese zufällig gefunden wurden, solange die Einzelne darauf nicht ausdrücklich verzichtet hat, diese Mitteilung zu erhalten. Grundsätzlich gibt es keinen Widerspruch zwischen den dargelegten völkerrechtlichen Normen und dem Grundgesetz. Nach meiner Ansicht bedeutet dies jedoch auch, dass die völkerrechtlichen Bestimmungen der UNESCO-Deklarationen wegen des Gebotes völkerrechtskonformer Auslegung des Grundgesetzes in den Bereichen der Genomsequenzierung, die durch nationales Recht noch nicht geregelt sind, Rechtsmaßstab sind, soweit und sofern sie den Grundrechten nicht widersprechen. Da das relativ neue deutsche Gendiagnostikgesetz von 201055 Forschungsfragen gerade nicht regelt, setzen meines Erachtens die UNESCO-Deklarationen, insbesondere für die Totalsequenzierung des menschlichen Genoms im Zusammenhang mit Forschungsprojekten, den maßgeblichen Standard. 2. Gendiagnostikgesetz Insgesamt betrachtet sind die im Gendiagnostikgesetz geregelten Fragen der Gendiagnostik durch Ärzte ohne Forschungsintention nach meiner Einschätzung nicht nur in Übereinstimmung mit dem Grundgesetz geregelt, sondern auch im Einklang mit den völkerrechtlichen Vorgaben mit Blick auf die im Gesetz ausgestalteten Aufklärungs- und Einwilligungsregelungen, die dort verankerte genetische Beratungspflicht (§ 10 GenDG), das gesetzliche Diskriminierungsverbot (§ 4 GenDG), das Recht auf Nichtwissen (§ 11 Abs. 4 GenDG), etc.56 Besonders anspruchsvoll ausgestaltet sind dabei die Arztvorbehalte; der Einzelne hat danach nicht nur die Datenherrschaft über seine gesundheitlichen Befunde, sondern auch Rechte auf genetische Beratung durch entsprechende Fachärzte (§§ 7, 10 GenDG).57 Dies sind hohe Anforderungen, die aber mit Blick auf die anfangs genannte Wissensasymmetrie und die große Unsicherheit und Bedeutung von gendiagnostischen Ergebnissen für den Einzelnen (noch) gerechtfertigt sind.

55 Gesetz über genetische Untersuchungen beim Menschen vom 31.07.2009, BGBl. I, 2009, 2529; zum Gendiagnostikgesetz ausführlich: Eberbach, MedR 2010, 155 ff. 56 Vgl. für einen Überblick Genenger, NJW 2010, 113 ff. 57 Fenger in: Spickhoff (Hg.), Medizinrecht, 2011, § 10 GenDG Rn. 1 – 3.

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IV. Unterschiede und Zusammenwirken von nationalem Recht und Völkerrecht Fragt man nach Unterschieden zwischen Völkerrecht und nationalem Recht, so ist besonders, dass im Grundgesetz die Forschungsfreiheit in Art. 5 Abs. 3 GG als liberales Abwehrrecht ausgestaltet und vorbehaltlos verankert ist,58 so dass jedes Forschungsverbot vom Staat auch gegenüber den betroffenen Forschern im Hinblick auf ein verfassungsrechtlich geschütztes gleichrangiges Verfassungsgut, das nicht anders als durch ein Forschungsverbot oder eine Forschungseinschränkung geschützt werden kann, gerechtfertigt werden muss. Zudem ist der Schutz der Menschenwürde im Grundgesetz wesentlich prominenter geregelt als in der Völkerrechtsordnung im Allgemeinen und in den menschenrechtlichen Verträgen im Besonderen.59 Würde daher eine völkerrechtlich erlaubte Handlung im Rahmen der Genomsequenzierung einen Eingriff in die Menschenwürde darstellen, wäre dies verfassungsrechtlich verboten, während völkerrechtlich von einem entsprechenden Verbot gerade nicht ausgegangen werden kann, wenn und solange der Eingriff gerechtfertigt werden könnte. Auf einem ganz anderen Gebiet als dem vorliegenden gibt es einen eindrücklichen Beispielsfall, der diese unterschiedlichen Auslegungen des Menschenwürdeprinzips aufzeigt: Der Abschuss eines entführten Passagierflugzeugs, das als Bombe eingesetzt werden soll, ist – aus Sicht des Bundesverfassungsgerichts – in Friedenszeiten trotz gesetzlicher Regelung und trotz des legitimen Zwecks dadurch größeres Unheil für Unschuldige zu verhindern wegen der Verobjektivierung der Passagiere eine Verletzung der Menschenwürde nach dem Grundgesetz und damit verfassungswidrig.60 Völkerrechtlich wäre dieser Eingriff wegen des legitimen Ziels, das nicht anders erreicht werden kann, und wenn nach ex ante-Prognose Schlimmeres verhindert würde, dagegen zu rechtfertigen.61 Es kann auch im Bereich der Genomsequenzierung Fälle geben, die sich als Eingriff in die Menschenwürde darstellen, die aber völkerrechtlich mit einem legitimen Zweck und unter Beachtung des Prinzips der Verhältnismäßigkeit gerechtfertigt werden könnten. Ein ähnliches Auseinanderfallen der völkerrechtlichen und grundgesetzlichen Wertungen könnte bei der Totalsequenzierung der Genome von Nicht-Einwilligungsfähigen und bei der Nutzung ihrer genetischen Daten vorliegen: Dafür müsste nach dem Grundgesetz wohl ein Individualnutzen vorliegen, damit keine Ver-

58 Vgl. nur Starck in: von Mangoldt/Klein/Starck (Hg.), Kommentar zum Grundgesetz, 2010, Art. 5 Rn. 414. 59 Vgl. Wolfrum/Vöneky, (Fußn. 22), 137 ff. 60 BVerfGE 115, 118 ff. 61 Zimmermann/Geiß, Der Staat 2007, 377 (383).

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objektivierung angenommen werden kann.62 Völkerrechtlich wird dieser Individualnutzen jedoch gerade nicht ausnahmslos gefordert.63 V. Fazit Die internationalen Regelungen sind, zumindest im Bereich des Soft Law, auch für den Bereich der Totalsequenzierung des menschlichen Genoms differenziert ausgestaltet und in grundsätzlicher Übereinstimmung mit den völkerrechtlichen menschenrechtlichen Vorgaben, auch wenn sie sich nicht darauf beschränken. 62 Vgl. auch § 14 GenDG „Genetische Untersuchungen bei nicht einwilligungsfähigen Personen“: „(1) Bei einer Person, die nicht in der Lage ist, Wesen, Bedeutung und Tragweite der genetischen Untersuchung zu erkennen und ihren Willen hiernach auszurichten, dürfen eine genetische Untersuchung zu medizinischen Zwecken sowie die Gewinnung der dafür erforderlichen genetischen Probe nur vorgenommen werden, wenn 1. die Untersuchung nach dem allgemein anerkannten Stand der Wissenschaft und Technik erforderlich ist, um bei der Person eine genetisch bedingte Erkrankung oder gesundheitliche Störung zu vermeiden oder zu behandeln oder dieser vorzubeugen, oder wenn eine Behandlung mit einem Arzneimittel vorgesehen ist, dessen Wirkung durch genetische Eigenschaften beeinflusst wird, 2. die Untersuchung zuvor der Person in einer ihr gemäßen Weise so weit wie möglich verständlich gemacht worden ist und sie die Untersuchung oder die Gewinnung der dafür erforderlichen genetischen Probe nicht ablehnt, 3. die Untersuchung für die Person mit möglichst wenig Risiken und Belastungen verbunden ist und 4. der Vertreter der Person nach § 9 aufgeklärt worden ist, die Vorschriften über die genetische Beratung nach § 10 gegenüber dem Vertreter eingehalten worden sind und dieser nach § 8 Abs. 1 eingewilligt hat. (2) Eine genetische Untersuchung darf bei einer in Absatz 1 bezeichneten Person abweichend von Absatz 1 auch vorgenommen werden, wenn 1. sich bei einer genetisch verwandten Person im Hinblick auf eine geplante Schwangerschaft nach dem allgemein anerkannten Stand der Wissenschaft und Technik auf andere Weise nicht klären lässt, ob eine bestimmte genetisch bedingte Erkrankung oder gesundheitliche Störung bei einem künftigen Abkömmling der genetisch verwandten Person auftreten kann, 2. die Voraussetzungen nach Absatz 1 Nr. 2 und 4 vorliegen, 3. die Person voraussichtlich allenfalls geringfügig und nicht über die mit der Gewinnung der dafür erforderlichen genetischen Probe in der Regel verbundenen Risiken hinaus gesundheitlich beeinträchtigt wird und 4. die Person durch das Untersuchungsergebnis voraussichtlich weder physisch noch psychisch belastet wird. (3) Es dürfen nur die für den jeweiligen Untersuchungszweck erforderlichen Untersuchungen der genetischen Probe vorgenommen werden. Andere Feststellungen dürfen nicht getroffen werden. Die §§ 1627 und 1901 Abs. 2 und 3 des Bürgerlichen Gesetzbuchs finden Anwendung.“ 63 Vgl. Art. 5 lit. e) UNESCO-Deklaration 1997; Art. 8 (d) UNESCO-Deklaration 2003; Art. 7 (b) UNESCO-Deklaration 2005; siehe auch die deutsche Stimmerklärung zu der UNESCO-Deklaration 2005, englische Fassung abrufbar unter: http://www.unesco.de/ stimmerklaerung_2005.html.

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Für die deutsche Rechtsordnung sind diese Soft Law-Regelungen in verschiedener Hinsicht maßgeblich: Da die Bundesrepublik verpflichtet ist, diese umzusetzen und grundsätzlich von einem Willen zum völkerrechtskonformen Handeln ausgegangen werden muss, sind nationale Regelungen, die denselben Sachbereich umfassen, wie beispielsweise das Gendiagnostikgesetz, im Lichte der internationalen Vorgaben auszulegen, wenn nicht innerstaatlich ein höherer Schutzstandard angestrebt wird. Fehlen dagegen in einem Bereich, wie in der Genomforschung, gesetzliche Vorgaben, so sind die UNESCO-Deklarationen im Grundsatz verbindliche Handlungsmaßstäbe für und in der Bundesrepublik. Dies gilt, sofern und soweit diese Soft LawRegelungen nicht gegen das Grundgesetz verstoßen. Letzteres wäre der Fall, wenn sie Eingriffe in die Menschenwürde erlaubten. Daraus folgt, dass einerseits die deutsche Rechtsordnung mit Blick auf das Völkerrecht ausgelegt werden muss und Lücken völkerrechtlich gefüllt werden können, diese völkerrechtlichen Standards andererseits im Grundgesetz ihre Schranken finden. Durch dieses Ineinandergreifen von nationalen Grundrechten und internationalen Standards ist jedoch unter Umständen beides erreichbar: In dem Spannungsfeld von Forschung und Verantwortung eine eigene Verfassungsidentität auch in so innovativen und zukunftsträchtigen Bereichen wie der Genomsequenzierung zu schützen und dennoch internationale Vorgaben soweit wie möglich anzuerkennen.

Die Mobilisierung der Verbände zur Durchsetzung des Europarechts Von Ulrich Vosgerau, Köln I. Einleitung Die heutige Europäische Union hat – in einem längeren und schrittweise verlaufenden Prozeß, der zeitlich etwa zwischen der Einführung der Einheitlichen Europäischen Akte (Juli 1987) und dem Inkrafttreten des Vertrages von Maastricht (November 1993) zu verorten sein dürfte – die ursprüngliche Beschränkung ihres Tätigkeitsbereichs auf wirtschaftliche Fragen überwunden und sich zu einem rechtlichen und institutionellen Rahmen des dynamischen Prozesses der europäischen Integration überhaupt entwickelt, dessen Finaliät – jenseits der hergebrachten Kategorien wie „Staatenbund“ oder „Bundesstaat“ – jedoch weiter offen bleibt.1 Gerade auf dem Gebiet des Verwaltungsrechts überformt das Unionsrecht seit geraumer Zeit hergebrachte und geschichtsmächtige deutsche Rechtstraditionen.2 Eines der bekanntesten und auch praktisch relevantesten Beispiele hierfür ist die durch verschiedene EU-Richtlinien in das deutsche Umweltrecht eingeführte Verbandsklage.3 Gerade die umweltrechtliche Verbandsklage bildet heute ein wesentliches Instrument zur Erzeugung und Aufrechterhaltung der in der verwaltungsrechtlichen Forschung zu lange vernachlässigten Akzeptanz von Verwaltungsentscheidungen durch das Verwaltungsverfahren4.5 Es gibt mehrere Anlässe, das unionsrechtlich geprägte Recht der Verbandsklage neu zu überdenken. Dies sind: erstens die bekannte Trianel-Entscheidung des EuGH6 zur Verbandsklage im deutschen Umweltrecht; zweitens der Verordnungsentwurf der Kommission für eine neue Datenschutz-Grundverordnung7 sowie der Vorschlag der Kommission für eine

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Vergl. Zippelius/Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 32. Aufl. 2008, § 56 Rn. 17; 21 f. Vergl. Würtenberger, VVDStRL 58 (1999), 139 (147 f.). 3 Überblick: Niederstadt/Weber, NuR 2009, 297 ff. 4 Grundlegend Würtenberger, NJW 1991, 257 ff.; ders., Die Akzeptanz von Verwaltungsentscheidungen (1996). 5 Vergl. etwa Pernice-Warnke, EuR 2008, 410 (411); grundsätzlich kritisch jedoch Jörn Ipsen, NdsVBl. 1999, 225 (227 f.). 6 EuR 2012, 80 ff. 7 http://ec.europa.eu/justice/data-protection/document/review2012/com_2012_11_de.pdf (Abruf: 16. Mai 2012). 2

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Datenschutzrichtlinie für die Polizei und die Strafjustiz8, die deutlich werden lassen, daß jedenfalls nach dem Willen der Kommission das Verbandsklagerecht als Instrument der dezentralen Durchsetzung9 des Unionsrecht über das Umwelt- und das Verbraucherschutzrecht hinaus auch auf andere Rechtsgebiete ausgeweitet werden soll; und drittens der Umstand, daß in jüngster Zeit die öffentliche Aufmerksamkeit auch auf rechtspolitisch problematische Aspekte der Verbandsklage gelenkt wurde10, die bei der jedenfalls durch die Trianel-Entscheidung des EuGH nun initiierten gesetzgeberischen Anpassung der einschlägigen Bundesgesetze an europäische Standards ebenfalls mitbedacht werden sollten. II. Mobilisierung der Verbände am Beispiel der Trianel-Entscheidung 1. Trianel-Entscheidung: Mobilisierung der Verbände ist nicht auf die stellvertretende Geltendmachung von Individualrechten beschränkt Im deutschen Verwaltungsrecht ist bekanntlich – anders als bei dem im französischen Verwaltungsprozeß grundlegenden recours pour excès de pouvoir, dessen Grundgedanke dem europäischen Verbandsklagerecht zugrundeliegt11 – infolge der Systementscheidung für den Individualrechtsschutz der Zugang zur Verwaltungsgerichtsbarkeit unter dem Stichwort der Klagebefugnis (§ 42 Abs. 2 VwGO) herkömmlicherweise als Verletztenklage konstruiert.12 Demgegenüber hat jedoch das Unionsrecht den Bürger als seinen Sachwalter funktionalisiert und mobilisiert; in diesem Rahmen bildet das allgemeine Interesse an der flächendeckenden Durchsetzung des Unionsrechts die eigentlich treibende Kraft hinter der Zuerkennung individueller Befugnisse und ist gegenüber dem Anliegen, einzelnen Bürgern den Schutz ihrer Individualbelange zu gewährleisten, durchaus verselbständigt.13 Die 8

http://ec.europa.eu/justice/data-protection/document/review2012/com_2012_10_de.pdf (Abruf: 18. Juni 2012). 9 Vergl. bereits Ruffert, Subjektive Rechte im Umweltrecht der Europäischen Gemeinschaft (1996), S. 5 ff., 10 ff., 71 ff.; Hatje, Die gemeinschaftsrechtliche Steuerung der Wirtschaftsverwaltung (1998), S. 45 ff. („indirekter Vollzug“). 10 Vergl. Enoch zu Guttenberg, FAZ Nr. 111 vom 12. Mai 2012, S. 33; Schuh, Die Zeit Nr. 21 vom 16. Mai 2012, S. 35. 11 Vergl. Masing, Die Mobilisierung des Bürgers für die Durchsetzung des Rechts (1997), S. 196 ff.; die verwaltungsprozessuale Sachentscheidungsvoraussetzung des „intérêt pour agir“ ist mit der deutschen Klagebefugnis im Sinne der Möglichkeit der Verletzung eines subjektiv-öffentlichen Rechts nicht vergleichbar, weil ungleich weiter gefaßt; vergl. näher ders., ebda., S. 199 ff. 12 Wahl, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, Vorb. § 42 Abs. 2 Rn. 43 (Stand: 22. Lfg. 2011); vergl. bereits Skouris, Verletztenklagen und Interessentenklagen im Verwaltungsprozeß (1979), S. 80 f. 13 Masing (Fußn. 11), S. 14; im Einzelnen ders., ebda., S. 21 ff.; 35 ff.; 42 ff.; 50 ff.

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Entscheidung des EuGH vom 12. Mai 2011 in der Rechtssache C-115/09 (Trianel)14 hat nun die Aufmerksamkeit auf den Umstand gelenkt, daß sich die Mobilisierung Privater für die Durchsetzung unionaler Vorgaben weder auf die Zuerkennung von eigentlichen Individualrechten beschränkt noch diese überhaupt voraussetzt. Nach dieser Entscheidung widerspricht die Vorschrift aus § 2 Abs. 1 Nr. 1 bzw. Abs. 5 S. 1 Nr. 1 Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz (UmwRG) den Vorgaben aus Art. 10a der EG-Umweltverträglichkeitsprüfungs-Richtlinie 85/337/EG15 (UVP-RL) insofern, als anerkannten Umweltschutzverbänden (§ 3 UmwRG) lediglich das Recht zuerkannt wird, gegen eine Entscheidung im Sinne von § 2 Abs. 3 Umweltverträglichkeitsprüfungsgesetz (UVPG) die Verletzung individueller umweltschutzbezogener Rechte Dritter („Einzelner“) verwaltungsgerichtlich geltend zu machen, ohne jedoch eine Verletzung in eigenen Rechten geltend machen zu müssen, nicht aber auch das Recht, auch die Verletzung von Vorschriften zu rügen, die ebenfalls aus dem Unionsrecht hervorgegangen sind und dem Umweltschutz dienen, dabei jedoch nur die Interessen der Allgemeinheit und nicht die Rechtsgüter Einzelner schützen.16 Insofern wird das deutsche Umweltrecht klarstellend gesetzgeberisch anzupassen sein. 2. Folge: Subjektivierung auch der Vorsorgepflicht aus § 5 I Nr. 2 BImSchG Hierin erschöpfen sich indessen die Folgen der Trianel-Entscheidung für das deutsche Umweltrecht nicht. Denn von hoher praktischer Relevanz dürfte weiterhin sein, daß der in der Entscheidung liegende „Angriff auf die Schutznormtheorie“ auch die Auslegung der von der Entscheidung nicht unmittelbar betroffenen, im deutschen Umweltrecht durchaus zentralen Rechtsvorschrift aus § 5 Abs. 1 BImSchG grundlegend verändert. Bislang wird bekanntlich nur § 5 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 BImSchG wegen der Erwähnung nicht nur der „Allgemeinheit“, sondern auch der „Nachbarschaft“ drittschützende Wirkung zugebilligt17, wohingegen die allgemeine Vorsorgepflicht aus § 5 Abs. 1 Nr. 2 keine Schutznorm bildet18. Diese im deutschen Umweltrecht mittlerweile einigermaßen klassische Abgrenzung und Unterscheidung dürfte durch die Trianel-Entscheidung (jedenfalls im Hinblick auf klagende 14

Vergl. oben Fußn. 6; vergl. auch NVwZ 2011, 801 ff.; EuZW 2011, 510 ff. Nunmehr Art. 11 der RL 2011/92/EU (seit 17. Februar 2012). 16 Vergl. EuGH (Fußn. 6), Ls. 1 und S. 78 Rn. 50; damit folgte der EuGH der im deutschen Umweltrecht deutlich h.M., vergl. nur Gellermann, NVwZ 2006, 7 (8 f.); Ekhardt, NVwZ 2006, 55 f.; Koch, NVwZ 2007, 369 (378 f.); Ewer, NVwZ 2007, 369 (378 f.); Niederstadt/Weber (Fußn. 3), S. 300 mit Fußn. 51 f. m.w.N.; a.A. v. Danwitz, NVwZ 2004, 272 (279); Schmidt-Preuß, NVwZ 2005, 489 (495 f.). 17 Vergl. BVerwGE 119, 329 (332); Schmidt-Kötters, in: Giesberts/Reinhardt, Beck’scher Online-Kommentar Umweltrecht, § 5 BImSchG Rn. 40; 80 (Stand: 4/2012). 18 Vergl. BVerwGE 65, 313 (320); Kloepfer, Umweltrecht, 3. Aufl. 2004, § 8 Rn. 24 und Schmidt-Kötters, a.a.O., Rn. 121, jew. m.w.N.; anders noch OVG Münster, NJW 1976, 2360 (Ls. 1 und S. 2361); zum Ganzen jetzt Dünchheim, FS Stern, 2012, 683 (689 f.). 15

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Verbände) hinfällig oder aber jedenfalls irrelevant geworden sein. Denn die Vorsorgepflicht des BImSchG bildet die Umsetzung der unionalen Vorsorgepflicht aus Art. 3 Abs. 1 lit. a der IVU-Richtlinie19 (RL 2008/1/EG)20, die in Art. 2 Nr. 15, 15 Abs. 1, 16 Abs. 1 und 3 ein der UVP-Richtlinie gleichlaufendendes und gleichlautendes Verbandsklagerecht vorsieht. Insofern muß die für die UVP-Richtlinie gefundene Auslegung der Reichweite des Verbandsklagerechts auch auf die Vorsorgepflicht übertragen werden mit der Folge, daß es auf die mögliche Verletzung individualisierbarer Interessen gerade nicht mehr ankommen kann. Nichts anderes gilt von der Auslegung der Industrieemissions-Richtlinie (RL 2010/75/EU), die nunmehr die IVU-Richtlinie ersetzt hat und bis zum 6. Januar 2013 umzusetzen sein wird (vergl. Erwägung Nr. 27; Art. 3 Nr. 16 f.; Art. 25 Abs. 1 und 3). Hiergegen läßt sich richtigerweise auch nicht anführen, die Vorsorgepflicht aus § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BImSchG beruhe nicht auf einer „unmittelbaren“ Umsetzung von Unionsrecht.21 Die damit angedeutete Unterscheidung zwischen „unmittelbarem“ und sonstigem Umsetzungsrecht könnte nur auf einer historisierenden, nicht aber hierarchischen Theorie des Umsetzungsrechts beruhen. Deren richtiger Kern wäre die Beobachtung, daß die Vorsorgepflicht des deutschen Umweltrechts rechtsgeschichtlich älter ist als jede europarechtliche Vorsorgepflicht und daß die unionsrechtliche Pflicht erkennbar einem deutschen Vorbild folgt, daß also die Vorschrift aus § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BImSchG älter ist als die IVU-Richtlinie und sie insofern – historisch betrachtet – nicht „umsetzen“ könnte.22 Der Begriff des Umsetzungsrechts ist aber ein streng dogmatisch zu behandelnder Rechtsbegriff und nicht ein Begriff der historischen Rechtstatsachenforschung; „Umsetzungsrecht“ bezeichnet richtigerweise ein normhierarchisches Verhältnis und nicht eine chronologische Abfolge.23 Da an der Pflicht der Bundesrepublik Deutschland zur Umsetzung der IVU-Richtlinie ja nicht zu zweifeln ist, würde die chronologische, nicht hierarchische Umsetzungstheorie offenbar darauf hinauslaufen, daß die Bundesrepublik die Vorschrift aus § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BImSchG hätte aufheben und dann mit gleichem Wortlaut erneut erlassen müssen, damit sie nunmehr auch die „unmittelbare“ Umsetzung der Richtlinie bilden könnte. Da ein solches Procedere un19 Richtlinie vom 15. Januar 2008 über die integrierte Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung; vergl. bereits Peine/Samsel, EWS 2003, 297 (303). 20 Vergl. nur Jarass, BImSchG, 9. Aufl. 2012, § 5 Rn. 5b. 21 So aber Schlacke, NVwZ 2011, 804 (805). 22 Richtig freilich Funke, Umsetzungsrecht (2010), S. 158: „Der Regelfall ist einfach und gleichsam mittels genetischer Betrachtung, also mit Blick auf die Umstände der Entstehung der Richtlinie, zu lösen. Der Verabschiedung der Richtlinie folgt zeitlich das innerstaatliche Umsetzungsgesetz, das auf die Richtlinie hinweist.“ Dies kann aber dann nicht gelten, wenn die zeitlich spätere, normhierarchisch höhere Richtlinie eine nationalstaatliche Regelung selbst zum inhaltlichen Vorbild hat. 23 Vergl. Nettesheim, AöR 119 (1994), 261 (272 Fußn. 44): „Eine nationale Vorschrift setzt Richtlinienbestimmungen um, wenn ihr semantischer Entscheidungsspielraum eine Bedeutungsfestsetzung zuläßt, die der von der Richtlinie vorgegebenen Normformulierung entspricht.“

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sinnig wäre, muß davon ausgegangen werden, daß die Vorschrift in ihrer existierenden Form insofern die Umsetzung der Richtlinie bildete, sobald diese einmal in Kraft getreten war. Entsprechend dürfte sie auch bereits jetzt die Umsetzung der Vorsorgepflicht aus Art. 11 lit. a der Industrieemissions-Richtlinie vom 24. November 2010 bilden. Auf die zeitliche Abfolge des Normerlasses kommt es für diese normhierarchische Frage hingegen nicht an. 3. Theoretische Einordnung: mehrstufiges Umsetzungsrecht Die verwaltungsrechtsdogmatische Auskunft, daß der Charakter einer nationalen Rechtsnorm, Umsetzungsrecht zu sein, nur aus deren Inhalt und der Normhierarchie als solcher zu beantworten ist und nicht aus der chronologischen Abfolge des Normerlasses heraus, wird auf der rechtstheoretischen Ebene gestützt durch eine nähere Betrachtung des Verhältnisses von Völkerrecht, Europarecht und nationalem Recht gerade auf dem Gebiet des Umweltrechts. Bei dem gemeinwohlbezogenen und nicht nur individuell-stellvertretenden Verbandsklagerecht handelt es sich um mehrstufiges Umsetzungsrecht. Das allgemeine, d. h. nicht auf die stellvertretende Geltendmachung individueller Rechte beschränkte Verbandsklagerecht wird nämlich bereits in Art. 2 Nr. 4/5, Art. 9 Abs. 2 und 5 der 2001 in Kraft getretenen Aarhus-Konvention (AK) vorgesehen. Ihr sind nicht nur die damalige EG, sondern auch (unter anderem) sämtliche ihrer Mitgliedsstaaten beigetreten.24 Aus diesem Umstand ergibt sich ein zweistufiger Umsetzungsprozeß, bei dem zuerst die EG (EU) die Öffentlichkeitsbeteiligungsanforderungen der Aarhus-Konvention in Gestalt von umweltbezogenen Richtlinien umsetzt, die sodann von den Mitgliedsstaaten ihrerseits in nationales Gesetzesrecht umgesetzt werden. Dies bedeutet aber in materiell-rechtlicher Hinsicht zugleich, daß die Bundesrepublik Deutschland aufgrund völkerrechtlicher Selbstverpflichtung auch ohne jede Beteiligung der EU zur Umsetzung des Verbandsklagerechts im Sinne der AK verpflichtet wäre. Man könnte sich die EU-Ebene und ihre Richtlinien also auch wegdenken, ohne daß sich an der materiell-rechtlichen Pflicht der Bundesrepublik zur Einführung eines nicht auf die stellvertretende Geltendmachung individuell-subjektiver Rechtspositionen beschränkten Verbandsklagerechts etwas ändern würde. Und dies gilt – wie sich aus der Zusammenschau der einschlägigen Bestimmungen der Aarhus-Konvention, nämlich Art. 9 Abs. 2 i.V.m. Art. 2 Nr. 4 und 5, Art. 3 Abs. 1, Art. 6 Abs. 1 lit. a i.V.m. Art. 13 i.V.m. Anhang I sowie Art. 6 Abs. 1 lit. b – „auf der ganzen Linie“, d. h. nicht nur für den Ausspruch unmittelbar aus der Trianel-Entscheidung, sondern auch für die in der Trianel-Entscheidung nicht unmittelbar angesprochene Verbandsklagefähigkeit der Vorschrift aus § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BImSchG. Denn Art. 9 Abs. 2 AK i.V.m. Art. 2 Abs. 1 Nr. 4 und 5 und Art. 3 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 1 AK verpflichtet die Vertragsparteien zur Einführung eines auch das reine Gemeinwohlinteresse umfassenden Verbandsklagerechts im Hinblick auf die Zulassung umweltrelevanter Vorhaben. Was dabei ein umweltrelevantes Vorhaben im 24

Niederstadt/Weber (Fußn. 3), S. 300.

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Sinne der Konvention ist, beantwortet sich aus Art. 13 AK25 i.V.m. Anhang I, in dem diese umweltrelevanten Vorhaben ennumerativ und einigermaßen erschöpfend katalogisiert sind. Dabei dürfte der im Anhang I vorliegende Katalog mit dem Begriff der „genehmigungsbedürftigen Anlage“ im Sinne von § 3 Abs. 5, § 4 BImSchG in der Sache – nur bei unterschiedlicher Regelungstechnik – übereinstimmen. Hierauf kommt es aber andererseits gar nicht an, weil Art. 6 Abs. 1 lit. b AK über den Katalog aus Anhang I hinaus festlegt, daß die Vorkehrungen der Aarhus-Konvention, wie eben das gemeinwohlbezogene Verbandsklagerecht, von den Vertragsstaaten „in Übereinstimmung mit ihrem innerstaatlichen Recht auch bei Entscheidungen über nicht in Anhang I aufgeführte geplante Tätigkeiten“ auszuweiten sind, „die eine erhebliche Auswirkung auf die Umwelt haben können“. Eine genehmigungsbedürftige Anlage im Sinne des BImSchG würde also – insofern „in Übereinstimmung mit innerstaatlichem Recht“ – jedenfalls Art. 6 Abs. 1 lit. b AK unterfallen, selbst wenn sie – was indessen kaum je denkbar erscheint – im Katalog aus Anhang I nicht berücksichtigt sein sollte. Mithin erstreckt sich jedenfalls die Aarhus-Konvention auch auf § 5 BImSchG bzw. dessen Auslegung. Auch insofern könnte das Verbandsklagerecht auch nicht auf solche Normen beschränkt bleiben, die („unmittelbar“) europarechtliche Vorgaben umsetzen, sondern es müßte ohnehin auch auf sonstige und nicht drittschützende umweltrechtliche Vorschriften – wie eben § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BImSchG nach der „rein chronologischen“ Umsetzungstheorie – erstreckt werden26, sei es im Wege gesetzgeberischer Aktivitäten oder auch ohne diese im Sinne einer völkerrechtsfreundlichen Auslegung des nationalen Umweltrechts. Problematisch bliebe aber – denkt man sich die EU-Ebene weg – jedenfalls die Frage nach dem individuellen Rechtsschutz für Verbände, wenn ein Mitgliedstaat der AK seine Verpflichtungen nicht oder (wie eben die Bundesrepublik Deutschland im Banne der Vorstellung von der Verletztenklage) nicht richtig oder nicht hinreichend umsetzt. Einerseits ist die „Mediatisierung des Einzelmenschen“ im Völkerrecht heute überwunden und der Einzelne, also auch juristische Personen wie eben die Umweltverbände, als beschränkte Völkerrechtssubjekte anerkannt. Ausdruck dessen sind ja, speziell im Umweltvölkerrecht, gerade die Vorschriften aus Art. 9 Abs. 2, Art. 2 Nr. 4 und 5 AK.27 Dies beantwortet jedoch noch nicht die Frage 25 Art. 13 AK regelt dabei einfach: „Die Anhänge dieses Übereinkommens sind Bestandteil des Übereinkommens.“ 26 Vergl. bereits Murswiek, JuS 2011, 1147 (1149 a.E.). 27 Hiergegen läßt sich auch nicht anführen, daß die Formulierung des Art. 9 Abs. 2 AK auf den ersten Blick nur eine Pflicht der Mitgliedsstaaten konstituiert, ohne scheinbar den Betroffenen, also den Verbänden, auch ein subjektives Recht auf deren Umsetzung zu gewährleisten („Jede Vertragspartei stellt im Rahmen ihrer innerstaatlichen Rechtsvorschriften sicher, daß Mitglieder der betroffenen Öffentlichkeit […] Zugang zu einem Überprüfungsverfahren vor einem Gericht […] haben, um die materiell-rechtliche und verfahrensrechtliche Rechtmäßigkeit von Entscheidungen, Handlungen oder Unterlassungen anzufechten […]“). Hier gilt schon vor dem Hintergrund der individualrechtsbezogenen Festlegung aus Art. 1 AK der allgemeine Rechtsgedanke aus BVerwGE 1, 159 (162), der sinngemäß übertragen werden

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nach dem Modus der faktischen bzw. prozessualen Durchsetzung einer bislang nur kraft Völkerrechts bestehenden Rechtsposition. Wenn die EG niemals Mitglied der AK geworden wäre und man sich folglich die in der Trianel-Entscheidung einschlägige UVP-Richtlinie 85/337/EWG (Art. 10a) wegdenken müßte, so bliebe, wie gesehen, die Bundesrepublik eben unmittelbar aus der AK zur Einführung auch einer nur gemeinwohlbezogenen Verbandsklage verpflichtet. An der materiellen Rechtslage würde sich, wie gesehen, gar nichts ändern. Aber ist es vorstellbar, daß das OVG Münster ohne die Möglichkeit eines Vorlagebeschlusses28 zum EuGH in der Trianel-Sache geurteilt haben würde, § 2 UmwRG sei entgegen seinem Wortlaut bei völkerrechtsfreundlicher Auslegung im Lichte von Art. 9 Abs. 2 AK in der Sache auch ein gemeinwohlbezogenes Verbandsklagerecht zu entnehmen, und auf eine parlamentarische Umsetzung der entsprechenden völkerrechtlichen Selbstverpflichtung der Bundesrepublik komme es insofern nicht an, weil deren Ergebnis ja ohnehin feststehe?29 An dieser Überlegung zeigt sich der rechtspolitische Sinn des mehrstufigen Umsetzungsrechts: es überbrückt durch das Instrument der europarechtlichen Richtlinie und durch Einschaltung des unionsrechtlichen Rechtsschutzsystems mit Vorlagemöglichkeit und Vorlagepflicht (Art. 267 UAbs. 1 und 2 AEUV) die hergebrachte Umsetzungsschwäche des Völkerrechts. Dergestalt erweitert und verselbständigt es die bereits für die Durchsetzung des Europarechts selbst eingeführte Status-procuratoris-Stellung des Einzelnen auch im Hinblick auf kann: „Soweit das Gesetz dem Träger der Fürsorge zugunsten des Bedürftigen Pflichten auferlegt, hat der Bedürftige entsprechende Rechte und kann daher gegen ihre Verletzung den Schutz der Verwaltungsgerichte anrufen.“ Also: wo ein Staat sich völkerrechtlich verpflichtet hat, gewissen Personen unter bestimmten Umständen Zugang zu den Gerichten zu gewährleisten, müssen diese auch die richtige Umsetzung gerade dieser Verpflichtung selber gerichtlich prüfen lassen können; auch ansonsten ist ihre subjektive Rechtsstellung von den Gerichten im Lichte der völkerrechtlich eingegangenen Verpflichtung des Staates zu verstehen. 28 OVG Münster, NVwZ 2009, 987 ff. 29 Keine unmittelbare Parallele ist die Görgülü-Entscheidung des BVerfG (E 111, 307 ff.), da die EMRK den Bürgern der Ratifikationsstaaten unmittelbar subjektiv-öffentliche Rechte gewährleistet, wohingegen Art. 9 Abs. 2 AK lediglich die Staaten verpflichtet, bestimmte subjektiv-öffentliche Rechte zugunsten der Verbände einzuführen. Diese Verpflichtung hat durch die Ratifikation der AK durch den Deutschen Bundestag am 9. Dezember 2006 indessen ebenfalls Gesetzeskraft, weswegen die hier angedeutete völkerrechtsfreundliche Auslegung letztlich auch durch eine systematische Auslegung bereits des nationalen Umweltrechts „in seiner Gesamtheit“ bestätigt wird. – Problematisch war an der Görgülü-Entscheidung, daß das BVerfG die EMRK, die den Rang eines Bundesgesetzes innehat, in der Sache als ranggleich mit oder gar als höherrangig gegenüber dem GG behandelt. Eine vergleichbare Problematik ergibt sich vorliegend jedoch ebenfalls nicht: die defizitäre Vorschrift aus § 2 UmwRG und die nicht-defizitäre Vorschrift aus § 9 AK i.V.m. dem zugehörigen Ratifikationsgesetz (vergl. BGBl. 2006 II, 1251) sind gleichrangiges Bundesrecht. Insofern wäre auch nicht § 2 UmwRG „im Lichte“ von § 9 AK i.V.m. dem Ratifikationsgesetz auszulegen, sondern eine systematische Gesamtschau des Regelungskomplexes könnte zu der Auslegung führen, daß der Bundesgesetzgeber in § 2 UmwRG entgegen dem Wortlaut eigentlich dasjenige hatte sagen wollen, was er eigentlich hätte sagen müssen. Im übrigen: beim OVG Münster ist nichts undenkbar.

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die Durchsetzung des Umweltvölkerrechts. Insofern muß die Mitgliedschaft der EU in internationalen Vertragswerken mit individuell-subjektiven Regelungsgehalten – wie etwa jetzt auch der EMRK – als Teil der Überwindung der Mediatisierung des Völkerrechts in prozessualer Hinsicht angehen werden. Die Einschaltung der unionalen mittleren Ebene ändert zwar nichts an der materiellen Rechtslage, versetzt den Einzelnen jedoch in die Lage, die Beachtung völkerrechtlicher Verpflichtungen gegenüber seinem Staat effektiv einzuklagen. III. Mobilisierung der Verbände zur dezentralisierten Vollzugskontrolle überhaupt 1. Datenschutz Mittlerweile beginnt sich weiter herauszukristallisieren, daß die Mobilisierung nicht nur des Bürgers, sondern vor allem auch der Verbände30 zur Durchsetzung des Europarechts31 sich nicht auf das Umweltrecht32 und das Recht des Verbraucher30 Zum Einfluß der Verbände unmittelbar auf die Entscheidungsfindung auf europäischer Ebene vergl. bereits Würtenberger, in: Meesen (Hg.), Verbände und europäische Integration, 1980, 29 (31 ff.). 31 Ein anderes – hier nicht weiter zu verfolgendes – Problem liegt freilich auch darin, daß es dem Unionsgesetzgeber weniger um die Durchsetzung des Rechts überhaupt (so aber Masing [Fußn. 11]), sondern nur und gerade des Unionsrechts geht. Vergl. zum Ganzen nur Degenhart, Missachtung rechtlicher Vorgaben bei der Umsetzung der Währungsunion, MS 2012, S. 2 f.: „Die finale Ausrichtung der Europäischen Union auf das Fundamentalziel der ,immer engeren Union‘ wirkt als Direktive auch für [die] Union als Rechtsgemeinschaft. Sie bestimmt auch die Funktion der Rechtsordnung innerhalb der Union, auch ihrer verfassungsrechtlichen Ordnung. Sie bestimmt sie in einer Weise, die sie von der rechtsstaatlichen und demokratischen Ordnung des Verfassungsstaates klassischer Prägung, auch der des Grundgesetzes unterscheidet. Dies ist stets zu vergegenwärtigen, wenn wir die Union als Rechtsgemeinschaft deuten. Der freiheitliche Rechtsstaat des Grundgesetzes ist auf die Mäßigung und Begrenzung staatlicher Macht angelegt. Eine Rechtsordnung, die vor allem der Verwirklichung eines vorgegebenen Fundamentalzieles dient, ist viel stärker auf die effektive Entfaltung staatlicher bzw. hoheitlicher Funktionen ausgerichtet. […] Dies betrifft auch die Rolle […] des EuGH als des Gerichts, das die Funktion eines Verfassungsgerichts wahrnimmt. […] Deshalb erhebt es den effet utile zur obersten Leitlinie der Interpretation. Und dieses Denken in Kategorien des effet utile bestimmt dann die Praxis des Unionsrechts.“ Ders., ebda.: „Sie [die unionale Rechtsordnung] identifiziert sich mit diesem Ziel; Rechtsstaatlichkeit aber ist eine Staatsform auf Distanz.“ Dies spiegelt sich gerade auch in der Funktion des Individualrechts, vergl. nur Masing (Fußn. 11), S. 176: „Individualbefugnisse stehen nach europarechtlichem Verständnis in erster Linie im Gemeinschaftsinteresse, während sie in deutscher Tradition grundsätzlich nur unter dem Gesichtspunkt des Schutzes je privater Interessen anzuerkennen und durchzusetzen sind.“ Ders., ebda., S. 178: „Freilich werden auch europarechtliche Befugnisse meistens in der Weise ausgestaltet, daß mit ihnen gerade individuelle Vorteile geltend gemacht werden können. Doch ist dies nicht innere Maßgabe, sondern Folge des funktionalen Ansatzes […]. […] Die Unterscheidung von Normen im öffentlichen und solchen im privaten Interesse ist damit nicht nur überflüssig, sondern unsinnig.“ (Vergl. zum Ausrichtung des Europarechts an Zielen statt an Kompetenzen bereits etwa Breuer, AöR 127 [2002], 523 [525 ff.]; Hansmann, NVwZ 2006, 51 [52 ff.]; Braun, Einführung in die

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schutzes33 beschränkt, sondern auch darüber hinaus paradigmatische Bedeutung bei der dezentralisierten Umsetzung des Europarechts gewinnen soll. Dies zeigt sich an dem seitens der Kommission am 25. Januar 2012 vorgelegten, bereits seit 2009 vorbereiteten34 Gesetzespaket zur grundlegenden Überarbeitung der derzeit gültigen Datenschutz-Richtlinie 95/46/EG.35 Dieses besteht aus einem Verordnungsentwurf, der Datenschutz-Grundverordnung36, und einem Richtlinienvorschlag für eine Datenschutzrichtlinie für die Polizei und die Strafjustiz37. Beide Rechtsinstrumente sehen jeweils in einer Vorschrift (Art. 73 Grundverordnung bzw. Art. 50 Datenschutzrichtlinie für Polizei und Strafjustiz) in jeweils drei Absätzen eine gestaffelte Mobilisierung der Bürger, der Verbände als Vertreter der Bürger und der Verbände als von der Verletzung bzw. auch nur Geltendmachung individueller Rechte unabhängige Rechtswahrer vor: „Jede betroffene Person hat unbeschadet eines anderweitigen administrativen oder gerichtlichen Rechtsbehelfs das Recht auf Beschwerde bei einer mitgliedstaatlichen Aufsichtsbehörde, wenn sie der Ansicht ist, dass die Verarbeitung der sie betreffenden personenbezogenen Daten nicht mit dieser Verordnung vereinbar ist. Einrichtungen, Organisationen oder Verbände, die sich den Schutz der Rechte und Interessen der betroffenen Personen in Bezug auf den Schutz ihrer personenbezogenen Daten zum Ziel gesetzt haben und die nach dem Recht eines Mitgliedstaats gegründet sind, haben das Recht, im Namen einer oder mehrerer betroffenen Personen Beschwerde bei einer mitgliedstaatlichen Aufsichtsbehörde zu erheben, wenn sie der Ansicht sind, dass die einer betroffenen Person aufgrund dieser Verordnung zustehenden Rechte infolge der Verarbeitung personenbezogener Daten verletzt wurden. Unabhängig von der Beschwerde einer betroffenen Person haben Einrichtungen, Organisationen oder Verbände im Sinne des Absatzes 2 das Recht auf Beschwerde bei einer mitgliedstaatlichen Aufsichtsbehörde, wenn sie der Ansicht sind, dass der Schutz personenbezogener Daten verletzt wurde.“38 Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 2007, S. 244; Grimm, Der Staat 48 [2009], 475 [493]). – Von Verfassungs wie von Völkerrechts wegen ist dem Staatsbürger daher – durchaus im Sinne der Maasticht- wie der Lissabon-Entscheidung (BVerfGE 89, 155 ff.; 123, 267 ff.) – auch ein status procuratoris gegen die Umsetzung des Europarechts und speziell zur Abwendung unionaler ultra-vires-Akte zuzubilligen. Zum Ganzen nun Vosgerau, Staatliche Gemeinschaft und Staatengemeinschaft (Habilitationsschrift, Köln 2012), MS S. 139, 245 ff., 342 ff. 32 Vergl. die Beispiele bei Masing (Fußn. 11), S. 23 ff.; 26 ff.; 30 ff.: UVP-Richtlinie, ÖkoAudit-Verordnung, Umweltinformationsrichtlinie. 33 Vergl. zum Unterlassungsklagengesetz (UKlaG) sogleich unter III. 2. 34 Vergl. begleitende Mitteilung der Kommission vom 25. Januar 2012, http://ec.europa.eu/ justice/data-protection/document/ review2012/ com_2012_9_ de.pdf (Abruf: 17. Mai 2012). 35 Den Hinweis auf die Bestrebungen zur Novellierung der derzeitigen Datenschutzrichtlinie insbesondere auch durch die Einführung eines Verbandsklagerechts verdanke ich dem Freund und Kollegen Kai v. Lewinski. 36 Vergl. oben, Fußn. 7. 37 Vergl. oben, Fußn. 8. 38 Art. 73 Datenschutz-GrundVO (Fußn. 7). – Die Parallelvorschrift aus Art. 50 Datenschutz-RL für die Polizei und die Strafjustiz macht in Abs. 2 die Erhebung von Beschwerden

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Bereits daraus folgt: wenn auch die Auslegung der Vorschrift aus Art. 10a UVPRL durch den EuGH in der Trianel-Entscheidung mit der Folge der Nichtanwendbarkeit der zu eng, weil schutznormakzessorisch39 ausgestalteten Umsetzungsnorm des deutschen Rechts damit zu erklären ist, daß der EuGH die Norm als mittleres Glied einer dreistufigen Umsetzungsnorm im Lichte der ihr zugrundeliegenden Normen aus Art. 9 Abs. 2 i.V.m. Art. 2 Nr. 5 AK ausgelegt hatte40, so soll sich der in der Trianel-Entscheidung zur Anwendung gelangte Rechtsdurchsetzungsmechanismus jedenfalls nach dem Willen der Kommission nicht auf die mehrstufige Umsetzung des Umweltvölkerrechts beschränken. 2. Unterlassungsklagengesetz Ähnlich wie die Vorsorgepflicht des § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BImSchG der Sache nach – wenn sie auch inhaltlich, und zwar aus normhierarchischen Gründen, „Umsetzungsrecht“ bildet – nicht aus dem Unionsrecht in die deutsche Rechtsordnung gelangte, sondern umgekehrt die deutsche Rechtsordnung insofern das Vorbild für die Vorsorgepflicht der IVP-Richtlinie ist, ist auch die zivilrechtliche Verbandsklage in Deutschland nicht erst die Frucht unionsrechtlicher Einflüsse und Umsetzungspflichten. Zivilrechtlich beginnt die Geschichte der modernen Verbandsklage in Deutschland bereits 1896 mit der Einführung der Verbandsklagebefugnis zum Schutz des lauteren Wettbewerbs, die mit der UWG-Novelle von 1965 auch auf Verbraucherschutzverbände ausgeweitet wurde.41 Zivilrechtliche Verbandsklagerechte finden sich heute außerdem im Markenrecht (§ 55 Abs. 2 Nr. 3 MarkenG), im Kartellrecht (§§ 33, 34a GWB), im Telekommunikationsrecht (§ 44 Abs. 2 TKG) und im Recht der privaten Krankenversicherung (§ 17 Abs. 2 Satz 5 KHEntG).42 Das Verbandsklagerecht aus § 3 Unterlassungsklagengesetz (UKlaG) setzt nunmehr auch – teilweise43 – die Richtlinie 93/13/EWG um. Dabei ist der Rechtscharakter des Unterlassungsklageanspruches im Zivilrecht strittig, wobei die Struktur des Meinungsstreits ziemlich genau die seit geraumer Zeit im öffentlichen Recht geführte Debatte um das Verhältnis des öffentlich-rechtlichen Verbandsklagerechts zur Schutznormtheorie widerspiegelt. Nach der hergebrachten Auffassung, durch Verbände im Namen einer oder mehrerer betroffener Personen zusätzlich von einer Vollmacht der betroffenen Person(en) abhängig; daraus scheint im Umkehrschluß aber zu folgen, daß gem. Art. 73 Abs. 2 Datenschutz-GrundVO ein Handeln „im Namen“ betroffener Personen auch ohne deren ausdrückliche Vollmacht möglich sein soll (!). 39 Vergl. Koch (Fußn. 16), S. 379); Schlacke (Fußn. 21), S. 804. 40 Murswiek (Fußn. 26), S. 1149. 41 Halfmeier, in: Prütting/Gehrlein (Hg.), ZPO-Kommentar, 4. Aufl. 2012, Bem. vor UKlaG Rn. 1. 42 Ders., ebda., Rn. 3; eingehend ders., Popularklagen im Zivilrecht (2006). 43 Nicht durch diese Richtlinie gefordert ist die Erstreckung des Verbandsklagerechts in § 3 Nr. 2 und 3 UKlaG auch auf gewerbliche Interessenverbände und Kammern (zum Ganzen Micklitz, in: MünchKomm-ZPO, 3. Aufl. 2008, § 3 UKlaG Rn. 6).

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die sich zumeist auf den Wortlaut der Vorschrift aus § 1 UKlaG stützt44, soll der Unterlassungsklageanspruch ein materiell-rechtlicher Anspruch sein wie andere mehr.45 Nach einer wohl im Vordringen befindlichen Ansicht hat die Vorschrift hingegen keinen materiell-rechtlichen Anspruch zum Gegenstand, sondern sie regelt eine „eher aktionenrechtlich zu begreifende besondere prozessrechtliche Kontrollkompetenz, die nicht auf einem individuell zugewiesenen subjektiven Recht fußt“46. Da das hier geregelte Verbandsklagerecht dem öffentlichen Interesse im allgemeinen und der Umsetzung des Unionsrechts im besonderen dient, paßt es ebensowenig in das herkömmliche zivilrechtliche System47, wie die umweltrechtliche Verbandsklage jenseits der Schutznormtheorie in das hergebrachte System des verwaltungsrechtlichen Rechtsschutzes. Während diese Erkenntnis im Zivilrecht zusehends an Boden gewinnt, überwiegen im Verwaltungsrecht neuerdings eher Tendenzen, die auch die umweltrechtliche Verbandsklage im Wege einer entmaterialisierenden Neufassung der Schutznormlehre mit dieser doch für vereinbar erklären wollen. IV. Verbandsklagerecht und Schutznormtheorie 1. Rein formale Fassung der Schutznormtheorie In der neueren deutschen verwaltungsprozeßrechtlichen Tradition sind Popularklage48 wie Interessentenklage49 prinzipiell ausgeschlossen.50 Herkömmlicherweise ist der Bürger darauf beschränkt, im Wege der Verletztenklage einen Eingriff in seine eigenen, subjektiv-öffentlichen Rechte geltend zu machen. Nach dem bislang gängigen Verständnis der Schutznormtheorie soll einem Rechtssatz dann auch ein subjektiv-öffentliches Recht entnommen werden können, wenn er nicht allein im öffentlichen Interesse erlassen worden ist, sondern zumindest auch den Individu-

44 „Wer in Allgemeinen Geschäftsbedingungen Bestimmungen […] verwendet […] kann auf Unterlassung […] in Anspruch genommen werden“: es fragt sich allerdings, ob mit dieser Formulierung wirklich eine inhaltliche Auskunft über die Natur des Verbandsklagerechts verbunden ist, oder ob die Normverfasser einfach den jedem Zivilrechtler vertrauten, traditionalistischen Ton des BGB fortschreiben, ohne damit jedoch inhaltliche Aussagen rechtstheoretischer Natur präjudizieren zu wollen. Allgemein gilt: wo es um rechtstheoretische Aussagen geht, ist mit dem Wortlaut der Norm oft wenig anzufangen. 45 So etwa Palandt/Bassenge, 71. Aufl. 2012, § 1 UklaG Rn. 4 m.w.N. 46 Halfmeier (Fußn. 41), § 1 UKlaG Rn. 2; vergl. bereits ders. (Fußn. 42), S. 275 ff. und bereits Reinel, Die Verbandsklage nach dem AGB-Gesetz (1979), S. 123 ff.; Göbel, Prozeßzweck der AGB-Klage und herkömmlicher Zivilprozeß (1980), S. 131 ff. 47 Micklitz (Fußn. 43), § 1 UKlaG Rn. 2 f., § 3 UKlaG Rn. 3; 5. 48 Skouris, (Fußn. 12), S. 7 ff. 49 Ders., ebda., S. 11 f. 50 Statt aller Sodan, in: ders./Ziekow (Hg.), Verwaltungsgerichtsordnung Großkommentar, 3. Aufl. 2010, § 42 Rn. 365 m.w.N.

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alinteressen einzelner Rechtssubjekte dienen soll.51 Daran ist allerdings problematisch, daß dieser Fassung der Schutznormtheorie die Unterscheidung von öffentlichem und privatem Interesse zugrundeliegt, diejenige Unterscheidung also, die von der klassischen „Interessentheorie“ bereits zur Abgrenzung des öffentlichem vom privaten Recht herangezogen wurde und sich dort gerade nicht als hinreichend trennscharf52 erwiesen hatte.53 Noch problematischer wäre es indessen, zur Begründung einer Klagebefugnis einfach die Normativität durch das Faktische ersetzen zu wollen.54 Seinerzeit in der verwaltungsrechtlichen Literatur verbreitete Versuche, die von der Schutznormlehre vorgesehene Normzweckforschung55 durch die Frage etwa nach der konkreten Betroffenheit eines Rechtssubjekts in eigenen Angelegenheiten zu ersetzen und für diesen Fall die Klagebefugnis zu bejahen56, haben verkannt, daß der Maßstab ihrer Beantwortung immer nur ein normativer sein kann.57 Daher wird in neuerer Zeit eine entmaterialisierte, rein formale Fassung der Schutznormtheorie in Vorschlag gebracht. Es sei entscheidend darauf abzustellen, ob eine Norm dem Begünstigten eine Rechtsmacht zur Geltendmachung des fraglichen Normbefehls gegenüber dem Verpflichteten zuweist58 ; das subjektive Recht wird dergestalt zum normativ zu begründenden Recht auf Normvollzug59, zum gesetzgeberisch zu positivierenden Gesetzesvollziehungsanspruch.60 Insofern ließe sich dann auch sagen, daß die Schutznormtheorie entgegen einer verbreiteten 51 Vergl. Würtenberger, Verwaltungsprozessrecht, 2. Aufl. 2006, Rn. 276; vergl. auch Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 17. Aufl. 2009, § 8 Rn. 8; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig (Hg.), Grundgesetz-Kommentar, Art. 19 Abs. 4 Rn. 118 (Stand: 2/2003); Schmidt-Preuß, FS Isensee, 2007, 597, (606). 52 Vergl. bereits Kelsen, Allgemeine Staatslehre, 1925, S. 81 („Indes ist es schlechthin unmöglich, von irgendeinem positiven Rechtssatz zu behaupten, daß er dem Kollektiv- oder Individualinteresse diene. Jeder Rechtssatz dient stets beidem zugleich.“). 53 Scherzberg, in: Erichsen/Ehlers (Hg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 14. Aufl. 2010, § 12 Rn. 9; vergl. bereits Bauer, AöR 113 (1988), 582 (593 ff.). 54 Pietzcker, FS Isensee, 2007, 577 (578). 55 Näher Kopp/Schenke, Verwaltungsgerichtsordnung, 18. Aufl. 2012, § 42 Rn. 83 (zur älteren, d. h. auf den Willen des historischen Gesetzgebers abstellenden Schutznormtheorie und zur heutigen, stärker die objektive Auslegungsmethode und die Grundrechte berücksichtigenden Schutznormtheorie). 56 In diese Richtung Bernhardt, JZ 1963, 302 ff. 57 Vergl. Schmidt-Aßmann (Fußn. 51), Rn. 120 mit Fn. 2; Pietzcker (Fußn. 54), S. 578 f.; ähnlich Scherzberg, (Fußn. 53), Rn. 10 f. 58 Scherzberg (Fußn. 53), Rn. 11. 59 Vergl. Masing (Fußn. 11), S. 186 f.: „Auch diese Barrieren lassen sich jedoch überwinden, wenn man die Frage nach dem subjektiv-öffentlichen Recht weiter formalisiert und die Figur des subjektiven Rechts nur noch als inhaltslose Rechtstechnik handhabt, die allein die Geltendmachung beliebiger objektiver Rechtsnormen regelt. […] individuelle Befugnisse können zur Durchsetzung jeder Norm verliehen werden.“ 60 Scherzberg (Fußn. 53), Rn. 3.

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Wahrnehmung infolge des unionsrechtlichen Einflusses auf das Verwaltungsrecht nicht durchgreifend modifiziert werden müsse, weil eben auch umweltrechtliche und sonstige unional geprägte Mitwirkungsrechte und Verbandsklagerechte einfach Schutznormen seien.61 2. Notwendigkeit einer entsprechenden Umdeutung auf der verwaltungsrechtlichen Ebene Gegen diese formalisierte Fassung der Schutznormtheorie spricht jedoch bereits auf der Ebene des positiven bundesdeutschen Verwaltungsprozeßrechts, daß sie an der in § 42 Abs. 2 VwGO vorgegebenen Alternative vorbeigeht.62 De lege lata ist die Verletztenklage nicht mehr ausschließliche Rechtsschutzform, sondern nur noch die gesetzgeberisch jederzeit zu durchbrechende Regelform des deutschen Verwaltungsrechtsschutzes. Insofern bleibt auf der verwaltungsrechtlichen Ebene unklar, worin das praktische Bedürfnis einer radikalen Formalisierung der Schutznormtheorie bestehen sollte. Auf der rechtstheoretischen Ebene fällt nicht nur der zirkelschlüssige Charakter der rein formalen Fassung der Schutznormtheorie auf63, zu deren Gunsten sich immerhin noch anführen ließe, daß sie durchaus der „positiven Mobilisierungstheorie“ des unionalen Gesetzgebers entspricht; denn nach dieser ist zu dezentralen Vollzugskontrolle berufen, wen das Unionsrecht kraft politischer Entscheidung eben dazu beruft.64 Weiterhin wäre aber auch nach der hergebrachten Vorstellung jedenfalls des deutschen Verwaltungsrechts zwischen dem Recht an sich und dessen gerichtlicher Durchsetzbarkeit nach den Regeln des Prozeßrechts zu unterscheiden.65 Wer also das Verbandsklagerecht nur als einen Unterfall der Schutznormtheorie ansehen wollte, müßte ergänzen, daß es sich bei diesem Unterfall zugleich um eine durchaus vereinfachte, gewissermaßen eindi61 Vergl. Pietzcker (Fußn. 54), S. 588 f.; 590; 594 f.; vergl. bereits Masing, in: HoffmannRiem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. 1, 2006, § 7 Rn. 107 („erweiterte Schutznormtheorie“). 62 „Soweit gesetzlich nichts anderes bestimmt ist…“: dem Gesetzgeber scheint es also freizustehen, dem Einzelnen über den Fall der Verletzung seiner Rechte hinaus einfach-gesetzlich einen Normvollziehungsanspruch einzuräumen, auch ganz unabhängig davon, ob der betroffene Private (dies kann ja auch ein Verband sein) in seinen Interessen, seinen Angelegenheiten usw. betroffen ist. Klagen kann insofern wirklich, wer spezialgesetzlich dazu ermächtig wird; aber dadurch wird er gerade nicht zum „Verletzten“. 63 Zur Problematik etwa Bartlsperger, FS Schenke, 2011, 17 (43 ff.). 64 A.A. wohl Schoch, NVwZ 1999, 457 (461), der zwischen einem „formellen Gesetzesvollziehungsrecht“ und einem „individuellen Recht im Gemeinschaftsrecht“ als dessen „Fortentwicklung“ unterscheiden will, wobei er zugleich einräumt, „daß das Gemeinschaftsrecht individuelle Rechte nicht nur als Selbstzweck schützt, sondern darauf basierende Klagen Einzelner immer auch als Mittel zur allgemeinen Legalitätskontrolle begreift“ (a.a.O., m.w.N.). Worin aber dann der Unterschied zwischen Gesetzesvollziehungsanspruch und echtem Individualrecht gerade im Europarecht bestehen soll, wird nicht ganz klar. Ähnlich nun Dünchheim (Fußn. 18), S. 691 ff. 65 Vergl. Masing (Fußn. 61), Rn. 119.

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mensionale Neufassung der Schutznormlehre handelt. Vorzugswürdig erscheint es daher, zumal europarechtlich grundierte Verbandsklagerechte66 nicht als subjektivöffentliche Rechte im Sinne der Schutznormtheorie, sondern als hiervon losgelöste verselbständigte Prozeßrechte im Sinne von § 42 Abs. 2 1. Alt VwGO einzuordnen.67 Insofern wird durch die Verbandsklage, anknüpfend freilich an die Worte „Soweit gesetzlich nichts anders bestimmt ist …“ aus § 42 Abs. 2 VwGO, eine aktionenrechtliche Konzeption68 in das Verwaltungsrecht eingeführt: nur insofern, nicht aber kraft einer Neufassung der Schutznormlehre, kann Normvollzug verlangen, wer qua politischer Entscheidung des (europäischen) Gesetzgebers Normvollzug verlangen kann, ohne daß es jedoch um die Umsetzung eines vom Vollzugsanspruch als solchen unabhängigen, weil materiellen Rechts ginge. Dabei liegt es auf der Hand, daß die in praktischer Hinsicht im Rahmen der Abgrenzung der beiden Alternativen des § 42 Abs. 2 VwGO zu treffende Entscheidung zwischen der Verletztenklage aufgrund einer Schutznorm und der Wahrnehmung prokuratorischer Rechte stets eine Unterscheidung nach Idealtypen ist, die sich in der Sache stets auch überschneiden werden.69 3. Notwendigkeit aus verfassungsrechtlichen Erwägungen? Indessen könnte sich aber ein praktisches Bedürfnis für eine formalisierte Neufassung der Schutznormtheorie wenn nicht aus dem Verwaltungsprozeßrecht, so doch aus dem Verfassungsrecht ergeben. Dies wäre jedenfalls dann naheliegend, wenn die im Kern gewiß nicht unberechtigte rechtstheoretische, auch stark rechtspolitisch grundierte Lehre von einem „spezifisch personalen Element“ im subjektiven Recht70 verfassungsdogmatisch dahingehend zugespitzt werden müßte, die isolierte Klagebefugnis, bzw. eine Verletzung eines aktionenrechtlich, d. h. ganz von der prozessualen Seite her konstruierten, prokuratorischen Normvollzugsanspruches (wie sie eben für das altruistische71 Verbandsklagerecht typisch ist), unterfalle nicht dem Schutzbereich des Art. 19 Abs. 4 GG72. Diese deutlich der h.L.73 66 Gegenbeispiel: § 13 Abs. 2 Bundesbehindertengesetz (BBG), oder auch – vergl. bereits oben (Fußn. 43) – die Erstreckung des Verbandsklagerechts in § 3 Nr. 2 und 3 UKlaG auch auf gewerbliche Interessenverbände und Kammern. 67 Vergl. Schmidt-Aßmann (Fußn. 51), Art. 19 Abs. 4 Rn. 149; Masing (Fußn. 61), Rn. 119. 68 Masing, ebda. 69 Masing (Fußn. 61), Rn. 114; vergl. zum Ganzen auch weiterführend Vosgerau, AöR 133 (2008), 346 (380 f. Fußn. 154). 70 Schmidt-Aßmann (Fußn. 51), Art. 19 Abs. 4 Rn. 147; vergl. bereits ders., ebda., Rn. 117. 71 Noch anders der Fall aus BVerwGE 112, 135 (136 f.): selbst die egoistische Verbandsklage aus subjektiven Rechten aus einem verbandseigenen Sperrgrundstück sei unzulässig, weil rechtsmißbräuchlich; dies erklärt sich aber aus den Umständen des Einzelfalles (a.a.O., S. 136: Scheinauflassung) und ist nicht zu verallgemeinern. 72 So Schmidt-Aßmann (Fußn. 51), Rn. 150. 73 So auch Masing (Fußn. 61), Rn. 119 Fußn. 276.

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entsprechende Rechtsansicht74 ist hingegen bereits vom Wortlaut dieser Vorschrift her nicht zwingend. Hiernach soll der Rechtsweg eröffnet sein, wenn „jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt“75 wird. Es ist also nicht etwa von „diesen Grundrechten“ oder „einem Grundrecht“ die Rede und auch nicht von einem spezifisch materiell-rechtlichen Anspruch. Insofern leuchtet es schon vom Wortlaut her nicht ein, ein seitens des Gesetzgebers positiv eingeräumtes prokuratorisches Aktionenrecht nicht als jemandes Recht zu sehen – und zwar im Sinne des Justizgewährleistungsanspruches und nicht der Schutznormtheorie –, das verletzt werden kann. Die herrschende Lehre will hingegen methodisch unzulässig den Justizgewährleistungsanspruch des Grundgesetzes im Lichte der materiell verstandenen verwaltungsrechtlichen Schutznormtheorie auslegen; allein der umgekehrte Fall wäre methodisch zulässig, dies ist jedoch wegen der alternativen Wortlautfassung der Vorschrift aus § 42 Abs. 2 VwGO schlicht nicht erforderlich. Auch eine mögliche europarechtskonforme Auslegung des Verfassungsrechts im Lichte etwa der europarechtlichen Vorschriften, die verlangen, u. a. den Verbänden einen „weiten Zugang zu Gerichten“ zu gewährleisten76, legt eine Einbeziehung des Verbandsklagerechts in den Kreis der von Art. 19 Abs. 4 GG geschützten Rechte nah. Gegen diese Auslegung spricht auch nicht, daß das Verfassungsrecht die Verbandsklage nicht unmittelbar vorsieht77. Denn Art. 19 Abs. 4 baut ohnehin auf den durch die einfache Rechtsordnung zu gewährleistenden Rechten78 auf und ist (auch durch seine systematische Stellung in Art. 19 GG) weder notwendig nur auf Grundrechtsverletzungen79 noch auf Verletzungen eigentlich materieller Rechte 74 Vergl. etwa Sachs, in: ders. (Hg.), Grundgesetz-Kommentar, 5. Aufl. 2009, Art. 19 Rn. 126; zu Recht skeptisch jedoch Huber, in: v. Mangold/Klein/Starck, Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 6. Aufl. 2010, Art. 19 Rn. 411. 75 „Jemand“ ist gem. Art. 19 Abs. 3 GG jedenfalls auch ein Verband; dem einschränkenden bundesverfassungsgerichtlichen Kriterium des „personalen Substrats“ (BVerfGE 21, 362 [369]; 68, 193 [205 f.]; Zippelius/Würtenberger [Fn. 1], § 18 Rn. 38) dürfte ein Umweltverband jedenfalls genügen; vergl. nur die Definition aus § 3 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 – 5 UmwRG. 76 Vergl. nur Art. 10a UVP-Richtlinie (85/337/EG); Art. 11 Abs. 1 und 3 der neuen UVPRichtlinie (2011/92/EU); Art. 16 Abs. 3 IVU-Richtlinie (2008/1/EG); Art. 25 Abs. 1 und 3 Industrieemissionsrichtlinie (2010/75/EU). 77 Masing (Fußn. 61), Rn. 115. 78 Vergl. bereits BVerfGE 15, 275 (281): Art. 19 Abs. 4 GG gewährt nicht selbst Rechte, sondern setzt zu schützende Rechte voraus; vergl. auch E 51, 176 (185); 61, 82 (110 f.); 69, 1 (49); 78, 214 (226); 83, 182 (194 f.); 84, 34 (49); 103, 142 (156); BVerwGE 60, 154 (375); Schmidt-Aßmann (Fn. 51), Rn. 119 m.w.N.; Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hg.), GrundgesetzKommentar, Bd. 1, 2. Aufl. 2004, Art. 19 IV Rn. 61. 79 Dies muß umso mehr gelten, als zum Zeitpunkt seiner Formulierung die Universalisierung des Grundrechtsschutzes durch die Elfes- und die Lüth-Entscheidung des BVerfG noch nicht vorhersehbar waren. Gerade vor dem Hintergrund des weit engeren und eher auf Ausnahmefälle der Rechtsanwendung überhaupt bezogenen Grundrechtsverständnisses der frühen Jahre des Grundgesetzes besteht der Zweck des Justizgewährleistungsanspruches kaum in einer Beschränkung des hergebrachten Rechtsstaatsprinzips auf Fälle mit unmittelbarem Verfassungsbezug, sondern umgekehrt in einer rechtsordnungsakzessorischen, allgemeinen verfassungsrechtlichen Rechtsweggarantie.

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überhaupt beschränkt. Der Umstand, daß ein altruistisches und allein gemeinwohlbezogenes Verbandsklagerecht im Sinne der Trianel-Entscheidung im Rahmen der vom geltenden Verwaltungsprozeßrecht weiter vorgegebenen Systematik80 der Alternative aus § 42 Abs. 2 VwGO nach vorzugswürdiger Auffassung kein subjektiv-öffentliches Recht im materiellen Sinne bildet, bedeutet nicht, daß ein solches Recht, wo es eben gesetzgeberisch als prokuratorisches Recht vorgesehen ist, nicht sehr wohl doch der Rechtsschutzgarantie aus Art. 19 Abs. 4 GG unterfällt. V. Künftige Kontroversen um das Verbandsklagerecht 1. Verbandsklagerecht und Tierschutz Anders als beim allgemeinen Naturschutzrecht kennt das Tierschutzrecht bislang kein kraft Unionsrecht einzuführendes oder auch ohnedies eingeführtes, durch ausgewiesene und fachkundige Tierschutzverbände auszuübendes Verbandsklagerecht. Dies wird von Tierschützern seit je her kritisiert.81 Gem. Art. 13 AEUV tragen Union und Mitgliedsstaaten bei der Festlegung und Durchführung der Politik der Union „den Erfordernissen des Wohlergehens der Tiere als fühlende Wesen in vollem Umfang Rechnung“. Freilich wird durch diese Festlegung der Tierschutz noch nicht zu einem echten Unionsziel; die Unionsziele sind abschließend in Art. 3 EUV aufgezählt, nach dem (Abs. 3 UAbs. 1 Satz 2) die Union zwar auf „ein hohes Maß an Umweltschutz und Verbesserung der Umweltqualität“ hinwirkt, nicht aber genuin auf den Tierschutz.82 Dies würde aber jedenfalls nicht gegen die Einführung eines unionsrechtlich grundierten Verbandsklagerechts sprechen, da dem Tierschutz mithin etwa dieselbe unionsrechtliche Bedeutung zukommt wie dem Datenschutz (Art. 16 AEUV), der nunmehr mit gemeinwohlbezogenen und nicht nur stellvertretend-subjektiven Verbandsklagerechten bewehrt werden soll.83 Rechtspolitisch liegt es jedenfalls auf der Hand, daß die Einführung eines Verbandsklagerechts für 80

Vergl. Huber (Fußn. 74), Rn. 411: die EU besitzt denn auch keine Kompetenz zur Regelung des nationalen Verwaltungsprozeßrechts. 81 Vergl. nur Sendung im Deutschlandfunk am 16. Mai 2012, 18.40 Uhr zum Thema „10 Jahre Art. 20a GG“ (http://www.dradio.de/dlf/sendungen/hintergrundpolitik/1759171/; Abruf: 18. Juni 2012). 82 Vergl. Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hg.), Das Recht der Europäischen Union, Bd. 1, Art. 13 AEUV Rn. 2 (Stand: 7/2010). 83 Freilich ist zu berücksichtigen, daß der in Art. 16 Abs. 1 AEUV menschenrechtlich formulierte Datenschutz, anders als der Tierschutz, eine gewisse Nähe zur Menschenwürde aufweist (vergl. Nettesheim, a.a.O., Art. 16 AEUV Rn. 17 m.w.N.). Aber darum geht es hier nicht: so wenig der Menschenwürdebezug des Datenschutzes die Union zur Einführung gerade eines Verbandsklagerechts zwingt, so wenig hindert der beim systematisch und formell zunächst gleichrangigen Tierschutz fehlende Menschenrechts- und Menschenwürdeaspekt die Union an der Einführung eines Verbandsklagerechts zur verbesserten Umsetzung dieses durch den Vertrag von Lissabon politisch noch erheblichen aufgewerteten „allgemeinen Werts der Union“ (vergl. Nettesheim, a.a.O., Art. 13 AEUV Rn. 3; 6).

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Tierschutzorganisationen systematisch dringlicher sein dürfte als etwa im Zusammenhang mit dem Datenschutz, und zwar aus dem einfachen Grund, daß die Schutzobjekte des Tierschutzes, anders als alle Personen, die sich gegen unzureichenden Datenschutz zur Wehr setzen wollen, ihre Anliegen per definitionem nicht selbst verfolgen können.84 Für eine durchgreifenden Effektuierung des Tierschutzrechts – zur der die Verbandsklage ein offensichtlich geeignetes Mittel sein dürfte – spricht aber von Rechts wegen schon die im Unionsrecht85 wie im Verfassungsrecht86,87 gleichlaufende Festlegung gerade auf den ethischen Tierschutz, der also die Verpflichtung aller staatlichen Stellen zur womöglichen Vermeidung des Leidens individueller Tiere als Mitgeschöpfe88 zum Gegenstand hat. 2. Mißbrauch des Verbandsklagerechts In eine ganz andere Richtung als die Erwägung bislang vernachlässigter Chancen und Möglichkeiten des Verbandsklagerechts weist hingegen die sich aus guten Gründen nunmehr abzeichnende Diskussion um einen möglichen Mißbrauch von Verbandsklagerechten durch Umweltschutzverbände aus finanzielle Motiven heraus. Auf diese Problematik wurde unlängst in einem vielbeachteten Zeitungsartikel hingewiesen: „Kurz – ich kann mich des fatalen Eindrucks nicht erwehren: Hier geht es gar nicht um Natur und ihren Schutz. Hier geht es möglicherweise schlicht um Geld. […] es ging um Geld, als der BUND89 im Jahr 2003 vor Gericht zog, um gegen den geplanten Windpark in Nordergründe am Wattenmeer zu klagen. Eine der wichtigsten europäischen Vogelrouten war höchst gefährdet. Aber weil es eben um Geld ging, um sehr viel Geld, zog der BUND gegen eine Zahlung von 800.000 Euro des Betreibers seine Klage zurück. Das Geld floss bei Baubeginn an eine Stiftung, die von BUND-Mitarbeitern verwaltet wird […]. Das gleiche Muster, nur mit abenteuerlicheren Beträgen gegen die Emsvertiefung: Klageverzicht des BUND, gütliche Einigung mit dem Betreiber, 9 Millionen Euro an eine Stiftung. So einfach ist das.“90

84 Vergl. nur Koch (Fußn. 16), S. 379: „In der Regel bedarf es keines Verbandsklagerechts, um subjektive Rechte geltend machen zu können.“ 85 Vergl. Nettesheim (Fußn. 82), Art. 13 AEUV Rn. 7; 12. 86 Vergl. Murswiek, in: Sachs (Fußn. 74), Art. 20a Rn. 31b. 87 Vergl. zu Art. 20a GG: Würtenberger, in: Leipold (Hg.), Umweltschutz und Recht in Deutschland und Japan (2000), 3 ff. 88 Vergl. § 1 Satz 1 Tierschutzgesetz sowie Murswiek (Fußn. 86) m.w.N. 89 Bund für Umwelt- und Naturschutz Deutschland e.V. 90 Vergl. Enoch zu Guttenberg (Fußn. 10); dazu Schuh (Fußn. 10): „Hiermit sticht der Maestro in eine schwärende Wunde, die alle großen Naturschutzverbände ähnlich betrifft […]. Fundraising heißt das Multimillionengeschäft, das alle Verbände mit teils fragwürdigem Fleiß betreiben. […] Die Umweltorganisationen wissen, wie riskant ihre Gratwanderung zwischen Firmen-, Spender- und Eigeninteresse sind. […] Doch eine Bereinigung der lange erkannten Probleme ist nicht in Sicht.“

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Derartige Mißbrauchs- und Bereicherungsvorwürfe sind auch deswegen rechtlich so erheblich, weil eine regelmäßige und fortlaufende Überprüfung der verbandsklagebezogenen Aktivitäten von Umweltverbänden auf deren ideelle Lauterkeit hin derzeit nicht stattfindet. Die rechtliche Anerkennung eines verbandsklageberechtigten Umweltverbandes richtet sich nach § 3 UmwRG. Nach dieser Vorschrift ist die Anerkennung zu erteilen, wenn der fragliche Verband ideell und nicht nur vorübergehend seit mindestens drei Jahren die Ziele des Umweltschutzes fördert, unter Abstellung auf Art und Umfang seiner bisherigen Tätigkeit, des Mitgliederkreises und seiner Leistungsfähigkeit Gewähr für eine sachgerechte Aufgabenerfüllung bietet sowie jedermann, der den Verbandszweck unterstützt, stimmberechtige Mitgliedschaft ermöglicht; außerdem muß der Verband gemeinnützig im Sinne von § 52 Abgabenordnung (AO) sein. Eine regelmäßige Überprüfung daraufhin, ob die laufende Tätigkeit des Verbandes, insbesondere im Zusammenhang mit der Erhebung und dem Rechtsschicksal von Verbandsklagen, weiterhin vollumfänglich auf eine sachgerechte und selbstlose91 Wahrnehmung von Umweltbelangen schließen läßt, ist hingegen nicht vorgesehen. Dies könnte bislang damit gerechtfertigt werden, daß die prokuratorischen Verbandsrechte jedenfalls nicht auf eine materielle Letztentscheidung privater Rechtsträger hinauslaufen, sondern immer nur einen gewissen Vorfeldeinfluß auf staatliche Entscheidungen zum Gegenstand haben, wobei die Letztentscheidung in der Sache stets einem Gericht überlassen bleiben wird.92 Diese Erwägung läuft aber bei einer vorzeitigen Klagerücknahme durch den Verband gerade leer. Für die zivilrechtliche, verbraucherschützende Verbandsklage nimmt eine beachtliche Mindermeinung in der zivilprozeßrechtlichen Literatur daher seit je her an, daß eine Klagerücknahme gemäß § 269 ZPO wegen des öffentlich-rechtlichen, gemeinwohlbezogenen Zwecks der Verbandsklage nicht ohne weiteres möglich sein soll.93 Wie dem auch sei: bei der zivilrechtlichen und verbraucherschutzbezogenen Verbandsklage jedenfalls beschränkt sich die behördliche Aktivität keineswegs auf die Eintragung eines Verbraucherschutzverbandes als zur Erhebung einer Verbandsklage qualifizierte Einrichtung in die entsprechende, beim Bundesamt für Justiz geführte Liste94 (§§ 3 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 1. Alt., 4 Abs. 1 und 2 UKlaG). Dem Bundesamt für Justiz in 91

Vergl. § 52 Abs. 1 Satz 1 AO. Vergl. Masing (Fußn. 61), Rn. 112. 93 Vergl. Göbel (Fußn. 46), S. 141 (Rücknahme nur, wenn der Beklagte sich im Gegenzug zur Unterlassung verpflichtet); für die h.A. vergl. bereits Schmidt, NJW 1989, 1192 (1195); noch weitergehend Halfmeier (Fußn. 41), § 5 UKlaG Rn. 9: es sei entgegen § 269 Abs. 1 ZPO auch nach Beginn der mündlichen Verhandlung zur Hauptsache keine Einwilligung des Beklagten erforderlich, weil es nicht um die dauerhafte Klärung einer Streitfrage gehe. 94 Im Hinblick auf qualifizierte Verbraucherschutzverbände aus anderen EU-Staaten tritt an die Stelle der Eintragung in die beim Bundesamt für Justiz zu führende Liste gem. § 3 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 2. Alt. UKlaG das Verzeichnis der EU-Kommission gem. Art. 4 Abs. 3 der Richtlinie 98/27/EG vom 19. Mai 1998. – Zwar könnte auch die Anerkennung eines Umweltschutzverbandes (§ 3 UmwRG) etwa durch das Bundesumweltamt gem. § 49 Abs. 2 Nr. 3 VwVfG widerrufen werden. Es sind nur eben derzeit keine Verwaltungsverfahren vorgesehen, die zu einem solchen Widerruf führen könnten. 92

Die Mobilisierung der Verbände zur Durchsetzung des Europarechts

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Bonn, das die Streichung bei Vorliegen der Voraussetzungen von Amts wegen vornehmen kann, steht nach § 4 Abs. 2 Satz 4 Nr. 2 UKlaG eine Kontrollkompetenz zu, die sich nicht in der einmaligen Überprüfung bei Antragsstellung erschöpft, sondern den gesamten Tätigkeitszeitraum eines Verbandes umfaßt.95 Es wäre daher rechtspolitisch über einen entsprechenden Kontrollmechanismus auch für die umweltrechtliche Verbandsklage – deren nationale, d. h. bundesrechtliche Rechtgrundlagen ja nun in Reaktion auf die Trianel-Entscheidung des EuGH ohnehin zu überarbeiten sein werden – nachzudenken.96 VI. Ergebnisse Die Trianel-Entscheidung des EuGH hat also weitergehende Folgen, als teilweise bislang angenommen wird. Insbesondere wird die im Umweltverwaltungsrecht geradezu paradigmatische Unterscheidung zwischen der Schutzpflicht des § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 BImSchG als Schutznorm und der bislang nicht einklagbaren Vorsorgepflicht aus § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 BImSchG jedenfalls im Hinblick auf das umweltrechtliche Verbandsklagerecht aufzugeben sein, da eine Verletzung der Vorsorgepflicht nun jedenfalls mit der Verbandsklage geltend gemacht werden können muß. In rechtstheoretischer Hinsicht erweist sich der Beitritt der EG/EU zur Aarhus-Konvention mitsamt den hierauf beruhenden Richtlinien, der also insofern in einem mehrstufigen Umsetzungsprozeß mehrstufiges Umsetzungsrecht entstehen läßt, als wichtiger Beitrag zur Überwindung der prozessualen Schwäche des Völkerrechts auf dem Gebiet des Umweltvölkerrechts. Insofern erscheint die Umsetzung völkerrechtlicher Normen in EU-Richtlinien als wichtiges praktisches Instrument, um das heute weithin anerkannte Postulat von der beschränkten Völkerrechtssubjektivität des Einzelnen (nämlich insofern, wie er durch das Völkerrecht mit subjektiven Rechten ausgestattet wird) in praktischer, und d. h. prozessualer Hinsicht nicht leerlaufen zu lassen. Hierin erschöpfen sich aber nicht die seitens des EU-Gesetzgebers mit der Mobilisierung des Einzelnen und v. a. auch der Verbände für die Umsetzung des Europarechts verfolgten Zwecke, ebensowenig wie auf die effektive Durchsetzung der unionalen Beteiligungsrechte auf dem Gebiet gerade des Umweltrechts. Denn auch aus den teilweise europarechtlich grundierten Verbandsklagerechten des Zivil- und Verbraucherschutzrechts (die, ebenso wie die gemeineuropäische Vorsorgepflicht seit der IVU-Richtlinie, ihre Wurzeln ihrerseits im deutschen Rechtsdenken haben) wie auch aus den im neuen Datenschutzregime 95

Vergl. Micklitz (Fußn. 43), § 4 UKlaG Rn. 27. Dies gilt insbesondere auch für die prozessualen Mechanismen. So ist gem. § 8 Abs. 4 UWG die Erhebung der wettbewerbsrechtlichen Unterlassungsklage – auch durch einen Verbraucherschutzverband (§ 8 Abs. 3 Nr. 3 UWG) – unzulässig, wenn sie unter Berücksichtigung der gesamten Umstände mißbräuchlich ist. Auch kann ein (Zivil-)Gericht gem. § 4 Abs. 4 UKlaG bei Zweifeln an der Qualifikation eines Verbraucherschutzverbandes das Verfahren aussetzen und das Bundesamt für Justiz zur Überprüfung der Eintragung auffordern. Entsprechende verwaltungsprozessuale Regeln fehlen jedoch bislang. 96

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der EU vorgesehenen Verbandsklagerechten folgt, daß die EU die Mobilisierung der Verbände für die Umsetzung europarechtlicher Schutzregime ganz allgemein und jedenfalls in einer Weise vorsieht, die sich nicht auf die stellvertretende Geltendmachung individuell-subjektiver Rechte einzelner Betroffener reduzieren läßt, sondern nach Art einer Popularklage97 auf Einhaltung des jeweils bereichsspezifischen Rechts überhaupt abzielt. Der absehbare weitere Ausbau der Verbandsklage zu einem weit über das Umwelt- und das Verbraucherschutzrecht hinausweisenden, paradigmatischen Instrument der dezentralisierten Umsetzung des Europarechts wird im deutschen verwaltungsrechtlichen Diskurs die Frage nach dem Verhältnis des Verbandsklagerechts zur Schutznormtheorie am Leben halten. Versuche, auch das Verbandsklagerecht als Unterfall einer entmaterialisierten Schutznorm zu begreifen, liegen allerdings quer zur weitergeltenden Systematik der Vorschrift aus § 42 Abs. 2 VwGO. Auch aus verfassungsrechtlichen Gründen und vor dem Hintergrund von Art. 19 Abs. 4 GG erschließt sich ihre Notwendigkeit eigentlich nicht; denn die These, daß rein prokuratorische, aktionenrechtlich strukturierte Normvollziehungsansprüche keine Rechte im Sinne des Justizgewährleistungsanspruches des Grundgesetzes seien, ist zwar vielfältig rezipiert worden, erweist sich in der Sache jedoch als kaum begründet. Denn der Begriff der Schutznorm im Sinne verwaltungsrechtlicher und verwaltungsprozessualer Lehren ist mit dem Begriff des Rechts im Sinne des Art. 19 Abs. 4 GG keineswegs notwendig identisch. Insofern gilt die Schutznormlehre auch in ihrer hergebrachten Fassung weiter, nur ist sie eben – wie im Wortlaut des § 42 Abs. 2 VwGO bereits angelegt – im Hinblick auf die verwaltungsprozessuale Klagebefugnis nicht mehr alternativlos. Rechtspolitisch gilt weiterhin: die völker- wie europarechtlich geforderte, weite Ermächtigung an bestimmte Verbände, v. a. wirtschaftlichen Akteuren im Namen des Gemeinwohls prozessuale Knüppel zwischen die Beine zu werfen, hat in jüngerer Zeit in Deutschland nicht von Ungefähr die Frage nach einem möglichem Mißbrauch zumal aus pekuniärem Interesse laut werden lassen; dieser Gefahr wäre durch eine Übertragung der Grundsätze über die Anerkennung verbandsklagefähiger Verbände des Verbraucherschutzrechts (einschließlich der insofern stattfindenden, fortlaufenden behördlichen und gerichtlichen Aufsicht) auch in das Umweltrecht zu begegnen. Zumal wenn Mißbrauchsgefahren dergestalt besser als bisher vorgebaut werden kann, fiele denn auch ein mögliches Argument gegen die Einführung der tierschutzrechtlichen Verbandsklage endlich weg.

97 So kaum haltbar („ausgeschlossen, im Unionsrecht Spuren einer Popularklage entdecken zu wollen“) Nettesheim, in: Grabitz/Hilf (Hg.), Das Recht der Europäischen Union, Bd. 3, Art. 249 EGV Rn. 149 (Stand: 8/2002).

Die Videoüberwachung des öffentlichen Raumes in der Türkei Von Feridun Yenisey, Istanbul „Polizeirecht“ als eigenständiges Rechtsgebiet war in der Türkei bisher kein Begriff. Vielmehr wurde es zum einen als ein Teil des Verwaltungsrechts und zum anderen als ein Teil des Strafverfahrensrechts betrachtet. Zum ersten Mal wurde der Begriff „Polizeirecht“ als eigenständiges Rechtsgebiet in der Türkei durch Vorlesungen von Professor Würtenberger bekannt. Professor Würtenberger hat vielmals als Gastprofessor an der Bahçes¸ehir Universität Vorträge über Verfassungsrecht sowie über Wahlsysteme und Polizeirecht gehalten. Sie wurden ins Türkische übersetzt und veröffentlicht.1 Das Buch über Polizeirecht, das ich in Freiburg mit seinen Anregungen vorbereitet habe, ist das erste Buch in türkischer Sprache auf diesem Gebiet.2 Die Generalsicherheitsdirektion hat vor einigen Jahren unter meinem Vorsitz eine Kommission für die Vorarbeiten zu einem neuen Polizeigesetz gebildet. Als Experte hat auch Professor Würtenberger mitgewirkt. Ein Vorentwurf wurde ausgearbeitet und der Generalsicherheitsdirektion vorgelegt. Professor Würtenberger hat ferner türkische Wissenschaftler und hohe Polizeibeamte in Freiburg aufgenommen und hat Vorträge über deutsches Polizeirecht gehalten. Außerdem hat er auch in dem Erasmus-Programm zwischen der Bahçes¸ehir Universität und der Juristischen Fakultät der Universität Freiburg mitgearbeitet. Deswegen verdanken wir in der Türkei dem Kollegen Würtenberger sehr viel, und es ist für mich eine sehr große Ehre, an der Festschrift für ihn mitzuwirken. I. Ziele der Videoüberwachung 1. Allgemeine Überlegungen Im November 2003 zündeten Selbstmordattentäter in Istanbul vor einer Bank Bomben, wodurch viele Personen getötet und verletzt wurden. Nach diesem Anschlag wertete die Istanbuler Polizei die Bilder von Überwachungskameras aus. Die Identität der Täter wurde so kurz nach Begehung der Tat geklärt, und die Täter hinter dem Täter konnten festgenommen werden.

1 Würtenberger, Tehlike Kavramı ve Alman Uygulaması Ekseninde Kolluk Hukuku, Asayis¸ Daire Bas¸kanlıg˘ı, Ankara 2008. 2 Yenisey, Kolluk Hukuku, Beta, I˙stanbul 2009.

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Die Videoüberwachung des öffentlichen Raumes durch die Behörden, die seit den 70er Jahren3 in der Türkei zur Anwendung kommt, ist jedoch eine Beeinträchtigung des Privatlebens der Bürger, sofern die Identität des Betroffenen direkt oder indirekt erkennbar ist.4 Lange Zeit war es möglich, der Polizei aufgrund der Generalermächtigung des Polizeiaufgabengesetzes (Art. 1) Aufgaben zu übertragen. Die Änderungen in der Verfassung, die 2001 erfolgten,5 haben dann wichtige Auswirkungen für den Bereich des Polizeirechts in der Türkei mit sich gebracht. Die Neufassung des Art. 13 sieht jetzt nicht nur eine Wesensgehaltsgarantie für die Grundrechte und Grundfreiheiten vor, sondern schreibt auch vor, dass diese nur aus den in der Verfassung genannten Gründen und nur durch ein Gesetz eingeschränkt werden können. Somit braucht der Staat nunmehr auch für polizeiliches Handeln eine Spezialermächtigung, wenn Rechte der Bürger beschränkt werden sollen. Hinzu kommt, dass es seit 2010 ein neues Grundrecht auf persönliche Daten in der Verfassung gibt (Art. 20). Da Videoaufnahmen in diesen Bereich fallen, ist zu erwarten, dass in naher Zukunft die Videoüberwachung in öffentlichen Räumen gesetzlich geregelt wird. Die allgemeine Ermächtigung im Polizeigesetz (PVSK 1) ist für die präventive Überwachung des öffentlichen Straßenraumes nicht mehr ausreichend. Einige spezielle Kompetenzen der Polizei sind bereits im Polizeiaufgabengesetz geregelt. In den letzten Jahren hat das Parlament Änderungen verabschiedet, um die Polizei zur Personenkontrolle (PVSK 4 A) und zur vorbeugenden Überwachung der Telekommunikation (PVSK Zusatzartikel 7) zu ermächtigen. Der Einsatz von Videotechnik ist aber bis heute noch nicht erlaubt. Aber auch diese neuen Regelungen werden nun schon kritisiert, weil die Polizei mehr Befugnisse bekommt als vorher. Meines Erachtens gewährleisten jedoch eng begrenzte Befugnisse, die durch Gerichte kontrolliert werden, einen besseren Schutz der Rechte der Bürger, als wenn man auf eine Regelung dieses Bereichs völlig verzichten würde. Die repressiven Aufgaben der Polizei sind in der Strafprozessordnung geregelt. Die Polizei ist befugt, unter den Voraussetzungen von Art. 140 türStPO (CMK) die Videoüberwachung zu nutzen, um Beweismittel zu sichern. Eine Videoüberwachung in Privatwohnungen ist jedoch nicht erlaubt (CMK 140/5). 2. Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit Verfahren wie Videoüberwachung, Biometrie, DNA-Tests usw. und Vorratsdatenspeicherung von Telekommunikationsdaten auf europäischer Ebene haben sich als

S¸ims¸ek, Anayasa Hukukunda Kis¸isel Verilerin Korunması, Beta, I˙stanbul 2008, S. 162. Küzeci, Kis¸isel Verilerin Korunması, Ankara 2010, S. 307. 5 Vgl. dazu Tellenbach, Zur Änderung der türkischen Verfassung durch das Gesetz Nr. 4709 vom 3. Oktober 2001, VRÜ 35(2002), S. 532 – 547. 3

4

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ein Teil der Sicherheitsplanung mit dem Ziel der Risikominimierung etabliert. Im Folgenden werden wir uns dem Einsatz von Videoüberwachung zuwenden. Videoüberwachung im öffentlichen Raum durch Installierung von Videokameras an einzelnen Stellen trägt zur Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit und zur Verbesserung des subjektiven Sicherheitsgefühls der Bürger bei. Die Installation und der Betrieb von Video-Kameras sollen der Begehung von Strafen präventiv verhindern, indem ihr Vorhandensein auf die potenziellen Täter durch das erhöhte Risiko der Entdeckung ihrer Tat abschreckend wirken soll.6 Bei der Verwertung der Videoaufnahmen werden lokale Präventionskonzepte sowie bauliche Maßnahmen entwickelt oder verstärkte Fußstreifen für die Vorbeugung gegen Straftaten eingesetzt. Die Videoüberwachung wurde in Istanbul als Mittel der Kriminalprävention im Kampf gegen Kriminalität auf öffentlichen Straßen eingeführt. Es gibt zahlreiche Straftaten, die von Überwachungskameras aufgenommen wurden. Die Ausstrahlung der Taten in Fernsehen und die nachträgliche Überführung der Täter hat die Öffentlichkeit vom Nutzen der Überwachungstechnik überzeugt, obwohl die Ausführung dieser Straftaten nicht verhindert werden konnte. Die Ergebnisse der Evaluationsstudien im Ausland7 belegen jedoch, dass die Videoüberwachung nur bei bestimmten Delikten und an bestimmten Örtlichkeiten wie auf Parkplätzen, in Parkhäusern und allgemein bei der Kriminalität an Fahrzeugen wirksam ist. 3. Repressive Zwecke Bei den in Ausführung befindlichen Straftaten kann die Polizei repressiv handeln und Polizeikräfte am Tatort einsetzen. Videoüberwachung ist eine präventive Maßnahme mit repressiven Effekten: die Aufzeichnungen, die mithilfe der Kameras angefertigt wurden, können zur Aufklärung von Straftaten beitragen und als Beweismittel verwendet werden, falls die Tat bei der Polizei zur Anzeige gebracht wird. Die Videoüberwachung ist die Beobachtung öffentlicher Räume durch Kommunen und die Polizei mittels elektronischer Einrichtungen. Diese Maßnahme soll nur zulässig sein, wenn sie einen zulässigen Zweck, wie den Schutz eines Objekts oder einer Person, erfüllt. Die Geheimhaltungsinteressen von Dritten sollen geringer sein als das Interesse des Staates an einer Vorbeugung gegen Straftaten. Die Aufnahmen aus der Videoüberwachung, die die Ausführung einer Straftat belegen, können als Beweismittel in einem Strafverfahren gegen den Täter verwendet 6

Yenisey (Fußn. 2), S. 218. C¸apar, Birles¸ik Krallıkta CCTV, Türkiye’de MOBESE, Ankara 2011, S. 78. 7 Schröder, D., Die Videoüberwachung in Grossbritanien und den USA, in: Bückling (Hg.), Polizeiliche Videoüberwachung öffentlicher Räume, Berlin 2007, S. 51.

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werden, während es gesetzlich verboten ist, die Aufzeichnungen einer vorbeugenden Telefonüberwachung nach Zusatzartikel 7 des Polizeiaufgabengesetzes in einem Strafverfahren als Beweismittel zu verwenden.8 Dieser Unterschied kann dadurch erklärt werden, dass bei der Ausführung einer Straftat auch jede Privatperson das Recht auf vorläufige Festnahme hat (CMK 90/1). II. Arten der Videoüberwachung 1. Videoüberwachung in öffentlichen Räumen durch die Polizei In der Türkei ist, wie bereits bemerkt, die Videoüberwachung durch die Polizei gesetzlich noch nicht geregelt.9 Obwohl keine gesetzliche Ermächtigung besteht, wird die Videoüberwachung in der Türkei in vielen Gemeinden „erfolgreich“ eingesetzt. Die Polizei in Istanbul hat durch die verwaltungsrechtliche Entscheidung des Gouverneuramts ein elektronisches Netzwerk (MOBESE) errichtet, „weil es gesetzlich nicht verboten ist“.10 Dieses Netzwerk ist ein Segment des Verwaltungskontrollzentrums (Komuta Kontrol Menkezi: K.K.M.), das aus zehn verschiedenen elektronischen Systemen besteht, die miteinander verbunden sind.11 Das Ziel von MOBESE ist es, die Ausführung von verwaltungsrechtlichen sowie vorbeugenden Aufgaben der Polizei zu erleichtern. Deswegen ist eine elektronische Verbindung zu 952 Dorfvorsteherämtern und 3500 Polizeidienstwagen sowie zu der Feuerwehr und zu Krankenhäusern hergestellt. Videoaufnahmen, die durch Kameras aufgenommen werden, die an verschiedenen Stellen in der Stadt montiert sind, werden automatisch in einem Speicher aufgenommen und für durchschnittlich zehn Tage aufbewahrt. Die Aufnahmen, auf denen Straftaten aufgezeichnet sind, werden an die Staatsanwaltschaft übermittelt.

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Kunter/Yenisey/Nuhog˘lu, Muhakeme Hukuku Dalı Olarak Ceza Muhakemesi Hukuku, 18 inci Bası, Beta, ˙Istanbul 2010, S. 789. Yenisey, (Fußn. 2), S. 233. 9 In Österreich ist aber zum Beispiel die Videoüberwachung durch die Polizei in § 54 Sicherheitspolizeigesetz geregelt: die Polizei darf dabei auch Tonaufzeichnungsgeräte und Kennzeichenerkennungsgeräte einsetzen. 10 Die Angaben über „Mobil Elektronik Sistem Entegrasyonu“ (Mobiles integriertes elektronisches System) (http://mobese.iem.gov.tr) wurden für eine wissenschaftliche Veröffentlichung von Frau Elif Kuzeci mit Schreiben vom 22. Februar 2009 erfragt. Sie erhielt von der Polizeibehörde Istanbul eine Antwort mit dem Aktenzeichen B.05.1.EGM.4.34.00.77. 14. 2010/1065, in der die Beschaffenheit und die rechtlichen Grundlagen von MOBESE kurz geschildert werden (Kuzeci, Devlet Gözetimine Kars¸ı Avrupa I˙nsan Hakları Mahkemesi Kalkanı, Bahçes¸ehir Üniversitesi Hukuk Fakültesi Kazancı Hakemli Hukuk Dergisi, 2011, Nr. 81 – 82, S. 34). 11 C¸apar (Fußn. 6), S. 82.

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Die von den Kameras aufgezeichneten Bilder werden auf Monitoren wiedergegeben, die in den lokalen Polizeistationen aufgestellt sind. Die technische Ausstattung der benutzten Kameras ist sehr gut. Sie sind schwenk-, zoomfähigkeit und nachttauglich. Es gibt auch mobile Videoüberwachungsautos, die vernetzt sind. Die Videoüberwachung durch die Beobachtung der Monitore führt zwar zu einem hohen Personalaufwand, ist aber eine sachgerechte Methode sowohl für eine Vorbeugung gegen Straftaten, die kurz vor der Begehung stehen, als auch für die Repression während bzw. nach der Begehung. Die Installation und Nutzung der Videoüberwachung war bisher mit hohen Kosten verbunden; in den letzten Jahren werden jedoch kleinere, gleichzeitig komplexer arbeitende Kameras eingesetzt. Dadurch sind die Investitions- und Betriebskosten für Videoüberwachung gesunken. Unter „öffentlichen Räumen“ werden frei zugängliche Straßen und Plätze verstanden,12 nicht aber der gesamte öffentlich zugängliche Raum, wie das Innere von Behörden oder private, der Öffentlichkeit zugängliche Geschäftsräumen wie Kaufhäuser oder Banken. Die Polizei oder die Gemeinde (belediye) muss die tatsächliche Verfügungsgewalt über die Flächen, auf denen eine Videoüberwachung stattfinden soll, selbst ausüben.13 Das Gesetz über die private Sicherheitskräfte besagt, dass private Sicherheitskräfte nur zur Wahrnehmung von Aufgaben auf privatem Gelände befugt sind (Gesetz Nr. 5188, Art. 9). Eine Übertragung der Verfügungsgewalt auf öffentlichen Plätzen an private Firmen ist rechtswidrig. Die Maßnahme der Videoüberwachung muss für den verfolgten Zweck der Vermeidung von Straftaten geeignet und erforderlich sein.14 Die Frage nach der Erforderlichkeit bedingt eine Prüfung, ob nicht andere, für die Betroffenen weniger einschneidende Maßnahmen, wie häufigere Kontrolle durch das Sicherheitspersonal, in Betracht kommen. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeit der Videoüberwachung muss berücksichtigt werden, dass eine Vielzahl unbeteiligter Personen von der Videoüberwachung betroffen ist und deren schutzwürdige Interessen beeinträchtigt werden. Deswegen könnte man erwägen, den Einsatz von Videokameras auf solche Tageszeiten zu begrenzen, zu denen erfahrungsgemäß häufig Straftaten begangen werden. Durch die Offenheit der Maßnahme wird eine Präventionswirkung erreicht. Eine Definition von „gefährlichen Orten“ liefert das türkische Polizeiaufgabengesetz nicht. Die Einsatzorte der Videoüberwachung sollen die festgestellten Brennpunkte der kommunalen Kriminalität, wie Bahnhofplätze oder Einkaufszentren, sein. Eine dauerhafte Videoüberwachung zum Zweck der Verkehrsüberwachung ist statthaft, falls die Verkehrsteilnehmer nicht identifizierbar sind. Temporäre Videoüberwa12

Yenisey (Fußn. 2), S. 35. Aktas¸/Polat, Genel Kolluk Özel Güvenlik I˙lis¸kisi, Ankara 2009, S. 69. Karagöz, Suç Önleme Hizmetleri, Ankara 2005, S. 164. 14 Yenisey (Fußn. 2), S. 62. 13

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chung und Fotoaufnahmen bei Versammlungen während der Ausführung von Straftaten unterliegen dem Versammlungsrecht (Gesetz Nr. 2911, Art. 25). 2. Videoüberwachung durch private Firmen Die Zunahme aktueller Überwachungsformen folgt dem sicherheitspolitischen Trend einer verstärkten Wahrnehmung der terroristischen Bedrohung und spiegelt einen Wandel im Verhältnis von Staatlichkeit und Privatisierung der Polizeiarbeit wider. Die Menge an erfassten Daten ist angestiegen, die Daten, die durch Videoüberwachung durch die Polizei, Kommunalbehörden oder Geschäftsleute oder durch andere Methoden, wie Alarme in Wohnungen, gewonnen werden, werden automatisch ausgewertet. Dabei wirken der private und der öffentliche Sektor eng zusammen. Das Verkehrsverhalten der Autofahrer, wie unerlaubtes Halten oder Abbiegen, wird aufgenommen, und die Ordnungswidrigkeiten werden nachträglich geahndet. Die Überwachungssysteme, die von Privaten betrieben werden, basieren auf sehr unterschiedlichen technischen Geräten. Daraus entstehen erhebliche Probleme bei der späteren Sicherung und Auswertung der erfassten Daten. Oft sind diese Daten untauglich, um als Beweismittel im Strafverfahren zu dienen. Die Zulässigkeit der Videoüberwachung ist insbesondere davon abhängig, wer diese einsetzt. Es wird zwischen privater und staatlicher Videoüberwachung unterschieden. Das Gesetz Nr. 5188 über die Privaten Sicherheitsdienste lässt seit 2009 die Videoüberwachung auf Privatgelände zu (Art. 3/3). Diese Regelung ist die erste gesetzliche Normierung der Videoüberwachung in der Türkei. Eine Aussage über die Voraussetzungen der Anwendung der Maßnahme, die Dauer der Datenspeicherung und die Regeln über ihre Nutzung trifft sie nicht. Das Ausmaß der privat betriebenen Videoüberwachung ist schlecht kontrollierbar und wird in der Zukunft nur schwer zu regulieren sein. Durch die mangelhafte Kennzeichnung der Herkunft der Aufzeichnung wird das von der Videoüberwachung betroffene Individuum geringe Chancen haben, den Betreiber zu ermitteln und zu überprüfen, ob Speicherfristen tatsächlich eingehalten werden. Private Sicherheitsbetreiber arbeiten Hand in Hand mit der Polizei. Die Polizei erhält Hinweise durch private Sicherheitsbetreiber. Damit vergrößern sich die Kontrollmöglichkeiten der Polizei und dadurch wird die Trennung zwischen den Aufgaben, die durch Polizeibeamte und denjenigen, die durch private Sicherheitsfirmen durchgeführt werden, verwischt. In der Türkei gibt es keine Verpflichtung, die am meisten gefährdeten Örtlichkeiten unter Videoüberwachung zu stellen. In der Praxis werden die Firmen, die Geldtransporte durchführen, von der Polizei inoffiziell aufgefordert, Überwachungsanlagen einzubauen. In Deutschland dagegen müssen zum Beispiel Kassenräume von Banken und Sparkassen und die Zugänge von Spielcasinos oder bestimmte Industrieanlagen mit Videoüberwachungsanlagen ausgestattet sein.

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III. Datenschutzrechtliche Aspekte Die gewonnenen Aufnahmen sollen von den gesetzlich zuständigen staatlichen Behörden ausgewertet und gespeichert werden, um die Verfolgung rechtswidriger Taten und daraus entstandener Schäden zu ermöglichen. Die installierten Systeme der Videoüberwachung in der Türkei verstoßen meistens gegen Datenschutzbestimmungen, weil die betroffenen Menschen nicht ausdrücklich auf die Überwachung hingewiesen werden. Die wenigen Datenschützer in der Türkei kritisieren den Einsatz von Videoüberwachung wegen der Unvereinbarkeit mit dem neuen Grundrecht auf „auf informationelle Selbstbestimmung“ in Art. 20 der türkischen Verfassung. Es kann aber kaum von einer allgemeinen Debatte um den Einsatz von Videoüberwachung die Rede sein. Datenschutz kommt in Betracht, falls Personen gefilmt15 werden oder falls die Personen, die auf die Videoaufnahmen erscheinen, wiedererkennbar sind und eine Identifizierung möglich ist. Eine bloße Beobachtung ohne eine Aufnahme, wie beispielsweise eine Verkehrsüberwachung, wobei die Kennziffern der Autos nicht erkennbar sind, ist im Hinblick auf das Privatleben irrelevant, weil sie keine personenbezogenen Daten enthält.16 Dies wird zum Beispiel in der Peck v. UK Entscheidung des EGMR betont. Die Überwachungszentrale der CCTV (Close Circuit Television) beobachtete einen Selbstmordversuch und hat die Polizei benachrichtigt, die den Betroffenen gerettet hat. Bei einer Sendung über Vorteile der CCTV wurden diese Aufnahmen verwendet, ohne die Identität des Betroffenen zu verheimlichen, was als ein Verstoß gegen Art. 8 EMRK betrachtet wurde. Nach Artikel 90 der türkischen Verfassung gelten die Übereinkommen, die menschenrechtliche Bestimmungen beinhalten, wie ein Gesetz. Deswegen sind die Entscheidungen des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes relevant für die Rechtspraxis in der Türkei. Ist durch die bildliche Darstellung einer Person diese identifizierbar, so unterliegen die Bildaufnahmen dem Datenschutz.17 Dabei ist unerheblich, ob eine Person tatsächlich identifiziert wird oder nicht. Gespeicherte Daten können später für Strafverfolgung benutzt werden, wenn man durch Kombination mit digitalen Systemen zur Bilderkennung überwachte Personen automatisiert identifiziert. In Fällen, in denen die Polizei für die Wiedererkennung von Tätern eine Sammlung von Aufnahmen verwendet (PVSK Zusatzartikel 6), ist die Benutzung der Bilder von Personen zulässig, soweit sie nur für repressive Zwecke verwendet werden.18 15 EGMR in P.G. v. UK Tz. 57 betont, dass eine Videoüberwachung des öffentlichen Raumes, ohne die Aufnahmen systematisch zu registrieren, unbedenklich ist und nimmt in Tz. 59 Bezug auf die Entscheidung der Kommission vom 14. Januar 1998 in der Sache Herbecq and the association „Ligue des droits de l’homme“ v. Belgium. 16 Küzeci (Fußn. 4), S. 302. 17 Wenn die Teilnehmer an einer öffentlichen Versammlung nicht identifiziert werden, gibt es keine Probleme hinsichtlich des Datenschutzes (EGMR Friedl v. Austria, 31. Januar 1995). 18 EGMR Lupker and others v. Netherlands 7. Dezember 1992.

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Die Videoüberwachung im öffentlichen Raum betrifft unverdächtige Normalbürger. Es gibt hier keinen Verdacht gegen eine konkrete Person. Bei der Beobachtung des Beschuldigten mit technischen Mitteln (CMK 140) hingegen, erfolgt die systematische Ermittlung und gegebenenfalls Beweissicherung gegenüber einer Person, die verdächtigt wird, eine Katalogtat begangen zu haben. Hierfür bedarf es einer richterlichen Entscheidung. Deswegen soll nach Möglichkeit vermieden werden, unbeteiligte dritte Personen zu filmen und deren Aufnahmen dauerhaft zu speichern. Die Frage nach der Akzeptanz der Videoüberwachung entscheidet sich nach der Abwägung zwischen der Sorge um den Eingriff in die Privatsphäre und dem subjektiven Sicherheitsempfinden der Bürger. Dabei spielt auch die politische Tradition eine große Rolle. Eine flächendeckende Videoüberwachung des öffentlichen Raumes würde die Menschenwürde verletzen. Das Gefühl, ständig beobachtet zu werden, hindert den Mensch seine Persönlichkeit zu entfalten. Deswegen sollte man die rechtlichen Voraussetzungen so regeln, dass ein Gleichgewicht zwischen der Freiheit der Bürger und dem Schutz der Gesellschaft gegen Gefahren entsteht. IV. Schlussfolgerung Meines Erachtens sollte der türkische Gesetzgeber in Kürze ein Gesetz über die Videoüberwachung vorbereiten. Dieses Gesetz sollte die Datenerhebung durch die Polizei grundsätzlich regeln, falls die aufgenommenen Personen identifizierbar sind. Das Gesetz soll auch die Grundsätze der Zweckbindung bei der Datensammlung und der Verhältnismäßigkeit beachten: wenn durch bloße Beobachtung der Zweck der Maßnahme erfüllt werden kann, ist auf die Aufzeichnung der Bilder zu verzichten; wenn in Ausnahmefällen die Datensammlung unverzichtbar ist, dann müssen die Bilder nach Ablauf einer angemessenen Zeit gelöscht werden. Die Türkei sollte auch bald ein neues Polizeigesetz nach deutschem Muster vorbereiten, das die zweite Generation von Polizeiaufgaben regelt. Der Name Thomas Würtenberger wird in der türkischen Polizeirechtsliteratur künftig sicher sehr oft zitiert werden. Der demokratische Rechtsstaat Türkei dankt dem Jubilar sehr für seine Anstöße zur Fortentwicklung des türkischen Polizeirechts.

V. Grundrechte, Staatsrecht

Demokratisch inspirierte Petitionsrechtsmodernisierungen Zugleich ein Beitrag zur Elektronisierung des Petitionswesens Von Hartmut Bauer, Potsdam I. Das Petitionsrecht auf der Suche nach einer neuen Identität? Thomas Würtenberger hat das Petitionsrecht wiederholt in den unterschiedlichsten Literaturgattungen und Sachzusammenhängen traktiert: als Lehrbuchautor1, in einem viel beachteten Sammelband2, in einer interdisziplinär angelegten und längst zum „Klassiker“ avancierten Abhandlung über Massenpetitionen3 und nicht zuletzt als Verfasser einer hochkarätigen Kommentierung zum Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages4. Die intensive Beschäftigung mit dem Eingaberecht überrascht. Denn das Petitionsrecht steht sicher „nicht im Zentrum wissenschaftlicher Aufmerksamkeit“5 und fristet in der vornehmlich gerichts- und pathologieorientierten Staatsrechtslehre ein eher randständiges Schattendasein6. Doch zeigt eine eingehendere Analyse dieses traditionsreichen7 Grundrechts eine bemerkenswerte Funktionenvielfalt8, die der Jubilar speziell für das parlamentarische Petitionswesen 1

Zippelius/Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 32. Aufl. 2008, S. 356 ff. Würtenberger, Massenpetitionen zielen auf politische Richtungskontrolle, in: Bockhofer (Hg.), Mit Petitionen Politik verändern, 1999, 169 ff.; vgl. auch Würtenberger/R.P. Schenke, Das parlamentarische Petitionswesen im demokratischen Rechtsstaat, ebd., 97 ff. 3 Würtenberger, ZParl. 18 (1987), 383 ff. 4 Würtenberger, in: Dolzer u. a. (Hg.), Bonner Kommentar, Art. 45c (1995). 5 Hoffmann-Riem, FS Selmer, 2004, 93 (93). 6 Vgl. etwa Guckelberger, Aktuelle Entwicklungen des parlamentarischen Petitionswesens, 2011, S. 12; Uerpmann-Wittzack, in: v.Münch/Kunig (Hg.), Gundgesetz, 6. Aufl. 2012, Art. 17 Rn. 28; Bauer, Petitionsrecht, HGR V, §128 Rn. 29, 77 m.w.N. 7 Vgl. etwa Rosegger, Petitionen, Bitten und Beschwerden, 1908, S. 1: „Urinstitution“; Korinek, Das Petitionsrecht im demokratischen Rechtsstaat, 1977, S. 7 ff.; Hornig, Die Petitionsfreiheit als Element der Staatskommunikation, 2001, S. 22 ff.; Bauer (Fußn. 6), § 128 Rn. 2 ff. 8 Die etwa Mitte der 1990er Jahre einsetzende stärkere Akzentuierung der Funktionen und der Funktionenvielfalt des Petitionsrechts (dazu Bauer, in: Dreier [Hg.], Grundgesetz, Kommentar, Bd. 1, 1996, Art. 17 Rn. 12) ist seither zu einem Standardthema geworden; vgl. nur etwa Kloepfer, Verfassungsrecht II, 2010, § 76 Rn. 1; Stettner, in: Bonner Kommentar, Art. 17 2

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frühzeitig herausgearbeitet hat9 und das Petitionsrecht auch für die wissenschaftliche Bearbeitung ausgesprochen interessant macht. Das betrifft namentlich die demokratische Funktion des Grundrechts,10 die historisch und aktuell besonders prekär ist. Sie richtet das Petitionsrecht programmatisch auf Maximen wie „Mit Petitionen Politik verändern“11 und mehr „Demokratie wagen“12 aus.13 Darin sehen manche Anhaltspunkte für „eine fortschreitende Sinnveränderung vom außerordentlichen Bitt- und Beschwerderecht“ hin zu einem allgemeinen Partizipationsrecht, das „in die Nähe eines Ersatzes für die vom Grundgesetz weitgehend ausgesparte plebiszitäre Beteiligung des Volkes an der Staatsgewalt“ rücke.14 Solche tatsächlich oder vermeintlich „,sinnverändernde Umdeutung‘ des Rechts- und Funktionsgehaltes von Art. 17 GG“15 wirkt auf viele wie eine Provokation. Gleichsam als Gegenreaktion findet sich mitunter die Herausnahme „gesetzgebergerichteter allgemein-politischer Anträge vom Schutzbereich des Petitionsrechts“16. Obschon diese Begrenzung des grundrechtlichen Schutzbereichs unhaltbar ist,17 vermittelt sie einen instruktiven Einblick in die Bandbreite der Kontroversen über die demokratische Funktion des Petitionsrechts. In die Grundsatzdebatten hat auch der Jubilar wiederholt eingegriffen,18 ohne jedoch den Streit abschließend befriedet zu haben. An der demokratischen Funktion scheiden sich nach wie vor die Geister.19 In jüngerer Zeit mehren sich sogar die Hinweise auf unerschlossene demo(2000) Rn. 21 ff.; H. H. Klein, in: Maunz/Dürig u. a., Grundgesetz, Kommentar, Art. 17 (2011) Rn. 137 ff.; Dollinger, in: Umbach/Clemens (Hg.), Grundgesetz, Mitarbeiterkommentar, Bd. I, 2002, Art. 17 Rn. 9 ff. 9 Fußn. 4, Art. 45c Rn. 15 ff. 10 Zur Deutung des Petitionsrechts als „demokratisches Staatsbürgerrecht“ in der Weimarer Republik siehe C. Schmitt, Verfassungslehre, 1928 (Nachdruck 1983), S. 168 f., und zu dieser schon damals prekären Einordnung Klein (Fußn. 8), Art. 17 Rn. 16 m.w.N. Zur nicht selten im Kontext mit der Zuordnung auch zum status activus geführten Debatte unter dem Grundgesetz siehe vorerst nur einerseits Korinek (Fußn. 7), S. 37 ff. (auch aktives Statusrecht); E. Stein, in: Grundgesetz, Alternativkommentar, 3. Aufl. 2001, Art. 17 Rn. 33; andererseits Burmeister, Das Petitionsrecht, HStR2 II, § 32 Rn. 17 ff., 32; Klein (Fußn. 8), Art. 17 Rn. 50 ff., 140 f.; Langenfeld, Das Petitionsrecht, HStR3 III, § 39 Rn. 13 m.w.N. 11 So der Titel des von Bockhofer herausgegebenen Sammelbandes (Fußn. 2). 12 Vgl. Bockhofer (Hg.), Demokratie wagen – Petitionsrecht ändern!, 2004. 13 Zu früheren, namentlich auf Massenpetitionen fokussierten Vorstößen in Richtung auf eine Demokratisierung des Petitionsrechts vgl. Würtenberger, ZParl. 18 (1987), 383 (384 f., 389 ff.). 14 Vgl. Stettner (Fußn. 8), Art. 17 Rn. 14 f. 15 Burmeister (Fußn. 10), § 32 Rn. 17. 16 Burmeister (Fußn. 10), § 32 Rn. 17 ff. (insb. 20). 17 Darauf hat auch der Jubilar mit aller wünschenswerten Klarheit hingewiesen (Würtenberger [Fußn. 4], Art. 45c Rn. 18 f.). 18 Insb. Würtenberger, ZParl. 18 (1987), 383 ff.; näher dazu unten bei Fußn. 64. 19 Die Kontroversen finden sich bisweilen sogar in einem Werk. So ist in Sterns Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. III/2, 1994, S. 1798, das Petitionsrecht zusammen mit den Rechten aus Art. 38, 33 Abs. 1 und 3 GG den politischen Mitwirkungsrechten zugeordnet,

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kratische Potentiale des Petitionswesens20 und darauf, dass bei einer Gesamtbetrachtung das Petitionsrecht heute in der veränderten politischen Wirklichkeit seinen Platz suche21. Impulse für eine aktuelle Standortbestimmung, vielleicht sogar für die Suche nach einer neuen Identität könnten nicht zuletzt von Petitionsrechtsmodernisierungen ausgehen, die von demokratischen Aufbruchstimmungen getragen werden. Eine wichtige Antriebskraft für derartige Innovationen ist die Elektronisierung des Petitionswesens22, die sich inzwischen sowohl auf der nationalen als auch auf der europäischen Ebene niedergeschlagen hat. Im Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland handelt es sich vor allem um das neue Institut der Öffentlichen Petition (II.), im Unionsverfassungsrecht um die mit dem Vertrag von Lissabon eingeführte Europäische Bürgerinitiative (III.). II. Die Öffentliche Petition 1. Motive, Ausgestaltung und praktische Bedeutung Das seit gut fünf Jahren beim Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages dauerhaft eingerichtete neuartige Institut der Öffentlichen Petition23 geht auf einen 2005 gestarteten Modellversuch24 zurück. Vorbild für den Modellversuch war ein beim schottischen Regionalparlament erfolgreich eingesetztes elektronisches Petitionssystem,25 das den gestiegenen Ansprüchen an Bürgerbeteiligung Rechnung tragen und „neue Ansätze der demokratischen Mitbestimmung“ integrieren26 sollte. Mit dem Einsatz elektronischer Informations- und Kommunikationstechnologien verbinwährend die Bearbeitung des Petitionsrechts durch Dietlein in Bd. IV/2, 2011, S. 285 ff., zwar noch in den Kontext der „Teilhabe an der staatlichen Willensbildung“ (aaO, S. 171 ff.) eingestellt ist, die Zuordnung zu den aktiven Statusrechten aber ausdrücklich und vehement ablehnt (aaO, S. 286). 20 Vgl. etwa Mehde, ZG 16 (2001), 145 (156 ff.); Uerpmann-Wittzack (Fußn. 6), Art. 17 Rn. 28. 21 Kloepfer (Fußn. 8), § 76 Rn. 58. 22 Vgl. dazu vorerst nur Kellner, NJ 2007, 56 ff.; Guckelberger, DÖV 2008, 85 ff.; dies. (Fußn. 6), S. 33 ff., 44 ff.; Riehm/Coenen/Lindner/Blümel, Bürgerbeteiligung durch E-Petitionen, 2009. 23 Näheres dazu bei Guckelberger, DÖV 2008, 85 (88 ff.); dies. (Fußn. 6), S. 44 ff.; Riehm/ Coenen/Lindner/Blümel (Fußn. 22), insb. S. 207 ff.; Bauer, FS Stern, 2012, 1211 (2017 ff. m.w.N.). 24 Vgl. zu dem Modellversuch, zu dessen zeitweiliger Fortsetzung und dauerhafter Einrichtung aus der Perspektive der politischen Akteure die Berichte des Petitionsausschusses für die Jahre 2005 (BT-Drucks. 16/2500, S. 10), 2006 (BT-Drucks. 16/6270, S. 7), 2007 (BTDrucks. 16/9500, S. 8 f.), 2008 (BT-Drucks. 16/13200, S. 9 f.), 2009 (BT-Drucks. 17/2100, S. 7 f.), 2010 (BT-Drucks. 17/6250, S. 7) und 2011 (BT-Drucks. 17/9900, S. 8 f.). Zur Vorbildwirkung des Bundes-Modells auf die Länder vgl. Guckelberger (Fußn. 6), S. 45 f. 25 Vgl. Riehm/Coenen/Lindner, ZParl. 40 (2009), 529 (insb. 536 f.). 26 Riehm/Coenen/Lindner/Blümel (Fußn. 22), S. 135.

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det sich nicht nur ganz allgemein die Hoffnung auf einen Bedeutungszuwachs des Petitionswesens im modernen Rechtsstaat, sondern vor allem auch die Erwartung eines Zugewinns an Legitimation, Transparenz, Öffentlichkeit und politischer Teilhabe in Arenen von E-Partizipation, E-Parlament und E-Demokratie.27 Dementsprechend betonte der Petitionsausschuss bereits bei der Einführung des elektronischen Petitionssystems dessen demokratische Funktion: „Es zielt darauf, allen Nutzern – sowohl den Bürgerinnen und Bürgern als auch den Ausschussmitgliedern – dieses interaktiven Instrumentariums zusätzliche Kommunikations-, Deliberations- und Partizipationsmöglichkeiten zu bieten und die repräsentative Demokratie zu stärken.“28 Bei dieser Einschätzung ist es bis heute geblieben. Im zusammenfassenden Resümee hielten die politischen Akteure erst unlängst wieder fest, „dass der Petitionsausschuss mit dem Instrument ,öffentliche Petition‘ einen wichtigen Beitrag zu mehr Demokratie leistet“29. Nach den Intentionen des Petitionsausschusses verbessert und erweitert die Öffentliche Petition die „Angebotspalette“ des Ausschusses „über das allgemeine Petitionsrecht hinaus“30. In der rechtstechnischen Ausgestaltung31 ist die Öffentliche Petition typologisch als Sonderform der Parlamentspetitionen konzipiert, die im unmittelbaren Vergleich mit den herkömmlichen an den Deutschen Bundestag gerichteten Eingaben nach Voraussetzungen und Rechtsfolgen eine Reihe von Besonderheiten aufweist. Zu diesen Voraussetzungen gehören in formeller Hinsicht die Petitionseinreichung in elektronischer Form und in materieller Hinsicht, „dass die Bitte oder Beschwerde inhaltlich ein Anliegen von allgemeinem Interesse zum Gegenstand hat und das Anliegen und dessen Darstellung für eine sachliche öffentliche Diskussion geeignet sind“.32 Sind diese und andere Anforderungen erfüllt, wird die Öffentliche Petition „im Einvernehmen mit dem Petenten auf der Internetseite des Petitionsausschusses veröffentlicht. Mit der Veröffentlichung erhalten weitere Personen oder Personengruppen über das Internet die Gelegenheit zur Mitzeichnung der Petition oder zur Abgabe eines Diskussionsbeitrages hierzu“33. Außerdem bearbeitet der Ausschuss Öffentliche Petitionen als Sammelpetition34, was bei Erreichen 27

Zusammenfassend Riehm/Coenen/Lindner/Blümel (Fußn. 22), S. 13 ff. Petitionsbericht für 2005, BT-Drucks. 16/2500, S. 10. 29 So die abschließende Bemerkung im Petitionsbericht für 2011, BT-Drucks. 17/9900, S. 9. 30 Petitionsbericht für 2011, BT-Drucks. 17/9900, S. 8, 100. 31 Die Öffentliche Petition ist in den auf § 110 Abs. 1 GOBT gestützten Grundsätzen des Petitionsausschusses über die Behandlung von Bitten und Beschwerden (Verfahrensgrundsätze) und einer dazu erlassenen „Richtlinie für die Behandlung von öffentlichen Petitionen (öP) gem. Ziffer 7.1 (4) der Verfahrensgrundsätze“ (Richtlinie) geregelt. Die Verfahrensgrundsätze und die Richtlinie sind u. a. abgedruckt in Anlage 8 des Petitionsberichts für 2011, BT-Drucks. 17/9900, S. 93 ff., 100 f. 32 Nrn. 1 und 2.1 der Richtlinie (Fußn. 31). 33 Nr. 2.2 (4) der Verfahrensgrundsätze (Fußn. 31). 34 Nr. 7.1 (4) der Verfahrensgrundsätze (Fußn. 31). 28

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eines Quorums von 50.000 Unterstützern dazu führt, dass die Petition in der Ausschusssitzung einzeln aufgerufen wird35 und grundsätzlich eine Anhörung des oder mehrerer Petenten in öffentlicher Ausschusssitzung erfolgt36. Bei den öffentlichen Beratungen haben die Petenten nicht nur ein Anwesenheitsrecht, sondern auch ein Rederecht, um ihre Petition eingehender darstellen und erläutern zu können.37 Und am Ende wird die abschließende Entscheidung über die Öffentliche Petition zusammen mit der Begründung im Internet veröffentlicht.38 Das neue Institut stellt neben den herkömmlichen Massen- und Sammelpetitionen ein modernes internetgestütztes Instrument bereit, das die Attraktivität des Petitionswesens deutlich erhöht.39 In der Verfassungspraxis belegen vier bis fünf Millionen Seitenaufrufe pro Monat und die stetig wachsende, 2011 auf 1,2 Millionen angestiegene Zahl der auf der Internetseite des Petitionsausschusses angemeldeten Nutzer das rege Interesse der Bevölkerung an dem Internetportal eindrucksvoll.40 Die hohe Anziehungskraft der Öffentlichen Petition hat sich schon früh abgezeichnet41 – so etwa bei einer im Internet von über 100.000 Personen unterstützten Petition zur „Generation Praktikum“, bei einer von 25.000 Mitunterzeichner getragenen Eingabe gegen die Einführung von Wahlcomputern und bei dem von über 15.000 E-Petenten verfolgten Anliegen, die Hundesteuer abzuschaffen.42 Für 2011 berichtet der Petitionsausschuss von einer im unmittelbaren Vergleich mit herkömmlichen Massen- und Sammelpetitionen wesentlich höheren Anzahl der Mitzeichner bei veröffentlichten Petitionen43 und monatlich zwischen 30 und 80 neu ins Internetportal eingestellten Eingaben, zu denen rund 66.000 Diskussionsbeiträge eingingen44. Nicht ohne Stolz berichtet der Ausschuss, dass der Erfolg der Öffentlichen Petitionen die Erwartungen übertroffen habe und das neue System „zeitweilig sogar ,Opfer‘ seines eigenen Erfolges [geworden sei], da es den ,Ansturm‘ der interessierten Öffentlichkeit nur schwer bewältigen konnte“45. Die Vorgänge verdeutlichen die enormen Potentiale, 35

Nr. 8.2.1 der Verfahrensgrundsätze (Fußn. 31). Nr. 8.4 (4) der Verfahrensgrundsätze (Fußn. 31). 37 Petitionsbericht für 2011, BT-Drucks. 17/9900, S. 8. 38 Nr. 12 der Richtlinie (Fußn. 31); Petitionsbericht für 2011, BT-Drucks. 17/9900, S. 8. 39 Petitionsbericht für 2011, BT-Drucks. 17/9900, S. 8. 40 Petitionsbericht für 2011, BT-Drucks. 17/9900, S. 8, mit ergänzendem Hinweis darauf, dass das Internetportal des Petitionsausschusses „klarer Spitzenreiter der Internetangebote des Deutschen Bundestages“ ist. 41 Vgl. Bauer, FS Stern, 2012, 1211 (1220 f. m.w.N.). 42 Guckelberger, DÖV 2008, 85 (86 m.w.N.). 43 Ausweislich BT-Drucks. 17/9900, Anlagen 1 G. und H., in denen im Berichtszeitraum abschließend beratene Massen- und Sammelpetitionen mit mehr als 5.000 Unterstützern und Öffentliche Petitionen mit mehr als 5.000 Mitzeichnern verzeichnet und zusammengefasst sind, beläuft sich die Anzahl der Mitzeichner bzw. Unterstützer bei Öffentlichen Petitionen auf rund das Dreifache der entsprechenden Anzahl bei herkömmlichen Massen- und Sammelpetitionen. 44 BT-Drucks. 17/9900, S. 8. 45 Petitionsbericht für 2009, BT-Drucks. 17/2100, S. 7. 36

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die E-Petitionen in den vernetzten Kommunikationsstrukturen moderner E-Welten haben, in Sonderheit für die Erhöhung des politischen Druckpotentials in E-Demokratie-Szenarien46 und für den zunehmenden Einfluss auf die Öffentliche Meinung – beides zumindest potentiell mit beträchtlichen Rückwirkungen auf die politische Entscheidungsfindung. 2. Demokratische Funktionen Die Schlaglichter auf Konzeption und rechtstatsächliche Bedeutung der Öffentlichen Petition zeigen, dass dieses Institut jedenfalls faktisch einen intensiven Demokratiebezug hat.47 Dem entspricht die Einschätzung des Petitionsausschusses. Er verknüpft nämlich in seinen alljährlichen Berichten den neuen Petitionstyp fast durchgängig mit demokratischen Vorstellungen. Bereits bei der Einführung des Modellversuchs benannte der Ausschuss das Ziel, die Demokratie zu stärken.48 In späteren Berichten ist zu lesen, dass das Instrument der Öffentlichen Petitionen „einen wichtigen Beitrag zu mehr e-Demokratie geleistet hat“49 und weiterhin leistet oder – wie zuletzt – generell „einen wichtigen Beitrag zu mehr Demokratie leistet“50. Der demokratische Mehrwert sei auch durch den 2008 verliehenen „Politikaward“ in dem Bereich „Innovation“ belohnt worden, der die „einmalige Möglichkeit an Bürgerbeteiligung und Transparenz“ honoriert habe. „Dank E-Petitionen gibt es eine schnellere und transparentere Verbindung zwischen Bevölkerung und Parlament.“51 In dieselbe Richtung weisen wissenschaftliche Begleituntersuchungen, die elektronische Petitionssysteme wie selbstverständlich in Demokratiekontexte einstellen, mit Optionen zu Verbesserungen von Transparenz, Kommunikation, Deliberation, Partizipation etc. in Verbindung bringen, positiv wertend auf die Förderung demokratischer Prozesse ausrichten und zumindest perspektivisch hin zu direktdemokratischen Elementen fortentwickeln wollen.52 All diese Stellungnahmen hinterlassen 46 Der Mehrwert von E-Petitionen in der Form der Öffentlichen Petition besteht u. a. darin, dass sich auf elektronischem Weg gleichsam in Sekundenschnelle ein Quorum von 50.000 Unterstützern herstellen lässt, das die im Text bei Fußn. 34 ff. erwähnten Rechtsfolgen (Einzelaufruf, Behandlung in öffentlicher Ausschusssitzung, Rederecht etc.) auslöst. 47 Die folgenden Überlegungen beschränken sich auf diesen Aspekt. Deshalb bleiben anderweitige verfassungsrechtliche Fragen ausgeblendet. Das betrifft insb. die nach hiesiger Ansicht aus verfassungsrechtlichen Gründen gebotene gesetzliche Regelung; dazu Näheres bei Guckelberger, DÖV 2008, 85 (92, 94); dies. (Fußn. 6), S. 63 ff.; H. H. Klein, in: Maunz/ Dürig u. a., Grundgesetz, Kommentar, Art. 45c (2011) Rn. 69a; Bauer, FS Stern, 2012, 1211 (1223 ff.). 48 Fußn. 28. 49 Petitionsbericht für 2007, BT-Drucks. 16/9500, S. 9; ebenso oder ähnlich Petitionsbericht für 2008, BT-Drucks. 16/13200, S. 10; Petitionsbericht für 2009, BT-Drucks. 17/2100, S. 8; Petitionsbericht für 2010, BT-Drucks. 17/6250, S. 7. 50 Petitionsbericht für 2011, BT-Drucks. 17/9900, S. 9. 51 Petitionsbericht für 2008, BT-Drucks. 16/13200, S. 10. 52 Vgl. etwa Riehm/Coenen/Lindner/Blümel (Fußn. 22); Lindner/Riehm, ZParl. 40 (2009), 495 (insb. 511 f.).

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einen glasklaren Befund: Die beschriebene Petitionsrechtsmodernisierung zielt (auch) auf eine Modernisierung der Demokratie. Weitaus weniger eindeutig sind allerdings spezifisch juristische Stellungnahmen. Ganz allgemein finden sich dort zwar durchaus Hinweise auf den demokratischen Charakter und insbesondere auf „einen plebiszitären Zug“53 des Petitionsrechts.54 Doch ist dies in der Staatsrechtslehre keineswegs Gemeingut. Vielmehr stößt man bei der Öffentlichen Petition auf die Frage, „ob nicht so ein elektronisch potenziertes Verfahren das Wesen einer ursprünglich rein individuellen Petition zu sehr in Richtung auf eine allgemeine politische Bekundung verändert. Es wird so ein mehr oder weniger unverbindliches Bekundungsverfahren eingeführt, das mit dem Schutzbereich des Petitionsrechts kaum noch etwas zu tun hat.“55 Die „Petition per Mausklick“ rücke in die „Nähe“ von im Grundgesetz so nicht vorgesehener „plebiszitärer Elemente“, und schon jetzt habe manche E-Petition „mit dem Wesen des Petitionsrechts nichts mehr zu tun“56. Solche Positionen werden unterstützt durch herkömmliche Vorbehalte gegen „eine Überhöhung des Petitionsrechts als ,Chance zur aktiven Teilnahme am politischen Geschehen ebenso wie zur faktischen Einwirkung auf politische Entscheidungsprozesse‘ oder als ,Frühwarnsystem‘ für das Parlament“57. Der Einfluss selbst von Massenpetitionen sei „als eher gering zu veranschlagen“, für eine Einflussnahme auf die Öffentliche Meinung sei „das eher diskrete Petitionsverfahren“ nicht geeignet; und jeder Versuch, „das Petitionsrecht in die Nähe plebiszitärer Elemente zu rücken“, sei zurückzuweisen.58 Das bestätigt eine verbreitete Zurückhaltung gegenüber der demokratischen Funktion dieses Grundrechts59 und einer „,institutionelle[n] Verwandtschaft‘ zwischen Petitionsrecht […] und staatsbürgerlicher Partizipation an staatlicher Willensbildung“60, die sich auch bei der Bestimmung der

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Stettner (Fußn. 8), Art. 17 Rn. 15. Vgl. neben den Nachw. in Fußn. 10 etwa Graf Vitzthum/März, JZ 1985, 809 (816 f.: durch Massenpetitionen „zunehmend plebiszitären Charakter gewonnen“), sowie zu dem Streit um die statusdogmatische Zuordnung des Petitionsrechts (auch) zum status activus Bauer, in: Dreier (Hg.), Grundgesetz, Kommentar, Bd. 1, 3. Aufl., i. E., Art. 17 Rn. 20 mit Fußn. 77 m.w.N., und aus der weiter zurückliegenden Literatur Thormann, Die aktiven Statusrechte als Einrichtungsgarantien, Grundsatznormen und Auslegungsregeln, erläutert am Beispiel des Petitionsrechts (Art. 17 GG), 1961. 55 Pagenkopf, in: Sachs (Hg.), Grundgesetz, Kommentar, 6. Aufl. 2011, Art. 17 Rn. 9. 56 So mit Stoßrichtung gegen „demokratische Teilhabe – online“ und mit Hinweisen auf Petitionen, die auf die Abschaffung der Hundesteuer, die Abschaffung der Grundsteuer und die Verwirklichung von Parteiprogrammen gerichtet sind, Pagenkopf (Fußn. 55), Art. 17 Rn. 9 mit Fußn. 45. In der Prognose unentschieden Dietlein (Fußn. 19), S. 292. 57 Krings, in: Friauf/Höfling (Hg.), Berliner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 17 (2003) Rn. 3. 58 Krings (Fußn. 57), Art. 7 Rn. 3; ähnlich ders., JuS 2003, 474 (475). 59 Vgl. etwa Langenfeld (Fußn. 10), § 39 Rn. 13; Dietlein (Fußn. 19), S. 286. 60 Klein (Fußn. 8), Art. 17 Rn. 50. 54

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statusdogmatischen Position des Petenten im Ausschluss einer Zuordnung des Petitionsrechts zum status activus61 niederschlägt. In der Gesamtbetrachtung könnten die vorgestellten Bewertungen aus der aktuellen Verfassungspraxis einerseits und der konventionellen Staatsrechtslehre andererseits kaum unterschiedlicher ausfallen: Hier eine fast schon euphorische Aufbruchstimmung zu neuen demokratischen Ufern – dort kühle Zurückweisung mit dem nüchternen Hinweis auf fehlende Verwandtschaft zu staatsbürgerlicher Partizipation. Die diametralen Sichtweisen sind auf den ersten Blick kaum kompatibel, auch wenn sie sich in gewissem Umfang mit Rückgriffen auf unterschiedliche Demokratiekonzepte, -modelle und -theorien62 erklären lassen dürften. Auch mag für die rigide staatsrechtliche Beurteilung das strenge deutsche, in Europa freilich eher singuläre, seit geraumer Zeit wiederholt aufgelockerte und à la longue nicht in Stein gemeißelte Demokratieverständnis bundesrepublikanischer Provenienz63 verantwortlich sein. Schließlich dürfte auch die hierzulande verbreitete juristische Blickverengung auf die beiden Erscheinungsformen der mittelbaren und der unmittelbaren Demokratie eine gedankliche Öffnung für ergänzende und alternative Ansätze demokratischen Denkens erschweren oder gar verstellen. Doch ändert dies nichts daran, dass die deutsche Staatsrechtslehre erkennbar Schwierigkeiten mit der demokratischen Funktion des Petitionsrechts hat, die in der Verfassungspraxis des Petitionsausschusses längst zur Selbstverständlichkeit geworden ist. Thomas Würtenberger, um nochmals mit ihm einzusetzen, hat vor diesem Hintergrund zur Einordnung des Petitionsrechts in die demokratische Ordnung des Grundgesetzes schon vor vielen Jahren Überlegungen angestellt, die sich auch für die Behandlung von Öffentlichen Petitionen heranziehen lassen. Sein über die Fachgrenzen hinweg vermittelnder Vorschlag64 setzt an Massenpetitionen an und orientiert sich an der Unterscheidung von plebiszitärer und repräsentativer Demokratie. Er spricht dem Petitionsrecht zwar einen positiven Stellenwert in der repräsentativen Demokratie zu, den Charakter eines politischen Mitwirkungsrechts und insbesondere jede rechtliche Nähe zu einem Plebiszit jedoch ab. Dass das Petitionsrecht auch im Zusammenhang mit Öffentlichen Petitionen kein im herkömmlichen Sinn plebiszitäres Element des Grundgesetzes ist, versteht sich auf den ersten Blick bereits aus grundsätzlichen Erwägungen. Denn zum einen handelt es sich um ein Jedermann-Grundrecht, das auch Ausländer und juristische Personen für sich in Anspruch nehmen können, und damit gerade nicht um ein nach konventionellem Verständnis deutschen Staatsangehörigen vorbehaltenes Recht zur

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Klein (Fußn. 8), Art. 17 Rn. 49 ff., 81. Dazu Manfred G. Schmidt, Demokratietheorien, 5. Aufl. 2010. 63 Vgl. die Beiträge in Bauer/Huber/Sommermann (Hg.), Demokratie in Europa, 2005. 64 Würtenberger, ZParl. 18 (1987), 383 (388, 393 f.); ders. (Fußn. 2), S. 172 f., 176 f.; ders./Schenke (Fußn. 2), S. 101 ff. 62

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Teilhabe an der staatlichen Willensbildung.65 Und zum anderen üben Petenten inhaltlich keine Staatsgewalt im Sinne von Art. 20 Abs. 2 GG, keine Herrschaft des Volkes aus,66 „kein ,kratos‘ im engeren Sinn“67; auch bei Öffentlichen Petitionen haben sie weder ein Gesetzesinitiativrecht noch gar ein umfassendes Gesetzgebungsrecht, sondern können gesetzgeberische Maßnahmen nur anregen, nicht aber erzwingen.68 Allerdings wird der Begriff des Plebiszits normativ nicht allgemeinverbindlich definiert und auch im wissenschaftlichen Sprachgebrauch nicht einheitlich verwendet.69 Deshalb schließt ein entsprechendes Begriffsverständnis die „Charakterisierung der Petition als Form direkter Demokratie oder plebiszitäres Element nicht gänzlich“ aus.70 Wer etwa die mit einer Parlamentspetition gegebene Anregung an den Gesetzgeber, die darin liegende Einschaltung des Petenten in das Verfahren der Rechtsnormerzeugung bereits als Teilhabe an der parlamentarischen Willensbildung qualifiziert und diese Einflussnahme auf die Staatswillensbildung als direktdemokratische Mitwirkung genügen lässt, der kann in Art. 17 GG „zweifellos ein plebiszitäres Element“ des Grundgesetzes ausmachen.71 Rechtsvergleichend findet die Verknüpfung des Petitionsrechts oder jedenfalls einzelner Erscheinungsformen dieses Rechts mit plebiszitären Vorstellungen eine gewisse Unterstützung durch Texte in- und ausländischer Verfassungen, die „Petitionen“ mit Anträgen auf gesetzliche Maßnahmen zusammenführen.72 Auflockernd wirken außerdem die bereits erwähnte

65 Vgl. zu diesem Aspekt Klein (Fußn. 8), Art. 17 Rn. 16 (zum historischen Hintergrund), 67, 141; zur (nicht unbestrittenen) Rückführung der Staatsgewalt auf das deutsche Volk und überraschenden Auflockerungen für das kommunale Wahlrecht BVerfGE 83, 37 (50 ff.); 63, 60 (71 ff.). 66 Zu diesem Aspekt etwa Würtenberger, ZParl. 18 (1987), 383 (388 f.). 67 Würtenberger (Fußn. 4), Art. 17 Rn. 21. 68 Dazu allgemein Langenfeld (Fußn. 10), § 39 Rn. 13. 69 Überblick über den uneinheitlichen Sprachgebrauch bei P. Neumann, Sachunmittelbare Demokratie, 2009, S. 158 ff. m.w.N. 70 Neumann (Fußn. 69), S. 95 ff. (97). 71 So Korinek (Fußn. 7), insb. S. 31 ff., 37 ff. (Zitat: 33); vgl. zur Deutung der Petition als Element direktdemokratischer Mitwirkung auch Rux, Direkte Demokratie in Deutschland, 2008, S. 44 f. 72 Vgl. etwa Art. 29 Verf. Hamburg („Volkspetition“); Art. 50 Verf. Italien („Alle Staatsbürger können Eingaben an die Kammern richten, um gesetzliche Maßnahmen zu verlangen oder um allgemeine Notwendigkeiten darzulegen.“); zu Österreich vgl. Schäffer, Grundrechtliche Organisations- und Verfahrensgarantien, HGR VII/1, § 200 Rn. 5; ferner allgemein zu politisch-demokratischen Funktionen des Petitionsrechts im Rechtsvergleich Bauer (Fußn. 6), § 128 Rn. 19, 20 ff., 24 ff. Nur am Rande sind ergänzend Verzahnungen der Rechtsebenen und Rechtskreise zu erwähnen, weil Art. 17 GG auch das Petitionieren an internationale, supranationale und ausländische Institutionen schützt und damit im weiteren Sinne demokratische Funktionen übernehmen kann, sofern die entsprechenden Petitionen auf der europäischen Ebene oder in ausländischen Rechtskreisen in demokratische Kontexte eingestellt sind; ein Beispiel ist die Europäische Bürgerinitiative, auf die sogleich im Text einzugehen sein wird.

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Redeweise von einem „plebiszitären Zug“73 politischer Petitionen und das Zugeständnis, dass „Massenpetitionen in einem eher politikwissenschaftlichen bzw. faktischen Sinn ein plebiszitäres Element innewohnt“74. Dies alles signalisiert zumal bei Öffentlichen Petitionen klaren Demokratiebezug, sensibilisiert für Probleme der Begriffsbildung und relativiert jedenfalls über diese mehr terminologischen Fragen die strikte Ablehnung eines (auch) direktdemokratischen Verständnisses, auch wenn damit die fortwährend unterschiedlichen Positionen keineswegs eingeebnet sind. Jenseits des nicht wirklich weiterführenden75 Streits über die statusrechtliche Position des Petenten ist der Demokratiebezug des Petitionsrechts jedenfalls im Rahmen repräsentativer Demokratie anschlussfähig. Den positiven Stellenwert des Petitionsrechts in einer repräsentativen Demokratie hat nicht zuletzt der Jubilar mit aller wünschenswerten Klarheit wiederholt betont.76 Seine dazu angestellten Überlegungen sind auf große Resonanz gestoßen77 und deshalb an dieser Stelle nur stichwortartig in Erinnerung zu rufen. Danach eröffnen Massenpetitionen „die Möglichkeit eines politischen Dialoges und können Baustein in einem System kommunikativer und responsiver Demokratie sein. Sie geben die Chance zu politischer Initiative und zur Übermittlung politischer Vorschläge in das repräsentativ verfaßte System politischer Willensbildung. Massenpetitionen können ein Gegengewicht bilden gegen Lobbyismus und Einflußversuche von Gruppen auf Entscheidungen des Parlaments. […] Massenpetitionen können Element eines politischen Frühwarnsystems sein, das Integrationsdefizite verdeutlicht […] und zum Nachdenken über politische Kurskorrekturen anregt“78. Dies alles gilt uneingeschränkt auch für die Öffentliche Petition, die in ihrer institutionellen Ausgestaltung mit einem Mehr an Transparenz und zusätzlichen Interaktions-, Kommunikations-, Delibarations- und Partizipationsoptionen weit über klassischen Massenpetitionen hinaus die demokratieunterstützenden und -fördernden Effekte des Petitionswesens intensiviert. Im Ergebnis stimmt dies überein mit dem bei der Einführung des elektronischen Petitionssystems verfolgten Ziel, „die repräsentative Demokratie zu stärken“79. Alles in allem ist demnach die Schlussfolgerung unabweisbar, dass Petitionen im deutschen Verfassungsrecht ausgeprägte Bezüge zum Demokratieprinzip haben können80, und zwar über die Grenzlinien zwischen plebiszitären und repräsentativen 73

Stettner (Fußn. 8), Art. 17 Rn. 15; zustimmend z. B. Langenfeld (Fußn. 10), § 39 Rn. 13. So Würtenberger, ZParl. 18 (1987), 383 (388), allerdings mit einer klaren Grenzziehung zur abweichenden staatsrechtlichen Beurteilung; vgl. auch ders. (Fußn. 4), Art. 17 Rn. 20 f. 75 Dazu Bauer (Fußn. 54); Stettner (Fußn. 8), Art. 17 Rn. 37 ff. 76 Fußn. 64; vgl. zum Demokratiebezug auch Hornig (Fußn. 7), insb. S. 72 ff.,74 ff., 96 ff. m.w.N. 77 Das schließt, wie stets, Kritik nicht aus; vgl. etwa die Vorbehalte bei Krings (Fußn. 57), Art. 17 Rn. 3, und Klein (Fußn. 8), Art. 17 Rn. 140 f. 78 Würtenberger, ZParl. 18 (1987), 383 (387 f.). 79 Petitionsbericht für 2005, BT-Drucks. 16/2500, S. 10. 80 Ebenso etwa v. Coelln, in: Stern/Becker (Hg.), Grundrechte-Kommentar, Art. 17 Rn. 26; Dollinger (Fußn. 8), Art. 17 Rn. 11. 74

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Deutungsansätzen hinweg. Das gilt traditionell insbesondere für Massenpetitionen mit ihren demokratieunterstützenden und -fördernden Wirkungen. Das neue Institut der Öffentlichen Petition nimmt diese Effekte auf, verstärkt sie funktionell durch den Einsatz elektronischer Informations- und Kommunikationstechnologie und trägt dadurch ganz wesentlich zu einer demokratisch inspirierten Modernisierung des Petitionswesens bei. III. Die Europäische Bürgerinitiative 1. Motive und Ausgestaltung Ähnlich wie bei der Öffentlichen Petition im deutschen Verfassungsrecht unterstützt elektronische Kommunikation petitionsrechtliche Innovationen auch auf der unionsverfassungsrechtlichen Ebene.81 Dort hat der Vertrag von Lissabon die Europäische Bürgerinitiative eingeführt, die zusammen mit den bekannten eingaberechtlichen Instituten des Unionsrechts (Recht zur Anrufung von Unionsinstitutionen, Petitionsrecht zum Europäischen Parlament, Recht zur Anrufung des Europäischen Bürgerbeauftragten)82 normativ unter das gemeinsame Dach von Art. 24 AEUV eingestellt ist. All diese Rechte behandeln Teilaspekte eines umfassend verstandenen Eingaberechts und werden im deutschsprachigen Schrifttum verbreitet unter dem Sammelbegriff „Petitionsrecht“ zusammengefasst83. Nachdem bereits mit der primärrechtlichen Verankerung des Petitionsrechts zum Europäischen Parlament und des Rechts zur Anrufung des Bürgerbeauftragten das Demokratiedefizit der Gemeinschaft abgebaut werden sollte,84 stößt die neu eingeführte Bürgerinitiative ins Zentrum des unionalen Demokratieverständnisses vor. Schon rein äußerlich ist dies an dem vertraglichen Regelungsort der Bürgerinitiative nicht nur in dem der Unionsbürgerschaft gewidmeten Abschnitt des AEUV, sondern auch in den Bestimmungen des EUV über die demokratischen Grundsätze der Union 81 Nur am Rande ist wenigstens kurz darauf hinzuweisen, dass mit der Option zur elektronischen Einreichung von Eingaben (vgl. Guckelberger, Der Europäische Bürgerbeauftragte und die Petitionen zum Europäischen Parlament, 2004, S. 61, 118) die Petitionsrechtsmodernisierung durch Elektronisierung des Eingabewesens auf der Unionsebene bereits deutlich früher als auf der Bundesebene (dazu Schmitz, NVwZ 2003, 1437 ff.; Bauer [Fußn. 54], Art. 17 Rn. 36) eingesetzt hat. Allerdings scheint der weitere Ausbau des Systems für EPetitionen beim Parlament inzwischen ins Stocken geraten zu sein. 82 Näheres zu den eingaberechtlichen Instituten des Unionsverfassungsrechts bei Bauer (Fußn. 6), § 128 Rn. 52 ff. m.w.N. 83 Vgl. etwa Giegerich, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach (Hg.), Europarecht, 2. Aufl. 2010, S. 338 (372: „Petitionsrecht im weiteren Sinn“); Kloepfer (Fußn. 8), § 76 Rn. 46 ff.; P. M. Huber, in Streinz (Hg.), EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 11 EUV Rn. 34. Anders Goerlich/ Assenbrenner, ZG 26 (2011), 268 (insb. 269 f., 288), die das Recht zur Einreichung einer Bürgerinitiative offenbar wegen der beim Bürgerbegehren nicht vorausgesetzten individuellen Betroffenheit vom Petitionsrecht abkoppeln und als bürgerschaftliche Beteiligung sui generis konzipieren wollen, dabei aber verkennen, dass die Ausübung von Petitionsrechten nicht stets zwingend im eigenen Interesse erfolgen muss oder eine eigene Betroffenheit voraussetzt. 84 Dazu statt vieler Guckelberger, DÖV 2003, 829 (829 f., 838).

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ablesbar. Das unionsverfassungsrechtliche Novum soll schritthaltend mit der zunehmenden Integration eine „lebendige Demokratie“85 absichern und ist ein Meilenstein in den seit vielen Jahren laufenden Debatten über die Aufnahme direktdemokratischer Elemente in die unionale Rechtsordnung. Von der Bürgerinitiative erwartet man eine deutliche „Verbesserung der demokratischen Funktionsweise der Union“86. Die Unionsverfassung regelt die Bürgerinitiative nur in den Grundzügen und verweist im Übrigen auf Verordnungen, die nähere Bestimmungen über Voraussetzungen, Organisation und Verfahren festlegen.87 Die umfangreichen und sehr detaillierten Vorschriften88 sind hier nicht im Einzelnen vorzustellen. Stattdessen müssen einige Hinweise genügen: Die Europäische Bürgerinitiative ermöglicht es, die Kommission zur Unterbreitung von Regelungsvorschlägen für bestimmte politische Themen aufzufordern. Für die Durchführung einer Bürgerinitiative lassen sich dem Gesamtregelwerk unter anderem folgende Vorgaben entnehmen: – die Mindestzahl von einer Million Initianten, die aus einem Viertel der Mitgliedstaaten, also derzeit aus sieben Mitgliedstaaten kommen müssen, – die thematische Begrenzung der Bürgerinitiative auf die Befugnisse der Kommission, – die Registrierung einer geplanten Bürgerinitiative in einem Online-Register durch die Kommission89 und – die Möglichkeit, Unterstützerbekundungen in Papierform oder elektronisch zu sammeln, und zwar mit detaillierten Direktiven für die Gestaltung von OnlineSammelsystemen90. Ist das mehrere Phasen umfassende Verfahren erfolgreich durchlaufen, dann ist am Ende des gestreckten Petitionsprozesses die Kommission verpflichtet, „ihre rechtlichen und politischen Schlussfolgerungen zu der Bürgerinitiative sowie ihr weiteres Vorgehen bzw. den Verzicht auf ein weiteres Vorgehen und die Gründe hierfür“91 darzulegen. Demnach treffen die Kommission gesteigerte Begründungspflichten und Darlegungslasten, nicht aber die Verpflichtung, „der Bürgerinitiative nachzukommen“92. Da das ausgestaltende Regelwerk erst am 1. April 2012 in Kraft ge85

Vgl. BVerfGE 89, 155 (186). Verordnung (EU) Nr. 211/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Februar 2011 über die Bürgerinitiative, Abl.EU Nr. 65 v. 11. 3. 2011, S. 1. 87 Vgl. dazu neben der in Fußn. 86 erwähnten Verordnung und (für Deutschland) dem Gesetz zur Europäischen Bürgerinitiative (BGBl I 2012, 446) Assenbrunner, SächsVBl. 2011, 201 ff., und Tiedemann, NVwZ 2012, 80 ff. 88 Näher dazu Tiedemann, NVwZ 2012, 80 ff.; Bauer (Fußn. 6), § 128 Rn. 68 ff. 89 Art. 4 Abs. 2 der Verordnung (Fußn. 86). 90 Art. 5 Abs. 2 und Art. 6 der Verordnung (Fußn. 86). 91 Art. 10 Abs. 1 lit. c, Abs. 2 der Verordnung (Fußn. 86). 92 Von einer solchen Verpflichtung geht offenbar Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim (Hg.), EU, Art. 11 UV (2010) Rn. 27 aus, allerdings mit ergänzendem Hinweis auf ein der 86

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treten ist93, liegen derzeit noch keine wirklich aussagekräftigen praktischen Erfahrungen mit der Europäischen Bürgerinitiative vor. Ob sie unter den gegebenen Rahmenbedingungen die in sie gesetzten Erwartungen erfüllen wird, bleibt abzuwarten94 und mag hier auf sich beruhen. 2. Demokratische Funktionen An dieser Stelle interessiert vor allem die demokratische Bedeutung, die sich nicht in einem mehr oder weniger starken Demokratiebezug erschöpft, sondern, wie schon angedeutet, die Bürgerinitiative zu einem wichtigen Baustein der Regelungen über das demokratische Leben in der Union macht.95 Die Bürgerinitiative soll die demokratische Funktionsweise verbessern, und zwar nach einer verbreiteten Einschätzung als „neuartiges direktdemokratisches Instrument“96. Konzeptionell ist die Bürgerinitiative in ein spezifisch unionsverfassungsrechtliches Demokratieverständnis eingestellt, das von dem bundesdeutschen Legitimationsmodell in vielerlei Hinsicht abweicht97. Art. 10 AEUV führt die Arbeitsweise der Union zwar auf die repräsentative Demokratie zurück, regelt aber auch das über das Wahlrecht hinausgehende Recht aller Bürgerinnen und Bürger, am demokratischen Leben teilzunehmen. Dazu gehören neben einer Erhöhung der Transparenz insbesondere Interaktions-, Kommunikations-, Assoziations-, Deliberationsund Partizipationsoptionen. In diesem Kontext steht die Europäische Bürgerinitiative. Obschon sie nicht in einen Europäischen Volksentscheid mündet, stößt sie doch direktdemokratisch Interaktions-, Kommunikations- Assoziations-, Deliberationsund Partizipationsprozesse an und erweist sich damit als ein Element partizipativer Demokratie, das nach den Verträgen zur Legitimation europäischer Hoheitsgewalt beiträgt98. Kommission verbleibendes breites Ermessen; ähnlich wohl Ruffert, in: Calliess/Ruffert (Hg.), EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 11 EUV Rn. 19; wie hier BVerfGE 123, 267 (377: „unverbindliche“ Aufforderung, „zu politischen Themen geeignete Regelungsvorschläge zu unterbreiten“). 93 Art. 23 der Verordnung (Fußn. 86). 94 Skeptisch beispielsweise Huber (Fußn. 83), Art. 11 EUV Rn. 57 ff. (wegen der hohen Anforderungen eine „allenfalls in seltenen Ausnahmefällen“ funktionierende „Handhabe“). Allerdings waren bereits im Vorfeld des Inkrafttretens zwei Bürgerinitiativen im Gespräch (Spekulationsteuer, arbeitsfreier Sonntag). 95 Vgl. dazu und zum Folgenden Maurer/Vogel, Die Europäische Bürgerinitiative, 2009, S. 7 ff.; Guckelberger, DÖV 2010, 745 ff.; Goerlich/Assenbrunner, ZG 26 (2011), 268 ff.; Assenbrunner, SächsVBl. 2011, 201 (203 f.); Bauer (Fußn. 6), § 128 Rn. 65 ff. m.w.N. 96 Maurer/Vogel (Fußn. 95), S. 5. 97 Vgl. dazu aus der umfangreichen Literatur etwa die Beiträge von Nettesheim, Sommermann, Benz, Calliess, Ruffert, Kotzur und Huber, in: Bauer/Huber/Sommermann (Fußn. 63), S. 143, 191, 253, 281, 319 ff., 353 ff., 491 ff.; Goerlich/Assenbrunner, ZG 26 (2011), 268 (270 ff.). 98 Vgl. auch BVerfGE 123, 267 (369, 377 f.).

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Freilich sind die Hürden für diese Form demokratischer Teilhabe an Unionsentscheidungen hoch angesetzt. Schon mit Blick auf die hohe Zahl der vorausgesetzten Initianten und deren Verteilung auf mindestens sieben Mitgliedstaaten dürfte deshalb in der Unionsverfassungspraxis der Einsatz elektronischer Informations- und Kommunikationstechnologien namentlich bei der Online-Sammlung von Unterstützungsbekundungen in aller Regel Erfolgsbedingung sein. Das bestätigt auch auf der europäischen Ebene den herausragenden Stellenwert moderner Technologie99 für die Modernisierung des Petitionswesens beim Aufbruch in die Szenarien von E-Demokratie. IV. Entwicklungsperspektiven Öffentliche Petition und Europäische Bürgerinitiative zeigen, dass das Petitionsrecht mitnichten in einer Sinnkrise steckt. Im Gegenteil: Die beiden Innovationen bekunden sowohl auf der deutschen als auch auf der europäischen Ebene eine bemerkenswerte institutionelle Vitalität des Eingaberechts mit großen Entwicklungspotentialen. Namentlich auf den Aktionsfeldern von Partizipation und Demokratie gehen wichtige Modernisierungsimpulse von modernen Technologien aus, die für eine Elektronisierung des Petitionswesens sorgen. Die Bereitstellung elektronischer Plattformen schafft Räume für deutschland- und europaweite Interaktion, Information und Kommunikation und eröffnet dadurch den Zugang zu Sphären von E-Partizipation und E-Demokratie. In diesem Kontext mag die E-Petition für manchen mit einem wie auch immer näher zu bestimmenden „Wesen“ des Petitionsrechts nicht mehr kompatibel sein.100 Indes lässt sich das Petitionsrecht nicht auf ein „kleines“ Bitt- und Beschwerderecht zur Geltendmachung von „kleinen“ Sorgen und Nöten der „kleinen“ Frau oder des „kleinen“ Mannes reduzieren. Vielmehr weist das Petitionsrecht traditionell und aktuell eine breite Funktionenvielfalt auf, die auch die „große“ Funktion aktivbürgerschaftlicher Einwirkung auf politische Entscheidungsprozesse und die Gestaltung des Gemeinwesens einschließt.101 In dieser Funktionenvielfalt ist es in der Vergangenheit immer wieder zu Akzentverschiebungen gekommen. Derzeit machen sich solche Akzentverschiebungen ganz massiv in einer Neujustierung der politisch-demokratischen Funktion bemerkbar. Die stärkere Akzentuierung der auf politische Mitgestaltung zielenden Funktion wirkt auf die praktische Handhabung des Petitionsrechts zurück, was die fachgerichtliche Spruchpraxis selbst bei der Beurteilung des Regelwerks für Öffentliche Petitionen freilich nicht immer hinreichend berücksichtigt102. 99

Vgl. Erwägungsgrund 14 der Verordnung (Fußn. 86). Dazu oben bei Fußn. 55 f. 101 Vgl. die Nachw. in Fußn. 9 f. und Bauer (Fußn. 6), § 128 Rn. 14 ff., 36 ff., 52 ff. 102 Näheres dazu bei Bauer, FS Stern, 2012, S. 1212 f., 1223 ff. m.w.N.; zu diesem Problemkreis dürfte mittelfristig eine bundesverfassungsgerichtliche Entscheidung zu erwarten sein (vgl. BVerfG, NVwZ-RR 2012, 1). 100

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Die nicht selten anzutreffende Relativierung oder gar Ausblendung der partizipativ-demokratischen Funktion mag ganz allgemein auf politische Vorbehalte zurückzuführen sein, vielleicht auch darauf, dass sich die Entwicklung „von der Untertanenbitte zum Bürgerrecht“103 noch nicht überall herumgesprochen hat. Normativ rechtfertigen lässt sie sich jedoch nicht. Vielmehr ist absehbar, dass die über die Rechtsebenen hinweg von demokratischen Aufbruchstimmungen getragenen Fortentwicklungen des Petitionsrechts künftig weiter an Bedeutung gewinnen und in der gesamtpolitischen Ambiance von „Stuttgart 21“ und anderen Großereignissen das Eingaberecht im Sinne einer effektiven Bürgerbeteiligung weiter aufwerten. Das verspricht dem Petitionsrecht die schönsten Aussichten und inspiriert zugleich interdisziplinäre Verknüpfungen mit hochmodernen Themen. Dazu zählen beispielsweise Überlegungen zur Fortentwicklung des konventionellen Petitionsrechts hin zu einem Konfliktmanagement im Staat-Bürger-Verhältnis104, das mediative Elemente aufnehmen und in Petitionsbearbeitungsverfahren implementieren kann105. Ein weiteres Beispiel ist die Governancestruktur des deutschen, aber auch des europäischen und ebenenübergreifenden Petitionswesens,106 die bislang noch unzureichend ausgelotet ist. Doch sind dies Weiterungen, die weit über das hier verfolgte Anliegen hinausgehen. Sie geben unschwer zu erkennen, dass eine wissenschaftlich fundierte Aufbereitung des Petitionswesens ein dringendes Desiderat ist. Aufgabe einer solchen Petitionsdogmatik107 wäre in einem ersten Schritt die zuverlässige ebenenübergreifende Sichtung und Analyse der zahlreichen in der rechtlich gestalteten Wirklichkeit anzutreffenden Petitionsvarianten. Auf dieser Grundlage könnten in einem zweiten Schritt nach bestimmten Kriterien typisierte Erscheinungsformen identifiziert und in eine Ordnung gebracht werden, der sich für die einzelnen Petitionstypen namentlich die jeweiligen Funktionen, Voraussetzungen und Rechtsfolgen entnehmen lassen. Die Typologie könnte zur Transparenz des Petitionswesens beitragen und insgesamt die praktische Handhabung der Eingaben erleichtern. Angesichts dieser Befunde und der seit längerem zu beobachtenden Entwicklungsdynamik namentlich im Bereich der demokratischen Funktion überrascht es, wie wenig sich die konventionelle Staatsrechtslehre bislang für das Petitionsrecht interessiert, zumal in den Elektronisierungsprozessen noch nicht einmal die Grundfra-

103

So der Untertitel des Buches von Schick, Petitionen, 3. Aufl. 1996. Vgl. dazu den Bericht von Menge, NVwZ 2007, 1275 f., über die Tagung „Vom Bittund Beschwerderecht zum Konfliktmanagement im Staat-Bürger-Verhältnis – Internationale Konferenz zu den Potenzialen eines neuen Petitionsrechts“; gleichgerichtete Überlegungen zum Bürgerbeauftragten finden sich bei Debus, ThürVBl. 2009, 77 (80). 105 Vgl. dazu die Hinweise auf Überlegungen von Ortloff bei Menge, NVwZ 2007, 1275 (1276). 106 Siehe dazu an dieser Stelle nur Lippa/Kubicek/Bröchler, Bekanntheit und Ansehen des Petitionsausschusses des Deutschen Bundestages und Nutzung des Petitionsrechts in Deutschland, 2009, S. 21 ff. 107 Siehe dazu bereits die Überlegungen bei Bauer, FS Stern, 2012, 1211 (1215 ff.). 104

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ge nach dem verfassungsrechtlichen Schutz von E-Petitionen geklärt ist108. Thomas Würtenberger hat den Stellenwert des Eingabewesens schon vor vielen Jahren anders eingeschätzt, die Aufmerksamkeit vor allem auf die politische Seite des Petitionsrechts gelenkt, die Verfassungsrechtslehre wiederholt für die politische Brisanz dieses Grundrechts sensibilisiert und dabei mit sicherem Blick ein für die Funktionsfähigkeit des Gemeinwesens wichtiges Thema identifiziert und zukunftsweisend bearbeitet – und dies alles oftmals gegen vorherrschende Trends: Glückwunsch!

108 Dabei geht es im Kern um die Frage, ob E-Petitionen dem Schriftformerfordernis des Art. 17 GG genügen und damit dem grundrechtlichen Schutz unterfallen. Die Frage wird inzwischen wohl überwiegend bejaht, von Würtenberger (Fußn. 1), S. 357 mit Fußn. 2, aber kurz und bündig verneint. Auf Bundesebene (genauer: für Art. 17, 45c GG) steckt in ihr gleichsam der verfassungsrechtliche Schlüssel für den Einstieg in das (grundgesetzlich geschützte) elektronische Petitionswesen.

Grundrechtseingriffe durch Datenerhebung? Am Beispiel der Videobeobachtung insbesondere von Versammlungen Von Christoph Enders, Leipzig I. Staatliche Datenerhebung und die „moderne“ Lehre vom Grundrechtseingriff Dass die Erhebung personenbezogener Daten1 einen Grundrechtseingriff darstellt, unterliegt keinem Zweifel, wenn die Erhebung der Daten mit Befehl und Zwang einhergeht2. Wird eine gesetzliche Auskunftspflicht statuiert, ist sie im Grundsatz zwangsweise durchsetzbar. Und nicht selten manifestiert sich die Pflicht, in bestimmten Hinsichten Rede und Antwort stehen zu müssen, darüber hinaus in einem Aufenthaltszwang, also der ihrerseits erzwingbaren gesetzlichen Anordnung, nach der, soweit für die Datenerhebung erforderlich, ein Ort aufzusuchen ist oder jedenfalls nicht verlassen werden darf (vgl. z. B. § 9 ME PolG, Identitätsfeststellung; § 11 ME PolG, Vorladung). Dieser weitere staatliche Zugriff auf die Persönlichkeitsentfaltung, namentlich die Freiheit der Person, der die Datenerhebung ermöglichen soll, erscheint so als letzte Konsequenz des Pflichtenverhältnisses, unter das die informationelle Selbstbestimmung, die Befugnis des Einzelnen, „grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen“3 (Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG) vom Gesetzgeber gestellt werden kann4. Wenn aber staatliche Datenerhebung ohne Befehl und Zwang auskommt, unter welchen Voraussetzungen ist sie dann grundrechtsrelevant und rechtfertigungsbedürftig, also: einem klassischen Grundrechtseingriff „funktional äquivalent“5 ? Die neuere Lehre vom mittelbar faktischen Grundrechtseingriff geht davon aus, dass 1

Unter personenbezogenen Daten versteht man nach der allgemeingültigen Definition in § 3 Abs. 1 BDSG „Einzelangaben über persönliche oder sachliche Verhältnisse einer bestimmten oder bestimmbaren natürlichen Person (Betroffener)“. 2 Zu diesem Kennzeichen „klassischer“ Grundrechtseingriffe Sachs, in: Sachs (Hg.), Grundgesetz, 6. Aufl. 2011, vor Art. 1, Rn. 80. 3 Zentral BVerfGE 65, 1 (43) – Volkszählung; etwa noch BVerfGE 120, 274 (311 f.) – Computer-Online-Durchsuchung. 4 Dazu auch Enders, in: Merten/Papier (Hg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. IV, 2011, § 89, Rn. 48. 5 Zum funktionalen Eingriffsäquivalent BVerfGE 105, 252 (273); 105, 279 (303).

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nicht nur „klassische“, durch Befehl und Zwang charakterisierte Eingriffsmaßnahmen die von den Grundrechten normierte und im Interesse des Einzelnen subjektivierte staatliche Rechtfertigungspflicht auslösen (Art. 1 Abs. 3 GG): Auch rein faktische, beabsichtigte wie unbeabsichtigte Beeinträchtigungen der individuellen (Grund-)Rechtssphäre durch Hoheitsträger (z. B. durch die bei einer militärischen Schießübung oder einem Polizeieinsatz abirrenden Geschosse6) ebenso die bloß mittelbaren Wirkungen förmlichen und schlichten Hoheitshandelns (etwa die dritt-belastende Wirkung eines begünstigenden Verwaltungsakts, z. B. einer Baugenehmigung, vgl. § 80 Abs. 1 Satz 2 VwGO oder die abschreckende Wirkung hoheitlicher Warnungen auf die potentiellen Käufer eines Produkts)7 können danach Grundrechtseingriffe begründen8. Bleibt die Frage, welcher Art und Intensität die hoheitlich zu verantwortende Einwirkung zu sein hat, damit sie sich auf dem Prüfstand der Grundrechte bewähren muss. Wann erfüllt etwa, ein viel diskutierter Anwendungsfall, die Videobeobachtung einer Versammlung das Kriterium des „funktionalen Eingriffsäquivalents“9 ? Um die Sache nicht unnötig zu komplizieren, beruft man sich vielfach auf eine Formel, nach der als Eingriff jedes staatliche Handeln anzusehen ist, „das dem Einzelnen ein Verhalten, das in den Schutzbereich eines Grundrechts fällt, ganz oder teilweise unmöglich macht …“10. Diese Formel erfreut sich großer Beliebtheit nicht nur bei Studierenden11, sondern auch in der Wissenschaft12 und nicht zuletzt in der 6

J. Ipsen, Staatsrecht II – Grundrechte, 14. Aufl. 2011, Rn. 168 f.; Michael/Morlok, Grundrechte, 2. Aufl. 2010, Rn. 502; bereits Fleiner, Institutionen des Verwaltungsrechts, 8. Aufl. 1928, S. 57, 293. 7 Zur Eigenart mittelbarer Beeinträchtigungen BVerfGE 105, 252; 105, 279 (304). Vgl. Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2010, Rn. 384; Michael/Morlok (Fußn. 6), Rn. 498. 8 Begrifflichkeit in BVerfGE 105, 279 (300 f., 304); vgl. ferner Epping (Fußn. 7), Rn. 384; Hillgruber, in: Isensee/Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. IX, 3. Aufl. 2011, § 200, Rn. 90. 9 Allgemein zum Problem der Videoüberwachung in der Öffentlichkeit: Würtenberger, Freiheit und Sicherheit – Die Grenzen der Persönlichkeitsentfaltung, in: Rill (Hg.), Grundrechte – Grundpflichten: eine untrennbare Verbindung, 2001, S. 15 (22 f.); jetzt BVerwG, Urt. v. 25.1.2012 – 6 C 9.11. Zur Videobeobachtung von Versammlungen (unter freiem Himmel): VG Berlin, DVBl. 2010, 1245; OVG NW, DVBl. 2011, 175. 10 Pieroth/Schlink, Grundrechte – Staatsrecht II, 1. Aufl. 1985, Rn. 274 und noch 27. Aufl. 2011, Rn. 253. 11 Vgl. zur Erklärung der in studentischen Klausurbearbeitungen und Hausarbeiten statistisch anzutreffenden Häufigkeit der Formel neben dem einflussreichen Lehrbuch von Pieroth/ Schlink, aaO, noch (aus der Reihe „Start ins Rechtsgebiet“) Gersdorf, Verfassungsprozessrecht und Verfassungsmäßigkeitsprüfung, 3. Aufl. 2010, Rn. 245 sowie (ebenfalls aus der Reihe „Start ins Rechtsgebiet“) Papier/Krönke, Grundkurs Öffentliches Recht 2 – Grundrechte, 2012, Rn. 135; ferner etwa Epping (Fußn. 7), Rn. 38. 12 Peine, in: Merten/Papier (Hg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. III, 2009, § 57, Rn. 31; Hillgruber (Fußn. 8), § 200, Rn. 89. In der Tendenz und als „Faustregel“ befürwortet, im Übrigen aber als „zu eng“ kritisiert wird die Formel von Bethge, VVDStRL 57 (1998), S. 7 (40).

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Rechtspraxis13. Gerade den Eingriffscharakter der Videobeobachtungen von Versammlungen nach dem Kamera-Monitor-Prinzip, die zunächst auf eine unmittelbar zeitgleiche Auswertung der übertragenen Bilder am Monitor abzielen, nicht notwendig eine Aufzeichnung (Speicherung) der Daten implizieren, soll diese Formel belegen14. Auf den ersten Blick überrascht diese Argumentation: Durch Beobachtung wird ein Verhalten weder ganz noch teilweise unmöglich und jedenfalls körperlich nicht erschwert. Näheres Zusehen zeigt, dass zum einen besonders auf die – insoweit mittelbare – Abschreckungswirkung („chilling effect“) abgehoben wird, weil sich das „Gefühl des Überwachtwerdens“, wie ja unmittelbar einleuchtet, einschüchternd und auf die Freiheitsbetätigung hemmend auswirken kann15. Zum anderen wird freilich deutlich: Die Beliebtheit der Formel von der eingriffskonstituierenden (tatsächlich-mittelbaren) Verunmöglichung des Freiheitsgebrauchs verdankt sich wohl eher nicht der Klarheit der Definition. Sie nivelliert Unterschiede zwischen den Schutzgegenständen und damit dem jeweiligen Schutzzweck der Grundrechte, die auch für die Frage nach der Eingriffswirkung staatlichen Handelns normativ maßgeblich sein müssen. Sie lässt darüber hinaus überhaupt offen, welche Art von „Möglichkeiten“ die Grundrechte schützen wollen und können. Am Ende muss vielleicht der Argumentationsgewinn, den die Formel zu vermitteln scheint und der ihre Beliebtheit ausmacht, gegen den Präzisionsgewinn einer weniger schlagwortartigen Problemlösung eingetauscht werden. II. Die Videobeobachtung von Versammlungen als Grundrechtseingriff und die „Abschreckungswirkung“ als Eingriffskriterium 1. Die gesteigerte Intensität einer videounterstützten Beobachtung als Eingriffskriterium Gelegentlich wird die gegenüber der schlichten menschlichen Wahrnehmung (etwa: anwesender Polizeibeamter) gesteigerte Informationshaltigkeit der Videobeobachtung, ihre besondere „Intensität“, wie allgemein in der Einschätzung der Videoüberwachung des öffentlichen Raums so auch mit Blick auf Versammlungen 13

VG Berlin, DVBl. 2010, 1245 (1246, Abs. 15 f.). VG Berlin, DVBl. 2010, 1245 (1246, Abs. 15 f.); vgl. OVG NW, DVBl. 2011, 175. Dazu Waldhoff, JuS 2011, 479 f. 15 VG Berlin, DVBl. 2010, 1245 (1246, Abs. 16, 17); OVG NW DVBl. 2011, 175; vgl. Dietel/Gintzel/Kniesel, Versammlungsgesetz, 16. Aufl. 2011, § 12a, Rn. 14. So wohl erstmals in BVerfGE 65, 1 (43); ferner BVerfGE 122, 342 (371), 125, 260 (335). Der Abschreckungseffekt spielt auch in der Videoüberwachung des öffentlichen Raums die zentrale Rolle, Würtenberger (Fußn. 9), S. 23: „Zipperleineffekt“; auch ders./Heckmann, Polizeirecht in Baden-Württemberg, 6. Aufl. 2005, Rn. 603, 606. Als nachrangig unter grundrechtlichen Aspekten erachtet diesen Effekt VGH BW, NVwZ 2004, 498 (500), der letztlich auf die Intensität der technisch unterstützten Beobachtung abhebt; zustimmend Schnabel, NVwZ 2010, 1457. 14

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für den Eingriffscharakter und demgemäß die Rechtfertigungsbedürftigkeit dieser Maßnahme ins Feld geführt16. Wäre indessen die schlichte Beobachtung von Personen von vornherein nicht als Grundrechtseingriff zu qualifizieren, würde auch die Intensivierung dieses Negativbefunds nicht die Eingriffsschwelle überschreiten. In der Tat ist die Beobachtung von Personen, insofern die Erhebung von Informationen über ihre persönlichen oder sächlichen Verhältnisse, weder Privaten noch dem Staat schlechterdings untersagt. Allerdings normiert das Grundgesetz durchaus Grundrechte, die nach ihrem Sinn und Zweck Freiheitssphären garantieren und vor unbefugtem Eindringen schützen sollen, namentlich die Vertraulichkeitssphäre des Kommunikationsvorgangs in Gestalt des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses (Art. 10 GG)17 und die räumliche Privatsphäre unter dem Titel der Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 GG)18. Ein derart gegenständlich-funktional determinierter Sphärenschutz richtet sich nicht nur gegen förmliche Hoheitsakte, also „klassische“ Grundrechtseingriffe, sondern verbietet dem Staat jedwedes (rein tatsächliches oder auf eine Verfügung gegründetes) unberechtigtes Überschreiten der Sphärengrenze. Auch hoheitlichen Realakten, die in die geschützte Sphäre eindringen, kommt hier demgemäß Eingriffswirkung zu19. Demgegenüber schützt die Versammlungsfreiheit nach Art. 8 GG örtliche Zusammenkünfte, die auf Teilhabe an der öffentlichen Meinungsbildung (durch gemeinschaftliche Erörterung oder Kundgebung) gerichtet sind20. Das von der Versammlungsfreiheit geschützte Verhalten ist also an die Öffentlichkeit adressiert, weshalb ihre Gewährleistung zu einer privilegierten Inanspruchnahme öffentlichen Raums „ohne Anmeldung oder Erlaubnis“ berechtigt21. Wer aber sein Recht, öffentlich wahrgenommen zu werden, geltend macht, kann dabei nicht gleichzeitig auf Privatheit beharren wollen und sich gegen Beobachtung verwahren. Jedenfalls in der Gewährleistung der Versammlungsfreiheit findet der Privatsphärenschutz in der Öffentlichkeit daher keine normative Grundlage. Aber auch das allgemeine Persönlichkeitsrecht, aus dem das Recht auf informationelle Selbstbestimmung abgeleitet wird, schützt in der Öffentlichkeit nicht vor Beobachtung. Die Persönlichkeitsentfaltung weist bei näherer Betrachtung keinen gegenständlich-funktional feststehenden Garantiebereich auf, der die Grundlage eines auch in der Öffentlichkeit wirksamen Sphärenschutzes bilden könnte. Vielmehr ist die Persönlichkeitsentfaltung nur situa16

VG Berlin DVBl. 2010, 1245 (1247, Abs. 19) unter Bezugnahme auf VGH BW, NVwZ 2004, 498; ebenso Kugelmann, Polizei- und Ordnungsrecht, 2. Aufl. 2012, Rn. 139 ff., 144. 17 BVerfGE 120, 274 (307); 125, 260 (309 f.). 18 BVerfGE 109, 279 (309); 120, 274 (309 f.). 19 Enders, in: Friauf/Höfling (Hg.), Berliner Kommentar zum Grundgesetz, 2000, vor Art. 1, Rn. 98; ders. (Fußn. 4), § 89, Rn. 49; ähnlich Ipsen (Fußn.6), Rn. 150, 152. 20 BVerfGE 104, 92 (104); 128, 226 (250). 21 Insofern gibt die Versammlungsfreiheit ein – im Grundsatz von den straßen- und straßenverkehrsrechtlichen Restriktionen freies – Selbstbestimmungsrecht insbes. auch über den Ort der Veranstaltung, vgl. BVerfGE 69, 315 (343) und jetzt BVerfGE 128, 226 (250 f.) – Fraport.

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tionsabhängig nach Maßgabe der Umstände und darum in der Öffentlichkeit nur in bestimmten Hinsichten gewährleistet. Das bedeutet nicht, dass eine Datenerhebungsmaßnahme schon deswegen keine Eingriffswirkung entfaltet, weil sie im öffentlichen Raum vorgenommen wird22. Aber die verfassungsmäßige Rechtsordnung, die (über die Schrankenklausel des Art. 2 Abs. 1 GG) konkretisiert, inwieweit das Interesse an unbehelligter Persönlichkeitsentfaltung überhaupt rechtlich anerkannt ist23, verbietet zwar das Verbreiten von Abbildungen ohne Einwilligung des Abgebildeten (§§ 22, 23, 33 KUG) und untersagt das Eindringen in die rechtlich anerkannte Privat- und Geheimsphäre (§ 123, §§ 201 ff. StGB). Das bloße Beobachten von Personen, die sich in die Öffentlichkeit begeben, ist demgegenüber ganz allgemein erlaubt und deshalb auch dem Staat nicht verboten. Insofern gilt das Diktum des Bundesverfassungsgerichts, dass es dem Staat nicht verwehrt sein kann, „von jedermann zugänglichen Informationsquellen unter denselben Bedingungen wie jeder Dritte Gebrauch zu machen“24. Die punktuelle, schlicht hoheitliche Beobachtung einer Person löst folglich, da sie voraussetzungslos zulässig ist, ohne weiter qualifizierende Umstände keine Rechtfertigungspflicht aus. Dieser Annahme steht nicht entgegen, dass der Bundesgesetzgeber mit § 6b BDSG eine Norm geschaffen hat, die die Videobeobachtung an bestimmte Voraussetzungen bindet. Die Vorschrift verfolgt einen besonderen Zweck: Sie dient der Umsetzung der europäischen Datenschutzrichtlinie25, die wiederum im Interesse eines grenzüberschreitenden Datenflusses gerade die Übermittlung von Daten ermöglichen soll, deshalb nicht ihre Erhebung gezielt behindern will. 2. Eingriffsbegründende Abschreckungswirkung von Videoaufnahmen? Derart qualifizierende Umstände könnten freilich in der Abschreckungswirkung von Videoaufnahmen zu sehen sein, die erklärtermaßen ein gewichtiges Motiv für die Videoüberwachung des öffentlichen Raums bildet26 und auch und sogar erst recht gegenüber Versammlungen zum Tragen kommen und die Wahrnehmung der Versammlungsfreiheit beeinträchtigen kann. Denn während sich die Nutzung des öffentlichen Raumes kaum vermeiden lässt und darum die Videobeobachtung letztlich nur kriminelle Absichten eindämmt, mag Überwachungsdruck durchaus dazu führen, dass potentielle Versammlungsteilnehmer von ihrem ganz legalen Versammlungsvorhaben Abstand nehmen. Gleichwohl begründet selbst diese Abschreckungswirkung der Videobeobachtung nicht ohne Weiteres die Grundrechtsrelevanz der Maßnahme. Denn am Ende 22

BVerfG-K, NVwZ 2007, 688 (690); BVerfGE 120, 378 (399). Enders (Fußn. 4), § 89, Rn. 29, 52. 24 BVerfGE 120, 274 (344 f.); 120, 351 (361). 25 Richtlinie 95/46/EG vom 24. 10. 1995 zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten und zum freien Datenverkehr. 26 Würtenberger/Heckmann (Fußn. 15), Rn. 603. 23

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würde mit dem „Gefühl des Überwachtwerdens“ doch ein höchst subjektiver und individuell sehr differenziert auftretender Befund zum Kriterium des Grundrechtseingriffs erklärt27. Eine solche Subjektivierung muss nicht notwendig ausschließlich zugunsten der Versammlungsfreiheit zu Buche schlagen. Kommt es maßgeblich auf das Gefühl des Überwachtwerdens an, könnte die in der Rechtspraxis gleichwohl unvermeidliche Typisierung der Eingriffsanforderungen durchaus leicht zu einer Unterschreitung des eigentlich gefühlsmäßig gebotenen Schutzniveaus führen. Sollte etwa, wie das Oberverwaltungsgericht Münster meint, wirklich schon ein Abwenden der grundsätzlich aufnahmebereiten (im Stand-by-Modus geschalteten) Kamera die Eingriffswirkung der Beobachtungsmaßnahme (wieder) beseitigen28? Den sensiblen Versammlungsteilnehmer mag schließlich auch bei abgewendeter Kamera das „Gefühl des Überwachtwerdens“ beschleichen. Nicht zuletzt könnte man geneigt sein, gerade die heimliche Anfertigung von Videoaufnahmen, die ja, solange sie unbemerkt bleibt, auch nicht einschüchternd wirken kann, für die von Verfassung wegen schonendste Variante der Überwachung zu halten. Es liegt auf der Hand, dass diese Konsequenz aus einem subjektivierten Eingriffsverständnis im Widerspruch zum datenschutzrechtlichen Grundsatz der offenen Datenerhebung29 steht. Aber die Logik der gefühlten Freiheit widersetzt sich jeder formalen Strukturierung, selbst wenn sie rechtsstaatlichen Prinzipien der Freiheitsorganisation verpflichtet ist. Freilich liegt die entgegengesetzte Tendenz, dass im Rekurs auf das Gefühl der Versammlungsteilnehmer die Schutzwirkung der Versammlungsfreiheit überdehnt wird, noch näher: In letzter Instanz könnte womöglich jeder, der vorträgt, mit Blick auf die dort durchgeführte Videobeobachtung nicht an einer Versammlung teilgenommen zu haben und der stattdessen seine Zeit lieber mit anderen und anderem verbracht hat, unter Berufung auf den Einschüchterungseffekt die Feststellung der Rechtswidrigkeit des Videoeinsatzes verlangen (§ 43 VwGO). Zwar liegt es nahe, mit dem Bundesverfassungsgericht den Versuch einer Objektivierung zu unternehmen und der Videobeobachtung einer Versammlung im Kamera-Monitor-Verfahren nur dort Eingriffseffekt zuzubilligen, wo wegen der geringen Größe der Versammlung und der Übersichtlichkeit des Versammlungsgeschehens Übersichtsaufnahmen zur Lenkung und Leitung des Polizeieinsatzes offenkundig überflüssig erscheinen und eben darum einschüchternd wirken müssen30. Selbst dann wird aber eine Vielzahl von Fällen verbleiben, in denen die Kriterien der Größe und (Un-)Übersichtlichkeit einer Versammlung die Zuordnung von Videoaufnahmen zur Gruppe entweder der eingreifenden und rechtfertigungsbedürftigen oder aber der eingriffsneutralen Maßnahmen nicht hinreichend eindeutig ermöglichen. 27 Söllner, DVBl. 2010, 1248 (1249); vgl. auch Murswiek, in: Sachs (Fußn. 2), Art. 2, Rn. 88a in Fußn. 164, der freilich im Übrigen die Lehre vom „Einschüchterungseingriff“ billigt. 28 OVG NW, DVBl. 2011, 175 (176). 29 Würtenberger (Fußn. 9), S. 23. 30 OVG NW, DVBl. 2011, 175 (176) unter Berufung auf BVerfGE 122, 342 (372 f.); vgl. Waldhoff, JuS 2011, 479 (480).

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3. Das Eingriffskriterium im systematisch-teleologischen Zusammenhang grundrechtlicher Freiheitsgewährleistung Die Einschüchterungswirkung bleibt also ein fragwürdiges Eingriffskriterium. Der Blick auf den grundrechtstheoretischen Hintergrund verfassungsmäßiger Freiheitsgewährleistung hilft, das grundrechtsdogmatische Problem der Eingriffskonstruktion zu klären und zeigt: Die Abschreckungswirkung staatlicher Maßnahmen, etwa der Videobeobachtung, konstituiert aus sich heraus nicht ihren Eingriffscharakter. Die Grundrechte des Grundgesetzes schützen individuelle Freiheit, indem sie das Handeln wie das Unterlassen31 gegen staatliche Eingriffe (Verbote oder Gebote) abschirmen und damit immer auch die individuell-subjektive, selbstbestimmte Entscheidung, im konkreten Fall zu handeln oder untätig zu bleiben, in Schutz nehmen. In gewissem Umfang sind darüber hinaus sogar Freiheitsvoraussetzungen geschützt. Denn mit Blick auf die Subjektqualität des Menschen, seine Anerkennung als Person32 spricht das allgemeine Persönlichkeitsrecht eine Zurechnungsgarantie aus, nach der Eigenschaften oder Werthaltungen, die das gesellschaftliche Ansehen und insoweit die persönliche Identität prägen, dem Einzelnen nicht einfach fremdbestimmt ab- oder zugesprochen werden können33. Demgegenüber findet das Gefühl unbegrenzter Möglichkeiten, d. h.: die innerlich empfundene Freiheit von jeglichem Entscheidungszwang, das positive Bewusstsein der von allen Hemmnissen freien Handlungsoption keine grundrechtliche Anerkennung. Eine derart weit als positive Gestimmtheit der sich Versammelnden verstandene „innere Versammlungsfreiheit“, die schon durch das „Gefühl des Überwachtwerdens“ verkürzt würde, ist unter einer rechtsstaatlichen Verfassung nicht als Rechtsposition anerkannt34. Allein mit der Einschüchterungswirkung lässt sich der Eingriffscharakter einer staatlichen Maßnahme daher nicht begründen.

31 Das Unterlassen ist jedenfalls durch die allgemeine Handlungsfreiheit nach Art. 2 Abs. 1 GG geschützt, BVerfGE 6, 32 (36 f.). Überwiegend wird angenommen, dass die speziellen Gewährleistungen, soweit sie Handlungen schützen, eine „negative Seite“ aufweisen und nicht nur das Handeln im Schutzbereich des Einzelgrundrechts erfassen, sondern jeweils auch das Recht geben, nicht handeln zu müssen. Zum Ganzen kritisch Hellermann, Die sogenannte negative Seite der Freiheitsrechte, 1993. 32 Vgl. Isensee, in: Merten/Papier (Hg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. IV, 2011, § 87, Rn. 96, 166. 33 BVerfGE 54, 148 (153); Britz, Freie Entfaltung durch Selbstdarstellung, 2007, S. 27, 67. 34 Enders (Fußn. 4), § 89, Rn. 45, 50; a.A. Masing, Gesetz und Gesetzesvorbehalt – Zur Spannung von Theorie und Dogmatik am Beispiel des Datenschutzrechts, in: HoffmannRiem, Offene Rechtswissenschaft, 2010, S. 467 (489): „subjektive Unbefangenheit der Freiheitswahrnehmung“ als Schutzgut.

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III. Die Videobeobachtung als rechtfertigungsbedürftiger Grundrechtseingriff – grundrechtsdogmatisch notwendige Differenzierungen im Kontext der Versammlungsfreiheit 1. Die Abschreckungswirkung staatlicher Datenerhebungsmaßnahmen als Moment der Eingriffsintensität Der Eingriff durch Datenerhebung muss demnach anhand anderer Kriterien definiert und identifiziert werden. In der Volkszählungsentscheidung, von der die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Recht auf informationelle Selbstbestimmung ihren Ausgang nahm, brauchte das Gericht die Frage nach dem Eingriffscharakter einer Datenerhebung nicht zu problematisieren. Das streitgegenständliche Volkszählungsgesetz 1983 normierte ausdrücklich Auskunftspflichten der Bürger (s. o. unter I.)35. Erst in der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist darum der Umstand, der eigentlich – unabhängig von ausdrücklichen Auskunftspflichten – die Eingriffswirkung von Datenerhebungen auslöst, deutlicher hervorgetreten: Zum Eingriff in die grundrechtlich geschützte Freiheit wird auch eine schlicht hoheitliche (und insbesondere heimliche) Datenerhebung mit der Speicherung der Daten36. Denn durch ihre Speicherung werden Daten, nach dem ausdrücklich erklärten oder regelmäßig zu vermutenden Zweck dieser Maßnahme, vorrätig gehalten, um sie später gegen den Betroffenen (zur Begründung belastender Maßnahmen in Strafoder Ordnungswidrigkeitenverfahren oder in anderen Verhältnissen der Über-/Unterordnung) verwenden zu können37. Der Datenspeicherung kommt insofern regelmäßig dienende Funktion im Gesamtzusammenhang eines hoheitlichen Eingriffsregimes zu. Nicht bereits die bloße Beobachtung nach dem Kamera-Monitor-Prinzip, stets aber die Videoaufzeichnung stellt in der Folge einen Grundrechtseingriff dar. Selbst wenn Aufnahmen zunächst nur zu Übersichtszwecken angefertigt und aufgezeichnet werden, können abgebildete Einzelpersonen doch im Nachhinein ohne weiteres individualisiert und identifiziert und damit zu Adressaten weiterer belastender Maßnahmen gemacht werden38. Die Frage ist nur, in welches Grundrecht Videoaufnahmen eingreifen, die im Verlauf von Versammlungen angefertigt werden. Spricht man 35 BVerfGE 65, 1 (45: „Eingriff, durch welchen der Staat die Angabe personenbezogener Daten vom Bürger verlangt“). 36 Würtenberger/Heckmann (Fußn. 15), Rn. 606. 37 In der Sache BVerfG-K, NVwZ 2007, 688 (690); insbesondere dann BVerfGE 120, 378 (398 f.): „Speicherung mit der Möglichkeit der Weiterverwertung“; vgl. BVerfGE 122, 342 (369); 125, 260 (327 f.). Ferner vor allem BVerfG-K, NJW 2009, 3293 f.; BVerfG-K, DuD 2010, 788 (789 f., Abs. 14 f.) – jeweils zu Videoaufnahmen im Straßenverkehr und jetzt zur Videoüberwachung des öffentlichen Raums BVerwG, Urt. v. 25.1.2012 – 6 C 9.11, Abs. 24, 26. Zum Ganzen Enders (Fußn. 4), § 89, Rn. 51; vgl. auch Hong, NJW 2009, 1458. 38 BVerfGE 122, 342 (368 f.).

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dem Abschreckungseffekt von Videoaufnahmen die Qualität des Eingriffsäquivalents ab, liegt es eher fern, die Videobeobachtung von Versammlungen als Eingriff gerade in die Versammlungsfreiheit zu verstehen. Zwar stehen sie in Bezug zu aktuellem oder jedenfalls künftigem Versammlungsgeschehen. Als bloße Übersichtsaufnahmen dienen sie etwa der Lenkung und Leitung des Polizeieinsatzes im Verlauf einer Versammlung39. Werden die Aufnahmen aufgezeichnet, ermöglichen sie darüber hinaus die Verfolgung von Straftaten aus Anlass einer Versammlung, mögen aber auch die Grundlage der Gefahrenabwehr im Vorfeld künftiger Versammlungen bilden, weil anhand dieser Informationen etwa Ordner als ungeeignet abgelehnt oder vor allem auch Gewalttäter an Kontrollstellen identifiziert und ausgeschlossen werden können40. Aber insgesamt erweist sich die Videobeobachtung von Versammlungen, auch wenn sie in eine Aufzeichnung mündet, doch lediglich als Vorstufe auf dem Weg zu den dann selbständig belastenden, in die Versammlungsfreiheit eingreifenden und in ihrem Licht zu prüfenden Maßnahmen. Die Datenerhebung im Zuge einer Videobeobachtung von Versammlungen überschreitet daher infolge ihrer Hilfsfunktion nicht die Schwelle zum Eingriff in die Versammlungsfreiheit und sollte unabhängig von dieser beurteilt werden. Es bleibt also beim Eingriff in die informationelle Selbstbestimmung der Versammlungsteilnehmer (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG). 2. Die Rechtfertigung staatlicher Datenerhebungsmaßnahmen im Umfeld von Versammlungen Richtig ist allerdings, dass gerade die (Möglichkeit der) Aufzeichnung von Daten, die später vor allem zu Beweiszwecken gegen den Betroffenen verwendet werden können, die Abschreckungswirkung der Videobeobachtung ausmacht41. Diese Abschreckungswirkung (das „Gefühl des Überwachtwerdens“) begründet zwar nicht den Eingriff, sie tritt aber zum Eingriff, der in der Speicherung der Daten liegt, seine Intensität steigernd hinzu42. Die Abschreckungswirkung spielt damit eine Rolle erst und nur für die Rechtfertigung des Eingriffs. Fragt man nach den Bedingungen, unter denen Videoaufzeichnungen allgemein gerechtfertigt erscheinen, so 39 Vgl. Enders/Hoffmann-Riem/Kniesel/Poscher/Schulze-Fielitz (Arbeitskreis Versammlungsrecht), ME VersG, 2011, § 16, S. 46 ff. 40 Eine wieder andere und letztlich gleichfalls zu verneinende Frage ist, ob der Versammlungsausschluss oder die Strafverfolgung von Gewalttätern einen Eingriff in die Versammlungsfreiheit darstellen. Es sind indessen unterhalb der Schwelle zur Gewalttätigkeit strafrechtlich relevante (z. B.: nötigende) Verhaltensweisen denkbar, die gleichwohl in den Schutzbereich der Versammlungsfreiheit fallen, BVerfGE 104, 92 (108); BVerfG-K, JZ 2011, 685 zur Blockade eines Militärstützpunkts und zur „Zweite-Reihe-Rechtsprechung“ des BGH. 41 Würtenberger/Heckmann (Fußn. 9), Rn. 603. 42 Vgl. BVerfGE 65, 1 (38 ff.); 122, 342 (370 f.); 125, 260 (318 ff.); Kritik an der Unschärfe des Kriteriums auch in diesem nachgeordneten Zusammenhang der Eingriffsrechtfertigung im Sondervotum des Verfassungsrichters Schluckebier, BVerfGE 125, 260 (364, 366).

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fällt auf, dass die den Eingriff intensivierende Abschreckungswirkung vor allem dann zum Tragen kommt, wenn die Aufzeichnungen anlass- und verdachtlos angefertigt werden. Bedarf es keines gegen bestimmte Personen gerichteten Gefährdungsverdachts, bedarf es nicht einmal eines besonderen Anlasses, um Aufnahmen anzufertigen, auf denen die Abgebildeten (später) individualisiert und identifiziert werden können, dann kann jederzeit über jeden Datenmaterial gesammelt und bevorratet werden. Gerade diese Voraussetzungslosigkeit und „Streubreite“ der Maßnahmen wirkt abschreckend. Naturgemäß ist aber wegen der Voraussetzungslosigkeit der Datenerhebung auch die Gefahr eines Missbrauchs besonders groß43. Deswegen stößt umgekehrt die Rechtfertigung der Erhebungsbefugnis an strikte verfassungsrechtliche Grenzen: Die Ermächtigung zu anlass- und verdachtlosen Maßnahmen der Datenerhebung, durch die eine Datenerhebung im Vorfeld der Gefahrenabwehr und damit losgelöst von jeder individuellen Gefahrverantwortlichkeit oder auch im Interesse künftiger Strafverfolgung (Strafverfolgungsvorsorge) unabhängig von einem hinreichenden Tatverdacht institutionalisiert werden soll44, mag mit Rücksicht auf das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung45 und im Interesse einer umfassend verstandenen Sicherheitsvorsorge verhältnismäßig erscheinen. Als Datenerhebung „ins Blaue hinein“, ist sie dem Staat, sofern er Rechtsstaat ist und darum Eingriffsmaßnahmen vor der Freiheit des Einzelnen mit dem Zweck des Rechtsgüterschutzes rechtfertigen muss (Art. 1 Abs. 3 GG)46, schlechterdings verboten47. Es bedarf also stets hinreichend konkreter Anhaltspunkte, die, gegebenenfalls in Gestalt eines Gefahrenverdachts, belegen, dass Maßnahmen der Gefahrenabwehr gegen bestimmte Personen veranlasst sein können und zu diesem Zweck Daten zu erheben und zu speichern sind48. An diesem von der Verfassung unabdingbar vorgegebenen Rechtfertigungserfordernis kann dann auch die verwaltungsgerichtliche Kontrolle ansetzen. Gleichwohl hat das Bundesverwaltungsgericht die als anlasslos gekennzeichnete Videoüberwachung der Hamburger Reeperbahn für recht- und verfassungsmäßig ge43

BVerfGE 122, 342 (371). Vgl. zur zukunftsgerichteten Straftatverhinderungs- und Strafverfolgungsvorsorge Würtenberger/Heckmann (Fußn. 9), Rn. 178 ff.; zusammenfassend nochmals BVerwG, Urt. v. 25.1.2012 – 6 C 9.11, Abs. 24, 29, 31 f. 45 Vgl. Würtenberger (Fußn. 9), S. 23. 46 Hillgruber, in: Isensee/Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts Bd. IX, 3. Aufl. 2011, § 201, Rn. 56. 47 BVerfGE 113, 348 (386); 120, 274 (326 ff.); 120, 378 (429); 125, 260 (329, 330 f., 343); Enders, Sozialstaatlichkeit im Spannungsfeld von Eigenverantwortung und Fürsorge, in: VVDStRL 64 (2005), 7 (46 f.); ders., in: Stern/Becker (Hg.), Grundrechte-Kommentar, 2010, Art. 1, Rn. 70 ff.; ders. (Fußn. 4), § 89, Rn. 34, 63; Poscher, Eingriffsschwellen im Recht der inneren Sicherheit, in: Die Verwaltung 41 (2008), 345 (370). Das Bundesverfassungsgericht handelt freilich das Problem der anlass- und verdachtlosen Datenerhebung in std. Rspr. unter dem Aspekt der Verhältnismäßigkeit ab, vgl. Hillgruber (Fußn. 41), § 201, Rn. 72 ff. 48 Im Ergebnis für die Videoüberwachung ebenso Würtenberger (Fußn. 9), S. 23; anders für die Schleierfahndung, aaO, S. 24. 44

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halten49. Das erklärt sich aus der Struktur der einer solchen Beobachtung zugrundeliegenden Normen50 : Zwar erlauben sie Videoaufzeichnungen ohne konkret personenbezogenen Verdacht und ohne dass von Fall zu Fall ein konkreter Anlass gegeben sein müsste. Die Gefährlichkeit der Situation ergibt sich aber aus der anhand belastbarer Tatsachen für die Vergangenheit belegten, für die Zukunft zu prognostizierenden qualifizierten Gefahrgeneigtheit der örtlich definierten Umstände („Kriminalitätsschwerpunkte“)51. Diejenigen, die zu diesen Umständen in eine räumliche Nähebeziehung treten, sind darum, weil durch den Ortsbezug eine persönliche Zurechnung der Gefahrensituation hinlänglich begründet erscheint, zur Duldung der Überwachungsmaßnahmen verpflichtet, die auf diese Weise doch in einem weiten Sinne anlassabhängig durchgeführt werden52. Auf Videoaufzeichnungen, die von Versammlungen angefertigt werden, können indessen diese Erwägungen – und zwar unabhängig davon, ob solche Videoaufzeichnungen einen Eingriff in die Versammlungsfreiheit oder lediglich in die informationelle Selbstbestimmung der Teilnehmer darstellen – ersichtlich nicht übertragen werden. Denn mit dem Ortsbezug der Veranstaltung lässt sich hier im Sinne einer schon hinreichenden Bedingung der Eingriffsrechtfertigung ebenso wenig argumentieren wie mit der Typizität der Situation. Es greift der allgemeine und nicht nur im Versammlungsrecht geltende Grundsatz von Verfassungsrang, dass Eingriffsmaßnahmen nicht einen mutmaßlichen Geschehensablauf unterstellen dürfen, sondern nur mit genauer Rücksicht auf die aktuelle Situation und insofern auf der Grundlage „konkrete(r) und nachvollziehbare(r) tatsächliche(r) Anhaltspunkte“ ergriffen werden dürfen53. Pauschale Annahmen, schematisch festgelegte Reaktionsmuster oder verallgemeinernde Rückschlüsse aus früheren Ereignissen entfalten keine rechtfertigende Wirkung. Infolgedessen hat der Gesetzgeber von Verfassung wegen Videoaufzeichnungen vom Versammlungsgeschehen an die gerichtlich kontrollierbare Voraussetzung zu knüpfen, dass jeweils Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass von bestimmten Personen oder Personengruppen Gefahren für versammlungsrechtlich anerkannte, hinreichend gewichtige Schutzgüter ausgehen (vgl. §§ 12a, 19a VersG). 49

BVerwG, Urt. v. 25.1.2012 – 6 C 9.11. Hier § 8 Abs. 3 HmbPolDVG v. 2. 5. 1991, HmbGVBl. S. 187 mit späteren Änderungen; vgl. § 21 Abs. 3 PolG B.-W. v. 13. 1. 1992, GBl. S. 1 mit späteren Änderungen; § 37 Abs. 2 SächsPolG v. 30. 7. 1991, SächsGVBl. S. 291, in der Fassung der Bekanntmachung vom13. 8. 1999, SächsGVBl. S. 466, m. späteren Änderungen. 51 SächsVerfGH Urt. v. 10.7. 2003 – Vf. 43-II-00, Jb SächsOVG 11, 55 (138, 140 f.); BVerwG, Urt. v. 25.1.2012 – 6 C 9.11, Abs. 43, 48. 52 Das gilt mit Modifikationen im einzelnen entsprechend von den weiteren Varianten der Videoüberwachung, die Veranstaltungen oder Menschenansammlungen und Objekte betreffen, die als besonders gefährdet erscheinen; vgl. § 8 Abs. 1 u. 2 HmbPolDVG; § 21 Abs. 1 u. 2 PolG B.-W.; § 37 Abs. 1 u. 2 SächsPolG. 53 Vgl. BVerfGE 69, 315 (353 f.); BVerfG-K, NVwZ-RR 2010, 625 (626, Abs. 17) – Versammlungsfreiheit; BVerfGE 120, 274 (328 f.) – allgemeines Persönlichkeitsrecht; BVerfGE 125, 260 (321, 330) – Telekommunikationsgeheimnis. 50

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3. Videoaufzeichnungen von Versammlungen in geschlossenen Räumen und ihre Rechtfertigung Im Regelfall werden Versammlungen unter freiem Himmel Gegenstand der Videobeobachtung sein, weil besonders hier Situationen eintreten können, in denen die Unübersichtlichkeit und Größe der Versammlung den Rückgriff auf dieses technische Hilfsmittel, vor allem zur Lenkung und Leitung des Polizeieinsatzes, erforderlich macht. Sollen Versammlungen in geschlossenen Räumen beobachtet werden, die von der Verfassung nicht unter Gesetzesvorbehalt gestellt, also stärker geschützt sind (Art. 8 Abs. 1, Abs. 2 GG), gelten gleichwohl die dargelegten allgemeinen rechtlichen Grundsätze: Vor allem kommt wiederum nicht der Videobeobachtung als solcher – im Unterschied zur bloßen körperlichen Anwesenheit von (die Versammlung beobachtenden, nicht an ihr teilnehmenden) Polizeibeamten – eigenständige Eingriffswirkung zu. Das Eingriffsproblem stellt sich vielmehr bereits mit Blick auf die Anwesenheit von Polizeibeamten in den „geschlossenen Räumen“ des Versammlungsorts, auch wenn diese bei öffentlichen Versammlungen einem grundsätzlich individuell unbestimmten Personenkreis zugänglich sind54. Denn es ist mit Rücksicht auf das Hausrecht des Veranstalters oder Versammlungsleiters, der die (gegebenenfalls hierfür gemieteten) Versammlungsräume zwar der Öffentlichkeit, aber eben doch nur zu bestimmten versammlungskonformen Zwecken (vgl. §§ 8, 10, 11 VersG) verfügbar macht, nicht einzusehen, dass polizeiliche Anwesenheit und damit verbundene Maßnahmen geringeren Rechtfertigungsanforderungen unterliegen sollen, als die typischen Betretungs- und Nachschaubefugnisse des Gewerbeund Anlagenrechts55. Die Anwesenheit von Polizeibeamten kann daher vor der Versammlungsfreiheit nur damit gerechtfertigt werden, dass sie der Verfolgung (versammlungs-)gesetzlich anerkannter Zwecke im Wege zulässiger Maßnahmen (insbes. der Gewährleistung eines friedlichen Versammlungsverlaufs oder sonst dem Schutz von Verfassungsgütern) dient56. Soweit danach die Anwesenheit von Polizeibeamten allgemein gerechtfertigt ist (vgl. § 23 Abs. 3 ME VersG), kommen auch Videoaufnahmen zur schlichten Beobachtung in Betracht, Videoaufzeichnungen aber 54

Vgl. Dietel/Gintzel/Kniesel (Fußn. 15), § 1, Rn. 216. Das Bundesverfassungsgericht leitet diese aus der allgemeinen Handlungsfreiheit ab (Art. 2 Abs. 1 GG), weil die gewerbliche Nutzung und die Öffnung für das Publikum außerhalb des grundrechtlichen Schutzzwecks der Grundrechtsgarantie des Art. 13 GG liegt, die auf den Schutz der räumlichen Privatsphäre zielt, BVerfGE 32, 54 (76 f.). Für die Anwesenheit von Polizeibeamten in der Freiheitssphäre des räumlich umgrenzten Versammlungsorts muss anderes gelten: Die vorbehaltlose Gewährleistung, sich ohne Anmeldung und Erlaubnis in geschlossenen Räumen zu versammeln, vgl. Art. 8 Abs. 1 GG, schließt ihrem Schutzzweck nach die Verfügung über diese Räumlichkeiten im Innen- und Außenverhältnis (kraft des zivilrechtlich bestehenden, ggf. vom Berechtigten abgeleiteten Hausrechts) gerade ein, vgl. auch § 7 Abs. 4 VersG. Dieser Schutzzweck wird von der Anwesenheit nicht an der Versammlung teilnehmender, sie lediglich beobachtender Polizeibeamter berührt, die sich dafür auf ihre hoheitliche Funktion berufen (müssen) und folglich an die einschlägigen verfassungsrechtlichen Maßgaben der Wahrnehmung dieser Funktion gebunden sind. 56 Vgl. BayVGH, DÖV 2008, 1006; Dietel/Gintzel/Kniesel (Fußn. 15), § 12, Rn. 15. 55

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jedenfalls nur unter den einschränkenden Bedingungen des personenbezogenen Gefahrenverdachts. Ein „zusätzlicher“ eigenständiger Eingriff in die Versammlungsfreiheit über die Anwesenheit beobachtender Polizeibeamten hinaus liegt in der Aufzeichnung allerdings auch hier nicht, es bleibt beim Eingriff in die informationelle Selbstbestimmung der Betroffenen. Sollen demgegenüber nicht öffentliche Versammlungen (eines individuell bestimmten, abgeschlossenen Personenkreises) in geschlossenen Räumen beobachtet werden, errichtet die Garantie der Unverletzlichkeit der Wohnung hohe Hürden (Art. 13 GG). IV. Resümee: Die Datenerhebung im System grundrechtlicher Freiheitsgewährleistung Die Grundrechte reagieren also nicht, wie das Beispiel der Datenerhebung (insbesondere bei Versammlungen) zeigt, allein schon auf die möglicherweise einschüchternde Wirkung schlicht hoheitlicher Maßnahmen. Die positive innere Freiheit einer von Nachteilen unbeschwerten Willensentscheidung ist als solche nicht garantiert. Die innere Freiheit hat gleichwohl einen Ort im System grundrechtlicher Freiheitsgewährleistung. Sie spielt eine Rolle, soweit unter ihr die Geistesfreiheit verstanden wird, der der Staat durch Distanz und Neutralität Respekt zollt und die ihm jede einseitige inhaltliche Identifizierung mit den Standpunkten seiner Bürger ebenso wie eine bewertende Distanzierung verbietet57. Die innere Freiheit spielt schließlich eine Rolle, soweit dem Staat schon der Versuch einer gezielt manipulativen Einflussnahme auf die rein inneren Umstände der persönlichen Entfaltung (forum internum) verwehrt ist, mit dem er das ganz auf äußere Wirkungs- und Beschränkungsbedingungen ausgerichtete rechtsstaatliche System der Freiheitsgewährleistung zu unterlaufen trachtet58. Im Übrigen bleibt es dabei, dass der Einzelne immer nur vor äußerem Zwang geschützt ist: dem Zwang ein bestimmtes Verhalten unterlassen, bestimmte Handlungen vornehmen oder bei seinem Handeln und Unterlassen eine fremdbestimmte Identität akzeptieren zu müssen. Das zeigt eine Betrachtung, die Grundrechtseingriff und Grundrechtsschranken abhängig vom Prinzip subjektiver Freiheit bestimmt59, wie es in den Einzelgewährleistungen der Grundrechte einen differenzierten Niederschlag gefunden hat, der ihren Schutzzweck jeweils spezifisch determiniert60. Am Ende dieser Betrachtung spricht viel dafür, dass der so ge57

BVerfGE 124, 300 (323, 324); BVerfG-K, NJW 2011, 511. Näher Enders (Fußn. 4), § 89, Rn. 64. 59 Enders, Verfassungsimmanente Grundrechtsschranken, in: Appel/Hermes/Schönberger (Hg.), Öffentliches Recht im offenen Staat, Festschrift für Rainer Wahl z. 70. Geburtstag, 2011, S. 283 (288, 289); Hillgruber (Fußn. 46) Rn. 56; BVerfGE 124, 300 (331 f., 334); 125, 260 (317). 60 Überlegungen zur schutzzweckbezogenen Bestimmung grundrechtlicher Schutzbereiche etwa bei Böckenförde, Der Staat, Bd. 42 (2003), 165; Hillgruber (Fußn. 8) § 200, Rn. 17; Hoffmann-Riem, Der Staat, Bd. 43 (2004), S. 203. Systematisch ausgearbeitete Erwägungen, vom „Eingriff in den Schutzbereich“ terminologisch Abstand zu nehmen und stattdessen von der staatlichen Einwirkung auf grundrechtliche Schutzgüter zu sprechen und diese Begriff58

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nannte moderne Eingriffsbegriff weniger modern als unpräzise ist und verabschiedet werden sollte.

lichkeit der Konstruktion des grundrechtlichen Anspruchs zugrunde zu legen bei Ipsen (Fußn. 6), Rn. 139 ff. Kritik gegenüber einer Differenzierung nach dem Schutzgegenstand bei Sachs (Fußn. 2), vor Art. 1, Rn. 85.

Mittelbare Diskriminierung und Art. 3 (Abs. 3) GG: Vom europäischen Recht lernen!? Von Michael Fehling, Hamburg I. Fragestellung Die Kategorie der mittelbaren Diskriminierung hat unter dem Einfluss des Unionsrechts Eingang auch in die Judikatur des Bundesverfassungsgerichts gefunden, aber fast ausschließlich bezogen auf die Diskriminierung wegen des Geschlechts. Thomas Würtenberger arbeitet diese Entwicklung in seinem Staatsrechtslehrbuch prägnant heraus1 und beeindruckt dabei einmal mehr durch seine Fähigkeit, komprimierte Darstellung und wissenschaftliche Perspektiven zu verbinden. Hierbei geht es um Ungleichbehandlungen, die an ein scheinbar neutrales Unterscheidungsmerkmal anknüpfen, sich in der Realität aber (ganz) überwiegend gerade für ein Geschlecht (meist Frauen) nachteilig auswirken.2 Trotz einmalig bereits allgemeiner formulierter Grundsätze3 hat das Bundesverfassungsgericht bei anderen in Art. 3 Abs. 3 GG verbotenen Differenzierungskriterien mittelbare Diskriminierungen bislang nicht thematisiert, wenn man von Andeutungen beim Merkmal Behinderung (Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG)4 absieht. Auch im verfassungsrechtlichen Schrifttum hat diese Art der Benachteiligung über das Geschlecht hinaus bislang wenig Beachtung gefunden.5 Dies überrascht insofern, als auf europäischer Ebene (teils von den

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Zippelius/Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 32. Aufl. 2008, § 23 Rn. 37 ff. Aus jüngerer Zeit ähnlich BVerfGE 113, 1 (20); BVerfG, NJW 2009, 661 (662). 3 BVerfGE 121, 241 (254): „Wenn der Gesetzgeber eine Gruppe nach sachlichen Merkmalen bestimmt, die nicht in Art. 3 Abs. 3 GG genannt sind, so ist diese Regelung an Art. 3 Abs. 1 GG zu messen. Etwas anderes gilt, wenn der vom Gesetzgeber gewählte, durch Art. 3 Abs. 3 GG nicht verbotene sachliche Anknüpfungspunkt in der gesellschaftlichen Wirklichkeit weitgehend nur für eine Gruppe zutrifft, oder die differenzierende Regelung sich weitgehend nur auf eine Gruppe im Sinne einer faktischen Benachteiligung auswirkt, deren Ungleichbehandlung nach Art. 3 Abs. 3 GG strikt verboten ist (mittelbare Diskriminierung)“. In der Sache ging es auch hier um eine Diskriminierung wegen des Geschlechts, doch folgern Koch/Nguyen, EuR 2010, 364 (371) aus der allgemeinen Formulierung die Ausdehnung der Kategorie der mittelbaren Diskriminierung auf alle Merkmale des Art. 3 Abs. 3 GG. 4 BVerfGE 99, 341 (347), wo gesetzliche Formerfordernisse für letztwillige Verfügungen in der Sache als mittelbare Diskriminierung wegen einer Behinderung eingeordnet, allerdings nicht als solche bezeichnet werden. 5 Grundlegend, aber noch weitgehend auf das Geschlecht beschränkt, Rüfner, FS Friauf, 1996, S. 331 ff.; weitere Nw. in Fußn. 8. Weitaus mehr Beachtung haben die Verbote auch 2

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USA her) das Verbot auch mittelbarer Diskriminierung in verschiedenster Hinsicht breiten Raum einnimmt: im AEUV (Grundfreiheiten bzw. Art. 18) wegen der Staatsangehörigkeit, in Art. 21 GrCh sowie verschiedenen Antidiskriminierungsrichtlinien6 ausgedehnt auf eine größere Zahl von Merkmalen, unter Art. 14 EMRK etwa wegen der ethnischen Herkunft7. Diese Diskrepanz zwischen europäischem und deutschem Blickwinkel gibt Anlass, sich über Grund und Grenzen des Verbots mittelbarer Diskriminierungen neu zu vergewissern und zu untersuchen, inwieweit die deutsche Grundrechtsdogmatik dabei Impulse der Rechtsprechung von EuGH und EGMR verarbeiten kann.8 Im Einzelnen stellen sich vor allem folgende Fragen: Was rechtfertigt die Erweiterung der Diskriminierungsverbote auf mittelbare Benachteiligungen? Wie sind diese zu definieren und von unmittelbaren Diskriminierungen abzugrenzen? Sind mittelbare Diskriminierungen in Art. 3 GG ein Problem des Abs. 3, des Abs. 1 oder aber allein des Abs. 2 und damit nur das Geschlecht betreffend? Gelten für unmittelbare und mittelbare Diskriminierungen gleiche oder unterschiedliche Rechtfertigungsanforderungen? In diesem Beitrag soll es weniger um das schon oft diskutierte Merkmal „Geschlecht“ gehen, sondern verstärkt um die übrigen Differenzierungsverbote des Art. 3 Abs. 3 GG. Deren bislang recht geringe praktische Bedeutung9 dürfte – etwa bei den Merkmalen „Heimat“ bzw. ethnischer „Herkunft“10 sowie „Glauben“ oder „religiöse Anschauungen“11 – in dem Maße wachsen, wie die ethnische und kulmittelbarer Diskriminierung im Privatrecht aufgrund des Allgemeinen Gleichstellungsgesetzes gefunden, das die entsprechenden Richtlinien umsetzt. 6 RL 2000/43/EG (Antirassendiskriminierung); RL 2000/78/EG (Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf); RL 2006/54/EG (Gleichbehandlung ohne Unterschied des Geschlechts). Überblick bei Craig/de Burca, EU Law, 5. Aufl. 2011, S. 855 ff.; zur deutschen Umsetzung im AGG Thüsing, in: Säcker (Hg.), MüKo BGB, Bd. 1, 6. Aufl. 2012, Einl. AGG Rn. 14 ff. 7 Besonders prominent EGMR (Große Kammer) – 57325/00 (D.H. u. a. / Tschechien) – NVwZ 2008, 533 (534, Rn. 175 u. 535, Rn. 185), schulische Benachteiligungen (extrem hohe Sonderschulquote) von Sinti und Roma betreffend. 8 Ansätze bei Koch/Nguyen, EuR 2010, 364 (366 ff.), freilich weitgehend auf ein Nachzeichnen der Rechtsprechung beschränkt; vgl. auch König/Peters, in: Grote/Marauhn (Hg.), EMRK/GG, 2006, Kap. 21 Rn. 61 ff., zur Vorbildfunktion der Grundfreiheiten Rn. 65. 9 Näher Sachs, in: Isensee/Kirchhof (Hg.), HStR VIII, 3. Aufl. 2010, § 182 Rn. 78 ff. m.w.N. 10 Diskutiert für Konzepte zur Privilegierung von Abiturienten mit Migrationshintergrund beim Zugang zum Lehramtsstudium von Fehling/Arnold, RdJB 2011, 316 (323 ff.); dagegen eine Bevorzugung wegen der „Heimat“ recht apodiktisch verneinend BVerfGE 90, 27 (37) – Parabolantenne; das Problem umgehend BVerfGE 83, 238 (336 ff.) – Vertriebenenvertreter im Rundfunkrat; zu diesen beiden Entscheidungen auch Britz, Kulturelle Rechte und Verfassung, 2000, S. 147 bzw. 140. 11 Zum Bedeutungsgewinn der Gleichheit aufgrund vermehrter religiöser Pluralität instruktiv Sacksofsky, VVDStRL 68 (2009), 7 (insbes. 24 ff.), dabei auch Parallelen zur Gleichbehandlung der Geschlechter ziehend, ohne allerdings Art. 3 Abs. 3 GG ausdrücklich

Mittelbare Diskriminierung und Art. 3 (Abs. 3) GG

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turelle Pluralität der Bevölkerung weiter zunimmt.12 Zwecks übergreifender Konturierung der Kategorie mittelbare Diskriminierung werden im europäischen Recht vergleichend aber auch Merkmale herangezogen, die – wie namentlich die „Staatsangehörigkeit“ – in Art. 3 Abs. 3 GG keine Entsprechung finden. II. Mittelbare Diskriminierung im europäischen Recht 1. Fehlen einer klaren Linie in der Rechtsprechung Schon auf europäischer Ebene gibt es kein einheitliches dogmatisches Konzept für mittelbare Diskriminierungen. Zwar wird in der Rechtsprechung sowohl zu den Grundfreiheiten13 und zum allgemeinen Diskriminierungsverbot wegen der Staatsangehörigkeit14 als auch im Rahmen der europäischen Grundrechte15 deutlich, dass mittelbare Diskriminierungen der Sache nach mit erfasst sind, um eine Umgehung der Benachteiligungsverbote zu verhindern und deren Effektivität zu erhöhen. Doch nicht einmal bei den Grundfreiheiten findet sich durchweg eine saubere Trennung zwischen unmittelbaren und mittelbaren Diskriminierungen.16 Da es sich zugleich um Beschränkungsverbote handelt, entfällt für den EuGH zudem oftmals die Notwendigkeit, klar zwischen unterschiedslos wirkenden Beschränkungen und mittelbaren Diskriminierungen zu unterscheiden.17 Nur das Sekundärrecht, namentlich Art. 2 der Antidiskriminierungsrichtlinien (umgesetzt in § 3 Abs. 1 bzw. Abs. 2 AGG), hat die beiden Diskriminierungsvarianten kodifiziert; die mittelbare Diskriminierung wird hierbei nach ihren (potentiellen) tatsächlichen Auswirkungen definiert18 und liegt vor, „wenn dem Anschein zu nennen, vgl. auch a.a.O. 118 ff.; vgl. ferner BVerfGE 108, 282 (299) – Kopftuch, wo Art. 3 Abs. 3 GG nur am Rande erwähnt und ebenfalls zentral mit Art. 4 GG argumentiert wird. 12 Ähnliches erwogen für das Privatrecht im Diskussionsbeitrag von Nettesheim, VVDStRL 64 (2005), 410 (411). 13 Z.B. für die Arbeitnehmerfreizügigkeit EuGH – Rs. 152/73 (Sotgiu) – Slg. 1974, 153 (Rn. 11). 14 Etwa EuGH – Rs 22/80 (Boussac Saint Frères) – Slg. 1980, 3427 (Rn. 13); EuGH – C-3/ 88 (Kommission / Italien) – Slg. 1989, 4035 (Rn. 8); EuGH – C-29/95 (Pastoors) – Rn. 14, 16, zur Rechtfertigungsmöglichkeit durch objektive Umstände Rn. 19. 15 Streinz, in: ders. (Hg.), EUV/AEUV, 2. Aufl. 2012, Art. 21 GrCH Rn. 7. Mittelbare Diskriminierungen wurden bereits bei Art. 119 Abs. 1 EWG-Vertrag (als Vorgängerbestimmung von Art. 157 AEUV: gleicher Lohn für gleiche Arbeit) mit erfasst, siehe EuGH – Rs. 43/ 75 (Defrenne) – Slg. 1976, 455 (Rn. 16/20). 16 Die Unterscheidung bei der Warenverkehrsfreiheit nur am Rande erwähnend Craig/de Burca, (Fußn. 6), S. 674 ff. 17 Zusammenfassend Ehlers, in: ders. (Hg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 3. Aufl. 2009. § 7 Rn. 89; sehr guter Rechtsprechungsüberblick, der die Inkonsistenzen deutlich macht, bei Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hg.), EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 34 – 36 AEUV Rn. 82. 18 Zu Recht betont von Craig/de Burca, (Fußn. 6), S. 896 f.

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nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren Personen wegen eines [verpönten Differenzierungsgrundes] gegenüber anderen Personen in besonderer Weise benachteiligen können“. Noch unübersichtlicher gestalten sich die – teilweise auch als Tatbestandseinschränkungen verstandenen19 – Rechtfertigungsmöglichkeiten. Das deutsche Schrifttum rekonstruiert die EuGH-Rechtsprechung zu den Grundfreiheiten verbreitet im Sinne einer abgestuften Rechtfertigungsfähigkeit: Während unmittelbare Diskriminierungen nur nach den eng auszulegenden jeweiligen Schrankenbestimmungen im AEUV zu rechtfertigen seien, genügten bei mittelbaren Diskriminierungen und bloßen Beschränkungen auch sonstige „zwingende Gründe“ im Sinne der Cassis-Formel, jeweils mit Verhältnismäßigkeitsprüfung.20 Dabei handelt es sich indes um eine dogmatische „Glättung“ einer weit weniger konsistenten Kasuistik.21 Diese weist durchaus auch Entscheidungen auf, in denen Diskriminierungen unterschiedslos durch zwingende Gründe gerechtfertigt wurden22 oder umgekehrt die Cassis-Rechtfertigung – wie in ihrem Ausgangspunkt23 – allein auf unterschiedslose Beschränkungen und nicht auf mittelbare Diskriminierungen für anwendbar erachtet wurde.24 Beim allgemeinen Diskriminierungsverbot des Art. 18 AEUV, das keine ausdrücklichen Schranken kennt, lässt sich eine Abstufung zwischen den Rechtfertigungsmöglichkeiten noch weniger nachweisen. Da der EuGH in einigen neueren Entscheidungen dort auch die Rechtfertigung unmittelbarer Diskriminierungen für möglich hält, gehen viele von einer gleitenden Verhältnismäßigkeitsprüfung aus. In diesem Rahmen komme allerdings bei mittelbaren Diskriminierungen, denen neutrale Differenzierungskriterien zugrunde liegen, eine objektive Rechtfertigung weitaus häufiger in Betracht als bei unmittelbaren Diskriminierungen.25 Zu Art. 21 GrCh, der bislang vom EuGH nur unterstützend mit genannt worden ist,26 fehlen noch jeg19 Nw. bei Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Fußn. 17), Art. 34 – 36 AEUV Rn. 83 mit dortigen Fußn. 245 und 256, sowie bei Schroeder, in: Streinz (Fußn. 15), Art. 34 AEUV Rn. 74 mit dortigen Fußn. 242 und 243. 20 Besonders klar systematisiert von Ehlers, in: ders. (Fußn. 17), § 7 Rn. 102 unter Verweis auf EuGH – Rs. C-55/98 (Vestergaard) –, Slg. 1999, I-7641 (Rn. 21 ff.); EuGH – Rs. C-388/01 (Kommission/Italien) –, Slg. 2003, I-721 (Rn. 21 ff.). 21 Vgl. auch Kingreen, in: Ehlers (Fußn.17), § 8 Rn. 66 ff. 22 Vor allem beim Warenverkehr im Zusammenhang mit Umweltschutz, EuGH – Rs. 209/ 98 (Sydhavens) – Slg. 2000, I-3743 (Rn. 48); wohl auch EuGH – Rs. C-379/98 (PreussenElektra) – Slg. 2001, I-2099 ff.; näher Heselhaus, EuZW 2001, 645 ff. 23 EuGH – Rs. 120/78 (Cassis de Dijon) – Slg. 1979, 649 ff. 24 So wohl EuGH – Rs. C-224/97 (Ciola) – Slg. 1999, I-2517, Rn. 16. 25 So teilweise wörtlich Odendahl, in: Heselhaus/Nowak, Handbuch der Europäischen Grundrechte, 2006, § 45 Rn. 35 ff.; Epiney, in: Calliess/Ruffert (Fußn. 17), EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 18 AEUV Rn. 40 f.; demgegenüber schwankend – auf Art. 21 Abs. 2 GrCh bezogen – Rengeling/Szczekalla, Grundrechte in der EU, 2004, Rn. 912 einerseits, Rn. 878 mit dortiger Fußn. 15 i.V.m. Rn. 908 andererseits. 26 Insbes. EuGH – C-297/10 u. C-298/10 (Hennigs) – Rn. 52 u. 78 zum Verbot der (im konkreten Fall unmittelbaren) Altersdiskriminierung in der Richtlinie 2000/78/EG.

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liche Leitlinien; im Schrifttum ist schon umstritten, welcher Absatz des Art. 52 GrCh für die Einschränkungsmöglichkeiten maßgeblich sein soll,27 und erst recht, inwieweit dabei zwischen unmittelbaren und mittelbaren Diskriminierungen abgestuft werden muss.28 Bei Art. 14 EMRK macht der EGMR keine ausdrückliche Abstufung zwischen den Rechtfertigungsmöglichkeiten, doch deuten einige Formulierungen in der Tschechien-Entscheidung doch auf unterschiedliche Maßstäbe für unmittelbare und mittelbare Diskriminierungen hin;29das Schrifttum bevorzugt tendenziell andere Abstufungskriterien.30 Weitgehende Klarheit bieten erneut nur die einschlägigen EU-Richtlinien, die für mittelbare Diskriminierungen ausdrücklich eine über die Rechtfertigungsmöglichkeiten für unmittelbare Diskriminierungen hinausgehende Tatbestandseinschränkung enthalten (wenn „die betreffenden Vorschriften, Kriterien oder Verfahren durch ein rechtmäßiges Ziel sachlich gerechtfertigt und die Mittel zur Erreichung dieses Ziels angemessen und erforderlich [sind]“). Diese Einschränkung weckt Reminiszenzen an die Cassis- und die Gebhard-Formel31 bei den Grundfreiheiten, doch gewinnen derartige „sachlichen Rechtfertigungen“ im Privatrechtsverhältnis in Gestalt legitimer wirtschaftlicher Interessen ein tendenziell höheres Gewicht als bei staatlichen Differenzierungen.

27 Vgl. Bühler, Einschränkung von Grundrechen nach der Europäischen Grundrechtecharta, 2005, S. 293 ff. 28 Bei bestimmten Merkmalen wie namentlich Rasse und Geschlecht tendiert die Rspr. wohl zu einer strengeren Prüfung als bei anderen verpönten Merkmalen; Überblick bei Kugelmann, in: Merten/Papier (Hg.), Hdb. Grundrechte, Bd. VI/1, 2010, § 160 Rn. 46 f.; für Abstufung auch nach der Diskriminierungsart dagegen Rengeling/Szczekalla (Fußn. 25), Rn. 878 mit dortiger Fußn. 15 iVm. Rn. 908, aber tendenziell anders Rn. 912; auf Abstufung hindeutend auch Jarass, EU-Grundrechte, 2005. § 25 Rn. 21: Anwendbarkeit von Art. 52 Abs. 1 GrCh mit Gesetzesvorbehalt „jedenfalls bei offenen bzw. unmittelbaren Ungleichbehandlungen […] anzunehmen“. 29 In EGMR (Große Kammer) – 57325/00 (D.H. u. a. / Tschechien) – NVwZ 2008, 533 ff. wird angemerkt, dass sich „eine unterschiedliche Behandlung, die ausschließlich oder wesentlich mit der ethnischen Herkunft einer Person begründet wird, niemals in einer demokratischen Gesellschaft“ rechtfertigen lässt (a.a.O. 534, Rn. 176), während im konkreten Fall die unterschiedliche Behandlung nur dann als diskriminierend angesehen wird, „wenn ihr eine ,sachliche und vernünftige‘ Rechtfertigung fehlt, d. h., wenn sie kein ,berechtigtes Ziel‘ verfolgt oder wenn kein ,angemessenes Verhältnis‘ zwischen den angewendeten Mitteln und dem verfolgten Ziel besteht“ (a.a.O. 536, Rn. 196). 30 Eine gleitende Abstufung der Kontrolldichte anhand dreier Faktoren, nämlich des Diskriminierungsgrunds, der Unmittelbarkeit oder Mittelbarkeit der Diskriminierung sowie der involvierten Interessen befürwortet Arnardóttir, in: Schiek/Chege (Hg.), European Union Non-Discrimination Law, 2009, S. 53 (56 f.). 31 EuGH – Rs. C-55/94 (Gebhard) – Slg. 1995, I-4165 (Rn. 37); in der Sache mit der Cassis-Formel nebst Verhältnismäßigkeitsprüfung identisch.

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2. Impulse für die deutsche Dogmatik der Diskriminierungsverbote Ein widerspruchsfreies griffiges Konzept, das für die Auslegung von Art. 3 GG ohne weiteres anschlussfähig wäre, vermag somit das europäische Recht für den Umgang mit mittelbarer Diskriminierung nicht zu liefern. Dieser Anspruch wäre ohnehin unrealistisch, wenn man die rechtskulturellen und dogmatischen Unterschiede zwischen den Rechtsordnungen – oder mit den Worten von Thomas Würtenberger: die „besondere deutsche politisch-rechtliche Mentalität“32 – bedenkt. Der ausgeprägtere Fallrechtsbezug des Unionsrecht und auch des Völkerrechts der EMRK steht einem einheitlichen, die verschiedensten Diskriminierungsverbote überspannenden dogmatischen Korsett, wie es dem auf höherer Abstraktionsebene systematisierenden deutschen Grundrechtsdenken näher läge, tendenziell entgegen.33 Dessen ungeachtet kann jedoch die deutlich weiter entwickelte europäische Diskussion erheblich zur Problemsensibilisierung beitragen und sogar gewisse Orientierungen für die dogmatische Konturierung der deutschen grundrechtlichen Diskriminierungsverbote vermitteln: Ein effektiver Diskriminierungsschutz darf mittelbare Benachteiligungen nicht ausblenden. Sie werden wirkungsbezogen definiert und als Problem aller besonderen Diskriminierungsverbote (nicht nur bezüglich des Geschlechts) verstanden; ihren Platz finden sie weniger im allgemeinen Gleichbehandlungsgebot (nunmehr ausdrücklich verankert in Art. 20 GrCh). Allerdings betont die EuGH-Rechtsprechung immer wieder, dass die speziellen Diskriminierungsverbote ihrerseits Ausprägungen des allgemeinen Gleichheitssatzes seien.34 Deutlich wird auch die enge teleologische Verbindung des gleichheitsrechtlichen Ansatzes als Kern der Diskriminierungsverbote mit der freiheitsrechtlichen Dimension, besonders bei den auch als Beschränkungsverbote verstandenen Grundfreiheiten, aber auch bei Art. 14 EMRK, der akzessorisch an durch die Konvention geschützte Freiheiten anknüpft. Insoweit verbleibende offene Fragen spiegeln sich in der Kontroverse um die Rechtfertigungsmöglichkeiten für mittelbare Diskriminierungen wider. Geht man davon aus, dass unmittelbare Diskriminierungen typischerweise eine höhere Eingriffstiefe als mittelbare Diskriminierungen oder bloße Beschränkungen aufweisen, liegt eine kategorische Abstufung bei den Rechtfertigungsmöglichkeiten 32 Zippelius/Würtenberger (Fußn.1), S. V (Vorwort). Ähnlich bezogen auf die EU-Antidiskriminierungsrichtlinien Nettesheim, VVDStRL 64 (2005), 410 (411). 33 Vgl. für den EuGH Pötters/Christensen, JZ 2012, 289 (293 ff.); auf ähnliche Unterschiede zwischen Deutschland und den USA bezogen, Lepsius, in: Schulze-Fielitz (Hg.), Staatsrecht als Wissenschaft, DV, Beiheft 7, 2007, S. 319 (326 ff.). Diese Unterschiede sollten allerdings nicht überbetont werden, ist doch auch die deutsche Grundrechtsdogmatik sehr an der BVerfG-Kasuistik orientiert; zum allgemein wachsenden Fallrechtsbezug, wenn auch besonders ausgeprägt beim EuGH, Müller/Christensen, Juristische Methodik, Bd. II Europarecht, 2003, S. 225 ff. Vgl. auch Bogdandy, in: ders./Bast (Hg.). Europäisches Verfassungsrecht, 2. Aufl. 2009, S.13 (33 ff.) zu „[e]inheitliche[n] Grundprinzipien angesichts uneinheitlichen Primärrechts“. 34 Besonders deutlich EuGH – Rs. 124/76 u. 20/77 (Moulins) – Slg. 1977, 1795 (Rn. 14/ 17).

Mittelbare Diskriminierung und Art. 3 (Abs. 3) GG

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nahe; andernfalls spricht vieles für ein System fließender Übergänge mit ansteigender Intensität bei der Verhältnismäßigkeitskontrolle in Abhängigkeit von den jeweiligen Differenzierungsgründen.35 III. Mittelbare Diskriminierung und Art. 3 GG 1. Ratio einer erweiternden Auslegung der Diskriminierungsverbote und Begriff der mittelbaren Benachteiligung Die Definition mittelbarer Diskriminierung und ihre Abgrenzung zur unmittelbaren Diskriminierung hängen wesentlich von dem Schutzzweck ab, der eine Ausdehnung der Diskriminierungsverbote auf bloß mittelbare Benachteiligungen nahe legt. Wie die europäische Ebene lehrt, muss in erster Linie eine Umgehung des zunächst formal auf einzelne inkriminierte Merkmale bezogenen Verbots verhindert werden; ohne eine Einbeziehung auch mittelbarer Diskriminierungen ließe sich oftmals ein scheinbar unverdächtiges Differenzierungskriterium zur Verschleierung vorschieben.36Auf einen ohnehin kaum nachweisbaren Diskriminierungswillen (wobei die praktischen Auswirkungen allenfalls Indizwirkung besäßen37) kann es hier jedoch ebenso wenig ankommen wie allgemein bei Art. 3 GG. Grundsätzlich scheint der objektive Diskriminierungszweck entscheidend,38 doch ist dieser als solcher nur anhand von Hilfskriterien fassbar. Ein effektiver Schutz vor Umgehung ist deshalb nur zu erreichen, wenn auf die tatsächliche Diskriminierungswirkung abgestellt wird. Dieser Linie folgt, in Übereinstimmung mit den europäischen Gerichten, nach anfänglicher Unsicherheit39 nun auch die Verfassungsrechtsprechung zur Geschlechterdiskriminierung.40 Es schließt sich die Frage an, anhand welchen Maßstabs die tatsächliche Diskriminierungswirkung festgestellt werden kann. Dazu finden sich in der europäischen Diskussion zwei Ansätze: Der eine (auch in früheren Antidiskriminierungsrichtlini35 Gegenüberstellung der Rechtfertigungsmöglichkeiten für unmittelbare und mittelbare Diskriminierungen in den Richtlinien bei Craig/de Burca, (Fußn. 6), S. 898 ff.; zur erweiterten Bedeutung der sachlichen Rechtfertigung in Arbeitsverhältnissen S. 907. 36 Zusammenfassend statt vieler König/Peters (Fußn. 8), Kap. 23 Rn. 62; Koch/Nguyen, EuR 2010, 364 (374). 37 Ein Stück weit in diese Richtung Plötscher, Der Begriff der Diskriminierung im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 2003, S. 278 f. u. 285 f., mit seinem „finalen Diskriminierungsmodell“. 38 Vgl. BVerfG, NJW 2009, 661 (661 f.); BVerfGE 85, 191 (206); 114, 357 (364): „wenn eine Regelung nicht auf eine nach Art. 3 Abs. 3 GG verbotene Ungleichbehandlung angelegt ist, sondern in erster Linie andere Ziele verfolgt“. 39 Vgl. BVerfGE 74, 40 (69): Art. 3 Abs. 3 GG verbietet „nur die bezweckte Benachteiligung oder Bevorzugung, nicht aber einen Nachteil oder einen Vorteil, der die Folge einer ganz anders intendierten Regelung ist“. 40 Siehe schon oben Fußn. 2.

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en angedeutete41) empirisch-statistische Ansatz stellt als Anscheinsbeweis42 darauf ab, dass entlang des verpönten Differenzierungsmerkmals die eine Gruppe prozentual deutlich stärker betroffen ist als die Vergleichsgruppe. Dementsprechend hat beispielsweise der EGMR festgestellt, dass Sinti und Roma in Tschechien statistisch um ein Vielfaches häufiger in Sonderschulen abgeschoben wurden als andere Bevölkerungsgruppen.43 Dabei lässt sich kein starrer prozentualer Mindestabstand angeben,44 ausreichend erscheint eine eindeutige statistische Signifikanz der Wirkungsunterschiede.45 Dies kann auch bei geringeren, dafür aber über einen längeren Zeitraum konstant fortbestehenden Unterschieden gegeben sein.46 Der andere, stärker normativ ausgerichtete Ansatz fordert, dass die Benachteiligung eine typische und als solche hinreichend wahrscheinliche Folge des scheinbar neutralen Differenzierungskriteriums ist. Der EuGH spricht zwar regelmäßig von tatsächlichen Auswirkungen, behilft sich aber immer wieder auch mit Typisierungen und normativ beeinflussten Wahrscheinlichkeitsurteilen.47 Die Definition in den heutigen Antidiskriminierungsrichtlinien bringt insoweit ebenfalls keine Klarheit. Zur mittelbaren Diskriminierung wegen des Geschlechts bemüht sich dagegen das Bundesverfassungsgericht oftmals um eine (teilweise freilich nur rudimentäre) statistische Fundierung.48 Richtigerweise wird man beide Ansätze im Rahmen der – auch vom EGMR betonten49 – freien

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Z.B. in Art. 2 Abs. 2 der Beweislast-RL 97/80/EG, nunmehr ersetzt durch RL 2006/54/ EG; vgl. Craig/de Burca, (Fußn. 6), S. 868 f. 42 Die Bedeutung dieses Anscheinsbeweises für einen effektiven Schutz gegen indirekte Diskriminierungen besonders betonend Harris, O‘Boyle & Wabrick, Law of the European Convention on Human Rights, 2. Aufl. 2009, S. 607 f.; Koch/Nguyen, EuR 2010, 364 (375 f.). 43 EGMR (Große Kammer) – 57325/00 (D.H. u. a. / Tschechien) – NVwZ 2008, 533 (595, insbes. Rn. 190): in Ostrava 50,3 % der Roma-Kinder in Sonderschulen gegenüber 2,6 % der Grundschulkinder insgesamt. Zu dieser und früheren EGMR-Entscheidungen, die einen statistischen Nachweis anerkannten, siehe Koch/Nguyen, EuR 2010, 364 (373). 44 Zu Art. 3 Abs. 2 GG Sacksofsky, Das Grundrecht auf Gleichberechtigung, 2. Aufl. 1996, S. 362. 45 Besonders deutlich für das AGG Thüsing (Fußn. 6), § 3 AGG Rn. 31, dabei nach angelsächsischen Vorbildern u. a. auf die mathematische Berechnung der Standardabweichung verweisend. 46 EuGH – Rs. C-167/97 – Slg. 1999, I-623 (insbes. Rn. 63); zum ganzen verallgemeinernd Europäische Kommission (Tobler), Grenzen und Möglichkeiten des Konzepts der mittelbaren Diskriminierung, 2008), S. 35 f. (abrufbar unter http://www.non-discrimination.net/content/ media/limpot08_de.pdf, Stand: April 2012. 47 Näher Plötscher (Fußn. 37), S. 57 ff., der von „faktischer“ versus „normativer Äquivalenz“ spricht. 48 Siehe BVerfGE 126, 29 (54): Anteil der Frauen an den Reinigungskräften 93,5 % im Gegensatz zu 69,5 % im Klinikbereich insgesamt; BVerfGE 121, 241 (256 f.): dort signifikant höherer Frauenanteil an den Teilzeitbeschäftigten, mit umgekehrtem Ergebnis für Hamburg BVerfGE 97, 35 (44); BVerfGE 113, 1 (19): Frauen- und Männeranteil bei Erziehungsgeldzahlungen, sowie Vergleich beim Durchschnittsgehalt. 49 EGMR (Große Kammer) – 57325/00 (D.H. u. a. / Tschechien) – NVwZ 2008, 533 (535, Rn. 187 f.).

Mittelbare Diskriminierung und Art. 3 (Abs. 3) GG

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Beweiswürdigung gleichermaßen zum Beleg relevanter tatsächlicher Diskriminierungswirkungen heranziehen können. Indem die Auswirkungen der Differenzierung in der Lebenswirklichkeit bei der Begriffskonturierung in den Mittelpunkt gerückt werden, zielt die Kategorie der mittelbaren Diskriminierung dennoch nicht automatisch auf eine tiefgreifende Umgestaltung der Gesellschaft in Richtung möglichst weitreichender tatsächlicher Gleichheit.50 Die Reichweite notwendiger Veränderungen hängt vielmehr von den Möglichkeiten einer Rechtfertigung auch mittelbarer Diskriminierungen ab. Im Ausgangspunkt geht es erst einmal darum, durch Auferlegung einer Rechtfertigungslast solche staatlichen – nicht nur in der Gesellschaft faktisch vorgefundenen51 – mittelbaren Benachteiligungen stärker bewusst zu machen. Freilich hat das Bundesverfassungsgericht bei den Merkmalen Geschlecht und ansatzweise auch Behinderung über einen effektiven Schutz vor staatlichen Diskriminierungen hinaus auch eine teilhaberechtliche Dimension des Art. 3 Abs. 2 u. 3 GG entfaltet,52 ebenso wie der EuGH beim Geschlecht53 und noch prononcierter der EGMR beim Merkmal der ethnischen Herkunft.54 Um für das deutsche Verfassungsrecht abschätzen zu können, inwieweit sich der Gleichstellungsauftrags in der Wirklichkeit über „Geschlecht“ und eventuell „Behinderung“ hinaus auch auf andere verpönte Differenzierungsmerkmale erstreckt, müssen jedoch noch die Besonderheiten des Art. 3 Abs. 2 bzw. Abs. 3 S. 2 GG in den Blick genommen werden.55 2. Abgrenzungsfragen a) Abgrenzung zur unmittelbaren Diskriminierung Mit dem Rekurs auf tatsächliche Diskriminierungswirkungen scheinbar unverdächtiger Differenzierungskriterien ist das Problem der Abgrenzung zur unmittelbaren Diskriminierung noch nicht gelöst. Schwierigkeiten bereitet die Einordnung von 50

Besonders deutlich BVerfGE 121, 241 (255): „Ausgehend von diesen Maßstäben steht hier nicht die Angleichung von Lebensverhältnissen in Vordergrund, sondern die unter Art. 3 Abs. 3 Satz 1 GG fallende Beseitigung einer bestehenden rechtlichen Ungleichbehandlung“; König/Peters (Fußn. 8), Kap. 23 Rn. 62. 51 Zur Abgrenzung unten 2. b). 52 Für die Geschlechtergleichstellung etwa BVerfGE 109, 64 (89); für das Merkmal Behinderung vgl. BVerfGE 96, 288 (302 f.) – Sonderschule; 99, 341 (357 f.) – Formvorschriften für Testamentserrichtung. 53 Vgl., auch zu entsprechenden Ansätzen in EU-Rechtsvorschriften, Europäische Kommission (Tobler) (Fußn. 46), S. 28 f. u. 60. 54 In EGMR (Große Kammer) – 57325/00 (D.H. u. a. / Tschechien) – NVwZ 2008, 533 ff. wird zwar einerseits betont, dass keine positive Diskriminierung begehrt wurde (535, Rn. 183), doch sei bei der Würdigung der Einwilligung der Eltern in den Sonderschulbesuch die besondere Lage der Roma und ihr erhöhtes Risiko „einer Isolierung und Ausgrenzung“ zu berücksichtigen (536, Rn. 203 f.). 55 Zur Abgrenzung unten 3. a).

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Fällen, in denen das verwendete Differenzierungskriterium in der Wirkung mit dem inkriminierten Merkmal nahezu identisch ist oder das scheinbar neutrale Kriterium mit der gleichen Diskriminierungsabsicht wie bei dem ausdrücklich verpönten Kriterium gewählt wurde. Bei formaler Betrachtung kann von einer unmittelbaren Benachteiligung nur gesprochen werden, wenn explizit ein nach Art. 3 Abs. 3 GG verbotenes Differenzierungsmerkmal verwendet wird; in diese Richtung deutet auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts.56 Materiell, das heißt nach ihrer objektiven Diskriminierungswirkung bzw. subjektiven Absicht, kommen die genannten Fälle dagegen einer unmittelbaren Diskriminierung gleich.57Ansätze für eine solche materielle Beurteilung finden sich vor allem bezüglich der Geschlechterdiskriminierung in der EuGH-Rechtsprechung.58 Dementsprechend macht § 3 Abs. 1 AGG in Umsetzung der Antidiskriminierungsrichtlinien deutlich, dass eine Anknüpfung an Schwangeroder Mutterschaft als unmittelbare Diskriminierung wegen des Geschlechts zu werten ist. Verallgemeinernd werden im Schrifttum deshalb auch offene, das verpönte Merkmal verwendende und verdeckte, ein Hilfsmerkmal mit identischem Diskriminierungserfolg nutzende Benachteiligungen als Untergruppen unmittelbarer Diskriminierungen unterschieden.59 Eine materielle Abgrenzung ist notwendig, wenn – richtigerweise60 – bei den Rechtfertigungsmöglichkeiten zwischen unmittelbarer und mittelbarer Diskriminierung abgestuft wird. Denn eine prima facie geringere Rechtfertigungslast für bloß mittelbare Benachteiligungen setzt voraus, dass diese Form der Diskriminierung tendenziell weniger schwer wiegt als eine unmittelbare Diskriminierung. Dies wiederum ist nur dann der Fall, wenn beide Kategorien nach der Diskriminierungswirkung und nicht rein formal nach dem gewählten Differenzierungskriterium unterschieden werden. Die mittelbare Diskriminierung bleibt dann in der Wirkung insoweit hinter der unmittelbaren zurück, als bei der mittelbaren Benachteiligung die durch ein besonderes Diskriminierungsverbot geschützte Gruppe eben nicht durchweg, sondern nur in einem signifikant höheren Prozentsatz gegenüber einer Vergleichsgruppe benachteiligt wird.

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Zuletzt BVerfGE 126, 29 (54). Für einen solchen materiellen Begriff der unmittelbaren Diskriminierung plädieren vor allem diejenigen, die eine Einbeziehung mittelbarer Diskriminierungen in Art. 3 Abs. 3 GG ablehnen; vgl. etwa Boysen, in: von Münch/Kunig (Hg.), GG, Bd. 1, 6. Aufl. 2012, Art. 3 Rn. 145; Heun, in: Dreier (Hg.), GG, 2. Aufl. 2004, Art 3 Rn. 124; etwas weiterreichend Rüfner, in Dolzer u. a. (Hg.), Bonner Kommentar zum GG, 76. Lfg. Mai 1996, Art. 3 Abs. 2 und 3 Rn. 571. 58 Europäische Kommission (Tobler) (Fußn. 46), S. 57 f. 59 Besonders deutlich Plötscher (Fußn. 37), S. 288; Straßmaier, Der besondere Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG, 2002, S. 181; für § 3 Abs. 2 AGG Thüsing (Fußn. 6), § 3 AGG Rn. 15. 60 Siehe unten 4. 57

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Um eine rechtssichere Abgrenzung zu ermöglichen, muss jedoch die Untergruppe der verdeckten unmittelbaren Diskriminierung eng verstanden und auf Konstellationen beschränkt werden, in denen das gewählte und das verpönte Differenzierungsmerkmal nahezu identische Ausgrenzungswirkungen entfalten (wie z. B. bei einem nur den Islam betreffenden Burka-Verbot). Dass die Auswirkungen nur regelmäßig die gleichen sind (wie z. B. bei einer die meisten Frauen ausgrenzenden Mindestkörpergröße von 1,90 m), genügt nicht, sondern kennzeichnet gerade die mittelbare Diskriminierung. b) Verhältnis zur positiven Diskriminierung und Problem faktischer (materieller) Diskriminierung Positive Diskriminierungen (mit dem wichtigsten Beispiel der Frauenquoten) sollen dazu dienen, solche auch mittelbaren strukturellen Diskriminierungen in der Lebenswirklichkeit zu kompensieren, welche im konkreten Einzelfall oft kaum nachweisbar und daher schwer direkt zu unterbinden sind. Eine Verbindung zur mittelbaren Diskriminierung besteht nur insoweit, als es in beiden Fällen um Substanz (Lebenswirklichkeit) statt bloßer Form (rechtliches Anknüpfungskriterium) geht.61 Die Problematik positiver Diskriminierungen und namentlich Quoten liegt bekanntlich – auf europäischer und auf verfassungsrechtlicher Ebene gleichermaßen – darin, dass dabei zur Vorbeugung gegen (mittelbare) Diskriminierungen gerade auf mehr oder minder generalisierte Bevorzugungen zurückgegriffen wird, die ihrerseits – je nach Ausgestaltung – im konkreten Einzelfall Dritte (z. B. Männer bei konkreten Stellenbesetzungen im öffentlichen Dienst) zu diskriminieren drohen. Dies kann und muss im vorliegenden Zusammenhang nicht vertieft werden; einmal mehr eignet sich das Staatsrechtslehrbuch von Thomas Würtenberger als hervorragender Kompass.62 Sofern positive Maßnahmen oder Vorkehrungen indes nur Nachteile in der Lebenswirklichkeit kompensieren, ohne Dritte zu benachteiligen (z. B. bauliche oder sonstige Maßnahmen zur Unterstützung von Behinderten), sind sie verfassungsrechtlich unproblematisch zulässig. Für das Arbeits- und Zivilrecht weist darauf auch § 5 AGG hin. Inwieweit Betroffene sogar einen Anspruch auf solche kompensatorischen Maßnahmen zwecks möglichst weitreichender tatsächlicher Gleichstellung besitzen, richtet sich nach der allgemeinen Verfassungsdogmatik zur Leistungsdimension von Grundrechten. Das Bundesverfassungsgericht hat dementsprechend den Anspruch behinderter Schüler auf staatliche Förderungsleistungen zur Ermöglichung des Besuchs einer Regelschule auf dasjenige beschränkt, was der Einzelne vernünftigerweise von der Gesellschaft erwarten kann.63 Allerdings wird man aus der beson61

Europäische Kommission (Tobler) (Fußn. 46), S. 59. Zippelius/Würtenberger (Fußn. 1), § 23 Rn. 43. 63 BVerfGE 96, 288 (305 f.). 62

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deren Schutzpflicht des Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG wohl doch eine Verpflichtung des Staates zu erhöhten auch finanziellen Anstrengungen zwecks Inklusion Behinderter herleiten können. Teilweise wird bei ungleichen faktischen Auswirkungen einer Gleichbehandlung auf europäischer Ebene von „materieller Diskriminierung“64 gesprochen, doch darf dies nicht ohne weiteres mit einer verbotenen mittelbaren Diskriminierung gleichgesetzt werden, die immer auch eine rechtliche Differenzierung voraussetzt.65 c) Abgrenzung zur bloßen (Freiheits-)Beschränkung oder sonstigen Ungleichbehandlung An einer verfassungsrechtlich relevanten mittelbaren Diskriminierung fehlt es, soweit Personen, die im jeweiligen Kontext dem ersten Anschein nach in eine der geschützten Kategorien fallen, zwar Einschränkungen hinnehmen müssen, sich diese in den Auswirkungen aber nicht statistisch signifikant oder wertend auf ein in Art. 3 Abs. 3 GG verpöntes Differenzierungsmerkmals zurückführen lassen. Dies ist zum einen der Fall, wenn gar keine Ungleichbehandlung vorliegt; dann handelt es sich allenfalls um eine an Freiheitsgrundrechten zu messende Beschränkung. Zum anderen liegt aber auch dann keine mittelbare Benachteiligung einer besonders geschützten Gruppe vor, wenn sich die auf ein neutrales Differenzierungskriterium gestützte Ungleichbehandlung in der Lebenswirklichkeit nicht hinreichend massiv gerade anhand eines verbotenen Merkmals auswirkt; in einem solchen Fall bleibt neben den Freiheitsrechten noch der Rückgriff auf den allgemeinen Gleichheitssatz. Auch in diesem Zusammenhang wird teilweise missverständlich66 von materieller Diskriminierung gesprochen.67 Eine bloße Benachteiligungsgefahr bezüglich inkriminierter Merkmale reicht ebenfalls nicht aus.68 Dass freilich die Abgrenzung zwischen mittelbarer Diskriminierung und bloßer (unterschiedsloser oder jedenfalls für besondere Diskriminierungsverbote nicht relevanter) Beschränkung im konkreten Fall schwierig sein kann, zeigt sich vergleichend an dem teilweise parallel gelagerten Problem bei den EU-Grundfreiheiten.

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Vgl. etwa Kingreen, Die Struktur der Grundfreiheiten des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 1999, S. 126. 65 Plötscher (Fußn. 37), S. 70 ff. u. 290 f.; für die EU-Richtlinien und das AGG Thüsing (Fußn. 6), § 3 AGG Rn. 29 f. 66 Zur Unterscheidung von der mittelbaren Diskriminierung Plötscher (Fußn. 37), S. 72 f. 67 Vgl. etwa Müller-Graff, in: von der Groeben u. a. (Hg.), EU-Vertrag/EG-Vertrag, Bd. 1, 6. Aufl. 2003, GTE, Art. 28 EG Rn. 195, der damit die von ihm als zu eng empfundene Fixierung der Grundfreiheiten allein auf das Merkmal der Staatsangehörigkeit aufbrechen will. 68 Entgegen dem insoweit nicht ganz klaren Wortlaut in der deutschen Fassung der RL 2000/43/EG, vgl. auf unmittelbare Diskriminierungen bezogen Thüsing (Fußn. 6), § 3 AGG Rn. 10 f.

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Insoweit geht es also um Kausalitäts- und Zurechnungsfragen, die im Folgenden noch näher zu betrachten sind.69 3. Dogmatische Herleitung und Verortung in den Absätzen des Art. 3 GG a) Kein Problem allein des Art. 3 Abs. 2 GG und des Merkmals „Geschlecht“ Ließe sich ein Verbot mittelbarer Diskriminierung ausschließlich aus dem Gleichstellungsauftrag des Art. 3 Abs. 2 GG ableiten, spräche dies dafür, dass es nicht ohne weiteres auf andere Differenzierungsmerkmale (des Abs. 3) übertragbar wäre. In der Tat hat das Bundesverfassungsgericht in einigen Entscheidungen allein auf Abs. 2 abgestellt.70 Doch sollte durch diese Anknüpfung wohl nicht zuletzt der spezifische Auftrag zur Angleichung der Lebensverhältnisse unterstrichen werden.71 Andere Judikate siedeln die mittelbare Diskriminierung wegen des Geschlechts denn auch bei Art. 3 Abs. 3 GG an.72 Auch die implizite Prüfung einer mittelbaren Diskriminierung beim Merkmal „Behinderung“73 macht deutlich, dass diese Kategorie nicht auf geschlechtsbezogene Diskriminierungen und auf Art. 3 Abs. 2 GG reduziert werden kann. Die staatliche Pflicht zum wirksamen Schutz gegen Diskriminierung, welche zu einer teleologisch erweiterten Auslegung des Diskriminierungsbegriffs zwingt,74 besteht gegenüber Benachteiligungen aus allen in Art. 3 Abs. 3 GG genannten Gründen gleichermaßen. Denn den Hintergrund bildet der allgemeine Grundsatz, dass im Zweifel diejenige Auslegung eines Grundrechts zu wählen ist, die möglichst effektiven Schutz vermittelt.75 Die Besonderheit von Satz 2 gegenüber Satz 1 liegt nur darin, dass beim Merkmal „Behinderung“ Bevorzugungen erlaubt sind, während bei den anderen Merkmalen jegliche Differenzierung untersagt ist.76 Hinsichtlich der Notwendigkeit, zwecks effektiven Diskriminierungsschutzes auch mittelbare Benachteiligungen zu erfassen, ergibt sich zwischen Art. 3 Abs. 3 Satz 1 und Satz 2 keinerlei Unterschied.77 69

Siehe unten 3. c). Zuletzt BVerfGE 126, 29 (54). 71 Besonders deutlich BVerfGE 109, 64 (89). 72 Besonders deutlich BVerfGE 121, 241 (254); wohl auch BVerfGE 85, 191 (206); 114, 357 (364); BVerfG, NJW 2009, 661 (661 f.). 73 BVerfGE 99, 341 (347); vgl. auch BVerfGE 109, 64 (95). 74 Zur erweiternden teleologischen Auslegung besonders deutlich Michael/Morlok, Grundrechte, 3. Aufl. 2012, Rn. 809; zur Schutzpflicht bereits oben 1. 75 In anderem Zusammenhang betont etwa in BVerfGE 6, 55 (72) – Steuersplitting; BVerfGE 32, 54 (70 f.) – Betretungsrecht. 76 Zippelius/Würtenberger (Fußn. 1), § 23 Rn. 52. 77 Anders, jedoch ohne klare Begründung, wohl Heun, in: Dreier (Fußn. 57), Art. 3 Rn. 124. 70

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Somit führt die Verfassungsauslegung zu dem gleichen Ergebnis wie auf europäischer Ebene, dass nämlich mittelbare Diskriminierungen von allen speziellen Diskriminierungsverboten erfasst werden. Die Besonderheiten beim Merkmal „Geschlecht“ beschränken sich auf den über diesen Schutz vor mittelbaren Diskriminierungen noch hinausreichenden Gleichstellungsauftrag in der Lebenswirklichkeit. b) Verortung mittelbarer Diskriminierung in Art. 3 Abs. 3 statt in Abs. 1 GG Die vorstehenden Überlegungen deuten darauf hin, dass mittelbare Diskriminierungen Art. 3 Abs. 3 GG unterfallen. Doch besteht im Verfassungsrecht, anders als bei den von vornherein nur auf ein Merkmal (Staatsangehörigkeit) zugeschnittenen Grundfreiheiten und Art. 18 AEUV, unter Umständen gar keine Notwendigkeit für eine entsprechende erweiternde Auslegung des Art. 3 Abs. 3 GG. Womöglich lassen sich mittelbare Diskriminierungen nämlich hinreichend und sogar flexibler über Art. 3 Abs. 1 GG bewältigen. Statt aufwändig die Verknüpfung mit einem verpönten Merkmal in Abs. 3 herzustellen, könnte auf den ausdrücklich genannten Differenzierungsgrund abgestellt und so die Auffangfunktion des allgemeinen Gleichheitssatzes aktiviert werden.78 Der dortige ohnehin flexible Rechtfertigungsmaßstab79 böte die Möglichkeit, die Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit der Ungleichbehandlung mit zunehmender Nähe zur unmittelbaren Diskriminierung gleitend zu verschärfen.80 Einige europarechtlich verpönte Merkmale, wie z. B. die sexuelle Orientierung, müssen, da in Art. 3 Abs. 3 GG nicht erwähnt, im deutschen Verfassungsrecht ohnehin über Art. 3 Abs. 1 GG erfasst werden. Dennoch sprechen die besseren Gründe dafür, das Problem der mittelbaren Diskriminierung in Art. 3 Abs. 3 GG zu verorten, wie vergleichbar ja auch auf europäischer Ebene nach herrschender Auffassung Art. 21 und nicht Art. 20 GrCh einschlägig81 sein soll. Denn der Grund, warum auch mittelbare Benachteiligungen erfasst werden müssen, liegt wie beschrieben gerade darin, eine Umgehung des Art. 3 Abs. 3 GG zu vermeiden. Eine Verschiebung des Problems auf Art. 3 Abs. 1 GG würde außerdem für das Merkmal „Geschlecht“ den engen systematischen Zusam78 In diese Richtung Rüfner, in: BK (Fußn. 57), Art. 3 Abs. 2 und 3 Rn. 566 u. 572; Sachs, in: HStR VIII (Fußn. 9), § 182 Rn. 32; i.E. wohl auch Boysen, in: von Münch/Kunig (Fußn. 57), Art. 3 Rn. 144; vgl. auch Krugmann, Das Recht der Minderheiten, 2004, S. 227. 79 Dazu prägnant und weiterführend Zippelius/Würtenberger (Fußn. 1), § 23 Rn. 15 ff. 80 Für Art. 14 EMRK besonders deutlich Arnardóttir, in: Schiek/Chege (Fußn. 30), S. 53 (57): „[…] in jurisdictions which operate on open models with non-exhaustive lists of discrimination grounds the need for formulation in terms of indirect discrimination does not arise as acutely as in systems operating under closed models. The particular injustice perceived can be addressed simply in terms of the expressly identifiable discrimination ground“. 81 Vgl. etwa Kugelmann, in: HGR VI (Fußn. 28), § 160 Rn. 70 f. Siehe auch schon oben II. 2. Im obigen Sinne, aber für einen Rückgriff auf Art. 20 GrCH plädierend, z. B. Frenz, Europäische Grundrechte, Bd. 4, 2009, Rn. 3291.

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menhang von Abs. 2 und Abs. 3, die sich wechselseitig ergänzen sollen,82 negieren. Wenn aber mittelbare Diskriminierungen wegen des Geschlechts auch in Art. 3 Abs. 3 GG verortet werden, kann für die übrigen verpönten Differenzierungskriterien nichts anderes gelten. Schließlich würde die Feststellung eines Zusammenhangs mit einem inkriminierten Merkmal des Abs. 3 auch bei Heranziehung von Abs. 1 nicht gänzlich entbehrlich, sofern in einem gleitenden Rechtfertigungsmaßstab die Nähe zur unmittelbaren Diskriminierung die Verhältnismäßigkeitsprüfung beeinflussen soll. Wie noch zu erläutern,83 steht die Verortung auch der mittelbaren Benachteiligung in Art. 3 Abs. 3 GG einer sinnvollen Abstufung beim Rechtfertigungsmaßstab zwischen unmittelbarer und mittelbarer Diskriminierung nicht im Wege. c) Kausalität und Zurechnung („wegen“) Rechtsdogmatisch muss eine Diskriminierung „wegen“ eines in Art. 3 Abs. 3 GG verbotenen Merkmals vorliegen. Den Ausgangspunkt bildet dabei die Ursächlichkeit eines solchen Merkmals für die Benachteiligung bzw. (bei Satz 1) auch Bevorzugung. Für die darüber hinaus notwendige wertende Zurechnung werden vor allem zwei Auffassungen vertreten:84 Teilweise wird jede Anknüpfung an ein verbotenes Merkmal für unzulässig erachtet (Anknüpfungsverbot85), teilweise wird gefordert, dass die Ungleichbehandlung ohne Rückgriff auf ein verpöntes Merkmal begründbar sein muss (Begründungsverbot86). Beide Lesarten vermögen die Kategorie mittelbarer Diskriminierung nur unzureichend zu erfassen, da ja gerade nicht unmittelbar an ein verbotenes Merkmal angeknüpft wird87 und jedenfalls formal andere Gründe für die Ungleichbehandlung ausschlaggebend sind. Das Bundesverfassungsgericht geht zur mittelbaren Geschlechterdiskriminierung zwar zunächst von einem Anknüpfungsverbot aus, macht aber so-

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Vgl. BVerfGE 85, 191 (206 f.); Zippelius/Würtenberger (Fußn. 1), § 23 Rn. 39. Siehe unten 4. b). 84 Für einen Überblick zu diesen und weiteren Modellen statt vieler m.w.N. Sachs, in: HStR VIII (Fußn. 9), § 182 Rn. 68 ff.; Fehling/Arnold, RdJB 2011, 316 (324 f.); diese Kontroverse sogar für das Unionsrecht aufgreifend Plötscher (Fußn. 37), S. 282 ff., der selbst ein am Begründungsverbot anknüpfendes „finales Diskriminierungsmodell“ präferiert. 85 Grundlegend Sachs, Grenzen des Diskriminierungsverbots,1987, S. 428 ff.; Huster, Rechte und Ziele, 1993, S. 313 ff. 86 Grundlegend Podlech, Gehalt und Funktionen des allgemeinen verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes, 1971, insbes. S. 94. 87 Deshalb gegen die Erstreckung von Art. 3 Abs. 3 GG auf mittelbare Diskriminierungen Rüfner, in: BK (Fußn. 57), Art. 3 Abs. 2 und 3 Rn. 567; vgl. auch Sachs (Fußn. 85), insbes. S. 480 ff.; ausdrücklich über ein Anknüpfungsverbot hinausgehend, um auch mittelbare Diskriminierungen erfassen zu können, König/Peters (Fußn. 8), Kap. 21 Rn. 61. 83

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gleich deutlich, dass die reale und nicht die formale Anknüpfung maßgeblich sein muss.88 Genauer besehen kann jedoch die Dichotomie von unmittelbarer und mittelbarer Diskriminierung dabei helfen, den unfruchtbaren Streit zwischen der Interpretation des Art. 3 Abs. 3 GG als Anknüpfungs- oder Begründungsverbot zu überwinden. Denn wie oben bei der Definition der mittelbaren Diskriminierung deutlich gemacht, genügt ein statistisch signifikanter Wirkungsunterschied, der sich adäquat kausal auf ein in Abs. 3 verpöntes Merkmal zurückführen lässt (modifiziertes Kausalitätsmodell89). 4. Rechtfertigungsmaßstab a) Gleicher Maßstab (kollidierendes Verfassungsrecht) wie für unmittelbare Diskriminierungen? Differenzierungen unmittelbar anhand der in Art. 3 Abs. 3 (S. 1) GG verpönten Merkmale sind nach ganz herrschender Auffassung zwar nicht absolut verboten, aber nur ausnahmsweise zum Schutz kollidierender Rechtsgüter mit Verfassungsrang zulässig; es muss dann im Wege praktischer Konkordanz ein verhältnismäßiger Ausgleich gefunden werden.90 Diese Linie entspricht der Dogmatik bei Freiheitsgrundrechten ohne Gesetzesvorbehalt und trägt der Tatsache Rechnung, dass Art. 3 Abs. 3 GG einen weiterreichenden Differenzierungs- und Diskriminierungsschutz gewährleisten soll als Art. 3 Abs. 1 GG. Unklar bleibt dagegen, ob sich diese hohen Rechtfertigungshürden (dieses Verständnis liegt in der deutschen Grundrechtsdogmatik näher als eine Einordnung als Tatbestandseinschränkungen) auf mittelbare Diskriminierungen übertragen lassen, mit Abstufungen allenfalls bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung,91 oder ob in Anlehnung an die Rechtslage bei den Grundfreiheiten und in den Antidiskriminierungsrichtlinien92 bereits sonstige zwingende Gründe nebst Verhältnismäßigkeit aus88

Vgl. BVerfGE 75, 40 (69); 97, 35 (43); 104, 373 (393); 114, 357 (364); 121, 241 (254). Erwogen von Plötscher (Fußn. 37), S. 284 f., aber dies deshalb ablehnend, weil in diesem Modell die von ihm als Tatbestandseinschränkung eingeordnete Abwesenheit eines sachlichen Differenzierungsgrundes keinen Platz habe. Dieses Problem entfällt jedoch, wenn man den sachlichen (zwingenden) Grund für eine Differenzierung als Rechtfertigungsgrund einordnet. 90 Besonders deutlich Michael/Morlok (Fußn. 74), Rn. 817 f.; Osterloh, in: Sachs (Hg.), GG, 6. Aufl. 2011, Art. 3 Rn. 254. 91 Besonders deutlich Epping, Grundrechte, 4. Aufl. 2010, Rn. 835; wohl auch Michael/ Morlok (Fußn. 74), Rn. 818; Koch/Nguyen, EuR 2010, 364 (376); für „Geschlecht“ BVerfGE 114, 357 (364), weniger klar 92, 91 (109) – Feuerwehrabgabe für Männer. 92 Dort werden (als Tatbestandseinschränkung formuliert) tendenziell nur objektive, sachliche Gründe gefordert, alles weitere wird über die Verhältnismäßigkeitsprüfung gesteuert; Rechtsprechungsüberblick bei Craig/de Burca, (Fußn. 6), S. 906 ff.; zu weit geht dabei die Charakterisierung als bloße „Willkür- und Evidenzkontrolle“ von Plötscher (Fußn. 37), S. 293. Siehe auch schon oben II. 1. 89

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reichen sollten93. In der Verfassungsrechtsprechung zur Geschlechterdiskriminierung finden sich Anhaltspunkte für beide Auffassungen. Teilweise wird geprüft, ob neben biologischen Unterschieden „(sonstige) Güter von Verfassungsrang“ die geschlechtsspezifische Benachteiligung rechtfertigen können.94 Andere Entscheidungen stellen in Parallele zu den Antidiskriminierungsrichtlinien und der EuGHRechtsprechung darauf ab, ob „(die diskriminierende Regelung) auf hinreichenden sachlichen Gründen beruht, (die nichts mit der geschlechtsbezogenen Benachteiligung zu tun haben)“.95 Auch die Rechtsprechung zur mittelbaren Diskriminierung Behinderter prüft „zwingende Gründe“, dort allerdings in Verbindung mit der behinderungsspezifischen Erwägung, dass keine relevante Benachteiligung vorliegt, wenn der Person aufgrund ihrer Behinderung bestimmte Fähigkeiten fehlen, die unerlässliche Voraussetzung für die Wahrnehmung der in Rede stehenden Rechte sind.96 b) Erfordernis einer Abstufung: zwingende Rechtfertigungsgründe auch ohne Verfassungsrang Für ein Beharren auf kollidierendem Verfassungsrecht zur Rechtfertigung auch mittelbarer Diskriminierung scheint zunächst die Überlegung zu sprechen, dass mit einer Absenkung der Rechtfertigungshürden versteckte Umgehungen prämiert zu werden drohten.97 Bei entsprechend geschickter Formulierung mag sich die Diskriminierungswirkung der mittelbaren von der unmittelbaren Benachteiligung kaum unterscheiden.98 Im Einzelfall ließe sich verbleibenden Unterschieden flexibel dadurch Rechnung tragen, dass bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung geringere Anforderungen als bei unmittelbaren Diskriminierungen gestellt werden.99 Andererseits sind nach hier vertretener Auffassung scheinbar nur mittelbare Benachteiligungen, die in ihrer Wirkung einer unmittelbaren Diskriminierung voll entsprechen, schon als versteckte unmittelbare Diskriminierungen einzuordnen.100 Daher weisen unmittelbare und mittelbare Benachteiligungen eben doch nicht die gleiche, sondern eine abgestufte Diskriminierungswirkung auf. Dem trägt eine Abstufung auch der Rechtfertigungsmaßstäbe besser Rechnung. So tritt man zugleich von vornherein Befürchtungen entgegen, die Ausdehnung der Diskriminierungsverbote auf mittelbare Benachteiligungen enge Gesetzgeber und Verwaltung übermäßig 93 Sachs, in: HStR VIII (Fußn. 9), § 182 Rn. 153; wohl auch Osterloh, in: Sachs (Fußn. 90), Art. 3 Rn. 256. 94 BVerfGE 121, 241 (257); BVerfG, NJW 2009, 661 (663). 95 BVerfGE 113, 1 (20); 126, 29 (54). 96 BVerfGE 99, 341 (347). 97 Bei den Grundfreiheiten ähnlich („versteckter Protektionismus“) Kingreen, in: Calliess/ Ruffert (Fußn. 17), Art. 34 – 36 AEUV Rn. 84. 98 Darauf zentral abstellend Koch/Nguyen, EuR 2010, 364 (376). 99 So besonders deutlich Epping (Fußn. 91), Rn. 835. 100 Siehe oben III. 2. a).

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ein,101 ja verfolge bei Anerkennung einer mittelbaren Drittwirkung102 sogar – wie in der Diskussion um das AGG teilweise kritisiert103 – missionarische Absichten unter dem Deckmantel des Verfassungsrechts. Würden dagegen unmittelbare und mittelbare Diskriminierungen den gleichen verfassungsimmanenten Schranken unterstellt, so drohte das Bedürfnis nach Abstufung der Rechtfertigungsanforderungen zu einer (weiteren104) Banalisierung kollidierenden Verfassungsrechts zu führen. c) Flexibilisierungspotential der Verhältnismäßigkeitsprüfung Hinreichende Flexibilität bleibt auch dann gesichert, wenn, wie hier favorisiert, zwingende Gründe zur Rechtfertigung bloß mittelbarer Diskriminierungen vor Art. 3 Abs. 3 GG ausreichen. Welches Gewicht die Ziele und Rechtfertigungsgründe haben müssen, um im obigen Sinne als „hinreichend“ oder „zwingend“ eingestuft werden zu können, lässt sich nämlich kaum allgemein umschreiben. Ein einfacher sachlicher Grund im Sinne des Willkürverbots aus Art. 3 Abs. 1 GG wäre jedenfalls unzureichend. Die Berufung auf diejenige Tatsache, die die nachteilige Wirkung verursacht hat, und sei es auch in verallgemeinernder Form, genügt ebenfalls nicht.105 Ähnlich wie bei der „Neuen Formel“ oder den Berufszugangsbeschränkungen im Rahmen der Dreistufentheorie zu Art. 12 GG hängt das zu fordernde Gewicht der Rechtfertigungsgründe hier weniger von einer abstrakten Umschreibung von Attributen wie „hinreichend“ oder „zwingend“ ab, sondern ergibt sich vor allem aus dem Zusammenspiel mit der anschließenden Verhältnismäßigkeitsprüfung. Diese kann und muss in dem Maße verschärft werden, wie sich die Diskriminierungswirkungen im Einzelfall denen einer unmittelbaren Benachteiligung (statistisch) annähern. Davon abgesehen muss, um der Abstufung zwischen dem allgemeinen Gleichheitssatz und den besonderen Diskriminierungsverboten Rechnung zu tragen, bei der Verhältnismäßigkeit mittelbarer Diskriminierungen tendenziell ein schärferer Kontrollstandard gelten als im Rahmen der „Neuen Formel“ bei Art. 3 Abs. 1 GG.

101

Rüfner, FS Friauf (Fußn. 5), S. 331 (334 f.). Dafür z. B. Starck, in v. Mangoldt/Klein/Starck (Hg.), GG, 6. Aufl. 2010, Art. 3 Abs. 3 Rn. 370; ablehnend etwa Britz, VVDStRL 64 (2005), 355 (360 ff.) mangels Einigkeit darüber, dass Diskriminierungen auch bei anderen Merkmalen als dem Geschlecht im Privatrechtsverkehr verboten sind; ausdrücklich offen gelassen im Zusammenhang mit dem Merkmal „Geschlecht“, doch allgemeiner formuliert von BVerfGE 121, 241 (254). 103 Vgl. die Zitate bei Jestaedt, VVDStRL 64 (2005), 298 (301 f.), der selbst ansatzweise, aber moderater ähnliche Befürchtungen andeutet (a.a.O. 350). 104 Zur Kritik BVerfGE 69, 57 (59) – Kriegsdienstverweigerung (Sondervotum); Bamberger, Verfassungswerte als Schranken vorbehaltloser Freiheitsrechte, 1999, insbes. S. 145 ff.; abgewogen Papier, in: Merten/Papier (Hg.), Hdb. der Grundrechte, Bd. 3, 2009, § 64 Rn. 17 ff. 105 Dies wird vom EuGH bei der Diskriminierung wegen des Geschlechts besonders betont; Überblick bei Europäische Kommission (Tobler) (Fußn. 46), S. 37 f. 102

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d) Methodische Basis Es bleibt die Frage, wie eine solche Abstufung der Rechtfertigungsanforderungen mit dem Wortlaut des Art. 3 Abs. 3 GG zu vereinbaren ist, der in seiner Aufzählung der verbotenen Differenzierungsmerkmale keinerlei solche Aufsplittung erkennen lässt. Indes sind den Gleichheitsrechten des Grundgesetzes im Text durchweg keine Aussagen zu Rechtfertigungsmöglichkeiten zu entnehmen. Daher sieht sich das Bundesverfassungsgericht seit jeher genötigt, außerhalb des Verfassungstextes teleologisch begründete spezifische Rechtfertigungsanforderungen für Ungleichbehandlungen zu entwickeln, nicht nur zu Art. 3 Abs. 1 GG, sondern auch zu speziellen Gleichheitssätzen wie namentlich Art. 38 Abs. 1 GG, wo das Gebot politischer Gleichheit trotz seiner im Ansatz strikten und formalen Geltung doch Ausnahmen aus einem „besonderen – zwingenden Grund“ zulassen soll.106 Die gleiche methodische Legitimation als Form teleologischer Lückenschließung kann auch die Abstufung der Rechtfertigungsanforderungen zwischen unmittelbaren und mittelbaren Diskriminierungen für sich beanspruchen. IV. Fazit Wiewohl mittelbare Diskriminierungen vom Bundesverfassungsgericht bislang nur bezüglich des Geschlechts und implizit in einem Fall wegen einer Behinderung thematisiert worden sind, muss diese Kategorie doch auf alle in Art. 3 Abs. 3 GG verpönten Merkmalen ausgedehnt werden. Nur so lässt sich ein effektiver Diskriminierungsschutz sicherstellen. Dies lehrt nicht zuletzt die Rechtsprechung der europäischen Gerichte. Sie liefert zwar schon mangels einheitlicher Linie und abweichender Normtexte keine einfach auf Art. 3 GG übertragbaren Rezepte, kann aber wichtige Impulse für die Fortentwicklung der deutschen Grundrechtsdogmatik vermitteln. Dies betrifft vor allem die wirkungsbezogene Definition von mittelbarer Diskriminierung, ihre weitgehend (mit Ausnahmen bei deckungsgleichen Merkmalen) formale Abgrenzung zur unmittelbaren Diskriminierung, die Verankerung bei den besonderen Diskriminierungsverboten statt beim allgemeinen Gleichheitssatz und schließlich auch den – richtigerweise gegenüber unmittelbaren Diskriminierungen abzustufenden – Rechtfertigungsmaßstab für nur mittelbare Benachteiligungen. Gewiss lässt sich die gewachsene Sensibilität für Benachteiligungen im Allgemeinen und mittelbare Diskriminierungen im Besonderen auch als Produkt des Zeitgeistes verstehen. Doch zeigt ein Blick in Thomas Würtenbergers schwung- und eindrucksvolle Schrift, dass solche Einflüsse auf das (Verfassungs-)Recht differenziert betrachtet werden müssen. Denn ungeachtet seiner gewissen Grundskepsis gegenüber einer zeitgeistgeprägten Rechtsfortbildung, der er eine besondere Anfälligkeit 106 Vgl. m.w.N. BVerfGE 47, 198 (227) – Wahlwerbesendungen; 93, 373 (377) – Gemeinderat; 95, 335 (376 f.) – Überhangmandate II, Auffassung der vier die Entscheidung nicht tragenden Richter. Den Zusammenhang mit Art. 3 Abs. 3 GG herstellend Michael/Morlok (Fußn. 74), § 26 Rn. 817.

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für minoritäre Einflüsse attestiert, betont auch unser Jubilar die Aufgabe von Rechtsprechung und Dogmatik, „durch Interpretation die Rechtsordnung auch mit den sich wandelnden Wert-, Gerechtigkeits- und Richtigkeitsvorstellungen in Einklang zu bringen“.107 Darüber hinaus ist ein auch verfassungsrechtlich verstärkter Schutz vor (mittelbaren) Diskriminierungen gerade kein Resultat bloßer emanzipatorischer Moden, sondern gewinnt juristische Legitimation nicht zuletzt aus der europäischen Gesetzgebung und (Grundrechts-)Interpretation.108 Mit Blick auf die EMRK müssen die Grundrechte des Grundgesetzes ohnehin völkerrechtskonform ausgelegt werden. Und mit Blick auf das Unionsrecht gilt über konkrete Umsetzungsverpflichtungen (wie bei den Antidiskriminierungsrichtlinien) hinaus die Feststellung von Thomas Würtenberger: „[E]s ist schwer begründbar, warum Verfassungs- und Rechtsprinzipien des supranationalen Rechts nicht auch im nationalen Bereich zu gelten haben“.109

107 Würtenberger, Zeitgeist und Recht. 2. Aufl. 1991, S. 162 f.; zum von ihm befürchteten überproportionalen Einfluss minoritärer Gruppen etwa S. 213 ff. 108 Das vieldiskutierte „Mangold“-Urteil des EuGH (Rs. C-144/04, Slg. 2005, I-9981) zur Alterdiskriminierung war zwar methodisch zweifelhaft (dazu BVerfGE 126, 286 [300 ff.]), bezog sich inhaltlich jedoch nur auf ein Übergangsproblem bis zum Inkrafttreten der einschlägigen Richtlinie. 109 Zippelius/Würtenberger (Fußn. 1), § 2 Rn. 62; zur völkerrechtskonformen Auslegung im Einklang mit der EMRK a.a.O. § 2 Rn. 61 und § 7 Rn. 60 f. sowie jüngst BVerfGE 128, 326 (366 ff.) – Sicherungsverwahrung.

Laufzeitverlängerung bei Kernkraftwerken und Bundesratszustimmung Zur Frage der Zustimmungsbedürftigkeit des 11. Änderungsgesetzes zum AtG Von Michael Kloepfer, Berlin* I. Einleitung Mit der – ohne Zustimmung des Bundesrates beschlossenen – Atomrechtsnovelle der rot-grünen Bundesregierung vom 22. April 20021 (AtG 2002) wurden in Anlage 3 Spalte 2 des Atomgesetzes (AtG)2 für die laufenden Kernkraftwerke Reststrommengen festgelegt, nach deren Aufbrauchen gemäß § 7 Abs. 1a AtG die Genehmigungen zum Leistungsbetrieb der in Deutschland in Betrieb befindlichen Kernkraftanlagen erlöschen sollten. Außerdem wurde in Übereinstimmung mit dem geänderten Gesetzeszweck der „geordneten Beendigung der Kernenergienutzung“ (§ 1 Nr. 1 AtG) die Erteilung neuer Genehmigungen für Kernkraftwerke untersagt (§ 7 Abs. 1 AtG). Vorausgegangen war dem ein von der damaligen rot-grünen Bundesregierung und wichtigen Energieversorgungsunternehmen vereinbarter sogenannter Atomkonsens I.3 Im Bundestagswahlkampf von 2009 spielte die von der CDU/CSU und der FDP (damals noch) verfochtene Laufzeitverlängerung für Kernkraftwerke eine nicht unerhebliche Rolle. Nach dem Sieg dieser Parteien vereinbarte die schwarz-gelbe Koalition in ihrem Koalitionsvertrag von 2009 eine Laufzeitverlängerung der bestehenden Kernkraftwerke in Deutschland u. a. mit einem Vorteilsausgleich zu Lasten der Kraftwerksbetreiber, hielt aber gleichwohl an dem im Jahre 2002 beschlossenen Neubauverbot für Kernkraftwerke fest. Es handelte sich also nicht um einen Ausstieg vom Ausstieg, sondern um eine Ausstiegsverzögerung. Die Kernkraft wurde zur Brückentechnologie erklärt. Im Frühjahr 2010 begannen entsprechende vertrauliche – Öffentlichkeit wie Bundestagsvertreter ausschließende – Verhandlungen der Bun*

Meinem Assisstenen James Bews danke ich für seine Mitarbeit. Gesetz zur geordneten Beendigung der Kernenergie zur gewerblichen Nutzung von Elektrizität vom 22. 4. 2002 (BGBl I S. 1351). 2 Gesetz über die friedliche Verwendung der Kernenergie und den Schutz gegen ihre Gefahren vom 23. 12. 1959 (BGBl I S. 814) in der Fassung vom 15. 7. 1985 (BGBl. I S. 1565); zuletzt geändert durch Gesetz vom 24. 2. 2012 (BGBl I S. 212). 3 Näheres hierzu Kloepfer, Umweltrecht, 3. Auflage 2004, § 15 Rn. 42 ff. 1

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desregierung mit den betroffenen Energieversorgungsunternehmen zur geplanten Laufzeitverlängerung nebst Vorteilsausgleich. Diese Verhandlungen führten – trotz der zwischen den Vertragspartnern umstritten gebliebenen Brennstoffsteuer4 – zu einem weitgehenden Konsens zwischen der Bundesregierung und den beteiligten Energieunternehmen über die Laufzeitverlängerung (Atomkonsens II).5 Wesentliches Element dieses Kompromisses war dabei auch der zwischen der Bundesrepublik Deutschland (vertreten durch das Bundesfinanzministerium) und den betroffenen Stromunternehmen geschlossener Förderfondsvertrag über die Zahlung von Förderbeiträgen an einen Fonds zur Förderung erneuerbarer Energien.6 Der Bundestag hat im September 2010 zur Umsetzung des Atomkonsenses II das Elfte Gesetz zur Änderung des Atomgesetzes (11. Änderungsgesetz zum AtG) in einem sehr schnellen Verfahren beschlossen.7 Es wurde als Einspruchsgesetz behandelt. Eine Zustimmung des Bundesrates zu diesem Änderungsgesetz erfolgte nicht, obwohl dies von vielen Ländern und Parteien, aber auch von verschiedenen Stimmen der Rechtswissenschaft gefordert worden war. Der Vermittlungsausschuss wurde – entgegen der Empfehlung des Rechtsausschusses des Bundesrates8 – nicht angerufen. Am 8. Dezember 2010 wurde das 11. Änderungsgesetz zum AtG vom damaligen Bundespräsident Wulff ausgefertigt9 und am 13. Dezember 2010 verkündet. Es trat am darauf folgenden Tag in Kraft.10 Durch diese Novelle wurden die Reststrommengen der noch laufenden Kernkraftwerke erhöht, was eine durchschnittliche Verlängerung der Laufzeit der Kernkraftwerke von ca. 12 Jahren zur Folge hatte. Die Erhöhung der Reststrommengen hatte auf allen politischen Ebenen eine breite Auseinandersetzung in Gang gesetzt. Es kam nach vielen Jahren wieder zu großen „Anti-Atomkraft“-Demonstrationen und u. a. zu gemeinsamen Werbekampagnen mehrerer Stadtwerke mit den Landesregierungen der SPD-geführten Bundesländer. Die breite Kritik an der Laufzeitverlängerung mag eine von mehreren Ursachen für die Niederlage der schwarz-gelben Landesregierung bei den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen vom Sommer 2010 gewesen sein, die zur Bildung einer rot-grünen Minderheitsregierung in diesem Lande und hierdurch zum Verlust der schwarzgelben Mehrheit im Bundesrat führte. Damit war eine Zustimmung des Bundesrates 4 Für die Verfassungsmäßigkeit der Kernbrennstoffsteuer: Wernsmann, NVwZ 2011, 1367 ff.; Bruch/Grewe, BB 2012, 234 f.; a.A. Seer, DStR 2012, 325 ff. 5 Siehe zur Verfassungsmäßigkeit dieses paktierenden Vorgehens Kloepfer/Bruch, JZ 2011, 377 ff. 6 Siehe dazu Kloepfer/Bruch, JZ 2011, 377 (379 f.). 7 Vgl. FAZ v. 30. 10. 2010, die Kritik von Bundestagspräsident Norbert Lammert in, „Lammert kritisiert Laufzeitverlängerung“, S. 2. 8 Vgl. FAZ v. 27. 11. 2010, „Regierung zieht Atomgesetze auch im Bundesrat durch“, S. 1 f. 9 Vgl. FAZ v. 26. 11. 2010, S. 2; während seiner Tätigkeit als Ministerpräsident des Landes Niedersachen ging Christian Wulff freilich noch von der Zustimmungsbedürftigkeit einer Laufzeitverlängerung aus. 10 BGBl. I S. 1814.

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zur Laufzeitverlängerung nicht mehr zu erreichen. Folglich hielt die Bundesregierung eine Zustimmung zur Änderung des AtG im Gegensatz zu den Oppositionsparteien nicht für erforderlich, die sich dann in die vielstimmige Diskussion über die Zustimmungsbedürftigkeit der Atomgesetznovelle einschalteten. Die SPD-regierten Bundesländer Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Bremen, Berlin und Brandenburg sowie die Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen im Bundestag wollten das 11. Änderungsgesetzes zum AtG im Rahmen einer abstrakten Normenkontrolle vor dem BVerfG überprüfen lassen.11 Ein entsprechender Antrag wurde auch gestellt. Mit dem Erdbeben und Tsunami in Japan im März 2011 und dem dadurch verursachten GAU in Fukushima I mit Kernschmelze wandelte sich das politische Klima in Deutschland bezüglich der Akzeptanz ziviler Kernkraftnutzung schlagartig. CDU/ CSU und FDP als ehemalige Kernkraftbefürworter wurden blitzartig Kernkraftgegner und es kam zum Wettbewerb zwischen allen Parteien um einen schnellstmöglichen Ausstieg. Die Bundesregierung rief zunächst ohne hinreichende Rechtsgrundlage ein dreimonatiges „Moratorium“ für den Betrieb von Kernkraftwerken aus.12 Daraufhin wurden die sieben ältesten Kernkraftwerke abgeschaltet. Zusätzlich blieb das AKW Krümmel abgeschaltet. Alle Kernkraftwerke wurden einem „Stresstest“ durch die Reaktorsicherheitskommission unterworfen, der zu dem allenthalben schon davor bekannten Ergebnis führte, dass kein deutsches Kernkraftwerk den Absturz eines größeren Passagierflugzeuges unbeschadet überstehen würde. Eine adhoc gebildete „Ethikkommission“ empfahl vor Ablauf des „Moratoriums“ insbesondere einen Ausstieg innerhalb von zehn Jahren. Noch am Tage der Gutachtenübergabe kam es zu entsprechenden Beschlüssen der Koalitionsparteien und wenig später zu entsprechenden Beschlüssen der Bundesregierung. Der Bundestag beschloss nach rasanter Gesetzgebung mit breiter Mehrheit das umfassende Gesetzespaket zur Energiewende mit einer Laufzeitverkürzung, die faktisch die Laufzeitverlängerung von 2010 wieder rückgängig machte.13 Eine Zustimmung des Bundesrates erfolgte auch hier nicht, wohl aber waren die Länder diesmal in die Willensbildung einbezogen. Dieses 13. Änderungsgesetz zum Atomgesetz wurde am 5. August 2011 im Bundesgesetzblatt verkündet14 und trat am 6. August 2011 in Kraft. Gegen dieses Gesetz werden sowohl formelle wie materielle Verfassungsbedenken erhoben15.

11

Vgl. FAZ v. 17. 11. 2010, „Klage gegen Laufzeitverlängerung“, S. 2; s.a. http:// www.news.de/politik/855135351/spd-und-gruene-reichen-klagen-ein/1/; zuletzt aufgerufen am 31. 5. 2012. 12 Zur Kritik daran s. Kloepfer/Bruch, JZ 2011, 377 (386); Ewer/Behnsen, NJW 2011, 1182 ff.; Frenz, NVwZ 2011, 522 (525); Rebentisch, NVwZ 2011, 533 ff. 13 s. dazu http://www.bmu.de/energiewende/doc/47467.php; zuletzt aufgerufen am 31. 5. 2012. 14 BGBl. I 2011, 1704. 15 Dazu Bruch/Greve, DÖV 2011, 794 ff.; Ewer, NVwZ 2011, 1035 ff.; Kloepfer, DVBl. 2011, 1437 ff.; ders., UPR 2012, 41 ff.

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Die neuesten Entwicklungen im Atomrecht haben der Auseinandersetzung um die Zustimmungsbedürftigkeit der 11. Atomgesetznovelle viel von ihrer Brisanz genommen. Allerdings nicht vollständig. Die abstrakte Normenkontrolle dieses Gesetzes bleibt (vorerst) beim Bundesverfassungsgericht anhängig16. In der juristischen Diskussion um die Zustimmungsbedürftigkeit des 11. Änderungsgesetzes zum AtG nehmen die Autoren der ebenso zahlreichen wie gegensätzlichen Rechtsgutachten im Auftrag unterschiedlicher Bundes- und Landesministerien sowie einiger politischer Parteien eine fast schon dominante Stellung ein.17 Daneben existieren einige andere Veröffentlichungen.18 Insgesamt führt die starke Gutachtenverwobenheit der Veröffentlichungen pro und contra Zustimmungsbedürftigkeit zur Frage nach der Unvoreingenommenheit der jeweiligen wissenschaftlichen Texte. Das Umweltrecht droht immer mehr in ein Umweltrecht der Umweltschützer und ein Umweltrecht der Umweltbelaster zu zerfallen. Die blecherne Selbstgewissheit mancher Anhänger wie Gegner einer Zustimmungsbedürftigkeit des 11. Ände16 Zu den damit verbundenen Fragen (insbes. der möglichen Erledigung des Normenkontrollverfahrens) Kloepfer, UPR 2012, 41 (44). 17 Für die Zustimmungsbedürftigkeit: Papier, Rechtsgutachterliche Stellungnahme zur Zustimmungsbedürftigkeit eines Gesetzes zur Verlängerung der Laufzeiten von Kernkraftwerken, 2010; ders., NVwZ 2010, 1113 ff.; Wieland, Zur Zustimmungsbedürftigkeit eines Gesetzes zur Verlängerung der Laufzeit von Kernkraftwerken, 2010; ders., ZNER 2010, 321 ff.; Roßnagel/Hentschel, Rechtsgutachten zur Zustimmungsbedürftigkeit des elften Änderungsgesetzes zum Atomgesetz, 2010; dies., UPR 2011, 1 ff.; Gaßner/Kendzia, Rechtsgutachten zur Frage der Zustimmungsbedürftigkeit von Laufzeitverlängerungen für Atomkraftwerke wegen wesentlicher Erweiterung der Staatshaftung der Bundesländer (Art. 74 Abs. 2 GG), 2010; dies., ZUR 2010, 456 ff.; Kendzia, DÖV 2010, 713 ff.; ders., NVwZ 2010, 1135 ff.; ders., DÖV 2011, 359 ff.; Ewer, Rechtsgutachten zur Frage der Zustimmungsbedürftigkeit bestimmter Änderungen des Atomgesetzes, 2010; Held/Däuper/Michaels/Ringwald, Rechtsgutachterliche Stellungnahme zur Zustimmungsbedürftigkeit einer Atomgesetznovelle zur Laufzeitverlängerung für den Betrieb von Kernkraftwerken in der Bundesrepublik Deutschland, 2010; dies., ZUR 2010, 451 ff.; Dagegen: Badura, Die Notwendigkeit einer Zustimmung des Bundesrates zu einer Novellierung des Atomgesetzes, mit der in Abweichung von Vorschriften des Gesetzes zur geordneten Beendigung der Kernenergienutzung zur gewerblichen Erzeugung von Elektrizität vom 22. April 2002 (BGBl I S. 1351) die zulässige Produktion von Elektrizitätsmengen („Reststrommengen“) erhöht wird (Art. 87c GG, § 24 Abs. 1 AtG), 2010; Burgi, Zustimmungsbedürftigkeit der Elften und Zwölften Atomrechtsnovelle?, 2011; Degenhart, Rechtsgutachten zur Zustimmungsbedürftigkeit eines Gesetzes zur Verlängerung der Laufzeiten von Kernkraftwerken, 2010; ders., atw 2010, 674 ff.; ders., Legal Tribune 2010; für die Zustimmungsbedürftigkeit von „moderaten“ Laufzeitverlängerung s. Rechtsgutachten BMI/BMJ 2010, zitiert nach de Witt, RdE 2010, 357 ff.; Scholz/ Moench, Rechtsgutachten zur Zustimmungsbedürftigkeit des Bundesrates zu einer gesetzlichen Verlängerung der „Laufzeiten“ der Anlagen zur Spaltung von Kernbrennstoffen zur gewerblichen Erzeugung von Elektrizität, 2010; dies., ZG 2011, 58 ff.; Scholz, NVwZ 2010, 1385 ff.; Moench/Ruttloff, DVBl 2010, 865 ff.; dies., DÖV 2011, 354 ff. 18 Ohne Hinweis auf erstellte Gutachten sind die Beiträge von Geulen/Klinger, NVwZ 2010, 1118 ff., einerseits (zustimmungsbedürftig) und Bruch/Greve, DVP 2011, 178 (179 ff.); Burgi, NJW 2011, 561 ff.; Kloepfer, UPR 2012, 41 (44); Kotulla/Kilic, NVwZ 2010, 1449 ff.; Rebentisch, UPR 2010, 361 ff.; Schneider, atw 2010, 2 ff.; Schwarz, JZ 2010, 1118 ff.; de Witt, RdE 2010, 357 ff. andererseits (nicht zustimmungsbedürftig).

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rungsgesetzes zum Atomgesetz hat wohl eher mit interessengeneigten Vorfestlegungen als mit der Sache zu tun. Die Problematik der Zustimmungsbedürftigkeit des 11. Änderungsgesetzes zum AtG ist jedenfalls ausgesprochen vielschichtig und die Problemlösung jedenfalls nicht von vornherein eindeutig. Nachdenkenswerte Argumente lassen sich für beide Seiten finden, worüber Schriftsätze oder schriftsatzähnliche Aufsätze freilich naturgemäß schnell hinweggehen. II. Allgemeines zur Zustimmungsbedürftigkeit Im Hinblick auf die Mitwirkung des Bundesrats bei der Bundesgesetzgebung stellt das Einspruchsgesetz den verfassungsrechtlichen Regelfall dar. Ausnahmsweise bedürfen Bundesgesetze der Zustimmung des Bundesrates (arg. Art. 77 Abs. 2a GG), wenn dies im Grundgesetz ausdrücklich vorgesehen ist.19 Mit der Zustimmungsbedürftigkeit erhält die Landesmehrheit im Bundesrat eine Vetoposition und damit verbunden eine entscheidende Verstärkung ihrer Verhandlungsposition bei der Gestaltung von Bundesgesetzen. Auch wenn den im Grundgesetz aufgezählten Zustimmungsgesetzen regelmäßig gemeinsam ist, dass sie die Länderinteressen in erheblicher Weise berühren20 und deshalb eine Beteiligung des Bundesrates – der im bundesstaatlichen Gefüge die Interessen der Länder im Gesetzgebungsverfahren des Bundes wahrnimmt (vgl. Art. 50 GG) – geboten erscheinen könnte, genügt eine solche materielle Betroffenheit der Länder alleine zur Begründung der Zustimmungsbedürftigkeit nicht.21 Es bedarf vielmehr einer ausdrücklichen grundgesetzlichen Regelung zur Zustimmungsbedürftigkeit im konkreten Fall. Es herrscht insoweit das Enumerationsprinzip, nicht das Generalklauselprinzip.22 Ansonsten wäre eine Umkehrung des Regel-Ausnahme-Verhältnisses von Einspruchs- und Zustimmungsgesetzen zu befürchten. Im Übrigen ist das pauschale Abstellen auf die Wahrung der Länderinteressen als telos für die enumerativen Regelungen des Grundgesetzes über die Zustimmungsbedürftigkeit durch den Bundesrat zu eng. Die Zwecke der vielfältigen Regelungen des Grundgesetzes zur Zustimmungsbedürftigkeit23 von Bundesgesetzen können nur differenziert beurteilt werden.

19

Z.B.: Art. 16a Abs. 2 S. 2, 74 Abs. 2, 84 Abs. 1 S. 3, 87c, 87d Abs. 2. Bryde, in: v. Münch/Kunig, GG, Bd. 3, 5. Aufl. 2003, Art. 77 Rn. 20; Kokott, in: Bonner Kommentar, Bd. VII, 148. EL Okt. 2010, Art. 77 Rn. 31; Kloepfer, Verfassungsrecht, Bd. I, § 21 Rn. 213; Maurer, Staatsrecht I, 4. Aufl. 2005, § 17 Rn. 70. 21 Vgl. Masing, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, 6. Aufl. 2010, Art. 77 Rn. 49; Mann, in: Sachs, GG, 6. Aufl. 2012, Art. 77 Rn. 15. 22 Im Entwurf von Herrenchiemsee wurde dem Bundesrat noch eine größerer Einfluss zugebilligt; vgl. Art. 104 HChE. Das Erfordernis der qualifizierten Zustimmung des Bundesrates (Beschluss mit Zweidrittelmehrheit) zu bestimmten Gesetzen wurde nach Art. 105 HChE generalklauselartig formuliert. 23 Vgl. Kloepfer (Fußn. 16), § 21 Rn. 207 ff. 20

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Solche – teilweise untereinander verbundenen – Zwecke sind insbesondere:24 – die Sicherung von Länderinteressen, – die Wahrung des bestehenden Ländereinflusses bei politisch wichtigen Entscheidungen, – die Verfassungsstabilisierung oder – die Erschwerung von Verfassungsabweichungen. Gewiss stellt die Sicherung der Länderinteressen durch erhöhte Mitwirkungsbefugnisse der Länder die mit Abstand wichtigste und zahlenmäßig größte Gruppe dar.25 Es nimmt nicht wunder, dass die Gruppe der zustimmungsbedürftigen Gesetze im Finanzverfassungsrecht bzw. in finanzbezogenen Übergangsregelungen dominiert. Die Wahrung des Einflusses der Länder bei politisch wichtigen Entscheidungen des Bundes bildet dagegen nur eine relativ kleine Gruppe.26 Die Funktion der Verfassungsstabilisierung durch Zustimmungsbedürftigkeit ergibt sich aus der Sondervorschrift des Art. 79 Abs. 3 GG. Die Erschwerung von Verfassungsabweichungen dienen die – hier näher zu untersuchenden – Vorschriften des Art. 84 Abs. 1 S. 6, 85 Abs. 1 S. 1, 87b Abs. 2 S. 2, 87c, 87d Abs. 2 GG. In diesen Fälle (und bei Art. 79 Abs. 2 GG) besteht eine wichtige Funktion der Zustimmungsbedürftigkeit von Bundesgesetzen jedenfalls auch darin, die Gesetze im Parteienbundesstaat an einen größeren politischen Konsens zu binden, was insbesondere dann wichtig ist, wenn – wie in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland häufig – die „oppositionellen“ Landesgruppen im Bundesrat die Mehrheit haben, was auch derzeit wieder der Fall ist. Die Zustimmungsbedürftigkeit gibt außerdem auch der Exekutive (in Form der im Bundesrat agierenden Mitglieder der Landesregierungen) einen erhöhten Einfluss, was gerade bei den verwaltungs- bzw. finanzbezogenen bundesgesetzlichen Regelungen sinnvoll sein kann.

24 Im Schrifttum beschränkt man sich regelmäßig auf die Feststellung, dass es hauptsächlich um den Schutz von Landesinteressen gehe (vgl. z. B. Schneider, DVBl. 1953, 257 (257); Mann, in: Sachs, GG, 6. Aufl. 2012, Art. 77 Rn. 15; Bryde, in: v. Münch/Kunig, GG, 5. Aufl. 2003, Art. 77 Rn. 20) oder dass in den Fällen der Zustimmungsbedürftigkeit gliedstaatliche Belange berührt seien; vgl. dazu Ossenbühl, AöR 99 (1974), 369 (376). In der Rechtsprechung finden sich ebenfalls eher allgemeine Ausführungen, wonach es um den Schutz von Länderinteressen gehe; vgl. bspw. BVerfGE 1, 76 (79); 28, 66 (76); 37, 363 (381). 25 Hierzu zählen die Zustimmungserfordernisse nach Art. 29 Abs. 7, 72 Abs. 3 S. 2, 73 Abs. 2, 74 Abs. 2, 84 Abs. 1 S. 6, 85 Abs. 1 S. 1, 87 Abs. 3 S. 2, 87b Abs. 1 S. 3, 87e Abs. 5, 87 f Abs. 1, 91a Abs. 2, 91c Abs. 4 S. 2, 91e Abs. 3, 96 Abs. 5, 104a Abs. 5 S. 2 u. Abs. 6 S. 4, 104b Abs. 2 S. 1, 105 Abs. 3, 106 Abs. 3 S. 3 u. Abs. 4 S. 2 u. Abs. 5 S. 3 u. Abs. 6 S. 5, 106a S. 2, 106b S. 2, 107 Abs. 1 S. 2; 108 Abs. 2 S. 2 u. Abs. 4 S. 1 u. Abs. 5 S. 2, 109 Abs. 4 u. Abs. 5 S. 3, 109a S. 1, 115c S. 2; 120a Abs. 1 S. 1; 134 Abs. 4, 135 Abs. 5, 143a Abs. 3 S. 3, 143b Abs. 2 S. 3, 143c Abs. 4, 143d Abs. 2 S. 3, 5 u. Abs. 3 S. 2 GG. 26 Zu nennen sind hier: Art. 16a Abs. 2 u. Abs. 3, 23 Abs. 1 S. 3, 81 Abs. 2 S. 1, 87b Abs. 1 S. 4, 115k Abs.3 S. 2, 115 l Abs. 1 S. 1 GG.

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In den Fällen der Art. 84 Abs. 1 S. 6, 85 Abs. 1 S. 1, 87b Abs. 2 S. 2, 87c, 87d Abs. 2 GG liegt die Funktion der Zustimmungsbedürftigkeit von Gesetzen – wie erwähnt – vor allem darin, die Abweichung von den jeweiligen verfassungsrechtlichen Regelentscheidungen zu erschweren, wobei es vielfältig gleichfalls um den Schutz von Länderinteressen geht. Wenn z. B. nach Art. 87d Abs. 2 GG die Übertragung von Aufgaben der Luftverkehrsverwaltung an die Länder als Auftragsverwaltung an die Bundesratszustimmung gebunden wird, soll die Abweichung von der verfassungsrechtlichen Regelentscheidung (d. h. die Bundesverwaltung in der Luftverkehrsverwaltung) zwar nicht verhindert, wohl aber politisch erschwert werden. Entsprechendes gilt für die – freilich anders strukturierte – Regelung des Art. 87d GG. Hier soll die Regelentscheidung der Verfassung – Vollzug atomrechtlicher Bundesregelungen durch die Länder in eigener Verantwortung (in der sog. Bundesaufsichtsverwaltung nach Art. 84 GG) – eine erhöhte (rechtlich aber überwindbare) Bestandskraft erhalten. Die verfassungsrechtlichen Vorschriften über die Zustimmungsbedürftigkeit von Gesetzen sichern im Bereich der Fälle der Erschwerung von Verfassungsabweichungen nicht einfach alternative politische Handlungsmöglichkeiten mit verfassungspolitisch gleichwertigen Alternativen ab, sondern enthalten eine inhaltliche Vorstellung über das, was die Verfassung für die bessere Regelentscheidung hält und das, was sie ausnahmsweise mit Zustimmung des Bundesrates an Abweichungen zulassen will. Eine „Systemverschiebung“27 im bundesstaatlichen Gefüge soll nur mit der Mehrheit des Bundesrates zu erreichen sein. Von daher wird deutlich, dass die Systementscheidung, nicht aber jede Änderung der betreffenden Gesetze zustimmungsbedürftig sein soll. Wird eine zustimmungsbedürftige Regelung nicht erstmals erlassen, sondern geändert, genügt nach h.M. die ursprüngliche Zustimmungsbedürftigkeit an sich nicht zur Begründung der Zustimmungspflicht des Änderungsgesetzes.28 Notwendig ist vielmehr eine erneute Systemverschiebung im bundesstaatlichen Gefüge. Erforderlich ist, dass zustimmungsbedürftige Teile des Ursprungsgesetzes unmittelbar oder – in qualifizierter Form – mittelbar betroffen sind. Dabei liegt eine unmittelbar zustimmungsbedürftige Regelung vor, wenn das Änderungsgesetz für sich genommen zustimmungsbedürftige Regelungen enthält29 oder Bestimmungen des Ursprungsgesetzes ändert, die seinerzeit die Zustimmungsbedürftigkeit auslösten.30 Bei einer mittelbaren Auswirkung der Gesetzesänderung auf zustimmungsbedürftige Teile des Ursprungsgesetzes fordert das BVerfG31 eine „wesentliche Änderung von Bedeutung 27

BVerfGE 37, 363 (379). Das BVerfG hat sich von der sog. Mitverantwortungstheorie, nach der der Bundesrat durch seine Zustimmung die Mitverantwortung für das gesamte Gesetz übernimmt, verabschiedet; vgl. BVerfGE 37, 363 (379); Kloepfer (Fußn. 20), § 21 Rn. 224; Kokott (Fußn. 20), Art. 77 Rn. 44. 29 Bryde (Fußn. 20), Art. 77 Rn. 22; Mann (Fußn. 21), Art. 77 Rn. 17. 30 Maunz, in: ders./Dürig, GG, Bd. V, 64. EL 2012, Art. 77 Rn. 9. 31 BVerfGE 37, 363 (383); 39, 1 (34); 48, 127 (180); BVerfGE 126, 77 (105). 28

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und Tragweite“ zustimmungsbedürftiger Regelungen.32 Hier stellt das BVerfG also darauf ab, ob die Auswirkungen der Gesetzesänderung auf zustimmungsbedürftige Teile wegen ihrer Intensität die Beteiligung des Bundesrates zur Gewährleistung der Länderinteressen erfordern. Eine derart intensive Betroffenheit hat das Gericht auch in dem Sonderfall angenommen, dass ein zustimmungsbedürftiges befristetes Gesetz verlängert wird.33 III. Zustimmungsbedürftigkeit des 11. Änderungsgesetzes zum AtG? 1. Allgemeines Damit sind im Wesentlichen die allgemeinen Kriterien angesprochen, die für die Beurteilung der Zustimmungsbedürftigkeit des 11. Änderungsgesetzes zum AtG im konkreten Fall relevant sind. Die Zustimmungsbedürftigkeit des – aufgrund des damaligen Art. 74 Abs. 1 Nr. 11a GG ergangenen – AtG 1959 ergab sich aus dem kurz zuvor eingefügten34 Art. 87c GG, der eine fakultative Bundesauftragsverwaltung i.S.d. Art. 85 GG vorsah. Ein Gesetz, das von dieser Option Gebrauch machte und die Bundesauftragsverwaltung (vgl. Art. 85 GG) anordnete, bedurfte und bedarf nach Art. 87c GG der Zustimmung des Bundesrates. Die Anordnung der Bundesauftragsverwaltung ist damals durch den einfachen Bundesgesetzgeber mit Bundesratszustimmung in § 24 Abs. 1 S. 1 AtG erfolgt. Zusätzlich wird für das 11. Änderungsgesetz zum AtG heute von einzelnen Stimmen im Schrifttum35 auch auf Art. 74 Abs. 2 GG verwiesen, der die Zustimmung des Bundesrates bei Gesetzen, die das Gebiet der Staatshaftung betreffen, erfordert. Da das 11. Änderungsgesetz zum AtG die bereits nach § 24 Abs. 1 AtG bestehende Bundesauftragsverwaltung im Atomrecht nicht einführte, sondern nur bestätigte, kann sich insoweit keine Zustimmungsbedürftigkeit hierzu ergeben. Entscheidend ist die Frage ob mit der Erhöhung der Reststrommengen in Anlage 3 Spalte 2 des AtG eine hinreichend qualifizierte mittelbare Änderung des AtG vorliegt, die zur Zustimmungspflichtigkeit des 11. Änderungsgesetzes des AtG führen könnte (s.u. 4.). Hinzu kommen Argumente des actus contrarius (unten 2.) sowie der Zustimmungsbedürftigkeit wegen Änderung des Staatshaftungsrechts (unten 3.) und aufgrund einer etwaigen Verlängerung eines befristeten Gesetzes (unten 5.). 32

Vor der Föderalismusreform I bezog sich der wichtigste einschlägige Streitfall auf die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen die nach Art. 84 Abs. 1 GG a.F. für verwaltungsverfahrensrechtliche Regelungen bestehende Zustimmungsbedürftigkeit auch für materielle Regelungen gilt, falls hierdurch mittelbar die Bedeutung und Tragweite der verfahrensrechtlichen Regelungen verändert wurde; vgl. BVerfGE 37, 363 (383). 33 BVerfGE 8, 274 ff. 34 10. Gesetz zur Ergänzung des Grundgesetzes vom 23. 12. 1959 (BGBl I S. 815). 35 Gaßner/Kendzia (Fußn. 17); dies., ZUR 2010, 456 ff.; Kendzia, DÖV 2010, 713 ff.; ders., NVwZ 2010, 1135 ff.

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2. 11. Änderungsgesetz des AtG als actus contrarius? Vorausgeschickt sei, dass der Gedanken, bei dem 11. Änderungsgesetz zum AtG handele es sich um eine Aufhebung des AtG 2002, das seinerzeit zustimmungsfrei erlassen wurde und deshalb nach dem actus-contrarius Gedanken selbst keiner Zustimmung bedürfe, nicht überzeugt.36 Das AtG 2002 kann wegen seines erheblichen Einflusses auf die sonstigen Regelungen des AtG nicht als unabhängige, nicht-zustimmungsbedürftige gesetzgebungstechnische Einheit angesehen werden. Die vom BVerfG entwickelten Fallgruppen einer mittelbaren Änderung zustimmungsbedürftiger Regelungen sollen ja gerade Konstellationen erfassen, in denen durch eine Gesetzesänderung andere Teile des Ursprungsgesetzes betroffen sind. Eine andere Bewertung des actus-contrarius Gedankens käme nur in Betracht, wenn die Trennung schon anfänglich vollzogen worden wäre. Dies war beim AtG 2002 als bloßem Änderungsgesetz indessen nicht der Fall. Folglich führt der actus-contrarius Gedanke als solcher nicht zur fehlenden Zustimmungsbedürftigkeit des 11. Änderungsgesetzes des AtG. Hinter dem Gedanken des actus contrarius steht das politische Argument: Wenn in Zeiten der rot/grünen Koalition der Ausstieg aus der Kernenergie mit den kürzeren Restlaufzeiten beschlossen worden sei, dann könnten spätere Laufzeitverlängerungen nicht ihrerseits zustimmungsbedürftig sein. Dieses Argument gegen die Inkonsequenz des Regierungshandelns hat politisches, nicht aber rechtliches Gewicht: Falls die rot/grüne Mehrheit im Jahr 2002 gegen die Verfassung verstoßen haben sollte, weil der Bundesrat dem Atomausstieg seinerzeit nicht zugestimmt hat, gäbe es keinen Anspruch auf Gleichbehandlung im Unrecht. 3. Änderung staatshaftungsrechtlicher Regelungen Die Zustimmungsbedürftigkeit des 11. Änderungsgesetzes zum AtG könnte sich zunächst aus Art. 74 Abs. 2 GG ergeben, wenn das Gesetz Regelungen über die Staatshaftung enthielte. Dabei ist der Begriff der „Staatshaftung“ weit zu verstehen und geht über die Amtshaftung deutlich hinaus. Insoweit enthält das AtG in § 34 und § 18 staatshaftungsrechtliche Regelungen in diesem weiten Sinne. § 34 AtG normiert eine Freistellungsverpflichtung des Staates für Schadensersatzpflichten des Inhabers einer Kernanlage sowie des Besitzers radioaktiver Stoffe und enthält damit eine Regelung, die von manchen im Bereich der verschuldensunabhängigen Gefährdungshaftung verortet worden ist,37 besser aber als helfende Einstandspflicht des Staates in Notlagen verstanden werden sollte. Weiter ist § 18 AtG zu nennen, der eine Entschädigungspflicht des Staates in bestimmten Fällen der Aufhebung atomrechtlicher Genehmigungen vorsieht. Das 11. Änderungsgesetz zum AtG ändert zwar § 34 AtG, nicht aber § 18 AtG. 36 37

Moench/Ruttloff, DVBl 2010, 865 (871). Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, 5. Aufl. 1998, S. 375.

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Unabhängig von den Fragen, ob das Zustimmungserfordernis des Art. 74 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 Nr. 25 GG auch auf staatshaftungsrechtliche Einzelregelungen anwendbar ist oder ein umfassendes Staatshaftungsgesetz erfordert38 und ob ein „traditionelles“ Verständnis der Staatshaftung im Sinne einer Amtshaftung für rechtswidriges Verhalten staatlicher Stellen zu Grunde zu legen ist,39 kann das 11. Änderungsgesetz zum AtG freilich schon aus anderem Grunde die Zustimmungspflicht nicht in Bezug auf §§ 18 und 34 AtG auslösen. Die Freistellungsverpflichtung des § 34 AtG wird durch das 11. Änderungsgesetz zum AtG nämlich dahingehend geändert, dass der Bund fortan vollständig für die Freistellung des Anlageninhabers einzustehen hat. Die getroffenen Änderungen von § 34 AtG stellen zwar eine unmittelbare Änderung der staatshaftungsrechtlichen Regelungen des AtG dar. Diese begünstigt jedoch im Ergebnis die Bundesländer, weil diese aus ihrer bisherigen teilweisen Freistellungspflicht entlassen werden.40 Da Sinn und Zweck der Zustimmungspflicht nach Art. 74 Abs. 2 GG im Wesentlichen der Schutz fiskalischer Belange der Länder ist, kann insoweit keine Zustimmungspflicht für das 11. Änderungsgesetz zum AtG begründet werden. Erst recht vermag § 18 AtG nicht die Zustimmungspflicht des 11. Änderungsgesetzes zum AtG auszulösen. § 18 AtG kann – wenn überhaupt – nur mittelbar betroffen sein. Eine Übertragung der Grundsätze des BVerfG zu mittelbaren Auswirkungen auf zustimmungsbedürftige Regelungen auf Art. 74 Abs. 2 GG ist indessen nicht möglich.41 Eine Übertragung hätte eine unangemessen weite Ausdehnung des Bereichs zustimmungspflichtiger Gesetze zur Folge. Jede Regelung des Verwaltungsverfahrens birgt nämlich eine potentielle Auswirkung auf die staatshaftungsrechtliche Grundnorm des Art. 34 GG, § 839 BGB42 bzw. auf das Staatshaftungsrecht im weiteren Sinne. Dies kann aber noch nicht zur Zustimmungsbedürftigkeit einer Rechtsnorm mit diesen Auswirkungen führen. 4. Änderung der Bedeutung und Tragweite zustimmungspflichtiger Aufgaben der Landesbehörden a) Grundsätzliches Eine Zustimmungspflicht wegen einer wesentlichen Änderung der Bedeutung und Tragweite zustimmungsbedürftiger Regelungen (s. o. II.) kann für das 11. Ände38

Vgl. hierzu Oeter, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, 6. Aufl. 2010, Art. 74 Rn. 168. 39 Vgl. Oeter (Fußn. 38), Art. 74 Rn. 168; Pieroth, in: Jarass/ders., GG, 11. Aufl. 2011, Art. 74 Rn. 71. 40 So auch Roßnagel/Hentschel (Fußn. 17), S. 20. 41 So aber Gaßner/Kendzia, ZUR 2010, 456 ff.; dies. (Fußn. 17). 42 So auch Scholz, NVwZ 2010, 1385 (1390).

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rungsgesetz zum AtG vor allem in Bezug auf die nach § 24 AtG in Auftragsverwaltung auszuführenden Aufgaben gegeben sein. Die Bundesauftragsverwaltung der Länder im Atomrecht erfasst alle Vollzugsaufgaben aus dem AtG, soweit sie nicht – insbesondere nach §§ 23 bis 24a AtG – der bundeseigenen Verwaltung zugewiesen sind. Der Auftragsverwaltung unterfallen damit insbesondere die Erteilung von Genehmigungen bei atomrechtlichen Anlagen (§ 7 AtG) und der Aufhebung solcher Genehmigungen (§ 17 Abs. 2 und 3 AtG), die Stilllegung und der Abbau der Anlagen (§ 7 Abs. 3 AtG) sowie der Erlass nachträglicher Auflagen für atomrechtliche Anlagen (§ 17 Abs. 1 S. 3 AtG). Ob die Landesaufgaben in ihrer „Bedeutung und Tragweite“ durch die Erhöhung der Reststrommengen wesentlich geändert werden, ist bei der Lösung der Zustimmungsproblematik fraglich. Grundsätzlich muss zwischen qualitativen und quantitativen Veränderungen unterschieden werden, wobei nach Auffassung des BVerfG nur erstere das Zustimmungserfordernis auslösen.43 Erforderlich ist nach der Rechtsprechung des BVerfG, dass die Änderung der Begründung einer eigenständigen neuen Aufgabe nahe kommt und nicht lediglich als „Ausgestaltung einer bereits bestehenden Aufgabe“44 zu verstehen ist. Die Überwachung der Stilllegung und des Abbaus bzw. des Einschlusses einer Anlage (§ 7 Abs. 3 AtG) bleibt in der Sache durch das 11. Änderungsgesetz zum AtG unverändert und wird zeitlich nur hinaus geschoben, sodass insoweit nicht von einer wesentlichen Veränderung ausgegangen werden kann.45 b) Qualitative Änderung durch Notwendigkeit eines neuen Sicherheitsniveaus? Allerdings kann die Aufgabe der Landesbehörden, im Rahmen ihrer Aufsichtsfunktion die Erfüllung der Voraussetzungen für den Betrieb von Atomanlagen zu überprüfen und bei Bedarf nachträgliche Auflagen zu erlassen (§ 17 Abs. 1 S. 3 AtG) oder sogar Genehmigungen aufzuheben (§ 17 Abs. 2 und 3 AtG), durch die Laufzeitverlängerung wesentlich verändert worden sein. Insbesondere Roßnagel46 argumentiert, dass sich angesichts des – aus seiner Sicht – mangelhaften, nicht dem § 7 Abs. 2 Nr. 3 AtG entsprechenden Sicherheitsniveaus der deutschen Kernkraftwerke mit der Laufzeitverlängerung neue Aufgaben für die zuständigen Landesbehörden ergäben. So seien – im Hinblick auf das unter dem AtG 2002 damals noch in relativer zeitlicher Kürze bevorstehende Erlöschen der Genehmigungen durch Aufbrauchen der Reststrommengen (§ 7 Abs. 1a AtG) – Zugeständnisse bei der Erfüllung von Nachrüstverpflichtungen gemacht worden, die nach Verlängerung der

43

BVerfGE 75, 108 (150 f.); BVerfGE 126, 77 (105). BVerfGE 126, 77 (105). 45 Degenhart (Fußn. 17), S. 20. 46 (Fußn. 17), S. 33 ff. 44

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Restlaufzeit aufgehoben werden müssten.47 Zudem sei die Anordnung weiterer Nachrüstungsmaßnahmen sowohl im Hinblick auf die allgemeine, wie auch im Hinblick auf die gesteigerte terroristische Gefährdungslage – die nach der neueren Rechtsprechung des BVerwG48 nicht mehr dem „unentrinnbaren Restrisiko“ zuzuordnen sei – erforderlich.49 Außerdem müssten die Landesbehörden ein systematisch vorsorgendes „Alterungsmanagement“ auf den Weg bringen, um den durch die Laufzeitverlängerung entstehenden Gefahren entgegenzuwirken.50 Hinzu kämen notwendige Reaktionen auf die gesteigerte terroristische Bedrohung. Diese Nachrüstungen kämen einem Neubau gleich, sodass erneute Planungen, Genehmigungen und Überprüfungen erforderlich würden.51 Diese Ausweitung der Aufgaben sei deshalb so weitgehend, dass von einem „Umschlagen von einer Erhöhung der Quantität […] zu einer neuen Qualität“ auszugehen sei.52 Die administrative Aufhebung von bisherigen faktischen Zugeständnissen bei der Erfüllung von Nachrüstungsverpflichtungen, die im Hinblick auf das relativ kurz bevorstehende Auslaufen der Betriebsgenehmigungen gemacht wurden, kann indessen keine Änderung der „Bedeutung und Tragweite“ einer bereits bestehenden Aufgabe darstellen, die der Begründung einer neuen, eigenständigen Aufgabe nahe käme. Anordnungen von Nachrüstungsmaßnahmen zur Gewährleistung der Sicherheit der Anlagen sind regelmäßig nachträgliche Auflagen i.S.d. § 17 Abs. 1 S. 3 AtG. Wenn auf die Anordnung derartiger Auflagen im konkreten Fall durch die Aufsichtsbehörde tatsächlich verzichtet worden sein sollte, läge hierin lediglich die Schlecht- bzw. Nicht-Ausübung einer Verwaltungszuständigkeit. Die Tatsache, dass aufgrund der Laufzeitverlängerung diese bereits bestehende Zuständigkeit ausgeübt werden muss, kann nicht eine Änderung ebenjener Verwaltungsaufgabe sein. Die fehlende Überzeugungskraft der Argumentation von Roßnagel wird deutlich, wenn man sich die Urfassung des AtG vor Augen hält. Auch dort war das Problem des „Alterungsmanagements“ aufgetreten, ohne dass ein zustimmungsbedürftiges Änderungsgesetz notwendig geworden wäre. c) Quantitative Änderungen Es kann freilich nicht von vornherein zurückgewiesen werden, dass die Laufzeitverlängerung zu einer umfangreicheren Prüfungspflicht der zuständigen Landesbehörden führen könnte, ob neue Gefahrenlagen zu Modifikationen der bisherigen Genehmigungen führen müssten. Die Sicherheit der Atomanlagen muss langfristig für einen längeren Zeitraum gewährleistet werden. Es besteht insoweit also eine kausale 47

Roßnagel/Hentschel (Fußn. 17), S. 41, 44; Geulen/Klinger, NVwZ 2010, 1118 (1120 f.). BVerwGE 131, 129 ff. 49 Roßnagel/Hentschel (Fußn. 17), S. 44, 46. 50 Roßnagel/Hentschel (Fußn. 17), S. 45 f. 51 Geulen/Klinger, NVwZ 2010, 1118 (1121); Kendzia, DÖV 2010, 713 (716). 52 Roßnagel/Hentschel (Fußn. 17), S. 47. 48

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Verknüpfung zwischen der Gesetzesänderung und der Änderung des Umfangs der bestehenden Landesaufgaben. Allerdings ist demgegenüber zu berücksichtigen, dass der Zuschnitt der Aufgabe selbst durch die Erhöhung der Reststrommengen nicht verändert wird. Auch nach der Atomrechtsnovelle von 2002 waren die Behörden verpflichtet, die Einhaltung der Genehmigungsvoraussetzungen (§ 7 Abs. 2 AtG) zu überprüfen und gegebenenfalls nachträgliche Auflagen zu erlassen (§ 17 Abs. 1 S. 3 AtG) oder gar die Genehmigung aufzuheben (§ 17 Abs. 2, 3 AtG). Der geänderte Umfang dieser Prüfung nach dem 11. Änderungsgesetz zum AtG hat seinen Ursprung aber in der veränderten Sachlage (z. B. etwaige Materialermüdung aufgrund längerer Laufzeiten). Durch die gesetzliche Änderung erlangt die veränderte Sachlage eine neue Bedeutung für die Prüfungspflichten der Landesbehörden. Dies ändert aber nichts an der Tatsache, dass die Aufgabe selbst unangetastet bleibt. Nicht jede veränderte Sachlage, durch die eine gesetzliche Änderung eine neue Bedeutung für die Aufgaben der Landesbehörden erlangt, genügt, um von einer zustimmungsbedürftigen (qualitativen) „Änderung der Bedeutung und Tragweite“ der Aufgabe selbst zu sprechen. Dies zeigt auch ein Überblick über die Rechtsprechung des BVerfG zur Bestimmung qualitativer Änderungen von Landesaufgaben. Nicht-zustimmungsbedürftige, quantitative Änderungen bestehender Aufgaben hat das BVerfG in Fällen angenommen, in denen der persönliche Anwendungsbereich eines durch die Länder ausgeführten Gesetzes ausgeweitet wurde.53 Dadurch ist der Umfang dieser Aufgaben zwar gestiegen. Dies ist aber nicht auf eine Neukonzeption der Aufgabe selbst zurückzuführen. Demgegenüber hat das BVerfG in seinem Urteil zum Wehrpflichtänderungsgesetz aus dem Jahr 197754 das Vorliegen einer qualitativen Änderung im Hinblick darauf angenommen, dass die Neuregelung des Wehrpflichtrechts auf die Überprüfung der Berechtigung, den Wehrdienst aus Gewissensgründen zu verweigern, verzichtete, sodass unerheblich war, aus welchem Grund eine Ablehnung erfolgte. Dies habe eine Umgestaltung des Zivildienstes als eine „wahlweise offen stehende Alternative“ zum Wehrdienst beinhaltet, was eine erhebliche Erweiterung des Zivildienstes über seinen bisherigen Umfang bedeutet habe.55 Es lag also eine Änderung der Gesetzeslage vor, die den Zuschnitt der Landesaufgabe selbst veränderte. Bei der Erhöhung der Reststrommengen liegt zwar keine bloße Erweiterung des (persönlichen) Anwendungsbereichs des AtG in obigem Sinne vor. Wie oben gesehen, erfolgt aber auch keine unmittelbare Änderung der Aufgaben selbst. Der 53 BVerfGE 37, 363 (395): Zuschlagsberechtigte in der Rentenversicherung; 75, 108 (151): Erweiterung des zur Künstlersozialkasse zugelassenen Personenkreises; 105, 313 (333): Erweiterung des zur Namensänderung berechtigten Personenkreises; BVerfGE 126, 77 ff.: Einbeziehung zusätzlicher Personengruppen in das Erfordernis der Zuverlässigkeitsprüfung beim Luftsicherheitsgesetz. 54 BGBl. I S. 1229. 55 BVerfGE 48, 127 (182 f.).

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Schwerpunkt der gesetzlichen Änderung ist vielmehr die zeitliche Ausdehnung des Anwendungsbereichs der atomrechtlichen Aufgaben der Landesbehörden. Nur hierdurch könnten sie einen Bedeutungswandel erlangen. Für die Fälle der zeitlichen Ausdehnung des Anwendungsbereichs eines Gesetzes hat das BVerfG indessen frühzeitig aber die besondere Kategorie der „Verlängerung eines befristeten Gesetzes“ entwickelt, die sogleich zu erörtern sein wird (s.u. III. 5.). Diese Kategorie deckt auch die Auswirkungen auf die Landesaufgaben ab, die durch die Verlängerung der Laufzeit hervorgerufen werden. Eine (zustimmungsbedürftige) qualitative Änderung der „Bedeutung und Tragweite“ der Aufgaben der Landesbehörden erfolgt durch das 11. Änderungsgesetz des AtG demnach nicht.56 Mit der Laufzeitverlängerung ist keine Systemverschiebung im föderalistischen Gefüge verbunden, die einen Grund für die Zustimmungsbedürftigkeit darstellen könnte (s. o.). Eine solche Systemverschiebung war die Einführung der Auftragsverwaltung, nicht aber die entsprechende Veränderung der dabei zu vollziehenden Vorschriften. Dies gilt jedenfalls für eine Laufzeitverlängerung von ca. 12 Jahren, die schwerlich als Systemverschiebung im föderalistischen Gefüge betrachtet werden kann.57 Es handelt sich eben nur um eine Ausstiegsverzögerung, nicht aber um einen Ausstieg vom Ausstieg, der in der Tat seinerseits systemverschiebend gewesen wäre. Dieses Zwischenergebnis wird bestätigt durch die oben (s. II.) aufgestellte Überlegung, wonach in einer Reihe von Fällen (u. a. bei Art. 87c GG) der Zwecke der Zustimmungsbedürftigkeit durch den Bundesrat in der Erschwerung der Verfassungsabweichung liegt: die Verfassung möchte im Regelfall den Vollzug von Bundesrecht zur zivilen Kernkraftnutzung den Ländern im Rahmen der Bundesaufsichtverwaltung überlassen. Die nach Art. 87c GG mögliche Zuordnung zur Bundesauftragsverwaltung ist eine Verfassungsabweichung, deren Realisierung durch das Erfordernis der Bundesratszustimmung erschwert ist. Dies erhellt, dass das 11. Änderungsgesetz nicht zustimmungsbedürftig ist, denn dieses regelt selbst keine Verfassungsabweichung, sondern setzt an der Entscheidung des Gesetzgebers von 1959 zur Einführung der Bundesauftragsverwaltung durch § 24 Abs. 1 S. 1 AtG an. Diese Entscheidung wird durch das 11. Änderungsgesetz zum AtG formell nicht angetastet, aber auch materiell nicht verändert. Die Verfassungsabweichung vom Grundsatz der Bundesaufsichtsverwaltung wird durch das Änderungsgesetz nicht vergrößert, aber auch nicht substantiell vermindert. Auch von daher lässt sich also eine Zustimmungsbedürftigkeit zum 11. Änderungsgesetz zum AtG nicht begründen.

56 So auch Scholz/Moench (Fußn. 17), S. 12; Moench/Ruttloff, DVBl. 2010, 865 (869); Degenhart (Fußn. 17), S. 26; Badura (Fußn. 17). 57 Hier liegt der gedankliche Ansatzpunkt für die „moderate“ Laufzeitverlängerung, die das Gutachten des BMI/BMJ (siehe Fußn. 12) für zustimmungsfrei hält. Ungewiss ist dabei freilich, was genau eine „moderate“ Laufzeitverlängerung sein soll. Greifbar ist jedenfalls das hier verwandte Kriterium der systemverschiebenden Änderung. Darum handelt es sich beim 11. Änderungsgesetz zum AtG jedenfalls nicht.

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5. Verlängerung eines befristeten Gesetzes? Allerdings könnte sich die Zustimmungsbedürftigkeit des 11. Änderungsgesetzes zum AtG daraus ergeben, dass die Erhöhung der Reststrommengen faktisch eine längere Laufzeit der bestehenden Atomanlagen bewirkt, welche durch das AtG 2002 eigentlich begrenzt werden sollte. Das BVerfG hat in seinem Beschluss zum Preisgesetz 194858 grundlegend festgestellt, dass ein Verlängerungsgesetz zu einem zustimmungsbedürftigen befristeten Gesetz grundsätzlich der Zustimmung des Bundesrates bedarf. Fraglich ist daher, ob das 11. Änderungsgesetz zum AtG dieser Kategorie zugeordnet werden kann. Greift man auf die Ursprungsfassung des AtG 1959 zurück, ist es von vornherein ausgeschlossen, von einem „befristeten Gesetz“ zu sprechen. Das AtG gilt grundsätzlich unbefristet, auch wenn es vom Gesetzgeber jederzeit verändert oder aufgehoben werden könnte. Anderes könnte für das Ausstiegsgesetz von 2002 gelten. Denn vergleicht man die Rechtslage vor und nach Erlass des 11. Änderungsgesetzes zum AtG, so könnten u. U. „Systemverschiebungen“ zu Lasten der Länder ermittelt werden. Dem entsprechen auch Aussagen des BVerfG im Beschluss zum Luftsicherheitsgesetz, wo es von einem „Vergleich der den Ländern übertragenen Aufgaben vor und nach Inkrafttreten des betreffenden Gesetzes“59 spricht. Entscheidend ist daher, ob das AtG in seiner Fassung nach Erlass der Atomrechtsnovelle 2002 als „befristetes“ Gesetz angesehen werden kann. Problematisch hieran ist aber von vorneherein, dass es sich bei der Einführung der Reststrommengen durch das Änderungsgesetz zum AtG von 2002 nicht um eine Befristung eines Gesetzes im rechtstechnischen Sinne handelt. Eine solche liegt nur vor, wenn das Gesetz bei Ablauf einer bestimmten Frist „wegfällt“60, die gesetzlichen Regelungen also mit Ablauf der Geltungsdauer automatisch ihre Geltungskraft verlieren.61 Dies ist bei der Einführung der Reststrommengen durch das AtG 2002 aus zwei Gründen nicht der Fall gewesen: Zum einen verliert das AtG selbst nach Aufbrauchen der Reststrommengen nicht seine Geltungskraft. Lediglich die Betriebsgenehmigungen erlöschen nach § 7 Abs. 1a AtG, was dann als Folge zum Wegfall eines erheblichen Teils des Anwendungsbereichs der Landesvollzugsaufgaben im Atomrecht führt. Zum anderen liegt eine Befristung im engeren Sinne deshalb nicht vor, weil die Reststrommengen keinen bestimmten Zeitpunkt vorgeben, zu dem die Genehmigungen erlöschen, sondern das Erlöschen vom Aufbrauchen der Reststrommengen eines Kontingents an zu produzierendem Strom abhängt. Ob freilich die Bejahung der Zustimmungsbedürftigkeit von „Verlängerungsgesetzen“ stets vom Vorliegen einer Befristung im engeren Sinne abhängen muss, ist 58

BVerfGE 8, 274 ff. BVerfGE 126, 77 (104) (Hervorh. v. Verfasser). 60 Vgl. Creifelds, Rechtswörterbuch, 20. Aufl. 2011, Stichwort: Zeitbestimmung. 61 Degenhart (Fußn. 17), S. 16. 59

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allerdings fraglich. Eine erweiternde Auslegung auf Quasi-Befristungen kann nach dem telos dieser Kategorie jedenfalls nicht von vorneherein ausgeschlossen werden. Der Grund für die Zustimmungsbedürftigkeit der Verlängerung eines befristeten Gesetzes liegt nämlich darin, dass sie – inhaltlich vergleichbar einem Neuerlass – diejenigen Vorschriften des zeitlich befristeten Gesetzes über die zeitliche Befristung hinaus weiter bestehen lässt, die den Hoheitsbereich der Länder belasten. Dies sind beim AtG vor allem die Aufgaben der Landesbehörden, die nach § 24 AtG in Auftragsverwaltung auszuführen sind. Dass eine ursprünglich zeitlich begrenzte Aufgabe durch eine gesetzliche Änderung faktisch zeitlich ausgedehnt wird, hängt dabei nicht zwingend vom Vorliegen einer Befristung im engeren, förmlichen Sinne ab. Die relative Nähe der Einführung der Reststrommengen im Jahr 2002 zu einer „Befristung“ im engeren Sinn wird durch die Tatsache verdeutlicht, dass der Gesetzentwurf für das AtG 2002 ausdrücklich von einer „nachträglichen Befristung“62 spricht. Auch die Begründung des 11. Änderungsgesetzes zum AtG nimmt diesen Begriff auf und sieht die Erhöhung der Laufzeiten als „befristete Verlängerung“.63 Weiter findet die Auffassung, dass das Gesamtgesetz betreffend eine technische „Befristung“ im formellen Sinne für die Annahme einer Zustimmungsbedürftigkeit nicht erforderlich ist, in den Aussagen des BVerfG zum Preisgesetz eine Stütze. Hier spricht das Gericht davon, dass „die Verlängerung der Geltungsdauer des Preisgesetzes […] dem Erlass neuer Gesetze mit dem Inhalt des Preisgesetzes gleich“ komme.64 Diese Neuregelung erfasse „nicht nur einen föderalistisch irrelevanten Teil des früheren Preisgesetzes“.65 Mit dem Verweis auf den „föderalistisch irrelevanten Teil“ gibt das BVerfG implizit zu erkennen, dass auch eine teilweise Verlängerung eines befristeten Gesetzes oder die Verlängerung eines teilweise befristeten Gesetzes die Zustimmungspflicht des Bundesrates auslösen kann, wenn dies für das föderalistische Gefüge relevant ist. Demnach ist nicht eine rechtsförmliche, enge Auslegung des Begriffs der „Befristung“, sondern das Vorliegen einer der Verlängerung eines befristeten Gesetzes vergleichbare Interessenlage für die Bestimmung der Zustimmungsbedürftigkeit ausschlaggebend.66 Dabei ist insbesondere zu bedenken, dass das 11. Änderungsgesetz zum AtG – ohne das 13. Änderungsgesetz zum AtG von 2011 – die Länder dazu gezwungen hätte, ihre Vollzugsaufgaben im Atomrecht noch zwölf weitere Jahre als Auftragsverwaltung auszuüben und damit den Weisungen des Bundes nach Art. 85 Abs. 3 GG weiter ausgesetzt zu sein.

62

BT-Drs. 14/6890, S. 5, 15, 16. BT-Drs. 17/3051, S. 1, 6. 64 BVerfGE 8, 274 (295). 65 BVerfGE 8, 274 (295). 66 So auch Gräber, DÖV 1959, 893 (893); a.A. Degenhart (Fußn. 17), S. 16 f.; Scholz/ Moench (Fußn. 17), S. 12 f. 63

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Gegen eine vergleichbare Intensität spricht gleichwohl, dass bei einer Befristung im engeren Sinne der Zeitpunkt des Ablaufs der Geltungskraft bestimmt ist, während der Zeitpunkt, zu dem die 2002 in das AtG eingefügten Reststrommengen aufgebraucht sein würden, nicht eindeutig vorhersehbar war. Vielmehr wurde auf der Basis einer Regellaufzeit von 32 Jahren eine Restlaufzeit errechnet, die bei Zugrundelegung der bisherigen Stromproduktion ergeben hätte, dass – vorbehaltlich zwischenzeitlicher Betriebsunterbrechungen – etwa bis zum Jahr 2021 alle deutschen Kraftwerke stillgelegt sein würden. Allerdings bestand die Möglichkeit der Übertragung von Reststrommengen auf andere Kraftwerke (§ 7 Abs. 1b und Abs. 1d AtG).67 Insoweit war der Zeitpunkt der nach den Änderungen des AtG 2002 und verbleibenden Restlaufzeiten nicht von vornherein exakt bestimmt. Bei einem eindeutig bestimmten Zeitpunkt hätten die Länder die Möglichkeit gehabt, das genaue Ende ihrer insoweit anfallenden Verwaltungstätigkeit vorauszusehen und sich hierauf entsprechend einzustellen, was dann insoweit für ihre erhöhte Schutzbedürftigkeit gegenüber einer Laufzeitverlängerung hätte sprechen können. Die Angabe der Reststrommengen im AtG 2002 hatte aber lediglich den Zweck, den Energieversorgungsunternehmen größere Gestaltungsmöglichkeiten und Chancen für betriebswirtschaftliche Optimierungen einzuräumen. Dass die Betriebsgenehmigungen der einzelnen Atomkraftwerke nach Aufbrauchen der jeweiligen Reststrommengen überhaupt eines Tages erlöschen würden, war zwar klar. Der exakte Zeitpunkt des Erlöschens dieser Genehmigungen war es aber nicht, weil die Produktionsmengen und etwaige Betriebsunterbrechungen sowie etwaige Reststrommengenübertragungen bei den einzelnen Kraftwerken im Vorhinein nicht genau vorherbestimmt werden konnten. Die Länder konnten sich also nicht auf einen bestimmten Zeitpunkt verlassen, was bei einer Befristung der Fall gewesen wäre. Das spricht insgesamt gegen eine Übertragung der Rechtsprechung des BVerfG zum Preisgesetz auf das 11. Änderungsgesetz zum AtG. IV. Ergebnis Bei der Reststrommengenvergrößerung handelt es sich somit insgesamt nicht um eine qualitative Veränderung der zustimmungsbedürftigen Teile des AtG. Es liegt lediglich eine „quantitative Änderung der Bedeutung und Tragweite“ der zustimmungsbedürftigen Teile vor, die aber nicht ein dem Fall der Verlängerung eines befristeten Gesetzes vergleichbares Maß erreicht.68 Folglich ist auch insoweit keine Zustimmungsbedürftigkeit des Laufzeitverlängerungsgesetzes zu begründen. Im Gesamtergebnis ist daher festzuhalten, dass das 11. Änderungsgesetz zum AtG nicht der Zustimmung des Bundesrates bedurfte. Auf einem anderen Blatt steht allerdings, ob das 11. Änderungsgesetz zum AtG u. U. aus anderem Grunde – insbesondere

67 68

Dazu Kloepfer, DVBl 2007, 1189 ff. So auch Kotulla/Kilic, NVwZ 2010, 1449 (1450).

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wegen etwaiger schwerer Mängel im Gesetzgebungsverfahren69 und wegen einer unzulässigen paktierten Gesetzgebung70 – verfassungswidrig war. Das ist aber nicht Gegenstand dieses Beitrages.71

69 Vgl. FAZ v. 30. 10. 2010, die Kritik von Bundestagspräsident Norbert Lammert in „Lammert kritisiert Laufzeitverlängerung“, S. 2. 70 Dazu Kloepfer, ZG 2010, 346 ff. 71 Siehe dazu vielmehr Kloepfer/Bruch, JZ 2011, 377 ff.

Von der Gleichstellung nichtehelicher Kinder zur Gleichstellung nichtverehelichter Eltern im Unterhalts- und Rentenrecht? Von Ursula Köbl, Freiburg Vorbemerkung Das wissenschaftliche Oeuvre von Thomas Würtenberger umspannt in ungewöhnlicher und eindrucksvoller Weise die dogmatischen Bereiche des Staats- und Verwaltungsrechts wie auch die geschichtlichen, rechtstheoretischen und rechtssoziologischen Grundlagen des Rechts. Doch da trotz mehrerer gemeinsamer Assistentenjahre am Lehrstuhl von Reinhold Zippelius in Erlangen unsere spätere stellenplanmäßig-fachliche Ausrichtung wenig Gemeinsames aufweist, möchte ich dem hochgeschätzten Freund und Fakultätskollegen mit der Skizzierung einer sozialund verfassungsrechtlichen Thematik Reverenz erweisen, die zwar in familienund sozialrechtlichen Detailregelungen angesiedelt ist, aber von einem strengen Verfassungsmaßstab beherrscht wird und die in mehreren Hinsichten Anschauungsmaterial bietet für die von Thomas Würtenberger so gedankenreich erörterten Wechselbeziehungen von „Zeitgeist und Recht“1. Es geht um den tiefgreifenden Wandel der Sexualmoral und der familiären Lebensmuster2, wie er verstärkt nach dem Zweiten Weltkrieg stattgefunden hat und sich u. a. in einem gravierenden Nachlassen der Bereitschaft zur ehelichen Bindung, selbst von Partnern mit Nachkommenschaft, manifestiert. I. Das Kindergleichstellungsgebot des Art. 6 Abs. 5 GG und seine Erfüllung in Recht und Gesellschaft 1. Zur Rechtslage Der Grundrechtsartikel zum Schutz von Ehe und Familie erteilt in seinem Schlussabsatz der Gesetzgebung den verbindlichen Auftrag, „den unehelichen Kindern … die gleichen Bedingungen für ihre leibliche und seelische Entwicklung und ihre Gleichstellung in der Gesellschaft zu schaffen wie den ehelichen Kindern“

1

So auch der Titel des 1991 in 2. Aufl. erschienenen Werks. Darlegungen hierzu von Würtenberger, aaO., S. 117 ff., 227 f., 234; Frank, AcP 200 (2000), S. 401 (412). 2

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(Art. 6 Abs. 5 GG)3. Allein das Zitat der seinerzeitigen Basisregelung des Bürgerlichen Rechts: „Ein uneheliches Kind und dessen Vater gelten als nicht verwandt“ (§ 1589 Abs. 2 BGB) mag den Älteren in Erinnerung rufen und den Jüngeren verdeutlichen, dass der Verfassungsgeber, indem er es nicht bei einem bloßen Fördergebot beließ, sich wohl dezidiert als „Opponent des Zeitgeistes“ im Sinne der damals herrschenden Sozialmoral betätigte4. Erheblich länger noch als bei Art. 3 Abs. 2 GG zögerte die Gesetzgebung denn auch mit der Umsetzung des Gleichstellungsauftrags; es bedurfte des entschiedenen und mehrfachen Eingreifens des BVerfG. Die Kernpunkte der Rechtsangleichung sind folgende5: Ausgehend von der strikten Verbindlichkeit des Verfassungsgebotes für die Gesetzgebung ist jede Regelung, die zwischen ehelichen und nichtehelichen Kindern unterscheidet, nur mit überzeugenden Gründen aus den normativ unverfügbar unterschiedlichen Lebensverhältnissen zu rechtfertigen, und selbst dann ist sie nach Möglichkeit anderweitig auszugleichen6. In neuerer Zeit verhalf auch das in Art. 6 Abs. 2 GG mitgarantierte Elternrecht des Vaters, sofern er es denn wahrnehmen will, dem Kind zu einem effektiven „ Recht auf beide Eltern“7. Dem Monitum der Entscheidung BVerfGE 25, 167 folgend wurde 1969 schließlich das Nichtehelichengesetz8 erlassen, welches einige Verbesserungen und eine gewisse Angleichung brachte; in Stichworten: Stärkung des Unterhaltsanspruchs gegen den Vater und schuldrechtliche Beteiligung am Nachlass des Vaters durch den sog. Erbersatzanspruch nach § 1934a und b BGB a.F.; Ersetzung der obligatorischen Vormundschaft durch eine Amtspflegschaft für bestimmte Angelegenheiten. Fast 30 Jahre verstrichen bis zu einem zweiten großen Angleichungsschub, im Zuge dessen 1997/1998 mehrere Einzelgesetze ergingen. Das Kindschaftsrechtsreformgesetz9 vereinheitlichte weitgehend das Recht der elterlichen Sorge und des Um-

3

Zur Entstehungsgeschichte seit der „Anweisung an den Gesetzgeber“ in Art. 121 WRV von Mangoldt, Das Bonner Grundgesetz, 1953, Art. 6, Anm. 1, 2, 5. – Im Vergleich zu Art. 6 Abs. 5 GG wird erkennbar, dass, entgegen später vertretenen Standpunkten, die lapidare Gleichberechtigungsformel des Art. 3 Abs. 2 GG a.F. allenfalls auf formalrechtliche Gleichstellung von Männern und Frauen abzielte. 4 Würtenberger (Fußn. 1), S. 229 ff. zur Legitimität von Rechtsfortbildung gegen den Zeitgeist im Allgemeinen. – Vielleicht beruht es auf aversiver Wertung, dass, soweit mir ersichtlich, in Isensee/Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, 3. Aufl. 2009, im Rahmen von Art. 6 GG (bearb. von J. Ipsen und Höfling) Abs. 5 nicht behandelt wird. 5 Näherer Überblick bei Schwab, Familienrecht, 19. Aufl. 2011, § 46. 6 BVerfGE 8, 210 (216); 85, 80. 7 Zur Grenze des Kindeswohls gegen eine zwangsweise Durchsetzung der Pflicht des Vaters zum Umgang mit dem Kind (§ 1684 I BGB) aber BVerfGE 121, 69. 8 NEhelG v. 19. 08. 1969 (BGBl I S. 1243). 9 KindRG v. 16. 12. 1997 (BGBl I S. 2942).

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gangs von Eltern und Kind sowie das Abstammungs-, das Namens- und das Adoptionsrecht. Das Beistandschaftsgesetz10 beseitigte die gesetzliche Amtspflegschaft und führte stattdessen eine freiwillige Amtsbeistandschaft für den sorgeberechtigten Elternteil ein. Die größte Gestaltungskraft, vor allem für gehobene Vermögensverhältnisse entfaltet das Erbrechtsgleichstellungsgesetz11. Ersatzlos wurden die bisherigen Vorschriften gestrichen, und damit die nichtehelichen Kinder den ehelichen völlig gleichgestellt. Nach über 60jähriger Geltung des Grundgesetzes und ausgeprägter „Konstitutionalisierung“ unserer gesamten Rechtsordnung12 kann gesagt werden, dass der Gesetzgebungsauftrag in normativer Hinsicht im Wesentlichen erfüllt ist13. So kann die staatsrechtliche Lehrbuch- und Standardliteratur Art. 6 Abs. 5 GG in knapper Form behandeln14. Aus dem Familienrecht des BGB und folglich aus den Lehrbüchern zum Familienrecht ist seit dem Kindschaftsrechtsreformgesetz die hergebrachte, plakative Zweiteilung des Kindschaftsrechts verschwunden; noch existierende, unentbehrliche Differenzierungen werden nicht mehr herausgehoben als „Recht des nichtehelichen Kindes“ dargestellt, sondern unauffällig im jeweiligen Regelungskontext (elterliche Sorge, Umgang, Unterhalt) untergebracht15. Was allerdings den Begriff „nichteheliches Kind“ anbelangt, so mögen ihn die Gesetzestexte durch die umständliche Ausdrucksweise vom Kind, dessen Eltern bei seiner Geburt nicht miteinander verheiratet sind (vgl. Untertitel 2 vor § 1615a BGB), ersetzen, die Rechtssprache ansonsten und erst recht die Umgangssprache werden auf den griffig kurzen Terminus kaum verzichten. 2. Zur gesellschaftlichen Gleichstellung und zur Kollision mit dem Eheschutzgebot Auch die gesellschaftliche Gleichstellung dürfte in hohem Maße erreicht sein, was freilich nur aus zahlreichen Indizien geschlossen werden kann. Diskriminierende Haltungen traditioneller Prägung finden jedenfalls im seriösen öffentlichen Diskurs kein Forum mehr. Die Unterhaltungsindustrie und die Boulevard-Medien profitieren ohnehin viel mehr von öfter wechselnden Beziehungen und bunten „Patch10

BeistandschaftsG v. 4. 12. 1997 (BGBl I S. 2846). ErbrechtsgleichstellungsG v.16. 12. 1997 (BGBl I S.2968). 12 Vgl. Wahl, in Eberle/Ibler/Lorenz (Hg.), FS Brohm, 2002, S. 191, 192 f. 13 Eingehende Darstellung der Rechtslage bei Löhnig/Gietl/Preisner, Das Recht des Kindes nicht miteinander verheirateter Eltern, 3. Aufl. 2010. 14 Vgl. Zippelius/Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 32. Aufl. 2008, § 32 IV; Sodan, in ders. (Hg.), Grundgesetz, Kompaktkommentar, 2009, Art. 6 Rn 20. 15 Zur Einheitlichkeit des Kindschaftsrechts Schwab, Familienrecht, 19. Aufl. 2011, § 46 Rn 509. 11

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work-Familien“, wie sie nicht nur unter Prominenten des Showbusiness vorkommen, sondern heutzutage sogar in den Repräsentativspitzen der Gesellschaft (z. B. beim früheren deutschen Bundespräsidenten oder dem norwegischen Kronprinzen). Der Ausbau der rechtlichen und sozialen Stellung der nichtehelichen Kinder ist unvermeidlich dazu angetan, die materiellen wie ideellen Positionen von Ehefrau und ehelichen Kindern des Vaters zu beeinträchtigen. Eine solche werteantagonistische Tendenz ist dem Art. 6 GG mit seinen Absätzen 1 und 6 unübersehbar von Anfang an eigen, da nicht nur ledige Personen Eltern von nichtehelichen Kindern werden und danach auch unverheiratet bleiben. Negative Auswirkungen auf die Ehe als Institution sind auch insofern nicht in Abrede zustellen, als im kollektiven Moral- und Rechtsbewusstsein ihre rechtliche und gesellschaftliche Wichtigkeit sinkt. Sogar eine Minderung der Heiratschancen von Frauen wird anzunehmen sein, da der einst immense gesellschaftliche Druck zur Eheschließung nach Eintritt einer Schwangerschaft ganz erheblich nachgelassen hat. Eine Frau braucht sich nicht mehr „sitzengelassen“ zu fühlen mit einem „ledigen Kind“. Wird doch der Status der allleinerziehenden Mutter (eventuell sogar mithilfe künstlicher Insemination erreicht) von betont emanzipierten Frauen bewusst gewählt und propagiert. Und ausweislich der öffentlichen Heirats- und Geburtsanzeigen scheint von nicht wenigen „modernen“ Paaren die Eheschließung geradezu ostentativ erst geraume Zeit nach der Geburt eines oder gar mehrerer Kinder angesetzt zu werden16. Über diesem Wandel der in unserer jüngeren deutschstämmigen Bevölkerung17 herrschenden Sozialmoral dürfte längst die intuitive Einfühlung in die Verklemmungen, Ängste und Schrecknisse geschwunden sein, die noch die ältere der lebenden Frauengenerationen und erst recht frühere durchlitten haben. Tragisch berühmte Frauengestalten der Literatur, wie etwa Fausts Gretchen, sind der Gegenwart weit entrückt. Über die Einschätzung der besonderen Schwierigkeiten und etwa auch noch verbliebener Diskriminierungen von ledigen Müttern in unserer Gesellschaft könnte die Anzahl der Schwangerschaftsabbrüche etwas aussagen, die hauptsächlich aus dem Grund vorgenommen werden, dass eine Eheschließung oder dauerhafte Lebensgemeinschaft mit dem Vater des Kindes nicht in Betracht kommt. Nur mit subtilen Methoden der Sozialforschung ließe sich herauszufinden, welche „inneren“ Einstellungen in der Bevölkerung tatsächlich vorherrschen, welche vereinzelt, welche von größeren oder kleineren Minderheiten vertreten werden, inwiefern

16

Ein knappes Drittel der Kinder wird in Deutschland nichtehelich geboren, StatJb 2011, Tabelle 2. 17 Anderes wird gelten für Mitbürger mit islamischer Religionszugehörigkeit und kultureller Tradition (Stichwort: „Ehrenmorde“); zur höheren Verbreitung traditioneller Familienformen Statistisches Bundesamt (Hg.), Familienland Deutschland. Begleitmaterial zur Pressekonferenz am 22. Juli 2008 in Berlin, 2008, S. 9.

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man nur gegenüber dem „Zug der Zeit“ und den geltenden Gesetzen resigniert18. Eine interessante Aufgabe für eine historisch psychologische Rechtsforschung wäre es, den verschlungenen Ursache-Wirkungs-Verflechtungen zwischen den Strängen des Normativen und des Faktischen nachzugehen. Das gegenwärtige Recht hat es zu tun mit sozial-familiären Konstellationen von größter Unterschiedlichkeit: Da ist zum einen die dem Verfassungsgeber von einst vor Augen stehende Situation der ihr nichteheliches Kind allein betreuenden Mutter, zum andern die eheähnliche Lebensgemeinschaft der leiblichen Eltern des Kindes und nicht selten die sog. „Patchwork“-Familie, in der ein Paar (auch) mit einem oder mehreren jeweils „einseitigen“ Kindern eines Partners eine Familiengemeinschaft bildet. Wieweit die Akzeptanz, ja geradezu Normalisierung der nichtehelichen Elternschaft in unserer Gesellschaft auch immer gediehen sein mag – fraglos weit über die Vorstellungen der Verfassungsgeber von 1949 hinaus – die Rechtsordnung darf, zumal wenn es nur um Geld geht, auch Gleichstellungsrückstände kleineren Formats im Normengefüge, nicht beibehalten19. Ein solcher aber ist, soviel sei vorausgreifend gesagt, im Bereich der Unterhaltssicherung nach dem Tod eines Elternteils auszumachen. Der Fokus der folgenden Ausführungen liegt auf der Situation, dass ein nichteheliches Kind nach dem Tod eines Elternteils vom anderen leiblichen Elternteil betreut wird. II. Die aktuellen Regelungen über Unterhalt und Unterhaltsersatz bei ehelicher und nichtehelicher Elternschaft 1. Die Lage der Kinder Klar und einfach gestalten sich dem Grunde nach die Unterhalts- und die Unterhaltsersatzsituation von Kindern zu Lebzeiten und nach dem Tod eines Elternteils. In knapper Kennzeichnung tritt an die Stelle des familienrechtlichen Unterhaltsanspruchs (§§ 1601 ff. BGB) in sämtlichen öffentlichrechtlichen Alterssicherungssystemen (Gesetzliche Rentenversicherung = GRV, Beamtenversorgung, berufsständische Versorgungswerke)20 infolge des Todes eines Elternteils der Anspruch seiner Kinder auf Halbwaisenrente (§ 48 Abs. 1 SGB VI). Nicht nur eheliche oder nichteheliche Abkunft sind für die Rente belanglos, für Kinder i.S. des Familienrechts (s. aber noch u.) hängen auch die Gewährung und die Höhe der Waisenrenten weder von der konkreten familienrechtlichen Unterhaltspflicht noch vom Ob und Wie der voraus18 Allgemein zur Akzeptanz von Gesetzen Würtenberger, in Friedrichs/Jagodzinski (Hg.), Soziale Integration, 1999, S. 380. 19 Dem Schutz des ungeborenen Lebens, für den Würtenberger sich einsetzt (u. a. in Zeitgeist und Recht, 1991, S. 226 f.) dient letztlich auch ein fortschrittliches Nichtehelichenrecht. 20 Dem Fokus dieser Ausführungen entsprechend ist im weiteren Text von der GRV nur die Rede.

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gegangenen tatsächlichen Unterhaltsleistung durch den Verstorbenen ab21, sondern sie bestimmen sich allein aus seinem Rentenversicherungsverhältnis und der rentengesetzlichen Typisierung, welcher freilich die mehrheitlichen Lebensverhältnissen zugrundeliegen. Derartig grobe Typisierungen – und das ist für die weiteren Überlegungen im Auge zu behalten – sind durchgängig prägend für die „Renten wegen Todes“ und ihre sog. Unterhaltsersatzfunktion. Nur im Bereich der Klein- oder Kernfamilie sind die nach BGB Unterhaltsberechtigten dieselben Personen wie die nach SGB VI Rentenberechtigten. Hingegen ist für Aszendenten der Versicherten im System der GRV keinerlei Rente wegen Todes vorgesehen22, einsichtigerweise, denn die Alterslasten sind ja kollektiviert. Andererseits wird aber der Kreis der waisenrentenberechtigten „Kinder“ sehr viel weiter gezogen, als es das Familienrecht vorzeichnet. Auch bloß tatsächliche Unterhaltsgewährung23, kann den „Unterhaltsersatz“ in Gestalt der Waisenrente auslösen, so zugunsten von Stiefkindern und Pflegekindern sowie von Enkeln und Geschwistern bei „Haushaltsaufnahme“ bzw. „überwiegendem Unterhalt“ durch den verstorbenen Versicherten (§ 48 Abs. 3 SGB VI). Derselbe ausgedehnte Kinderkreis, und zwar sowohl bezogen auf den verstorbenen wie auf den überlebenden Ehegatten, ist auch maßgeblich für die Tatbestände der großen Witwen(r)rente wegen Kindererziehung (§ 46 Abs. 2 SGB VI) und der Erziehungsrente (§ 47 Abs. 1 SGB VI). 2. Die Lage der Partner und Elternteile a) Bei bestehender Ehe oder Partnerschaft und nach lebzeitiger Auflösung (1) Streitigkeiten um die rechtliche Pflicht zur gegenseitigen Unterhaltsleistung der Ehegatten (§§ 1360 ff. BGB) pflegen in intakten Ehen nicht vor Gericht ausgetragen zu werden. Erst bei Trennung und Scheidung brechen häufig privat nicht mehr zu bewältigende Verteilungskämpfe auf, die das Familienrecht normativ und judikativ beständig vor schwere Regelungsaufgaben stellen. Grundsätzlich sind die geschiedenen Ehegatten zwar wirtschaftlich selbständig und darauf verwiesen, eigenverantwortlich für ihren Unterhalt zu sorgen (§ 1569 BGB). Als ausnahmsweise Nachwirkung der ehelichen Verantwortungsgemeinschaft sind jedoch für eine Reihe von Bedarfslagen nacheheliche Unterhaltsansprüche normiert: Die praktisch wichtigste und sozialethisch am wenigsten umstrittene ist die Situation, dass von dem Ehegatten, der ein gemeinschaftliches Kind betreut, 21

Bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres spielt sogar die eigene Einkommens- und Vermögenssituation der Waise keine Rolle (§ 97 I SGB VI). 22 Anders im Recht der Gesetzlichen Unfallversicherung (§ 69 SGB VII) und der sozialen Entschädigung (§§ 49 f. BVG). 23 Sowohl Barunterhalt wie Betreuungsunterhalt sind zutreffend in Ansatz zu bringen.

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eine Erwerbstätigkeit nicht erwartet werden kann (§ 1570 BGB; zu seinem genaueren Inhalt sogleich Näheres beim praktisch wortgleichen § 1615 l Abs.2 S.2 BGB). Ferner können Alter, Krankheit und Gebrechen, Fehlen einer angemessenen Erwerbstätigkeit, Ausbildung, Fortbildung oder Umschulung und Gesichtspunkte grober Unbilligkeit zu einem nachehelichen Unterhaltsanspruch führen (§§ 1571 – 1576 BGB). (2) Nicht miteinander verheiratete Partner haben, wie in der Bevölkerung ja allgemein bekannt ist, grundsätzlich keine gesetzlichen Unterhaltsansprüche gegeneinander. Dies kann sich jedoch bei Betreuung eines gemeinsamen Kindes, langzeitlich über die gesetzlichen Mutterschutzfristen (von sechs Wochen vor der Entbindung und acht Wochen nach der Entbindung) weit hinaus ändern. Die einen Anspruch auf Betreuungsunterhalt regelnde Vorschrift des § 1615 l Abs. 2 BGB hat innerhalb ihrer Geltungsdauer seit 1969 eine bemerkenswerte „Karriere“ gemacht und es nach bescheidenen Anfängen zum jetzt mit § 1570 Abs. 1 BGB übereinstimmenden Regelungsgehalt gebracht24. Der Kürze halber sei hier nur die maßgebliche Passage in aktueller Fassung von § 1570 Abs. 1 BGB zitiert; in § 1615 l BGB ist anstatt von Ehegatten von „Vater“ und „Mutter“ die Rede. „Ein geschiedener Ehegatte kann von dem andern wegen der Pflege oder Erziehung eines gemeinschaftlichen Kindes für mindestens drei Jahre nach der Geburt Unterhalt verlangen. Die Dauer des Unterhaltsanspruchs verlängert sich, solange und soweit dies der Billigkeit entspricht. Dabei sind die Belange des Kindes und die bestehenden Möglichkeiten der Kinderbetreuung zu berücksichtigen.“

Zuvor bestand zwischen beiden Anspruchsgrundlagen eine auffällige Diskrepanz. Während der nacheheliche Anspruch nach dem Gesetzeswortlaut überhaupt keiner zeitlichen Begrenzung unterlag, und die konkretisierende Rechtsprechung eine Obliegenheit des Betreuenden zu einer Vollzeiterwerbstätigkeit erst ab dem Alter des Kindes von 16 Jahren annahm25, war der Anspruch nach § 1615 l BGB auf drei Jahre befristet, mit Verlängerungsmöglichkeit lediglich bei grober Unbilligkeit26. Dass nun hinsichtlich des kindbezogenen Betreuungsbedarfs zwischen geschiedenen Eltern und nicht miteinander verheirateten Eltern eines Kindes kein Unterschied mehr besteht, verdankt sich einer präzisen Beanstandung des BVerfG vom Jahr 200727; der Leitsatz lautet: 24

Auf Anordnung von BVerfGE 118,45. Zu den Alterstufen nach den Leitlinien der Oberlandesgerichte BVerfGE 118, 45 (64); Vollzeitbetreuung wird bis zum Alter von acht bis zehn Jahren für notwendig erachtet. 26 Bei Einführung des § 1615 l BGB im Rahmen des NEhelG von 1969 wurde ein Unterhaltsanspruch für längstens ein Jahr zugesprochen. Das Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetz von 1995 (SF-HÄndG (BGBl I S.1055) dehnte den Anspruch auf drei Jahre aus. Das KindRG von 1997/98 erweiterte den Tatbestand noch um eine Verlängerungsmöglichkeit wegen grober Unbilligkeit mit Rücksicht auf die Belange des Kindes. 27 BVerfGE 118, 45; daraufhin Unterhaltsrechtsänderungsgesetz (UÄndG v. 21. 12. 2007, BGBl. I S. 3189). 25

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„Es verstößt gegen Art. 6 Abs.5 GG, die Dauer eines Unterhaltsanspruchs, den der Gesetzgeber einem Elternteil wegen der Betreuung seines Kindes gegen den anderen Elternteil einräumt, für eheliche und nichteheliche Kinder unterschiedlich zu bestimmen.“

Die Befürworter der beträchtlich besseren Stellung des geschiedenen Ehegatten fochten mit dem durchaus einleuchtenden Argument einer gebotenen „nachehelichen Solidarität“ aufgrund der besonderen Qualität der Elternbeziehung sowie dem Vertrauen auf eine während der Ehe eingenommene Rolle als Betreuer des Kindes28. Das BVerfG hielt dieses Argument jedoch unter dem Maßstab von Art. 6 Abs. 5 GG und in Anbetracht des Gesetzeswortlauts sowie der sich ausschließlich am Kindesalter orientierenden Anwendungspraxis zu § 1570 BGB a.F nicht für tragfähig. Die aufgegebene Neuregelung berücksichtigt nun die ehe- und elternbezogenen Gesichtspunkte beim nachehelichen Anspruch auf Betreuungsunterhalt in einem zweiten Absatz zu § 1570 BGB, der lautet: „Die Dauer des Unterhaltsanspruchs verlängert sich darüber hinaus, wenn dies unter Berücksichtigung der Gestaltung von Kinderbetreuung und Erwerbstätigkeit in der Ehe sowie der Dauer der Ehe der Billigkeit entspricht.“

Es lässt sich absehen, dass auch diese Position in die Reichweite solcher nicht verheirateter Eltern rücken wird, die eheähnlich zusammen gelebt haben. b) Die Versorgungslage bei Auflösung der Ehe oder der Partnerschaft durch den Tod (1) Der Tod des versicherten Ehegatten29 löst für den überlebenden Ehegatten den Anspruch auf eine Witwen- bzw. Witwerrente aus (§ 46 SGB VI)30. Eine „große Witwen(r)rente“31 ist zu gewähren ab dem Alter von 47 Jahren oder bei Erwerbsminderung oder wenn der hinterbliebene Ehegatte ein „eigenes Kind oder ein Kind des versicherten Ehegatten, das das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, erzieht“ (§ 46 Abs. 2 Nrn. 1 – 3 SGB VI).

28

Vgl. BVerfGE 118, 45 (50 ff., 59 f., 73) u. auch zu BT-Drs. 13/8511, S. 71; BGH FamRZ 2006, 1362. 29 Eingetragene Lebenspartner sind gleichgestellt (§ 46 Abs. 4 SGB VI i.V.m. § 33b SGB I). 30 Außer dem Versicherungsverhältnis, dem Bestehen der Ehe im Todeszeitpunkt (vorbehaltlich einer bloßen „Versorgungsehe“, § 46 IIa SGB VI) ist nur noch die Erfüllung der allgemeinen, fünfjährigen Wartezeit (§ 50 SGBVI) Rentenvoraussetzung. 31 Der Einfachheit halber wird diese Bezeichnung auch für die Renten von Witwern und Lebenspartnern gebraucht.

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Was schon bei den Waisenrenten zu betonen war, gilt auch bei diesen wahrlich massenhaft anfallenden Hinterbliebenenrenten32: Die tatsächlichen lebzeitigen Unterhaltsverhältnisse der Ehegatten sind für den „Unterhaltsersatz“ durch eine Rente wegen Todes aus der GRV ohne Belang, das Gesetz unterstellt wieder verallgemeinernd den typischen Lebenssachverhalt, dass Ehegatten einander zum Familienunterhalt rechtlich (§§ 1360 ff. BGB) und sittlich verpflichtet sind und diese Pflicht auch tatsächlich erfüllen. (2) Hingegen erhalten nichverehelichte Paare, selbst als Eltern gemeinsamer Kinder, nach dem Tod eines von beiden keine Hinterbliebenenrente. Die Heraushebung und Eindeutigkeit des Status „Ehe“ und der klare Gesetzeswortlaut (§ 46 SGB VI), der in ungebrochener fast hundertjähriger Tradition steht, lassen am Inhalt des geltenden Rentenversicherungsrechts keinen Zweifel zu. Allenfalls kann versucht werden, wozu eine neue Entscheidung des BVerfG (s.u. IV.) anregt, seine Vereinbarkeit mit dem Familienschutzgebot (Art. 6 Abs. 1 GG) und dem Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) infrage zu stellen33. (3) Eklatant besser versorgt als nichteheliche Elternteile sind auch geschiedene Elternteile nach dem Tod des ehemaligen Partners. Für den todesbedingten Wegfall nachehelicher Unterhaltsansprüche (jetzt §§ 1569 ff. BGB) war von 1942 an eine Geschiedenen-Witwenrente vorgesehen, die seit der Eherechtsreform von 1976 aber nurmehr in Altfällen, d. h. für vor dem 1. 7. 1977 geschiedene Ehen gewährt wird (§ 243 SGB VI)34. Indessen ist diese Rentenart nicht ganz ersatzlos gestrichen worden, sondern es wurde mit der Erziehungsrente nach § 47 SGB VI eine eng auf die Situation der Kindererziehung begrenzte Nachfolgeregelung getroffen. Die hier relevanten Bestimmungen lauten: § 47 Erziehungsrente. (1) Versicherte haben bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Erziehungsrente, wenn 1. ihre Ehe nach dem 30. 6. 1977 geschieden und ihr geschiedener Ehegatte gestorben ist, 2. sie ein eigenes Kind oder ein Kind des geschiedenen Ehegatten erziehen (§ 46 Abs.2), 3. sie nicht wieder geheiratet haben und 4. sie bis zum Tode des geschiedenen Ehegatten die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.35

Nur nach Scheidung (oder Eheaufhebung, § 47 Abs. 2 SGB VI) kommt diese Rente also in Betracht und für keine andere nacheheliche Bedarfslage als die Erziehung eines Kindes; Alter, Krankheit, Erwerbslosigkeit usw. sind unerheblich. 32

Etwas mehr als ein Fünftel des Gesamtausgabevolumens der GRV entfällt auf die Renten wegen Todes, Statistik der Deutschen Rentenversicherung, Bd. 187 Rentenbestand am 31. 12. 2011. 33 Zur Thematik im Bereich des Opferentschädigungsgesetzes (OEG) BVerfGE 112, 50, und zur GRV im Verwerfungsbeschluss v. 2. 5. 2012, 1 BvL 20/09, NJW 2012, 2176; dazu u. IV und V. 34 Zur detailreichen Entwicklung im einzelnen Scharf, in Ruland/Försterling (Hg.), GKSGB VI, § 243 Rn 1 ff. 35 Für das Beamtenrecht des Bundes eine Parallele in § 22 Beamtenversorgungsgesetz.

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Nur von nachrangigem Interesse ist im vorliegenden Zusammenhang, dass die Erziehungsrente zwar wegen ihres Leistungsgrundes den „Renten wegen Todes“ zugeordnet ist (§ 33 Abs. 4 SGB VI), sie aber nicht aus dem Versicherungsverhältnis des verstorbenen, sondern aus dem eigenen Versicherungsverhältnis des überlebenden Elternteils gewährt und bemessen wird. Hintergrund dieser gewissen Systemwidrigkeit36 war die gleichzeitige Einführung des Versorgungsausgleichs bei der Ehescheidung (§§ 1587 ff. BGB), von dem man seinerzeit zudem annehmen konnte, dass er überwiegend den kinderbetreuenden Frauen einen Anwartschaftsgewinn auf ihrem Rentenkonto einbringt. Ferner mag es etwas verwirrend sein, dass, wie schon oben (1. a.E) erwähnt, kein gemeinsames Kind der geschiedenen Ehegatten erzogen werden muss, sondern dass die Erziehung eines „eigenen Kindes“ genügt, somit auch eines späteren nichtehelichen Kindes, das mit dem früheren Ehegatten und der geschiedenen Ehe schier überhaupt nichts zu tun hat. Die insoweit obwaltende, singuläre Großzügigkeit des Rentenrechts37 fällt erst recht auf bei der gleichlaufenden großen Witwenrente, die sich ja ausschließlich vom verstorbenen Versicherten ableitet, sodass ein späteres Kind seiner Witwe an sich als „versicherungsfremd“ zu qualifizieren ist. Soll aber, sozialpolitisch immerhin plausibel, die gesellschafts- und rentensystemtragende Leistung der Kindererziehung als solche honoriert werden, da sie typischerweise von eigener Erwerbstätigkeit abhält, so gilt es, das Gebot möglichst weitgehender Gleichstellung aller Kinder (Art. 6 Abs. 5 GG), einschließlich der Vermeidung auch mittelbarer Benachteiligungen im Auge zu behalten. III. Konkrete Normenkontrollklage nach Art. 100 GG wegen der Verletzung von Art. 6 Abs. 5 und Art. 3 Abs. 1 GG Es kann auf Dauer nicht darüber hinweggesehen werden, dass der wachsenden Gruppe der nichtehelichen Lebensgemeinschaften mit Kindern, aber auch für die von Anfang an alleinerziehenden, nicht zuvor „anderweitig“ verheirateten Mütter (und Väter) von nichtehelichen Kindern aus der GRV kein irgendwie gearteter Ersatz für den todesbedingt typischen Wegfall eines Betreuungsunterhaltsanspruchs (§ 1615 l BGB) zuerkannt wird. Somit kontrastiert die Gleichstellung von ehelicher und nichtehelicher Elternschaft bei der kindbezogenen Dauer des Betreuungsunterhalts, die oben (II. 2. b)) dargelegt wurde, scharf zum „Alles-oder- Nichts“ des Rentenrechts. Mit Blick auf etwa konkurrierende Unterhalts(ersatz)positionen einer ehelichen Familie ist das Gefälle erst recht nicht einsichtig, da ja eine von der Solidargemein36 Ruland, in von Maydell/Ruland/Becker, Sozialrechtshandbuch (SRH), 5. Aufl. 2012, § 17 Rn. 36. 37 In der Gesetzlichen Unfallversicherung kommt es hingegen auf die Waisenrentenberechtigung des Kindes an, § 65 II Nr. 3a SGB VII, ebenso im Recht der Sozialen Entschädigung, § 41 I lit. c BVG.

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schaft getragene Rentenleistung – im Gegensatz zu bürgerlichrechtlichen Unterhaltsansprüchen – keine Gefährdung oder Schmälerung von Unterhaltsansprüchen aus der ehelichen Familie mit sich brächte. Aufgrund solcher und weiterer sehr eingehender Vergleichserwägungen ist das Bayerische Landessozialgericht (LSG) im Rentenrechtsstreit einer nichtehelichen Mutter zu der Überzeugung gelangt, dass § 47 SGB VI in der geltenden Fassung hauptsächlich wegen Verstoßes gegen Art. 6 Abs. 5 GG verfassungswidrig ist, und hat mit Vorlagebeschluss vom 30. 9. 200938 konkrete Normenkontrollklage nach Art. 100 GG zum BVerfG erhoben. Nach zwei Jahren und sieben Monaten wurde diese mit Beschluss vom 2. 5. 2012 als unzulässig verworfen39, weil das vorlegende Gericht seiner Darlegungspflicht hinsichtlich der Entscheidungserheblichkeit der angegriffenen Norm, § 47 SGB VI, nicht genügt habe. Der Bericht über die jeweiligen Entscheidungsgründe kann nach dem Vorstehenden kurz ausfallen. Zunächst zum LSG-Beschluss: Hier wird klar dargetan, dass die Argumente für eine Beanstandung der Lücke im Unterhaltsersatzrecht als Verstoß gegen das verfassungsrechtliche Gebot der Gleichstellung von ehelichen und nichtehelichen Kindern auf der Hand liegen. Das BVerfG selbst hat sie prägnant in seiner oben zitierten Entscheidung zu § 1615 l BGB40 herausgearbeitet und zugunsten der nichtehelichen Kinder und ihrer betreuenden Elternteile rechtsändernd zur Geltung gebracht. Darin hat das BVerfG die an sich naheliegende und von vielen geteilte Rechtfertigung des Unterschiedes zwischen § 1570 und § 1615 l BGB jeweils a.F. mit der gebotenen nachehelichen Solidarität der geschiedenen Ehegatten zurückgewiesen und nur auf die Kindesbedürfnisse abgehoben. Nichts anderes kann demnach für die Erziehungsrente nach § 47 SGB VI gelten. Diese dient ebenso wie der Betreuungsunterhalt dem Zweck, den nichtehelichen Kindern dieselben Chancen für die umfassende kleinkindliche Betreuung durch einen Elternteil zu geben wie den ehelichen. Es soll allein dem die persönliche Sorge über das Kind ausübenden Elternteil anheimgegeben sein, wie er die Vorteile der persönlichen Betreuung des Kindes zumindest in den ersten drei Lebensjahren gegen die möglichen Nachteile im Hinblick auf seinen späteren (vollen oder teilweisen) Wiedereinstieg in den Beruf41 abwägt42.

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Az.: L 1 R 204/09, in juris. BVerfG 1 BvL 20/09, NJW 2012, 2176, sowie in juris. 40 BVerfGE 118, 45. 41 Wegen der Anreize zum Fernbleiben vom Arbeitsmarkt wird harsche Grundsatzkritik von feministischer Seite geübt, u. a. von Springer, in Berghahn (Hg.), Unterhalt und Existenzsicherung – Recht und Wirklichkeit in Deutschland, 2007, S. 81. 42 Positiv zu vermerken ist, dass in dieser Rechtssache LSG 2006/BVerfG 2012 der politische Streit um das Betreuungsgeld, welches bei Nichtinanspruchnahme einer öffentlichen Betreuungseinrichtung gezahlt werden soll, und in dem teilweise in unsäglich verallgemeinernder und interessengeleiteter Weise die Zuträglichkeit der elterlichen Betreuung für die unter dreijährigen Kleinkinder geleugnet wird, keine Rolle spielt. – Vgl. auch 67. DJT 2008, Beschlüsse, Zivilrechtl. Abt., B 7: „Auf Betreuungsunterhalt kann nicht verzichtet werden“. 39

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Das ist der Kern der Sache und er wurde vom LSG in aller Deutlichkeit herausgestellt. Die argumentative Absicherung seiner Vorlage noch durch sonstige Gleichheitsbedenken (s. Vorlagefragen 2 und 3) zeigt die vertiefte Befassung des Gerichts mit Anwendungsfeld und -folgen von § 47 SGB VI, insbesondere den Auswirkungen des weiten Kindesbegriffs der Hinterbliebenenrenten (s. o. II. 2. b)); auf ihre Darstellung kann hier verzichtet werden, weil die konkrete Normenkontrolle nicht an unzulänglicher Auseinandersetzung mit § 47 SGB VI unmittelbar gescheitert ist. IV. Die Verwerfung als unzulässig – eine Sachentscheidung des BVerfG „in nuce“? Das BVerfG sieht die Darlegungspflicht eines vorlegenden Gerichts dann nicht als erfüllt an, „wenn die nach seiner Überzeugung bestehende Gleichheitswidrigkeit einer Rechtslage ausschließlich in Auseinandersetzung mit einer von mehreren als Bezugspunkt für die Gleichheitsprüfung in Frage kommenden Leistungsnormen begründet wird“ (Leitsatz). Konkret und vorrangig moniert es, dass das LSG es versäumt hat, die für verfassungswidrig gehaltene Vorschrift des § 47 SGB VI „in den Gesamtregelungszusammenhang mit den Renten wegen Todes zu stellen“, und dass es „für einen möglichen Rentenanspruch der Klägerin die Bestimmung über die große Witwenrente nach § 46 Abs.2 Nr. 1 SGB VI gar nicht in Betracht“ zieht (juris Rn 69). Es mutet befremdlich an, dass das BVerfG in erster Linie die Darstellung des Gesamtregelungszusammenhangs der Renten wegen Todes vermisst, ja allen Ernstes die Prüfung eines Anspruchs der nichtverheirateten Klägerin auf große Witwenrente wegen Kindererziehung (§ 46 Abs. 2 Nr. 1 SGB VI) für nötig erachtet, müssten doch solche Überlegungen, aus sozialversicherungsrechtlicher Sicht evident ohne Relevanz für eine Entscheidung in der Sache bleiben – sofern diese nicht geradezu auf eine Umwälzung im Hinterbliebenenrecht der GRV abzielte. Allenfalls in lapidarer Form hätte mit Blick auf die große Witwenrente vom LSG gesagt werden können, dass der formale Status der Ehe (bzw. der eingetragenen Lebenspartnerschaft) im gesamten Partner-Hinterbliebenenrecht der GRV fundamentale und unverzichtbare Tatbestandsvoraussetzung ist43, und das aus gutem Grund: Nur dieser Personenkreis verliert durch den Tod des Partners seine gesetzliche Unterhaltsabsicherung (§§ 1360 ff. BGB, § 5 LPartG), auf der eine gemeinsame Lebens- und Familienplanung verlässlich und nachhaltig aufbauen kann. Ohne solche formale Bindung aber bleiben Partner zu Lebzeiten auch gegenseitiger Unterhaltsrechte und -pflichten kraft Gesetzes ledig. Somit besteht nach dem Tod des einen auch für „Unterhaltsersatz“ beim andern aus dem gesetzlichen Rentensystem kein Anlass, es sei denn, der verfassungsrechtlich garantierte Schutz von Kindern gebietet, wie dargetan, gesonderte Berücksichtigung. 43 BSG NJW 1995, 3270 (Az : 4 RA 18/93); zu diesem Urteil Nichtannahmebeschluss der Verfassungsbeschwerde BVerfG 1 BvR 1302/94 (zit. nach Ruland, NJW 1995, 3234).

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Der Gedanke aber an eine volle Gleichstellung von nicht verheiratet gewesenen Personen mit verwitweten Partnern mithilfe von Art. 6 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 GG allein aufgrund einer faktisch intakten Lebensgemeinschaft erscheint aus sozialversicherungsrechtlicher Denktradition verwegen und darf einem Sozialgericht fernliegen. (Überdies müsste dann der nur auf geschiedene Ehegatten gemünzte § 47 SGB VI erst recht für nicht hinreichend gleichheitsgemäß erklärt werden.) Man rätselt – der fern stehenden Beobachterin sehe man ein wenig Spekulation nach – weshalb das Gericht, unter durchaus beachtlichem Begründungsaufwand seinerseits, prozessual förmlich einer Sachentscheidung ausgewichen ist. Verschiedene Aspekte kommen in den Blick. Sollte das BVerfG wesentlich von dem ihm nachgesagten Bestreben geleitet gewesen sein, den Anfall von Normenkontrollvorlagen nach Art. 100 GG zu drosseln44, so dürfte dem die vorliegende Verwerfungsentscheidung als unzulässig ohne weiteres dienlich sein. Welches mit seinen Tagesaufgaben voll ausgelastete Fachgericht kann – ohne wissenschaftliche Mitarbeiter – noch den arbeitsaufwändigen Versuch unternehmen, in nicht ganz einfach gelagerten Konstellationen den weitgespannten Begründungsanforderungen zu genügen?45 Man denkt an einschlägig promovierte Richter. Wenn es vordergründig so aussieht, als ob das BVerfG von der Richtigkeit seiner erst fünf Jahre zuvor klar gezogenen Leitlinien zum Betreuungsunterhalt des nichtehelichen Elternteils nicht mehr überzeugt sei , so liegt das sicher nicht daran, dass da etwa, um noch einmal an die Eingangsbemerkungen zum familiären Wertewandel anzuknüpfen im Senat etwa ein Unbehagen darüber aufgebrochen wäre, dass „Ehe und Familie“, besonders die eheliche Elternschaft schon allzu sehr ins Hintertreffen geraten seien? Nein, eher im Gegenteil, ist hierauf zu antworten, wenngleich natürlich der niemals verheirateten Klägerin des Ausgangsverfahrens zunächst Steine statt Brot gegeben werden, da sie ja gänzlich ohne Rentenanspruch bleibt – vorerst zumindest. Doch aus der Betonung der Prüfung der Entscheidungserheblichkeit der Anspruchsnorm der großen Witwenrente (§ 46 Abs. 2 Nr. 2 SGB VI) sowie der Akzentuierung des Unterschieds zwischen der zerbrochenen Partnerschaft geschiedener Eltern, auf die allein die Erziehungsrente zugeschnitten ist, und der intakten Lebensgemeinschaft nichtverheirateter Eltern, spricht doch wohl eine starke Hinneigung, vielleicht einer noch schwachen Mehrheit des Senats, vielleicht nur der Hälfte seiner Mitglieder, die nicht durch Ehe verbundene Gemeinschaft von Eltern und Kindern, in der von den Partnern umfänglich und langzeitlich „Familienunterhalt“ und nicht lediglich Betreuungsunterhalt in den Grenzen von § 1615 l BGB geleistet wird,

44 Vgl. Lechner/Zuck, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 5. Aufl. 2006, § 80 Rn 31: Das BVerfG hat die Begründungsanforderungen nach § 80 BVerfGG „bis an die Grenze der Unerfüllbarkeit verschärft“. 45 Zur Überforderung insbesondere der Amtsgerichte Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 8. Aufl. 2010, Rn 145.

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in den Ehegatten-Hinterbliebenenschutz der GRV (und dann entsprechend in den der übrigen öffentlichrechtlichen Alterssicherungssysteme) einzubeziehen. Und in der Tat weist die – zwar sehr kurze, aber inhaltsschwere – Darlegungsrüge im vorletzten Absatz (juris Rn 78) auf die etwas versteckte, längst verfassungsgerichtlich in Gang gesetzte Aushöhlung des Ehegattenprivilegs im sozialen Hinterbliebenenrentenrecht hin. Aktuell moniert das BVerfG, dass das LSG sich nicht mit seiner Rechtsprechung „zu Art. 3 Abs.1 GG im Fürsorgerecht“46 auseinandergesetzt hat. Denn danach „kann eine Hinterbliebenenversorgung wie für Witwen und Witwer bei Erziehung gemeinsamer nichtehelicher Kinder durch den überlebenden Partner einer nichtehelichen Lebensgemeinschaft durch Art. 3 Abs.1 in Verbindung mit Art. 6 Abs.1 GG geboten sein (vgl. BVerfGE 112, 50, 67ff)“. Der in BVerfGE 112, 50 getroffenen Anordnung, eine verfassungskonforme Neuregelung zu treffen, ist der Gesetzgeber mit gleichlautenden Bestimmungen für diejenigen Materien des sozialen Entschädigungsrechts gefolgt47, in denen die umschriebene Fallkonstellation auftreten kann; das sind § 1 Abs. 8 S.4 OEG, § 80 S.3 Soldatenversorgungsgesetz (SVG), § 47 Abs. 1 Zivildienstgesetz (ZDG) und § 60 Abs. 4 Infektionsschutzgesetz (IfSG); es heißt jeweils: „Partner einer eheähnlichen Gemeinschaft erhalten Leistungen in entsprechender Anwendung der §§ 40, 40a und 41 des Bundesversorgungsgesetzes, sofern ein Partner an den Schädigungsfolgen verstorben ist und der der andere unter Verzicht auf eine Erwerbstätigkeit die Betreuung eines gemeinschaftlichen Kindes ausübt; dieser Anspruch ist auf die ersten drei Lebensjahre des Kindes beschränkt.“

Im SVG, ZDG, und IfSG sind sogar noch Rückwirkungsregelungen bis zum 1. 11.1994 als Zeitpunkt des Schädigungsfalles angefügt. Nur am Rande sei vermerkt, dass die Anlehnung an die strikte Dreijahresbefristung des § 1615 l BGB a.F. sich nach dessen Änderung aufgrund von BVerfGE 118,45 (s. o. II. 2.a)) natürlich auch nicht mehr aufrechterhalten lässt. Seit mit BVerfGE 112, 50 an entlegener Stelle eine Bresche ins herkömmliche Hinterbliebenenrecht geschlagen ist, gilt der Satz nicht mehr, dass „ im gesamten Sozialrecht … eine Hinterbliebenenversorgung für Verlobte nicht vorgesehen“ ist48. Ganz streng genommen stimmte diese Aussage schon lange nicht mehr, da gerade in der „Mutter-Materie“ des Sozialen Entschädigungsrechts, dem Kriegsopferrecht (BVG), eine „Brautversorgung“ gewährt werden konnte, die allerdings Fallgestaltungen vorbehalten blieb, in denen den Staat außer für den Tod des Verlobten 46 Der Ausdruck „Fürsorgerecht“ ist hier wohl versehentlich gebraucht, da nicht Existenzsicherungsrecht (SGB II und SGB XII) gemeint ist, sondern „Versorgungsrecht“, der alte Begriff für die eigenständige Sozialrechtsmaterie, für die sich seit Erlass des SGB I (mit § 5 „Soziale Entschädigung bei Gesundheitsschäden“) die Bezeichnung „Soziales Entschädigungsrecht“ durchgesetzt hat (s. auch Fußn. 45 und 47). 47 Durch „Gesetz zur Änderung von Vorschriften des Sozialen Entschädigungsrechts und ….“ .v. 19. 6. 2006 (BGBl I 1305). 48 So BMAS in seiner Stellungnahme im Verfahren BVerfGE 112, 50, juris Rn 33.

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auch eine Verantwortung für den Umstand traf, der eine frühere Eheschließung verhinderte (z. B. Fronteinsatz mit längerer Urlaubssperre)49. Diese Minimalausnahme bestärkt aber im Grunde nur die Festigkeit der überkommenen Regel. Über die nicht fernliegende Möglichkeit eines „Übergreifens“ der Partnergleichstellung vom Sozialen Entschädigungsrecht auf das allgemeine System der Altersund Hinterbliebenenversorgung (und die Beamtenversorgung) äußerte sich BVerfGE 112, 50 erstaunlicherweise mit keinem Wort, ja es werden nicht einmal sonstige aktuell bedeutsame Teilmaterien des Sozialen Entschädigungsrechts, wie insbesondere das SVG, erwähnt. Hier vernachlässigte das BVerfG nicht nur den systematischen Gesamtregelungszusammenhang völlig, sondern auch die sozialethischen Grundlagen von OEG und Sozialem Entschädigungsrecht, die § 5 SGB I mit der Formulierung umschreibt: „Wer einen Gesundheitsschaden erleidet, für dessen Folgen die staatliche Gemeinschaft in Abgeltung eines besonderen Opfers oder aus anderen Gründen … einsteht, hat ein Recht auf …“. Einzig der dem OEG unterfallende Sachverhalt (zwei Säuglinge nichtverheirateter Eltern, deren Mutter ermordet worden war50, wurden vom Vater versorgt) kam zur Sprache. Die Zuerkennung einer Witwen(r))rente im Opferentschädigungsrecht für diese Fallgestaltung wird fast wie selbstverständlich hingestellt, gleichsam als ohne weiteres vom allgemeinen Rechtsbewusstsein unserer Zeit gefordert. Die gesetzliche Neuregelung erfolgte danach fast „in aller Stille“; folgerichtig ging sie zwar ein wenig weiter als vom BVerfG ausdrücklich gefordert, in der Gesetzesbegründung wird aber ebenfalls „beredt“ über denkbare Ausstrahlungen in Richtung GRV (und Beamtenversorgung) geschwiegen51. Nicht einmal im näher mit dem Sozialen Entschädigungsrecht befassten Schrifttum wurde die Neuerung überall zur Kenntnis genommen52. Das Rechtsgebiet ist seit der annähernden Bewältigung der eigentlichen Kriegsfolgen ziemlich entlegen, das Fallaufkommen glücklicherweise gering, freilich im Opferentschädigungsrecht höchst variantenreich und dogmatisch vertrackt53. Grundrechtsdogmatisch wird für den Rentenanspruch des hinterbliebenen Elternteils aus nichtehelicher Lebensgemeinschaft Art. 6 Abs. 5 GG gar nicht gebraucht. Da auch nicht durch Ehe verbundene Eltern-Kind-Beziehungen vom Schutz- und

49 Dazu Knickrehm (Hg.), Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht, 2012, Kap. 8, § 1 OEG Rn 138, Kap. 1 § 38 BVG Rn 2; BSGE 27, 286; BSGE 33, 291; BSG NJW 1991, 3299. 50 Die sozialethische Selbstverständlichkeit würde u. U. wanken, wenn der Mörder aus dem engsten Beziehungskreis des Opfers gekommen wäre. 51 BR-Drs. 39/06, S. 12. 52 Noch auf altem Stand Hase, in von Maydell/Ruland/Becker, Sozialrechtshandbuch (SRH), 5. Aufl. 2012, § 26 Rn 94. 53 Dazu Köbl, in Ehlers/Pünder/Fehling (Hg., vormals Achterberg/Püttner/Würtenberger), Besonderes Verwaltungsrecht 3. Aufl. 2013, § 76, i.E.

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Fördergebot des Art 6 Abs. 1 GG umfasst sind54, hängt dann alles an der Bejahung hinreichender Gleichheit zwischen Ehen und nichtehelichen Lebensgemeinschaften. V. Zu möglichem Fortgang und gebotener Neuregelung Im Verwerfungsbeschluss des BVerfG deutet sich die Möglichkeit einer „großen systemsprengenden Lösung“ zum Partner-Hinterbliebenenrecht in absehbarer Zeit an. Einstweilen hat sich das Gericht ein Moratorium für eine endgültige Beurteilung verschafft. Bis sie erforderlich wird, könnte auch wieder die Besetzung des Senats gewechselt haben, und nicht ganz auszuschließen ist, dass auch der Gesetzgeber aktiv werden könnte. Was aber kann nun weiterhin geschehen, um den prinzipiell ja nicht zu leugnenden Gleichstellungsrückstand zumindest hinsichtlich Art. 6 Abs. 5 GG rentenrechtlich aufzuholen? Beanstandet wird vom Boden des geltenden Rechts aus ein verfassungswidriger Begünstigungsausschluss. Dieser braucht aber nicht zwingend durch eine schlichte Tatbestandserweiterung des heutigen § 47 SGB VI auf nicht verheiratete Elternteile behoben zu werden, sondern kann auch durch die Schaffung entweder eines stärker abweichenden, spezifisch auf die nichteheliche Elternschaft zugeschnittenen Rententatbestandes oder eines neuen übergreifenden Tatbestandes oder die Ausdehnung des Anwendungsbereichs der großen Witwenrente beseitigt werden. Darüber ist näher zu diskutieren, nur gar keine Leistung in der Kinderbetreuungssituation (ohne vorausgehende Ehe) ist im Hinblick auf Art. 6 Abs.5 oder Art. 6 Abs. 1 i.V.m. Art. 3 GG verfassungswidrig. Solange keine Anpassung oder gar weitreichende Umgestaltung des Hinterbliebenenrentenrechts durch die Gesetzgebung abzusehen ist, kann mit Verfassungsbeschwerden (§ 90 BVerfGG) und erneuten Vorlagen nach Art. 100 GG gegen die Benachteiligung vorgegangen werden. Die Klägerin des Ausgangsrentenstreits muss lediglich noch den sozialgerichtlichen Rechtsweg erschöpfen, bevor sie Verfassungsbeschwerde erheben kann. Auch das BSG als Revisionsgericht könnte dann, unter Beherzigung der dem LSG erteilten Darlegungsrügen, eine konkrete Normenkontrollklage anstrengen; verfassungsprozessual stünde auch einer entsprechend nachgebesserten „Wiedervorlage“ nach Art. 100 GG durch das erfolglose LSG nichts im Wege. Wünschenswert wäre eine gesetzliche Lösung ohne vorheriges Diktat des BVerfG, sie ist aber wohl kaum zu erwarten. Das überkommene System der Witwen(r)renten kommt selbst allerdings der Ausdehnung auf nichtverehelichte Partner bereits weit entgegen. Schon viel zu lange Zeit wird – ohne jeden Ansatz einer tiefergreifenden

54 Zippelius/Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 32. Aufl. 2008, § 32 Rn 14, u. Hinw. auf BVerfGE 112, 50 (67 ff.); BVerfGE 18, 97 (106) für Mutter und Kind; BVerfGE 79, 256 (267) für Vater und Kind.

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Änderung55 – die kinderlose Hausfrauenehe über die Maßen privilegiert. Allein das Alter von 45 Jahren (bis 2011, von 47 Jahren erst ab dem Jahr 2029!56) genügt in der Person des verwitweten Ehegatten als Voraussetzung für den lebenslangen Bezug der „großen Witwen(r)rente“, während die Erwerbstätigen für ihre eigene Altersrente 20 Jahre länger arbeiten müssen57. Eine solche Ausrichtung der Partner- Hinterbliebenenrenten, welche die gesellschafts- und systemtragende generative Leistung der Kindererziehung nicht zur Hauptsache macht, konnte aus Gründen der Gleichbehandlung und der allgemeinen Handlungsfreiheit nicht umhin, auch für die typischerweise kinderlosen gleichgeschlechtlichen Partnerschaften dieselbe Hinterbliebenensicherung zuzuerkennen wie für Ehegatten (§ 46 Abs. 4 SGB VI). Diesen Schutz dann aber der „kindererziehenden Familie ohne Ehe“, vorzuenthalten, wird vermutlich sogar der sozialethischen Beurteilung einer breiteren Bevölkerungsmehrheit zuwiderlaufen, zumal ja im Existenzsicherungsrecht (SGB XII, SGB II und AsylbLG) diese faktischen Lebensgemeinschaften ohnehin, wenngleich leistungsmindernd wie Ehen behandelt werden58. Die Rentenversicherungsträger, die es gewohnt sind, im großen und ganzen Witwen(/r)renten dem Grunde nach allein anhand von standesamtlichen Urkunden zusprechen zu können, hätten dann häufiger, in umgekehrter Blickrichtung wie Arbeitsagenturen und Sozialämter, zu prüfen, ob die von einer rentenantragstellenden Person vorgebrachte Behauptung zutrifft, mit der verstorbenen versicherten Person trotz getrennter Wohnungen in nichtehelicher Gemeinschaft gelebt zu haben59. Es handelt sich also um ein ziemlich offenes Feld, zu dessen Gestaltung das BVerfG im Gewand der Abweisung der LSG-Vorlage wegen Unzulässigkeit eine wichtige Prüfrichtung in der Sache gewiesen hat. Dennoch vermag dies nicht vollends mit der dilatorischen Vorgehensweise des BVerfG zu versöhnen. Denn nach wie vor gibt es ja und wird es auch künftig nicht selten die Figur des bloßen „Zahlvaters“ geben, also die Fallgestaltung des (zuweilen extrem) getrennten Lebens von Mutter und Kind einerseits und nichtehelichem Vater andererseits. Diese Konstellation lag scharf ausgeprägt vor im Verfassungsbeschwerdefall um die zwangsweise Durchsetzung der Pflicht eines verheirateten Vaters zum Umgang mit seinem nicht55 Zu geringfügig ist die Absenkung der Rente ohne den Faktor der Kindererziehung von 60 % auf 55 % der Versichertenrente (§ 67 Nr. 6 i.V.m. § 78a SGB VI). – Selbstverständlich bedürften einschneidende Änderungen sehr langer Übergangsfristen und Abfederungen von Härten. 56 In § 242a SGB VI die Übergangsregelung mit der schrittweisen Anhebung ab 2012. 57 So die treffende Kritik schon von Jaeger, NZS 1996, 54 (56); für einen langfristig angelegten Abbau der Ehegatten-Hinterbliebenenrenten Köbl, DRV 2002, 686 (691 f.). 58 Klinger/Kunkel/Pattar/Peters, Existenzsicherungsrecht – SGB XII mit SGB II und AsylbLG, 3. Aufl. 2012, 4. Kap. Rn 74 ff. 59 Zur „partnerschaftlichen Verantwortungs- und Einstehensgemeinschaft“ im Rahmen des SGB II nun ausdrücklich § 7 Abs. 3 lit.c und 3a mit Vermutungskriterien aus den äußeren Lebensumständen der Beteiligten, die objektiv einigermaßen fassbar sind; zu höheren , nicht praktikablen Anforderungen BVerfGE 87, 234; BVerfGE 98, 195; BSG SozR 3 – 4100 zu § 119 Nr. 26.

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ehelichen Kind60. Da auch einzelne Gruppen nichtehelicher Kinder nicht gegenüber ehelichen Kindern diskriminiert werden dürfen61, muss auch für diejenigen eine (nur) Art. 6 Abs. 5 GG gemäße Lösung gefunden werden, die nicht in eine sozial-familiäre Gemeinschaft mit ihren Eltern eingebunden sind. Eine „große Witwenrente“ scheidet aus; sie steht oft gar nicht zur Verfügung, da sie gegebenenfalls der Ehefrau des Mannes vorbehalten bleiben muss, zumindest wenn diese Kinder erzieht oder erzogen hat. Die Rentenpolitik und ihre wissenschaftliche Begleitung sollten den BVerfG-Beschluss vom 2. Mai 2012 tunlichst als Fanal zum Aufbruch in eine zumindest interne, wenn möglich noch nicht medial dominierte Diskussion verstehen. Stilles Warten auf einen entschlossenen Regelungsimperativ des BVerfG mag zwar einiges an Zeitgewinn und Kostenersparnis bringen, birgt aber eben auch die Gefahr der Verengung des sozialpolitischen Gestaltungsspielraums. Schlussbemerkung Wie im privaten und öffentlichen Familienrecht überhaupt, so zeigt sich auch an der Problematik der Partner-Hinterbliebenensicherung (sämtlicher öffentlichrechtlicher Versorgungssysteme) beispielhaft ein eng verzahntes Ineinandergreifen von normativen und von faktischen Triebkräften der legislativen wie judikativen Rechtsfortbildung, ohne dass sich dem zeitgenössischen juristischen Beobachter die genauere kausale Verflechtung und Wirkungsstärke der einzelnen Faktoren leicht erschlösse. Das Hinterbliebenenthema könnte sich ferner als ein Exempel dafür erweisen, wie eine Politik allzu konservativer Bewahrung angestammter Positionen gleichsam in eine „Falle“ geraten kann, weil die nach einem Reformstau sich schließlich durchsetzenden Neuerungen möglicherweise über das vernünftige Ziel hinausschießen.

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BVerfGE 121, 69. BVerfGE 118, 45 (75).

Zeitgeist und Menschenrechte – Das Beispiel der Diskussion um die Folter Von Heiner Kühne, Trier I. Einführung Thomas Würtenberger hat noch in seiner Trierer Zeit ein bemerkenswertes Buch über „Zeitgeist und Recht“1 verfasst. Dort hat er auf eindrucksvolle Weise die notwendigen, aber mitunter schmerzhaften Interdependenzen von Zeitgeist bedingtem gesellschaftlichem Wertebewusstsein und Gesetz und seiner Interpretation durch die Justiz beschrieben. In überwiegend positiver Erwartungshaltung stellt Würtenberger dar, wie sich eine Konnexität zwischen Gesetz und realem Werteverständnis zu entwickeln habe. Zwar sieht er die Möglichkeit, dass die soziale Moral auf Abwege geraten könne2, hofft aber auf die heilsame Wirkung eines Prozesses der wechselseitigen Korrektur, der insbesondere in einer pluralistischen Gesellschaft stark ausgeprägt sei. Damit nimmt er eine deutlich freundlichere und dynamischere Position gegenüber dem Zeitgeist und seinen Auswirkungen ein, als dies bei Herder der Fall ist, der den Zeitgeist3 als bleiernen Druck empfunden hat, der die Menschen und ihr Denken in den Grenzen ihrer Zeit gefangen halte. Ich selbst möchte mich auch grundsätzlich dem Ansatz Würtenbergers anschließen und die kreative, die Gesellschaft stets wandelnde Kraft des Zeitgeistes zum Ausgangspunkt meiner Überlegungen nehmen. Allerdings werde ich dabei aus gegebenem Anlass eher auf die möglichen dunklen Seiten eingehen, die dem Zeitgeist auch immanent sind und die durchaus nicht immer durch Kommunikationsprozesse in der pluralistischen Gesellschaft korrigiert werden. Mit anderen Worten, es soll darauf hingewiesen werden, dass der Zeitgeist durchaus auch als Hure des jeweiligen Ungeistes erscheinen kann. Als Gegenstand der Exemplifizierung wird mir die Folter dienen, ein Instrument aus dem Schreckenskabinett der Strafjustiz, welches nach seiner endgültigen Ächtung in den Menschenrechtserklärungen nach Ende des Zweiten Weltkriegs in der 1

2. Aufl. 1991. A.a.O., S. 192. 3 Obwohl Herder gemeinhin als Begründer des Begriffs Zeitgeist gilt, hat er diesen Begriff wohl nur aus dem Lateinischen Werk von Christian Albrecht Klotz, „Genius Seculi“, 1760 entnommen und ins Deutsche übertragen. 2

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juristischen Diskussion der letzten Jahre eine unerwartete Wiederauferstehung feierte. II. Die Folter im Rechtswesen Hier sollen nur einige wenige Informationen gegeben werden, die gleichsam die Bewegung zur Folter, von der Folter weg und wiederum zu ihr zurück augenscheinlich werden lassen sollen. Die Folter war in ihrem Wesen zunächst nicht so sehr strafprozessuale Zwangsmaßnahme, als vielmehr Instrument zur Schaffung der Voraussetzungen zum Vollzug der Strafe. Nach dem damaligen sehr christlich geprägten Denken konnte eine Strafe nur dann ihre auch in der Person des Täters bezweckte reinigende und bessernde Funktion ausüben, wenn der Täter sein Unrecht eingesehen hatte. Ohne Einsicht keine Reue, ohne Reue keine Sühne und schon gar keine Besserung. Ein Gedankengang, der in der modernen Diskussion um die Möglichkeiten verhaltenstherapeutischer Einwirkungen durchaus gespiegelt wird, wenn hier zurecht verlangt wird, dass Voraussetzung etwa der Suchttherapie zunächst einmal die Einsicht des zu Therapierenden in sein eigenes Suchtverhalten ist. Rechtlich bedeutete dies, dass die Folter nur bei einem überführten Täter, der aber nicht geständig war, eingesetzt werden konnte. Diese Funktion ging aber sehr bald verloren und die Folter mutierte zu einem probaten Instrument der Beweisgewinnung. Die schon vor 500 Jahren bekannten Argumente gegen einen solchen Gebrauch – bei hinreichender Folter wird jeder jedes erwünschte Geständnis abgeben – konnten sich gegenüber der Einfachheit einer solchen Beweisgewinnung bis kurz vor Abschaffung der Folter im 18ten Jahrhundert nicht wirksam durchsetzen. Erst die mit dem Menschenrechtsdiskurs der Aufklärung einhergehende Vorstellung von einem jeden Menschen als Vernunft- und Würde- begabten Wesen ließ die Folter als ein verwerfliches Instrument gegen Menschenwürde und Selbstbestimmung erscheinen. III. Die neue Diskussion zur Folter Nach den Gräueln des 1. und 2. Weltkriegs sowie den Erfahrungen mit den faschistischen Systemen in Deutschland und Italien schien mit der UN Menschenrechtserklärung4, dem Internationalen Pakt über Bürgerliche und Politische Rechte5, den vielfältigen Anti-Folter Deklarationen6 und der EMRK weltweit nach Ende des 2. Weltkriegs ein einheitlicher, die Folter als Mittel staatlicher Machtausübung absolut verwerfender Konsens gefunden worden zu sein. Sicherlich, dass gleichwohl noch in vielen weniger entwickelten Staaten gefoltert wurde und dass im Zwielicht 4

Vom 10. 12. 1948. Vom 19. 12. 1966, vgl. § 7 zum Verbot der Folter. 6 UN-Übereinkommen gegen Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (UNCAC) v. 10. 12. 1984; Fakultativprotokoll vom 18. 12. 2002 (OPCAT) zum Übereinkommen gegen Folter. 5

Zeitgeist und Menschenrechte – Diskussion um die Folter

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der Geheimdienste Folter auch in besser entwickelten Staaten nicht unüblich, wiewohl nicht zu beweisen war, all dies wusste man und buchte es als Implementationsdefizit ab. Über die Rechtfertigung des Verbots der Folter zu diskutieren, hat dies aber in den letzten 50 Jahren des 20ten Jahrhunderts keinen Anlass gegeben. Anfang des 3. Jahrtausends aber war es der von Jakobs7 wiederbelebte Begriff des „Feindstrafrechts“, der gleichsam schleichend den Boden für eine neuerliche Diskussion um die Möglichkeiten und Grenzen des Folterns bereitete. Dieser Begriff, der letztlich eine Rechtfertigung für eine vollständige Entrechtung besonders gefährlicher Krimineller, den sog. Feinden der Gesellschaft und der Rechtsordnung, hergibt, impliziert wie selbstverständlich auch die Möglichkeit der Vorenthaltung jeglicher Menschenrechte. Dieser im Grunde faschistische Ansatz, der das Wesen von Menschenrechten sehr grundsätzlich missversteht8 oder ignoriert, eröffnete die Möglichkeit wieder darüber zu streiten, wem gegenüber unter welchen Umstände gefoltert werden dürfe. Hilfreich war in diesem Zusammenhang der vom damaligen US-Präsidenten George W. Bush ausgerufene Krieg gegen den Terrorismus, der wie selbstverständlich auch Folterpraktiken – insbesondere das sogenannte „water-boarding“ – rechtfertigte, die dann erst sehr viel später mit ebenso großer Scheinheiligkeit wie Begründungsschwäche als keine wirkliche Folter, sondern nur eine etwas rüdere Form der Befragung umdefiniert werden sollten. Und so hatten wir ganz plötzlich in den für zivilisiert und rechtsstaatlich gehaltenen Staaten des westlichen Kulturkreises eine Diskussion, die seit Ende des 18ten Jahrhunderts eigentlich abgeschlossen war. Dies, obwohl das zutreffende Unrechtsurteil über die Folter seither weltweit akzeptiert zu sein schien und lediglich als Form deutlicher staatlicher Defizite in den vielen Unrechtsstaaten der Welt als rechtswidriges Faktum mit Abscheu zur Kenntnis genommen wurde. Und hier sind wir bei unserem Thema. Hat wirklich der internationale Terrorismus so, wie er im Anschlag vom 11. September in New York zum Ausdruck kam, eine Änderung des Zeitgeistes in Hinblick auf das Verbot der Folter bewirkt oder wurde der Anschlag nur instrumentalisiert, um der Bevölkerung den Rückfall in ebenso feudale wie faschistische staatliche Aktivitäten unter dem schon seit Jahrhunderten missbrauchten Argument der Sicherheitsvorsorge schmackhaft zu machen? Diese Frage kann wohl nicht objektiv beantwortet werden, wenngleich ich selbst dazu tendiere, eine durchaus schändliche Instrumentalisierung anzunehmen. In der heutigen modernen Mediengesellschaft ist eine derartige Manipulation nicht allein durch Vorgaben der Regierung zu erklären. Die Reaktion der Medien

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In Eser/Hassemer/Burckhardt (Hrsg.), Die deutsche Strafrechtswissenschaft vor der Jahrtausendwende, 2000, S. 47 und HRRS März 2004, 88 ff. 8 Papier bezeichnet die Diskussion um das Feindstrafrecht als Bankrotterklärung des Rechtsstaats, Rede am 06. 12. 2011 auf der BKA Herbsttagung.

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und der Fachleute, also zumeist der Juristen, spielt hier eine erhebliche Rolle und muss mitberücksichtigt werden. Bei den Reaktionen auf den neuen islamistischen Terror hatten wir ein gemischtes Ergebnis zu verzeichnen. Abscheu und fein gesponnene Erwägungen zur Rechtfertigung von Folter in Ausnahmesituationen hielten sich die Waage. Insbesondere in den USA blieb der Aufschrei der Empörung sowohl der allgemeinen Gesellschaft wie auch der Juristen aus, vielleicht ging er auch im Wehklagen der Opfer des 11. Septembers unter. Jedenfalls kann konstatiert werden, dass damit die Diskussion über die Zulässigkeit der Folter trotz der eindeutig entgegenstehenden nationalen wie internationalen Rechtslage wieder eröffnet wurde. Obwohl Deutschland selbst durch keinen vergleichbaren Anschlag geschädigt worden war, wurde auch hier – vielleicht auch unter dem Eindruck der folgenden Anschläge in London und Madrid – die Debatte über die Folter neu gestartet, anstatt unter Hinweis auf die geltende Rechtslage kurz die Rechtswidrigkeit jeglicher Folter zu konstatieren. Erschwerend kam der Gaefgen Fall hinzu: Der zunächst nur mutmaßliche Entführer eines kleinen Jungen wird von der Polizei mit Folter bedroht, um den Ort des Verstecks aufzudecken und den Jungen noch zu retten. Die Drohung wirkt, der Beschuldigte gesteht, aber das Kind ist bereits tot. Der Polizist wird wegen Nötigung verurteilt, der Entführer wegen Mordes9. Obwohl der EGMR, wie auch schon in anderen Entscheidungen10, die absolute Geltung des Folterverbots bestätigt und auch jede Möglichkeit der Abwägung verneint hatte, verstärkte dieser Fall die Folterdiskussion in Deutschland. Der Begriff der Rettungsfolter dient hierbei dazu, Rechtfertigungen für Folter zur Rettung überragender Rechtsgüter, insbesondere des Lebens einzelner oder mehrerer Menschen zu finden,11. Die Notwehr/Nothilfe wird hochstilisiert, um Folter durch Privatpersonen aber auch durch staatliche Agenten der Sicherungsgewährung zu rechtfertigen. Hier soll nun keine dogmatische Auseinandersetzung mit diesen Ansichten betrieben werden. Allein der Umstand, dass Folter auch in der juristischen Fachdiskussion wieder gesellschaftsfähig geworden ist, muss in unserem thematischen Rahmen zum Anlass genommen werden die dunklen Seiten des Zeitgeistes näher zu betrachten. Dazu ist allerdings erforderlich, zunächst einmal einige allgemeine Überlegungen zum Zeitgeist und seinem Wirken anzustellen. Ist Zeitgeist etwa nur Ausdruck wankelmütiger Befindlichkeiten der Gesellschaft? Schwankt er also als eher emotionale Reaktion auf die Realität der Lebens9 Alle Details sind in der Entscheidung des EGMR v. 30.06. 2008 (Gäfgen vs. Germany) gut dargestellt. 10 Etwa Jalloh vs. Deutschland v. 11. 07. 2006; Harutyanyan vs. Armenien v. 28.06. 2007; Göcmen vs. Türkei v. 17. 10. 2006. 11 Insbesondere Erb, in: FS Seebode, 2008, S. 99; ders., Rettungsfolter im modernen Rechtsstaat? Hrsg. P. Nitschke, 2005, S. 149 – 167; ders., JURA 2005, 24; NStZ 2005, 593; sehr ausführlich Wagenländer, Zur strafrechtlichen Beurteilung der Rettungsfolter, 2006.

Zeitgeist und Menschenrechte – Diskussion um die Folter

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umstände? Oder ist er in der Tat mehr das rationale Ergebnis eines natürlich auch von den sozialen Umständen geprägten gesellschaftlichen Wertediskurses? Bei beiden Annahmen wäre dann noch die Rolle der Medien zu berücksichtigen. Inwieweit fördern sie allein den emotionalen Aufschrei oder aber auch den Wertediskurs in der Gesellschaft? Die probate aber nicht sehr hilfreiche Antwort wäre die, dass die Medien natürlich beides tun. Sie schüren Emotionen und arbeiten dadurch manipulativ; zugleich aber fördern sie (nicht notwendig dieselben Medien) durch kritische Beiträge den Wertediskurs und stehen damit für eine offene und rationale Entwicklung öffentlich vorherrschenden Ansichten. Da beide Aktivitäten in der Regel gleichzeitig geschehen und Wirkkraft ausüben, ist ihr Produkt, der Zeitgeist – oder zumindest der entsprechende Beitrag zum Zeitgeist – notwendig ebenso gemischt. Zeitgeist kann also insoweit sehr emotional, aber auch durchaus rational erscheinen. Welche Rolle spielen in diesem Zusammenhang nun die Gesetze? Zum Einen können sie als Ergebnis des jeweiligen Zeitgeistes, sei er nun rational oder emotional geprägt, erscheinen; zum Anderen können sie als Korrektiv und Leitschnur grundsätzlichen Wertebewusstseins die Entstehung des jeweiligen Zeitgeistes lenken. Für beides haben wir vielfältige historische Beispiele. Während die NS-Gesetzgebung sicherlich durch einen repressiv-rassistischen Zeitgeist getragen war und ihn deutlich spiegelte, zeichnete sich die deutsche Nachkriegsgesetzgebung dadurch aus, dass diese dumpfen Empfindungen durch klare Bekenntnisse zu Werten der Menschlichkeit und des friedlichen Miteinanders ersetzt wurden. Da diese Bekenntnisse durch ihre Verankerung im Grundgesetz eine besondere hierarchische Position erlangten, sollten sie auch den zukünftigen Gesetzgeber daran hindern, wiederum zum Spiegel menschenverachtender Ideologien zu mutieren. Ein historisch bedeutsamer Schachzug, der gleichsam den normalen und den dem Zeitgeist ausgesetzten Gesetzgeber an die Kandare des Grundrechtskatalogs nimmt. In demselben Sinne wirkte dann kurz darauf die EMRK, die mittlerweile in 47 europäischen Staaten selbst oberhalb der nationalen Verfassungstexte steht. Dies sind Sicherheitsmechanismen, die es dem Gesetzgeber schwer machen einen Zeitgeist abzubilden, der in Widerspruch zu grundsätzlichen Menschenrechtsgarantien stünde. Haben wir also den perfekten Mechanismus gefunden, der uns und unsere Gesellschaft vor einer Renaissance menschenverachtender Ideologien und Gesetze schützt und damit zugleich ein permanentes Korrektiv des Zeitgeistes darstellt? Grundsätzlich ist dies wohl mit „ja“ zu beantworten. Gleichwohl zeigt das hier gewählte Beispiel der Folter, dass kein Schutzsystem unfehlbar ist. Wenn sich die feinsinnigen juristisch-dogmatischen Argumentationen auf die Seite verblendeter Ideologen oder panischer Sicherheitsfanatiker schlagen, dann sind selbst zentrale Menschenrechte nicht mehr das, was sie waren und vor allem was sie sein sollten. In Zeiten, in denen gestandene Verfassungsrechtler Gerichte dazu aufrufen, durch Inanspruchnahme gesetzlich nicht gewährter Rechte den Rechtsstaat oder auch

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nur die Rechtspflege zu retten12, obwohl beide keine konkreten Zeichen von Gefährdung aufweisen, scheint die Möglichkeit der Umdeutung von Menschenrechtsgarantien bis hin zu ihrem Gegenteil nicht mehr sehr fernliegend zu sein. IV. Zusammenfassung und Ausblick Dieser kleine Streifzug durch ein durchaus vermintes Gelände endet zwar nicht sehr hoffnungsfroh. Immerhin ist die weltweite Akzeptanz von Menschenrechten ein bedeutender und vor allem präventiver Faktor der Begrenzung und Korrektur von Zeitgeist bei seiner Entstehung. Allerdings erscheinen selbst zentrale Menschenrechte wie das des Folterverbots dann nicht mehr als resistent gegenüber dem Zeitgeist, wenn findige Juristenhirne an ihnen dogmatisch nagen und unter Ausnutzung von Angst Repression rechtfertigen und als scheinbar legitim in den Zeitgeist einfließen lassen. Der Deutungshoheit der Juristen kommt also auch in diesem Bereich ein hoher Wert zu, was eben uns Juristen zu einem verantwortlichen Umgang mit konkreten Menschenrechtspositionen veranlassen sollte, um sie nicht vorschnell auf dem Altar der staatlichen Sicherheit zu opfern. Gerade auch im Lichte der historischen Erfahrungen sollte klar sein, dass die Überhöhung der staatlichen Sicherheit meist in diktatorisch-faschistische Staatsformen geführt hat. Demgegenüber fällt es schwer Beispiele dafür zu finden, dass ein intakter Staat allein oder überwiegend durch einen zu hohen Respekt vor den Rechten seiner Bürger in den Untergang getrieben worden ist.

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Landau, NStZ 2007, 121 (126).

Volksabstimmung und Volksgesetzgebung in Baden-Württemberg Von Hartmut Maurer, Konstanz I. Überblick über die einzelnen Regelungen Im Gegensatz zum Grundgesetz, das keine Regelungen über die unmittelbare Demokratie aufgenommen hat,1 enthalten derzeit alle Landesverfassungen Vorschriften über das Volksbegehren und die Volksabstimmung im Gesetzgebungsbereich.2 Das Land Baden-Württemberg war freilich in dieser Hinsicht zunächst sehr zurückhaltend. Nach der ursprünglichen Fassung der Landesverfassung von 19533 konnte lediglich die Landesregierung auf Antrag einer Landtagsminderheit gegen ein vom Landtag beschlossenes, aber noch nicht verkündetes Gesetz oder gegen die Ablehnung eines von der Regierung im Landtag eingebrachten Gesetzentwurfes eine Volksabstimmung herbeiführen.4 Erst 1974 schloss sich das Land der allgemeinen Entwicklung an und führte durch Ergänzung der Landesverfassung – neben der fortbestehenden regierungsinitiierten Volksabstimmung – das Volksbegehren mit anschließender Volksabstimmung ein.5 Darauf ist später näher einzugehen. 1

In Art. 29 GG, der die Neugliederung des Bundesgebietes betrifft, ist zwar von Volksbegehren, Volksentscheid und Volksbefragung die Rede; es handelt sich indessen nicht um plebiszitäre Akte des Staatsvolkes, sondern um partizipatorische Abstimmungen der durch die Gebietsänderung betroffenen Bevölkerungsteile, vgl. Maurer, Staatsrecht I, 6. Aufl. 2010, § 7 Rn. 38; ähnlich Dreier, Grundgesetz, Bd. II, 2. Aufl. 2006, Art. 20 (Demokratie), Rn. 104 m. w. N. Immerhin bestehen gewisse sachliche und rechtliche Parallelen, vgl. zu den dortigen Regelungen und Begriffen Würtenberger, Neugliederung, in: Isensee/Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts (HStR), Bd. VI, 3. Aufl. 2008, § 132 Rn. 25 ff. 2 Vgl. die Übersichten bei Kloepfer, Verfassungsrecht I, 2011, S. 188; Stern/Dietlein, Staatsrecht, Bd. IV 2 (2011), S. 254 ff.; Rux, Direkte Demokratie in Deutschland, 2008, S. 259 ff., S. 404 ff.; Hufschlag, Einfügung plebiszitärer Komponenten in das Grundgesetz?, 1999, S. 203 ff. 3 Verfassung des Landes Baden-Württemberg vom 11. 11. 1953 (GBl. S. 173) mit späteren Änderungen. Vgl. dazu die Kommentare von Spreng/Birn/Feuchte, Die Verfassung des Landes Baden-Württemberg, 1954; Braun, Kommentar zur Verfassung des Landes Baden-Württemberg, 1984, mit Ergänzungsband von Engelken, 1997; Feuchte (Hg.), Verfassung des Landes Baden-Württemberg. Kommentar, 1987; ferner Feuchte, Verfassungsgeschichte von BadenWürttemberg, 1983; Jürgens, Direkte Demokratie in den Bundesländern, 1993, S. 49 ff. 4 Ursprünglich Art. 60 I und II LVerf.; durch die Verfassungsergänzung von 1974 wurden diese beiden Regelungen ohne Textänderung um je einen Absatz verschoben underscheinen nunmehr in Art. 60 II und III LVerf. 5 Vgl. Art. 59, 60 I LVerf. in der Fassung vom 16. 05. 1974 (GBl. S. 186), näher dazu unten.

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Neben diesen beiden Bestimmungen enthält die Landesverfassung zwei weitere Regelungen, die plebiszitäre und repräsentative Zuständigkeiten nebeneinander begründen. Sie betreffen die vorzeitige Auflösung des Landtags und die Änderung der Verfassung. Art. 43 LVerf., der die vorzeitige Auflösung des Landtags regelt, ermächtigt nicht nur den Landtag zur Selbstauflösung, sondern bestimmt ferner, dass er „aufgelöst ist“, wenn die Auflösung von einem Sechstel der Wahlberechtigten verlangt wird und bei einer anschließenden Volksabstimmung die Mehrheit der Stimmberechtigten diesem Verlangen beitritt. Im Klartext bedeutet dies, dass der Landtag – neben der Selbstauflösung – auch durch Volksbegehren und anschließender Volksabstimmung aufgelöst werden kann, wobei für das Volksbegehren die Zustimmung von einem Sechstel der Stimmberechtigten und für die anschließende Volksabstimmung die Mehrheit der Stimmberechtigten gefordert wird.6 Nach Art. 64 II und III LVerf. kann die Landesverfassung nicht nur durch Beschluss des Landtags mit Zweidrittel-Mehrheit, sondern auch durch Volksabstimmung aufgrund eines Landtagsbeschlusses oder aufgrund eines Volksbegehrens geändert werden. Beide Regelungen gehören zum größeren Bereich der Gesetzgebung. Die vorzeitige Auflösung des Landtags trifft den Gesetzgeber, auch wenn der Landtag im konkreten Fall nicht wegen eines Gesetzesvorhabens, sondern aus anderen Gründen aufgelöst werden soll. Die Verfassungsänderung ist als qualifizierte Gesetzgebung ebenfalls diesem Bereich zuzuordnen. Schließlich ist noch auf Art. 26 LVerf. hinzuweisen, der vor allem die Wahl- und Stimmberechtigung näher regelt. Bemerkenswert ist Art. 26 III LVerf., der die Ausübung des Wahl- und Stimmrechts zur „Bürgerpflicht“ erklärt. Es handelt sich indessen nicht um eine Rechtspflicht, die mit rechtlichen Sanktionen durchgesetzt werden könnte, sondern eher um einen Appell an die wahl- und stimmberechtigten Bürger.7 Die Praxis ist in den meisten Bundesländern (noch) gering, nimmt aber ständig zu. Bayern kann bereits eine beachtliche Zahl von Volksbegehren und Volksentscheiden aufweisen.8 In Baden-Württemberg kam es verschiedentlich zu Anläufen, die aber nicht zum Erfolg führten.9 Erst im Spätherbst 2011 wurde aus Anlass des Bahnprojekts Stuttgart 21 eine Volksabstimmung gem. Art. 60 III LVerf. durchgeführt, die allerdings in rechtlicher und tatsächlicher Hinsicht äußerst umstritten war und ist.10

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Vgl. dazu Braun (Fußn. 3), Art. 43 Rn. 4; Jürgens (Fußn. 3), S. 54 f. Vgl. dazu Feuchte, Kommentar (Fußn. 3), Art. 26 Rn. 10 f.; Bad.-Württ. StGH 11 II 25,28. 8 Vgl. zur Rechtslage in Bayern Möstl, in: Lindner/Möstl/Wolff (Hg.), Verfassung des Freistaates Bayern, Kommentar, 2009, Art. 71 ff.; zur Praxis Rux (Fußn. 2), S. 345 ff.; Hufschlag ( Fußn. 2), S. 210 ff. 9 Vgl. dazu Geitmann, Volksbegehren und -abstimmungen nur auf dem Papier? VBlBW 2008, 121 ff.; Rux (Fußn. 2), S. 337 ff. 10 Vgl. dazu unten III. 3. 7

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II. Begriffliche und dogmatische Vorklärungen 1. Volkssouveränität Der freiheitlich-demokratische Staat der Gegenwart beruht auf der Volkssouveränität. Die daraus resultierenden verfassungsrechtlichen Konsequenzen werden in Art. 20 II GG und zusätzlich – für den Landesbereich – im gleichlautenden Art. 25 I LVerf. geregelt. Art. 20 II 1 GG knüpft an das Volk als verfassungsrechtlich vorgegebene Größe an und erklärt es zur Grundlage und zum Ausgangspunkt der gesamten Staatsgewalt. Die Ausübung der Staatsgewalt erfolgt nach Art. 20 II 2 GG durch das Volk als verfasste Größe – entweder unmittelbar durch Wahlen und Abstimmungen oder mittelbar durch besondere Organe der Gesetzgebung, Exekutive und Rechtsprechung, die ihre Legitimation auf die Volksvertretung und damit auf das Volk zurückführen können und müssen. Dementsprechend wird auch von unmittelbarer und mittelbarer Demokratie bzw. von plebiszitärer oder repräsentativer Demokratie gesprochen.11 Die zentrale Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang dem Parlament zu, das vom Staatsvolk gewählt wird, das Staatsvolk repräsentiert und für das Staatsvolk handelt. Das Parlament ist vor allem zur Gesetzgebung berufen, durch die das staatliche und gesellschaftliche Leben maßgeblich geregelt und bestimmt wird. Daneben kann – je nach verfassungsrechtlicher Regelung – auch oder sogar nur das Staatsvolk gesetzgebend tätig werden. Neben die Parlamentsgesetzgebung tritt die Volksgesetzgebung, die allerdings schon aus grundsätzlichen und tatsächlichen Gründen nur die Ausnahme bilden kann. Aus der Einordnung der direktdemokratischen Institute und Instrumente in den staatsorganisatorischen Bereich ergibt sich, dass das Volk in diesem Rahmen funktionell als Staatsorgan tätig wird und Staatsgewalt ausübt.12 Das gilt im Prinzip auch für den einzelnen Stimmbürger, der von seinen plebiszitären Rechten und Möglichkeiten Gebrauch macht, wobei freilich zu beachten ist, dass er nicht isoliert, sondern nur zusammen mit den anderen Staatsbürgern effektiv agieren kann. Die Einbindung in den staatlichen Bereich wird besonders deutlich bei der Volksgesetzgebung, durch die – wie bei der Parlamentsgesetzgebung – Rechte und Pflichten für den Staat bzw. den Bürger festgelegt werden können. Deshalb müssen auch die Voraussetzungen, das Verfahren und die Rechtswirkungen der Volksabstimmungen und der Volksbegehren grundsätzlich durch die Verfassung geregelt werden. Damit ändert sich auch die Geltungsrichtung der Grundrechte. Die Stimmbürger, die im plebiszitären 11 Vgl. dazu Würtenberger, Repräsentative und plebiszitäre Elemente in der deutschen Verfassungsgeschichte, in: Rüter (Hg.), Repräsentative oder plebiszitäre Demokratie – eine Alternative?, 1996, S. 95 ff. 12 Vgl. Grawert, Staatsvolk und Staatsangehörigkeit, in: Isensee/Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. II, 3. Aufl. 2004, § 16 Rn. 31 f.; Isensee, in: Wendt/Rixecker, Verfassung des Saarlandes. Kommentar, 2009, Art. 99/100 Rn. 17; P. Kirchhof, Zur Verfassungsmäßigkeit einer Volksabstimmung über „Stuttgart 21“, ZSE 2010, S. 412 ff.

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und damit im staatlichen Bereich tätig werden, können sich nicht auf die allgemeinen Grundrechte berufen, sondern sind gerade umgekehrt an die Grundrechte gebunden. Sie können zwar in diesem Rahmen die den Stimmbürgern als solchen zustehenden Rechte, etwa das Recht auf Teilnahme an einem Volksbegehren, geltend machen, aber nicht mehr die ihnen im vorstaatlichen Bereich zustehenden politischen Freiheitsrechte gegenüber dem Staat einfordern.13 Das bedeutet z. B., dass zwar die Teilnahme an der allgemeinen Diskussion darüber, ob und mit welchem Inhalt ein Volksbegehren eingeleitet werden soll, aber nicht mehr die Beteiligung an dem Volksbegehren selbst grundrechtlich geschützt wird. Vielmehr greifen insoweit die direktdemokratischen Vorschriften und deren spezielle Rechtsschutzmöglichkeiten ein.14 2. Einzelbegriffe Da die Terminologie im Bereich der unmittelbaren Demokratie nicht einheitlich ist, sollen im Folgenden die für den vorliegenden Beitrag maßgeblichen Begriffe näher bestimmt werden.15 a) Volksabstimmung und Volksentscheid Unter Volksabstimmung ist die verbindliche Entscheidung der wahl- und damit auch stimmberechtigten Staatsbürger über bestimmte Sach- und Rechtsfragen zu verstehen. Die Volksabstimmung betrifft das Verfahren, der ebenfalls in diesem Zusammenhang gebrauchte Ausdruck Volksentscheid dagegen das Ergebnis. Allerdings wird in der Gesetzgebung und in der Literatur nicht immer zwischen diesen beiden Begriffen unterschieden, was aber nicht weiter schädlich ist, da beide ohnehin aufeinander bezogen sind. Inhaltlich betreffen die Volksabstimmung und der Volksentscheid vor allem den Erlass von Gesetzen, die als Volksgesetze den Parlamentsgesetzen gegenüberstehen, aber in ihrer rechtlichen Bedeutung und Wirkung gleichkommen. Möglich sind auch Volksabstimmungen über reine Sachfragen, etwa den Bau einer Großanlage oder die Einführung einer neuen Schulform. Meistens verknüpfen sich die Rechts- und Sachfragen, da mit der gesetzlichen Regelung eine sachliche Angelegenheit geregelt oder verhindert werden soll. Von den sach- und rechtsbezogenen Volksabstimmungen sind die personenbezogenen Wahlen und – als actus contrarius – die personenbezogenen Abwahlen zu unterscheiden, die sich auf einen Amtsträger oder auf ganze Gremien, insbesondere das Parlament, beziehen.

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Vgl. BVerfGE 8, 104, 113. Vgl. z. B. für Baden-Württemberg §§ 21, 27 III, 34, 38 Volksabstimmungsgesetz vom 27. 02. 1984 (GBl. S. 178). 15 Vgl. dazu (teilweise speziell zu Art. 29 GG, aber zugleich allgemein) Stern, Staatsrecht, Bd. II, 1980, S. 13 ff.; Stern/Dietlein (Fußn. 2), S. 238 ff.; Kloepfer (Fußn. 2), S. 185 ff.; Rux (Fußn. 2), S. 39 ff.; Jürgens (Fußn. 3), S. 36 ff.; Maurer, Staatsrecht (Fußn. 1), § 7 Rn. 38. 14

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b)Volksbegehren Volksbegehren ist die aus dem Volk kommende Initiative zur Durchführung einer Volksabstimmung, die von bestimmten Personen oder Personengruppen vorbereitet und beantragt wird. Die Initiative zur Durchführung einer Volksabstimmung ist allerdings nicht auf ein Volksbegehren beschränkt, sondern kann – je nach verfassungsrechtlicher Regelung – auch von staatlichen Organen, insbesondere von der Regierung oder vom Parlament, veranlasst werden.16 c) Volksinitiative Neben den klassischen Formen der Volksabstimmung und des Volksbegehrens hat sich in den letzten Jahrzehnten in einigen Ländern die Volksinitiative herausgebildet. Sie geht – ebenso wie das Volksbegehren – vom Volk aus, zielt aber nicht auf die Durchführung einer Volksabstimmung, sondern auf die Verpflichtung des Parlaments, eine bestimmte Angelegenheit aufzugreifen, sie zu diskutieren und darüber eigenverantwortlich zu entscheiden. Sie kann isoliert erfolgen, aber auch die Vorstufe eines weiterführenden Volksbegehrens- und Volksabstimmungsverfahrens sein, wenn und soweit sie bereits einen ausformulierten und begründeten Gesetzesvorschlag enthält.17 d) Referendum Die Bezeichnung Referendum wird noch sehr unterschiedlich verwendet.18 Gelegentlich wird sie einfach mit der Volksabstimmung gleichgesetzt. Nach überwiegender Meinung handelt es sich um eine Volksabstimmung, die nicht durch ein Volksbegehren, sondern durch einen Beschluss eines Repräsentativorgans, etwa der Regierung oder des Parlaments, herbeigeführt wird und die Bestätigung bzw. die Verwerfung einer Gesetzesvorlage oder eines Gesetzesbeschlusses zum Gegenstand hat.19 Je nachdem, ob das Referendum verfassungsrechtlich oder gesetzlich zwingend vorgeschrieben ist oder ob es nur auf Antrag oder nach Ermessen bestimmter Organe erfolgt, spricht man vom obligatorischen oder fakultativen Referendum.20

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Es liegt dann ein sog. Referendum vor, vgl. dazu sogleich unten d). Vgl. dazu die Nachw. oben Fußn. 15. 18 Vgl. Jürgens (Fußn. 3), S. 41 f.; Rux (Fußn. 3), S. 42. 19 Vgl. dazu Jürgens (Fußn. 3), S. 41 f.; Rux (Fußn. 2), S. 42 f.; Neumann, Sachunmittelbare Demokratie, 2009, S. 211 ff.; Stern (Fußn. 15), S. 15 ff.; Stern/Dietlein (Fußn. 2), S. 240 f., die im Blick auf Art. 29 GG zu Recht darauf hinweisen, dass aus den jeweiligen verfassungsgesetzlichen Begrifflichkeiten keine vorschnellen Schlussfolgerungen gezogen werden dürfen. 20 Beide Formen des Referendums spielen in der Schweiz eine wesentliche Rolle, insbesondere auch im Blick auf parlamentsbeschlossene Gesetze, die noch im Wege des Referendums der Zustimmung des Volkes unterworfen werden, vgl. dazu Rhinow, Grundzüge des Schweizerischen Verfassungsrechts, 2003, S. 353 ff. (Rn. 1995 ff.); Lombardi/Ehrenzeller 17

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e) Volksbefragung Unter Volksbefragung ist die offizielle Befragung des Volkes durch ein staatliches Organ über eine bestimmte öffentliche Angelegenheit zu verstehen. Sie ist – im Gegensatz zum Volksentscheid – nicht verbindlich, hat aber wegen ihres offiziellen Charakters doch politisches Gewicht und bringt damit die staatlichen Instanzen in eine dem Volksentscheid vergleichbare Lage. Daher wird ihre Zulässigkeit abgelehnt, sofern keine verfassungsrechtliche Grundlage besteht. 3. Volksgesetzgebung Die Volksgesetzgebung bildet keinen weiteren Einzelbegriff, sondern soll die jeweils maßgeblichen Einzelbegriffe verfahrensrechtlich miteinander verbinden, was wieder zu unterschiedlichen Konstellationen führen kann. Die Struktur der Volksgesetzgebung lässt sich am besten erklären, wenn man sie mit der Parlamentsgesetzgebung vergleicht und dabei am Oberbegriff der Gesetzgebung anknüpft. Die Gesetzgebung wird durch zwei Fixpunkte bestimmt, nämlich einerseits die Gesetzesinitiative, durch die das eigentliche Gesetzgebungsverfahren eingeleitet und das Gesetzesvorhaben thematisch bestimmt wird, und andererseits den Gesetzesbeschluss und dessen Verkündung, durch die das Gesetz erlassen und damit das Gesetzgebungsverfahren abgeschlossen wird.21 Die Zuständigkeit für die beiden Fixpunkte kann ausschließlich beim Volk liegen, sie kann aber auch auf das Volk und die staatlichen Repräsentativorgane, insbesondere die Regierung und das Parlament, verteilt sein. Darüber hinaus sind weitere Varianten, etwa die Einschaltung weiterer Organe oder besonderer Verfahrensakte, möglich und verschiedentlich rechtlich auch vorgesehen. Eine echte Volksgesetzgebung ist nur dann anzunehmen, wenn sowohl die Gesetzesinitiative (das Volksbegehren) als auch der abschließende Gesetzesbeschluss (die Volksabstimmung) beim Volk liegen, das Volk also über das Ob und das Wie der gesetzlichen Regelung entscheiden kann. Eine nur beschränkte oder partielle Volksgesetzgebung liegt dagegen vor, wenn das Volk nur ein Initiativrecht oder ein sonstiges Beteiligungsrecht besitzt, der abschließende Gesetzesbeschluss aber in die Kompetenz des Parlaments fällt oder wenn das Volk nur über den Gesetzentwurf oder Gesetzesbeschluss eines staatlichen Repräsentativorgans abschließend zu entscheiden hat. Während die erste Alternative zwar theoretisch möglich ist, aber – soweit ersichtlich – in der Praxis kaum vorkommt, spielt die zweite Alternative als Referendum durchaus eine Rolle. Zwischengebilde sind möglich und müssen in dieses Raster eingebaut werden. Das gilt z. B. für die in den meisten Landesverfassungen getroffene u. a., in: Ehrenzeller (Hg.), St. Galler Kommentar, 2. Aufl. 2008, Art. 140, 141 BV; grundsätzlich Linder, Schweizerische Demokratie, 2. Aufl. 2005, S. 241 ff. 21 Dem entsprechen auch die landesverfassungsrechtlichen Regelungen, vgl. etwa für Baden-Württemberg Art. 59 I LVerf. (Gesetzesvorlagen werden von der Regierung, von Abgeordneten oder vom Volk durch Volksbegehren eingebracht) und Art. 59 III (Die Gesetze werden vom Landtag oder durch Volksabstimmung beschlossen).

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Regelung, dass die durch ein Volksbegehren eingebrachte Gesetzesvorlage zunächst dem Landtag vorzulegen ist und die Volksabstimmung entfällt, wenn der Landtag das beantragte Gesetz beschließt.22 Die beiden Gesetzgebungsarten unterscheiden sich indessen nicht nur durch die Zuständigkeiten, sondern auch durch den Ablauf des Verfahrens. Während die Gesetzesinitiative im parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren regelmäßig eingehende Beratungen im Parlament und möglicherweise auch Änderungen des Entwurfs auslöst, führt das Volksbegehren direkt zur Volksabstimmung, bei der es nur noch um Annahme oder Ablehnung des vorgelegten Gesetzentwurfes geht. Indessen darf dieser oft betonte Unterschied nicht überschätzt werden. Das Volksbegehren greift meistens eine, in der Öffentlichkeit aktuelle und vieldiskutierte Angelegenheit auf, so dass sich die „Beratung“ gleichsam auf einen früheren Zeitraum verlagert. Andererseits zwingt die parlamentarische Gesetzgebung letztlich – bei der Schlussabstimmung – auch zu einem Ja oder Nein. Richtig ist allerdings, dass sich die Volksgesetzgebung nur für überschaubare Angelegenheiten und die Entscheidung von Grundsatzfragen eignet. 4. Quoren Von erheblicher Bedeutung für den Erfolg eines Volksbegehrens bzw. einer Volksabstimmung ist das rechtlich geforderte Quorum, d. h. die Mindestzahl der Stimmbürger, die jeweils erreicht werden muss.23 Dabei ist zwischen den verschiedenen Verfahrensabschnitten zu unterscheiden. Beim Volksbegehren geht es zunächst um die erforderliche Zahl von Unterschriften für den Antrag auf Zulassung eines Volksbegehrens (sog. Unterschriftenquorum) und dann um die erforderliche Zahl der das Volksbegehren unterstützenden Stimmbürger (sog. Unterstützungsquorum). Bei der Volksabstimmung geht es vor allem um die erforderliche Zahl der für den Gesetzentwurf stimmenden Bürger (sog. Abstimmungsquorum) und ggf. um die erforderliche Zahl der sich an der Abstimmung selbst beteiligenden Bürger (sog. Beteiligungsquorum). In der Regel wird das Quorum durch bestimmte Prozentsätze der maßgeblichen Stimmbürger bestimmt, etwa beim Unterstützungsquorum für Volksbegehren 5 – 10 % oder bei Abstimmungsquoren die relative oder absolute Mehrheit der Abstimmenden. Je geringer das Quorum ist, desto größer ist auch die Chance, dass sich das Volksbegehren bzw. die Volksabstimmung durchsetzt, desto größer ist aber auch die Gefahr, dass die Mehrheit durch eine Minderheit überspielt wird.24 22

Vgl. z. B. Art. 60 I LVerf. Vgl. Degenhart, Staatsrecht I, 27. Aufl. 2011, Rn. 114. 24 In Baden-Württemberg bestehen folgenden Quoren: Für den Antrag auf Zulassung des Volksbegehrens 10.000 Unterzeichner (§ 25 IV VAbstG), für die Unterstützung des Volksbegehrens ein Sechstel der Wahlberechtigten (Art. 59 II 2 LVerf.), für die Volksabstimmung selbst als Abstimmungsquorum die relative Mehrheit der abgegebenen Stimmen und als Beteiligungsquorum ein Drittel der Stimmberechtigten. 23

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5. Kommunalbereich Auf der kommunalen Ebene gibt es entsprechende plebiszitäre Rechte der Bürger. Sie sind wegen der Orts- und Sachnähe zu den umstrittenen Projekten und der engeren bürgerschaftlichen Beziehungen im Gemeindebereich sogar noch virulenter und bedürfen daher auch weiterer spezifizierender Regelungen, die in den Gemeindeordnungen festgelegt werden. Zur Abgrenzung von der staatlichen Ebene werden hier die Begriffe Bürgerentscheid, Bürgerbegehren und Bürgerantrag verwendet.25 III. Volksabstimmung aufgrund eines Regierungsbeschlusses 1. Verfassungsrechtliche Grundlagen Nach dem bereits eingangs genannten Art. 60 II und III LVerf. kann die Regierung in zwei Fällen eine Volksabstimmung veranlassen.26 Im ersten Fall geht es um die Frage, ob ein vom Landtag beschlossenes, aber noch nicht verkündetes und damit noch nicht rechtswirksames Gesetz in Kraft treten soll. Es handelt sich also der Sache nach um ein Veto gegen einen Gesetzesbeschluss des Landtags, das allerdings durch einen Zweidrittel-Mehrheits-Beschluss des Landtags überwunden werden kann und im Übrigen vom Ergebnis der Volksabstimmung abhängt. Im zweiten Fall geht es um die Frage, ob ein Gesetzentwurf der Regierung, der im Landtag mehrheitlich abgelehnt worden ist, im Wege der Volksabstimmung doch noch durchgesetzt werden kann. In beiden Fällen kann die Regierung nur auf Antrag eines Drittels der Mitglieder des Landtags tätig werden. Voraussetzung der Volksabstimmung ist somit (1) ein Gesetzesbeschluss des Landtags oder die Ablehnung eines Gesetzentwurfes der Regierung durch den Landtag, (2) ein Antrag einer Landtagsminderheit, (3) ein Beschluss der Regierung auf Durchführung einer Volksabstimmung. Die in Art. 60 LVerf. geregelten „Volksabstimmungen“ stellen begrifflich ein Referendum dar, da die Initiative von der Regierung ausgeht und das Volk lediglich darüber zu entscheiden hat. Wegen der besonderen gesetzlichen Anforderungen an diese Initiativen kann sogar von einem qualifizierten Referendum gesprochen werden. Im folgenden wird aber gleichwohl dem Gesetzestext entsprechend die Bezeichnung Volksabstimmung verwendet. Die Regelung der Art. 60 II und III GG hat im Ländervergleich kaum Entsprechungen. Lediglich Nordrhein-Westfalen hat eine dem Art. 60 III LVerf. bis zu 25 Vgl. z. B. § 20 b und § 21 Gemeindeordnung für Baden-Württemberg; Burgi, Kommunalrecht, 3. Aufl. 2010, § 11 Rn. 32 ff.; Geis, Kommunalrecht, 2. Aufl. 2011, § 10 Rn. 59 ff. 26 Art. 60 LVerf. lautet: (2) Die Regierung kann ein vom Landtag beschlossenes Gesetz vor seiner Verkündung zur Volksabstimmung bringen, wenn ein Drittel der Mitglieder des Landtags es beantragt. Die angeordnete Volksabstimmung unterbleibt, wenn der Landtag mit Zweidrittelmehrheit das Gesetz erneut beschließt. (3) Wenn ein Drittel der Mitglieder des Landtags es beantragt, kann die Regierung eine von ihr eingebrachte, aber vom Landtag abgelehnte Gesetzesvorlage zur Volksabstimmung bringen.

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einem gewissen Grad entsprechende Regelung, die allerdings zu scharfen Sanktionen führen kann, da dort die Landesregierung zurücktreten muss, wenn das von ihr beantragte Gesetz durch den Volksentscheid abgelehnt wird, und umgekehrt der Landtag durch die Landesregierung aufgelöst werden kann (nicht muss), wenn es durch den Volksentscheid angenommen wird.27 Ferner ist auf die Verfassung für Rheinland Pfalz hinzuweisen, die ein Referendum über einen Landtags-Beschluss aufgrund eines aus dem Volk kommenden Antrags zulässt.28 2. Entstehungsgeschichte Die Regelungen des Art. 60 II und III LVerf. lassen sich nur dann recht verstehen, wenn man ihre Entstehungsgeschichte in die Betrachtung einbezieht. Sie erscheinen bereits in der ursprünglichen Fassung der Landesverfassung von 1953, gehen aber noch weiter zurück, da sie dort fast wörtlich aus der Verfassung des Landes Württemberg-Baden von 1946 übernommen wurden.29 Sie haben also in zeitlicher Hinsicht eine doppelte Entstehungsgeschichte, wobei der Schwerpunkt bereits bei den Beratungen von 1946 liegt. a) Die Verfassunggebung in Württemberg-Baden 1946 Die Beratungen der württemberg-badischen Verfassung von 1946 erfolgten zunächst im Verfassungsausschuss der Vorläufigen Volksvertretung (im Folgenden kurz: vorläufiger Verfassungsausschuss) und dann in der Verfassunggebenden Landesversammlung und deren Verfassungsausschuss.30 Die Beratungen in den beiden 27 Vgl. Art. 68 III Verfassung für das Land Nordrhein-Westfalen vom 28. 06. 1950 (GVBl. S. 127); dazu Mann, in: Löwer/Tettinger (Hrsg.), Kommentar zur Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen, 2002, Art. 68 Rn. 1, 46 – 50; Günther, in: Heusch/Schönenbroicher (Hrsg.), Die Landesverfassung Nordrhein-Westfalen, 2010, Art. 68, Rn. 19 – 21. Zur Entstehungsgeschichte Kringe, Machtfragen. Die Entstehung der Verfassung für das Land Nordrhein-Westfalen 1946 – 1950, 1988, S. 490 ff. Nach Wittreck, ZSE 2010, 553, 561 handelt es sich hier um „direktdemokratische Artefakten des Konstitutionalismus…, die schon in der Zwischenkriegszeit seltsam disloziert wirkten“. Entsprechende Sanktionen sind übrigens auch bei den Beratungen der Verfassung für Württemberg-Baden 1946 vorgeschlagen, aber offenbar nicht weiter beachtet worden, vgl. Sauer, Quellen (Fußn. 30), Teil 2, 1997, S. 313. 28 Vgl. Art. 114, 115 der Verf.; dazu Jürgens (Fußn. 3), S. 143 f.; Rux (Fußn. 2), S. 336. 29 Art. 83 Verfassung für Württemberg-Baden vom 28. 11. 1946 (RegBl. S. 277). Vgl. dazu Nebinger, Kommentar zur Verfassung für Württemberg-Baden, 1948, S. 228, 231. – Württemberg-Baden gehört zu den drei Vorgängerländern des 1952 gegründeten Landes BadenWürttemberg. Es erfasste die nördlichen, in der amerikanischen Besatzungszone liegenden Teile von Württemberg und Baden. Daneben bestanden noch die in der französischen Besatzungszone liegenden Länder Baden (Südbaden) und Württemberg-Hohenzollern (Südwürttemberg). 30 Der Verfassungsausschuss der Vorläufigen Volksvertretung, deren Mitglieder vom Ministerpräsidenten im Auftrag der amerikanischen Besatzungsmacht berufen wurden, tagte vom 12.3. bis 14. 6. 1946. Die unmittelbar vom Volk gewählte Verfassunggebende Landesversammlung konstituierte sich am 15. 7. 1946 und beendete ihre Arbeit am 24. 10. 1946. Die

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Verfassungsausschüssen und damit mittelbar auch in der Verfassunggebenden Landesversammlung selbst wurden maßgebend durch den Staatsrechtslehrer und Politiker Carlo Schmid geprägt, der damals als Vorsitzender des Staatssekretariats des französisch besetzten Landes Württemberg-Hohenzollern praktisch Regierungschef dieses Landes und zugleich als „Staatsrat“ beratendes Mitglied der Regierung des Landes Württemberg-Baden war.31 Er entsprach der Bitte des Vorsitzenden des Vorläufigen Verfassungsausschusses, ein Einführungsreferat zu halten, einen Verfassungsentwurf auszuarbeiten und die Verfassungsberatungen in Stuttgart als Sachverständiger zu begleiten.32 Der Verfassungsentwurf, den Carlo Schmid vorlegte, sah neben dem Landtag und der parlamentarisch verantwortlichen Regierung zwei weitere Verfassungsorgane vor, nämlich einen Senat als zweite Kammer im Bereich der Gesetzgebung und einen unmittelbar vom Volk gewählten Staatspräsidenten, der als neutrale und unabhängige Instanz den Staat repräsentieren und bei Konflikten zwischen den Verfassungsorganen moderierend eingreifen sollte.33 Sein erklärtes Ziel war die Vermeidung eines Parlamentsabsolutismus durch Schaffung weiterer Verfassungsorgane als Gegengewichte.34 In diesem Zusammenhang steht auch das Recht des Staatspräsidenten, bei Konflikten zwischen dem primär gesetzgebenden Landtag und dem einspruchsberechtigten Senat und ggf. bei weiteren Konflikten eine Volksabstimmung herbeizuführen. Das Volk sollte danach nicht eigeninitiativ als Akteur und Gesetzgeber, sondern lediglich als Vermittler und Schiedsrichter tätig werden. Art. 69 I seines Verfassungsentwurfs hatte in der leicht veränderten Fassung des Verfassungsausschusses35 folgenden Wortlaut: „Der Staatspräsident kann ein vom Landtag beschlossenes Gesetz vor seiner Verkündung zur Volksabstimmung bringen, Verhandlungen dieser drei Gremien sind abgedruckt bei Paul Sauer (Hg.), Quellen zur Entstehung der Verfassung von Württemberg-Baden, 3 Teile, 1995, 1997 und 2001. Dort finden sich auch zahlreiche weitere Hinweise und Erläuterungen des Herausgebers. 31 Vgl. dazu Carlo Schmid, Erinnerungen, 1979, S. 272 f.; Petra Weber, Carlo Schmid, Eine Biografie 1996, S. 272 ff.; Nüske, Neubeginn von oben: Staatssekretariat und Landesregierungen, in: Gögler/Richter, Das Land Württemberg-Hohenzollern 1945 – 1952, 1982, S. 81 ff.; Eschenburg, Jahre der Besatzung 1945 – 1949, 1983, S. 97. 32 Vgl. Sauer (Fußn. 30), Teil 1, S. 9, 51 f.; Teil 2, S. 128. Seine weit ausholenden, grundlegenden und erforderlichenfalls auch detailgenauen Ausführungen zur Verfassungspolitik und zum Verfassungsrecht sind auch heute noch lesenswert. 33 Der Verfassungsentwurf, der von Carlo Schmid zu Beginn der Beratungen vorgelegt wurde, ist abgedruckt bei Frank R. Pfetsch (Hg.), Verfassungsreden und Verfassungsentwürfe, 1986, S, 353 ff.; vgl. zum Senat Art. 44 ff., zum Staatspräsidenten Art. 52 ff. und zur Volksabstimmung Art. 69 ff. des Verfassungsentwurfs. 34 Vgl. Sauer (Fußn. 30), Teil 1, S. 20 ff., 53 f, 106 ff. und öfter; Jung, Grundgesetz und Volksentscheid, 1994, S. 59 ff. 35 Im ersten von Carlo Schmid vorgelegten Entwurf (vgl. oben Fußn. 33) hieß es noch: „Ein vom Landtag beschlossenes Gesetz ist vor seiner Verkündung zur Volksabstimmung zu bringen, wenn der Staatspräsident binnen eines Monats es bestimmt. Der Staatspräsident muss eine Volksabstimmung anordnen, wenn mindestens ein Drittel der Mitglieder des Landtags es beantragt.“

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wenn ein Drittel der Mitglieder des Landtags es beantragt.“ Der folgende Art. 70 seines Verfassungsentwurfs betraf das Verhältnis von Landtag und Senat und bestimmte in Abs. 3: „Im Falle des Einspruchs (durch den Senat) wird das Gesetz dem Landtag zur nochmaligen Beschlussfassung vorgelegt. Kommt hierbei keine Übereinstimmung zwischen Landtag und Senat zustande, so kann der Staatspräsident binnen drei Monate über den Gegenstand der Meinungsverschiedenheit eine Volksabstimmung anordnen.“36 In heutiger Sicht mag diese Konzeption in der Verfassung eines kleineren Landes, das zudem noch unter Besatzungshoheit stand, überdimensioniert erscheinen. Indessen sind damals entsprechende Vorschläge auch bei den Verfassungsberatungen der anderen Länder in der amerikanischen und französischen Besatzungszone nach 1945 diskutiert worden.37 Die Verfassungsautoren hatten vor allem die (von ihnen erwartete) künftige gesamtdeutsche Reichs- oder Bundesverfassung im Blick. Dabei lehnten sie sich einerseits an die Weimarer Reichsverfassung von 1919 an,38 wollten aber andererseits deren tatsächliche oder vermeintliche Mängel und Fehlentwicklungen entschieden vermeiden. Die von Carlo Schmid vorgeschlagenen Institutionen des Senats und des Staatspräsidenten wurden bei den Beratungen des vorläufigen Verfassungsausschusses noch übernommen,39 stießen aber im folgenden Verfassungsausschuss der Verfassunggebenden Landesversammlung auf Widerspruch und Ablehnung.40 Damit entfiel auch die Basis für die vorgesehene Regelung der Volksabstimmung. Das galt nicht nur für die Volksabstimmung im Falle einer Kontroverse zwischen dem Landtag und dem Senat gem. Art. 70 Verfassungsentwurf, sondern auch für die Volksabstimmung auf Antrag einer Landtagsminderheit gem. Art. 69 des Verfassungsentwurfs. Carlo Schmid hatte das klar erkannt. Er erklärte, „der Sinn des bisherigen Art. 69 sei gegenstandlos geworden, nachdem der Staatspräsident weggefallen sei.“41 Gleichwohl wurde diese Vorschrift beibehalten und lediglich der „Staatspräsident“ durch die „Regierung“ als Initiator einer Volksabstimmung ersetzt. Das war 36

Vgl. Sauer (Fußn. 30) Teil 1, S. 180 f., 312 f., 380. Vgl. z. B. die zahlreichen Hinweise und Zitate für Hessen bei Berding (Hg.), Die Entstehung der Hessischen Verfassung von 1946, 1996 und für Baden (Südbaden) bei Feuchte (Hg.), Quellen zur Entstehung der Verfassung des Landes Baden von 1947, 2 Bd., 1999 und 2001. Allerdings sind in allen Ländern diese Vorschläge letztlich abgelehnt worden, – mit Ausnahme von Bayern, dessen Verfassung vom 2. 12. 1946 einen Senat vorsah (Art. 34 – 42 Verf.), der dann jedoch aufgrund eines Volksentscheids (!) 1998 abgeschafft wurde. 38 So übernahm z. B. Carlo Schmid in seinem (kurzfristig erstellten) Verfassungsentwurf fast wörtlich die Art. 73 I, 74 und 75 WRV, allerdings gerade nicht Art. 73 III WRV, der das Volksbegehren mit anschließendem Volksentscheid regelte und in der Praxis der Weimarer Zeit eine erhebliche Rolle spielte. 39 Vgl. den Entwurf des vorläufigen Verfassungsausschusses Art. 44 – 51 (Senat) und Art. 52 – 61 (Staatspräsident), abgedruckt bei Sauer (Fußn. 30), Teil I, S. 367 ff. 40 Vgl. Sauer (Fußn. 30), Teil II, S. 256 ff., 550 ff. (zum Senat und Staatspräsidenten); S. 309 ff., 575 ff. (zur Volksabstimmung). 41 So das Protokoll der Sitzung vom 8. 8. 1946, Sauer (Fußn. 30), Teil II, S. 311. 37

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nicht nur ein Zuständigkeitswechsel, sondern ein Systembruch. Die vom Parlament abhängige Regierung konnte damit auf Antrag und sonach mit Unterstützung einer Landtagsminderheit das Volk gegen die Parlamentsmehrheit mobilisieren.42 Zur Begründung dieser Änderung und Neuregelung wurde nunmehr auf den Minderheitenschutz verwiesen, wobei offenbar die Landtagsminderheit gemeint war, aber gelegentlich auch vom Schutz der Landtagsmehrheit, da der Antrag auf Durchführung einer Volksabstimmung nicht nur von einem oder einigen wenigen Abgeordneten, sondern immerhin von einem Drittel der Abgeordneten beantragt werden musste, und vom Schutz der Regierung vor Beschlüssen des Landtags, die die Regierung mit ihrer Politik für unvereinbar halte, gesprochen.43 In den anschließenden Beratungen des Plenums der Verfassunggebenden Landesversammlung wurden die Ergebnisse des Verfassungsausschusses bezüglich der Volksabstimmung durchgehend akzeptiert. Hinzu kam lediglich noch – auf Anregung eines Vertreters der amerikanischen Besatzungsmacht – die Ergänzung, dass die Regierung auch ein von ihr eingebrachtes, vom Landtag abgelehntes Gesetz zur Volksabstimmung bringen kann, wenn ein Drittel der Mitglieder des Landtags es beantragt.44 Sie erscheint heute noch mit gleichem Wortlaut in Art. 60 III der heutigen Landesverfassung. b) Die Verfassunggebung in Baden-Württemberg 1952/53 Nach dem Zusammenschluss der drei südwestdeutschen Länder – Baden, Württemberg-Baden, Württemberg-Hohenzollern – zum neuen Bundesland Baden-Württemberg musste erneut eine Verfassung beraten und beschlossen werden.45 Die Entwicklung gestaltete sich allerdings sehr schwierig, da die Verfassunggebende Landesversammlung zugleich als Landtag tätig wurde, sich dort eine Regierungskoalition aus den Fraktionen der SPD, der DVP (FDP) und des BHE (Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten) unter dem bereits seit 1945 amtierenden Ministerpräsident Reinhold Maier (DVP) bildete und damit die CDU, die zahlenmäßig größte Fraktion, in die Opposition gedrängt wurde.46 Von den 120 Sitzen der Verfassunggebenden Landesversammlung nahmen die Koalitionsfraktionen 67 Sitze (38 SPD, 23 DVP/FDP und 6 BHE) und die CDU-Fraktion 50 Sitze ein. Im Verfassungsausschuss 42

Vgl. zur Problematik dieser Regelung auch unten. Vgl. Sauer (Fußn. 30), Teil 2, S. 311 ff.; Ausschussbericht, in: Sauer (Fußn. 30), Teil II, S. 687 (694 ff.); ferner aus der Literatur Nebinger, Kommentar (Fußn. 29), S. 231. 44 Vgl. Sauer (Fußn. 30), Teil 3, S. 421. Eine sachliche Aussprache darüber fand aus zeitlichen Gründen nicht mehr statt. 45 Die Verhandlungsprotokolle, Entwürfe und Beschlüsse sind abgedruckt bei Feuchte, Quellen zur Entstehung der Verfassung von Baden-Württemberg, Teil 2 – 9, 1988 – 1992, mit Registerband von Tröscher, 1995. 46 Vgl. zu den (möglichen) Hintergründen Matz, Grundlagen und Anfänge von BadenWürttemberg 1948 – 1960, in: Schwarzmaier/Schaab (Hg.), Handbuch der baden-württembergischen Geschichte, Bd. IV, 2003, S. 519, 550 ff. 43

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war das Verhältnis 14:11 Sitze, was dann auch das übliche Abstimmungsverhältnis war, wenn man sich nicht einigen konnte. Hinzu kamen noch 3 Sitze für die KPD, die im Plenum aktiv, im Verfassungsausschuss aber nicht vertreten war. Beide Blöcke – die Regierungsparteien (nicht die Regierung) und die CDU-Opposition – legten jeweils einen eigenen Verfassungsentwurf vor.47 Der Entwurf der Regierungsparteien entsprach weitgehend, teilweise sogar wörtlich der früheren Verfassung von Württemberg-Baden. Das galt gerade auch für die regierungsinitiierte Volksabstimmung.48 Der zweite, von der CDU-Fraktion vorgelegte Verfassungsentwurf knüpfte dagegen an Vorstellungen an, die 1946/47 bei den Beratungen der Landesverfassungen, insbesondere auch bei den Beratungen der Verfassung von Württemberg-Hohenzollern und von Baden (Südbaden) auftauchten, letztlich aber dann doch nicht verwirklicht wurden. So plädierte die CDU für einen Senat als zweite Kammer, der bei bestimmten Gesetzen (Staatshaushaltsgesetzen, verfassungsausführenden Gesetzen und verfassungsändernden Gesetzen) ein Zustimmungsrecht und bei den übrigen Gesetzen ein suspensives Vetorecht haben sollte, und für einen vom Volk gewählten, aber in verschiedener Hinsicht mittelbar parlamentarisch verantwortlichen Staatspräsidenten als Regierungschef; ferner konnte die Regierung nach dem CDUEntwurf in deutlicher Anlehnung an die frühere Regelung in Württemberg-Baden eine Volksabstimmung herbeiführen.49 Die Verfassungsberatungen zogen sich wegen des tiefgreifenden Konflikts zwischen der Regierungskoalition und der oppositionellen CDU hin. Erst als Ministerpräsident Maier im Herbst 1953 – nach dem Wahlerfolg der CDU unter Adenauer im Bund, der von Maier mehrfach herausgefordert wurde – zurücktrat und sich eine große Koalition unter dem CDU-Ministerpräsidenten Gebhard Müller bildete, kam es zu entscheidenden Kompromissen in den wesentlichen Verfassungsfragen. Senat und Staatspräsident wurden fallen gelassen. Eine längere Diskussion gab es bereits zu Beginn der Beratungen im Verfassungsausschuss über den heutigen Art. 60 III LVerf., der von der CDU-Fraktion beantragt, von den damaligen Regierungsparteien SPD, DVP und BHE dagegen als überflüssig abgelehnt und schließlich – mit den Stimmen der CDU-Fraktion und zwei Mitgliedern der damaligen Regierungsparteien – bejaht wurde.50 Dabei blieb es dann auch.51 Der mehrmals gestellte Antrag, das Volksbegehren mit anschließender Volksabstimmung verfassungsrecht47

Die Verfassungsentwürfe sind abgedruckt bei Feuchte, Quellen (Fußn. 45), Teil 2, 1988, S. 1 (Entwurf der Regierungsparteien) und S. 52 (Entwurf der CDU). 48 Bislang Art. 83 Württ.-Bad. Verf., jetzt Art. 61 I, II bzw. Art. 60 II, III Bad.-Württ. Verf., vgl. bereits oben Fußn. 4. Im Folgenden wird vereinfachend nur von Art. 60 LVerf. gesprochen, sofern es nicht gerade auf einen bestimmten Absatz des Art. 60 LVerf. ankommt. 49 Vgl. dazu den Verfassungsentwurf (oben Fußn. 47): Art. 59 ff. (Senat), Art. 67 ff. (Staatspräsident), Art. 63 ff. und 82 ff. (Gesetzgebung); Feuchte, Verfassungsgeschichte (Fußn. 3), S. 212 f. 50 Vgl. Feuchte, Quellen (Fußn. 45), Teil 3, S. 31 ff. 51 Vgl. dazu die Anmerkungen von Feuchte, Quellen (Fußn. 45), Teil 3, S. 31 ff.; ferner Teil 6, S. 54, 495; Bericht des Verfassungsausschusses, Teil 6, S. 533, 658 f. (= Beilage Nr. 1103).

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lich zu gewährleisten, fand zwar bei der CDU Zustimmung, wurde aber von der Mehrheit stets abgelehnt.52 3. Auslegungs- und Anwendungsprobleme des Art. 60 LVerf. Die Auslegung und die Anwendung rechtlicher Vorschriften müssen beim Normtext und dessen Umfeld ansetzen, bleiben aber „blutleer“, wenn das notwendige Anschauungsmaterial der Praxis fehlt. Die beiden Volksabstimmungsregelungen des Art. 60 II und III LVerf. sind zwar – wie dargelegt wurde – bereits 1946 in die Landesverfassung von Württemberg-Baden aufgenommen und von dort in die Landesverfassung von 1953 übernommen worden, jedoch erst 2011 – also nach 65 Jahren – durch den Streit über das Bahnprojekt Stuttgart 21 in der Praxis aktuell geworden. Diese lange Zeit mag ein Grund dafür sein, dass die Regelungen der Art. 60 II und III LVerf. in der Literatur nur beiläufig betrachtet und als „unrealistisch“ bezeichnet wurden.53 Im Regelfall werden jedenfalls heute Konflikte im staatsorganisatorischen Bereich zwischen den Verfassungsorganen nach parlamentarischen Spielregeln, im Extremfall durch die Abwahl der Regierung, und vor allem durch die Verfassungsgerichte gelöst. Der offenbar auf diesen Wegen nicht lösbare Streit um das Bahnprojekt Stuttgart 21 lenkte nunmehr den Blick auf die Volksabstimmung nach Art. 60 III LVerf.54 Danach sollte die Landesregierung dem Landtag einen Gesetzentwurf vorlegen, durch den sie – die Landesregierung – verpflichtet wird, den Finanzierungsvertrag zu kündigen, der Landtag jedoch den Gesetzentwurf ablehnen und daraufhin die Landesregierung auf Antrag eines Drittels der Mitglieder des Landtags den abgelehnten Gesetzentwurf einer Volksabstimmung gem. Art. 60 III LVerf. zuführen. Formal war das korrekt, sachlich musste es aber doch wie ein abgekartetes Spiel wirken. Der Finanzierungsvertrag war die maßgebliche finanzielle Grundlage für das gesamte Projekt, er legte die finanzielle Beteiligung der Bahn, des Landes, der Stadt Stuttgart und einiger weiterer Organisationen fest.55 Mit dem finanziellen Ausscheiden des Landes wäre das Projekt wohl insgesamt gescheitert. 52

Vgl. den Bericht des Verfassungsausschusses, Feuchte (Fußn. 45), Teil 6, S. 533, 658 f. Vgl. Braun (Fußn. 3), Art. 60 Rn. 15 und 16; Jürgens (Fußn. 3), S. 52; Abelein, Plebiszitäre Elemente in den Verfassungen der Bundesländern, ZParl 1971, 187, 194. 54 Kurz zum Sachverhalt: Die bis März 2011 regierende Koalition aus CDU und FDP plante und förderte das Projekt. Auf der Seite der Opposition waren die SPD ebenfalls dafür, die Grüne aber dagegen. Die Landtagswahl vom 27. 03. 2011 brachte den bisherigen Oppositionsparteien die Mehrheit und führte zu einer Koalition von Grünen und SPD, die jedoch bezüglich des Bahnprojekts Stuttgart 21 auf ihren unterschiedlichen Standpunkten verblieben. Die Lösung sah man in einer Volksabstimmung, der sich beide Koalitionspartner beugen wollten und auch – politisch betrachtet – beugen mussten. Vgl. dazu näher die Darlegungen über den Streitstand in den in Fußn. 56 zitierten Gutachten. 55 Der Finanzierungsvertrag vom 2. 4. 2009 ist abgedruckt in Landtags-Drucksachen (LTDrs.) 14/4382. 53

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Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit dieses Weges war – und ist – verfassungsrechtlich heftig umstritten.56 Da der für die Volksabstimmung bestimmte Gesetzentwurf der Regierung erst im September 2011 beim Landtag eingereicht und publik wurde, konnten die früheren literarischen Stellungnahmen noch nicht vom genauen Wortlaut des beabsichtigten Gesetzes ausgehen und sprachen daher allgemein von „Kündigungsgesetz“, „Ausstiegsgesetz“ und dgl. Diese Bezeichnungen sind jedoch juristisch nicht präzise und dadurch leicht irreführend. Das vorgelegte Gesetz hatte offiziell die Überschrift: „Gesetz über die Ausübung von Kündigungsrechten bei den vertraglichen Vereinbarungen für das Bahnprojekt Stuttgart 21 (S21-Kündigungsgesetz)“ und bestimmte in § 1: „Die Landesregierung ist verpflichtet, Kündigungsrechte bei den vertraglichen Vereinbarungen mit finanziellen Verpflichtungen des Landes Baden-Württemberg für das Bahnprojekt Stuttgart 21 auszuüben.“57 Im Klartextbesagt dies: Die Landesregierung ist verpflichtet, den Finanzierungsvertrag im Rahmen der rechtlichen Möglichkeiten zu kündigen. Das Verfahren ist wie beabsichtigt abgelaufen. Die Volksabstimmung hat am 27. 11. 2011 stattgefunden. 48,3 % der Stimmberechtigten haben an der Abstimmung teilgenommen. 41,1 % haben für die Kündigung und 58,9 % gegen die Kündigung votiert, d. h. aber – und das war die eigentliche, wenn auch verschlüsselte Frage – 58,9 % haben für das Bahnprojekt und 41,1 % haben gegen das Bahnprojekt gestimmt. Die Volksabstimmung hat also nicht ihr Ziel erreicht (was möglicherweise für die spätere Rechtschutzfrage bedeutsam wird). Im Folgenden kann und soll auf den Streit über die Verfassungsmäßigkeit der Volksabstimmung zu Stuttgart 21 nicht im Detail eingegangen werden, insbesondere kein Gutachten nachgeschoben werden, aber doch auf einige grundsätzliche Aspekte hingewiesen werden.

56 Vgl. dazu die (früheren) Gutachten und Beiträge von Paul Kirchhof, Zur Verfassungsmäßigkeit einer Volksabstimmung über „Stuttgart 21“, ZSE (Zeitschrift für Staats- und Europawissenschaften) Bd. 8 (2010), S. 412 ff.; Hermes/Wieland, Rechtliche Möglichkeiten des Landes Baden-Württemberg, die aus dem Finanzierungsvertrag „Stuttgart 21“ folgenden Verpflichtungen durch Kündigung oder gesetzliche Aufhebung auf der Grundlage eines Volksentscheides zu beseitigen, Jahrbuch für direkte Demokratie 2010, 2011, S. 350 ff.; Meyer, Der Stuttgarter Bahnkonflikt aus der Sicht der Finanzverfassung, DVBl 2011, 449 ff.; Dolde/Porsch, Eisenbahninfrastruktur und Finanzverfassung, NVwZ 2011, 833 ff.; Schönenbroicher, Irritationen um „Stuttgart 21“, VBlBW 2010, 466 ff.; Groß, Stuttgart 21: Folgerungen für Demokratie und Verwaltungsverfahren, DÖV 2011, 510 ff.; Wulfhorst, Konsequenzen aus „Stuttgart 21“: Vorschläge zur Verbesserung der Bürgerbeteiligung, DÖV 2011, 581, 585 f.; Böhm, Bürgerbeteiligung nach Stuttgart 21: Änderungsbedarf und -perspektiven, NuR 2011, 614, 616 f.; Leisner, Stuttgart 21: „Wir sind das Volk!“ – Wer?, NJW 2011, 33 ff.; Stüer/Buchsteiner, Stuttgart 21: Eine Lehre für die Planfeststellung?, UPR 2011, 335 ff.; Wittreck, Demokratische Legitimation von Großvorhaben, ZG 2011, 208, 221. 57 Gesetzentwurf vom 13. 09. 2011, LT-Drs. 15/496. Der folgende § 2 betrifft nur noch den Zeitpunkt des Inkrafttretens.

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a) Die Funktion des Art. 60 LVerf. Die Regelung des Art. 60 III LVerf. hat – zumindest nach der ursprünglichen Konzeption – die Funktion, bei Kontroversen und Konflikten zwischen den Verfassungsorganen das Volk als Schiedsrichter heranzuziehen. Dieses Konzept hat, wie bereits dargelegt wurde, schon bei der Verfassunggebung 1946 Einbußen erlitten, da das Zweikammersystem nicht akzeptiert wurde. Die Schiedsrichterrolle des Volkes bei Konflikten zwischen der Regierung und dem Parlament steht aber nach wie vor im Hintergrund des Art. 60 LVerf. Im Falle des umstrittenen Projekts Bahnhof Stuttgart 21 ging es jedoch nicht um einen Konflikt zwischen der Regierung und dem Parlament und damit zwischen zwei Staatsorganen, sondern um einen Konflikt zwischen den beiden Koalitionspartnern und damit innerhalb der Regierung. Ob die Entscheidung dieses koalitions- und regierungsinternen Streites über Art. 60 LVerf. auf das Volk verlagert werden darf, erscheint doch sehr fraglich. Immerhin wird das staatliche Instrument des Volksentscheids für die Lösung parteipolitischer Differenzen eingesetzt. Da jedoch die Formalien des Art. 60 III LVerf. eingehalten worden sind, wird man dies wohl noch bejahen können. Es entstehen aber zwei weitere Fragen, nämlich ob diese Entwicklung zur weiteren Verstaatlichung der politischen Parteien und Fraktionen verfassungspolitisch überhaupt erstrebenswert ist, und zum anderen, wenn das bejaht werden sollte, ob nicht angemessenere Regelungen konzipiert werden sollten, die dieses Ergebnis ohne Winkelzüge ermöglichen. b) Gesetzesbegriff Die Volksabstimmung nach Art. 60 III LVerf. beschränkt sich gegenständlich auf Gesetzesvorlagen und damit auf Gesetze. Diese gegenständliche Beschränkung entspricht konzeptionell der Volksgesetzgebung, traditionell der historischen Entwicklung dieses Rechtsinstituts und rechtsvergleichend den Regelungen der anderen Bundesländer.58 Der Gesetzesbegriff wird durch formale Kriterien bestimmt, nämlich die Zuständigkeit, das Verfahren und die Form. Gesetze sind die vom Parlament in einem bestimmten Verfahren und in einer bestimmten Form erlassenen verbindlichen Regelungen. Inhaltlich erfassen sie generell-abstrakte Regelungen mit Außenwirkung. Ausnahmsweise können auch andere Rechtsakte in der Form eines Gesetzes ergehen. Bekannt ist das Haushaltsgesetz, ferner kommen Einzelfallgesetze, Maßnahmegesetze und Organisationsgesetze in Betracht.59 Das bedeutet aber nicht, dass die Gesetzesform unter dem Aspekt der Regelung jeden Inhalt aufnehmen könnte. Das sog. S21-Kündigungsgesetz ist sicher keine generell-abstrakte Regelung, zumal sie sich 58 Erst neuerdings zeigt sich in einigen Ländern eine Erweiterung auf „bestimmte Gegenstände der politischen Willensbildung“, so zuerst Schleswig-Holstein (Art. 42 Verf.), ihm folgend Brandenburg (Art. 78 Verf.), ferner die Stadtstaaten Berlin (Art. 62 Verf.) und Hamburg (Art. 50 Verf.). Diese Erweiterung lässt sich wohl mit der Einbeziehung der Volksinitiative in die plebiszitären Regelungen und – im Blick auf die Stadtstaaten – mit deren zusätzlichen kommunalen Aufgaben erklären. 59 Vgl. Maurer, Staatsrecht (Fußn. 1), § 17 Rn. 7 ff.

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nur an einen Adressaten (die Regierung) wendet und nur einen konkreten Fall (die Kündigung eines bestimmten Vertrages) betrifft. Es lässt sich auch schwerlich unter die Kategorien der Einzelfall-, Maßnahme- und Organisationsgesetze einordnen. In der Begründung des Gesetzentwurfes heißt es allerdings, die Grundentscheidung der Beteiligung des Landes an der Finanzierung des Projektes Stuttgart 21 sei „eine wesentliche Frage, über die der Gesetzgeber, auch wie hier im Einzelfall, entscheiden kann.“60 Damit wird offensichtlich an die sog. Wesentlichkeitstheorie des BVerfG angeknüpft. Sie greift hier jedoch nicht ein, da sie auf die Erforderlichkeit einer gesetzlichen Grundlagen im Sinne des Gesetzesvorbehalts und nicht – wie hier – auf die Zulässigkeit der Gesetzesform und zum anderen auf die Grundrechtsrelevanz staatlicher Beeinträchtigungen im Staat-Bürger Verhältnis und nicht – wie hier – auf staatsinterne Vorgänge abstellt.61 Die entscheidende Frage ist, was das S21-Kündigungsgesetz tatsächlich regelt und regeln soll. Das S21-Gesetz begründet keine Kündigungsrechte, weder generell noch im Blick auf den konkreten Fall, sondern weist – allerdings sehr allgemein – auf mögliche Kündigungsrechte hin und verpflichtet die Landesregierung von diesen Kündigungsrechten, sofern sie denn bestehen, im konkreten Fall Gebrauch zu machen. Es enthält somit eine konkrete verbindliche Weisung im Einzelfall, eine Weisung zum Gesetzesvollzug. Das kommt vielleicht noch nicht so klar im Gesetzestext selbst zum Ausdruck. In der Begründung wird indessen eindeutig erklärt: „Die Landesregierung, die ansonsten frei entscheiden könnte, soll durch den Landesgesetzgeber zur Ausübung von Kündigungsrechten verpflichtet werden, die die finanziellen Vereinbarungen betreffen, die das Land abgeschlossen hat.“62 Solche Weisungen sind in der hierarchisch aufgebauten Verwaltung zulässig und üblich. Das Parlament ist indessen der Regierung nicht übergeordnet; beide sind zwar aufeinander bezogen, besitzen aber entsprechend dem verfassungsrechtlich verankerten Grundsatz der Gewaltenteilung jeweils ihren Kompetenzbereich. Die zuständigen Exekutivorgane haben daher in eigener Verantwortung über die Kündigung zu entscheiden. Das schließt nicht aus, dass der Landtag politisch darauf Einfluss nimmt, indem er über diese Frage diskutiert und evtl. dazu eine Entschließung verabschiedet. Ein dahingehendes Gesetz ist dagegen unzulässig. Das gilt für das Parlamentsgesetz, das gilt aber auch für ein Volksgesetz, dessen Reichweite nicht weiter geht und weiter gehen kann als die eines Parlamentsgesetzes.63 Die Frage, ob eine andere gesetzesadäquate Formulierung hätte gefunden werden können, kann hier nicht weiter verfolgt werden; sie muss aber bezweifelt werden. Damit wird die Einbeziehung der Bevölkerung in die Entscheidung über Großprojekte der Infrastruktur nicht ausgeschlossen. Der Weg dahin weist aber, wie gerade die Diskussion über das Bahnpro60

LT-Drs. 15/496, S. 11; ebenso bereits Hermes/Wieland (Fußn. 56), S. 374 f. Vgl. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 18. Aufl. 2011, § 6 Rn. 12 ff. 62 Vgl. LT-Drs. 15/496, S. 11. 63 Vgl. dazu StGH BW, ESVGH 36,131 = NVwZ 1987, 574; Isensee, Verfahrensfragen der Volksgesetzgebung – Überlegungen zum Landesverfassungsrecht, Festschrift für Krause, 2006, S. 303, 311 f. 61

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jekt Stuttgart 21 zeigt, auf den verwaltungsrechtlichen Bereich, insbesondere Planfeststellungsbeschlüsse und dgl. hin. c) Demokratie und Rechtsstaatsprinzip Die Begründung zum Entwurf des S 21-Kündigungsgestzes beruft sich mehrfach auf die durch die letzte Wahl erfolgte Änderung der Mehrheitsverhältnisse im Landtag.64 Richtig ist, dass die Demokratie auf Wandel angelegt ist. Wechselt die Mehrheit im Parlament, dann hat sie die sich selbst gestellte Aufgabe und das Recht, ihr Programm nach Möglichkeit durchzusetzen. Die neue Mehrheit enthält jedoch nur ein Mandat für die Zukunft, kein Mandat für die Vergangenheit. Die von der jeweiligen Parlamentsmehrheit beschlossenen Gesetze sind keine Mehrheitsgesetze,65 sondern Parlamentsgesetze und damit Staatsgesetze. Sie gelten auch für und gegen die neue Mehrheit. Allerdings hat diese nunmehr die rechtliche Möglichkeit, durch Erlass neuer Gesetze die früheren Gesetze zu verdrängen. Sofern die neuen Gesetze nur pro futuro gelten, ist die neue Mehrheit grundsätzlich frei. Soweit sie dagegen ex tunc wirken oder an in der Vergangenheit entstandene, aber in Zukunft weiterbestehende Sachverhalte anknüpfen (echte und unechte Rückwirkung), greifen die rechtsstaatlichen Rückwirkungsverbote und Vertrauensschutzgrundsätze ein, die vom BVerfG in einer Vielzahl von Entscheidungen entwickelt worden sind.66 Diese Grundsätze sind auch für die vom Volk beschlossenen, also auch für die gem. Art. 60 III LVerf. erlassenen Gesetze, maßgeblich. Sie können darüber hinaus auch – mutatis mutandis – für andere Staatsakte herangezogen werden. Daher sind sie auch bei der Kündigung von öffentlich-rechtlichen Verträgen zu berücksichtigen.67 Zu Recht weist Ramsauer darauf hin, dass sich in derartigen Fällen (gesetzliche Aufhebung oder Beschränkung bestehender Verträge) die Frage der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der unmittelbar in die vertraglichen Rechtspositionen eingreifenden Rechtsvorschrift, nicht zuletzt im Blick auf die damit verbundene Rückwirkung, stelle.68 Die gesetzlich veranlasste Kündigung von Verträgen muss also sowohl im Blick auf den Vertrag selbst als auch im Blick auf das dahinterstehende Kündigungsgesetz auch unter rechtsstaatlichen Gesichtspunkten betrachtet werden. Das Grundgesetz und die Landesverfassung verknüpfen das Demokratieprinzip und das Rechtsstaatsprinzip zur rechtsstaatlichen Demokratie. 64

Wie variabel diese Argument ist, zeigt gerade die Landtagswahl 2011. Die Grünen, die einzige Partei, die sich gegen das Bahnprojekt Stuttgart 21 wandte, gewann zwar erheblich an Stimmen, erreichte aber mit 24,2 % bei weitem nicht „die Mehrheit“. 65 Dieser Begriff ist politologisch sinnvoll, aber rechtlich irrelevant 66 Vgl. Maurer, Staatsrecht (Fußn. 1), § 17 Rn. 101 ff. 67 Vgl. dazu auch Hermes/Wieland (Fußn. 56), die ihre These, dass öffentlich-rechtliche Verträge dem rechtsstaatlichen Vorrang des Gesetzes unterworfen sind und daher durch späteres Gesetz unmittelbar aufgehoben werden können, gleich anschließend durch den (allerdings knappen) Hinweis auf die Rückwirkung bzw. den Vertrauensschutz relativieren. 68 Vgl. Ramsauer, in: Kopp/Ramsauer, VwVfG, 11. Aufl. 2010, § 60 Rn. 6 a.

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IV. Die Volksabstimmung aufgrund eines Volksbegehrens 1. Entwicklung Die vom Volk selbst aufgrund eines Volksbegehrens initiierte Volksabstimmung ist in Baden-Württemberg erst spät, 20 Jahre nach Erlass der Landesverfassung, eingeführt worden. Sie hat aber im Südwesten Deutschlands durchaus Tradition. Sowohl die badische Verfassung von 1919 als auch die württembergische Verfassung von 1919 begründeten ein Volksbegehren, das sich sowohl auf den Erlass eines Volksgesetzes als auch gegen ein vom Landtag beschlossenes Gesetz richten konnte, zudem ein Referendum gegen Gesetze des Landtags auf Beschluss der Regierung.69 Nach 1945 kam es in den Verfassungen der Nachfolgeländer zu unterschiedlichen plebiszitären Regelungen. Baden (Südbaden) schloss sich der badischen Verfassung von 1919 im Wesentlichen an.70 Württemberg-Hohenzollern beabsichtigte in gleicher Weise vorzugehen und insoweit die entsprechenden Regelungen der früheren württembergischen Verfassung zu übernehmen, scheiterte aber wegen des Vorbehalts der französischen Besatzungsmacht, so dass nur noch einige Fragmente übrig blieben.71 Dagegen lehnte Württemberg-Baden unter dem Einfluss von Carlo Schmid ein Volksbegehren ab und beschränkte sich auf zwei regierungsinitiierte Volksabstimmungen, die heute noch Vorbild der Art. 60 II, III LVerf. sind.72 Die Initiative zur Einführung eines Volksbegehrens mit anschließender Volksabstimmung ging von der SPD aus, die seit 1960 im Landtag die Opposition bildete. Sie war bei den Beratungen der Landesverfassung 1952/53, als sie noch der Regierungskoalition angehörte, gegen ein Volksbegehren, änderte aber nunmehr ihre Haltung73, während umgekehrt die CDU, die damals als Opposition für das Volksbegehren votierte, nunmehr als Regierungspartei eher zögerlich war, allerdings dann doch – nolens volens74 – nachzog und einen eigenen Entwurf vorlegte.75 Es lässt sich hier – wie 69

Vgl. §§ 6, 21 – 24 Gesetz, die badische Verfassung betreffend vom 21. 03. 1919 (GVBl. S. 279 ff.); §§ 6, 43, 44 Verfassungsurkunde des freien Volksstaates Württemberg vom 23. 05. 1919 (RegBl. S. 281). Die Gesetzestexte sind u. a. abgedruckt bei Wittreck, Weimarer Landesverfassungen, 2004, S. 79 ff., S. 298 ff. 70 Art. 93 IV Verf. (Volksbegehren und Volksabstimmung), Art. 94 Verf. (Referendum) 71 Vgl. Art. 20, 21 Verfassungsentwurf Bock-Niethammer vom 27. 02. 1947, abgedruckt bei Rösslein, Quellen zur Entstehung der Verfassung von Württemberg-Hohenzollern, Teil 1, 2006, S. 567, 571; ferner die Diskussion im Verfassungsausschuss und der Beratenden Landesversammlung, Rösslein aaO., Teil 2, 2008, S. 304 ff., 413 ff. 72 Vgl. dazu bereits oben unter III. 73 Das wird auch vom Berichterstatter der SPD bei den Beratungen ausdrücklich angesprochen, vgl. LT-Verh., 6. Wp. S. 807. 74 Vgl. die Stellungnahme des damaligen Ministerpräsidenten Filbinger, LT-Verh., 6. Wp. S. 812 ff. 75 Gesetzentwurf der SPD-Fraktion vom 04. 12. 1972 LT-Drs. 6/1115; Gesetzentwurf der CDU-Fraktion vom 23. 05. 1973, LT-Drs. 6/2521; Antrag des Ständigen Ausschusses vom 16. 04. 1974, LT-Drs. 6/4828, dem geänderten SPD-Entwurf zuzustimmen und den CDU-

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auch sonst – beobachten, dass die jeweilige Opposition den plebiszitären Rechten gegenüber aufgeschlossener ist als die Regierungsparteien, da man hofft, über tatsächliche oder mögliche Initiativen des Volkes doch noch etwas zu erreichen, zumindest die Regierung in die Enge zu treiben. Die Unterschiede zwischen den beiden Entwürfen waren gering, was in Anbetracht der vergleichbaren Regelungen der anderen Bundesländer auch nicht erstaunlich ist. Sie betrafen vor allem das Zustimmungsquorum, das nach der SPD nur ein Zehntel der Stimmbürger, nach der CDU ein Fünftel der Stimmbürger betragen sollte und schließlich auf ein Sechstel der Stimmbürger festgelegt wurde. Die Neuregelung findet sich zum einen in der Landesverfassung selbst76 und zum anderen im Volksabstimmungsgesetz77 und in der Landesstimmordnung78. 2. Die grundsätzlichen Regelungen der Landesverfassung Art. 59 I LVerf. spricht in seiner Neufassung von 1974 auch dem „Volk“ – neben der Regierung und Abgeordneten des Landtags – das Recht auf Gesetzesinitiative zu. Volksbegehren ist danach der aus dem Volk kommende Antrag auf Durchführung eines Gesetzgebungsverfahrens mit dem Ziel der Verabschiedung eines Gesetzes durch Volksabstimmung. Die Anforderungen an das Volksbegehren ergeben sich aus Art. 59 II LVerf., der (1) einen ausgearbeiteten und begründeten und damit entscheidungsreifen Gesetzentwurf und (2) die Unterstützung dieses Entwurfs durch mindestens einem Sechstel (= 16,66 %) der stimmberechtigten Bürger des Landes verlangt. Entspricht das Volksbegehren diesen Anforderungen, dann ist es von der Regierung unverzüglich mit ihrer Stellungnahme dem Landtag zuzuleiten, der dann drei Möglichkeiten hat (Art. 60 I LVerf.): – Er stimmt dem Gesetzentwurf zu, so dass dieser nunmehr als volksinitiiertes, aber parlamentsbeschlossenes Gesetz erlassen wird; – er stimmt dem Gesetzentwurf nicht oder nicht unverändert zu und macht damit den Weg für die Volksabstimmung frei;

Entwurf für erledigt zu erklären; Verh. des Landtags, 6. Wp. S. 807 ff.; 3486 ff.; Schlenker, Die Änderungen der Verfassung des Landes Baden-Württemberg, VBlBW 1984, S. 12, 13 ff.; Feuchte, Verfassungsgeschichte (Fußn. 3), S. 337. 76 Art. 59 I (Gesetzesinitiative), Art. 59 II (Anforderungen an das Volksbegehren), Art. 59 III (Gesetzesbeschluss), Art. 60 I (Verfahren). 77 Gesetz über Volksabstimmung und Volksbegehren (Volksabstimmungsgesetz – VAbstG) i. d. F. vom 27. 02. 1984 (GBl. S. 178); das Gesetz regelt im 1. Abschnitt den Anwendungsbereich (§ 1), im 2. Abschnitt die Volksabstimmungen (§§ 2 – 24) und im 3. Abschnitt die Volksbegehren (§§ 25 – 39). 78 Verordnung des Innenministeriums zur Durchführung des Volksabstimmungsgesetzes (Landesstimmordnung – LStO) vom 27. 02. 1984, zuletzt geändert durch 3. ÄndVO v. 21. 02. 2000 (GBl. S. 170).

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– er legt anstelle des durch das Volksbegehren beantragten Gesetzes einen eigenen Gesetzentwurf vor, so dass die Stimmbürger nunmehr zwischen zwei alternierenden Gesetzesvorschlägen entscheiden können.79 3. Das Volksbegehren Das Volksbegehren verläuft in zwei Abschnitten. Zunächst muss es staatlich zugelassen werden, um das Volk im Sinnes des Art. 59 I LVerf. personell zu bündeln und zu präzisieren und die Zulässigkeitsvoraussetzungen im konkreten Fall zu prüfen (Zulassungsverfahren). Sodann geht es um die Durchführung des Volksbegehrens und die Feststellung seines Ergebnisses (Durchführungsverfahren). Die Einzelheiten sind in §§ 25 ff. VAbstG und §§ 25 LStO geregelt, auf die hier verwiesen wird. Auf einige wesentliche Punkte soll aber doch noch eingegangen werden. Die Zulassung erfordert einen schriftlichen Antrag, der von mindestens 10.000 stimmberechtigten Bürgern unterzeichnet ist (§ 25 VAbstG). Über den Antrag entscheidet das Innenministerium. Es muss das beantragte Volksbegehren zulassen, wenn (1) der Antrag den formellen Anforderungen entspricht und (2) die Gesetzesvorlage dem Grundgesetz und der Landesverfassung „nicht widerspricht“. Schon aus der negativen Formulierung ergibt sich, dass die Verfassungsmäßigkeit nicht bis ins letzte Detail, sondern mehr überschlägig im Blick auf das Volksbegehren zu prüfen ist. Wird der Antrag abgelehnt, dann ist das Volksbegehren – vorerst – gescheitert. Die Vertrauensleute der Antragsteller können aber dagegen den Staatsgerichtshof anrufen.80 Wenn das Volksbegehren direkt oder über den Staatsgerichtshof zugelassen wird, dann sind die Stimmbürger aufgerufen, das Volksbegehren durch ihre Unterschrift in Eintragungslisten, die bei bestimmten Gemeinden ausliegen, zu unterstützen. Das Volksbegehren ist erfolgreich, wenn sich mindestens ein Sechstel der Stimmbürger in die Listen eingetragen haben. Der Landesabstimmungsausschuss hat die Zahlen zu ermitteln und festzustellen. Seine Feststellung kann wiederum beim Staatgerichtshof angefochten werden (§ 37 II, § 38 VAbstG). 4. Volksabstimmung Die organisatorische Durchführung der Volksabstimmung liegt beim Staat, dessen Organe die erforderlichen Vorkehrungen zu treffen haben. Sie ist im Sinne der Antragsteller erfolgreich, wenn die Mehrheit der abgegebenen gültigen Stimmen dem Gesetzentwurf zustimmt und diese Mehrheit zugleich ein Drittel der stimmbe79

Wenn der Landtag den durch das Volk eingebrachten Gesetzesentwurf ändert, was an sich nicht zulässig ist, dann ist der geänderte Gesetzentwurf als zweite, alternierende Vorlage des Landtags im Sinne des Art. 60 I 2 LVerf. zu behandeln, so § 50 d GeschO des Landtags. 80 § 27 III VAbstG und näher unten.

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rechtigten Bürger erfasst (Art. 60 V LVerf.).81 Es sind also zwei Quoren, ein Abstimmungsquorum und ein Beteiligungsquorum zu beachten. Besondere Probleme ergeben sich, wenn der Landtag einen Alternativentwurf gem. Art. 60 I 2 LVerf. vorlegt. Es bestehen dann drei Entscheidungsmöglichkeiten. Die Regelung des Art. 60 V LVerf., dass bei Volksabstimmungen (nur) mit Ja oder Nein gestimmt wird, greift dann nur noch bedingt. Für diesen Fall bestimmen § 15 II 3 und § 20 VAbstG, dass die Stimmzettel für jede Vorlage eine eigene Fragestellung enthalten muss und dass, wenn beide Gesetzentwürfe die Quoren des Art. 60 V LVerf. erreicht haben, der Entwurf als Gesetz beschlossen ist, für den die meisten Ja-Stimmen abgegeben wurden.82 5. Ausfertigung und Verkündung Die erfolgreiche Volksabstimmung entspricht dem Gesetzesbeschluss des Landtags im parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren. Sie ist der maßgebliche Gesetzgebungsakt, kreiert aber noch kein Gesetz. Vielmehr bedarf der durch die Volksabstimmung angenommene Gesetzentwurf – wie der vom Parlament angenommene Gesetzentwurf – der Ausfertigung durch die Regierung und der Verkündung im Landesgesetzblatt. Maßgebend in Baden-Württemberg ist Art. 63 I LVerf., der bestimmt, dass die verfassungsmäßig zustande gekommenen Gesetze durch den Ministerpräsidenten ausgefertigt und im Gesetzblatt verkündet werden. Er hat dabei kein politisches Ermessen, sondern ist – vorbehaltlich einer etwaigen Prüfungs- und Verwerfungskompetenz – dazu rechtlich verpflichtet. Das gilt sowohl für das parlamentarische Gesetz als auch für das Volksgesetz. V. Rechtsschutz und gerichtliche Kontrolle Abschließend ist noch in der gebotenen Kürze auf den Rechtschutz im plebiszitären Bereich einzugehen. Die Landesverfassung enthält dazu keine ausdrückliche Regelung. Auch der Katalog der Zuständigkeiten des Staatsgerichtshofs (Art. 68 I LVerf.) bringt dazu nichts. Dagegen werden im Volksabstimmungsgesetz eine Reihe fallbezogener Zuständigkeiten des Staatsgerichtshofs begründet.83 Es handelt sich vorwiegend um verfahrensinterne Akte, die z. T. die Frage aufwerfen, ob und

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Vgl. Jung, Stuttgart 21 und die direkte Demokratie, RuP 2012, 11 ff. Vgl. dazu auch Feuchte, Verfassung (Fußn. 3), Art. 60 Rn. 3; Jürgens (Fußn. 3), S. 51. 83 Sie sind im jeweiligen Zusammenhang bereits genannt worden, sollen aber doch noch einmal kurz aufgeführt und ergänzt werden: § 27 III (Ablehnung der Zulassung des Volksbegehrens), §§ 37 II, 38 (Feststellung des Ergebnisses des Volksbegehrens), § 21 (Anfechtung der Volksabstimmung); ferner ist noch auf § 34 hinzuweisen (Ablehnung der Eintragung in die bei den Gemeinden ausliegenden Listen), der allerdings nicht zum Staatsgerichtshof, sondern – konsequent – zum Verwaltungsrechtsweg führt. 82

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inwieweit ihnen auch materiell-rechtliche Bedeutung zukommt.84 Zweckmäßigerweise ist wieder zwischen der regierungsinitiierten Volksabstimmung und der volksinitiierten Volksabstimmung zu unterscheiden. 1. Die regierungsinitiierte Volksabstimmung Sicher kann der Beschluss der Regierung, eine Volksabstimmung über ein vom Landtag beschlossenes Gesetz oder über ein von ihr eingebrachten, aber vom Landtag abgelehnten Gesetzentwurf herbeizuführen, von den stimmberechtigten Bürgern nicht angefochten oder gerichtlich erzwungen werden. Dafür fehlt bereits ein subjektives Recht. Denkbar ist lediglich ein Organstreitverfahren zwischen einer antragsberechtigten Landtagsminderheit und der Regierung, obwohl auch dafür in der Praxis regelmäßig die Voraussetzungen fehlen dürften, zumal die Regierung insoweit einen Ermessensspielraum hat. Dagegen kann nach § 21 VAbstG die (durchgeführte) Volksabstimmung von jedem stimmberechtigten Bürger mittels Einspruchs beim Staatsgerichtshof angefochten werden. Der Staatsgerichtshof hat sie „für ungültig zu erklären“, wenn (1) die Vorbereitung oder Durchführung der Volksabstimmung auf einem Verstoß gegen Vorschriften des Volksabstimmungsgesetzes oder der Stimmordnung, also auf verfahrensrechtlichen Mängeln, beruhen oder wenn (2) sie gegen bestimmte Strafvorschriften verstoßen.85 Im Fall Stuttgart 21 ist der Staatsgerichtshof sowohl vor als auch nach der am 27. 11. 2011 erfolgten Volksabstimmung angerufen worden. Ein stimmberechtigter Bürger wollte schon vorher die Volksabstimmung u. a. im Wege des Organstreitverfahrens verhindern. Für diese Verfahrensart könnte sprechen, dass, wenn das Volk im plebiszitären Bereich als Staatsorgan qualifiziert wird,86 einem Bürger als Teil dieses Organs wenigstens teilweise entsprechende Organrechte zuerkannt werden müssten. Rechtsdogmatisch ist allerdings das Verhältnis zwischen dem Volk als Staatsorgan im plebiszitären Bereich und den einzelnen Bürgern, durch die das Volk gebildet wird, noch nicht geklärt. Der Staatsgerichtshof hat vor allem darauf hingewiesen, dass der Antragssteller de lege lata – nach der prozessualen Ausgestaltung des Organstreitverfahrens – keine Organklagerechte hat und dementsprechend seinen Antrag insoweit als unzulässig verworfen.87 Einige weitere Stimmbürger wollten im Wege der „vorbeugenden Volksentscheidungsanfechtung“ die vorgesehene Volksabstimmung für unzulässig erklären. Auch diesen Antrag hat das Gericht als unzulässig 84 So bei § 27 III und 21 AbstG; vgl. dazu vor allem auch die unten aufgeführte Rechtsprechung des Staatsgerichtshofs. 85 Z. B. § 107 StGB (Wahlbehinderung), § 107 a StGB (Wahlfälschung), § 107 c StGB (Verletzung des Wahlgeheimnisses), § 108 b StGB (Wählerbestechung). 86 Vgl. oben II. 1. 87 Beschluss des Staatsgerichtshofs vom 17. 10. 2011 (Az. 5/11) unter Hinweis auf BVerfGE 60, 175, 201; dort auch zu den weiteren Ablehnungsgründen.

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verworfen, da nach § 21 IV VAbstG nur gegen eine durchgeführte, nicht aber gegen eine zukünftige Volksabstimmung Einspruch eingelegt werden könne.88 89 Nach der am 27. 11. 2011 erfolgten Volksabstimmung gingen eine ganze Reihe von Einsprüchen beim Staatsgerichtshof gem. § 21 VAbstG ein. Sie machten vor allem geltend, dass das S21-Kündigungsgesetz gegen das Grundgesetz und die Landesverfassung verstoße (Bundeskompetenz, unzulässige Mischfinanzierung, unzulässiges Einzelfallgesetz, Rückwirkungsverbot, mangelnde Bestimmtheit und Klarheit, fehlende Kündigungsrechte), ferner dass die Vorbereitung und Durchführung der Volksabstimmung gegen den Straftatbestand der Wählertäuschung und das Sachlichkeits- bzw. Neutralitätsgebot verstoßen habe. Der Staatsgerichtshof hat alle Einsprüche als unzulässig verworfen oder als offensichtlich unbegründet zurückgewiesen.90 Hervorzuheben ist vor allem die Auffassung des Gerichts, dass im Rahmen des § 21 VAbstG die Verfassungswidrigkeit des zur Abstimmung gestellten Gesetzentwurfes nicht geltend gemacht werden könne. Liest man § 21 IV Ziff. 1 VAbstG, dann ergibt sich dies schon aus dem Wortlaut dieser Vorschrift. Er hat nur verfahrensrechtliche, nicht auch materiell-rechtliche Bedeutung. Die Verfassungswidrigkeit des Gesetzentwurfs blieb also offen. Sie kann nicht durch Anfechtung der Volksabstimmung gerügt werden, sie kann auch später im Normenkontrollverfahren, falls ein solches zur Verfügung stünde, nicht geltend gemacht werden, da dieses Gesetze, nicht Gesetzentwürfe, zum Gegenstand hat. Das ist durchaus konsequent, auch ein vom Parlament abgelehnter Gesetzentwurf der Regierung oder einiger Abgeordneter kann nicht später daraufhin überprüft werden, ob er verfassungsgemäß gewesen wäre oder nicht. 2. Die volksinitiierte Volksabstimmung Die Verhältnisse sind bei der durch ein Volksbegehren veranlassten Volksabstimmung etwas komplizierter, da nicht nur die Abstimmung, sondern schon die Zulassung des Volksbegehrens durch den Staatsgerichtshof überprüft werden kann und in diese Prüfung auch die Frage, ob der Gesetzentwurf dem Grundgesetz oder der Landesverfassung widerspricht, einbezogen wird (vgl. § 27 III VAbstG). Wie bereits dargelegt wurde, erfordert § 27 VAbstG keine verfassungsrechtliche Vollprüfung, sondern bildet einen gewissen Filter gegen verfassungsrechtlich ohnehin aussichtslose Volksbegehren. Diese präventive Normenkontrolle richtet sich also nicht gegen Volksgesetze, sondern gegen die Inanspruchnahme eines langwierigen und aufwendigen Verfahrens, das letztlich doch scheitert oder im Sande verläuft. Sie bildet ein gewisses Pendant zur Regierungsvorlage beim Referendum, da dort davon ausgegan88

Beschluss des Staatsgerichtshofs vom 17. 10. 2011 (Az. 6/11). Auch eine Verfassungsbeschwerde beim BVerfG wurde mit knapper Begründung zurückgewiesen, vgl. BVerfG-K, Beschluss vom 21. 11. 2011 (AZ 2BvR 2333/11) juris. 90 Vgl. die Beschlüsse des StGH vom 22. 05. 2012 (Az. 1/11…7/12), ferner die Pressemitteilung des StGH vom 24. 05. 2012 (www.baden-wuerttemberg.de/staatsgerichtshof/). 89

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gen werden kann, dass die Regierung die verfassungsrechtlichen Aspekte geprüft hat. Daraus folgt, dass die verfassungsgerichtliche Entscheidung nach § 27 die spätere Überprüfung des Volksgesetzes im Normenkontrollverfahren91 nicht ausschließt, sondern allenfalls gewisse Entscheidungselemente aus der vorläufigen Prüfung in die endgültige Normenkontrollentscheidung übernimmt. 3. Normenkontrolle Das durch eine Volksabstimmung beschlossene Volksgesetz steht dem parlamentarischen Gesetz gleich. Es kann daher im Wege der direkten oder indirekten Normenkontrolle überprüft werden. Eine Verfassungsbeschwerde zum Staatsgerichtshof besteht allerdings in Baden-Württemberg nicht. Möglich ist aber eine Verfassungsbeschwerde zum BVerfG wegen Verletzung von Bundesgrundrechten. Ferner kommt – je nach Prüfungsmaßstab beim BVerfG oder Staatsgerichtshof – eine inzidente Normenkontrolle, etwa im Wege der konkreten oder abstrakten Normenkontrolle oder im Rahmen eines Organstreitverfahrens in Betracht.

91

Vgl. sogleich unten 3.

Die Landrechts-Freiheiten als Schritt auf dem Weg in den grundrechtsgeprägten Staat Von Detlef Merten, Speyer I. Reichs- und Bundesgrundrechtskataloge erst seit 1919 Die grundgesetzlichen Grundrechte, die schon nach der Vorstellung der Verfassungsväter „das Grundgesetz regieren“1 sollten, haben eingedenk der Verfassungssynthese von „Herrschafts- und Freiheitsordnung“2 Deutschland zwar nicht zu einem „Grundrechtsstaat“3, wohl aber insbesondere wegen Art. 1 Abs. 3 GG zu einem „grundrechtsgeprägten“4 Staat gemacht. Der Erfolg dieser Grundrechte „made in Germany“, die zu ihrer Entstehungszeit eine moderne Freiheitskodifikation darstellten und zum Vorbild für Freiheitskataloge anderer Staaten wurden, verdecken den Blick darauf, dass Deutschland zuvor auf Reichsebene erst 1919 einen Grundrechtskatalog geschaffen hatte. Dieser wurde zwar nicht zur Gänze, aber im Wesentlichen5 1933 aufgrund der sogenannten Reichstagsbrandverordnung6 „bis auf weiteres außer Kraft gesetzt“ und erscheint als Symbol der „Verfassungsvernichtung“7. 1

So der Abgeordnete Dr. Carlo Schmid (SPD) in der 2. Sitzung des Parlamentarischen Rates vom 8. 9. 1948, Sten. Ber. S. 14. 2 Klaus Stern, Die Verbindung von Verfassungsidee und Grundrechtsidee zur modernen Verfassung, in: Staatsorganisation und Staatsfunktionen im Wandel, FS Eichenberger, 1982, S. 197 (205); ders., Grundideen europäisch-amerikanischer Verfassungsstaatlichkeit, 1984, S. 20 ff.; ders., in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band V, 2. Aufl. 1992, § 108 Rn. 52, 69 sowie 32 ff.; ders., Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/1, 1988, § 72 I 1, S. 1178. 3 So Häberle, VVDStRL 30 (1972), S. 88 Fn. 192; s. auch Isensee, Das Dilemma der Freiheit im Grundrechtsstaat, FS M. Heckel, 1999, S. 379; ders., in: Zur Regierbarkeit der parlamentarischen Demokratie, Cappenberger Gespräche 14 (1979), S. 25 f.; ders., in: Isensee/Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. IX (1997), § 202 Rn. 5, S. 9; Jestaedt, in: Journal für Rechtspolitik, 2000, S. 99 (101). 4 In Anlehnung an Michael Sachs/Helmut Siekmann (Hg.), Der grundrechtsgeprägte Verfassungsstaat, FS Klaus Stern zum 80. Geburtstag, 2012. 5 Nämlich hinsichtlich der in Art. 48 Abs. 2 Satz 2 WRV aufgeführten und damit nicht notstandsfesten Grundrechte. 6 § 1 der Verordnung des Reichspräsidenten von Hindenburg zum Schutz von Volk und Staat vom 28. 2. 1933 (RGBl. I S. 83), auch abgedr. in: Ernst Rudolf Huber (Hg.), Dokumente, Bd. IV, 3. Aufl., 1992, Nr. 530, S. 663. 7 So Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. VII, 1984, S. 1266.

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Damit war das Ende der (nunmehr suspendierten) Reichsgrundrechte, die weniger als vierzehn Jahre wirksam waren, ebenso unrühmlich wie der Anfang schwierig war. 1. Das Zögern von Hugo Preuß Zwar verkündet der „Rat der Volksbeauftragten“ in einem Aufruf vom 12. November 1918 das Vereins- und Versammlungsrecht sowie die Freiheit der Meinungsäußerung und der Religionsausübung „mit Gesetzeskraft“8. Dagegen sieht der von Ebert zum Staatssekretär des Innern berufenen Hugo Preuß in seinem ersten „Entwurf der künftigen Reichsverfassung (allgemeiner Teil)“9 weder einen Freiheitskatalog noch die klassischen Grundrechte vor, sondern beschränkt sich auf Gleichheit sowie Glaubens- und Gewissensfreiheit für Deutsche und Rechte für „fremdsprachliche Volksteile“10. Ebert kann sich zwar mit seiner Forderung, aus „taktischen und politischen Gründen“ Grundrechte wie „persönliche Freiheit, Freiheit der Wissenschaft in ihrer Lehre, Gewerbefreiheit, Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit, Koalitionsfreiheit usw.“ in den Entwurf aufzunehmen11, gegen Preuß durchsetzen, ihn aber nicht überzeugen. Der Staatssekretär hält die Änderungen „nicht für Verbesserungen“ und will „nicht allein für sie verantwortlich zeichnen“12, wie er dann auch später vor der Nationalversammlung die Übernahme der „Vaterschaft der Grundrechte“ ablehnt13. 2. Konglomerat Weimarer Grundrechte Ungeachtet dessen werden die Pläne umgearbeitet, so dass schon der auch im Reichsanzeiger veröffentlichte Entwurf II14 einen, wenn auch „schmalen Grund8

Aufruf des Rates der Volksbeauftragten an das deutsche Volk vom 12. 11. 1918 (RGBl. S. 1303), auch abgedr. in: Ernst Rudolf Huber (Hg.), Dokumente Bd. IV (Fn. 7), Nr. 7, S. 6 f. 9 Vom 3. 1. 1919, abgedr. in: Heinrich Triepel (Hg.), Quellensammlung zum Deutschen Reichsstaatsrecht, 4. Aufl., 1926, S. 6. 10 Vgl. Willibald Apelt, Geschichte der Weimarer Reichsverfassung, 2. Aufl., 1964, S. 59; Günther Gillessen, Hugo Preuß, Studien zur Ideen- und Verfassungsgeschichte der Weimarer Republik, Diss. Freiburg (Breisgau), 1955, Schriften zur Verfassungsgeschichte, Bd. 60, 2000, S. 108. 11 Vgl. Beratung des Entwurfs der künftigen Reichsverfassung vom 14. 1. 1919, Protokoll abgedr. in: Susanne Miller (Bearb.), Die Regierung der Volksbeauftragten 1918/19, Zweiter Teil, Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, Bd. 6/II, 1969, S. 237 (240); vgl. auch Jasper Mauersberg, Ideen und Konzeption Hugo Preuß’ für die Verfassung der deutschen Republik 1919 und ihre Durchsetzung im Verfassungswerk von Weimar, 1991, S. 122 ff. 12 S. Miller, a.a.O., S. 246; vgl. auch Mauersberg, a.a.O., S. 123. 13 In der 54. Sitzung vom 11. 7. 1919, abgedr. in: Ed. Heilfron (Hg.), Die Deutsche Nationalversammlung im Jahre 1919/20 in ihrer Arbeit für den Aufbau des neuen deutschen Volksstaates, o. J., Bd. IV, S. 274 (289). 14 Deutscher Reichsanzeiger 1919, Nr. 15, Erste Beilage; auch abgedr. in: Triepel (Fn. 9), S. 10.

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rechtskatalog“15 enthält. Dieser weitet sich im Laufe der Beratungen vor allem im Verfassungsausschuss zu einem opulenten Zweiten Hauptteil „Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen“ aus, so dass die Verfassung „fast die Hälfte ihrer Artikel auf die Grundrechte verwendet“16. Schon in den Verhandlungen wird die Vermischung von Rechtssätzen, Programmbestimmungen, Verheißungen und Gesetzesrichtlinien gerügt, wodurch der Katalog als „Enzyklopädie des deutschen Rechtslebens“ erscheint17. Dennoch können die Grundrechte der Weimarer Reichsverfassung nicht pauschal als Programmsätze angesehen werden18, da die Reichsverfassung im Rahmen gestufter Garantieintensität19 „reichsverfassungskräftige“ Grundrechte kennt, die durch einfaches Parlamentsgesetz nicht beschränkbar sind. Insgesamt aber hatte sich Deutschland, das schon die Reichseinheit als „verspätete Nation“ errungen hatte20, mit der Konstituierung von Reichsfreiheiten weiter verspätet. 3. Der deutsche Weg in der Grundrechtsgeschichte Mangels nationaler Einheit konnte der deutsche Beitrag zur europäisch-amerikanischen Entwicklung der Menschenrechte und Freiheiten nur über die Einzelstaaten erfolgen, die in der Periode der grundrechtlichen „Hauptgeschichte“21 und danach in Staatenverbindungen unterschiedlicher Art (Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation, Rheinbund, Deutscher Bund, Deutsches Reich) eingebunden waren. Insoweit bestehen Parallelen zur nordamerikanischen Entwicklung, weil auch hier zunächst die Einzelstaaten, die sich zu einem losen Staatenbund mit einem gemeinsamen Kongress zusammengeschlossen hatten, „Bill of Rights“ oder „Declaration of Rights“ erließen, während der Bundesverfassung von 1787 ein Rechtekatalog mangelte und ihr erst 1791 sogenannte Amendments angefügt wurden, die jedoch nicht

15 Klaus Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. V, 2000, § 129 IV 1 d, S. 560. 16 Triepel, in: VVDStRL 4 (1928), S. 89 (Diskussionsbeitrag). 17 So der Abg. Dr. Heinze in der 54. Sitzung der Nationalversammlung vom 11. 7. 1919, Sten. Ber., S. 1498 f. 18 Hierzu Horst Dreier, Gerhard Anschütz (1867 – 1948): Staatsrechtslehrer in Zeiten des Umbruchs, in: Peter Ulmer (Hg.), Geistes- und Sozialwissenschaften in den 20er Jahren: Heidelberger Impulse, 1998, S. 89 (119); ders., Die Zwischenkriegszeit, in: Detlef Merten/ Hans-Jürgen Papier (Hg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. I, 2004, § 4 Rn. 12 ff. 19 Grundlegend Richard Thoma, Grundrechte und Polizeigewalt, Festgabe zur Feier des fünfzigjährigen Bestehens des preußischen OVG, 1925, S. 183, insb. S. 191 ff. 20 Hierzu Helmuth Plessner, Die verspätete Nation, in: ders.: Gesammelte Schriften, hg. von Günter Dux u. a., Bd. VI, 1982; vgl. in diesem Zusammenhang auch Gerhard Ritter, Europa und die deutsche Frage, 1948, S. 194 ff. 21 Zur Einteilung der Entwicklung in vier Perioden Stern, Staatsrecht. Bd. III/1 (Fn. 2), § 59 I 6, S. 56; ders., Grundideen europäisch-amerikanischer Verfassungsstaatlichkeit, 1984, S. 16.

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umfassend, sondern ekletisch konzipiert waren und im Wesentlichen Prozessrechte betrafen. II. Das Ende des 18. Jahrhunderts als grundrechtliche „Hauptgeschichte“ 1. Nordamerikanische und französische Wurzeln Mit den Rechte-Erklärungen der amerikanischen Einzelstaaten, beginnend mit der „Virginia Declaration of Rights“ vom Juni 177622 einschließlich der nordamerikanischen „Declaration of Independance“23 vom selben Jahre sowie der französischen Menschenrechtserklärung von 1789, tritt die Anerkennung der Menschenrechte in ein „entscheidendes Stadium“24, das fast genau das letzte Viertel des 18. Jahrhunderts währt. Denn die französische Konsulatsverfassung von 1799 und die folgenden Verfassungen unter der Militärdiktatur und Militärmonarchie Napoleons enthalten keine Menschenrechtserklärungen mehr, wie sich überhaupt die europäischen Konstitutionen des 19. Jahrhunderts als Reaktion auf die terreur der französischen Revolution und als Zeichen der Nationalstaatlichkeit darauf beschränken, Individualfreiheiten im allgemeinen ihren eigenen Staatsangehörigen vorzubehalten. Dass die nordamerikanischen Rechte-Erklärungen auch die französische Menschenrechtserklärung von 1789 beeinflusst haben, ist unbestreitbar25. Ob mit der zeitlichen Priorität eine inhaltliche einhergeht und welche Rechte-Erklärungen den größeren Einfluss auf die Entwicklung der Menschenrechte gehabt haben, ist eine Streitfrage, die Anfang des 20. Jahrhunderts zu einer Kontroverse zwischen Georg Jellinek und Emil Boutmy geführt hatte, heute aber von geringerer Bedeutung ist26. Ungeachtet dessen ist die These Boutmys, die Erklärung von 1789 habe ihren Ursprung im „Contrat Social“ Rousseaus, zu einseitig und ideengeschichtlich verkürzt.

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Abgedr. in: Bernard Schwartz, The Bill of Rights: Documentary history, Vol. I, 1971, S. 234 ff. 23 Abgedr. in: Schwartz, a.a.O., S. 251. 24 So Planitz, Zur Ideengeschichte der Grundrechte, in: Hans Carl Nipperdey, Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Bd. III, 1930, S. 597 (605). 25 Hierzu Georg Jellinek, La déclaration des droits de l’homme et du citoyen. Réponse de M. Jellinek à M. Boutmy, in: ders., Ausgewählte Schriften und Reden, Bd. II, 1911, S. 64 (68 ff.); deutsch in: Roman Schnur (Hg.), Zur Geschichte der Erklärung der Menschenrechte, 1964, S. 113 (116 ff.). 26 Ebenso Klaus Stern, Grundideen (Fn. 2), S. 17.

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2. Naturrechtliches und aufklärungsphilosophisches Fundament der Menschenrechte Zwar finden sich für Art. 1 Satz 1 der französischen Menschenrechtserklärung, wonach die Menschen von Geburt frei und gleich sind27, Belege in den Publikationen Rousseaus, vor allem in dem berühmten Eingangssatz des ersten Kapitels des „Contrat Social“28. Aber dass „von Natur … alle Menschen frey …“ und dass sie „als Menschen von Natur einander gleich“ sind, hatte schon der Philosoph Christian Wolff29 verkündet, den Friedrich der Große früh gelesen30 und den er kurz nach seinem Regierungsantritt 1740 als Professor nach Halle zurückgeholt hatte31. Der Frühaufklärer Montesquieu hatte darauf verwiesen, dass die Menschen im Naturzustand in Gleichheit geboren werden, diese aber durch die Gesellschaft verlieren und nur durch die Gesetze wieder gleich werden32. Friedrich der Große, schon als Kronprinz von der natürlichen Gleichheit aller Menschen überzeugt, schreibt 1736 in Versform an seinen Bruder August Wilhelm, dass alle Menschen eines Vaters seien und eine Familie bildeten und fährt fort: „Ils sont nés vos égaux, ils sont de votre sang“33. In seinen Schriften sieht er im Fürsten nur einen Menschen „comme le moindre de ses sujets“34 und in seinen Cabinets-Ordres bekundet er, dass in seinen Augen „ein armer Bauer eben so viel gilt wie der vornehmste Graf und der reichste Edelmann“35 und „daß der geringste Bauer, ja was noch mehr ist, der Bettler eben sowohl ein Mensch ist wie seine Majestät sind“36. Selbst die Ketten-Metapher, die Rousseaus Eingangskapitel 27 Abgedr. in: Jacques Godechot (Hg.), Les constitutions de la France depuis 1789, 1970, S. 33. 28 Abgedr. in: Œuvres complètes, Bd. III, Édition Gallimard, 1964, S. 351 ; vgl. ferner Discours sur l’origine, et les fondements de l’inégalité parmi les hommes, préface, abgedr. ebd., S. 122 (123): „… les hommes lesquels d’un commune aveu sont naturellement aussi égaux entr’eux …“. 29 Grundsätze des Natur- und Völkerrechts, …, Halle 1754 (ND 1980), §§ 77, 70. 30 Johannes Kunisch, Friedrich der Große, 2004, S. 93 f. 31 Gerd Kleinheyer/Jan Schröder (Hg.), Deutsche und europäische Juristen aus neun Jahrhunderten, 5. Auflage, 2008, S. 464 (467 ; s. auch Heinrich Rüttke (Hg.), Christian Wolffs eigene Lebensbeschreibung, hg. mit einer Abhandlung über Wolff, Leipzig, 1841 (ND1982), S. 186 ff. 32 De l’esprit des lois, L. VIII, chap. 3: „Dans l’état de nature, les hommes naissent bien dans l’égalité … la société la leur fait perdre, et ils ne redeviennent égaux que par les lois“, abgedr. in: ders., Œuvres complètes, Bd. II, Édition Gallimard, 1951, S. 352. 33 Épitre à mon frère de Prusse, abgedr. in: Johann David Erdmann Preuß, Œuvres de Frédéric le Grand, Bd. X, S. 57 (59). 34 Essai sur les formes de gouvernement et sur les devoirs des souverains, abgedr. in: Preuß (Fn. 33), Bd. IX, S. 193 (208). 35 Cabinets-Ordre vom 7. 11. 1777 an die Staats- und Justizminister, abgedr. in: Rudolph Stadelmann (Hg.), Preußens Könige in ihrer Thätigkeit für die Landescultur, 2. Theil, Friedrich der Große, Publicationen aus den k. preußischen Staatsarchiven, Bd. XI, Nr. 410, S. 487. 36 Protokoll vom 11. 12. 1779 wegen besserer Justizpflege, abgedr. in: Peter Baumgart/ Gerhard Heinrich (Bearb.), Acta Borussica, Denkmäler der preußischen Staatsverwaltung im

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des „Contrat Social“ so einprägsam macht („L’homme est né libre, et partout il est dans les fers“) hatte Friedrich im Antimachiavel mit den Worten vorweggenommen „… Car, comme nous naissons sans chaînes, nous prétendons vivre sans contrainte“37. Knapp fünfzig Jahre zuvor hatte John Locke in seinen „Two treatises of Government“38 den Naturzustand der Menschen als einen „Zustand vollkommener Freiheit“ und einen „Zustand der Gleichheit“ charakterisiert, wie auch Samuel von Pufendorf in seinem 1673 veröffentlichten Naturrechtskompendium „De officio hominis …“ ihn als „natürliche Freiheit“ beschreibt39 und aus der „natürlichen Gleichheit der Menschen“ die Pflicht ableitet, „dass jeder jeden anderen Menschen als jemanden, der ihm von Natur aus gleich ist und in gleicher Weise Mensch ist, ansieht und behandelt“40. Auch die Rechte-Erklärungen vieler nordamerikanischer Einzelstaaten heben in gleicher oder ähnlicher Formulierung als Einleitungsartikel hervor, „that all men are by nature equally free and independant, and have certain inherent natural rights …“41, wozu sich auch die Unabhängigkeitserklärung von 1776 bekennt42. Aus den Textübereinstimmungen zwischen den nordamerikanischen Rechte-Erklärungen und der französischen Menschenrechtserklärung von 1789 folgt nicht zwingend eine unmittelbare Übernahme. Wahrscheinlicher ist, dass die Textverfasser von dem gemeinsamen Fundament der Naturrechtslehrer und Aufklärungsphilosophen ausgehen und auch die englischen Gewährleistungen im 17. Jahrhundert berücksichtigen. Dabei reiht sich Rousseau in die Liste der Aufklärungsphilosophen ein, ohne dass sein „Contrat Social“ zum Ursprungsdokument der französischen Menschenrechtserklärung wird, zumal sich der Autor „als Apostel einer allgemeinen Freiheit und nicht von besonderen Freiheiten“ verstand, wie Georg Jellinek43 richtig bemerkt. 18. Jahrhundert. Die Behördenorganisation und die allgemeine Staatsverwaltung Preußens im 18. Jahrhundert, Bd. XVI, 2. Teil, 1982, Nr. 450, S. 575 (576 f.). 37 L’Antimachiavel, ou l’examen du prince de Machiavel, et réfutation du prince de Machiavel, abgedr. in: Preuß, Œuvres (Fn. 33), Bd. VIII, S. 59 (91, 1. Absatz). 38 1690; II, 2. Kap., § 4; s. auch 8. Kap., § 95. 39 s. Klaus Luig (Hg.), Samuel von Pufendorf, Über die Pflicht des Menschen und des Bürgers nach dem Gesetz der Natur, 1994, 2. Buch, Kap. I: Über die Menschen im Naturzustand, § 8, S. 143. 40 Pufendorf, a.a.O., 1. Buch, Kap. 7: Über die Anerkennung der natürlichen Gleichheit der Menschen, § 1, S. 78. 41 Virginia Declaration of Rights, 1776, abgedr. in: Schwartz (Hg.), The Bill of Rights, Bd. I (Fn. 22), S. 234; Pennsylvania Declaration of Rights, 1776, ebd. S. 264; Vermont Declaration of Rights, 1777, ebd. S. 322; Massachusetts Declaration of Rights, 1780, ebd. S. 340; New Hampshire Bill of Rights, 1783, ebd. S. 375. 42 Abgedr. bei Schwartz, a.a.O. S. 252. 43 Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte. Antwort an Emile Boutmy, in: Roman Schnur (Hg.), Zur Geschichte der Erklärung der Menschenrechte, 1964, S. 113 (115).

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In welch übereinstimmender Weise sich die nordamerikanische und die französische Verfassungsentwicklung auf dieselben geistesgeschichtlichen Ideen stützte, zeigt das Beispiel Montesquieu. Ihm hat die französische Déclaration in Art. 16 beinahe lehrbuchartig ein Denkmal gesetzt, wenn sie dekretiert, dass eine Gesellschaft, in der die Verbürgung der Rechte nicht gesichert und „la séparation des pouvoirs“ nicht festgelegt ist, keine Verfassung hat. Montesquieus Definition der persönlichen (Handlungs-)Freiheit, „la liberté est le droit de faire tout ce que les lois permettent“44, kehrt die Déclaration in einer Art Rollentausch um, so dass nunmehr „alles, was nicht durch Gesetz verboten ist, … nicht verhindert werden“ kann (Art. 5 Satz 2). Die Gewaltenteilungslehre Montesquieus hat auch die Rechte-Erklärungen der amerikanischen Einzelstaaten beeinflusst. Wörtlich übereinstimmend oder zumindest inhaltlich ähnlich statuieren sie, „that the legislative executive and judicial power of government, ought to be for ever separate and distinct from each other“45. Das Ziel dieser Gewaltenteilung nennt Art. 30 der Massachusetts Declaration of Rights von 1780: „To the end it may be a government of laws and not of men“46. 3. Kreis der natürlichen Menschenrechte Über den Kreis der natürlichen und angeborenen Menschenrechte besteht weitgehend Einigkeit zwischen der Aufklärungsphilosophie, den nordamerikanischen Rechte-Erklärungen und der französischen Déclaration. Locke hatte unter dem Oberbegriff „property“ „life, liberty and estate“ als natürliche und von der Gemeinschaft zu schützende Rechte zusammengefasst47. Christian Wolff sieht die natürliche Gleichheit, die Freiheit und das Recht der Sicherheit als angeborene Rechte an48. In den nordamerikanischen Rechte-Erklärungen werden vielfach der „Genuss des Lebens und der Freiheit, die Mittel zum Erwerb und Besitz von Eigentum und das Erstreben und Erlangen von Glück und Sicherheit“ als „angeborene Rechte“ aufge-

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De l’Esprit des lois, XI, 3. So Art. 6 der Maryland Declaration of Rights, 1776, abgedr. bei: Schwartz, The Bill of Rights, Bd. I (Fn. 22), S. 280 (281); wörtlich nahezu gleichlautend Art. IV der North Carolina Declaration of Rights, 1776, abgedr. bei Schwartz, a.a.O., S. 286; ähnlich Art. 1 der Georgia Constitution, 1777, abgedr. bei Schwartz, a.a.O., S. 291 (292); s. ferner Art. 30 der Massachusetts Declaration of Rights, 1780, abgedr. bei Schwartz, a.a.O., S. 339 (344); vgl. auch den Essex Result, 1778, Nr. 4, abgedr. bei Schwartz, a.a.O., S. 344 (353). In Virginia hatte die Declaration of Rights vom 12. 6. 1776 in Art. 5 Satz 1 zunächst nur vorgesehen, dass die legislative und exekutive Gewalt von der judikativen getrennt und unterschieden werden sollten. Die Konstitution vom 29. 6. 1776 enthält dann nähere Ausführungen, vgl. hierzu auch Hermann Knust, Montesquieu und die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika, 1922, S. 59. 46 Abgedr. bei Schwartz, a.a.O., S. 339 (344). 47 Two treatises, II, § 87; hierzu auch Rolf Meyer, Eigentum, Repräsentation und Gewaltenteilung in der politischen Theorie von Johne Locke, 1991, S. 51 ff. 48 Christian Wolff, Grundsätze des Natur- und Völkerrechts (Fn. 29), § 95. 45

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führt49. Die französische Menschenrechtserklärung von 1789 zählt in ihrem Art. 2 Satz 2 zu den natürlichen und unveräußerlichen Menschenrechten „la liberté, la propriété, la sûreté et la résistance à l’oppression“50. III. Die Bedeutung des Preußischen Allgemeinen Landrechts für die Grundrechtsentwicklung Zu Recht stellt der Jubilar das Preußische Allgemeine Landrecht im Hinblick auf den „rechtliche[n] Schutz von Freiheit“ in eine Reihe mit den nordamerikanischen Rechte-Erklärungen und der französischen Menschenrechtserklärung von 178951, wie auch das sogenannte Josephinische Gesetzbuch von 1786 und das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch für die deutschen Erblande von 1811 auf denselben staatstheoretischen und aufklärungsphilosophischen Fundamenten ruhen. 1. Freiheitsgewähr Das Allgemeine Landrecht bekennt sich zu den „allgemeinen Rechten des Menschen“ (§ 83 Einl. ALR) bzw. „der Menschheit“ (§ 10 I 1 ALR) sowie zur „natürliche[n] Freyheit, sein eignes Wohl ohne Kränkung der Rechte eines andern suchen und befördern zu können“ (§ 83 Einl. ALR), womit der naturrechtliche Charakter der Menschenrechte wie in den anderen Rechteerklärungen anerkannt werden soll. Nach Svarez52 sind diese allgemeinen Rechte „schon natürlichen Rechtens und gehören zu denjenigen, denen die positiven Gesetze durch ausdrückliche Erklärung des Willens des Gesetzgebers nur noch mehrere Gewißheit und Festigkeit gegeben haben“. Im übrigen werden auch die Gutsuntertanen außerhalb der Rechtsbeziehung zu ihrem Gut „als freye Bürger des Staats angesehen“, die „gleich andern Bürgern des Staats, freyes Vermögen erwerben und besitzen“ können (§§ 147, 240 II 7 ALR). Die natürliche Gleichheit wird dadurch anerkannt, dass gemäß § 22 der Einleitung53 die Gesetze alle Mitglieder des Staats „ohne Unterschied des Standes, Ranges 49

Vgl. Art. 1 der Virginia Declaration of Rights, 1776, abgedr. in: Schwartz, The Bill of Rights, Bd, I (Fn. 22), S. 234; ähnlich Abschn. I der Pennsylvania Declaration of Rights, 1776, abgedr. in: Schwartz, a.a.O., S. 263 sowie Art. 1 der Declaration of Rights of Massachusetts, abgedr. in: Schwartz, a.a.O., S. 370. 50 In Art. 17 wird das Eigentum zusätzlich als „droit inviolable et sacré“ bezeichnet; s. auch die Menschenrechtserklärungen in den französischen Verfassungen vom 24. 6. 1793 und 22. 8. 1795, abgedr. bei Godechot (Fn. 27), S. 79 (80) sowie S. 101. 51 Thomas Würtenberger, Von der Aufklärung zum Vormärz, in: Merten/Papier (Hg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. I: Entwicklung und Grundlagen, 2004, § 2 Rn. 11. 52 Die Kronprinzenvorlesungen 1791/1792, in: Peter Krause (Hg.), Carl Gottlieb Svarez, Gesammelte Schriften, Bd. 4.2, 2000, S. 630. 53 Wörtlich fast gleichlautend § 22 der Einleitung des Entwurfs eines allgemeinen Gesetzbuchs für die Preußischen Staaten, 1784, sowie gleichlautend mit dem ALR § 26 des Allgemeinen Gesetzbuchs für die preußischen Staaten, 1791.

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und Geschlechts“ „verbinden“. Darüber hinaus führt das Landrecht die Gleichberechtigung ein, indem es „die Rechte beyder Geschlechter“ für „einander gleich“ erklärt (§ 24 I 1 ALR)54. Die Gleichheit besteht auch in prozessualer Hinsicht, weil jeder mit dem „Oberhaupte des Staats“ vor den ordentlichen Gerichten streiten darf (§ 80 Einl.). Preußischer Tradition entsprechend gewährleistet das Landrecht sowohl die individuelle als auch die kollektive Religionsfreiheit55 in eingehender Ausgestaltung (§§ 1 ff. II 11), wobei auch die negative Komponente einbezogen wird (§ 8 II 11). Ehezwang durch Eltern wird untersagt (§ 119 II 2), die Assoziationsfreiheit für erlaubte Gesellschaften gewährleistet (§§ 1 ff. II 6). Für die Auswanderungsfreiheit bleibt der Erlaubnisvorbehalt bestehen (§ 127 II 17)56. Der Eigentumsschutz findet, wie der Jubilar zu Recht feststellt57, „in klassischer Formulierung“ Eingang in das Allgemeine Landrecht. Das Eigentum, auch in der Form der Eigentumserwerbsfreiheit (§ 6 I 8) – diese allerdings mit ständischen Beschränkungen – sowie der Baufreiheit (§ 65 I 8) wird in zahlreichen detaillierten Bestimmungen gesichert, die Eigentumsnutzung wird durch Gebote und Verbote, z. B. die Untersagung des Raubbaus (§§ 206 ff. II 16), ergänzt und beschränkt, wobei in moderner Terminologie die Sozialpflichtigkeit des Eigentums ausgestaltet wird. Im übrigen wird bereits ein Vorbehalt des Gesetzes mit den Worten statuiert, dass „Einschränkungen des Eigentums, welche nicht aus besondern wohlerworbenen Rechten eines andern entspringen, nur durch Gesetz begründet werden“ können (§ 32 I 8). Mit der Entschädigungspflicht bei Aufopferung (§ 75 Einl.) nimmt das Landrecht eine Vorreiterrolle ein58. Auch Privilegien darf der Staat „nur aus überwiegenden Gründen des gemeinen Wohls und nur gegen hinlängliche Entschädigung“ aufheben (§ 70 Einl.), wobei diese „nicht anders als durch Vertrag, oder durch rechtliches Erkenntniß festgesetzt“ wird (§ 71 Einl.). Damit wird ein Richtervorbehalt für die Entschädigungsfestsetzung begründet, wie er sich heute in Art. 14 Abs. 3 Satz 3 GG in abgeschwächter Form findet. 54 Vgl. hierzu auch Hermann Conrad, Die Rechtsstellung der Ehefrau in der Privatrechtsgesetzgebung der Aufklärungszeit, in: Aus Mittelalter und Neuzeit, Festschrift Kallen, 1957, S. 260; Susanne Weber-Will, Die rechtliche Stellung der Frau im Privatrecht des Preußischen Allgemeinen Landrechts von 1794, 1983. 55 Vgl. hierzu auch Birtsch, Religions- und Gewissensfreiheit in Preußen von 1780 bis 1817, in: Zeitschrift für historische Forschung 11 (1984), S. 177 ff. 56 Zuvor war sie in § 55 Einl. des Gesetzbuch-Entwurfs geregelt. Heftige Kritik: Birtsch, HZ 208 (1969), S. 291 f. 57 Thomas Würtenberger, Der Schutz von Eigentum und Freiheit im ausgehenden 18. Jahrhundert, in: Walther Gose/ders., Zur Ideen- und Rezeptionsgeschichte des Preußischen Allgemeinen Landrechts. Trierer Symposion zum 250. Geburtstag von Carl Gottlieb Svarez, 1999, S. 55 (58). 58 Vgl. auch BGHZ 6, 271 (275 f., 278); 90, 17 (31); 91, 20 (28); 102, 350 (357); 111, 349 (352); s. ferner Jürgen von Gerlach, Das Fortleben des Preußischen Allgemeinen Landrechts in der heutigen Rechtsprechung, in: Jörg Wolff (Hg.), Das Preußische Allgemeine Landrecht, 1995, S. 265 (267 ff.).

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Der schon für Eigentumsbeschränkungen vorgesehene Vorbehalt des Gesetzes findet sich in § 87 Einl. auch für die Freiheit, weil Handlungen, welche weder durch natürliche noch durch positive Gesetze verboten werden, erlaubt sind59. Somit bedürfen Beschränkungen der Handlungsfreiheit eines staatlichen Gesetzes60, ähnlich wie auch Art. 5 Satz 2 der französischen Menschenrechtserklärung bestimmt, dass „alles, was nicht durch Gesetz verboten ist, … nicht verhindert werden“ kann und niemand gezwungen werden kann zu tun, was es nicht befiehlt. Insgesamt entbehren die Rechte und Freiheiten des Allgemeinen Landrechts allerdings einer Zusammenführung in Form eines Katalogs, was eine der Ursachen sein mag, weshalb sie in der Darstellung der Rechte-Kataloge des 18. Jahrhunderts oft unerwähnt bleiben. 2. Fehlender Grundrechtscharakter? a) Begriff der „Grundrechte“ Dem entscheidenden Einwand, den Rechten des Allgemeinen Landrechts mangele der Grundrechtscharakter61, kann nicht in ausreichender Weise mit dem Hinweis begegnet werden, dass der Begriff „Grundrechte“ sich erst bei den Beratungen der Frankfurter Reichsverfassung in der Paulskirche durchsetzt62, während er davor – soweit ersichtlich – nur in einem Untertitel der Grundordnung der Quäker 1677 in New Jersey63 als „Fundamentall Laws“ und 1771 in einem Lehrbuch der praktischen Philosophie des Göttinger Professors Johann Georg Heinrich Feder als Paragraphenüberschrift „Vollkommene Grund-Rechte und Grund-Pflichten der Menschheit“ erscheint64. Die nordamerikanischen Rechte-Erklärungen enthalten also keine authentischen „Grundrechte“, sondern haben diese aus der Hand deutscher Übersetzer erhalten65. Nun kann man zwar auch später geprägte Begriffe in die Vergangenheit transponieren, um Gemeinsamkeiten herauszustellen, die Klaus Stern66 in dem zur neuen Legitimationsgrundlage gewordenen Grundrechtskonstitutionalismus sieht. b) Das Landrecht als Konstitutionsurkunde? Heutzutage unerlässliches Begriffsmerkmal der Grundrechte, ist gerade der Verfassungsrang für die Rechte des Allgemeinen Landrechts fraglich. Zwar hatte schon 59

Hierzu zutreffend Gerd Kleinheyer, Staat und Bürger im Recht, 1959, S. 61. Vgl. auch § 94 Einl. AGB. 61 Stern, Staatsrecht III/1 (Fn. 2), § 59 V 2, S. 104. 62 s. Merten, Begriff und Abgrenzung der Grundrechte, in: ders./Papier (Hg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. II, 2006, § 35 Rn. 21 ff. 63 Abgedr. bei Schwartz (Fn. 22), S. 125 ff.; hierauf weist auch Stern, Grundideen (Fn. 2), S. 18, hin; vgl. auch Merten, a.a.O., § 35 Rn. 9, S. 481 f. 64 Hierzu Merten, a.a.O., § 35 Rn. 20, S. 492 f. 65 Vgl. Günther Franz (Hg.), Staatsverfassungen, 2. Aufl., 1964, S. 7. 66 Grundideen (Fn. 2), S. 21. 60

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Friedrich der Große 1746 von Cocceji ein deutsches Landrecht begehrt, welches sich „bloß auf die Vernunft und Landesverfassung“ gründet67. Auch in seiner Ordre von 1780 zur Schaffung eines allgemeinen Gesetzbuchs68 soll als Grundlage „nur das Wesentliche mit dem Naturgesetz und der heutigen Verfassung übereinstimmende“ aus dem Corpus Juris abstrahiert werden. Allerdings meint „Verfassung“ in diesem Zusammenhang wohl den Seins-Zustand des preußischen Staates. Als Sollensordnung versteht sie jedoch Svarez, wenn er in einem Vortrag vom April 1789 „Über den Einfluß der Gesetzgebung in die Aufklärung“69 vor der Berliner Mittwochsgesellschaft70 für einen Staat, „welcher keine eigentliche Grundverfassung hat“, eine „allgemeine Gesetzgebung“ mit „feste[n], sichere[n] und fortdauernde[n] Grundsätze[n] über Recht und Unrecht“ fordert, die „gleichsam die Feste“ sein muss, gegen die der Gesetzgeber „in bloßen Zeitgesetzen nicht zuwiderhandeln darf“ und in die „sich die durch Zeitgesetze gedrängte Freiheit zurückziehen und aus der sie unter günstigeren Umständen zur Wiedererlangung ihrer gekränkten Rechte mit gestärkten Kräften zurückkehren kann“. Sinn und Wortlaut der Darlegungen sprechen dafür, dass Svarez zu diesem Zeitpunkt das geplante Gesetzbuch als eine Art „Ersatzverfassung“71 ausgestaltet wissen wollte, die als „Feste“ nicht nur Hort der Freiheit, sondern gleichsam lex superior sein sollte, der „bloße Zeitgesetze“ nicht zuwiderlaufen sollten. Hatten die vorrevolutionären Bestrebungen in Frankreich auch zu Neuerungsimpulsen für Preußen geführt, so erzeugen die Schrecken und Ausschreitungen der französischen Revolution nun Revolutionsfurcht72, mit der Reformangst einhergeht. Restaurative Kreise nehmen Anstoß an der „zu rechtsstaatlichen Terminologie des all-

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Instruction, abgedr. in: Acta Borussica, Denkmäler der preußischen Staatsverwaltung im 18. Jahrhundert. Die Behördenorganisation und die allgemeine Staatsverwaltung Preußens im 18. Jahrhundert, Bd. VII, Nr. 82, S. 147; s. auch Merten, Die Rechtsstaatsidee im Allgemeinen Landrecht, in: Friedrich Ebel (Hg.), Gemeinwohl – Freiheit – Vernunft – Rechtsstaat, 200 Jahre Allgemeines Landrecht für die preußischen Staaten, 1995, S. 109 (115). 68 Vom 14. 4. 1780 an Großkanzler von Carmer, Acta Borussica, Bd. XVI, T. 2, Nr. 465, S. 602 ff. (605); hierzu auch Merten, a.a.O. 69 Abgedr. in: Hermann Conrad/Gerd Kleinheyer (Hg.), Carl Gottlieb Svarez, Vorträge über Recht und Staat, 1960, S. 634 (635 f.). 70 Hier hatte sich die politisch einflussreiche und intellektuelle Oberschicht Preußens zusammengefunden; vgl. Horst Möller, Preußische Aufklärungsgesellschaften, in: Otto Büsch/ Monika Neugebauer-Wölk (Hg.), Preußen und die revolutionäre Herausforderung seit 1789, Veröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 78, 1991, S. 103 (106 ff.); Birgit Nihren, Selbstdenken und gesunde Vernunft. Über eine wieder aufgefundene Quelle zur Berliner Mittwochsgesellschaft, in: Aufklärung I/1 (1986), S. 87 ff. 71 Vgl. hierzu auch Reinhart Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution, 2. Aufl., 1975, S. 30; s. auch Hans Boldt, Art. Staat und Souveränität, in: Brunner/Conze/Koselleck, Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. VI, 1990, S. 1 (69). 72 s. Birtsch, Revolutionsfurcht in Preußen 1789 bis 1794, in: Büsch/Neugebauer-Wölk (Hg.), Preußen und die revolutionäre Herausforderung seit 1789. Veröffentlichungen der historischen Kommission zu Berlin, Bd. 78, 1991, S. 87 (93 ff.).

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gemeinen Gesetzbuchs“73 und werfen den Reformern vor, bestimmte Regelungen, wie z. B. das Machtspruchverbot, seien „aus der französischen Konstitution genommen“, wogegen sich von Carmer74 mit dem Hinweis verteidigen kann, dass die beanstandeten Bestimmungen sich schon im ersten Teil des Entwurfs finden, welcher 1784 und damit zu vorrevolutionärer Zeit ans Licht getreten sei. In einer Art Schlussbericht über das Gesetzbuch75 hatte Svarez bemerkt, „ein bürgerliches Gesetzbuch [könne] keine Constitution enthalten …; und mit dem allgemeinen so wenig, als mit dem besondern Staatsrechte der Preußischen Monarchie etwas zu thun“ haben. Gleichzeitig weist er aber auf die Notwendigkeit hin, für richterliche Streitentscheidungen diejenigen Sätze in das Gesetzbuch aufzunehmen, in denen „Rechte und Pflichten zwischen dem Staate und den Unterthanen ein Gegenstand richterlicher Beurtheilung und Entscheidung“ würden. Diese Sätze sind aber auch nach damaliger Dogmatik76 nicht dem ius privatum, sondern dem ius publicum zuzurechnen, weil der Staat nun einmal aus den Regelungen des Staat-Bürger-Verhältnisses nicht weggedacht werden kann. Wegen seines – in heutiger Terminologie – öffentlich-rechtlichen Charakters kann das spätere Allgemeine Landrecht sehr wohl mit den Worten des Jubilars als „eine Art von Verfassung für den preußischen Staat“77 oder eine Ersatzverfassung78 qualifiziert werden, obwohl neben dem Machtspruchverbot (§ 6 Einl. AGB) auch das Verbot, „die natürliche Freyheit und Rechte der Bürger“ nicht weiter einzuschränken, „als es der gemeinschaftliche Endzweck erfordert“ (§ 79 Einl. AGB), auf die Verlustliste der Rechtsstaatlichkeit79 gerieten.

73 Vgl. Gerhard Dilcher, Vom ständischen Herrschaftsvertrag zum Verfassungsgesetz, in: Der Staat 27 (1988), S. 161 (176 Fn. 51). 74 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Rep. 84 Abt. XVI Nr. 7, Bd. 88, S. 71 r. (M.). 75 „Kurze Nachricht von dem neuen Preußischen Gesetzbuche und von den Verfahren bei der Ausarbeitung desselben“ (ohne Verfasserangabe), abgedr. in: Klein’s Annalen, Bd. VIII (1791), S. XIII ff. (XXXI); hierzu auch Adolf Stölzel, Carl Gottlieb Svarez, Berlin 1885, S. 320 ff. 76 Vgl. statt aller Martin Bullinger, Öffentliches Recht und Privatrecht. Studien über Sinn und Funktionen der Unterscheidung, 1968, insb. S. 30 ff. 77 Würtenberger (Fn. 51), § 2 Rn. 11. 78 A.A. Rudolf Vierhaus, Das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten als Verfassungsersatz?, in: Barbara Dölemeyer/Heinz Mohnhaupt (Hg.), 200 Jahre Allgemeines Landrecht für die preußischen Staaten, 1995, S. 1 (7 f.), der dies „allenfalls für das Entwurf gebliebene allgemeine Gesetzbuch“ zugesteht. 79 Merten, Art. Allgemeines Landrecht, in: Wilhelm Treue (Hg.), Preußens großer König. Leben und Werk Friedrichs des Großen. Eine Ploetz-Biographie, 1986, S. 56 (62); Alexis de Tocqueville: „Une véritable constitution“ (L’ancien Régime et la Révolution, in: ders., Œuvres Complètes, Bd. II, 2, hg. von J. P. Mayer, Paris 1952, S. 268).

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c) Mangelnde Superiorität des Landrechts und „Vorrang der Verfassung“ Aber kommt es für den Grundrechtscharakter der Landrechts-Freiheiten wirklich auf den konstitutionellen Charakter des Gesetzeswerks an? Ist nicht die Frage nach dem „Vorrang der Verfassung“, also nach der Superiorität des Landrechts die entscheidende? Die nordamerikanischen Verfassungen hatten ihre in der Regel juristisch formulierten und für den „Gerichtsgebrauch verfaßte[n]“80 Rechte als „basis and foundation of government“81 angesehen und infolgedessen die Staatsgewalt an sie gebunden und die Gerichte als deren Hüter konstitutionalisiert82, die das richterliche Prüfungsrecht schon 1803 ausübten83. Im Unterschied zum nordamerikanischen Verfassungsrecht setzt sich das Prinzip des Vorrangs der Verfassung in Deutschland wie auch in Frankreich84 wesentlich später durch. Zwar finden sich erste Ansätze schon während der Entstehungszeit des Allgemeinen Landrechts, als Svarez85 die Funktion der „allgemeine[n] Gesetzgebung“ darin sieht, „feste, sichere und fortdauernde Grundsätze über Recht und Unrecht“ festzustellen und gewissermaßen anstelle einer „Grundverfassung“ „für den Gesetzgeber selbst Regeln“ zu statuieren, „denen er auch in bloßen Zeitgesetzen nicht zuwiderhandeln darf“. Aber es dauert noch mehr als einhundert Jahre, bis sich der hier in Umrissen skizzierte „Vorrang der Verfassung“ als Prinzip in Deutschland durchsetzt86.

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Gerhard Oestreich, Geschichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten im Umriß, 2. Aufl., 1978, S. 63. 81 So die Präambel der Virginia Declaration of Rights von 1776 (Fn. 22). 82 Vgl. Martin Kriele, Einführung in die Staatslehre, 6. Aufl., 2003, S. 121 ff.; Stern, Grundideen (Fn. 2), S. 15 ff., 23 f.; vgl. dens., Staatsrecht, Bd. III/1 (Fn. 2), S. 93 f. 83 Fall Marbury v. Madison; hierzu Werner Frotscher/Bodo Pieroth, Verfassungsgeschichte, 10. Aufl., 2011, Rn. 43 ff.; Stern, Grundideen (Fn. 2), S. 30 f. 84 Vgl. Rainer Grote, Rechtskreise im öffentlichen Recht, AöR 126 (2001), S. 10 (27 in und zu Fn. 70); Wolfgang Schmale, Frankreich und die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 im Lichte der französischen Forschung 200 Jahre danach, Zeitschrift für historische Forschung, 1993, S. 345 ff. 85 In seinem Vortrag „Über den Einfluß der Gesetzgebung in die Aufklärung“, in: Conrad/ Kleinheyer (Fn. 69), S. 634 (635). 86 Vgl. hierzu Rainer Wahl, Der Vorrang der Verfassung, in: Der Staat 20 (1981), S. 485 ff.; dens., Der Vorrang der Verfassung und die Selbständigkeit des Gesetzesrechts, NVwZ 1984, S. 401 ff.; Christian Starck, Verfassung und Gesetz, in: ders., Rangordnung der Gesetze, 1995, S. 239 ff.; Horst Dreier, Gerhard Anschütz (1867 – 1948): Staatsrechtslehrer in Zeiten des Umbruchs, in: Peter Ulmer (Hg.), Geistes- und Sozialwissenschaften in den 20er Jahren, Heidelberger Impulse, 1998, S. 89 (107 ff.); Christian Hermann Schmidt, Vorrang der Verfassung und konstitutionelle Monarchie, 2000.

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Im 19. Jahrhundert sieht man in Deutschland keinen grundsätzlichen Unterschied zwischen Verfassung und Gesetz hinsichtlich ihrer juristischen Geltungskraft87, weshalb einfachgesetzliche Verfassungsergänzungen und selbst Verfassungsdurchbrechungen für zulässig gehalten werden. Die mangelnde Superiorität des Verfassungsgesetzes ist neben der Rücksichtnahme auf die Mitgliedstaaten und deren Verfassungen mit Grundrechtskatalogen ein entscheidender Grund, weshalb das Deutsche Reich von 1871 (wie zuvor der Norddeutsche Bund) keinen Grundrechtskatalog in die Verfassungsurkunde aufnimmt und „Freiheiten … durch die Schaffung von Spezialgesetzen“88 gewähren will. Im Hinblick auf dieses aus den Freiheitsgesetzen89 und der Reichsverfassung gebildete „Reichssystem“90 hatte noch Richard Thoma91 als Grundrechte – zwar nicht im „strengen Sinne“ – auch freiheitsverbürgende und gegen Landesgesetzgebung und Landesverwaltung schützende Normen im Rang von Reichsgesetzen angesehen. Auch wenn schon unter der Weimarer Reichsverfassung einige Grundrechte durch Parlamentsgesetz nicht mehr beschränkbar waren92, setzen sich die Konstitutionalität und Superiorität als grundrechtliche Begriffsmerkmale93 mit der Folge 87 E. R. Huber, Grundrechte im Bismarckschen Reichssystem, in: ders., Bewahrung und Wandlung, 1975, S. 132 (135); ders., Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. III, 3. Aufl., 1988, S. 665; Ulrich Scheuner, Die rechtliche Tragweite der Grundrechte in der deutschen Verfassungsentwicklung des 19. Jahrhunderts, in: FS E.R. Huber, 1973, S. 139 ff., insb. S. 164 f.; ders., Begriff und rechtliche Tragweite der Grundrechte im Übergang von der Aufklärung zum 19. Jahrhundert, in: Von der ständischen Gesellschaft zur bürgerlichen Gleichheit, in: Der Staat, Beiheft 4 (1980), S. 105 ff., insb. S. 108 f.; Ernst-Wolfgang Böckenförde, Geschichtliche Entwicklung und Bedeutungswandel der Verfassung, in: Juristische Arbeitsblätter 1984, S. 327; Rainer Wahl, Der Vorrang der Verfassung, in: Der Staat 20 (1981), S. 485 ff., insb. S. 491 ff.; ders., Rechtliche Wirkungen und Funktionen der Grundrechte im deutschen Konstitutionalismus des 19. Jahrhundert, in: Ernst-Wolfgang Böckenförde (Hg.), Moderne deutsche Verfassungsgeschichte (1815 – 1914), 1981, S. 351; Stern, Staatsrecht, Bd. III/1 (Fn. 2), S. 1185 ff.; zur zeitgenössischen Literatur Friedrich Schmitthenner, Grundlinien des allgemeinen idealen Staatsrechtes, Gießen, 1845, S. 561; Paul Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd. II, 5. Aufl., 1911, S. 39; Georg Meyer/ Gerhard Anschütz, Lehrbuch des deutschen Staatsrechts, 7. Aufl., 1919, S. 662, 743; a.A. Robert von Mohl, Über die rechtliche Bedeutung verfassungswidriger Gesetze, in: ders., Staatsrecht, Völkerrecht und Politik, Bd. I, Tübingen, 1860, S. 6 ff., insb. S. 88 ff. 88 So der Abg. Dr. Barth, in: Fr. von Holtzendorff/E. Bezold (Hg.), Materialien der deutschen Reichs-Verfassung, Bd. III, Teil 2, S. 942 (946); s. auch Ernst Eckhardt, Die Grundrechte vom Wiener Kongreß bis zur Gegenwart, 1913, S. 131. 89 Eine Aufstellung findet sich bei E. R. Huber, Grundrechte im Bismarckschen Reichssystem (Fn. 87), S. 138 f.; vgl. auch Ludwig von Rönne, Das Staats-Recht des Deutschen Reiches, Bd. I, Leipzig, 2. Aufl., 1876, S. 106 ff.; Gerhard Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919, 14. Aufl., 1933, S. 508. 90 So E. R. Huber, a.a.O., S. 136 sub III. 91 Die juristische Bedeutung der grundrechtlichen Sätze der deutschen Reichsverfassung im allgemeinen, in: Hans Carl Nipperdey (Hg.), Die Grundrechte und Grundpflichten der Reichsverfassung, Bd. I, 1929, S. 1 (19). 92 s. oben in und zu Fn. 17. 93 Vgl. Merten, Begriff und Abgrenzung der Grundrechte (Fn. 62), § 35 Rn. 64 ff.

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grundsätzlicher Parlamentsfestigkeit und (verfassungs-)gerichtlichen Rechtsschutzes erst unter dem Grundgesetz endgültig durch. Allerdings hatte schon in der Weimarer Zeit das Reichsgericht (in Gestalt seines Richtervereins) in der Aufwertungsfrage mit der Verfassungswidrigerklärung94 gedroht und damit die von ihm später noch betonte „Selbstherrlichkeit des Gesetzgebers“95 in Frage gestellt. 3. Würdigung der Landrechts-Freiheiten Auch wenn wegen unterschiedlicher nationaler Entwicklungen die Freiheiten des Allgemeinen Landrechts hinsichtlich ihrer Effektivität noch nicht mit den nordamerikanischen Rechte-Erklärungen vergleichbar sind, so sind sie im Ganzen doch Teil jener grundrechtlichen „Hauptgeschichte“ die sich im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts ereignet. Eine gerechte Würdigung der Landrechts-Freiheiten darf sich weder an dem Fehlen eines Rechte-Katalogs stoßen96 noch die Konservierung „der überkommenen Gliederung der Stände“ im Landrecht übergewichten97, zumal die Aufhebung der ständischen Gliederung einer der markanten Meilensteine in der Reformperiode von 1807 bis 1810 zusammen mit der Gewerbefreiheit, dem freien Grundstücksverkehr, der Bauernbefreiung98 und einer „nahezu vollständigen … Gleichberechtigung der Juden99 war („Revolution von oben“100). 94

Vgl. Stellungnahme des Richtervereins beim Reichsgericht, JW 1924, S. 90, auch in: Gerd Roellecke (Hg.), Zur Problematik der höchstrichterlichen Entscheidung, 1982, S. 73. 95 RGZ 118, 325 (327); 139, 177 (189). 96 Zu oberflächlich daher Gerhard Oestreich, Geschichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten im Umriß, 2. Aufl., 1978, S. 55. 97 Ulrich Scheuner, Verwirklichung der Bürgerlichen Gleichheit. Zur rechtlichen Bedeutung der Grundrechte in Deutschland zwischen 1780 und 1850, in: Günter Birtsch (Hg.), Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte, 1981, S. 376 (387). 98 Vgl. Edikt über die Einführung einer allgemeinen Gewerbe-Steuer v. 28. 10. 1810 (Preuß. GS S. 79 ff.); Edikt über den erleichterten Besitz und den freien Gebrauch des Grundeigentums so wie die persönlichen Verhältnisse den Land-Bewohner betreffend (sog. Edikt über die Bauernbefreiung) vom 9. 10. 1807 (Preuß. GS 1806 – 1810, S. 170 ff.), vor allem §§ 2 und 10; ferner Kabinettsorder betreffend die Aufhebung der Erb-Unterthänigkeit auf sämmtlichen preußischen Domainen v. 28. 10. 1807 (Preuß. GS 1806 – 1810, S. 174); auch in: E. R. Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. I, 3. Aufl., 1978, S. 41 ff. 99 So Gidal, Die Juden in Deutschland, 1997, S. 144. s. auch das Edikt, betreffend die bürgerlichen Verhältnisse der Juden in dem Preußischen Staate v. 11. 3. 1812 (GS S. 17); hierzu weiter Stefan Hartmann, Die Bedeutung des Hardenbergschen Edikts von 1812 für den Emanzipationsprozeß der preußischen Juden im 19. Jahrhundert, in: Bernd Sösemann (Hg.), Gemeingeist und Bürgersinn, FBPG, N.F., Beiheft 2, 1993, S. 247 ff.; Julius H. Schoeps, Ringen um Reform und Emanzipation, in: Juden in Berlin 1671 – 1945, 1988, S. 65 ff. 100 Zu den preußischen Reformen vgl. Koselleck, Preußen (Fn. 71); Rudolf lbbeken, Preußen 1807 – 1813, 1970; Hubatsch, Die Stein-Hardenbergschen Reformen, 1977; Barbara Vogel (Hg.), Preußische Reformen 1807 – 1820, 1980; Hagen Schulze, Die Stein-Hardenberg’schen Reformen und ihre Bedeutung für die deutsche Geschichte, in: Preußen, seine Wirkung auf die deutsche Geschichte, 1985, S. 201 ff.; von Unruh, Preußen – Die Verände-

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Zu Ungunsten des Allgemeinen Landrechts wird schließlich die primäre Sicherung der „bürgerlichen Freiheit“ und die Zurücksetzung der „politischen Freiheit“101 angeführt, vor allem das fehlende Verlangen, „ein Republicaner zu werden“102. Aber für Naturrecht und Menschenrechte steht zunächst der ursprüngliche Zustand des Menschen im Vordergrund des Interesses, weshalb die Rechte-Erklärungen und Verfassungen Nordamerikas und Frankreichs vielfach die freie und gleiche Ausgangssituation aller Menschen an den Anfang der Deklaration stellen („All men are by nature equally free and independant“103 ; „Les hommes naissent et demeurent libres et égaux en droite“104). Auch die französischen Verfassungen von 1791 und 1793105 beginnen jeweils mit der Garantie der „droits naturels et civils“ bzw. der „droits naturels et imprescriptibles“. In gleicher Weise gehen die preußischen Gesetzbuchverfasser davon aus, dass die „bürgerliche Freiheit“ Voraussetzung der „politischen Freiheit“ ist, weshalb Ernst Ferdinand Klein106 seinen Kleon sagen lässt, „Die bürgerliche Freyheit ist so sehr Hauptsache, daß man der politischen Freyheit nur insofern einen Wert beylegen kann, als sie zur Unterstützung der bürgerlichen gereicht“. Der Wert der bürgerlichen Freiheit und Gleichheit, die auch das Grundgesetz an die Spitze seines Grundrechtskatalogs setzt und die conditio sine qua non jeder Freiheit im Staate sind, wird nicht dadurch gemindert, dass das Allgemeine Landrecht die politische Freiheit der Staatsteilnahme (noch) ausklammert107. Auch wenn die landrechtlichen Freiheiten Ausdruck der Selbstbeschränkung der Fürstensouveränität sind und ihnen der Nimbus der Volkssouveränität mangelt, bringen sie zusammen mit der Festigung des Rechts und der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung eine beachtliche Sicherung der Rechte des Einzelnen108, die sich von dem Pathos französischer Deklarationen abhebt, welche die Freiheitsverachtung der Revolutionsjahre und die rungen der Preußischen Staatsverfassung durch Sozial- und Verwaltungsreformen, in: DVerwGesch., Bd. II, S. 399 ff. 101 Birtsch, Zum konstitutionellen Charakter des preußischen Allgemeinen Landrechts von 1794, in: Kurt Kluxen/Wolfgang J. Mommsen (Hg.), Politische Ideologie und nationalstaatliche Ordnung, FS Theodor Schieder zum 60. Geburtstag, S. 97 (109 f.); Scheuner (Fn. 97), S. 388 f. 102 Zitat in Ernst Ferdinand Klein, Freyheit und Eigenthum, abgehandelt in acht Gesprächen über die Beschlüsse der Französischen Nationalversammlung, Berlin und Stettin, 1790, S. 164. Hierauf bezieht sich auch Birtsch, a.a.O., S. 109 zu Fn. 47 (mit unrichtiger Seitenangabe). 103 s. die Nachweise in Fn. 39 f. 104 Art. 1 Satz 1 der französischen Menschenrechtserklärung von 1789. 105 Abgedr. bei Godechot (Fn. 27), S. 35 ff. und 79 ff. 106 Freyheit und Eigenthum (Fn. 102), S. 164. 107 Vgl. Hermann Conrad, Rechtsstaatliche Bestrebungen im Absolutismus Preußens und Österreichs am Ende des 18. Jahrhunderts, 1961, S. 46. 108 So auch Ulrich Scheuner, Hegel und die deutsche Staatslehre des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Leussink/Neumann/Kotowski, Studium Berolinense. Aufsätze und Beiträge zu Problemen der Wissenschaft und zur Geschichte der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin, 1960, S. 129 (132 f.).

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Freiheitsbedrohung der napoleonischen Diktatur nicht hindern können. In einzelnen Bereichen, wie dem Verbot der Sklaverei109, ist das Allgemeine Landrecht dem nordamerikanischen110 und dem französischen Verfassungsrecht111 um Jahrzehnte voraus. Will man die Landrechts-Freiheiten wegen ihres nur verfassungsähnlichen Ranges nicht als „Grundrechte“ qualifizieren112, so muss man zumindest ihre „grundrechtliche[n] Ansätze“113 und mit dem Jubilar ihren „Freiheitsschutz“ würdigen114. Das ist nicht verwunderlich, war doch das Allgemeine Landrecht ein Gesetzbuch der Aufklärung. Durch ihre Ausschreitungen und die Missachtung der Menschenrechte und Freiheiten hat die französische Revolution in Preußen freilich nicht zur Reformfreudigkeit, sondern zu Reformfurcht geführt und Fortschritte verhindert, was eine Verlustliste der Rechtsstaatlichkeit115 zur Folge hatte. Auf ihr steht neben dem Verbot der Machtsprüche, das in § 6 der Einl. des allgemeinen Gesetzbuchs enthalten war, auch eine frühe Verankerung des Erforderlichkeitsprinzips in § 79 der Einleitung, wonach staatliche Gesetze und Verordnungen „die natürliche Freyheit und Rechte der Bürger nicht weiter einschränken [dürfen], als es der gemeinschaftliche Endzweck erfordert“.

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§§ 196 ff. II 5 ALR; ebenso schon §§ 156 ff. I 5 des Entwurfs eines AGB. Hier wird die Sklaverei in Art. I sect. 9 der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika von 1787 vorerst festgeschrieben und erst durch das 13. Amendment von 1865 außer als Verbrechensstrafe verboten. 111 Napoleon führt die Sklaverei durch sénatus consulte vom 19. 5. 1802 wieder ein. Erst Art. 6 der republikanischen Verfassung vom 4. 11. 1848 (abgedr. in: Godechot [Fn. 27], S. 263 [265]) hebt die Sklaverei auf. Hierzu auch Karl Peter Sommermann, Zweihundert Jahre französische Verfassung von 1793: Die Verfassungstradition des Jahres I, in: Der Staat 32 (1993), S. 611 (625). 112 So aber Elisabeth Fehrenbach, Vom Ancien Régime zum Wiener Kongreß, 5. Aufl., 2008, S. 55. 113 So Koselleck (Fn. 71), S. 31. 114 Würtenberger, Von der Aufklärung zum Vormärz (Fn. 51), § 2 Rn. 11 a.E., S. 56. 115 Merten, Art. Allgemeines Landrecht, in: Wilhelm Treue (Hg.), Preußens großer König. Leben und Werk Friedrichs des Großen. Eine Ploetz-Biographie, 1986, S. 56 (62). 110

Der Umgang mit verfassungswidrigen Vereinigungen nach dem Grundgesetz1 Von Dietrich Murswiek, Freiburg I. Einleitung: Verbote und „politische Bekämpfung im Vorfeld“ Das Grundgesetz erlaubt es, verfassungswidrige politische Parteien und sonstige Vereinigungen zu verbieten (Art. 21 Abs. 2, 9 Abs. 2 GG). Verbote spielen in der Praxis der Extremismusbekämpfung aber nur eine untergeordnete Rolle. Es hat in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland erst zwei Parteiverbote gegeben, und beide liegen ein halbes Jahrhundert zurück – das SRP-Verbot von 19522 und das KPD-Verbot von 19563. Erst Jahrzehnte später wurde – gegen die NPD – ein weiterer Antrag gestellt4, und der ist vor dem Bundesverfassungsgericht gescheitert5. Vereinigungsverbote hingegen gibt es immer wieder einmal – die Liste der verbotenen Vereinigungen ist lang. Sie umfaßt mehrere Hundert seit Inkrafttreten des Grundgesetzes6. Meist handelt es sich jedoch um kleine und unbedeutende Vereinigungen ohne relevanten politischen Einfluß. Während das Verbot von gewaltbereiten Vereinigungen zwingend sein dürfte, haben Verbote von Vereinigungen, die weder gewalttätig noch kriminell sind, jedenfalls dann keine unmittelbar verfassungsschützende Funktion, wenn die betreffenden Vereine kaum nach außen in Erscheinung treten und ihr Einfluß auf die öffentliche Meinung gegen Null tendiert. In solchen Fällen hat die exekutivische Maßnahme eher Symbolfunktion, will ein 1 Erweiterte Fassung eines Vortrags, den der Autor auf der Jahrestagung der Deutschen Sektion der Internationalen Juristen-Kommission in Würzburg am 23. 10. 2010 gehalten hat. 2 BVerfGE 2, 1. 3 BVerfGE 5, 85. 4 Abgesehen von dem Verbotsantrag gegen die FAP, die aber gar keine politische Partei war, BVerfGE 91, 276 (290 ff.). 5 BVerfGE 107, 339. 6 Vgl. die bis 2005 reichende Tabelle bei Jens Heinrich, Vereinigungsfreiheit und Vereinigungsverbot – Dogmatik und Praxis des Art. 9 Abs. 2 GG, 2005, S. 352 ff.; sie zählt 509 Verbote (Stand vom 15. 7. 2005). Darin sind aber selbständig verbotene Untergliederungen / Regionalverbände enthalten, so daß etliche Vereinigungen mehrfach genannt sind; ein „Bund vaterländischer Jugend“ beispielsweise ist sogar 19 mal in der Liste enthalten, obwohl es sich um eine einzige, bundesweit koordinierte Verbotsaktion handelte. Rechnet man die Untergliederungen heraus, reduziert sich die Zahl der Verbote auf etwa ein Drittel.

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„Zeichen setzen“ und so auf die öffentliche Meinung einwirken, also mit dem Instrument des Verbots genau das bewirken, was ansonsten – jedenfalls bezüglich politischer Parteien – an die Stelle des Verbots getreten ist, nämlich Verfassungsschutz durch Beeinflussung der öffentlichen Meinung. Für die Praxis des Umgangs mit extremistischen Vereinigungen in Deutschland sind Maßnahmen unterhalb der Verbotsschwelle von viel größerer Bedeutung als Verbote. Deshalb möchte ich nur kurz auf die verfassungsrechtlichen Verbotsvoraussetzungen eingehen und den Schwerpunkt auf die Extremismusbekämpfung mit anderen Mitteln als denen des Verbots legen. Bekämpfungsmaßnahmen unterhalb der Verbotsschwelle sind sogenannte „administrative Maßnahmen“, außerdem Maßnahmen, die ich als „unkonventionelle Maßnahmen“ bezeichnen möchte, weil sie sich nicht in rechtliche Kategorien einordnen lassen, und schließlich die hoheitliche politische Bekämpfung mit Hilfe des Verfassungsschutzes. II. Verbotsvoraussetzungen, „Streitbare Demokratie“ – deutsche Besonderheiten und die Kriterien des Europarates Extremistische Vereinigungen – das sind in der Sprache des Verfassungsschutzes solche Vereinigungen, die verfassungswidrige Ziele verfolgen, alternativ deshalb auch als „verfassungsfeindlich“ bezeichnet werden, aber noch nicht verboten sind – können nach dem Grundgesetz verboten werden, wenn sie darauf ausgehen, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen (Art. 21 Abs. 2 GG)7. Die freiheitliche demokratische Grundordnung bezeichnet fundamentale Verfassungsgüter, die jeder Verfassungsänderung entzogen sind (Art. 79 Abs. 3 GG), also jedenfalls Demokratie, Rechtsstaat und Schutz der Menschenwürde. Die streitige Frage, ob der Begriff der freiheitlichen demokratischen Grundordnung mit dem gemäß Art. 79 Abs. 3 GG unabänderlichen Verfassungskern deckungsgleich ist, möchte ich jetzt offen lassen. Entscheidend ist, daß nicht das Streben nach legalen Verfassungsänderungen ein Verbot rechtfertigt, sondern nur das Streben nach Zerstörung der Verfassungsfundamente. Neben der freiheitlichen demokratischen Grundordnung gibt es noch weitere Verfassungsgüter, zu deren Schutz ein Vereinigungsverbot möglich ist, nämlich in bezug auf politische Parteien der Bestand der Bundesrepublik Deutschland, in bezug auf sonstige Vereinigungen auch der „Gedanke der Völkerverständigung“ und die Schutzgüter der Strafgesetze. Ich konzentriere mich hier auf den Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Verbotsvoraussetzung für politische Parteien ist nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts neben der verfassungsfeindlichen, also gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichteten Zielsetzung eine „aggressiv7 Der Begriff der „verfassungsmäßigen Ordnung“ in Art. 9 Abs. 2 GG ist im Sinne von „freiheitliche demokratische Grundordnung“ auszulegen.

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kämpferische“ Haltung8. Man kann dieses Kriterium als eine besondere Ausprägung des Verhältnismäßigkeitsprinzips verstehen. Verfahrensrechtlich ist das „Parteienprivileg“ hervorzuheben: Politische Parteien können im Unterschied zu anderen Vereinigungen, für deren Verbot die Innenminister von Bund und Ländern zuständig sind, nicht durch die Exekutive, sondern nur durch Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts verboten werden (Art. 21 Abs. 2 GG). Die materiellen Verbotsvoraussetzungen weisen im Vergleich zu den meisten Verfassungsstaaten eine Besonderheit auf: Voraussetzung eines Verbots ist nicht, daß die Beseitigung der Verfassungsfundamente mit Gewalt angestrebt wird. Das Verbot soll nicht nur verhindern, daß Minderheiten ihre revolutionären Vorstellungen mit Aufstand, Putsch, Terror oder sonstigen Formen von Gewalt und Zwang durchsetzen. Es soll auch verhindern, daß verfassungsfeindliche politische Kräfte in Wahlen die Mehrheit erringen und dann durch Änderung des Verfassungsgesetzes eine mit den Fundamentalprinzipien des Grundgesetzes unvereinbare Verfassung installieren. Verständlich sind die Verbotsnormen nur vor dem Hintergrund des Art. 79 Abs. 3 GG, der die fundamentalen Verfassungsprinzipien jeder Verfassungsänderung entzieht. Keine noch so große Mehrheit darf diese Prinzipien antasten. Freiheit und Demokratie dürfen auch von einer demokratisch gewählten Parlamentsmehrheit nicht beseitigt werden. Die Entscheidung für die „streitbare“ oder „wehrhafte“ Demokratie, die in der Unabänderlichkeitsklausel in Verbindung mit den Verbotsnormen für politische Parteien und andere Vereinigungen zum Ausdruck kommt, beruht auf den Erfahrungen, die Deutschland im vergangenen Jahrhundert gemacht hat, insbesondere den Erfahrungen mit dem Scheitern der Weimarer Republik und der Machtergreifung der Nationalsozialisten. Die meisten anderen Verfassungsstaaten kennen dagegen einen „absoluten“ Schutz gegen die Beseitigung fundamentaler Verfassungsgüter nicht. Dementsprechend sehen ihre Verfassungen Partei- und Vereinigungsverbote nur für solche Vereinigungen vor, die ihre Ziele mit Gewalt durchsetzen wollen. Die Kommission der EU scheint hierin einen gemeineuropäischen Verfassungsgrundsatz zu sehen. Als vor einigen Jahren in der Türkei das Verfassungsgericht über das beantragte Verbot der AKP zu entscheiden hatte, schlug der damalige Erweiterungskommissar Olli Rehn Alarm und warnte vor einer undemokratischen Entwicklung. Er berief sich auf die „Guidelines on Prohibition and Dissolution of

8 Vgl. BVerfGE 5, 85 (141). Das BVerwG wendet dieses Kriterium auch für Vereinsverbote an, stellt dabei aber keine strengen Anforderungen; Gewaltanwendung oder sonstige Rechtsverletzungen seien nicht notwendig, vgl. DVBl. 1999, 1743 ff. unter Hinweis auf BVerwGE 61, 218 (220).

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Political Parties and Analgous Measures“ der Venedig-Kommission des Europarates9. In diesen Guidelines heißt es: „Prohibition or enforced dissolution of political parties may only be justified in the case of parties which advocate the use of violence or use violence as a political means to overthrow the democratic constitutional order, thereby undermining the rights and freedoms guaranteed by the constitution. The fact alone that a party advocates a peaceful change of the Constitution should not be sufficient for its prohibition or dissolution.“

Rehn vertrat die Auffassung, daß das beantragte AKP-Verbot diesen Anforderungen nicht entsprach10. Fast die gesamte europäische Presse war empört darüber, daß eine demokratisch gewählte Partei, die über die Parlamentsmehrheit verfügte, verboten werden sollte. Es wurde in der damaligen Diskussion nicht zur Kenntnis genommen, daß genau dies auch in Deutschland möglich wäre. Die türkische Verfassung hat mit der deutschen die Gemeinsamkeit, daß bestimmte fundamentale Grundsätze jeder Verfassungsänderung entzogen sind und daß diese Grundsätze konsequenterweise auch gegen eine Parlamentsmehrheit verteidigt werden müssen. Der Unterschied besteht in den Inhalten, die jeweils für unabänderlich erklärt werden. Die strukturelle Grundentscheidung, daß es unabänderliche Verfassungsfundamente gibt, über die keine noch so große Parlamentsmehrheit verfügen darf und daß demzufolge auch eine Mehrheitspartei, die diese Grundsätze beseitigen will, verboten werden kann, ist in beiden Staaten gleich. Wir haben in Deutschland gute historische Gründe für diese Abweichung von dem, was die meisten europäischen Staaten für richtig halten. Ob wir diesen Standpunkt auf Dauer gegen die EU und den Europarat durchhalten können, ist eine spannende Frage. Vielleicht bietet das Kriterium der „aggressiv-kämpferischen Haltung“, das nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine ungeschriebene Verbotsvoraussetzung ist, bei restriktivem Verständnis einen geeigneten Ansatzpunkt für eine EMRK-konforme Auslegung der deutschen Verbotstatbestände. Im übrigen hat der EGMR Parteiverbote nicht nur dann als rechtfertigungsfähig angesehen, wenn die betreffende Partei ihre Ziele mit Gewalt erreichen will, sondern auch dann, wenn sie Verfassungsänderungen anstrebt, die mit fundamentalen demokratischen Prinzipien unvereinbar sind11. Art. 21 Abs. 2 GG dürfte in restriktiver Interpretation mit dieser Rechtsprechung vereinbar sein.

9 European Commission for Democracy Through Law (Venice Commission), CDL-INF (2000) 1. 10 Statement by Enlargement Commissioner Olli Rehn on the latest development in the prosecution case against the AKP in Turkey (Brussels, 31 March 2008), http://ec.europa.eu/ commission_barroso/rehn/press_corner/statements/index_en.htm (abgerufen 10. 8. 2008). 11 Vgl. EGMR, Urt. v. 13.2.2003 – 41340/98, § 98 – Refah Partisi (Wohlfahrtspartei) u.a.m.w.N.

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III. Beobachtung durch den Verfassungsschutz Da jedes Verbot einer extremistischen Vereinigung voraussetzt, daß die zuständigen Behörden überhaupt Kenntnis von ihren verfassungsfeindlichen Aktivitäten haben, impliziert die verfassungsrechtliche Verbotsermächtigung, daß solche Vereinigungen zunächst beobachtet werden dürfen. Zuständig dafür sind in Deutschland die Verfassungsschutzbehörden. Voraussetzung für die Beobachtung durch den Verfassungsschutz ist natürlich nicht, daß die beobachtete Vereinigung nachweislich verfassungsfeindlich ist, denn ob sie dies ist, soll ja erst herausgefunden werden. Daher genügen tatsächliche Anhaltspunkte, auf die sich der Verdacht verfassungsfeindlicher Bestrebungen stützen läßt. Rechtliche Grenze ist insoweit lediglich der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz; die Anhaltspunkte müssen hinreichend gewichtig sein. Im übrigen ist hinsichtlich der Methoden zu differenzieren. Während an die Beobachtung anhand von offenen Quellen keine weiteren Anforderungen zu stellen sind, normieren die Verfassungsschutzgesetze an die Beobachtung mit nachrichtendienstlichen Mitteln (z. B. VSG § 8 Abs. 2) – etwa Abhörmaßnahmen oder Einsatz von V-Leuten – besonders strenge Verhältnismäßigkeitskriterien (z. B. VSG § 9). Rechtswidrig wäre es, mit Hilfe von V-Leuten aktiv auf die Tätigkeit von Organisationen einzuwirken, etwa in der Weise, daß diese extremistische Äußerungen machen oder andere Organisationsmitglieder dazu anstacheln, damit dann mit Hilfe dieser Äußerungen der Nachweis der Verfassungsfeindlichkeit dieser Organisation geführt werden kann. Auch darf der Verfassungsschutz die Organisation nicht maßgeblich steuern, indem etwa die führenden Funktionäre oder die Vorstandsmehrheit V-Leute sind. Besondere rechtliche Probleme ergeben sich, wenn die Beobachtung einer Vereinigung durch den Verfassungsschutz öffentlich bekanntgegeben wird. Wenn in der Presse berichtet wird, eine bestimmte Organisation werde vom Verfassungsschutz beobachtet, dann kommt dies in der öffentlichen Meinung einer Stigmatisierung gleich. Die betreffende Organisation wird dann regelmäßig allgemein als extremistisch bewertet und entsprechend behandelt, obwohl vielleicht erst ein noch keineswegs erhärteter Anfangsverdacht vorliegt. Ich meine daher, daß die Verfassungsschutzbehörden die Öffentlichkeit über die Beobachtung einer Vereinigung nur unter den Voraussetzungen informieren dürfen, unter denen auch die Berichterstattung über diese Vereinigung im Verfassungsschutzbericht zulässig wäre. IV. Bekämpfung durch Stigmatisierung und Ausgrenzung Damit komme ich zu dem in der Verfassungsschutzpraxis der Bundesrepublik Deutschland seit Jahrzehnten wichtigsten Instrument der Extremismusbekämpfung: dem Verfassungsschutzbericht. Die von Bund und Ländern jährlich publizierten

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Verfassungsschutzberichte sollen die Öffentlichkeit, aber auch Politiker und Behörden über die vom Verfassungsschutz beobachteten extremistischen Bestrebungen informieren und auf diese Weise eine geistig-politische Auseinandersetzung mit diesen ermöglichen. Man würde den Charakter dieser Berichte aber vollständig verkennen, wenn man annähme, sie seien nichts anderes als Informationsbroschüren zur staatsbürgerlichen politischen Bildung. Sie sind vielmehr ein Instrument der politischen Bekämpfung des Extremismus12. Vor den in den Verfassungsschutzberichten gelisteten Organisationen wird offiziell gewarnt. Damit hat der Verfassungsschutzbericht zugleich, wie das Bundesverfassungsgericht gesagt hat, die Funktion einer „negativen Sanktion“13. Die betreffende Organisation wird mit dem Makel des Extremismus belegt und amtlich zum Verfassungsfeind erklärt. Die Einstufung einer Organisation als extremistisch im Verfassungsschutzbericht ist mit der Erwartung verbunden, daß verfassungstreue Staatsbürger diese Organisation nicht unterstützen, sondern sie meiden und jede Zusammenarbeit, am besten jeden Kontakt mit ihr unterlassen. Extremisten sollen politisch und gesellschaftlich isoliert werden, damit sie keine Wirkungs- und Entfaltungsmöglichkeiten erhalten. Information wird also als Waffe eingesetzt: Isolierung mittels Stigmatisierung. Das ist eine sehr erfolgreiche Strategie. Die sogenannte Zivilgesellschaft folgt meist bereitwillig den Erwartungen des Verfassungsschutzes, zumal die Verfassungsschutzbehörden dazu neigen, diejenigen, die der Ausgrenzungserwartung nicht folgen und beispielsweise einen Link zu einer als extremistisch eingestuften Organisation auf ihre Internetseite setzen, ihrerseits als extremistisch einzustufen. Wer im Verfassungsschutzbericht genannt ist, erhält keine Einladungen zu Podiumsdiskussionen, Vorträgen oder Talkshows mehr, keine Gelegenheit zu Zeitungsoder Rundfunkinterviews. Die Massenmedien übernehmen die Wertungen des Verfassungsschutzes und berichten über die Aktivitäten der betreffenden Organisationen nur noch, wenn es etwas zu berichten gibt, was diese Wertungen bestätigt oder was in anderer Weise ein schlechtes Licht auf die jeweilige Organisation wirft14. Die Rekrutierung seriöser Mitglieder wird fast unmöglich gemacht; nur Loser, Desperados, Querulanten und überzeugte Extremisten fühlen sich noch angesprochen. Für eine Organisation, die in den Verfassungsschutzbericht aufgenommen wird, weil sie eine gewisse Tendenz zu verfassungsfeindlichen Zielen erkennen läßt, wirkt die Aufnahme in den Verfassungsschutzbericht daher als Ka12 Dazu ausführlich Dietrich Murswiek, Der Verfassungsschutzbericht – das scharfe Schwert der streitbaren Demokratie, NVwZ 2004, S. 769 ff. 13 BVerfGE 113, 63 (77) – „Junge Freiheit“ (JF). 14 Eine Ausnahme bildet insoweit lediglich die Partei DIE LINKE (früher PDS), die in vielen Verfassungsschutzberichten als linksextremistisch eingestuft wurde, ohne daß dies ihr den Zugang zu den Massenmedien oder sogar Regierungsbeteiligungen unmöglich gemacht hätte. Der Hauptgrund hierfür dürfte sein, daß diese Partei in den Ländern der ehemaligen DDR von vornherein so stark verankert war, daß eine völlige Ausgrenzung als unmöglich erschien, zumal sich die Menschen in den neuen Bundesländern aufgrund ihres ganz anderen Erfahrungshintergrundes nicht in derselben Weise von den Wertungen des Verfassungsschutzes beeinflussen lassen wie die Menschen im Westen.

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talysator in Richtung auf eine weitere Radikalisierung. Der Weg zu einer demokratischen Entwicklung wird außerordentlich erschwert. Der Verfassungsschutzbericht ist also ein scharfes Schwert der Extremismusbekämpfung. Ohne eine Organisation zu verbieten, kann sie auf diese Weise ihrer politischen Wirkungsmöglichkeiten weitgehend beraubt werden. Gerade weil dieses Instrument so effektiv ist, ist es nicht nur für die extremistischen Organisationen, sondern auch für die Demokratie gefährlich. Es handelt sich um ein zweischneidiges Schwert: Wird eine Organisation zu recht als verfassungsfeindlich ausgegrenzt, nützt das der Demokratie. Wird sie aber zu Unrecht im Verfassungsschutzbericht genannt, schadet das der Demokratie. Denn die Erwähnung im Verfassungsschutzbericht beeinflußt mit hoheitlichen Mitteln den politischen Willensbildungsprozeß. Wird etwa eine politische Partei im Verfassungsschutzbericht als extremistisch eingestuft, obwohl sie keine verfassungsfeindlichen Ziele verfolgt, dann werden ihre Wahlchancen auf nicht zu rechtfertigende Weise geschmälert. Eine solche Wahl entspricht dann nicht den Anforderungen, die das Grundgesetz an die demokratische Legitimation der Staatsgewalt stellt. Natürlich greift die Listung einer Organisation im Verfassungsschutzbericht auch in massiver Weise in deren Grundrechte ein. Dies hat das Bundesverfassungsgericht in seiner neueren Rechtsprechung anerkannt15. Die Erwähnung einer Organisation im Verfassungsschutzbericht ist daher rechtfertigungsbedürftig. Nach der neueren Rechtsprechung reicht es nicht mehr aus, daß sie willkürfrei erfolgt. Vielmehr muß der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz in seinen drei Ausprägungen – Geeignetheit, Erforderlichkeit, Angemessenheit – beachtet werden. Die Geeignetheit und Erforderlichkeit zur Extremismusbekämpfung sind unproblematisch, wenn eine Organisation tatsächlich gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtete Bestrebungen verfolgt. Die Erforderlichkeit scheitert nicht etwa daran, daß die betreffende Organisation zur Zeit keine reale Chance hat, ihre verfassungsfeindlichen Ziele zu verwirklichen. Die Rechtsprechung verlangt keine konkrete Gefahr für die freiheitliche demokratische Grundordnung, sondern läßt die Warnung mittels Verfassungsschutzberichten schon weit im Vorfeld einer konkreten Gefahr zu. Als „Frühwarnsystem“ soll der Verfassungsschutzbericht die Entstehung von Gefahren von vornherein verhindern. Im Rahmen der Angemessenheitsprüfung kann es aber eine Rolle spielen, ob eine Organisation nur über wenige Mitglieder verfügt und praktisch keine Außenwirksamkeit entfaltet. Was politische Parteien angeht, so hat die Rechtsprechung die umstrittene Frage, ob das Parteienprivileg (Art. 21 Abs. 2 GG) der Erwähnung einer nicht verbotenen Partei im Verfassungsschutzbericht entgegensteht16, verneint. Sie hat die Bewer15

BVerfGE 113, 63 (77 f.) – „Junge Freiheit“ (JF). Bejahend z. B. Jörn Ipsen, in: Sachs (Hg.), Grundgesetz, 5. Aufl. 2009, Art. 21 Rn. 202 ff.; Rudolf Streinz, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG II, 5. Aufl. 2005, Art. 21 Abs. 2 Rn. 216 f. m.w.N. 16

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tungen in den Verfassungsschutzberichten als nur „faktische“ im Unterschied zu „rechtlichen“ Nachteilen angesehen, für die das „Parteienprivileg“ nicht gelte, denn es liege kein „administratives Einschreiten“ vor17. Diese Begründung war noch nie überzeugend, denn auch durch faktisches – hier informationelles – Handeln kann „administrativ eingeschritten“ und in Grundrechte eingegriffen werden18. Nachdem das Bundesverfassungsgericht im JF-Beschluß festgestellt hat, daß der Verfassungsschutzbericht Sanktionscharakter hat und in die Grundrechte der dort als „extremistisch“ Bezeichneten eingreift19, läßt sich die Nichtanwendung des Parteienprivilegs nicht mehr so wie bisher begründen. Ob eine andere Begründung möglich ist, möchte ich hier offen lassen20. Unterstellt, daß es eine tragfähige Begründung gibt, bleibt als Hauptproblem der Verfassungsschutzberichte die Verdachtsberichterstattung. Viele Verfassungsschutzberichte berichten nicht nur über Vereinigungen, die nach Auffassung der Verfassungsschutzbehörden nachweislich extremistisch sind, sondern auch über solche, für die lediglich Anhaltspunkte für den Verdacht verfassungsfeindlicher Bestrebungen vorliegen. Diese Verdachtsberichterstattung ist immer mit dem Risiko verbunden, daß die Einschätzung der Behörde falsch ist. Stellt sich später heraus, daß der Verdacht unbegründet war, dann ist die Anprangerung im Verfassungsschutzbericht zu Unrecht erfolgt und dann ist möglicherweise ein schwerer und irreparabler Schaden für die Demokratie entstanden. Hinzu kommt, daß es einen effektiven Rechtsschutz gegen die unzutreffende Anprangerung als „extremistisch“ nicht gibt, wenn die Gerichte sich – konsequenterweise21 – auf die Prüfung beschränken, ob es hinreichende Anhaltspunkte für den Extremismus-Verdacht gibt. In meinen Augen ist die Verdachtsberichterstattung ein eklatanter Verstoß sowohl gegen das Demokratieprinzip als auch gegen die Grundrechte der Betroffenen. Sie eröffnet die Möglichkeit, politisch mißliebige Kräfte aus dem politischen Wil17

BVerfGE 13, 123 (126); 40, 287 (292 f.). Vgl. Streinz (Fn. 16), Rn. 218 m.w.N. 19 BVerfGE 113, 63 (74 ff.). 20 In der Lit. wird eine solche Begründung darauf gestützt, daß das Parteienprivileg nicht darauf abziele, verfassungsfeindliche Parteien der Kritik zu entziehen und die Verheimlichung ihrer verfassungsfeindlichen Ziele zu ermöglichen, vgl. etwa Hans H. Klein, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 21 Rn. 575 (Stand: Aug. 2005) m.w.N. Diese Begründung ist insofern problematisch, als das Parteienprivileg ja nur den Staat in Pflicht nimmt und nicht etwa eine Kritik durch andere politische Parteien, gesellschaftliche Kräfte und Medien ausschließt. Außerdem ist politische Kritik etwas anderes als die Bekämpfung mittels hoheitlicher Deklaration als extremistisch beziehungsweise verfassungsfeindlich in einem amtlichen Bericht, der alles andere als eine subjektive politische Einschätzung zum Ausdruck bringt. Und das Verheimlichungsargument wäre nur dann schlüssig, wenn im Verfassungsschutzbericht Erkenntnisse veröffentlicht würden, die nicht aus offenen Quellen, sondern mit nachrichtendienstlichen Mitteln gewonnen wurden. Dies ist jedoch regelmäßig nicht der Fall. 21 Das bezieht sich auf die erwähnte Annahme, nach den Verfassungsschutzgesetzen reichten tatsächliche Anhaltspunkte als Voraussetzungen für die Verfassungsschutzberichterstattung aus. 18

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lensbildungsprozeß auszuschalten, die in Wirklichkeit keine verfassungsfeindliche Zielsetzung verfolgen. Tatsächliche Anhaltspunkte für den Verdacht verfassungsfeindlicher Bestrebungen lassen sich leicht finden. Sie mögen bei hinreichendem Gewicht Anlaß für die Beobachtung der betreffenden Organisation sein. Können hingegen Bekämpfungsmaßnahmen auf bloße Anhaltspunkte gestützt werden, dann ist der politischen Instrumentalisierung des Verfassungsschutzes zur Ausschaltung unliebsamer politischer Konkurrenz Tür und Tor geöffnet. Die hoheitliche Lenkung politischen Willensbildung im Interesse etablierter politischer Kräfte aber ist ein krasser Verstoß gegen das Demokratieprinzip. Mit den jeweils betroffenen Grundrechten der Vereinigungen, insbesondere mit der Vereinigungsfreiheit (Art. 9 GG) sowie mit der Freiheit und Chancengleichheit der politischen Parteien (Art. 21 GG), ist die Verdachtsberichterstattung jedenfalls deshalb nicht vereinbar, weil sie zum Schutz der Verfassung nicht erforderlich ist. Der Verfassungsschutzbericht mit seiner Warn- und Sanktionsfunktion ist ein Mittel der vorbeugenden Abwehr von Gefahren für die freiheitliche demokratische Grundordnung. So wie im Polizeirecht in Fällen des Gefahrenverdachts gegen den potentiellen Störer zunächst nur der Gefahrenerforschungseingriff als gegenüber dem eigentlichen Gefahrenabwehreingriff milderes Mittel erlaubt ist, muß sich in Verdachtssituationen der Verfassungsschutz zunächst auf die Aufklärung des Verdachts – erforderlichenfalls unter Einsatz nachrichtendienstlicher Mittel – beschränken. Dies reicht zur Verteidigung der Verfassungsordnung völlig aus. Warnen darf er erst dann, wenn die verfassungsfeindliche Zielsetzung nachgewiesen ist22. Dem läßt sich nicht – wie Verfassungsschutzbehörden dies gern tun – entgegenhalten, der Verfassungsschutzbericht sei ein „Frühwarnsystem“23. In der Tat soll schon gewarnt werden, bevor eine Organisation so stark geworden ist, daß sie eine konkrete Gefahr für die Demokratie darstellt. Aber auch und gerade in so einem frühen Stadium weit vor einer konkreten Gefahr darf nicht vor Organisationen gewarnt werden, die gar nicht die freiheitliche demokratische Grundordnung beseitigen wollen. Das wäre ein krasses Mißverständnis dessen, was der Verfassungsschutzbericht als Frühwarnsystem zum Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung leisten soll24. Im übrigen verstoßen Sanktionen auf Verdacht gegen die rechtsstaatliche Grundregel des Sanktionenrechts – keine Sanktion ohne nach22 Eine Ausnahme könnte allenfalls gegeben sein, wenn der Verdacht einer konkreten Gefahr für die freiheitliche demokratische Grundordnung bestünde und bei einem Abwarten der Ergebnisse einer genaueren Beobachtung und Tatsachenermittlung ein nicht hinnehmbares Risiko bestünde, daß sich diese Gefahr verwirklicht, Murswiek (Fn. 12), S. 777; angesichts der regelmäßigen Einflußlosigkeit der betreffenden Organisationen ist das ein eher theoretischer, aber immerhin denkbarer Fall, der bei einer gewaltbereiten Organisation eintreten könnte. Ob dann die Warnung im Verfassungsschutzbericht noch ein geeignetes Mittel wäre, ist eine andere Frage, vgl. näher Dietrich Murswiek, in: Der Verfassungsschutzbericht. Funktionen und rechtliche Anforderungen, in: Janberd Oebbecke / Bodo Pieroth / Emanuel Towfigh (Hg.), Islam und Verfassungsschutz, 2007, S. 73 (79). 23 Vgl. z. B. VSB NW 2005, S. 89 Fn. 2. 24 Näher Murswiek, in: Oebbecke u. a. (Fn. 22), S. 80.

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gewiesene Tat. In der Verdachtsberichterstattung gehen eine weit vorgelagerte Gefahrenvorsorge und die Sanktionierung – angeblichen – politischen Fehlverhaltens eine unheilige Allianz ein – zum Schaden von Demokratie und Rechtsstaat. Das Bundesverfassungsgericht hat im JF-Beschluß diese Problematik nicht gesehen25 und die Verdachtsberichterstattung ohne jede Begründung für verfassungsrechtlich unbedenklich erklärt26. Es hat aber die Verdachtsberichterstattung immerhin von sehr einschränkenden Voraussetzungen abhängig gemacht. In formeller Hinsicht muß der Verfassungsschutzbericht im Unterschied zur früheren Praxis zwischen Verdachtsfällen und Fällen erwiesener Verfassungsfeindlichkeit deutlich und für den Leser klar erkennbar unterscheiden. Und materiell verlangt das Gericht eine besonders strenge Verhältnismäßigkeitsprüfung. Die Intensität des Verdachts muß „hinreichend sein, um die Veröffentlichung in Verfassungsschutzberichten auch angesichts der nachteiligen Auswirkungen auf die Betroffenen zu rechtfertigen.“27 Entscheidend ist, ob die tatsächlichen Anhaltspunkte so gewichtig sind, daß sie auch angesichts der Schwere des mit der Erwähnung im Verfassungsschutzbericht verbundenen Grundrechtseingriffs diesen rechtfertigen können. Oder, wie der Senat auch formuliert: „Art und Schwere der Sanktion“ müssen „auf das konkrete Gefahrenpotenzial abgestimmt sein“. Das bedarf näherer Konkretisierung28. Ich beschränke mich jetzt auf die Feststellung, daß jedenfalls die frühere Praxis der Verfassungsschutzbehörden, die sich für berechtigt hielt, immer schon dann im Verfassungsschutzbericht über eine Vereinigung zu berichten, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen für die Beobachtung gegeben waren, nach der JF-Entscheidung eindeutig verfassungswidrig ist. Es muß eine erhöhte, eine überwiegende Wahrscheinlichkeit gegeben sein, daß der Verdacht auch zutrifft29. Die Verwaltungsgerichte können sich deshalb bei der Kontrolle von Verfassungsschutzberichten nicht mehr auf die Prüfung beschränken, ob tatsächliche Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche Bestrebungen vorhanden sind. Sondern für alle Organisationen, die im Verfassungsschutzbericht nicht ausdrücklich als Verdachtsfälle gekennzeichnet sind, setzt die Einstufung als extremistisch im Verfassungsschutzbericht den vollen Nachweis der verfassungsfeindlichen Zielsetzung und entsprechender politischer Aktivität voraus, während für als Verdachtsfälle ausgewiesene Organisationen tatsächliche Anhaltspunkte nachgewiesen werden 25

Dazu näher Murswiek, in: Oebbecke u. a. (Fn. 22), S. 78 Fn. 23. BVerfGE 113, 63 (80 f.). 27 BVerfGE 113, 63 (81). – Näher dazu Dietrich Murswiek, Verfassungsschutz durch Information der Öffentlichkeit. Zur Entwicklung der Verfassungsschutzberichte seit dem JFBeschluß, in: Informationsfreiheit und Informationsrecht. Jahrbuch 2009, S. 57 (69 f.). 28 Dazu ausführlich Dietrich Murswiek, Neue Maßstäbe für den Verfassungsschutzbericht. Konsequenzen aus dem JF-Beschluß des BVerfG, NVwZ 2006, S. 121 (123); ders. (Fn. 27), S. 69 f.; ders. (Fn. 22), S. 81 f. 29 Murswiek (Fn. 22), S. 81. 26

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müssen, die eine überwiegende Wahrscheinlichkeit für eine verfassungsfeindliche Bestrebung ergeben. V. Administrative Maßnahmen unterhalb der Verbotsschwelle Wie gesagt führt die Erwähnung einer Vereinigung im Verfassungsschutzbericht regelmäßig zu ihrer politischen und gesellschaftlichen Ächtung. Der Verfassungsschutz übt massiven Druck aus, diese Ächtung durchzusetzen: Wer sich an der Ausgrenzung tatsächlicher oder vermeintlicher, im Verfassungsschutzbericht genannter Extremisten nicht beteiligt und beispielsweise einen extremistischen Rechtsanwalt zu einem Vortrag einlädt, muß damit rechnen, seinerseits vom Verfassungsschutzbericht als extremistisch stigmatisiert zu werden30. Diese Praxis ist weitgehend rechtswidrig, denn in vielen Fällen kann die Enttäuschung der Ausgrenzungserwartung ganz andere Motive haben als die Unterstützung extremistischer Bestrebungen31. Auch andere administrative Maßnahmen, die an die Einstufung einer Vereinigung als extremistisch anknüpfen, sind häufig rechtswidrig. Häufige Beispiele für solche Anknüpfungen in der Praxis sind: Versammlungsverbote, Vereitelung von Versammlungen durch von Gegendemonstranten organisierte Blockaden unter Beteiligung von Amtsträgern oder unter Duldung der zuständigen Behörden, Vorenthaltung staatlicher Leistungen, insbesondere Vorenthaltung der Benutzung öffentlicher Räume, Versagung des Gemeinnützigkeitsstatus und damit der Möglichkeit steuerbegünstigter Zuwendungen, Kündigung von Konten durch staatliche oder öffentlichrechtliche Kreditinstitute. Soweit derartige Maßnahmen sich gegen politische Parteien richten, sind sie schon wegen der materiellen Sperrwirkung des Parteienprivilegs32 verfassungswidrig. In bezug auf sonstige Vereinigungen gibt es dagegen kein verfassungsrechtliches Verbot der Anknüpfung belastender Maßnahmen an ihre Verfassungswidrigkeit. Hier ist zu differenzieren: Handelt es sich bei den fraglichen Maßnahmen um Grundrechtseingriffe, so kommt es darauf an, ob sie sich am Maßstab des jeweils betroffenen Grundrechts rechtfertigen lassen. Dies ist bei Eingriffen in die Versammlungs-, Meinungs- oder Pressefreiheit nicht der Fall. Die Versagung staatlicher Leistungen an Vereinigungen hingegen dürfte sich regelmäßig rechtfertigen lassen, wenn deren verfassungsfeindliche Zielsetzung nachweisbar ist33. 30 Dazu ausführlich Dietrich Murswiek, Verfassungsschutz-Mitarbeit als staatsbürgerliche Obliegenheit?, in: Gedächtnisschrift für Dieter Blumenwitz, 2008, S. 901 (905 ff.). 31 Eingehend dazu Murswiek (Fn. 30), S. 910 ff. 32 BVerfGE 12, 296 (304); dazu Hartmut Maurer, Das Verbot politischer Parteien, AöR 96 (1971), S. 203 (230 ff.). 33 Ein Verdacht hingegen rechtfertigt noch keinen Ausschluß von staatlichen Leistungen. Sanktionen dürfen nur an nachgewiesenes Fehlverhalten anknüpfen. Daher ist § 51 Abs. 3 AO insofern problematisch, als er den Ausschluß von der Steuerbegünstigung als gemeinnützig an

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Maßstab ist hier nur der Gleichheitssatz. Dieser schließt es aus, danach zu differenzieren, ob es sich um Links- oder Rechtsextremisten handelt, nicht jedoch danach, ob die Ziele verfassungsfeindlich oder mit der Verfassung vereinbar sind. Entsprechendes gilt für den Einsatz von Steuergeldern zur Bekämpfung extremistischer Organisationen. Das Parteienprivileg in Verbindung mit der staatlichen Neutralitätspflicht schließt es aus, daß Steuergelder gezielt zur Verminderung der Wahlchancen einer nicht verbotenen Partei eingesetzt werden. In bezug auf sonstige Vereinigungen muß sichergestellt sein, daß staatlich finanzierte Kampagnen sich nur gegen solche Organisationen richten, die nachweislich verfassungsfeindlich sind. Und auch hier muß im Rechts-/Links-Schema die Neutralität gewahrt werden. Die einseitige staatliche Bekämpfung nur des Rechtsextremismus, wie sie seit einiger Zeit staatliche Förderprogramme prägt, ist höchst problematisch. Erst recht nicht dürfen Fördergelder extremistischen Organisationen zur Verfügung gestellt werden, damit diese andere extremistische Organisationen bekämpfen34. VI. Maßnahmen gegen Mitglieder und Funktionäre einer Vereinigung Mittelbar kann der Staat die Betätigungsfreiheit von Vereinigungen auch dadurch beeinträchtigen, daß er Maßnahmen gegen ihre Mitglieder oder Funktionäre richtet. Zumindest dann, wenn solche Maßnahmen an die Mitgliedschaft oder an die satzungs- und programmgemäße und nicht verbotene – das heißt mit den allgemeinen, nicht vereinigungsspezifischen Gesetzen vereinbare – Tätigkeit in oder für die Vereinigung anknüpfen und als Sanktionen für diese Betätigung wirken, sind sie zugleich mittelbare Eingriffe in die Freiheit der jeweiligen Vereinigung. Denn dann schmälern sie deren Möglichkeit, Mitglieder und Unterstützer zu gewinnen und zu behalten. Diese Beeinträchtigung bedarf einer verfassungsrechtlichen Rechtfertigung, die sich – bei Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes – aus dem Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung ergibt. Problematisch ist hier wiederum die Beachtung des Parteienprivilegs. Diese Frage hat in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts unter dem Aspekt des „Radikalenerlasses“ die Gemüter bewegt und zu heftigen Diskussionen über die Fernhaltung von Verfassungsfeinden aus dem öffentlichen Dienst geführt. Dieses Thema soll hier nicht im einzelnen neu aufgegriffen werden. Das Bundesverfassungsgedie Erwähnung im Verfassungsschutzbericht knüpft. Auch wenn dies nur als widerlegbare Regelvermutung für eine verfassungsfeindliche Bestrebung formuliert ist, kann diese Vorschrift nur dann als verfassungsmäßig angesehen werden, wenn man sie einschränkend dahingehend interpretiert, daß die betreffende Organisation im Verfassungsschutzbericht als erwiesenermaßen extremistisch und nicht lediglich als Verdachtsfall ausgewiesen ist. 34 Die Kritik an der „Demokratieerklärung“ oder „Extremismusklausel“, mit der Familienministerin Kristina Schröder dies sicherstellen will – vgl. z. B. welt online 1. 4. 2011, www. welt.de/politik/deutschland/article13042232/Gutachten-stuetzt-Schroeders-Extremis mus%1fklausel.html (abgerufen am 1. 2. 2012) –, ist daher unberechtigt.

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richt hatte die Frage mit seinem „Radikalenbeschluß“ dahingehend entschieden, daß insoweit zwischen dem Bürger und dem Beamten zu unterscheiden sei. Um des ungestörten und unbehinderten Funktionierens der Partei willen dürfe der Bürger für seine parteioffizielle Tätigkeit nicht mit Sanktionen belegt werden, solange die Partei nicht vom Bundesverfassungsgericht verboten worden sei35. Der Beamte hingegen stehe zum Staat gemäß Art. 33 Abs. 5 GG in einem besonderen Treueverhältnis. Art. 33 Abs. 5 GG fordere vom Beamten das Eintreten für die verfassungsmäßige Ordnung. Die besonderen Pflichten des Beamten seien nicht aufgestellt in Ansehung der Interessen der politischen Partei, insbesondere nicht zur Behinderung ihrer politischen Aktivitäten, sondern in Ansehung der Sicherung des Verfassungsstaates vor Gefahren aus dem Kreis seiner Beamten. Es gehe nicht darum, daß der Beamte wegen seiner Zugehörigkeit zu einer politischen Partei benachteiligt wird. Die Frage sei vielmehr, ob der Beamte in seinem Amt die politische Treuepflicht verletzt oder nicht verletzt. Ein Stück des Verhaltens, das für die hier geforderte Beurteilung der Persönlichkeit des Bewerbers erheblich sein kann, könne auch der Beitritt oder die Zugehörigkeit zu einer politischen Partei sein, die verfassungsfeindliche Ziele verfolgt36. Ob hier wirklich das Parteienprivileg gar nicht berührt ist, erscheint als überaus fraglich, doch wäre es immerhin denkbar, Art. 33 Abs. 5 GG als verfassungsimmanente Schranke zu Art. 21 Abs. 2 GG zu interpretieren37. In einer neueren Entscheidung hat nun das Bundesverwaltungsgericht in einem Fall, in dem es nicht um Beamten oder Soldaten, sondern um einen Bürger ging, der nicht in einem Dienst- und Treueverhältnis zum Staat steht, die Anknüpfung eines Nachteils an die Tätigkeit für eine nicht verbotene und als extremistisch beurteilte Partei gerechtfertigt. Es ging um die Versagung der Verlängerung eines Waffenscheins für den früheren Vorsitzenden der DVU wegen Unzuverlässigkeit im Sinne von § 5 Abs. 2 Nr. 3 WaffG. Die Unzuverlässigkeit wurde allein auf die Tätigkeit des Klägers für die DVU gestützt. Zwar könne – argumentiert das Bundesverwaltungsgericht – grundsätzlich das, was dem Mitglied einer Partei an parteioffizieller Tätigkeit von Verfassungs wegen gestattet sei, nicht in anderen Rechtsbereichen mit nachteiligen Folgen verknüpft werden. Dieser Grundsatz erleide aber dann eine Ausnahme, wenn der Gesetzgeber aufgrund anderer Verfassungsgrundsätze verpflichtet oder jedenfalls berechtigt sei, eine abweichende Regelung zu treffen38. Bis hierhin kann man dem Bundesverwaltungsgericht folgen. Dann aber versucht der 6. Senat mangels einer verfassungsrechtlichen Pflichtenstellung des Betroffenen eine verfassungsimmanente Schranke aus der staatlichen Schutzpflicht für Leben und Gesundheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) abzuleiten: Der Gesetzgeber sei 35

BVerfGE 39, 334 (357 f.) m. Hinw. auf BVerfGE 5, 85 (140); 12, 296 (304 f.). BVerfGE 39, 334 (358 ff.). 37 So wohl BVerwG, Urt. v. 30.9.2009 – 6 C 29.08, Rn. 21, wo auf „eine verfassungsrechtlich besonders ausgeformte Pflichtenstellung“ abgestellt wird. 38 BVerwG, Urt. v. 30.9.2009 – 6 C 29.08, Rn. 21 = NVwZ-RR 2010, 225 – Fall Frey. 36

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im Einklang mit dieser Schutzpflicht zu der Einschätzung gelangt, daß die in § 5 Abs. 2 Nr. 3 WaffG näher bezeichneten verfassungsfeindlichen Bestrebungen im Regelfall dazu führten, daß die betreffende Person nicht die Gewähr dafür biete, in jeder Hinsicht ordnungsgemäß und verantwortungsbewußt mit der Waffe umzugehen. Für die Erfüllung der Schutzpflicht mache es keinen wesentlichen Unterschied, ob die die Unzuverlässigkeit begründende Tätigkeit innerhalb oder außerhalb einer politischen Partei ausgeübt werde. Es handele sich also nicht um Sonderrecht gegen politische Parteien39. Daß sich aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG keine Pflicht des Staates ergibt, Mitgliedern nicht verbotener extremistischer Parteien den Waffenschein zu versagen, ist völlig evident und wird vom Bundesverwaltungsgericht auch nicht behauptet. Deshalb ist es irreführend, zu formulieren, der Gesetzgeber habe die Regelung „im Einklang mit seiner Schutzverpflichtung aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG“ erlassen. Das hört sich so an, als habe der Gesetzgeber mit der Regelung seine Schutzpflicht erfüllt. Im Einklang mit der Schutzpflicht steht jedoch jede Regelung, die nicht gegen die Schutzpflicht verstößt. In Erfüllung einer Pflicht handelt nur, wer zu dem, was er tut, verpflichtet ist. Wer über die Pflichterfüllung hinaus zur Förderung desselben Ziels freiwillig noch mehr tut als rechtlich geboten ist, handelt nicht in Erfüllung einer Rechtspflicht. Nun sind die sekundären grundrechtlichen Schutzpflichten40 dadurch gekennzeichnet, daß sie ein Schutzziel, ein zu erreichendes Schutzniveau, vorgeben, dem Staat aber die Wahl der Mittel zur Erreichung dieses Ziels offen lassen. Der Gesetzgeber handelt insofern auch dann „in Erfüllung seiner Schutzpflicht“, wenn er die Verwaltung zu einer Schutzmaßnahme ermächtigt, zu der er nicht hätte ermächtigen müssen, wenn er durch eine Alternativregelung das verfassungsrechtlich gebotene Schutzniveau ebenfalls erreicht hätte. Eine Regelung, die ersatzlos gestrichen werden könnte, ohne daß die Schutzpflicht verletzt wird, ergeht hingegen nicht in Erfüllung der Schutzpflicht. Dann kann die Schutzpflicht aber auch nicht als verfassungsimmanente Schranke herhalten. So ist es bei § 5 Abs. 2 Nr. 3 WaffG. Die Annahme, es verstieße unter dem Schutzpflichtaspekt gegen Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG, wenn § 5 Abs. 2 Nr. 3 WaffG auf nicht verbotene politische Parteien keine Anwendung fände, wäre abstrus. Das Bundesverwaltungsgericht scheint auch nicht von dieser Annahme auszugehen, denn es stellt ja auf den „Einklang“ mit der Schutzpflicht und darauf ab, daß diese zu der Regelung, wenn nicht verpflichte, so doch jedenfalls berechtige. Auch diese Argumentation ist irreführend. Der Gesetzgeber benötigt zum Erlaß von Gesetzen – die Verbandskompetenz vorausgesetzt – keine besondere Berechtigung. Er ist zum Erlaß von Vorschriften, mit denen er Gemeinwohlziele verfolgt, immer berechtigt, 39

BVerwG, Urt. v. 30.9.2009 – 6 C 29.08, Rn. 21. Zur Unterscheidung der sekundären von den primären – strengeren – Schutzpflichten Dietrich Murswiek, Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, 1984, S. 101 ff., insb. 108 ff.; ders., in: Sachs (Hg.), Grundgesetz, 6. Aufl. 2011, Art. 2 Rn. 27. 40

Der Umgang mit verfassungswidrigen Vereinigungen

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sofern nicht Grundrechte oder andere Verfassungsnormen entgegenstehen. Er braucht dafür keine Berechtigung im Sinne einer verfassungsgesetzlichen Ermächtigungsgrundlage. Sofern aber eine Verfassungsnorm entgegensteht, ändert daran der Umstand nichts, daß der Gesetzgeber dasselbe Ziel verfolgt wie eine grundrechtliche Schutzpflicht. Besteht in concreto keine Pflicht, die betreffende Regelung zu erlassen, kann die Schutzpflicht die entgegenstehende Norm nicht überwinden. Es gibt in dieser Konstellation gar keine Normkollision, die durch „Herstellung praktischer Konkordanz“ überwunden werden müßte. Hinzu kommt, daß die Durchbrechung des Parteienprivilegs (Art. 21 Abs. 2 GG) auch nicht erforderlich wäre. Wenn der einfache Gesetzgeber die Anwendbarkeit von § 5 Abs. 2 Nr. 3 WaffG auch auf politische Parteien für sinnvoll und politisch geboten hält, kann er dies auch ohne Verstoß gegen das Parteienprivileg erreichen. Er kann nämlich durch Änderung des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes die Möglichkeit eröffnen, die Verfassungswidrigkeit einer Partei auf entsprechenden Antrag ohne Verbotsfolge auszusprechen. Entgegen einer von einem Teil der Literatur vertretenen Auffassung41 ergibt sich das Verbot nicht als zwingende Rechtsfolge aus Art. 21 Abs. 2 GG. Die Möglichkeit der Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer Partei durch das Bundesverfassungsgericht ohne Verbotsfolge ist sowohl mit dem Wortlaut als auch mit Sinn und Zweck von Art. 21 Abs. 2 GG vereinbar. Sie würde einerseits eine flexiblere Bekämpfung von Verfassungsfeinden ermöglichen und gleichzeitig die oft anstelle eines Verbots politische gewünschte Bekämpfung mit Mitteln unterhalb der Verbotsschwelle auf eine einwandfreie verfassungsrechtliche Basis stellen. Auf diese Weise würde ein administratives Einschreiten auch gegen nicht verbotene Parteien ohne Verstoß gegen das Parteienprivileg ermöglicht. Das wäre nicht nur eine Grundlage für den Spezialfall Waffenschein, sondern auch für andere Maßnahmen, die nach geltendem Recht entweder klar unzulässig (Ausschluß von der Parteienfinanzierung) oder zumindest problematisch (Warnung im Verfassungsschutzbericht) sind. Entgegen der Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts muß § 5 Abs. 2 Nr. 3 WaffG also verfassungskonform so ausgelegt werden, daß er auf politische Parteien keine Anwendung findet42.

VII. Schlußwort: Der Abbau rechtsstaatlichen Bewußtseins Zum Schluß ein Wort zu einer verbreiteten Praxis administrativer Maßnahmen, die sich gegen extremistische oder als extremistisch eingeschätzte Vereinigungen richten. Diese Praxis ist durch etwas charakterisiert, was man in dieser Weise wohl 41

Vgl. z. B. Jörn Ipsen, in: Sachs (Hg.), Grundgesetz, 6. Aufl. 2011, Art. 21 Rn. 170 m.w.N. 42 So bereits als Vorinstanz BayVGH, Urt. v. 26. 5. 2008 – VGH 21 BV 07.586 Abs.Nr. 21 ff. = BeckRS 2010, 45428.

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in keinem anderen Bereich unserer Rechtsordnung findet, nämlich durch fortlaufend wiederkehrende Rechtsbrüche der zuständigen Behörden, meist auf kommunaler Ebene, die sich in keiner Weise durch Gerichtsurteile beeinflussen lassen und die entgegen der ständigen Rechtsprechung immer wieder (tatsächlich oder angeblich) extremistischen Parteien die Benutzung von Stadthallen für Wahlkampfveranstaltungen und sogar für Parteitage versagen, die immer wieder Versammlungs- und Demonstrationsverbote gegen extremistische Vereinigungen erlassen, ohne daß die rechtlichen Voraussetzungen dafür gegeben sind. Mit diesem verfassungswidrigen Verhalten wollen die betreffenden Amtsträger ihre gute politische Gesinnung demonstrieren. Sie „zeigen Flagge“ gegen diejenigen, die politisch zu verachten und auszugrenzen ein Gebot der political correctness ist; diese triumphiert über das Verfassungsrecht, wenn es gegen die politisch Bösen geht. Das sind bekanntlich in unserer Zeit nicht die Extremisten schlechthin, sondern nur die Rechtsextremisten und diejenigen, die als solche angesehen werden. Entsprechende Maßnahmen gegen Linksextremisten sind mir in den letzten Jahren jedenfalls nicht bekannt geworden. Bürgermeister lassen sich für den offenen Verfassungsbruch feiern und können dann, wenn die von ihnen verbotene Versammlung doch noch stattfindet, auf das Verwaltungsgericht verweisen, das das Verbot leider aufgehoben hat. Manche Amtsträger reihen sich dann in die Gegendemonstration ein, was jedenfalls dann ein neuer Verfassungsbruch ist, wenn diese dazu dient, die Versammlung – etwa durch Blockade der Zugangswege – zu verhindern. Dieser gut gemeinte Kampf gegen den Extremismus ist das Gegenteil von gut. Er führt – besonders in der Verstärkung durch die massenmediale Unterstützung – zur Zerstörung des rechtsstaatlichen Verfassungsbewußtseins. Zu den Grundlagen der Demokratie und des Rechtsstaats gehört es, daß auch diejenigen, die man politisch bekämpfen will, einen Anspruch auf Beachtung ihrer Rechte haben und daß der Staat die Rechtsordnung generell zu achten hat. Wer das Recht beiseite läßt, wenn es gegen den „richtigen“ politischen Gegner geht, der praktiziert genau das, was die Regime getan haben, deren Wiederauferstehung die „streitbare Demokratie“ verhindern will.

Varianten, Ausmaß und Stil der Änderungen des Grundgesetzes Von Meinhard Schröder, Trier I. Das Thema Darstellungen, die sich mit der Änderung des Grundgesetzes befassen, konzentrieren sich häufig auf die Bedingungen des Art 79 und die Abgrenzung zum Verfassungswandel.1 Dabei geht es um den Schutz und die Kontrolle der Identität im Sinne der unveränderbaren Kerninhalte der Verfassung.2 Aufschlussreich können aber auch Analysen sein, die ihr Augenmerk darauf richten, inwieweit „das Grundgesetz im politischen Prozess der Verfassungsänderung … als wertvolles und schützenswertes Objekt und nicht als bloßes Instrument“ wahrgenommen3 und die prinzipielle Differenz zwischen materieller Grundordnung und einfachem disponiblem Gesetz beachtet wurde.4 Sie berühren Gegenstände, die Thomas Würtenberger seit langem beschäftigen: Zeitgeist, Konsensbildung, Verantwortung der Parteien. II. Varianten der Grundgesetzänderungen Sortiert man die nach dem Stand vom 31. 12. 2010 58 Grundgesetzänderungen5 zunächst nach Regelungsbereichen, ergeben sich im Wesentlichen fünf Varianten.6 Eine Rangfolge ist damit nicht verbunden. Auch ist mit Überschneidungen zu rechnen.7

1 Vgl. nur Stern, Staatsrecht, Bd. I 2. Aufl. (1984), S. 160; Maurer, Staatsrecht I 6. Aufl. (2010) § 21 Rn. 7; P. Kirchhof, Die Identität der Verfassung, in: HStR 3. Aufl. Bd. II (2004), § 21 Rn. 61 ff. 2 BVerfGE 123,267 Rn. 218,2 135,240; Kirchhof a.a.O. Rn. 3. 3 C. Möllers, Vom Altern einer Verfassung, in: 60 Jahre Grundgesetz APuZ 18 – 19/ 2009,S.5 ff (7). 4 Isensee, Staat und Verfassung, in: HStR 3. Aufl. Bd. II (2004) § 15 Rn. 87. 5 Genaue Dokumentation nach dem Stand von Anfang 2007 bei Bauer/Jestaedt, in: BK nach dem GG-Text. 6 Zum folgenden Zippelius/Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 32. Aufl. (2008) § 6 Rn. 39; Kloepfer, Verfassungsrecht I (2010) § 2 Rn. 172 ff.; H. Hofmann, Die Entstehung des Grundgesetzes von 1949 bis 1990, in: HStR 3. Aufl. Bd. I (2003) § 9. 7 Nach Maurer, Verfassungsänderung im Parteienstaat, Festschr. für M. Heckel (1999), S. 821 lassen sich die Änderungen kaum in eine systematische Ordnung bringen.

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Eine erste Variante, die als „nachgeholte Verfassungsgebung“8 bezeichnet werden kann, betrifft die Einführung der Wehr- und Notstandsverfassung 1954/56 bzw. 1968 durch das 4., 7. und 17. Änderungsgesetz. Seinerzeit nicht unumstritten,9 dürfte sie im Wesentlichen abgeschlossen sein. Verbliebene Unklarheiten und Streitfragen waren und sind Gegenstand verfassungsgerichtlicher Entscheidungen.10 Eine zweite Variante – ebenfalls abgeschlossen – erfasst „beitrittsbedingte Grundgesetzänderungen“ im Zuge der deutschen Wiedervereinigung, die Art 4 Einigungsvertrag vorsah und die im 36. Änderungsgesetz vom 23. 9. 1990 umgesetzt wurden. In einer weiteren dritten Variante geht es um die bundesstaatliche Ordnung, deren Zukunftseignung erhalten oder verbessert werden soll. Sie hat die Verfassungsentwicklung der Bundesrepublik nahezu von Anfang an begleitet und wird ihre Bedeutung auch in Zukunft behalten. Schwerpunkte sind die Verteilung der Gesetzgebungs- und Verwaltungskompetenzen und die Finanzverfassung, zuletzt ablesbar im 52. Änderungsgesetz vom 28. 8. 2006 (sog. Föderalismusreform I) und 54. vom 19. 3. 2009 (sog. Föderalismusreform II). Die vierte von (gesellschafts-)politischen Entwicklungen bestimmte Variante erfasst Änderungen im Grundrechtsbereich und in den Staatszielen. Hierher gehören das 42. Gesetz vom 27. 10. 1994, das 45. Gesetz vom 26. 3. 1998, das 47. Gesetz vom 29. November 2000 und das 50. Gesetz vom 26. 7. 2002. Bedeutsam sind fünftens Änderungen des Grundgesetzes im Zusammenhang mit der europäischen Integration. Sie sollen die Voraussetzungen und Grenzen der Mitwirkung der Bundesrepublik bestimmen. Sie organisieren die europapolitische Willensbildung staatsintern und nehmen sonstige durch den Fortgang der Integration bedingte Anpassungen der Verfassung vor11. Die Besonderheit dieser Variante liegt in der die binnenstaatliche Perspektive transzendierenden Wirkung.12 Zu ihr gehören das auf den Vertrag von Maastricht zurück gehende 38. Gesetz vom 21. 12. 1992, das 52. vom 28. 8. 2006 (Föderalismus Reform I) und die 53. Änderung vom 8. 10. 2008, die durch den Vertrag von Lissabon bedingt war. Weitergehende Grundgesetzänderungen im Fortgang der europäischen Integration sind nicht ausgeschlossen. 8 H. P. Schneider, 50 Jahre Grundgesetz, NJW 1999, 1497 (1498); Grimm, Das Grundgesetz nach 40 Jahren, in: ders., Die Zukunft der Verfassung, 2. Aufl. (1994), 374 (378); Dreier/ Wittreck, Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland: Entstehung und Entwicklung, Gestalt und Zukunft, in: dies., Grundgesetz, 5. Aufl. (2010), XIII (XVIII): „Verfassungsnachholung“. 9 Siehe dazu J. Ipsen, Der Staat der Mitte. Verfassungsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland (2009), S. 74 ff., 83 ff., 86 ff. 10 Etwa zum Einsatz der Streitkräfte und zum wehrverfassungsrechtlichen Parlamentsvorbehalt: BVerfGE 90, 286 ff.; 104,151; 108,34 ff.; 115,118 ff.; 118 ff.; 274 ff.; 121,135 ff. 11 Vgl. auch Hain, Zur Frage der Europäisierung des Grundgesetzes, DVBl 2002,148 (150). 12 Dazu R. Wahl, Internationalisierung des Staates (2001), in: ders., Verfassungsstaat, Europäisierung, Internationalisierung (2003), 17 (22,25 f.); Dreier/Wittreck (Fußn. 8), S. XX.

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Die beschriebenen Varianten haben das Grundgesetz in mehr als 63 Jahren um 47 auf 193 Artikel erweitert, Neufassungen und zusätzliche Absätze zum Erstbestand von 1949 nicht gerechnet. Auswirkungen auf das normative Erscheinungsbild lassen sich unter den Gesichtspunkten Ausmaß und Stil der Änderungen diskutieren. III. Ausmaß 1. Die Kritik am Umfang der Änderungen Verfassungsänderungen gehören zur rechtspolitischen Normalität13 – eine Beschreibung oder eine Bewertung? Sicher ist jedenfalls, dass das Ausmaß der Grundgesetzänderungen quantitativ und im Vergleich zu anderen Verfassungen der EUMitgliedstaaten beträchtlich ist. Teilweise ist es besonderen regelungsintensiven Umständen geschuldet: so die Einfügung der Wehr- und Notstandsverfassung, die beitrittsbedingten Änderungen zur Wiedervereinigung und neuestens die Föderalismusreform. Gleichwohl hat es immer wieder Kritik an allzu vielen Änderungen gegeben14, die das Vertrauen des Bürgers in die Unverbrüchlichkeit und prinzipielle Richtigkeit der Verfassung erschüttern und damit auch zu Stabilitätsverlusten führen sollen.15 Verantwortlich gemacht für das Übermaß der Änderungen werden etwa die entfesselte Dynamik eines ungestümen Zeitgeistes16 oder die tagespolitische Instrumentalisierung der Verfassung.17 Soweit die Beobachtung der Instrumentalisierung trägt – sie trifft nicht auf alle Veränderungen zu – gilt: Jede Verfassungsänderung ist auch eine politische Entscheidung, die sich nicht zunächst an den Wirkungsbedingungen der Verfassung orientiert sondern an den politischen Gegebenheiten und dem Bestreben, die Umkehr der Entscheidung zu erschweren. Aber auch wenn man hiervon absieht, wäre die Orientierungsmarke genauer zu bestimmen, deren Überschreitung ein Zuviel der Änderungen nach sich zieht. Es wäre zu belegen, welche Änderungen entbehrlich und welche notwendig waren, um Lücken zu schließen und Unzuträglichkeiten in der Verfassungspraxis oder Hemmnisse der politischen Gestaltung aus dem Weg zu räumen.18 Selbst wenn danach eine Änderung der Verfassung nicht notwendig wäre, kann dies aus anderen Gründen der Fall sein. Dafür ist die Aufnahme des Staatszieles Umweltschutz in Art. 20 a GG ein Beispiel. Lange 13 So Masing, Zwischen Kontinuität und Diskontinuität, Der Staat 44 (2005) 1; Hillgruber, Verfassungsrecht zwischen normativem Anspruch und politischer Wirklichkeit, VVDStRL 67 (2008), 8 (46); Dreier, Verfassungsänderung leicht gemacht, ZSE 2008, 309 (405). 14 Siehe nur K. Hesse, Die normative Kraft der Verfassung (1959), wieder abgedr. in: Friedrich (Hrsg.), Verfassung (1975), hier S. 89; W. Weber, Das Problem der Revision und Totalrevision des Grundgesetzes, in: Festgabe Maunz (1971), 451 (453); Stern (Fußn. 1), S. 87; Grimm (Fußn. 8), S. 378; zuletzt Kloepfer (Fußn.6) Rn. 173. 15 Voßkuhle, Grundrechtspolitik und Asylkompromiss, DÖV 1994, 53 (62). 16 So Stern (Fußn. 14) . 17 So Kloepfer (Fußn. 14). 18 Vgl. bereits Grimm, Verfassungsfunktion und Grundgesetzreform, in: ders. (Fußn. 8), 315 (339 ff.).

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Zeit in der Notwendigkeit umstritten, hat sie den erreichten Konsens über eine zentrale Querschnittsaufgabe des Staates sichtbar gemacht und ihr als Bestandteil der Grundordnung verfassungsrechtliche Legitimität verliehen.19 Ohne derartige Analysen fällt es schwer, dem Grundgesetz den beklagten Qualifikations- und Vertrauensverlust zu bescheinigen. 2. Unterbliebene Änderungen Seltener wird die Frage nach den Auswirkungen der gleichfalls erheblichen Anzahl unterbliebener Grundgesetzänderungen20 gestellt. Nur ausnahmsweise war bisher von einem verfassungspolitischen Immobilismus die Rede, der authentischere, zeitgemäße oder überzeugendere Antworten als das Grundgesetz sie in vieler Hinsicht biete, verhindert habe.21 Die überwiegende Auffassung des Schrifttums setzt auf Kontinuität und Qualität der Verfassung. Änderungen gelten als ultima ratio.22 So erschienen um den Preis des seit langem fortschreitenden Bedeutungsverlusts des Verfassungswortlauts23 immer wieder Änderungen infolge einer verfassungsgerichtlich abgesicherten, mehr oder weniger extensiven, den Verfassungswandel betonenden Verfassungsinterpretation entbehrlich. Beispiele bieten der Datenschutz, die grundrechtliche Nutzung des Internet24 und die negative Vertrauensfrage in Art 68 GG.25 So wurden Änderungen abgelehnt, weil sie zu Gewichts- und Funktionsverschiebungen zwischen Bundesorganen führen könnten – etwa die Direktwahl des Bundespräsidenten.26 Kritisiert wurde die Initiative für eine allgemeine Bestimmung zum Schutz künftiger Generationen, weil sie einen kollektiven Maßstab zu Lasten des Individuums in die Verfassung einführe.27 Änderungen erschienen und erscheinen auch fehl am Platz, weil sie in das Grundgesetz seinem Typus als „Rechtsverfassung“ inadäquate Elemente – zusätzliche Staatsziele28 – einfügen oder weil sie – am Ausstieg aus der Kernenergie zu demonstrieren – prinzipiell verfassungsfremde Ziele verfolgen: die Aufnahme von Ein19

Siehe dazu Epiney, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, 6. Aufl. (2010), Art 20 a Rn. 13 mit Nachw.; Scholz, in: Maunz/Dürig, Art 20 a Rn. 17 (Stand 2002). 20 Überblick bei Kloepfer (Fußn. 6), § 2 Rn. 211 ff. 21 So H. P. Schneider, Das Grundgesetz auf Grund gesetzt? NJW 1994, 558 (561) zur Gemeinsamen Verfassungskommission. 22 Voßkuhle, wie Fußn. 15. 23 Dazu Durner, in: Maunz/Dürig, Art 10 Rn. 59 (Stand 2010). 24 Michael/Morlok, Grundrechte, 2. Aufl. (2010), Rn. 34; J. Ipsen, Staatstecht II (Grundrechte), 12. Aufl. (2009), Rn. 317 f. 25 Vgl. Hillgruber (Fußn. 13), S. 30 ff.; Schenke, in: BK Art 68 Rn. 279 mit Fußn. 556. 26 Nettesheim, Die Bundesversammlung und die Wahl des Präsidenten, in: HStR 3. Aufl. Bd. III (2003) § 63 Rn. 3; P. Krause, Verfassungsrechtliche Möglichkeit unmittelbarer Demokratie, ebenda § 35 Rn. 8, Fußn. 26. 27 S. Baer, Demografischer Wandel und Generationengerechtigkeit, VVDStRL 68 (2008), 290 (305 f.) zu BT Drucks. 16/3399 mit Nachw. 28 Isensee, Staatsaufgaben, in: HStR 3. Aufl. Bd. IV (2006) § 73 Rn. 49 ff.

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zel-, Fach- oder rein tagespolitischen Entscheidungen, die überdies die politische Beweglichkeit einschränken29. Die Haltung der Politik zu bislang erfolglos gebliebenen Änderungsvorschlägen ist, unbeschadet einzelner Äußerungen, die eine prinzipielle Zurückhaltung gegenüber Grundgesetzänderungen oder überflüssigen Regelungen artikulieren,30 insbesondere an der jeweiligen politischen Situation wie der parteioder koalitionspolitischen Durchsetzbarkeit und den erreichbaren Mehrheiten orientiert. Deshalb haben beispielsweise Initiativen zur Verankerung der Kulturstaatlichkeit31 und des Sports32 als Staatsziele, die Aufnahme der deutschen Sprache33 und von Kinderrechten in das Grundgesetz34 bislang keinen Erfolg gehabt. Ein weiteres Lehrstück liefert der Ausstieg aus der Kernenergie 2011. Der Verzicht auf eine Festschreibung im Grundgesetz beruht hier wesentlich auf den „faktischen Zukunftswirkungen“35 der umgehend eingeleiteten energiepolitischen Wende, in deren Verlauf die bestehenden Kernkraftwerke still gelegt und der von ihnen produzierte Strom, begleitet von entsprechenden Infrastrukturmaßnahmen durch erneuerbare Energien ersetzt werden soll. Eine verfassungsgesetzliche Festschreibung konnte unter dieser Voraussetzung auch der Opposition, die sie zunächst gefordert hatte, entbehrlich erscheinen. Nimmt man die nicht realisierten Grundgesetzänderungen insgesamt in den Blick, lässt sich die teilweise unterschiedliche Haltung von Wissenschaft und Politik zu Änderungen des Grundgesetzes mit dem jeweiligen Verfassungsverständnis erklären. Die Wissenschaft versteht das Grundgesetz weithin und zutreffend in erster Linie als bewährte Rahmenordnung. Sie soll als solche erhalten bleiben. Vor allem Entwicklungen in der Gesellschaft sollen deshalb, soweit sie in einen Verfassungswandel münden, möglichst durch (verfassungsgerichtliche) Interpretation, nicht durch gesetzgeberische Eingriffe in das Grundgesetz verarbeitet werden. Darin hat sie sich in der Vergangenheit vielfach mit der CDU/CSU getroffen. Diese erscheint ge29 Gegen Einzelfrage: G. Schwan, Atomausstieg nicht in die Verfassung (9. 7. 2008), zitiert nach sueddeutsche.de/politik/kernkraft-spaltet-spd-Schwan-atomausstieg-nicht-die Verfassung-1.207 880; gegen die Aufnahme notwendiger Fachentscheidungen Kl. Töpfer, zitiert nach FAZ Nr. 130 vom 6. Juni 2011, S. 2 (Debatte über den Atomausstieg); gegen tagespolitische Entscheidung: Battis, Fundstelle wie Schwan; Betonung der Beweglichkeit: Isensee, Fundstelle wie Schwan; siehe aber auch Kloepfer, Herrschaft auf Zeit, FAZ Nr. 138 vom 16. Juni 2011, S. 10. 30 Mit ihrer prinzipiellen Zurückhaltung wies die Bundeskanzlerin Merkel am 12. 7. 2008 das Angebot der SPD, den Ausstieg aus der Kernenergie verfassungsrechtlich zu verankern, zurück; MdB Ramsauer (CDU/CSU) warnte anlässlich der Bundestagsdebatte am 14. Mai 2009 zum 60-jährigen Bestehen des Grundgesetzes vor einem überflüssigen Herumbasteln am Grundgesetz (Plenarprotokoll der 222. Sitzung). 31 BT-Drucks. 10/387. 32 Fundstelle: siehe den Bericht zeit.de/online/2009/28/sport-grundgesetz. 33 Dazu E. Klein, in: BK Art 22 Rn. 192 ff. (Stand 2008). 34 www.spdfraktion.de, Dokumente 10/08 „Kinderrechte ins Grundgesetz“: Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, BT Drucks. 16/5005. 35 Kloepfer (Fußn. 29).

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nerell änderungsresistenter als die anderen Parteien, für die das Grundgesetz als „Integrationsverfassung“36 neue gesellschaftspolitische Ziele und Entwicklungen von Gewicht auch durch Änderungen des Textes sichtbar machen muss. IV. Stil 1. Zur Genese der Stilfrage Erst relativ spät ist die Kritik am Stil der Grundgesetzänderungen zu einem Thema geworden. Zwei Gründe lassen sich angeben. Zum einen befasst sich die ohnehin wenig gepflegte Verfassungslehre nicht mit der Gestalt von Verfassungsänderungen und ihren etwaigen (Rück-) Wirkungen auf die Verfassung. Zutreffend bemerkt Herbert Krüger 1974: „Zwar gibt es seit langem Untersuchungen, die der Kunst der Gesetzgebung gewidmet sind37, aber es scheint, als ob über die Kunst der Verfassungsgebung allenfalls beiläufig etwas gesagt worden wäre.“38 Für Verfassungsänderungen galt dies lange Zeit gleichermaßen. Nur vereinzelte Äußerungen können als einschlägig bezeichnet werden. Peter Lerche etwa stellt 1961 in seinen „polemischen Bemerkungen“ unter dem Titel Stil, Methode, Ansicht fest: „Zwar mag die Verfassung zur axiomatischen Geschlossenheit tendieren: Befriedigt sie aber diese Tendenz über eine gewisse Schwelle hinaus so fällt sie – nur scheinbar paradoxerweise – zum Organisationsreglement ab. Das stellt dann zwar eine perfekte ,Fassung‘ dar, jedoch keine ,Verfassung‘.“39 Der zweite Grund, der die Stilfrage in den Hintergrund gedrängt hat, liegt darin, dass erst und zunehmend die Grundgesetzänderungen, die seit Ende der Sechzigerjahre des 20. Jahrhunderts vorgenommen wurden, Anlass zur Kritik ihrer Gestalt gegeben haben. Im Einzelnen bezog sich diese Kritik bisher auf folgende Änderungsgesetze: – 17. ÄndG (1968) betreffend Art 12a GG; – 38. ÄndG (1992) betreffend Art 23, insbesondere Abs 2 – 7 GG; – 39. ÄndG (1993) betreffend Art 16a Abs 2 – 5 GG; – 45. ÄndG (1998) betreffend Art 13 Abs 3 – 6 GG; – 57. ÄndG (2009) betreffend Art 109 Abs 3, 115 Abs 2, 143d GG. 36 Zu diesem Begriff: Isensee (Fußn. 28) Rn. 50; ders., Verfassungsrecht als politisches Recht, HStR Bd. VII (1992) § 162 Rn. 43 ff. 37 Klassisch: Peter Noll, Gesetzgebungslehre, 1973; H. Schneider, Gesetzgebung, 1991 u. ö.; zuletzt Kl. Messerschmidt, Gesetzgebungslehre zwischen Wissenschaft und Politik, Zeitschrift für das Juristische Studium – www.zjs-online.com, 2008, 111 ff., 224 ff. (Belege aktualisiert). 38 Die Kunst der Verfassungsgebung, VRÜ 1974, 233. 39 Zitiert nach dem Abdruck in: Friedrich (Hrsg.), Verfassung (1978), S. 201.

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Aus ihr haben sich zunächst anlassbezogene, im weiteren Verlauf stärker verallgemeinernde Argumente entwickelt. 2. Argumente Die Kritik der Wissenschaft am Regelungsstil der Grundgesetzänderungen setzt mit dem Vorwurf ein, die getroffenen Regelungen seien viel zu detailliert: Sie muteten wie ein steuerrechtlicher Ausführungserlass an und überfrachteten das Grundgesetz40. Die Änderungen verließen den klassischen kurzen und prägnanten Sprachduktus des Grundgesetzes.41 Diese Kritik ist bis heute unverändert42. Zum Teil verbindet sie sich mit (sprach)ästhetischen Wertungen: Die Detailversessenheit der Regelungen erscheint als „Pfusch am Bau“43, die sprachliche Gestalt der Regelungen im Vergleich zu der des Originalgrundgesetzes „verheerend wie ein Parkhaus aus Beton in einem Bauhaus-Ensemble“,44 weil zu „lang und undeutlich, sprachlich ungelenk, grammatikalisch fragwürdig, schwerfällig“ und „systematisch unglücklich“ platziert45. Grundsätzlichere Erwägungen betreffen die Ursachen für den Wortreichtum: die für eine Verfassungsänderung notwendige Mehrheit, die letztlich nur im Wege des Kompromisses erzielt werden könne46, und das Misstrauen gegenüber Gesetzgebung und Rechtsprechung, die ohne engmaschige Regelungen den gefundenen Kompromiss korrigieren könnten.47Andererseits erscheint gerade die Entmachtung des Ge-

40 Zuck, Die Wanze im Beichtstuhl und ihre juristischen Kammerjäger, NJW 1998, 1919 (1920) zu Art 13 GG; K. Ipsen, in: BK, Art 12a Rn. 353 ff. (1976); Gubelt, in: Münch/Kunig, Grundgesetz, 6. Aufl. 2000, Art 12a Rn. 27; Schnapp, ebenda, Art 16a Rn. 33; zu Art 23 Abs 2 ff.: Ossenbühl, Maastricht und das Grundgesetz- eine verfassungsrechtliche Wende? DVBl 1993, 629 (630); Everling, Überlegungen zur Struktur der Europäischen Union und zum neuen Europa-Artikel des Grundgesetzes, DVBl 1993, 936 (945). 41 Stern, Staatsrecht Bd. V (2000), S. 1550. 42 Zu Art 12a: J. Ipsen, in: BK, Rn. 328; zu Art 13 Abs 3 ff.: Papier, in: Maunz/Dürig, Rn. 69,71; Gornig, in: von Mangoldt/Klein/Starck, 6. Aufl. 2010, Rn. 89; Stern (Fußn. 41), S. 1551; zu Art 16a: U. Becker, in: von Mangoldt/Klein/Starck, Rn. 16; Randelzhofer, Asylrecht, in: HStR 3. Aufl. Bd. VII (2009), § 153 Rn. 8; zu Art 115 Abs 2, 143 d etwa: H. H. Klein, www.faz.net/artikel/C31408/ausderwissenschaft30038936.html; Dreier/Wittreck (Fußn. 6), S. XXVII; allgemeiner: Isensee, Vom Stil der Verfassung, Nordrheinwestfälische Akademie der Wissenschaften, Vorträge G 361 (1999), S. 26 ff.; Maurer (Fußn.7); Dreier (Fußn.13), S. 404. 43 Limbach, „Kritische Loyalität üben“, in: Das Parlament Nr. 20 v. 11. 5. 2009, S. 2. 44 Möllers, wie Fußn. 3. 45 Korioth, Das neue Staatsschuldenrecht – zur zweiten Stufe der Föderalismusreform, JZ 2009, 729 (736). 46 Voßkuhle, Verfassungsstil und Verfassungsfunktion, AöR 119 (1994), 35 (38); Maurer (Fußn. 7), S. 826; Dreier wie Fußn. 13. 47 Voßkuhle (Fußn. 15), S. 57 ff.; Maurer (Fußn. 7), S. 825 zur Gerichtsbarkeit.

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setzgebers als Folge zu starker Detaillierung der Verfassung bedenklich.48 Sie verwischt die prinzipielle Differenz zwischen Verfassung und Gesetz, weil sie die Verfassung wie ein beliebig auffüllbares Gesetz behandelt.49 Überdies kann sie zu unerwünschten weiteren Verfassungsänderungen in der Zukunft führen.50 Mehrfach findet sich die Aussage, dass der kritisierte Regelungsstil Auswirkungen auf die Verfassungsfunktion habe.51 Allerdings habe die Verfassung vielfältige Aufgaben zu erfüllen, weshalb der Normierungsstil nicht durchweg derselbe sein müsse. Materiellrechtliche Verfassungsnormen, insbesondere die Grundrechte, bedürften einer offenen, konkretisierungsbedürftigen Sprache, im Gegensatz zu organisationsrechtlichen Fragen, die in weiten Bereichen auf präzise anwendungsfreundliche Regelungen angewiesen seien.52 Auf mittlere und längere Sicht wird befürchtet, dass das Grundgesetz in zwei Teile zerfallen könnte: „in einen bewährten Verfassungskern, der namentlich die Grundrechte, die Verfassungsprinzipien sowie Struktur und Funktion der Verfassungsorgane umfasst und einen wuchernden Bereich diffuser Detailnormen über Kompetenz- und Finanzfragen, der in seiner Kleinteiligkeit nur noch Experten zugänglich ist und nicht zuletzt wegen seiner unauflöslichen Verzahnung mit Einzelfragen des einfachen Rechts einer Art Verfassungsrecht minderen Ranges degenerieren“ könnte.53 Die rechtliche Relevanz der geäußerten Kritik wird unterschiedlich gesehen. Soweit nicht ohne nähere Konkretisierung von einer „Verletzung aller Regeln ordnungsgemäßer Verfassungsgebung“ die Rede ist,54 wird die Konzeption des Grundgesetzes bemüht, nach der nur grundsätzliche Regelungen in die Verfassung aufgenommen und Details dem einfachen Gesetzgeber überlassen werden sollen. Andernfalls liege ein Formenmissbrauch vor.55 Ebenso wenig dürfte die für die Demokratie wesentliche Offenheit in die Zukunft hinein durch künstlich aufgebaute verfassungsgesetzliche Barrieren erschwert werden.56 Zweifelhaft sei auch die demokratische Legitimation der gegenwärtig Agierenden im Hinblick auf die Einschränkung von Gestaltungsräumen für nachfolgende Repräsentationsorgane in Bund und Ländern.57 Andererseits findet sich die Ansicht, dem Regelungsstil könne mit verfassungsrecht48 Stern wie Fußn. 41; Papier (Fußn. 42) Rn. 71; Kunig, in: von Münch/Kunig, 6. Aufl. 2000, Art 13 Rn. 54.; Dreier wie vor; Selmer, Die Föderalismusreform II – ein verfassungsrechtliches monstrum simile, NVwZ 2009, 1255 (1260). 49 Grimm, Das Grundgesetz nach 50 Jahren – Versuch einer staatsrechtlichen Würdigung, in: Bundesmin. des Inneren (Hrsg.), Bewährung und Herausforderung, Die Verfassung vor der Zukunft, 1999, 39 (52 f.). 50 Maurer (Fußn. 7), S. 826; H.H. Klein (Fußn. 42). 51 Voßkuhle (Fußn. 46), S. 46 ff.; Korioth wie Fußn. 44; Selmer (Fußn. 48), S. 1259. 52 Voßkuhle (Fußn. 46), S. 59. 53 Dreier/Wittreck (Fußn. 8), S. XXVIII. 54 Everling wie Fußn. 40. 55 Maurer (Fußn. 7), S. 834 f. 56 Maurer (Fußn. 7), S. 836. 57 Selmer (Fußn. 48), S. 1260.

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lichen Mitteln nicht gegengesteuert werden. Noch weniger könne sich die Verfassung vor ihre Transparenz und Ästhetik verändernden Zugriffen des verfassungsändernden Gesetzgebers schützen.58 Die Rechtsgeschichte belege, dass die Leistungsfähigkeit von Normen nicht allein von deren Bestimmtheitsgrad (oder auch der Luzidität ihres systematischen Aufbaus) abhängig ist. Auch solle man die Schwierigkeiten des verfassungsrechtlichen Normentwurfs unter heutigen Bedingungen nicht außer Acht lassen.59 Die Stellungnahmen politischer Akteure vor der Verabschiedung der Art 109, 115 Abs 2, 143d GG belegen die weitgehende Unempfindlichkeit gegen die Argumente der Wissenschaft. So äußerte der bayerische Ministerpräsident Seehofer: „Die Formulierungen mögen nicht schön sein. Ich halte sie aber in der vorliegenden Form für richtig und erforderlich“. Vorwiegend ästhetisch begründete Einlassungen seien in dieser entscheidenden Frage der Zukunft (s. l. der Schuldenbegrenzung) nicht angebracht.60 Auch der parlamentarische Geschäftsführer der SPD-Fraktion Oppermann befand, dass Präzision vor Schönheit gehe. Schon jetzt gebe es in den hinteren Teilen des Grundgesetzes Verfassungsartikel, die nicht bloß Grundrechte normierten, sondern auch Einzelheiten von Bund-Länder-Finanzbeziehungen. Der eingeleitete Paradigmenwechsel müsse auch im Detail im Grundgesetz geregelt werden.61 Lediglich Bundestagspräsident Lammert hielt das Volumen der Verfassungsänderungen für „unmaßstäblich“. Sie gingen über die eigentliche Funktion des Grundgesetzes hinaus.62 Er fand mit seiner Auffassung keine Zustimmung. 3. Notwendige Differenzierungen Das skizzierte Meinungsbild führt zu Differenzierungen. Im Grundgesetz ist die Verfassungsänderung ein Anwendungsfall der Gesetzgebung, von der sie sich nur durch das Erfordernis der qualifizierten Mehrheit unterscheidet.63 Das hat Folgen für die Gestaltung der Verfassungsänderungen. Die Gleichsetzung der Verfassungsänderung mit der normalen Gesetzgebung begünstigt 58

Kunig wie Fußn. 48. Kunig, Die Mitwirkung der Länder bei der Europäischen Integration: Art 23 des Grundgesetzes im Zwielicht, in: Ipsen/Rengeling/Mössner/Weber (Hrsg.), Verfassungsrecht im Wandel (1995), 591 (592). 60 www.faz.net/artikel/C30923/foederalismusreform-seehofer-verteidigt-schuldenbremse30195473.html. 61 www.faz.net/artikel/C30923/foederalismusreform-praezision-vor-schoenheit-301542. %20html. 62 www.faz.net/artikel/C30923/foederalismusreform-lammert-schuldenbremse-verunstaltetgrundgesetz-30101334.html. 63 Badura, Verfassungsänderung, Verfassungswandel, Verfassungsgewohnheitsrecht, in: HStR VII (1992), § 160 Rn. 3 und 20; Dreier (Fußn. 13), S. 406; a. A. Maurer (Fußn. 7), S. 832 f., der die Verfassungsänderung als eigene Kategorie zwischen Verfassungsgebung und Gesetzgebung auffasst. 59

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ein fehlendes Gespür der politischen Akteure für die qualitative Differenz zwischen den beiden Formen der Gesetzgebung.64 Besondere Rücksichtnahme auf Duktus, Sprache und Gestalt der Verfassung ist nicht erforderlich. Vor allem lassen sich Anforderungen an „Stil, Methode, Ansicht“ (Lerche) so wenig wie bei der sonstigen Gesetzgebung65 verfassungsrechtlich begründen: Von Art 79 Abs 3 GG abgesehen fehlt es an greifbaren Anhaltspunkten dafür, dass der verfassungsändernde Gesetzgeber die vorgefundene konzeptionelle Unterscheidung zwischen Grundsatz- und Detailregelungen in jedem Fall fortführen müsse oder ihm die demokratische Legitimation für die verfassungsrechtliche Hochzonung bestimmter Entscheidungen abgehen könnte. Andererseits darf die Gestaltung verfassungändernder Regelungen nicht als bloße Frage der Sprach- oder Verfassungsästhetik gesehen werden. Etwaige Beeinträchtigungen der Funktionen, die die Verfassung erfüllen soll, durch eine inadäquate Regelungstechnik kommen sonst nicht in den Blick oder werden um des ausgehandelten Kompromisses willen ausgeblendet.66 Begünstigt wird diese Einstellung, weil verfassungsfunktionsabhängige Grundsätze oder Richtpunkte67 der Verfassungsgebung/-änderung bisher wenig diskutiert worden sind.68 Forderungen nach Kürze, Konzentration der in die Verfassung aufzunehmenden Regelungen auf das Wesentliche oder nach grundsätzlicher Verständlichkeit69 gehen davon aus, dass die Regelungen der Verfassung nach einheitlichen Grundsätzen gestaltet werden müssen. Bei genauerer Betrachtung trifft dies nicht zu. Es gibt nicht den Stil der Verfassung, sondern mehrere in der Abfolge ihrer Gliederungsabschnitte.70 So ist zu beobachten: Je weiter die Regelungsabschnitte des Grundgesetzes vom Grundrechtsteil entfernt sind, umso mehr nähern sie sich im Stil dem des einfachen Gesetzes.71 Der Grund liegt in der Unterschiedlichkeit der Funktionen, die Normen innerhalb der Verfassung erfüllen. Die für den Normierungsstil der Verfassungsänderungen bedeutsamste Unterscheidung innerhalb der Normen des Grundgesetzes betrifft die zwischen solchen, die prinzipielle Richtigkeit und Kontinuität der Staats- und Rechtsordnung verkörpern sowie der Bildung und Erhaltung der staatlichen Einheit dienen, einerseits 64

Dreier wie Fußn. 63. Ossenbühl, Verfahren der Gesetzgebung, in: HStR 3. Aufl. (2007), § 102 Rn. 6; zuletzt Meßerschmidt (Fußn. 37), S. 121. 66 Voßkuhle (Fußn. 46), S. 59; Selmer (Fußn. 48), S. 1259. 67 Begriff von Grimm (Fußn. 18), S. 333 ff. 68 Siehe aber Hilf, Die sprachliche Struktur der Verfassung, in: HStR Bd. VII (1992), § 161 Rn. 7 ff.; Isensee, Vom Stil der Verfassung (Fußn. 42); Voßkuhle (Fußn. 46), S. 46 ff. 69 Vgl. nur Klein (Fußn. 50); Selmer wie Fußn. 66; weitere Nachweise aus früherer Zeit bei Voßkuhle (Fußn. 46), S. 37 Fußn. 8; danach etwa Maurer (Fußn. 7), S. 822 zur Verständlichkeit und Akzeptanz. 70 Isensee (Fußn. 42), S. 11 (Hervorhebung im Original). 71 Isensee (Fußn. 42), S. 20. 65

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und solchen des so genannten Staatsorganisationsrecht andererseits.72 Zu Ersteren gehören die Grundrechte, grundrechtsgleichen Rechte, Staatsziel- und Staatsstrukturbestimmungen. Ihre Normierung bedarf knapper und verständlicher Sprache, denn sie berühren den Einzelnen unmittelbar, liefern ihm grundlegende Orientierung und tragen zur permanenten Konsensbildung innerhalb der Gesellschaft wesentlich bei.73 Damit sie diese Leistungen erbringen können, sind Normen dieses Typs auf eine elastische, offene Struktur angewiesen, die Interpretationsvarianzen in der Zeit erlaubt. Hier ist auch die Entmachtung des (einfachen) Gesetzgebers durch übermäßige Detaillierung am wenigsten erträglich, weil sie die Möglichkeit, die Konsensbildung verantwortlich zu steuern und einem Wandel des Konsenses Rechnung zu tragen, weitgehend entzieht. An diesen Richtpunkten gemessen sind die Verfassungsänderungen, mit denen Art 12 a, 13 Abs 3 – 6 und 16 a in das Grundgesetz eingefügt worden sind, Fehlgriffe des verfassungsändernden Gesetzgebers gewesen. Im Staatsorganisationsrecht, insbesondere bei der Ausgestaltung der bundesstaatlichen Ordnung, der Verteidigung der Gesetzgebungs- und Verwaltungskompetenzen sowie der Finanzverfassung wechselt der Normierungsstil.74 Hier kann und darf es detaillierte, ausdifferenzierte Normen geben in dem Maße, in dem die Komplexität des Regelungsgegenstandes knappe Formulierungen nicht zulässt.75 Ihr Adressat ist vor allem der Experte, weshalb allgemeine Verständlichkeit für den Laien als Maßstab der Normierung grundsätzlich ausfällt. Im Vordergrund steht die Anwendungsfreundlichkeit für die Staatsorgane.76 Dementsprechend sind die mit der Föderalismusreform II eingefügten Vorschriften über die so genannte Schuldenbremse nicht schon wegen ihrer Detaillierung kritikwürdig und liegt dieserhalb keine Beeinträchtigung der Verfassungsfunktionen vor. Davon zu trennen ist die Bewertung des Arguments der Verunstaltung des Grundgesetzes durch zu detaillierte und wortreiche Formulierungen vor allem in der jüngeren Praxis der Verfassungsänderung. Es beruht auf einer verfassungsästhetischen Betrachtungsweise, die dem verfassungsändernden Gesetzgeber vorhält, den im Ursprungsbestand des Grundgesetzes vorgefundenen Sprach- und Gestaltungstil missachtet zu haben. Rechtliche Relevanz kommt ihm zwar nicht zu. Es lenkt aber den Blick zutreffend darauf, dass die Kunst der Verfassungsgebung nicht nur darin besteht, die Grundordnung angemessen weiter zu entwickeln, sondern dabei auch im Bewusstsein zu haben, dass das Grundgesetz die nationale Grundordnung nicht nur fixiert, sondern ihr auch ein unverwechselbares Erscheinungsbild gegeben hat, das nicht verloren gehen darf. Den verantwortlichen politischen Kräften gelingt dies immer weniger: Das Erscheinungsbild des verfassungsändernden Gesetzes 72

Voßkuhle wie Fußn. 65. Dazu Voßkuhle (Fußn. 46), S. 47, 52; Würtenberger, Wiedervereinigung und Verfassungskonsens, JZ 1993, 745 (746). 74 Isensee (Fußn. 42), S. 20. 75 Voßkuhle (Fußn. 46), S. 43,50. 76 Voßkuhle (Fußn. 46), S. 59. 73

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wird nicht genügend mit dem des Grundgesetzes abgeglichen, es wird wie ein beliebiges Gesetz behandelt. Hinzu kommt der Niedergang der Gesetzgebungskunst, der zwangsläufig auch das verfassungsändernde Gesetz erfasst, und das Bestreben, den gefundenen Kompromiss in seiner Unumkehrbarkeit möglichst genau zu dokumentieren. V. Gesamtbild Die Andeutungen zum Ausmaß und Stil der Verfassungsänderungen fügen sich zu einem Gesamtbild. Der Umfang der Verfassungsänderungen lässt sich ohne eingehende Analyse der einzelnen verfassungsändernden Gesetze nicht überzeugend bewerten. Die Forderung, dass Änderungen die ultima ratio bleiben müssen, verdient prinzipielle Zustimmung, damit das Grundgesetz vor zeitgebundenen und überflüssigen Überfrachtungen bewahrt bleibt. Allerdings kann es Änderungen geben, die von einem wissenschaftlichen Standpunkt aus entbehrlich erscheinen, verfassungspolitisch jedoch gute Gründe für sich haben. In der Änderungspraxis verschwimmt die Differenz zwischen einfachem Gesetz und Verfassungsgesetz zunehmend. Die Aufteilung der Regelungsmaterien zwischen einfachem Gesetz und Verfassung folgt häufig keinem verfassungsadäquaten Regelungsmuster sondern dem Bestreben, die Verantwortung des Gesetzgebers und der Gerichte durch Detaillierung zu beschneiden und die Umkehrbarkeit der vereinbarten Regelung zu erschweren. Dadurch ändert sich das Erscheinungsbild des Grundgesetzes. Es kommt zu den bereits beobachteten Qualitätsabstufungen im Verfassungsrecht. Die Hoffnung auf eine Remedur ist gering, weil die Kunst der Verfassungsgebung in der parteienstaatlichen Demokratie keine besondere Priorität (mehr) besitzt.

Die Online-Durchsuchung als Instrument der Sicherheitsgewährleistung1 Von Indra Spiecker gen. Döhmann, Karlsruhe I. Einleitung Thomas Würtenberger hat sich in seinem wissenschaftlichen Oeuvre immer wieder auch mit Fragen der Sicherheit im Staat auseinandergesetzt. Gerade in den letzten Jahren hat dieses Feld eine neue Aufmerksamkeit erhalten, ermöglicht doch die Weiterentwicklung der Informationstechnologie und ihrer flächendeckenden Nutzung nunmehr auch staatlichen Behörden in neuer Weise Ermittlungstätigkeiten. Vorratsdatenspeicherung und Online-Durchsuchung sind dafür Beispiele, die bis zum Bundesverfassungsgericht gesellschaftliche und rechtliche Aufmerksamkeit erfahren haben. Dabei hat sich die Rechtsprechung allerdings häufig weniger an den – vermeintlichen – Sicherheitsbedürfnissen orientiert als die freiheitlichen Eckpfeiler der Gesellschaft gestützt und teilweise sogar ausgebaut. So schlug auch am 27. 02. 2008 – ein weiteres Mal nach 1983 – die Stunde der Datenschützer: Das Bundesverfassungsgericht kreierte ein neues Grundrecht, das sog. Recht auf Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme.2 Zusätzlich zum Recht auf informationelle Selbstbestimmung steht der Datenschutz damit nunmehr auf zwei grundrechtlich abgesicherten Beinen – das ist mehr, als viele andere Lebensbereiche für sich beanspruchen können. Trotzdem hat sich in den ersten Stellungnahmen zum Urteil3 keine rechte Euphorie breit machen wollen. Zu unklar sind Konturen, vor allem aber die Konkurrenzen mit anderen Grundrechten. Wie sich in der weiteren Rechtsprechung gezeigt hat, wird das „neue Grundrecht“4 kaum zitiert, geschweige denn offensiv angewendet. Möglicherweise steht der Datenschutz gar nicht – fest – auf zwei Beinen, sondern eher wackelig auf einem Holzbein und einer Krücke? Das hat möglicherweise damit zu tun, dass beim Online-Durchsuchungsurteil das politische Problem weniger im Datenschutz liegt und lag als in den vielfältigen Aus1 Der Beitrag geht zurück auf einen Vortrag, den die Verfasserin im Mai 2009 auf der Beiratstagung der DGRI in Frankfurt gehalten hat. Ein herzlicher Dank für Recherche geht an meinen Mitarbeiter Thomas Bräuchle. 2 BVerfGE 120, 274, 302 ff. 3 Etwa Britz, DÖV 2008, 411, 412; Sachs/Krings, JuS 2008, 481, 483 f. 4 So etwa Britz, DÖV 2008, 411 ff.; Härtel, NdsVBl. 2008, 276, 277; Hornung, CR 2008, 299, 300 f.

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wirkungen der neu wahrgenommenen Terror-Bedrohung westlicher Staaten seit dem 11. September 2001. So verstand sich das im Urteil für nichtig erklärte Gesetz auch weniger als eine allgemeine staatliche Datengewinnungsmaßnahme, wie es bspw. für das Volkszählungsurteil bezeichnend war, sondern als eine staatliche Maßnahme zum Schutz der Bürger und der staatlichen Einrichtungen gegenüber Sicherheitsbedrohungen: Dem Verfassungsschutz sollten Möglichkeiten an die Hand gegeben werden, bereits frühzeitig verdächtige Personen identifizieren und Gegenmaßnahmen ergreifen zu können.5 Daher ist das Urteil auch aus zweierlei Sicht zunächst einmal die Fortsetzung der bisherigen Rechtsprechung des BVerfG. Zum einen schließt die Entscheidung an die restriktive Beurteilung von präventiven, sog. verdachtsunabhängigen Vorfeld-(AntiTerror-)Maßnahmen des Staates an, etwa dem Luftsicherheitsgesetz6. Zum anderen steht die Entscheidung zur Online-Durchsuchung in engem Zusammenhang mit der gleichfalls zurückhaltend ausgefallenen Beurteilung breit angelegter Befugnisse zu staatlichen Informationseingriffen, etwa der Videoüberwachung öffentlicher Plätze zur Verhinderung von Vandalismus,7 der automatisierten Kfz-Kennzeichen-Erfassung zum Abgleich mit Haftbefehlsregistern8 oder auch der Rasterfahndung9. Der folgende Beitrag schildert zunächst die Hintergründe der Entscheidung (II.), bevor das eigentliche Urteil vorgestellt und in Zusammenhang gesetzt wird. Dies geschieht in zwei Teilen, nämlich zunächst zur Aufklärung (III.) und dann dem – im Vordergrund dieses Beitrags stehenden – zur eigentlichen Online-Durchsuchung (IV.). Ausblick und Fazit stellen das Urteil dann vor den weiteren Entwicklungen seit der Entscheidung in einen größeren Kontext (V.).

II. Hintergrund Terroranschläge sind seit dem 11. September 2001 in einer neuen Dimension in das Bewusstsein der Öffentlichkeit gelangt. Terroristische Akte waren zuvor in der Regel auf eine nationale Agenda beschränkt – man denke nur an die Roten Brigaden in Italien, die RAF in Deutschland, die ETA in Spanien. International und weltweit agierende Terroristen waren eine große Ausnahme; Terrornetzwerke eher unbekannt. Nunmehr aber hat sich ein anderer Terror herausgebildet, ein globalisierter und globalisierender Terror, der seine Ziele weltweit verfolgt und auch weltweit durchsetzt. Die Organisation solcher grenzüberschreitender und regional nicht gebundener terroristischer Aktivitäten erfolgt in der Regel nicht – wie dies bei früheren internatio5

Landtag NRW-Drs. 14/2211, S. 17. Luftsicherheitsgesetz (LuftSiG) vom 11. Januar 2005 (BGBl I S. 78); BVerfGE 115, 118 ff. 7 BVerfG, 1 BvR 2368/06 vom 23. 2. 2007 = DVBl. 2007, 497 – Regensburger Videoaufzeichnung. 8 BVerfGE 120, 378 ff. – Kfz-Kennzeichen-Erfassung. 9 BVerfGE 115, 320 ff. – Rasterfahndung. 6

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nalen Anschlägen der Fall war – durch persönliche Kontakte vor Ort, sondern mit Hilfe der modernen Medien wie Mobilfunk, Internet oder Email. Viele der in Terrornetzwerken Beteiligten kennen sich untereinander persönlich nicht und stehen nur über informationelle Kommunikationssysteme miteinander in Kontakt.10 Eine räumliche Nähe und lokale Verbindung zum Tatort besteht höchstens von einzelnen Personen und oftmals nur für kurze Zeit. Ähnliches gilt auch für den Bereich der organisierten Kriminalität. Diese wird häufig fernab der eigentlichen Tatorte organisiert und vorbereitet. Für Ermittler, die an der Verhinderung terroristischer Anschläge oder der Zerschlagung organisierter Kriminalität arbeiten, bedeutet diese Verlagerung der Vorfeldtätigkeit eine völlig veränderte Ermittlungstätigkeit. Konnte früher vor allem eine lokal und personal begrenzte Observation eingesetzt werden – der „Große Lauschangriff“ ist dafür typisch11 –, gehen solche Ermittlungsmaßnahmen nunmehr regelmäßig ins Leere. Wenn es kein konspiratives Treffen gibt, kann auch nicht abgehört werden. Vor diesem Hintergrund rückt die Kommunikationstätigkeit selbst in das Visier der Ermittler. Deren Interesse ist darauf gerichtet, Zugang zu den Kommunikationsstrukturen und -inhalten zu erhalten, die mittels informationstechnischer Hilfe genutzt werden – also typischerweise Internet, Mobilfunk, Email. Die zunehmende mobile Erreichbarkeit für eine Reihe von Diensten mit Hilfe der Telekommunikation führt zu einer veränderten Kommunikationsstruktur. 1. Aufklären Das nordrhein-westfälische Verfassungsschutzgesetz schuf vor diesem Hintergrund eine Erlaubnisnorm für die Verfassungsschützer, § 5 Abs. 2 Nr. 11. Die erste Alternative der Überwachung erlaubte das „Heimliche Beobachten und sonstiges Aufklären des Internets, wie insb. die verdeckte Teilnahme an seinen Kommunikationseinrichtungen und die Suche danach“. Damit ist das sog. Aufklären gemeint: Der Ermittler nutzt die Möglichkeiten des Internets selbst, um sich Zugang zu den Kommunikationsinhalten zu verschaffen. Er ist Teilnehmer an Chats, erstellt Dokumente, findet und nutzt versteckte Webseiten, nimmt an Auktionen teil oder greift – bei vorhandenem Passwort – auf geschützte Blogs oder sogar Email-Accounts zu. Damit ist die 1. Alternative vergleichbar dem Einsatz eines sog. V-Mannes,12 der unter Einsatz einer sog. Legende, einem verdeckten Namen bzw. einer anderen Identität agiert – mit dem Unterschied, dass der V-Mann nicht in einen persön10 Man vergleiche nur die Berichte über die Kommunikationsstrukturen von Bin Laden in seinem Versteck, z. B. Marcus C. Schulte v. Drach, „Terror-Phantasien auf USB-Stick“, http:// www.sueddeutsche.de/politik/osama-bin-laden-terror-phantasien-auf-usb-sticks-1.1096453 [abgerufen am 2. August 2012]. 11 Zu seinen Legitimitätsvoraussetzungen siehe BVerfGE 109, 279, 315 ff. 12 Zu dessen Voraussetzungen siehe BVerfGE 107, 339, 365 ff.

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lichen Kontakt mit dem observierten Umfeld eintritt, sondern es bei einem virtuellen Miteinander bleibt. Mit dieser Form des Aufklärens geht – jenseits der zunehmenden Bedeutung der Nutzung der neuen Medien für die Ermittlungstätigkeit – auch ein wünschenswerter Schutz der V-Leute einher: Die Identifikation der dahinterstehenden Person ist zumeist nur erschwert möglich, da es an Merkmalen der Wiedererkennung regelmäßig fehlt, und auch die Gefahr einer Identifikation des V-Manns mit dem observierten Umfeld fällt deutlich geringer aus. Ein weiterer Vorteil aus Ermittlersicht schließlich liegt darin, dass die gesetzlich vorgesehene Variante des Aufklärens durch eine Vielzahl von Personen durchgeführt werden kann: Da eine Identifikation durch Passwörter u. ä. geschieht, können diese unter den Ermittlern bekannt gemacht werden. Rechtsstaatlich bedenklich ist das Vorgehen des Staates indes wegen des eingesetzten Mittels der Täuschung: Das Gegenüber, der Betroffene, stellt sich eine andere Identität seines Kommunikationspartners vor als tatsächlich gegeben ist. Dieses Vorgehen ist allerdings nicht wesentlich anders als das, was bisher bereits V-Leute getan haben und unterliegt daher ähnlichen Beschränkungen. 2. Online-Durchsuchung Die zweite Alternative ist diejenige, die als „Online-Durchsuchung“ verstanden wird. Hierin steckt in der Tat ein neuartiges Vorgehen der Ermittler, das sich wesentlich auf die technischen neuen Gegebenheiten stützt. Danach ist nach § 5 II Nr. 11 S. 1 Var. 2 der „heimliche Zugriff auf informationstechnische Systeme auch mit dem Einsatz technischer Mittel“ erlaubt. Gemeint ist mit diesem neuartigen Begriff des informationstechnischen Systems – das erläutert das BVerfG in seinem Urteil13 – also insb. der Heimcomputer und das Handy, aber auch die Nutzung von internen Netzen z. B. zur Steuerung von technischen Geräten in einer Wohnung oder die Fahrerassistenzsysteme im Auto. Bei der Online-Durchsuchung ist das rechtsstaatlich Problematische nicht, wie beim Aufklären, der Auftritt eines Ermittlers unter einer verdeckten Identität. Problematisch ist hier vielmehr, dass die staatliche Informationsgewinnung auf eine Weise erfolgt, bei welcher der Ermittler für den Betroffenen gar nicht in Erscheinung tritt, ja, der Betroffene überhaupt keine Möglichkeit hat, von dieser Beobachtung Kenntnis zu erlangen. Daher wähnt sich der Betroffene unbeobachtet und agiert deshalb in einer Weise, die er ansonsten möglicherweise unterlassen würde, wenn er um die Beobachtung wüsste. Der Ermittler wird zum stillen Zeugen des kommunikativen Verhaltens des Betroffenen. Mittels Eindringens in ein informationstechnisches System schaut der Ermittler dem Betroffenen quasi über die Schulter, ohne dass dieser es weiß oder es gar verhindern kann. Darüber hinaus ermöglicht der Zugang zu einem informationstechnischen System aber auch ohne gleichzeitige Aktivität des Betrof-

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277.

BVerfGE 120, 274, 303; Böckenförde, JZ 2008, 925, 928; Härtel, NdsVBl. 2008, 276,

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fenen den Zugriff auf seine dort abgelegten und ermittelbaren Daten – es bedarf also noch nicht einmal der aktiven und aktuellen Kommunikation. Für die Ermittlungsbehörden ist damit der heimliche Einblick in die Kommunikation des Betroffenen möglich. Dies bedeutet einen qualitativ wesentlich anderen Zugang zu qualitativ anderen Daten als etwa bei der Vorratsdatenspeicherung, dem anderen großen gesetzgeberischen Vorhaben in der Reaktion auf die Terroranschläge.14 Dort nämlich erhält der Ermittler nur Einblick in die Daten, mit wem der Observierte wie lange und wie häufig gesprochen hat, also rein quantitative Erkenntnisse. Jetzt aber erhält der Ermittler Einblick auf die Inhalte selbst, also das, worüber gesprochen wurde. Im Idealfall kann so – wenn bei der richtigen Person durchsucht wird – die Vorbereitung eines Terroranschlags identifiziert, beobachtet und schließlich durch Zugriff auf die beteiligten Personen verhindert werden. Dass eine Kombination der Maßnahmen aus Vorratsdatenspeicherung und Online-Durchsuchung für den Staat grundsätzlich möglich ist und dann ein endgültig umfassendes Bild einer Person zu zeichnen imstande ist, hat das BVerfG interessanterweise trotz der zeitlichen Nähe beider Entscheidungen und der inhaltlichen Verbindung beider Vorhaben nicht angesprochen. Die Vorgehensweise des nordrhein-westfälischen Gesetzgebers zielte auf eine Informationsgewinnung zur Identifikation und Abwehr möglicher Gefahren für erhebliche Teile der Bevölkerung.15 Wie immer bei solchen auf Inhalte gerichteten Maßnahmen ist aber nicht nur eine Chance gegeben – die Chance auf Aufklärung und Verhinderung von terroristischen Anschlägen –, sondern es geht damit auch ein Risiko einher. Dieses Risiko besteht bei Zugriffen auf Kommunikationsinhalten einerseits darin, dass Informationen über den Betroffenen und seine Kommunikationspartner in Erfahrung gebracht werden, die mit der Vorbereitung eines terroristischen Aktes nichts zu tun haben. Von dem Eingriff werden also Unbeteiligte erfasst. Aber auch für den Verdächtigen geht ein Risiko einher, dass nämlich durch die ermittlungstaktischen Maßnahmen sein Leben über seine Kommunikationsinhalte vollständig offengelegt wird – auch in Bereichen, die mit dem Grund der Verdächtigung keine Berührung haben bis hin zu höchstpersönlichen Lebensbereichen. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung zur Online-Durchsuchung umfassend beschrieben, dass ganze Persönlichkeitsbilder aus den Daten, die auf einem PC abgelegt werden, in Verbindung mit dem Kommunikationsverhalten im Internet erstellt werden können.16 Bei informationellen Eingriffen insgesamt ist dabei die Verwirklichung des verfassungsrechtlichen Risikos bereits mit dem Erlangen der Information gegeben: Nicht erst ihre Nutzung, sondern bereits das Verlassen der Information aus der Sphäre des ursprünglich Berechtigten genügt.17 14 Richtlinie 2006/24/EG über die Vorratsdatenspeicherung; siehe dazu etwa Gundel EuR 2009, 536 ff.; Kindt, MMR 2009, 661 ff. 15 Landtag NRW-Drs. 14/2211, S.15 f. 16 BVerfGE 120, 274, 304 f. 17 Vgl. BVerfGE 65, 1, 42.

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III. Die Verfassungsgemäßheit von Aufklären Die Grundaussage des Bundesverfassungsgerichts zur Aufklärung lautet: Verdeckte Ermittlung ist erlaubt, auch wenn sie im Internet stattfindet. Der nordrhein-westfälische Gesetzgeber hätte seine Erlaubnisnorm nur etwas anders fassen müssen, damit sie der Prüfung standgehalten hätte.18 Dies ist in sich schlüssig, bedenkt man, dass hier der Auftritt eines V-Manns nur in anderer Weise beschrieben ist als bisher praktizierte verdeckte Ermittler-Tätigkeiten. Zur Begründung äußert sich das BVerfG zunächst näher zum Schutzbereich des Art. 10 GG. Der zentrale Satz – der später auch für die Online-Durchsuchung Relevanz entfaltet – lautet: „Das Vertrauen der Kommunikationspartner zueinander ist nicht Gegenstand des Grundrechtsschutzes.“19 Es stellt daher keinen Eingriff in Art. 10 GG dar, wenn das Vorgehen des Staates in einer Täuschung darüber liegt, dass der V-Mann sich nicht als solcher zu erkennen gibt, sondern – auch konkludent – vorgibt, eine bestimmte Gesinnung zu teilen, jedenfalls aber gerade kein Ermittler zu sein. Für die Bejahung eines Eingriffs in Art. 10 GG ist vielmehr die Existenz einer Zugangssicherung entscheidend. Ist dies nicht der Fall, kann Art. 10 nach Ansicht des Gerichts gar nicht betroffen sein.20 Und auch bei Existenz einer Zugangssicherung soll Art. 10 nur einschlägig sein, wenn der Ermittler Kommunikationsinhalte überwacht, indem er einen Zugangsschlüssel benutzt, den er ohne oder gegen den Willen der Kommunikationsbeteiligten erhalten hat.21 Bringt ein Ermittler die Teilnehmer eines zugangsgesicherten Kommunikationsinhaltes dazu, ihm die Zugangskennung mitzuteilen und nimmt er jetzt Zugriff auf die an sich geschützten Kommunikationsvorgänge, fehlt es an einem Eingriff in Art. 10 GG. Denn die fehlerhaft gebildete Vorstellung des Betroffenen, der Ermittler sei „seinesgleichen“, die zur Gewährung einer Zugangsberechtigung geführt hat, ist offenbar jedenfalls für Art. 10 GG irrelevant. Denn der Schutz des Vertrauens in den Kommunikationspartner ist eben nicht umfasst. Damit macht das BVerfG ein weiteres Mal sein Menschenbild vom aufgeklärten Menschen deutlich: Wer um die freie Verfügbarkeit und Zugänglichkeit des Internets weiß, der weiß auch – oder sollte sich jedenfalls darüber Gedanken machen –, dass auch solche Gesprächspartner hier auf ihn warten, die aus dieser Anonymität ihren ganz persönlichen Vorteil ziehen wollen – egal zu welchen Zwecken.

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Vgl. BVerfGE 120, 274, 342. BVerfGE 120, 274, 340. 20 BVerfGE 120, 274, 340, 341; Durner, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz-Kommentar, Art. 10 GG, Rn. 94. 21 BVerfGE 120, 274, 341; Sachs/Krings, JuS 2008, 481. 19

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IV. Verfassungsgemäßheit der Online-Durchsuchung Das Bundesverfassungsgericht betreibt erheblichen Aufwand, seine Motivation offenzulegen (1.) und zu verdeutlichen, warum es nicht nur dogmatisch (b)), sondern auch aus anderen Erwägungen heraus (a)) ein neues Grundrecht für geboten hält. Erst dann folgen Ausführungen zu Schutzbereich, Eingriff und Rechtfertigung (2.). 1. Motivation des Gerichts a) Allgemeine Begründungsansätze Die Erwägungen des Gesetzgebers entsprangen dem Vorsorgeprinzip. Der Gesetzgeber hat den polizeirechtlich wohl bekannten Gefahrenverdacht22 für diesen Fall geregelt: In einer Situation ohne rechtes Wissen und ohne klare Grundlagen für eine prognostische Aussage zum Vorliegen einer Gefahr sollte der Verfassungsschutz berufen sein, informationelle Maßnahmen vornehmen zu dürfen. Nach – polizeirechtlicher – Lehre wäre dies auch möglich gewesen, gelten informationelle Eingriffe doch grundsätzlich als das mildeste Mittel, jedenfalls milder als anderes gefahrenrechtlich motiviertes Vorgehen.23 Im Online-Durchsuchungsurteil stellt sich das BVerfG aber gegen ein solches informationsrechtliches Vorsorgeprinzip zur Ermächtigung des Staates – die Auswirkungen auf das Polizeirecht sind aber bisher noch nicht aufgegriffen worden. Wohl aber nimmt es zugunsten des Bürgers einen informationsrechtlichen Vorsorgegedanken an: Nicht auf tatsächliche, aus organisierter Kriminalität und Terrorismus stammende Gefahren für den Bürger kommt es an, sondern auf die möglichen Risiken für die individuelle Bürger-Persönlichkeit. Dabei wird sogar die zukünftige technische Entwicklung zugunsten des Bürgers einbezogen, auch wenn sie im Einzelnen gar nicht absehbar ist – und im Sinne eines Vorsorgegedankens zugunsten seiner Freiheitlichkeit gedeutet. Die Begründung dafür verläuft auf mehreren Ebenen. Neben der dogmatischen Ebene, in der das BVerfG aufzeigt, wieso ein geforderter Schutz derzeit aus seiner Sicht nicht gewährleistet ist, begründet das Gericht vor allem, warum ein solcher Schutz überhaupt notwendig und von der Verfassung gefordert ist. Das Schutzziel sei die Gewährleistung eines elementaren und zentralen Lebensraums in räumlicher und thematischer Hinsicht, auf dessen Unverletzbarkeit der Einzelne vertrauen dürfe.24

22

Vgl. Schoch, in: Schmidt-Aßmann/Schoch (Hrsg.), Bes. Verwaltungsrecht, 2. Kap. Rn. 95; Steiner, Bes. Verwaltungsrecht, Teil II, Rn. 59. 23 Schoch, in: Schmidt-Aßmann/Schoch (Hrsg.), Bes. Verwaltungsrecht, 2. Kap. Rn. 97; Gromitsaris, DVBl. 2005, 535, 541. 24 BVerfGE 120, 274, 311.

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Um zu diesem Ergebnis zu kommen, stellt das Gericht vor allem auf das potentielle Opfer ab. Dabei wird interessanterweise zunächst einmal nicht die Person genannt, um deren Lebensraum es geht, sondern das technische Gerät, das informationstechnische System als solches. Dieses sei gefährdet durch den Zugriff. Nun kennt das Grundgesetz durchaus auch den Schutz von Sachen, z. B. beim Eigentumsschutz oder der Rundfunkfreiheit. Diesen Grundrechten ist jeweils – jedenfalls unterschwellig – eine personale Komponente zugeordnet, die allerdings nur geringes Gewicht aufweist. Deshalb werden diese Grundrechte auch nicht etwa als Weiterungen des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts verstanden. Bei den informationstechnischen Systemen allerdings macht das BVerfG den argumentativen Schwenk, dass hier – anders als bei Rundfunk oder Eigentum – die personelle Komponente in den Vordergrund tritt: Die technische Gefährdung wird rückgekoppelt an das Persönlichkeitsrecht, weil der Zugriff auf die Technik einhergehe und quasi gleichzusetzen sei mit einem Zugriff auf die Person. Die Lebensführung vieler Bürger sei zentral auf die Nutzung solcher Systeme angewiesen, erst recht, wenn die Systeme noch untereinander vernetzt agierten.25 Deshalb ist in der Folge das Persönlichkeitsrecht auszudehnen auf die technische Komponente. Dass System und Person quasi untrennbar sind, ergebe sich schon daraus, dass die Nutzung von alltäglichen Gegenständen mit informationstechnischen Komponenten zum Alltag, zum Normalfall des Daseins gehöre.26 Konsequent stellt das BVerfG bei der Erörterung des potentiellen Schadens dann auch nicht auf das System ab, sondern auf die Person. Der Schaden für sie sei bedeutungsvoll, weil der Einzelne einen unverletzlichen Lebensraum annehme, und dieser sich auch auf die Nutzung der ihm zur Verfügung stehenden informationstechnischen Systeme erstrecke. Der Einzelne erwarte einen nicht nur räumlich, sondern auch thematisch bestimmten Bereich, der grundsätzlich frei von unerwünschter Einsichtnahme bleiben soll.27 Verhaltensfreiheit und Privatheit seien bestimmende Elemente für das Individuum,28 die für die Verfassung schutzwert seien. Vorstellbar – wenngleich dogmatisches Neuland – wäre aber ebenso gut gewesen, die informationstechnischen Systeme dem Wohnungsschutz anzugliedern. Faktisch findet dies statt, weshalb man durchaus vom Schutz eines „virtuellen Wohnzimmers“ sprechen kann.29

25

BVerfGE 120, 274, 304 f. BVerfGE 120, 274, 303, 304; Härtel, NdsVBl. 2008, 276, 277. 27 BVerfGE 120, 274, 311; vgl. auch BVerfGE 27, 344, 350 ff.; 44, 353, 372 f.; 90, 255, 260; 101, 361, 382. 28 BVerfGE 120, 274, 312. 29 Dazu Böckenförde, JZ 2008, 925, 926. Den Schutzbereich des Art. 13 GG vom „dreidimensionalen Raum“ auf den „virtuellen Raum“ erweiternd: Rux, JZ 2007, 285, 294; gegen die von Rux vertretene analoge Anwendung des Art. 13 GG: Hornung, JZ 2007, 828, 829. 26

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b) Dogmatische Begründung: Fehlender Schutz durch andere Grundrechte Nachdem das BVerfG also den aus seiner Sicht grundsätzlich erforderlichen Schutz hergeleitet hat, prüft es, ob dieser Schutz denn durch die geltende Verfassung und ihre Auslegung gewährleistet ist. Nur, wenn und soweit das nicht der Fall ist, sei Raum für ein neues Grundrecht gegeben.30 Konsequenterweise wird daher der Schutz informationstechnischer Systeme als subsidiär angesehen gegenüber Art. 10,31 Art. 13,32 dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht einschließlich eines absolut geschützten Kernbereichs der Privatsphäre33 sowie dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung34. Offen bleibt aber – angesichts der erklärten Subsidiarität des neuen Grundrechts – wie sich eigentlich eine Teil-Einschlägigkeit eines konkurrierenden Grundrechts auswirken soll. Im Urteil selbst ist das BVerfG offenbar davon ausgegangen, dass nur die vollständige Erfassung des Sachverhalts durch den Schutzbereich die Anwendbarkeit des neuen Grundrechts zu begrenzen vermag.35 Vorstellbar ist aber auch, dass nur kleine Elemente nicht erfasst werden – was dann? aa) Recht auf informationelle Selbstbestimmung Diese durch die Entscheidung überhaupt erst aufgeworfene, aber weiterhin offene Frage vorweg genommen, ist die Frage nach der Einschlägigkeit des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung zunächst am spannendsten und dürfte grundsätzlich auch besonders konfliktträchtig sein. Denn man würde meinen, die Online-Durchsuchung sei vor allem hier grundrechtlich zu verorten. Dem erteilt das BVerfG aber eine klare Absage. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung erfasse nicht vollständig, dass ein Betroffener einem informationstechnischen System in besonderer Weise durch dessen Nutzung Daten anvertraut und zwangsläufig liefert und auf diesen Datenbestand von außen zugegriffen werde.36 Offenbar ist das Gericht der Ansicht, es sei nur dann ein Eingriff in das Recht auf informationelle Selbstbestimmung gegeben, wenn Informationen gezielt zusammengetragen, gespeichert und ggfls. unter Hinzuziehung weiterer Daten zielgerichtet ausgewertet werden.37 Dies würde soweit noch die Online-Durchsuchung erfassen. Aber dann – wenngleich nur in einem, allerdings entscheidenden, Nebensatz – stellt das Gericht darauf ab, dass dieses Grundrecht nur „einzelne Datenerhebungen“ erfasse, nicht aber Daten30

BVerfGE 120, 274, 302, 303, 313. BVerfGE 120, 274, 302, 303; Härtel, NdsVBl. 2008, 276, 277. 32 BVerfGE 120, 274, 302, 303; Böckenförde, JZ 2008, 925, 926; Härtel, NdsVBl. 2008, 276, 277. 33 BVerfGE 120, 274, 313. 34 BVerfGE 120, 274, 302, 313; Böckenförde, JZ 2008, 925, 927. 35 Vgl. BVerfGE 120, 274, 313. 36 BVerfGE 120, 274, 312, 313; Böckenförde, JZ 2008, 925, 927. 37 BVerfGE 120, 274, 312. 31

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erhebungen über einen potentiell äußerst großen und aussagekräftigen Datenbestand, der ohne weitere Datenerhebungs- und -verarbeitungsmaßnahmen verfügbar sei.38 Diese Einschätzung verblüfft, und sie dürfte einer der großen Pferdefüße der Entscheidung sein – zumal sie begründungsfrei und ohne ersichtliche Motivation erfolgt. Schon in der Sache wäre es nicht nachvollziehbar, warum diese ältere Ausprägung des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts nur gegen vergleichsweise „harmlose“, nicht aber auch gegen gravierende Grundrechtseingriffe schützen sollte.39 Und auch die Entstehungsgeschichte des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung weist in eine andere Richtung. Erinnert man sich an die Volkszählungsentscheidung zurück, ging es dort gerade nicht um einzelne Datenerhebungen, sondern um großangelegte, weite Bevölkerungsteile erfassende und inhaltliche weitreichende Aussagegewinnung. Eine weitere Datenerhebung und -verarbeitung war auch damals gerade nicht erforderlich. Daran ändert auch die seither erfolgte Weiterentwicklung der Technik nichts, denn eines der Kennzeichen des Volkszählungsurteils war es gerade, auf die sich eben erst aufkommende elektronische Datenverarbeitung in großer Weitsicht reagiert zu haben und deren Möglichkeiten zu einer Erstellung teilweise oder weitgehend vollständiger Persönlichkeitsbilder völlig richtig eingeschätzt zu haben. Es scheint fast, als wäre hier – fast schon mutwillig zu nennen – das Recht auf informationelle Selbstbestimmung korrigiert und in seinem Anwendungsbereich zurückgedrängt worden, um das neue Grundrecht als Schwestergrundrecht etablieren zu können. Damit aber werden andere Bereiche erforderlicher Sensibilität im Umgang mit persönlichen Daten unnötigen Schwierigkeiten ausgesetzt – bspw. der Sektor des Schutzes biometrischer Daten oder aber auch der Ausforschung des menschlichen Erbguts.40 bb) Telekommunikationsfreiheit, Art. 10 I Auch bezüglich der TK-Freiheit sieht das BVerfG den Schutz als nicht ausreichend an.41 Geschützt werde die unkörperliche Übermittlung von Informationen an individuelle Empfänger mit Hilfe des TK-Verkehrs, insb. auch dem Internet, unabhängig davon, ob ein Eingriff an der Verbindungsstrecke oder am Endgerät erfolgt42 oder ob das Endgerät über den TK-Vorgang hinaus auch andere Nutzungsmöglichkeiten bietet.43

38

BVerfGE 120, 274, 313. Britz, DÖV 2008, 411, 413. 40 Letzteres sieht auch Britz, DÖV 2008, 211, 213. 41 BVerfGE 120, 274, 306; Hornung, CR 2008, 299, 300; Härtel, NdsVBl. 2008, 276, 278; Sachs/Krings, JuS 2008, 481. 42 BVerfGE 120, 274, 306, 307, unter Verweis auf BVerfGE 106, 28, 37 f. – Mithörvorrichtung. 43 BVerfGE 120, 274, 307. 39

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Insoweit hält das BVerfG an seiner Rechtsprechung fest, dass über Art. 10 lediglich der Übermittlungsvorgang Schutz erhält, und zwar der laufende Übermittlungsvorgang.44 Deshalb existiere kein Schutz vor einer unabhängig von einer Telekommunikation des Betroffenen durchgeführten Überwachung mit den Mitteln der Telekommunikation45 und insbesondere auch kein Schutz nach dem Abschluss der Kommunikation. Letzteres ist insoweit problematisch, als der Erste (gleiche) Senat bezüglich der Beschlagnahme eines Mobiltelefons zur Auslesung von Verbindungsdaten Art. 10 noch als einschlägig angesehen hat.46 Gefahr gehe deshalb über das TK-Grundrecht hinaus, weil die Infiltrierung eines IT-Systems zur beabsichtigten oder unbeabsichtigten Ausspähung des Systems insgesamt führen könne.47 Als Beispiele führt das Gericht die Bedienung des PCs, lokale Dateien oder auch gesteuerte Geräte im Haushalt an.48 Immer weiter entstehende technische Möglichkeiten der Vernetzung bereits seit der Entscheidung dürften dieser Einschätzung des BVerfGs Recht geben. Insoweit hat das Urteil nur eine wesentliche Komponente: Offenbar sieht das BVerfG nämlich Art. 10 als einschlägig und sogar als vorrangig gegenüber dem neuen Grundrecht an, wenn sich die Überwachung des Rechners ausschließlich auf die laufende Kommunikation erstreckt. cc) Schutz der Wohnung, Art. 13 I Ein besonderes Gewicht, vor allem in der Herleitung des neuen Grundrechts, erhält Art. 13, der Schutz der Wohnung. Das Gericht betont, dass darin ein elementarer, privater und auch geschäftlicher Lebensraum verbürgt sei, der grundsätzlich frei von Maßnahmen Dritter zu halten sei.49 Dieser Schutzbereich greife – und insoweit setzt das Gericht seine Rechtsprechung etwa vom Großen Lauschangriff fort50 – auch dann, wenn über die natürliche Wahrnehmung hinaus andere physische Maßnahmen ergriffen werden, die diesen Lebensraum betreffen.51 Dies erfasst etwa die Einblicksverschaffung von außen, etwa akustische oder optische Wohnraumüberwachung.52 Sobald ein Eingriff in ein in einer Wohnung befindliches informationstechnisches System erfolge, liege unzweifelhaft ein Eingriff in Art. 13 I vor.53 Dieser Schutz sei aber unzureichend, weil zum einen mobile IT-Systeme (z. B. Notebook, 44

Vgl. BVerfGE 120, 274, 307; Hornung, CR 2008, 299, 300. BVerfGE 120, 274, 308; Germann, Gefahrenabwehr und Strafverfolgung im Internet, 2000, S. 497; Rux, JZ 2007, 285, 292. 46 BVerfG, 2 BvR 308/04 vom 4. 2. 2005, Rz. 22 = NJW 2005, 1637, 1639. 47 BVerfGE 120, 274, 308. 48 BVerfGE 120, 274, 308, 309. 49 BVerfGE 120, 274, 309. 50 Vgl. BVerfGE 109, 279 ff. – Großer Lauschangriff. 51 BVerfGE 120, 274, 310; Böckenförde, JZ 2008, 925, 926. 52 BVerfGE 109, 279, 309, 327 – Großer Lauschangriff. 53 BVerfGE 120, 274, 310; Hornung, CR 2008, 299, 301. 45

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Smartphone, Blackberry) nicht erfasst seien, selbst wenn sie später in die Wohnung verbracht werden, zum anderen aber für die Ermittlungspersonen meist nicht oder nur mit hohem Aufwand der jeweilige Standort des Geräts zuordenbar sei, der Ermittler also selbst gar nicht immer sicher wisse, ob er einen Eingriff in die Wohnung vornehme oder nicht.54 In der gesamten Entscheidung stellt das BVerfG immer wieder eine Parallele zum Schutz der Wohnung her. Das wird zum einen deutlich in der Begründung, wonach der Lebensraum, der durch dieses Grundrecht geschützt wird, auch die informationstechnischen Systeme erfasse. Der persönliche Lebensraum des Betroffenen besteht also nicht nur in der konkreten räumlichen Umgebung von einigem Gewicht und Dauerhaftigkeit, sondern auch in den von ihm genutzten IT-Systemen. Das wird aber auch deutlich an den – dazu noch gleich55 – Schranken, die das Gericht formuliert: Sie werden durch den Richtervorbehalt dem Art. 13 entnommen. Der PC wird also tatsächlich zum „virtuellen Wohnzimmer“: Das verfassungsrechtlich relevante Zuhause ist jedenfalls auch dort, wo PC und Handy sind. dd) Allgemeines Persönlichkeitsrecht Schließlich sieht das BVerfG auch im Allgemeinen Persönlichkeitsrecht keinen ausreichenden Schutz.56 Das Schutzbedürfnis eines IT-Nutzers erschöpfe sich nicht darin, Zugriffe auf Daten aus seiner Privatsphäre gehindert zu wissen.57 Die Persönlichkeitsentfaltung sei auch durch Einsichtnahme in Daten aus anderen Sphären gefährdet.58 Dem ist insoweit zuzustimmen, als eine Trennung „wichtiger“, also vom Persönlichkeitsrecht erfasster, und „unwichtiger“, also nicht erfasster Daten, bei einem umfassenden Zugriff nicht möglich ist. Eine übergreifende Ermittlung nimmt immer Einblick in alle Bereiche – erst danach ist eine inhaltliche Trennung überhaupt möglich. Da aber Information nicht vergessen werden kann und daher auch Löschung, selbst wenn sie sofort erfolgt, den Eingriff nicht ungeschehen machen kann, ist dem BVerfG insoweit zuzustimmen. ee) Eigentum und Berufsfreiheit Interessanterweise nimmt das BVerfG in keiner Weise Stellung dazu, ob nicht auch das Eigentum und die Berufsfreiheit einschlägig sind. Angesichts der Verstärkungslehre des Bundesverfassungsgerichts, wonach die Einschlägigkeit mehrerer

54

BVerfGE 120, 274, 310, 311. Siehe unten, 4. Rechtfertigung. 56 BVerfGE 120, 274, 311; Böckenförde, JZ 2008, 925, 927; Hornung, CR 2008, 299, 301; Kutschka, NJW 2008, 1042. 57 BVerfGE 120, 274, 311. 58 BVerfGE 120, 274, 312; Härtel, Nds. VBl. 2008, 276, 279. 55

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Grundrechte insgesamt das am intensivsten beeinträchtigte stärkt,59 wäre zumindest denkbar gewesen, Eigentums- und Berufsfreiheit anzusprechen. Zwar äußerst das Gericht, dass ein Eigentumsrecht am IT-System nicht vorhanden sein müsse, um vom neuen Grundrecht betroffen sein zu können60 – damit aber ist nicht ausgeschlossen, dass ein Eigentumsrecht jedenfalls auch vorhanden sein kann. Dies könnte zudem auch unter dem Aspekt der Berufsfreiheit einschlägig sein, wenn das System, in das eingegriffen wird, auch für berufliche Zwecke genutzt wird. Möglicherweise hat das BVerfG aber auf diesem Wege eine Auseinandersetzung mit dem Recht am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb61 vermieden, die wohl ansonsten kaum vermeidbar gewesen wäre. 2. Schutzbereich Diese aus seiner Sicht fehlende umfassende Einschlägigkeit aller anderen möglichen relevanten Grundrechte führt das BVerfG dann dazu, ein neues Grundrecht auf Integrität und Vertraulichkeit informationstechnischer Systeme zu begründen. Es gibt dezidierte Erläuterungen, wie denn dieses neue Grundrecht auszusehen habe. Der Schutzbereich ist zunächst eröffnet für natürliche Personen, die „informationstechnische Systeme“ nutzen.62 Gegen diese Systeme muss sich der Angriff richten.63 Aufgrund der Ableitung des Grundrechts aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht kommt eine Übertragung auf juristische Personen nicht in Betracht. Eine der großen Lücken im weiteren Datenschutz, der Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen, bleibt also auch für das neue Grundrecht erhalten. Was ein informationstechnisches System ist, wird vom BVerfG nicht näher definiert. Typisches Beispiel ist für das Gericht das Internet, das aus IT-Systemen bestehe und selbst eines sei.64 Weitere Beispiele sind PCs, Mobiltelefone, elektronische Kalender und Netzwerke zur intelligenten Steuerung von elektronischen Geräten z. B. im Haushalt.65 Eine Spezifizierung erfolgt darüber, dass das informationstechnische System als eigenes genutzt werden muss; die Selbstbestimmung über das System ist erforderlich.66 Allerdings ist keine Alleinverfügungsbefugnis erforderlich, sondern

59

Siehe BVerfGE 104, 337, 346 – Schächtung. BVerfGE 120, 274, 315. 61 Dazu bisher unentschieden etwa BVerfGE 66, 116, 145; 68, 193, 222 f.; 77, 84, 118; 81, 208, 228; 96, 375, 397 sowie BVerfG NVwZ 2009, 1426, 1428. Dafür aber BGHZ 23, 157; 30, 241; 45, 150, 155. 62 BVerfGE 120, 274, 313; Hornung, CR 2008, 299, 302. 63 BVerfGE 120, 274, 314. 64 BVerfGE 120, 274, 304. 65 BVerfGE 120, 274, 304, 305; Hoeren, MMR 2008, 365; Hornung, CR 2008, 299, 302. 66 BVerfGE 120, 274, 315; Roßnagel/Schnabel, NJW 2008, 3534, 3535; Stögmüller, CR 2008, 435, 436; Hoeren, MMR 2008, 365, 366. 60

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die Zugangsberechtigung kann auch mit mehreren geteilt werden.67 Hier wird erneut der Vergleich mit der räumlichen Schutzkomponente der Wohnung nutzbar gemacht: So, wie diese von mehreren genutzt wird und trotzdem jeder dieser Nutzungsberechtigten in den vollumfänglichen Genuss von Art. 13 kommt, so soll dies auch für das Informationssystem der Fall für das neue Grundrecht sein.68 Daraus folgt auch, dass es einen mittelbaren Schutz gibt: Wenn nämlich die Nutzung des eigenen IT-Systems über IT-Systeme erfolgt, die in der Verfügungsgewalt anderer stehen, dann erstreckt sich der Schutz des Nutzers auch darauf. Denn mit der Anbindung des eigenen Systems an die anderen Systeme werden eine Reihe von Daten auch diesem anderen System zwangsläufig zur Kenntnis gebracht. 3. Eingriff Ein Eingriff in diesen Schutzbereich kann durch den Staat erfolgen, der auf die Leistungen, Funktionen und Speicherinhalte des Systems Zugriff nimmt.69 Der konkrete technische Weg des Zugriffs ist belanglos. Ein solcher Eingriff geschieht etwa durch das Ausspähen von Daten, erfasst aber auch die Manipulation. Deshalb wird zwischen der Vertraulichkeit einerseits und der Integrität andererseits unterschieden. Mögliche Eingriffe können also sowohl in die Vertraulichkeitskomponente, als auch in die Integritätskomponente geschehen. Hier lassen sich weitgehend Beispiele nennen, die das BVerfG selbst zusammen mit Sachverständigen des Verfahrens entwickelt hat: In die Vertraulichkeit kann eingegriffen werden z. B. durch Wahrnehmen, Kopieren, Nutzen, Weitergeben der Daten sowie die Überwachung der Datenverarbeitung. Diese Überwachung kann z. B. im Einrichten oder Ausspähen einer Protokollierung der Datenverarbeitung bestehen mit der Möglichkeit der Wahrnehmung, wann, wie und mit welchem Inhalt der Nutzer Daten verarbeitet hat.70 In die Integrität kann eingegriffen werden z. B. durch Zugriff auf das System, so dass danach Missbrauch möglich ist, und natürlich auch die Manipulation des Systems selbst, etwa durch Löschen, Ändern oder Hinzufügen von Daten und Programmen.71 Praktisch bedeutsam ist also nicht allein das bösartige Manipulieren, sondern auch das Gutartige. Dazu gehört auch das Sperren des Zugangs zu Daten, Netzen und

67

BVerfGE 120, 274, 315; Hornung, CR 2008, 299, 303. BVerfGE 120, 274, 310. 69 BVerfGE 120, 274, 314, 315; Hömig, Jura 2009, 207, 211; Härtel, NdsVBl. 2008, 276, 279. 70 BVerfGE 120, 274, 314, 315; Bartsch, CR 2012, 613, 615. 71 BVerfGE 120, 274, 314; Bartsch, CR 2012, 613, 615. 68

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Diensten, z. B. so, dass bestimmte Webseiten nicht mehr aufrufbar sind oder Emails nicht mehr an gewisse Empfänger gelangen.72 Wegen der damit beschriebenen potentiellen Weite möglicher Eingriffe verlangt das Gericht für den Eingriff eine Systembezogenheit, d. h. die Intention muss die Ausspähung, Überwachung oder Manipulation sein,73 ohne dass aber damit eine Veränderung des Systems einhergehen muss.74 Dieses Kriterium der Systembezogenheit erinnert an Eingriffe in die Berufsfreiheit – auch hier wird eine „objektiv berufsregelnde Tendenz“ verlangt,75 um die potentielle Eingriffsflut einzudämmen. Zudem muss eine Schwelle der Beeinflussung von wesentlichen Teilen der Lebensgestaltung überschritten werden,76 die allerdings grundsätzlich auch bei alltäglichen Vorgängen gegeben sein kann77. Unbeachtlich sind daher Eingriffe, bei denen kein „Einblick in wesentliche Teile der Lebensgestaltung einer Person“ gewonnen werden kann.78 Was genau die Schwelle von Beachtlichkeit zu Unbeachtlichkeit markieren soll, führt das Gericht nicht näher aus – hier ist also noch erheblicher Spielraum zur Weiterentwicklung und zum praktischen Streit gegeben. Eine weitere Einschränkung ergibt sich darüber, dass das BVerfG offenbar davon ausgeht, dass nur heimliche Zugriffe einen Eingriff darstellen.79 Der offene Zugriff auf solche Systeme wäre dann nicht erfasst. Warum dies so ist, ist nicht nachvollziehbar. Zwar ist grundsätzlich die Gefahr für den Benutzer größer, wenn er nicht weiß, dass er beobachtet wird, weil er nicht imstande ist, sein Verhalten auf diese Beobachtung einzurichten und sich ggfls. rechtlich dagegen zu wehren. Allerdings ist der Zugriff auf informationstechnische Systeme ja gerade nicht allein auf die Zukunft und Gegenwart gerichtet, sondern auch in die Vergangenheit: Online-Durchsuchung erlaubt auch den Zugriff auf die abgelegten Daten. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Benutzer aber keinerlei Gelegenheit, sein Verhalten auf die Beobachtung auszurichten. Zudem: Kenntnis von der Beobachtung bedeutet eben gerade nicht, dass der Betroffene sich der Maßnahme entziehen könnte. Anders als bei der Regensburger VideoÜberwachungsentscheidung80 kann der Benutzer eines informationstechnischen Systems in der Regel nicht ausweichen bzw. nur mit erheblichen Kosten des kompletten Ersatzes der bestehenden Systeme. 72

Eindringen in ein W-Lan ist noch kein Verstoß, weil damit noch nicht Wahrnehmung möglich ist und auch keine Vorgänge gestattet sind. Anders aber, wenn bspw. mit Zugang zum LAN automatisch auch Zugriff auf Postfach o. ä. besteht. 73 BVerfGE 120, 274, 314; Hömig, Jura 2009, 207, 210. 74 BVerfGE 120, 274, 314. 75 Siehe BVerfGE 120, 274, 313, 314. 76 BVerfGE 120, 274, 314. 77 BVerfGE 120, 274, 303. 78 BVerfGE 120, 274, 314. 79 BVerfGE 120, 274, 325; Hornung, CR 2008, 299, 303; Härtel, NdsVBl. 2008, 276, 277. 80 Vgl. BVerfG, 1 BvR 2368/06 vom 23. 2. 2007 = DVBl. 2007, 497 – Regensburger Videoaufzeichnung.

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Vorrangig ist es der Staat, der Integrität und Vertraulichkeit der Systeme achten soll. Das Verfassungsgericht geht aber darüber hinaus. Es nennt ausdrücklich als möglichen Täter des Eingriffs jeden Dritten, der Leistungen, Funktionen und Speicherinhalte nutzt,81 die in der Verfügungsgewalt anderer stehen. Die Drittwirkung des neuen Grundrechts und damit seine Auswirkungen auch über das öffentliche Recht hinaus könnten deshalb erheblich sein. 4. Rechtfertigung Grundsätzlich sieht das Verfassungsgericht Schranken für das neue Grundrecht.82 Diese ergeben sich aber nicht etwa, wie die Ableitung des Grundrechts aus dem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht nahelegte, aus der Schrankentrias des Art. 2 I, womöglich – wie das Recht auf informationelle Selbstbestimmung – verstärkt um den Würde- oder absoluten Privatsphärengehalt. Vielmehr greift das BVerfG hinsichtlich der Schranken für einen Eingriff ein weiteres Mal auf die Parallelität zum verbürgten Schutz der Wohnung zurück. Etabliert wird ein Richtervorbehalt, der eine unabhängige zusätzliche Prüfung der Voraussetzungen sicherstellen soll.83 Damit wird also eine prozedurale Sicherung eingeführt. Diese wird verstärkt um materielle Komponenten, mit denen das BVerfG die Voraussetzungen klarifiziert, unter denen überhaupt nur die prozedurale Sicherung in Betracht kommen kann. Diese Vorgaben lassen sich insgesamt dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zuordnen. Dies macht auch das BVerfG deutlich. Bezüglich der Legitimität des Ziels verlangt das BVerfG, dass tatsächliche Anhaltspunkte einer konkreten Gefahr für ein überragend wichtiges Rechtsgut bestehen.84 Sicherheit des Staates und des von ihm zu gewährleistenden Schutzes der Bevölkerung vor Eingriffen in Leib, Leben und Freiheit stellen ein solches legitimes Ziel dar.85 Die Annahmen sind aber nicht dem Beurteilungsspielraum der Verwaltung überlassen. Vielmehr statuiert das Gericht, dass bestimmte, auf den konkreten Fall bezogene Tatsachen vorliegen müssen. Bloße Vermutungen oder allg. Erfahrungssätze genügen gerade nicht.86 Damit dürfte rein statistisch begründeten Vorgehensweisen ohne Einzelfallprüfung ein Riegel vorgeschoben sein. Nicht erforderlich soll ein Eintritt in näherer zeitlicher Abfolge sein, wenngleich das Geschehen wenigstens der Art nach konkretisiert und zeitlich absehbar sein muss.87 Ferner muss bereits zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Durchführung einer Online-Durchsuchung 81 82

211. 83

BVerfGE 120, 274, 314. BVerfGE 120, 274, 315 ff.; Kutschka, NJW 2008, 1042, 1043; Hömig, Jura 2009, 207,

BVerfGE 120, 274, 331; Hornung, CR 2008, 299, 304; Böckenförde, JZ 2008, 925, 932. BVerfGE 120, 274, 318, 319. 85 BVerfGE 120, 274, 319; Hornung, CR 2008, 299, 304; Hömig, Jura 2009, 207, 211. 86 BVerfGE 120, 274, 328; 110, 33, 61; 113, 348, 378; Hornung, CR 2008, 299, 304. 87 BVerfGE 120, 274, 328, 329. 84

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der Schluss auf bestimmte Personen möglich sein, so dass Ermittlungen auf diese beschränkt werden können.88 Damit wird die Online-Durchsuchung jedenfalls als ein Mittel der Erstaufklärung ungeeignet. Bezüglich der Geeignetheit der Maßnahmen bleibt es beim hinlänglich Bekannten. Nicht-offensichtliches Fehlgehen bzgl. des Zieles soll bereits genügen. Dass Eigenschutz der Zielperson möglicherweise den Zugriff verhindert, soll die Geeignetheit nicht in Frage stellen können.89 Auch hinsichtlich der Erforderlichkeit enthält das Urteil keine nennenswerten eigenen Aussagen. Das Gericht stellt lediglich klar, dass eine offene Durchsuchung kein milderes Mittel darstellt, sobald Anhaltspunkte vorliegen, dass eine langfristige und umfassende Datensichtung und -sammlung sinnvoll sein kann.90 In der Angemessenheitsprüfung stellt das BVerfG dann allerdings dezidierte Anforderungen auf: Es bestehen erhöhte Schutzerfordernisse wegen der Heimlichkeit des Vorgehens, wegen des beträchtlichen Ausforschungspotentials und vor allem auch wegen der erhöhten Streubreite erfasster unbescholtener Dritter als Kommunikationspartner.91 Dies ist insoweit konsequent, als das Erfordernis einer Systembezogenheit bei der Eingriffsbeurteilung verhindert, dass diese nur zufällig erfassten Dritten sich ihrerseits auf das neue Grundrecht stützen könnten. Hinzuzufügen ist, dass der Staat durch die Möglichkeit einer Online-Durchsuchung in einen Zielkonflikt gerät: Die Online-Durchsuchungsmöglichkeit setzt für den Staat Anreize, beim Bürger eine hohe Sicherheitserwartung an informationstechnische Systeme jedenfalls nicht zu fördern, wenn nicht sogar zu unterlaufen. Was folgt daraus? Zur Kompensation dieser gravierenden Nachteile für das schützenswerte Gut müsse eine zusätzliche Prüfung durch einen Richter oder eine hinsichtlich Unabhängigkeit und Neutralität gleichwertige Stelle erfolgen.92 Eine oberste Landesbehörde kommt deshalb nicht in Betracht. Die überprüfende Stelle müsse ihre Entscheidung schriftlich begründen, wie dies bei Wohnungsdurchsuchungen üblich sei.93 Die jeweilige Maßnahme habe den Schutz des absoluten Kernbereichs der Privatsphäre sicherzustellen, soweit Daten aus diesem Bereich aussonderbar sind und wenn keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass Kernbereichsdaten gezielt mit sonstigen Informationen vermengt werden.94 Wenn dies wegen des Umfangs der Ermittlung nicht möglich sei, dann müsse wenigstens sofortige Löschung nach der Auswer88

BVerfGE 120, 274, 329. Vgl. BVerfGE 120, 274, 320; Böckenförde, JZ 2008, 925, 930. 90 BVerfGE 120, 274, 321; Hornung, DuD 2007, 575, 790. 91 BVerfGE 120, 274, 323; Sachs/Krings, JuS 2008, 481, 485. 92 BVerfGE 120, 274, 331; Hornung, CR 2008, 299, 304; Sachs/Krings, JuS 2008, 481, 486. 93 BVerfGE 120, 274, 332; Böckenförde, JZ 2008, 925, 932. 94 BVerfGE 120, 274, 335, 336. 89

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Indra Spiecker gen. Döhmann

tungsphase sicherzustellen sein.95 Das BVerfG nimmt damit erneut die Position wie schon in vorhergegangenen Entscheidungen ein, dass es zwar das Problem der Kenntnisnahme solcher besonders geschützter Daten anerkennt, sie aber allein mit einem nachträglichen Schutz versieht. Für die Löschung ist kein gesonderter Kontrollvorgang vorgesehen. V. Fazit und Ausblick Das Online-Durchsuchungsurteil erschließt ein neues Grundrecht, abgeleitet aus dem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht, angelehnt an den Schutz der Wohnung. Erneut schwingt sich das Verfassungsgericht zum Ersatz(verfassungs)gesetzgeber auf. Die Vorgaben an den Gesetzgeber sind scheinbar dezidiert und umfassend, wie dieses Grundrecht in der Praxis umzusetzen ist. Erhalten bleibt die restriktive Haltung zur verdachtsunabhängigen Vorfeldprävention durch den Staat. Und erweitert wird wieder einmal der Aufgabenbereich für die Richterschaft zur zügigen Kontrolle von Maßnahmen, die sie in der Schnelle der Zeit in Eingriffsintensität und Konsequenz gar nicht überblicken können. Aber auch darüber hinaus bleibt eine Reihe von Fragen offen, die jenseits der bereits angesprochenen Problemstellungen nur mit Hinweisen angedeutet werden können. Die argumentative und inhaltliche Anbindung an das Grundrecht auf Schutz der Wohnung lässt den Eindruck entstehen, das Verfassungsgericht kreiere ein neues „Super-Grundrecht“ räumlich angebundener Privatsphäre. Nicht nur der persönliche, innere, sondern womöglich der jeweilige unmittelbare äußere Bereich wird dann geschützt. Persönlichkeit ist dort jeweils schutzwürdig, wo das Individuum auftritt – unabhängig vom Kontext, vom Anlass, von der Verweildauer und der Intensität des Aufenthalts. Diese Entwicklung wirft ihrerseits eine Reihe von Fragen auf: Wie weit reicht dieses neue Grundrecht? Inwieweit wirkt das Eigentumsrecht oder auch die Berufsfreiheit verstärkend – ist bspw. der Berufstätige, der mit der Ausübung seines Berufes auch seine Persönlichkeit manifestiert, zusätzlich schutzwürdig? Wie verhält sich das mit den besonders geschützten Berufen, etwa dem Priester, dem Künstler, dem Wissenschaftler? Ungeklärt ist auch die Reichweite des Schutzes in Bezug auf den Betroffenen selbst. Dazu gehört die Einordnung des Eigenschutzes durch den Nutzer. Dieser wird zwar oftmals überfordert damit sein, Effektivität von Zugriffsschutz sicher einzuschätzen. Aber kann ein gänzlich fehlender Eigenschutz womöglich dazu führen, dass er des Grundrechts gänzlich verlustig geht, weil er zumutbare Maßnahmen nicht ergriffen hat – und sich daraus auf eine „Egal-Mentalität“ bis hin zum Grundrechtsverzicht schließen lässt? Oder ist möglicherweise der Nicht-Schutz oder jedenfalls ein Schutzstandard, der nicht über das Handelsübliche hinausgeht, ein Indiz dafür, dass der Nutzer einer Online-Durchsuchung im Hinblick auf die dadurch überprüfbaren Delikte und Gefährdungen gelassen gegenübersteht? Wäre dann derjenige, der 95

BVerfGE 120, 274, 337; 109, 279, 318; 113, 348, 391, 392.

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Schutzvorkehrungen vornimmt, womöglich in besonderer Weise verdächtig? Dürfte ein Testzugriff erfolgen, um diese Informationen zu erhalten? Wie lässt sich der Begriff der Beeinflussung wesentlicher Teile der Lebensgestaltung näher beschreiben? Wenn Eingriffe nicht vorliegen, wenn nur unwesentliche Teile betroffen sind, bedarf es diesbezüglich einer systematisierenden Klarstellung, um einer unendlichen Kasuistik zu entgehen. Welche Kriterien können hier angelegt werden? Ein Indiz hat das Gericht selbst gegeben: Allein die Steuerung von Haushaltsgeräten durch ein informationstechnisches System genügt offenbar nicht, um den Schutz auszulösen.96 Schließlich – schon im Vorgriff auf weitere Referate: Welche Folgerungen ergeben sich aus dem Schutzpflichtencharakter, den das BVerfG durch seine Betonung des Dritten deutlich signalisiert hat? Sind neue Strafnormen erforderlich? Wie wird das Zivilrecht, das Arbeitsrecht reagieren? Vorrangig aus der öffentlich-rechtlichen, aber auch der privatrechtlichen Sicht dürfte eine Klärung der Neu-Ausrichtung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung sein. Inwieweit es geschwächt aus dem Urteil zur Online-Durchsuchung hervorgeht, muss die weitere Entwicklung erst noch zeigen. Bisher ist davon insgesamt noch wenig zu erkennen, obwohl beispielsweise die Vorratsdatenspeicherung97 oder der Einsatz des sog. Staatstrojaners98 durchaus Anlass gegeben hätte, das neue Grundrecht zu präzisieren. Das Online-Durchsuchungsurteil hat eine Reihe von Fragen gestellt. Es hat aber auch eine Reihe von Klarstellungen getroffen. Dazu gehört vor allem auch die Bestätigung der Bedeutung des Datenschutzes. War von manchen Datenschützern befürchtet worden, das Verfassungsgericht werde womöglich irgendwann dieser Tage das Volkszählungsurteil revidieren und damit auf die zunehmende Sorglosigkeit der Bürger im Umgang mit Daten reagieren, so dürfte diese Sorge nunmehr unbegründet sein. Ob der Datenschutz allerdings nunmehr in der Tat auf zwei Beinen sicher steht, oder aber mit seiner Erweiterung an Standfestigkeit eingebüßt hat, wird sich erst noch zeigen. Angesichts der kontinuierlichen Aktivitäten des Gesetzgebers nicht nur zur Terrorprävention wird dazu mit Sicherheit in der nächsten Zeit weiterhin zu rechnen sein – auch wenn die geplante Datenschutz-Grundverordnung der EU den Bereich ausdrücklich ausnimmt99.

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BVerfGE 120, 274, 309. BVerfGE 125, 260. 98 Vgl. LG Landshut, 20. 1. 2011 – 4 Qs 346/10 = NStZ 2011, 479; Bär, MMR 2011, 690, 691. 99 Siehe Art. 2 Abs. 2 lit. e) DSch-GVO. 97

Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit: Ausgangslage und Gegenwartsproblematik Von Rainer Wahl, Freiburg. i.Br. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gehört zu den wichtigsten Innovationen des deutschen Öffentlichen Rechts nach 1949, er ist geradezu zu seinem Kennoder Markenzeichen geworden.1 Kein Wunder, dass er auch, wie es oft heißt, zu einem „Exportschlager“ geworden ist,2 also in anderen Rechtsordnungen in der einen oder anderen Weise rezipiert worden ist. Unbefragt ist er jedoch keineswegs geblieben. Kritik, gerade auch grundlegende und fundamentale Kritik hat es immer gegeben. So kann man die sechs Jahrzehnte als Glanz und Infragestellung, Lob und Dauerkritik des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit bezeichnen.3 An dieser Situation hat sich in der Gegenwart nichts geändert, nur hat sich jetzt die Bühne ausgeweitet. Der Diskurs über den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit hat sich längst internationalisiert und zwar sowohl horizontal, im Vergleich mit anderen Verfassungsstaaten, wie auch vertikal im Hinblick auf die EU und internationale Gemeinschaften bzw. Organisationen. Gehört der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu den wichtigsten Instituten des deutschen Öffentlichen Rechts nach 1949, dann ist es nur selbstverständlich, dass nahezu alle Öffentlichrechtler, die die Entwicklung des Grundgesetzes über mehrere Jahrzehnte verfolgt haben, sich mit ihm auseinandergesetzt haben. Thomas Würtenberger hat sich mit diesem Thema vor allem in seinem Staatsrechtslehrerreferat von

1 Wahl, Die bürokratischen Kosten des Rechts- und Sozialstaats, Die Verwaltung Bd. 13 (1980), S. 273, 279: „Durchsetzung des Verhältnismäßigkeitsprinzips eine der herausragenden Leistungen des Öffentlichen Rechts nach 1949“. 2 Nachweise unten Fußn. 33. 3 Aus der unübersehbaren Literatur zum Verhältnismäßigkeitsprinzip hier nur die Klassiker und einige gegenwärtige Gesamtdarstellungen: Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht: zur Bindung des Gesetzgebers an die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Erforderlichkeit, 2., um eine neue Einl. des Autors erw. Aufl., Nachdr. der Ausgabe 1961, 1999 (mit zahlreichen Nachweisen in der Einleitung zur Neuauflage in Fußn. 1); ders. Grundrechtsschranken, HStR V, 1. Aufl. 1992, § 122; Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, 1976; ders, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, in: Badura/Dreier (Hrsg.), FS 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. 2, 2001, S. 445 ff.; Kloepfer, Die Entfaltung des Verhältnismäßigkeitsprinzips, in: Schmidt-Aßmann u. a. (Hrsg.), Festgabe 50 Jahre BVerwG, 2003, S. 329 ff.; Dreier, in: ders., (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd.1, 2. Aufl. 2004, Vorb. Rn. 144 ff.; Hillgruber, Grundrechtsschranken, in: HStR IX, 3. Aufl. 2011, § 201; Merten, Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, in: HGR III, 2009, § 68. – Zur Kritik s. unten IV. mit Fußn. 62.

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1998 sowie in seinem Lehrbuch des Staatsrechts4 beschäftigt. Er hat damit die Bedeutung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit im Verfassungsrecht und in seiner Ausstrahlung für das Verwaltungsrecht analysiert und für ein Verständnis geworben, das seine große Leistungsfähigkeit anerkennt, aber auch Distanz hält gegenüber Überforderungen und zu hohen Erwartungen. Der ihm gewidmete Beitrag kann die Fülle der mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verbundenen Themen und Probleme nicht ausschöpfen. Die Überlegungen konzentrieren sich auf zwei Phasen, nämlich zum einen auf die Entstehungsphase, die die Gründe für die Entwicklung dieser Figur zutage treten lässt, und zum zweiten auf die gegenwärtige Diskussionslage mit den in ihr aufgezeigten Alternativen. I. Entstehung und Entwicklung der Figur der Verhältnismäßigkeit in den 50er Jahren Die Ausgangsfrage der weiteren Überlegungen ist die nach dem Ursprungsproblem oder der Ursprungskonstellation, aus der der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, angewendet auf Gesetze, entstanden ist. Seine charakteristische, Eingriffe abfedernde und begrenzende Wirkung hatte der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bekanntlich schon im 19. Jh. gegenüber dem exekutiven Handeln des „Polizeistaates“ bewiesen. Dass er nach 1949 auch zum (Kontroll-)Maßstab für die Gesetze wurde, scheint nur eine Anpassung an die neue Verfassungslage zu sein, die die Bindung der Gesetzgebung an die Grundrechte brachte. Was sich im Rückblick nur als eine Übertragung von der verwaltungsrechtlichen auf die verfassungsrechtliche Ebene ansieht, war doch schwieriger und voraussetzungsvoller; es waren nach 1949 eine Reihe von Suchbewegungen notwendig. Die neue Verfassungslage brachte das akute Bedürfnis nach einer Schranke des schrankensetzenden Gesetzgebers, aber dafür kamen verschiedene Instrumente in Betracht. Deshalb empfiehlt es sich, einige ausgewählte Linien aus dem 19. Jh. über Weimar zum GG etwas näher zu analysieren. 1. Die Begrenzung des Gesetzesvorbehalts im 19. Jh.: Kein Rechtsproblem, sondern ein politisches Problem Im Folgenden wird ein Blick auf die Anfänge der Grundrechtsdiskussion im 19. Jh. nicht aus reinem antiquarischem Interesse geworfen, sondern weil damals ein Entwicklungspfad für die Formulierung und das Verständnis für Grundrechtsverbürgungen betreten worden ist, der bis heute Bedeutung hat.5 Schon die ersten konsti-

4

Rechtliche Optimierungsgebote oder Rahmensetzungen für das Verwaltungshandeln, VVDStRL 58 (1999), S. 139 – 176; sowie Zippelius/Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 32. Aufl. 2008, § 7 Rn. 32 ff., 35 ff.; § 12 Rn. 84 ff.; § 19 Rn. 84. 5 Zum historischen Problem der Grundrechtsbindung im 19. Jh. Malmendier, Vom wohlerworbenen Recht zur verrechtlichten Freiheit, 2003, S. 134 ff.; Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, 2003, S. 15 ff.; zu Weimar Bumke, Der Grundrechtsvorbehalt, 1998, S. 112 ff.;

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tutionellen Verfassungen fassten die Grundrechte sprachlich und grundsätzlich nach dem heute noch geltenden Muster: In der heutigen Terminologie gesprochen, benannten sie einen Schutzbereich und fügten dem (zumeist) einen Einschränkungsvorbehalt bei. Damit ist eine wichtige Weichenstellung vorgenommen.6 Dem Leser und Adressaten der Grundrechte wird zweierlei mitgeteilt: Es gibt Lebensbereiche oder Sachbereiche wie Meinungen, die Religion, Versammlungen, gewerbliche Tätigkeiten, Eigentum, die als wertvoll erachtet werden und deren Schutz dem Einzelnen in einer feierlichen Form zugesprochen, „proklamiert“ wird. Zugleich und gleich ursprünglich erkannten die Verfassungen aber auch Allgemeininteressen und öffentliche Belange an, zu deren Schutz die Rechte eingeschränkt werden konnten (ausdrückliche Normierung von Gesetzesvorbehalten7). Der Dualismus von Gewährleistungen und Einschränkbarkeit8 war in den deutschen Verfassungstexten (und nicht nur in ihnen) und im Verfassungsdenken von Anfang an existent9 und konstitutiv. Deshalb konnte die Vorstellung, dass diese Freiheiten absolut oder grenzen- und schrankenlos seien, gar nicht erst aufkommen. Im Weiteren dominieren die Unterschiede zur Gegenwart, ist doch unbestritten, dass die Rechte der Einzelnen keine rechtliche Geltung gegenüber den Gesetzen hatten.10 Aber auch damals stellte sich das Problem einer übermäßigen Einschränkung von Rechten und des Schutzes davor, so dass sich unter diesem abstrakten Problembezug doch ein aufschlussreicher Vergleich anstellen lässt. Dazu muss man auf den Identität stiftenden Dualismus des Konstitutionalismus des 19. Jh. zurückgehen. Für ihn war es bezeichnend, dass alle, vor allem auch die einschränkenden Gesetze, nicht allein vom Monarchen erlassen werden konnten, sondern dass dazu die Mitwirkung und damit die Zustimmung des jeweiligen Parlaments notwendig ist. In der Vorstellung des Bürgertums des 19. Jahrhunderts verkörperte das Parlament (oder seine Mehrheit) das Bürgertum; es war so als institutionelle Gewähr für die liberalen Freiheitsforderungen und zugleich als Schutz dafür gedacht, dass gesetzliche EinschränPauly, Grundrechtslaboratorium Weimar, 2004; Übersicht bei Rusteberg, Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt, 2009, S. 12 – 31. 6 Dazu auch unten VII. 7 Einschränkungsvorbehalte gab es schon in der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte 1789 in der Form, dass die Freiheit „in den Grenzen der allgemeinen Gesetze“ garantiert ist; so auch in der französischen Verfassung von 1791. 8 Von der dualen Gegenüberstellung von Schutzbereich und Eingriff spricht auch Böckenförde, Schutzbereich, Eingriff, verfassungsimmanente Schranken. Zur Kritik der gegenwärtigen Grundrechtsdogmatik, Der Staat 42 (2003), S. 165 = ders., Wissenschaft, Politik, Verfassungsgerichtsbarkeit, 2011, S. 230; (hier zitiert nach dem Erstabdruck in der Zeitschrift Der Staat). 9 So schon in den ersten französischen Verfassungen von 1791 oder 1793, anders in der USamerikanischen Verfassung, dazu unten VII. 10 Umfassender zur Bedeutung der Rechteverbürgungen im 19. Jh. Wahl, Rechtliche Wirkungen und Funktionen der Grundrechte im deutschen Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts, Der Staat 18 (1979), S. 321 – 348: Die damaligen Rechteverbürgungen dürfen nicht nur negativ im Sinne der Verneinung der Bindung des Gesetzgebers gesehen werden.

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kungen der Freiheiten nicht zu weit gehen, dass sie, wenn man es so sagen will, nicht übermäßig sind. In der Staatspraxis der einzelnen Staaten hing alles von den Mehrheitsverhältnissen in den Landtagen und der Stärke der monarchischen Seite ab: In Restaurations- und Reaktionszeiten gab es regelmäßig eine konservative Landtagsmehrheit, die im Einklang mit der monarchischen Regierung freiheitseinschränkende bis repressive Gesetze erließ. In den anderen Phasen musste ein liberaler Gesetzesinhalt erst im Wege von Kompromissen mit der monarchischen Seite und den konservativen Kräften im Landtag erstritten werden, wobei die Kompromissbedürftigkeit auch Grenzen des liberalen Inhalts zur Folge hatte. Jedenfalls war man sich einig und bewusst, dass die „Verheißungen“11, die in den Schutzbereichsformulierungen der Verfassungsartikel aufleuchteten, erst in und durch politische Kämpfe im Parlament zu erstreiten waren. Diese Verfassungslage bedeutete zugleich: Eine Gesetzgebung im Sinne und aus dem Geist der Freiheitsverbürgungen war so Sache der Politik, nicht des Verfassungsrechts. Sie hing von politisch-ideologischen Umständen ab. Hatten die Rechte keine juristische Geltung gegenüber der Legislative (sondern allenfalls einen fordernden Charakter gegenüber der Politik12), so gab es damals konsequenterweise keinen Rechtsgrundsatz der Verhältnismäßigkeit für die einschränkenden Gesetze. Eine Begrenzung der grundrechtseinschränkenden Gesetze war nur politisch, im Wege der öffentlichen und parlamentarischen Diskussion oder durch öffentlichen Druck zu erreichen. Die Gefahr der Aushöhlung des primär gewährleisteten Rechts durch beschränkende Gesetze konnte nicht im Rechtssystem bekämpft werden, sondern dies musste in den politischen Prozessen gelingen – oder eben auch misslingen. Im Vergleich mit der Gegenwart zeigt sich: Die Alternative zur heutigen Verrechtlichung durch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist die Nicht-Verrechtlichung (bzw. die Nicht-Soweit-Verrechtlichung). Wo immer heute für eine Reduzierung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit oder wenigstens seiner dritten Prüfungsstufe plädiert wird, tritt an Stelle der Rechtsbindung der politische Prozess, dem ausreichend Schutz zugetraut wird. 2. Formulierung des Grundproblems am Ende der Weimarer Zeit In der Weimarer Zeit war der konstitutionelle Dualismus zwischen Monarch (Regierung) und Parlament (bzw. Teilen des Parlaments) entfallen, der Reichstag hatte eine Art Parlamentssouveränität13 und damit die rechtlich unbegrenzte Macht zur Gesetzgebung erhalten. Es kann nicht überraschen, dass jetzt aus vielerlei Gründen diese formelle Allmacht des Parlaments oder des Gesetzgebers in Zweifel gezogen 11

Ausdruck bei Anschütz, Die Verfassungsurkunde des Preußischen Staates, 1912, S. 138. Wahl (Fußn. 10), S. 330 ff. 13 Bezeichnenderweise fand sich im konservativen Schrifttum der Weimarer Zeit rasch die polemische Formulierung vom Gesetzesabsolutismus, vgl. Triepel, Goldbilanzverordnung und Vorzugsaktien, 1924, S. 28. 12

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wurde. Konservative Staatsrechtslehrer, die in der Kaiserzeit nie an die Bindung des Gesetzgebers auch nur gedacht hatten, haben nun diese erwogen und zum Teil auch gefordert. Bekanntlich sind die einschlägigen Diskussionen über das Für und Wider einer solchen Bindung während der Weimarer Zeit nicht zu einem Ende und bejahenden Ergebnis geführt worden. In dieser Diskussion – und dies ist hier wichtig – wurden aber zum Teil schon (Folge-)Probleme einer solchen Bindung bedacht. Auch in der WRV waren die jetzt Grundrechte genannten Rechte mit einem Einschränkungsvorbehalt versehen. Damit tauchte wiederum die Gefahr der Aushöhlung von Grundrechten und der hinter ihnen stehenden Anerkennung von individuellen Rechten oder Handlungsmöglichkeiten auf. Genau an dieser Stelle setzt eine bemerkenswerte Passage von Alfred Hensel im Handbuch des Staatsrechts von Gerhard Anschütz und Richard Thoma aus dem Jahr 1929 an.14 Mehrfaches an diesem Beitrag verdient Aufmerksamkeit: Hensel beschäftigte sich mit Rangproblemen zwischen den verschiedenen Rechtsquellen, bleibt dabei aber nicht bei Formalkriterien stehen, sondern dringt zum materiellen Hintergrund vor:15 „Nach deutschem Staatsrecht kennzeichnet sich diese Rangstufenreihe durch die Schwierigkeit der Rechtserzeugung.“ Verordnungen kann die Exekutive leicht setzen, der Erlass von Verfassungsnormen hat dagegen hohe formelle Voraussetzungen. „Diese Formerfordernisse in der Rechtserzeugung sind für die Rangordnungslehre zunächst reine Formalkriterien.“

Diese Aussage kann man an dieser Stelle erwarten, sie ist die übliche Antwort. Deshalb ist es umso interessanter, dass Hensel fortfährt: „Bei schwierigeren Fragen wird es indessen erforderlich sein, auf die dahinterstehenden Wertgedanken zurückzugehen. Der Schutz, welchen die Verfassung sich selbst durch besonders schwere Abänderbarkeit verleiht, soll nur Rechtsnormen besonders wichtigen Inhalts zuteil werden; die institutionelle Garantie ist Ausdruck höchsten Wertgehalts“.16

Diesen Grundgedanken wandte er in einer ausführlichen Fußnote auch auf das von Richard Thoma im gleichen Handbuch behandelte Problem der Gesetzesvorbehalte an:17 „Eine Ergänzung dieser – nur die formalen Rangordnungsunterschiede treffend erfassenden – Vorbehaltstheorie aus dem den Grundrechten innewohnenden Wertgedanken heraus fehlt bisher. Es müsste etwa dahingehend formuliert werden, dass der Gesetzgeber, wenn er von dem Vorbehalt Gebrauch macht, den Wert der grundrechtlichen Entscheidung unangetastet lassen muss; die Ausnahme hat die Regel zu bestätigen, hat sich dem in ihr beschlos14 Hensel, Die Rangordnung der Rechtsquellen, insbesondere das Verhältnis von Reichsund Landesgesetzgebung, in: Anschütz/Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, 2. Bd. 1932, S. 313 – 329; dazu auch Dreier, Die Zwischenkriegszeit, in: HGR I, 2004, § 4 Rn. 33 f. 15 Ebd. S. 313, 315. 16 Ebd. S. 315. 17 Ebd. S. 316 mit Fußn. 2; Thomas Ausführungen finden sich im selben Band S. 226.

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senen Werte gegenüber selbst als werthaft, als höherwertig zu rechtfertigen. Die werthafte Einheit, die die Verfassung darstellt, zum mindesten darstellen soll, darf auch durch Ausübung des Vorbehaltsrechts nicht gesprengt werden. …“ Durch eine solche materiell begründete Theorie vom Gesetzesvorbehalt werden viele der angeblich leerlaufenden Grundrechte auf eine ihrer verfassungsrechtlichen Bedeutung entsprechende Rang- und Wertstufe gehoben. Der Gesetzgeber ist an die in ihnen liegenden Grundsatzentscheidungen gebunden, mag er die „Programmsätze, Richtlinien, Proklamationen“ auch ungestraft durch richterliche Nachprüfung verletzen können. Wissenschaftliche Auslegung hat zu erforschen, wieweit die Grenzlinie wirklicher Entscheidungsfreiheit jeweils reicht.“ (Hervorhebungen im Original)

Hensel hat in dieser Passage das Ausgangs- oder Ursprungsproblem für die Entwicklung der (heute so genannten) Schranken-Schranken treffend gesehen.18 II. Das Apothekenurteil als Weichenstellung 1. Der Weg zum Apothekenurteil Nach 1949 brach das oben gekennzeichnete Ausgangsproblem unübersehbar auf, da jetzt die Grundrechtsbindung des Gesetzgebers in Art. 1 III GG ausdrücklich angeordnet wurde und mit der Normenkontrolle und Verfassungsbeschwerde die geeigneten prozessualen Mittel für die Durchsetzung zur Verfügung standen. Die Lösung war die „Konstitutionalisierung des Verhältnismäßigkeitsprinzips.“19 Im Vorfeld der weichenstellenden Apothekenentscheidung des Bundesverfassungsgerichts gab es einige tastende Schritte hin zum Grundgedanken der Verhältnismäßigkeit.20 Am konkreten Fallmaterial – es war nicht zufällig die Berufsfreiheit und die vielen die berufliche Tätigkeit einschränkenden Gesetze21 – schärfte sich auch das juristische Vokabular und Denken. Der Weg war länger als es der Blick auf das alles andere überstrahlende Apothekenurteil nahelegt. Es bleibt die Leistung des Bundesverfassungsgerichts, in dieser Entscheidung die vielfältigen Elemente zu einem stimmigen Konzept zusammengefügt zu haben, wenn auch im Urteil noch einige tastende Formulierungen unübersehbar bleiben. Schwierigkeiten bereitete zum Beispiel der Begriff des „Regelns“ in Art. 12 I 2 GG, der im Vorfeld sehr umstritten gewesen war. Im Gewande der Wortlautauslegung legte das Gericht Grundsätzliches fest: Der Begriff „regeln“ könne nicht bedeuten, dass der Gesetzgeber im Ganzen einen weiteren Er18

Und zwar in Richtung auf eine Wesensgehaltsgarantie, so zu Recht Dreier (Fußn. 14). Saurer, Die Globalisierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, Der Staat 51 (2012), S. 3, 6. 20 BVerwGE 4, 167 (171): Der Eingriff dürfe nicht schwerer sein, als der verfolgte Zweck es rechtfertigt (unter Verweis auf mehrere zeitgenössische Autoren); (175): Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. – Zur Literatur und Rechtsprechung vor dem Apothekenurteil Rusteberg (Fußn. 5), S. 22 – 32. 21 Die natürlich der neuen liberalen Auffassung von Marktwirtschaft diametral entgegengesetzt waren. Manche Einschränkungen der Gewerbefreiheit, so gerade im Apothekenwesen, rührten nicht aus der NS-Zeit, sondern aus der (Landes)Gesetzgebung nach 1945. 19

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messensspielraum habe als beim sonstigen allgemeinen Gesetzesvorbehalt, dass er das Gebiet des Berufsrechts umfassender ordnen, „den Inhalt des Grundrechts erst konstitutiv bestimmen dürfe“.22 Bei einer solchen Auffassung würde das Grundrecht entwertet, indem sein Gehalt ganz dem Ermessen des Gesetzgebers überantwortet würde, der doch seinerseits an die Grundrechte gebunden ist (Art. 1 III GG).23 2. Keine Weichenstellung ohne das Abschneiden von Alternativen: Die praktische Bedeutungslosigkeit der Wesensgehaltsgarantie nach Art. 19 II GG Von einer Weichenstellung kann man nur reden, wenn es zuvor Alternativen gegeben hat, die abgeschnitten wurden. Im Vorfeld des Apothekenurteils war in der Literatur – nicht überraschend – eine andere Schranken-Schranke des neuen Grundgesetzes, nämlich die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG, mobilisiert worden. So hatte das Bundesverwaltungsgericht schon 1954 wie selbstverständlich Art. 19 II GG herangezogen und die Maxime formuliert, es komme darauf an, „was nach der Beschränkung überhaupt übrig bleibt“.24 Aber dennoch schlug die Verfassungsrechtsjudikatur einen anderen Weg ein. Horst Dreier ist zuzustimmen, dass „diese originäre Neuschöpfung Nachkriegsdeutschlands“ … „von den Verfassungsgebern zweifellos als eine zentrale Sicherungsnorm zum Schutze der Grundrechte konzipiert (war)“, dass sie „aber ebenso zweifellos einen erheblichen Funktionsverlust hat hinnehmen müssen“.25 Für seine weitere Rechtsprechung bedeuteten die knappen Sätze des Bundesverfassungsgerichts im Apothekenurteil des Jahres 1958 das praktische Aus für eine künftige Relevanz der Wesensgehaltsgarantie: Es könne nämlich „von dem hier eingenommenen Standpunkt aus dahingestellt bleiben, ob aus dem Verbot der Antastung des Wesensgehalts der Grundrechte sich weitere Grenzen für den Regelungsgesetzgeber des Art. 12 Abs.1 Satz 2 GG ergeben würden und wie sie im Einzelnen zu ziehen wären“. Denn die vom Gericht vorgenommene Auslegung nach dem Sinn des

22 BVerfGE 7, 377 (403): Das Gericht wendet sich damit ausdrücklich gegen Ansichten in der (Gutachten)Literatur in den 50er Jahren zu Fragen der Berufsfreiheit, zit. wird Scheuner, Handwerksordnung und Berufsfreiheit (Sonderdruck aus „Deutsches Handwerksblatt“), 1956, S. 21, 27 f., 31 und Ipsen, Apothekenerrichtung und Art. 12 GG, 1957, S. 41. 23 BVerfGE 7, 377 (404) verweist auf den Gedanken im Lüth-Urteil, BVerfGE 7, 198 (208 f.), dass der Gesetzgeber, wenn er sich in dem grundrechtsgeschützten Raum bewegt, die Bedeutung des Grundrechts in der sozialen Ordnung zum Ausgangspunkt seiner Regelung nehmen muss. Nicht er bestimmt frei den Inhalt des Grundrechts, sondern umgekehrt kann sich aus dem Gehalt des Grundrechts eine inhaltliche Begrenzung seines Gesetzgebungsermessens ergeben. 24 So im Jahre 1954 in BVerwGE 1, 269 (272 f.) und 1955 in BVerwGE 2, 295 (300); (diese Formulierung findet sich auch häufig beim parallelen Problem der Bestimmung des Kernbereichs bei Art. 28 II GG wieder). 25 So wörtlich Dreier (Fußn. 3), Art. 19 II Rn. 1 und 8; vgl. auch Hillgruber (Fußn. 3), § 201 Rn. 98 ff.

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Grundrechts und seiner Bedeutung im Rahmen des sozialen Lebens führten zu einer sachgemäßen Begrenzung der Regelungsbefugnis des Gesetzgebers.26 Der einschlägige Leitsatz im Apothekenurteil27 war im wörtlichen Sinne ein LeitSatz und eine Leitlinie für die weitere Rechtsprechung. Auch in der Folgezeit „bedurfte es des Rückgriffs auf Art. 19 Abs. 2 GG nicht“. In der Literatur bestätigte die 1962 erstmals erschienene und dann mehrfach aufgelegte Dissertation von Peter Häberle die vollzogene Weichenstellung.28 3. Einige Gründe für die Erfolgsgeschichte des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes Für seinen Siegeszug29 hat der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit seine größte Überzeugungskraft daraus genommen, dass er jede, auch eine noch so kleine Beschränkung des Grundrechts – und nicht nur die des Wesensgehalts – rechtlichen Anforderungen unterstellte und eine verfassungsgerichtliche Überprüfung ermöglichte. Nicht weniger positiv und überzeugend war und ist es, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und die ihm immanente Abwägung die Alles-oder-Nichts-Alternative hinter sich ließ und stattdessen das ganze Spektrum von Zwischenlösungen zwischen einem scharfen Ja oder einem scharfen Nein ausschöpfen kann und dabei jedem der beteiligten Interessen etwas abverlangen, aber auch belassen kann. Die Verhältnismäßigkeitsprüfung ist geschmeidiger, sie kann zu abgestuften Lösungen führen, die nicht bei den Extremen, sondern inmitten des Spektrums liegen können. Die unbestritten große Bedeutung des Apothekenurteils in der Gründungs- und Aufbauphase des Verfassungsrechts des Grundgesetzes muss man als grundsätzliche Weichenstellung bezeichnen. Eine solche schneidet Alternativen, die vorher in der Diskussion waren, ab. Sie begründet aber auch positiv einen Entwicklungspfad für die gegenwärtige und künftige Rechtswissenschaft und Praxis.30 Eine Interpretation unter mehreren als Entwicklungspfad zu charakterisieren, heißt, ihre rasche und nachhaltige Durchsetzung zu verstehen. Im Konzert der unterschiedlichen Meinun26

BVerfGE 7, 377 (408 f.) und LS 4. So auch LS 4 von BVerfGE 7, 377: Inhalt und Umfang der Regelungsbefugnis des Gesetzgebers nach Art. 12 Abs. 1 Satz 2 GG lassen sich durch eine Auslegung, die dem Sinn des Grundrechts und seiner Bedeutung im sozialen Leben Rechnung trägt, weitgehend sachgemäß bestimmen; es bedarf dann nicht des Rückgriffs auf die Schranke des Wesensgehalts (Art. 19 Abs. 2). 28 Die Arbeit nennt im Titel die Wesensgehaltsgarantie, das Verhältnismäßigkeitsprinzip kommt in der Gliederung nur kurz vor, aber in der Sache ist die Güterabwägung das Hauptthema und das zentrale Verfassungsprinzip. 29 Drei Hauptgründe für das außerordentliche Ausmaß des Aufschwungs des Übermaßprinzips nennt Lerche, Übermaßverbot (Fußn. 3), S. XI ff. 30 Zum Konzept des Entwicklungspfads Wahl, Herausforderungen und Antworten: Das Öffentliche Recht der letzten fünf Jahrzehnte, 2006, S. 13 f., 33; ders., Die objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte im internationalen Vergleich, in: HGR I, 2004, § 19 Rn. 16. 27

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gen, die es immer gibt, hat die zum Entwicklungspfad werdende oder gewordene Auffassung eine dominante Stellung, einen großen „Mehrwert“ gegenüber alternativen Vorstellungen. Demzufolge setzt sie sich auch wirkungsvoll und überraschend schnell durch (was Kritik keineswegs ausschließt, nur zeigt sich, dass diese weithin wirkungslos bleibt). Genau dieser Prozess war mit der Geburt des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit im Apothekenurteil verbunden. Diese Entscheidung wurde zu einer der großen Basisentscheidungen für das Verfassungsrecht des Grundgesetzes und eine seiner auffälligsten Eigenarten.31

III. Die Folge der Weichenstellung – Die Begründung eines Entwicklungspfades 1. Die Eigenart des Verhältnismäßigkeitsprinzips des deutschen Verfassungsrechts Auf die großen Weichenstellungen der fünfziger Jahre folgte die Normalaufgabe, die Ausgestaltung des Prinzips. Dies ist hier nur insoweit zu behandeln, als darin die besondere Eigenart und Eigengestalt des deutschen Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit sichtbar wird. Mit dieser Bemerkung ist zugleich die These verbunden, dass es den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht gibt, sondern dass es unterschiedliche Varianten der Grundvorstellung vom Übermaßverbot gibt.32 Dies bedeutet für die neuerdings erfreulicherweise häufiger angestellten rechtsvergleichenden Untersuchungen zum Verhältnismäßigkeits-Prinzip:33 Die Karriere der Verhältnismäßigkeit in Europa, in den mitgliedsstaatlichen Rechtsordnungen und bei den europäischen Gerichten, aber auch in anderen Staaten (mit Ausnahme der USA) ist eindrucksvoll und natürlich der Rede wert.34 Aber die verbale und grundsätzliche Anerkennung der Verhältnismäßigkeit ist eine Sache, ihre Konkretisierung und Praktizierung ist eine andere. Die strategischen Stellen für die Unterschiede kann man genau identifizie31 An seine Seite kann man nur die im selben Jahr 1958 ergangene Lüth-Entscheidung (BVerfGE 7, 198) und die darin enthaltende Weichenstellung zugunsten der objektiven Dimension der Grundrechte stellen; deren Würdigung bei Wahl, Die objektiv-rechtliche Dimension (Fußn. 30), § 19 Rn. 12 – 27. 32 Dazu unten Fußn. 54. 33 Pionierdarstellung von Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, Bd. 2, 1988, 5. Kap. – Dazu aus jüngerer Zeit (jeweils mN) Saurer (Fußn. 19); v. Bernstorff, Kerngehaltsschutz durch den UN-Menschenrechtsausschuss und den EGMR: Vom Wert kategorialer Argumentationsformen, Der Staat 50 (2011), S. 165 ff.; Classen, Das Prinzip der Verhältnismäßigkeit im Spiegel europäischer Rechtsentwicklungen, in Sachs/Siekmann (Hrsg.), Der grundrechtsgeprägte Verfassungsstaat, FS Stern, 2012, S. 651 ff. sowie Verica Trstenjak/Erwin Beysen, Das Prinzip der Verhältnismäßigkeit in der Unionsrechtsordnung, EuR 2012, 265 ff. Viel (über das Sachregister gut erschlossenes) Material findet sich in den Länderberichten in: v. Bogdandy/ Cruz Villalon/Huber (Hrsg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum, Bd. 1 2007. – Zur amerikanischen rechtstheoretischen und rechtsphilosophischen Diskussion Klatt/Meister, Verhältnismäßigkeit als universelles Verfassungsprinzip?, Der Staat 51 (2012),159 ff. 34 Dazu aus neuere Zeit Saurer (Fußn. 19), S. 3 ff.; v. Bernstorff (Fußn. 33).

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ren: Sie liegen zum einen darin, ob die Rezeption des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes überhaupt die dritte Stufe erfasst35 oder ob man sich mit den beiden ersten begnügt. Folgenreich sind zum zweiten die konkreten Anforderungen, die an das Bejahen der drei Maßstäbe, geeignet, erforderlich und verhältnismäßig i. e.S., gestellt sind; ebenso wichtig ist die – recht unterschiedlich praktizierte – Intensität der gerichtlichen Kontrolle. Die Gleichheit der abstrakten Formeln und die Bejahung des Prinzips als solchem indiziert keineswegs eine Übereinstimmung in dem alles entscheidenden Anwenden der Figur im Einzelnen. Wie fast immer in der Rechtsvergleichung treten Übereinstimmungen und Unterschiede zusammen zu Tage. 2. Der Weg vom Prinzip zur dogmatisch ausgereiften Figur In den späten 50er und 60er Jahren wurde die Grundfigur der Verhältnismäßigkeit in Literatur und Rechtsprechung verfeinert, „dogmatisiert“ und systematisiert. Dies war naturgemäß eine Aufgabe der Literatur. Welcher Stellenwert die einschlägigen Arbeiten innerhalb des damaligen Verfassungsrechts hatten, lässt sich augenfällig daran ablesen, dass zwei der herausragendsten neuen Denkfiguren der Grundrechtsdogmatik im Kontext dieser Diskussionen entwickelt worden sind, nämlich der „schonende Ausgleich“ von Peter Lerche36 und Konrad Hesses „praktische Konkordanz“37. Dies zeigt hinlänglich, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ein zentrales Arbeits- und Problemfeld des Verfassungsrechts der ersten Jahre war. Der Weg vom hochstufigen Prinzip zur dogmatisch aus- und abgearbeiteten Figur (und letztlich zum Prüfungsschema)38 führte zunächst zur Beseitigung einiger Unebenheiten und Unklarheiten im Apothekenurteil und zur Relativierung der zunächst als eigenständig herausgestellten drei Stufen bei der Berufsfreiheit des Art. 12 GG.39 Damit war eine Tendenz der weiteren Entwicklung angeschlagen, nach der Schritt für Schritt Besonderheiten der einzelnen Grundrechtsartikel, insb. unterschiedliche Formulierungen des Gesetzesvorbehalts40 eingeebnet und sogar die nach dem Grund35

Dazu unten III. 3. Lerche, Übermaßverbot (Fußn. 3), S. 152 f.: „nach beiden Seiten möglichst schonenden Ausgleich“. 37 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, Rn. 72, 315 ff. 38 Präzise Pieroth/Schlink, Grundrechte. Staatsrecht II, 26. Aufl. 2010, § 6 Rn. 288 ff., 299 ff. (mit Kritik an der Anerkennung der Verhältnismäßigkeit i. e.S.). 39 Besonders deutlich im Kassenarzturteil BVerfGE 11, 30 (41 – 43): In dieser Entscheidung wurde die Bedürfnisprüfung zwar als Ausübungsregelung (im Hinblick auf den als einheitlich angenommenen Beruf des Arztes) eingestuft, materiell wurde sie aber wie eine objektive Zulassungsbeschränkung qualifiziert. Die Entscheidung offenbart das ungelöste, vielleicht auch unlösbare Problem der Bestimmung des Berufsbegriffs. Damit gibt es aber ganz am Anfang der „Stufentheorie“ eine offene Flanke. 40 In differenzierter Weise hat Lerche, Übermaßverbot (Fußn. 3), S. XIV vor dem Verlust steuernder Einzelaussagen der Verfassung durch eine allgemeine Anwendung etwa der Angemessenheitsvorstellung gewarnt, (auch ebd. S. XVII sowie ebd. S. 106 ff., 134 ff. zu „ty36

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gesetzestext unbeschrankten Grundrechte in die allgemeine Verhältnismäßigkeitsprüfung bzw. Abwägung einbezogen wurden.41 Bald konzentrierte sich die Grundrechtsdogmatik auf das formale Schema: Schutzbereich und Eingriffsrechtfertigung, einschließlich des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit. Das Motto war Verallgemeinerung, nicht Differenzierung.42 Im Blick auf das Ende dieses Einebnungsprozesses kann man fragen, ob damit nicht zu viel Eigenständigkeit und Vielfalt der einzelnen Grundrechte aufgegeben worden ist und der gesamte Grundrechtsschutz auf die zwei Lehrsätze vom weit auszulegenden Schutzbereich und vom Schutz vor unverhältnismäßigen Eingriffen43 reduziert worden ist. So hat insbesondere die Literatur den Weg zur Generalisierung der bei der Berufsfreiheit entwickelten Figur der Verhältnismäßigkeitsprüfung mit Vehemenz betrieben. Diese Entwicklungslinie des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit illustriert den Hang der deutschen Dogmatik zu den „allgemeinen“ Lehren, hier den allgemeinen Grundrechtslehren, die man deshalb auch gerne mit dem Großbuchstaben „Allgemeine Lehren“ nennt.44 3. Die Ausbildung der dritten Stufe zu einer vollen Prüfungsstufe Ursprünglich konnte man für die dritte Stufe der Verhältnismäßigkeitsprüfung, als einer ausnahmsweise eintretenden Korrektur, Fritz Fleiners klassisch formulierte pischen Bauformen“ im GG für die normativen Begrenzungen der Grundrechte sowie der Auswirkungen für die Wirkungsweise des Übermaßverbots). Vom möglichen Überspielen der verschiedenen Grundrechtsbegrenzungen durch das Werten und Abwägen des BVerfG spricht Schlink, Abwägung (Fußn. 3), S. 47 (in Frageform), auch S. 200 – 203; Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, 2001, S. 49 ff. (Kritik der Vereinheitlichung der Gewährleistungsschranken in der Rechtsprechung); Saurer (Fußn. 19), S. 31 f. 41 Schlink, Abwägung (Fußn. 3), S. 199 f.; Böckenförde (Fußn. 8), S. 233 ff., 261 f., dort S. 239 zur charakteristischen Dynamik der Anerkennung von verfassungsimmanenten Schranken: „was eher als Ventil formuliert war (verfassungsimmanente Schranken) erwies sich bald als Tor für einen breiten Strom“. 42 Hesse (Fußn. 37), § 9 III Rn. 300, hält an Grundrechten als „punktuellen Gewährleistungen“ zum Schutz besonders wichtiger und besonders gefährdeter Lebensbereiche fest. Ähnlich auch Richter Grimm in seinem Sondervotum von 1989, BVerfGE 80, 137 (164) – Reiten im Walde, das vielzitiert ist, aber keine Nachfolge gefunden hat – genau dies ist typisch für eine in sich gut begründete Argumentation gegen eine Interpretation, die zum Entwicklungspfad geworden ist. 43 Dazu die bekannte Formulierung von Pieroth/Schlink, Grundrechte (Fußn. 38) § 6 IV 3: „Vom Vorbehalt des Gesetzes zum Vorbehalt des verhältnismäßigen Gesetzes“; Rn. 284; „… mit dem Vorbehalt des verhältnismäßigen Gesetzes wehren sie unverhältnismäßig in die Grundrechte eingreifende Gesetze ab“. Siehe auch Zippelius/Würtenberger (Fußn. 4), § 19 Rn. 84: Gesetzesvorbehalte sind praktisch „Vorbehalte des verfassungsmäßigen Gesetzes“. 44 Ein Beispiel für diesen Hang zur (Über)Generalisierung ist das Thema, ob im Rahmen der Grundrechtsdogmatik Schutz und Abwehr gleichberechtigt sind und wie sich generell Abwehr- und Schutzrichtung zueinander verhalten, Vosgerau, Grenzen der Liberalen Gewährleistungstheorie: Schutzpflichten und Gemeinwohl im staatlichen Risikomanagement, in: Risiko im Recht – Recht im Risiko. 50. Assistententagung Öffentliches Recht, 2011, S. 135, 137.

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Überlegung anführen, dass man nicht mit Kanonen auf Spatzen schießen solle.45 Wenn es bei der dritten Stufe dabei geblieben wäre, hätte es – voraussetzungsgemäß – nicht viele Fälle geben dürfen, in der sie hätte angewendet werden können. Das Gegenteil ist der Fall. Zwar wird die dritte Stufe nicht in jeder Entscheidung relevant, sie wird auch nicht immer gehaltvoll geprüft. Es gibt aber wichtige Fälle, in denen dies der Fall ist.46 Mit dieser Betonung und Anerkennung der dritten Stufe als wichtige Prüfung haben sich die Rechtsprechung und die herrschende Lehre in besonderem Maße der Kritik ausgesetzt und den Vorwurf einer Verwischung von Recht und Politik provoziert.47 Ob diese verbreitete Kritik zutrifft, ist fraglich, kann hier nicht im Detail weiter verfolgt werden.48 Immerhin kann sich die Grundsatzkritik durch Ergebnisse der Rechtsvergleichung indirekt bestätigt sehen. Bekanntlich haben andere Rechtsordnungen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als solchen anerkannt und übernommen:49 Die – notwendige – nähere Analyse zeigt aber, dass es sich nicht immer um eine volle, sondern häufig nur um eine halbe Rezeption gehandelt hat, weil die dritte Stufe der Verhältnismäßigkeitsprüfung i. e.S. nicht übernommen wird.50 Es spricht vieles dafür, dass die Ausbildung der dritten Stufe als gehaltvolle Prüfung eine Besonderheit des deutschen Rechts geblieben ist. Was in der Binnensicht als Ausweis der konsequenten Entfaltung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit gelten mag, stellt sich in der immer wichtiger werdenden Perspektive des Rechts(den-

45 Fleiner, Institutionen des deutschen Verwaltungsrechts, 1911, S. 323; vorangegangene bildhafte Umschreibungen weist nach Saurer (Fußn. 19), S. 3 Fußn. 2. 46 Dreier, in: ders. Grundgesetz-Kommentar (Fußn. 3), Vorb. Rn. 149; explizit: BVerfGE 90, 145 (185) – Cannabis, Leitsatz 2b zur 3. Stufe; Appel, Verfassung und Strafe. Zu den verfassungsrechtlichen Grenzen des Strafens, 1998, S. 171 ff., 576 ff. 47 Schlink, FS BVerfG (Fn. 3), S. 458 ff.; komplexe Analyse von Hochhuth, Relativitätstheorie des Öffentlichen Rechts, 2000, S. 89 ff. – Neuerliche Kritik von Jestaedt, Poscher und Klement, je in: Klatt (Hrsg.), Institutionalized Reason The Jurisprudence of Robert Alexy, Oxford 2012, S. 152 ff., 218 ff. 173 ff. 48 Bei einer genaueren Analyse lässt sich der Vorwurf eines sozusagen freien Abwägens in der Regel nicht halten. Häufig stellt sich das Abwägen als ein intensives und sensibles Eingehen auf die Sachproblematik dar, angeleitet durch normative Maßstäbe, die aus der gesamten Rechtsordnung gewonnen sind. In dieser Kombination von Sach- und Rechtsgründen sind diese Abwägungsentscheidungen auf der dritten Stufe mit den (Hoch)Leistungen des angelsächsischen Richterrechts vergleichbar: Was dort methodisch als möglich und als beträchtliche juristische Leistung anerkannt ist – und dies mit derzeit steigender Anerkennung –, sollte für die Verhältnismäßigkeitsprüfung deutscher Provenienz nicht a limine als unjuristisch verworfen werden. 49 Dazu oben III 1. und Fußn. 33. 50 Saurer (Fußn. 19) S. 31, hebt hervor: Diejenigen Rechtsordnungen und andere (Höchst) Gerichte, die eine Reihe von Wertungsfragen, die in Deutschland auf der dritten Stufe behandelt werden, in die Erforderlichkeitsprüfung mit hineinnehmen, zahlen damit einen grundrechtsdogmatischen Preis: Damit verliert die Erforderlichkeitsprüfung jene Tatsachenorientierung und empirische Neutralität, die man zunächst als ihren Vorteil gegenüber der dritten Stufe der Verhältnismäßigkeit angesehen hat.

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kens) im europäischen Rechtsraum51 als eine deutsche Besonderheit dar. Dass eine Rechtsfigur als deutsche Besonderheit bezeichnet werden kann, verdient – entgegen einem verbreiteten Sprachgebrauch – keineswegs schon deshalb eine negative Bewertung, schließlich sind alternative Rechtsverständnisse in anderen Staaten zunächst auch nichts anderes als deren Besonderheiten. Richtig ist aber, dass solche Besonderheiten oder Sonderwege auf mögliche Friktionen im RechtsprechungsDreieck von BVerfG (bzw. nationalen Verfassungsgerichten) – EuGH – EGMR hinweisen und damit auf grundsätzliche Gegenwartsprobleme aufmerksam machen, die hier nicht beiläufig behandelt werden können.52 Bemerkenswert im vorliegenden Zusammenhang ist das Resümee von Johannes Saurer, das sich mit der im Text geäußerten Auffassung deckt: Er versteht das Verhältnismäßigkeitsprinzip als rechtsordnungsübergreifenden Kontrollrahmen, betont aber gleichzeitig die Divergenzen der Kontrollstruktur.53 Andere Rechtsordnungen setzen den Schwerpunkt der Kontrolle auf die zweite, die Erforderlichkeits-Stufe und zwar gerade deshalb, um die Entscheidung des Falles auf der dritten Stufe zu vermeiden. „Diese Stufe steht mit ihrer offenen Rechtsgüterabwägung … unter dem Verdacht der Grenzverletzung im Verhältnis von Recht und Politik.“54 Saurer fügt sogleich und zu Recht den Preis für diese Option an: Die Kontrolle des milderen Mittels und der gleichen Wirksamkeit wird in ungleich stärkerem Umfang als in Deutschland mit Wertungselementen aufgeladen.55 Diese aus der deutschen Diskussion bekannten Überlegungen weisen auf etwas Tieferliegendes und Grundsätzliches hin, was man als „Gesetz“ von der Erhaltung der Wertungsbedürfnisse bezeichnen könnte: Wertungen bzw. das Bedürfnis danach, die man an der einen Stelle verabschiedet oder negiert, tauchen häufig an einer anderen Stelle wieder auf. Wo es gravierende Konfliktlagen und deshalb auch Wertungsbedürfnisse gibt, kann man wertende Elemente regelmäßig nicht vermeiden, allenfalls verschieben.

51 Dazu Wahl, Die Rechtsbildung in Europa als Entwicklungslabor, JZ 2012 (im Erscheinen). Die Perspektive des europäischen Rechtsraums ist keineswegs nur eine Sicht vom größeren Raum des Rechts, vom Raum der EU her, sondern sie ist eine Binnen- und Außenorientierung kombinierende Grundeinstellung. 52 Zur „sehr uneinheitlichen“ Verhältnismäßigkeitsprüfung des EuGH kritisch Saurer (Fußn. 19) S. 8 f. (mit Verweisen auf die Rechtsprechung in Fußn. 29 – 32); s. dazu auch Classen (Fußn. 33), 651, 653 ff. 53 Saurer (Fußn. 19) 30 f.: „[…] dass die Konvergenzperspektive ein nur unvollständiges Bild hervorbringt. Denn der rechtsordnungsübergreifend entstehende Verhältnismäßigkeitsstandard ist von rahmenhaftem Charakter. Innerhalb dieses Kontrollrahmens divergiert die konkrete Kontrollstruktur erheblich“. 54 Saurer (Fußn. 19), S. 31. 55 Anders gesehen von v. Bernstorff (Fußn. 33), S. 184, der bei der Erforderlichkeit einen geringeren wertenden Gehalt als bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung i. e.S. annimmt.

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4. Starke Verrechtlichung durch Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und hohe Intensität der Kontrolldichte Eine weitere wichtige, in die gleiche Richtung einer Sonderstellung weisende Weichenstellung hat die Praxis der Verhältnismäßigkeitsprüfung auch schon in den ersten Jahren vorgenommen, nämlich die Entscheidung für eine relativ intensive Nachprüfung bei der Erforderlichkeit und, wenn es dem BVerfG nötig erscheint, der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne. Die Prüfungstiefe und die Prüfungsdichte sind ein Merkmal, wenn nicht gar ein Markenzeichen des deutschen Verfassungsrechts und der Verfassungsrechtskultur geworden. Diese Weichenstellung lässt sich kaum an Begriffen, Konzepten oder überhaupt an theoretischen Aussagen ablesen. Sie ist in der Praxis der verfassungsgerichtlichen Prüfung entstanden, in der begriffliche (Ausgangs)Darlegungen und Distinktionen in einen besonderen Denk- und Urteilsstil übergehen und eine von anderen unterscheidbare Rechtskultur ausprägen.56 Jedenfalls gehören zu den tiefer liegenden Orientierungen von Juristen die Gewohnheiten und Kunstregeln, die über die Intensität und Tiefe der Nachprüfungen von tatsächlichem Vorbringen und die Anforderungen über die Plausibilität eines Tatsachenvortrags Auskunft geben. So sind im Rahmen der Verhältnismäßigkeit die Anforderungen, die die Gerichte an die Darlegung der Geeignetheit oder Erforderlichkeit oder ggf. an die Verhältnismäßigkeit i. e.S stellen, die entscheidenden „Stellschrauben“ für die alles entscheidende Anwendung in der Fallpraxis.57 Jedes Mal geht es darum, was im Einzelnen der Gesetzgeber zugunsten des von ihm befürworteten Eingriffs darlegen muss und wie viel und wie genau das Gericht überprüft. Es ist ein beträchtlicher Unterschied, ob ein Gericht zulässt, dass die Darlegungen des Gesetzgebers einigermaßen allgemein oder pauschal bleiben und die Kontrolle sich nur darauf erstreckt, dass die Annahmen und Wertungen des Gesetzgebers als „plausibel“ oder „vertretbar“ gewürdigt werden oder ob „sich das Gericht freilich nicht damit zufrieden geben (kann), dass Ziel und Zweck der gesetzlichen Regelung nur allgemein und schlagwortartig bezeichnet werden und der freiheitseinschränkende Eingriff als Mittel zur Erreichung dieser Ziele nicht völlig ungeeignet erscheint“58. Meine These ist, dass die Intensität der Argumentation und die Prüfungstiefe des Bundesverfassungsgerichts eine eigene Stellung, wenn man so will, eine Sonderstellung begründet haben. Die deutsche Praxis (und Theorie) sind bei weitem nicht die

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Im unterschiedlichen Stil von Entscheidungen und auch wohl der rechtswissenschaftlichen Literatur zeigen sich nicht nur an der Oberfläche bleibende Unterschiede, sondern Denktraditionen. Im Einüben eines „Stils“ von Abhandlungen und Urteilen in der Juristenausbildung wird unter dem Stichwort des Stils und der Formalien nicht nur Vordergründiges gelernt. 57 Hier ist genau zu unterscheiden: Im Text geht es nicht um die sonst häufig gerügte Einzelfallbezogenheit der Verhältnismäßigkeitsprüfung, sondern um die für das Ergebnis solcher Prüfungen entscheidenden Anforderungen an die Darlegung und spiegelverkehrt für die Kontrollintensität der Gerichte. 58 BVerfGE 7, 377 (411 f.) mit weiteren Erwägungen zur Prüfungstiefe des Gerichts.

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einzig mögliche, sondern eine zugespitzte und exponierte Binnenalternative des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit. 5. Das Abwägen als juristische Mentalität Die deutsche Erfindung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, bezogen auf den Gesetzgeber, hat das deutsche Verfassungsrecht Schritt für Schritt zu einer Rechtsordnung werden lassen, in der die Grundvorstellung von der Abwägung generell eine dominierende Rolle spielt.59 Mit dem Leitgedanken des Abwägens hat das deutsche Öffentliche Recht mehr als nur eine Rechtsfigur, sondern vielmehr eine generelle Hintergrundvorstellung vom Recht entwickelt. Abwägung steht als Chiffre für eine dem Recht und der Rechtsanwendung gemäße Form des Argumentierens, der durchaus eine Nähe zur Gerechtigkeit attestiert wird. Kurz: Das Abwägen ist zu einer Denkgewohnheit und zu einer Art juristischen Mentalität vieler deutscher Öffentlichrechtler und vieler deutscher Juristen überhaupt geworden. Im Selbstverständnis vieler Juristen gilt das Abwägen, also das Aufspüren von Belangen und Gegenbelangen, das Gegenüberstellen und Bewerten im Kontext der gesamten Rechtsordnung sowie das Bemühen um einen Ausgleich als die typische juristische Herausforderung und Bewährungsprobe. Dies gilt umso mehr für die Wirkungsweise der Grundrechte gegenüber Gesetzen, die die allgegenwärtigen Konflikte nur in der rudimentären Form einer Entgegensetzung von Gewährleistungen und entgegenstehenden öffentlichen Belangen rechtlich erfassen können und im Weiteren auf Operationen wie das Abwägen angewiesen sind. So ist es auch konsequent und richtig getroffen, wenn der US-amerikanische Supreme Court in seiner bisherigen Rechtsprechung und auch in seiner gegenwärtigen Mehrheit einen scharfen Unterschied zwischen den Abwägungs-Rechtsordnungen und der amerikanischen Auffassung von den Grundrechten als absoluten Rechtspositionen macht und das Abwägungsparadigma ablehnt.60 Darauf ist noch näher einzugehen61 (unten VII.); an dieser Stelle ist hervorzuheben, dass die Auffassung oder richtiger, die Haltung gegenüber der Alternative Verhältnismäßigkeit oder Abwägung kein beliebiger oder kleiner, sondern ein substantieller Unterschied ist. Abschließend soll nicht übersehen werden, dass jede zur Gewohnheit oder zur Mentalität gewordene Argumentationsform und jedes Vorverständnis ihren eigenen Gefährdungen und Nachteilen ausgesetzt sind. Eine Denkgewohnheit kann auch zum 59 Wenn es eines Beweises bedürfte, könnet man auf Buchtitel wie den von Leisner, Der Abwägungsstaat: Verhältnismäßigkeit als Gerechtigkeit, 1997, oder den Symposiumsband Erbguth (Hrsg.), Abwägung im Recht (Symposium zur Verabschiedung von Werner Hoppe …), 1996, verweisen. 60 Dazu zuletzt Sauer (Fußn. 19) mit Nachweisen und insb. Hinweis auf die Entscheidung District of Columbia v. Heller, 128 S. Ct. 2783 (2008), die sich ausdrücklich mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz befasst, den die Mehrheit für das amerikanische Recht zurückweist. 61 Unten VII.

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Denk-Ersatz und zur Oberflächlichkeit werden. Das Abwägen kann sein (Argumentations)Potential auch durch Übernutzen und durch eine schwer erträgliche Leichtigkeit der Handhabung verlieren. Von all dem ist die Praxis der Verhältnismäßigkeitsprüfung und der Abwägung keinesfalls verschont geblieben. Aber letztlich sind dies die Begleiterscheinungen der überragenden Bedeutung der Figuren; Abnutzungserscheinungen sind alle Leitvorstellungen und -formeln ausgesetzt. IV. Kritik als Dauerkritik Ist für den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Lob und Dauerkritik kennzeichnend, dann muss auf die andere Seite der Erfolgsgeschichte, auf die Kontinuität der Kritik als einer Dauer- und Grundsatzkritik ein kurzer Blick geworfen werden, auch wenn die Geschichte der Kritik am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und am Abwägen nicht zu den Schwerpunkten der vorliegenden Überlegungen gehört.62 Die Themen der Kritik wechselten. Am Anfang war es die Kritik an der Wertphilosophie als der Ursprungs- oder Begleit-Philosophie, mit der das Abwägen und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zunächst verbunden waren. Einiger Boden wurde dieser Kritik entzogen, als das Bundesverfassungsgericht und Teile der Literatur einen semantischen Rückzug auf die rationaler klingende Formel von den „Elementen objektiver Ordnung“ (Konrad Hesse63) angetreten hatten. Naturgemäß stand die zentrale Operation der (Güter)Abwägung, die bei der dritten Stufe der Verhältnismäßigkeitsprüfung unerlässlich ist, im Mittelpunkt der Kritik. Dass die Judikatur den methodisch (zu) hohen Anforderungen des sozialwissenschaftlichen „Problemhorizont(s) der Wohlfahrtsökonomik und Spieltheorie“, die Bernhard Schlink in seiner einflussreichen Arbeit anlegte,64 nicht standhalten konnte, kann kaum überraschen. Schlink formulierte daneben einen bleibenden Einwand, dass die Abwägung als ein Vorgang der Gewichtung von Gesichtspunkten, Interessen, Gütern oder Werten scheitern müsse.65 Ähnlich kritisierte Fritz Ossenbühl, dass für die Gewichtung und für die Saldierung von Umständen die Maßstäbe fehlen.66 Später wurde die Wertphilosophie als Basistheorie durch die Prinzipientheorie von Robert Alexy abgelöst,

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Neuere Kritik ist ausführlich nachgewiesen von Rusteberg (Fußn. 5), insb. S. 50 – 75 und – insb. Kritik im ausländischen Schrifttum – von Klatt/Meister (Fußn. 33), S. 159 Fußn. 1; s. auch die Handbuch- und Kommentarliteratur. 63 Hesse (Fußn. 37), § 9 II 2 Rn. 290. 64 Schlink, Abwägung (Fußn. 3), S. 154 ff. 65 Schlink, Abwägung (Fußn. 3), S. 151 ff., 152: „Das Abwägungskonzept, das die rangmäßige Gewichtung und Ordnung von Werten und Gütern ebenso wie von Verhaltens- und Regelungsalternativen zur Voraussetzung hat, scheitert.“. Es zeigt sich, „dass die Ableitung sozialer Wertordnungen oder Wertungen aus individuellen Wertordnungen oder Wertungen nicht so gelingen kann, dass Gerichte mit ihrer Hilfe Gewichtungen und Wertungen intersubjektiv befriedigend vornehmen könnten“. (S. 153). 66 Ossenbühl, in: Erbguth (Hrsg.), Abwägung im Recht (Fußn. 59), S. 337.

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die zu Recht beträchtliche intellektuelle Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat, die aber ihrerseits auch starker Gegenkritik ausgesetzt war und ist.67 Im weiteren Verlauf der Diskussion stellten sich griffige Formulierungen der Kritik ein, manche wurden zu attraktiven Schlagworten, sozusagen zu einem Muss für das Zitieren, so der Ausspruch von Fritz Ossenbühl von der Verhältnismäßigkeit als Gleich- und Weichmacher.68 Zustimmung fand auch die Kritik von Ernst-Wolfgang Böckenförde, dass bei der Prüfung der dritten Stufe der Verhältnismäßigkeit an die Stelle juristischer Operationen der allgemeine gerechtigkeits- und billigkeitsbezogene Maßstab der Angemessenheit getreten sei,69 womit zugleich der gängigen Praxis eine Tendenz zur Subjektivität und letztlich Beliebigkeit der Argumentation vorgeworfen wird. Unbestritten dürfte sein, dass diese dritte Stufe dauerhaft in der Gefahr von Grenzüberschreitungen im Grenzgebiet von juristisch Fassbarem und allgemeinem Räsonieren steht. Aber diese Herausforderung teilt die Verhältnismäßigkeit i. e.S. mit anderen Grundoperationen des juristischen Argumentierens, etwa mit dem Gleichheits- bzw. Ungleichheitsurteil. In der Kritik kristallisierte sich als Alternative zur Verhältnismäßigkeit weniger die Schranken-Schranke der Wesensgehaltsgarantie heraus als die Option für den politischen Spielraum des Gesetzgebers, der jenseits von Geeignetheit und Erforderlichkeit nicht weiter eingeschränkt sein sollte. Als grundsätzliche Alternative zur hohen Verrechtlichung durch die gängige deutsche Praxis der Verhältnismäßigkeit gilt so die Reduzierung der Verrechtlichung. Bei aller Dauer- und Grundsatzkritik bleibt es auffällig, dass der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz trotzdem für die deutsche herrschende Lehre und Verfassungsgerichtsjudikatur praktisch unangefochten geblieben ist (und zugleich zum Exportschlager wurde). In der Sicht einer Entwicklungsgeschichte ist dieses Phänomen ein starker Hinweis darauf, dass sich der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit einer weitreichenden Weichenstellung verdankt und dass mit ihm ein Entwicklungspfad begründet worden ist.

67 Dazu eingehend Jestaedt, Die Abwägungslehre – ihre Stärken und ihre Schwächen, in: Staat im Wort, FS Isensee, 2007, S. 253 – 275; vgl. ferner aus rechtstheoretischer Sicht Klement, Vom Nutzen einer Theorie, die alles erklärt, JZ 2008, S. 756; Poscher, Theorie eines Phantoms – Die erfolglose Suche der Prinzipientheorie nach ihrem Gegenstand, Rechtswissenschaft 2010, S. 349. Verwundern muss, dass eine präzise Exemplifizierung und beispielhafte Anwendung der Prinzipientheorie auf (große) Fälle etwa der deutschen Verfassungsrechtsprechung, also ein Test und Beweis, dass man mit diesem Ansatz und Instrumentarium genauere oder rational besser nachvollziehbare Entscheidungen erzielen könnte, im Wesentlichen ausgeblieben ist. 68 Ossenbühl, VVDStRL 39, 1981, 189 oder das naheliegende Sprachspiel von ders., Maßhalten mit dem Übermaßverbot, in: FS Lerche, 1993, S. 151 ff. 69 Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen. Zur gegenwärtigen Lage der Grundrechtsdogmatik, Der Staat 29 (1990), S. 1 ff.; Lerche, Übermaßverbot (Fußn. 3), S. XIII, XIV, XV; Hillgruber (Fußn. 3), HStR, 3. Aufl., Bd. IX, § 201; darin zur Angemessenheitsprüfung Rn. 72 ff., zur Kritik Rn. 78 ff.: Skizze einer „angemessenen“ Angemessenheitskontrolle, Rn. 84 ff.

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V. Überblick über die Gegenwartsdiskussion 1. Binnen- und Außen-Alternativen zum Schutz der Grundrechte vor Aushöhlung Die weiteren Überlegungen interessieren sich für Alternativen, durch die der Schutz der Grundrechte vor Aushöhlung durch den Gesetzgeber gewährleistet werden kann. Es handelt sich zum einen um Binnenvarianten innerhalb des deutschen Grundrechtssystems des gestuften Aufbaus der Grundrechtsartikel, seien es die Aktivierung der Wesensgehaltsschranke oder die stärkere Konturierung der Schutzbzw. Gewährleistungsbereiche. Ins Blickfeld treten zum anderen Außenvarianten, die das deutsche System des gestuften Aufbaus verlassen und insbesondere von der US-amerikanischen Theorie und Verfassungsgerichtspraxis angeregt werden. Sie erscheint für alle diejenigen Autoren attraktiv, die die „Verstrickungen“ der deutschen Lehre in die Abwägung hinter sich lassen wollen und den „Abwehr“charakter der Grundrechte und ihre Funktion als Bollwerke und unübersteigbare Grenzen revitalisieren wollen. So vereinigt die Gegenwartsdiskussion alle Elemente und Argumentationsstränge aus Theorie und Praxis der sechs Jahrzehnte in Zustimmung oder Grundsatzkritik, nämlich – eine sich unangefochten gebende Fortführung der Verhältnismäßigkeitsdoktrin in der bisherigen Judikatur und der herrschenden Lehre (unten 2.), – eine grundsätzliche Kritik an der Abwägung und an der Abwägungspraxis (unten 3.), – Strategien der „Schärfung“ und Konturierung der Schutzbereiche sowie von Gewährleistungsinhalten der einzelnen Grundrechte, in der Hoffnung, dadurch Abwägungen stark reduzieren zu können (unten 4.), – eine Neubelebung des Kernbereichsdenkens, besonders stark in der neueren Völkerrechtsdiskussion (unten VI. 1.), – ein Grundrechtsdenken ohne Gesetzesvorbehalte (VII. 1.). 2. Verfassungsjudikatur und herrschende Lehre Die Verfassungsgerichtspraxis verwendet die Figur der Verhältnismäßigkeitsprüfung nach wie vor. Sie kann sich mit der Technik des Selbstzitierens von einer erneuten grundsätzlichen Begründung entlasten. Sie kann also den Grundsatz in der Spruchpraxis anwenden, als sei er unumstritten, sie kann aber zugleich in der Art der Anwendung flexibel sein. Für das Verfassungsgericht ist das Judizieren anhand und mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz eine ganz selbstverständliche Folge davon, dass es (und die vielfach begleitende Literatur) einen veritablen Entwick-

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lungspfad eingeschlagen haben. Mit diesem schon oben gebrauchten70 Begriff soll umschrieben sein, dass Dogmatik und Theorie angesichts von Alternativen einen der möglichen Wege eingeschlagen haben, diesen seither konsequent weitergegangen sind und dass durch diese Ausgangsentscheidung und die darauffolgende lange Wegstrecke des ununterbrochenen Praktizierens der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu einer tragenden Säule des deutschen Verfassungsrechts geworden ist. Es sei hervorgehoben: Auch tragende Säulen kann man – unter großem Aufwand – auswechseln und ersetzen. Auch zentrale Bestandteile einer Rechtsordnung kann man verändern (vor allem, wenn bei der Europäisierung ein entsprechend großer Druck entstanden ist). Aber typischerweise – und das hat sich immer wieder bestätigt – wechselt man grundsätzliche Figuren und Institute, die zu einem Entwicklungspfad geworden sind, nicht aus, jedenfalls nicht einfach – der Änderungsaufwand ist groß. Und er ist so groß, weil sich die zentrale Figur so weit und intensiv mit der Rechtsordnung verbunden hat, dass jede Alternative dazu in sehr vielen Problemfeldern Auswirkungen hätte und Kettenreaktionen weiterer Änderungen auslösen würde. Noch einmal: Was zu einem Entwicklungspfad gehört, kann kritisiert werden, es wird typischerweise auch kritisiert, aber die Kritik hat normalerweise kaum Erfolg. So auch hier. Was hat der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, was hat das Abwägen schon an Gegnerschaft und Kritik auf sich gezogen – und die Kritik hat sicherlich gute Argumente für sich gehabt – und trotzdem sind Judikatur und herrschende Lehre dem weiter gefolgt – jedenfalls bisher. Änderungen könnten sich statt aus der Binnendiskussion aus der Außendimension ergeben: Im Zuge seiner nahezu weltweiten Ausbreitung sind viele und unterschiedliche Varianten des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes entstanden, die, insb. im europäischen Rechtsraum, sehr intensiv aufeinandertreffen. Die Einwirkungs- und Austauschprozesse innerhalb dieses Rechtsraumes sind vielfältig und sehr intensiv, damit könnte ein neuer oder ein modifizierter Pfad beschritten werden. Die Literatur verwendet die Figur der Verhältnismäßigkeit ähnlich. Sie ist nach dem bisher Ausgeführten alles andere als unbefragt, sie wird problematisiert, aber letztlich wird sie doch zur Lösung konkreter Fragen angewendet. Dies gilt für die Kommentar- und Lehrbuchliteratur – jeweils mit Ausnahmen. Vor allem ist die Figur der Verhältnismäßigkeit in der umfangreichen (Aufsatz)Literatur, in der die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes (gutachterlich) bestätigt oder verworfen wird, allgegenwärtig. Und die Figur wird in der Aufsatz- und Gutachterliteratur typischerweise viel intensiver und gehaltvoller angewendet als in der Verfassungsjudikatur. Dies ist nicht verwunderlich: Wer die Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes darlegen will, wird sich bei der Figur der Verhältnismäßigkeit, von deren Anwendung letztlich sein Ergebnis abhängt, nicht als Meister der Zurückhaltung zeigen.

70

s. oben II. 3.

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3. Das Leiden am Abwägen Bei den Kritikern der Abwägung gelten Verhältnismäßigkeit und Abwägung immer wieder als Indiz für Relativierungen, für das Fehlen von absoluten „harten“ beständigen Werten und für (unterschiedliche Grade von) Belieben. Zustimmung und Anziehungskraft haben demgegenüber Ansätze, die absolute und vom Recht festgehaltene Positionen versprechen. In der meist methodisch gewendeten Grundsatzkritik gilt Abwägen (zumal im Einzelfall) als nicht-rationales Verfahren im Unterschied zum klassischen Subsumtionsvorgang.71 In dieser Kritik artikuliert sich manches Unbehagen an einer großflächigen Gegenüberstellung von „Werten“ oder „Gütern“. Besonders pointiert hat jüngst Joachim Rückert die Abwägung kritisiert.72 Ihr wird erneut die – fehlerhafte – Orientierung am Einzelfall attestiert und vorgeworfen,73 ebenso ihre Nähe zur Billigkeit. Sie habe eine erstaunliche Karriere gemacht, nämlich eine Wandlung vom unjuristischen Begriff „zum Allheilmittel, von der Ausnahme zur juristischen Wunderwaffe unserer Rechtspraxis“. Habe Triepel das politische Erwägen unproblematisch „Abwägung“ genannt und ihren Ort sicher im staatsmännisch-politischen Bereich festgemacht, so sei später die Abwägung aus ihrem unproblematischen Ort in den „altüberkommenen und normativ freien, nicht juristischen, politischen, auch moralischen und philosophischen Diskussionen hinüber in die juristischen Diskussionen“ gewandert.74 Die Beschreibung dieses Irrwegs enthält unausgesprochen den Vorwurf vor allem an die Verfassungsrechtler, dass sie den juristischen Pfad der Tugend verlassen und sich zu eher politischen Operationen begeben haben. Rückert erneuert die bekannte Grundsatzkritik an der Abwägung aus der zivilrechtlich-rechtstheoretischen Perspektive. Er wundert sich über die Karriere der Abwägung im öffentlichen Recht. Die Frage nach Eigenarten des Verfassungsrechts bei der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes anhand der Grundrechte stellt sich ihm jedoch nicht. Der Abwägung stellt er eine generelle, für alle Rechtsgebiete geltende Alternative gegenüber, nämlich ein generelles, offenbar überall (gleich) geltendes Gebot der Normenstrenge. Die Alternative: Normenstrenge vs. Abwägung hat ein großes rhetorisches Potential. Der Formulierung ist das Ergebnis schon eingeschrieben: Dem Wort von der Normenstrenge haftet von vornherein die Vorstellung 71 Dessen methodische Verlässlichkeit oder Vorhersehbarkeit des Ergebnisses aber auch nicht außer Zweifel steht. 72 Rückert, Abwägung – die juristische Karriere eines unjuristischen Begriffs oder: Normenstrenge und Abwägung im Funktionswandel, JZ 2011, S. 113. 73 Gegen den Vorwurf der mangelnden Vorhersehbarkeit hat sich das Bundesverfassungsgericht in BVerfGE 66, 116 (138) ausdrücklich geäußert; dazu Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1. 2. Aufl. 2004, Art. 5 I Rn. 161 mit „Leitlinien einer differenzierten Verhältnismäßigkeitsprüfung“ des Bundesverfassungsgerichts bei Art. 5 I GG, die ausdrücklich den Anspruch erheben, „unter Überschreitung einer bloß unvermittelten einzelfallbezogenen Güter- und Interessenabwägung die Rechtsfindung normativ zu leiten und den Geboten der Berechenbarkeit, Klarheit und Sicherheit des Rechts gerecht zu werden“. 74 Rückert (Fußn. 72), S. 917.

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vom Altbewährten, Archetypischen, letztlich vom Juristischen an sich an. Normenstrenge erscheint als Versprechen, Absolutes und Festes zu verwirklichen. Demgegenüber kann die Verhältnismäßigkeit oder die Abwägung nur ein Verfallsprodukt hin zu Relativierungen sein. Verwunderlich ist nur, dass die auf Normenstrenge zielende Alternative nicht einmal an den bekannten Hauptfällen der Verhältnismäßigkeitsrechtsprechung exemplarisch getestet wird. Wie also hätte man in den rechtlichen Konstellationen des Apotheken- oder Lüth-Urteils ohne die Figuren der Verhältnismäßigkeit oder Abwägung nach traditionellen Methoden der Normenstrenge argumentieren sollen? Dies bleiben Rückert und eigentlich auch alle seine Vorgänger schuldig. So geht es z. B. beim Apothekenurteil und vielen nachfolgenden Entscheidungen um Einschränkungen der Berufsfreiheit. Die einfach-strenge Antwort, dass die Berufsfreiheit absolut und fest garantiert sei, es also Einschränkungen gar nicht geben könne, war und ist schon vom Text des GG verwehrt. Es gibt ausdrücklich einen Gesetzesvorbehalt,75 so dass die Grundstruktur der Grundrechtsprüfung diejenige ist, dass zwei „Positionen“ gegeneinander abzugrenzen sind. Dabei kann sich ein Interpret und Richter nicht darauf stützen, dass er eine präzise oder absolute Umschreibung des Begriffs Beruf finden könne. Welche Tätigkeiten Beruf sind, ist im Allgemeinen nicht streitig und im Übrigen so leicht oder so schwer zu klären, wie eben Begriffe abgegrenzt werden müssen und können. Aber in den Kernentscheidungen der Rechtsprechung ging es nicht darum. Im Weiteren führte auch eine reine Begriffsexplikation von „Berufswahl“, „Berufsausübung“ und „Regeln“ nicht weiter. Insbesondere das „Regeln“ besagt nicht, welche Güter, Interessen oder Gemeinwohlbelange dem Freiheitsanspruch des Einzelnen gegenübergestellt werden dürfen und wie weit sie einschränken dürfen. Dass die Ausübung des Berufs Ausdruck von Persönlichkeitsentfaltung ist, ist klar. Dass der so anspruchsvolle und erfüllende Beruf des Arztes aber nicht jedem ohne Vorbedingungen offen stehen kann, ist ebenfalls klar. Subjektive Zulassungsvoraussetzungen sind also dem Grundsatz nach unvermeidlich. Die Frage ist und bleibt, ob die konkreten Anforderungen die Berufsfreiheit zu sehr einschränken. Wie aber prüft man diese Frage, die sowohl bei den subjektiven Zulassungsvoraussetzungen wie – verschärft – bei den objektiven Voraussetzungen (die beim Apothekenurteil konkret geprüft wurden) auftreten? Wie prüft man beides Mal im Sinne der vorgeschlagenen Normenstrenge ohne Rückgriff auf Abwägungen und das Verhältnismäßigkeitsprinzip? Gerade auch bei den subjektiven Anforderungen im Arztoder Apothekenberuf liegt es auf der Hand, dass sie grundsätzlich notwendig sind, dass sie aber über das Ziel hinausschießen können – gerade darum aber geht die verfassungsrechtliche Prüfung. Was bringt in diesem Zusammenhang der Appell, die Normbegriffe „Freiheit“ des „Berufs“ präzise auszulegen? Im Text des Grundgesetzes ist die „Freiheit“ schon relativiert durch den nachfolgenden Gesetzesvorbehalt, durch die ausdrücklich erwähnte Einschränkbarkeit. Was aber können Begriffe und 75

Dazu unten VII.

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deren strenge Auslegung zur Entscheidung darüber beitragen, wie weit die ausdrücklich vorgesehene Beschränkungsmöglichkeit gehen darf und wo die Grenze überschritten ist.76 Der im Text vieler Grundrechte enthaltene Gesetzesvorbehalt ist jedenfalls keine Norm mit Tatbestandsmerkmalen, deren Gehalt man sprachlich oder begrifflich ermitteln und dann Schritt für Schritt konkretisieren könnte, sondern er ist eine Ermächtigung an den Gesetzgeber, öffentliche Interessen oder Rechte Dritter gegenüber dem Grundrechtsträger entgegensetzen zu können und zwar solche Interessen, die dem Anspruch des Grundrechtsträgers vorgehen. Verfassungsdogmatisch mündet die Grundsatzkritik konsequenterweise in die Forderung ein, die Verhältnismäßigkeitsprüfung auf die Teilmaßstäbe der Geeignetheit und Erforderlichkeit zu beschränken und auf die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne zu verzichten.77 Damit wären zwar manche Einwände gegen die derzeitige Literatur und Rechtsprechung ausgeräumt, es würde dadurch aber nicht die kritisierte Verhältnismäßigkeitsprüfung durch eine normengestrenge Methode ersetzt, sondern es würde ein derzeitiger Prüfungsmaßstab einfach entfallen.78 Das kann man befürworten und in einem viel größeren Diskussionsrahmen, der die methodische Seite und die Schwierigkeiten des Wertens weit überschreitet, diskutieren: Dann geht es um eines der Kernthemen der aktuellen verfassungsrechtlichen Diskussion, ob nämlich die derzeitige beanspruchte und durchgeführte Prüfung auf Verhältnismäßigkeit i. e.S. entfallen und damit die Verfassungsgerichtskontrolle überhaupt ein beträchtliches Stück zurückgenommen werden sollte zugunsten von Spielräumen des Gesetzgebers.79 Insofern ist die Grundsatzkritik am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und an der Abwägung nur eine Vor- oder Eingangsstufe zur Kurskorrektur und grundsätzlichen Neuausrichtung der Verfassungsgerichtsbarkeit. Wenn so die Kritik auf ein Plädoyer für einen anderen Entwicklungspfad hinausläuft, dann muss man sich aber auch den hohen Voraussetzungen einer solchen Korrektur stellen. Unter diesen Umständen braucht es nicht zu verwundern, dass die Kritik bisher an der grundsätzlichen Anerkennung der Verhältnismäßigkeit in Deutschland und in vielen anderen Rechtsordnungen abgeprallt ist. Abschließend sei der Wunsch geäußert, dass die Kri76 Es ist auch nicht ersichtlich, wie die von Rückert (Fußn. 72), S. 921 f. genannten methodischen Instrumente, Arbeiten im Wenn-Dann-Schema, das Identifizieren von Kernfallgruppen, die dann im Wege der Analogie weiterentwickelt werden, Analogie und Kontrastierung (Konkretisierungsarbeit in der Linie der Norm), helfen können. 77 Schlink, Abwägung (Fußn. 3), S. 153 (als Zusammenfassung: Dritte Stufe kann entfallen); ders., (Fußn. 3) FS 50 Jahre BVerfG, S. 455 – 462; konsequenterweise empfehlen Pieroth/ Schlink (Fußn. 38), § 6 IV 4 Rn. 304, soweit wie möglich die Probleme eines Falles möglichst unter anderen Prüfungspunkten abzuarbeiten. – Zur Tendenz in manchen anderen Rechtsordnungen, bewusst auf die dritte Stufe zu verzichten vgl. oben III. 3. 78 Für den Grundrechtsschutz wäre im Übrigen dadurch nichts gewonnen, im Gegenteil: Die zusätzliche Prüfungsstufe der Verhältnismäßigkeit i. e.S. bringt ja gesetzliche Einschränkungen zu Fall, die sich als geeignet und erforderlich darstellen. Die Prüfung der dritten Stufe ist methodisch angefochten, sie erweitert aber im Ergebnis den Grundrechtsschutz. 79 Schon oben ist am Beispiel des 19. Jh. (s. oben I. 1.) Verrechtlichung und Nicht-Verrechtlichung als die eigentliche Alternative benannt worden.

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tiker der Abwägung ein paar Falllösungen für typische verfassungsgerichtliche Fälle vorlegen, an denen man die Leistungsfähigkeit ihrer Vorschläge überprüfen kann.80 4. Schärfung der Schutz- bzw. Gewährleistungsgehalte Neuere Tendenzen der Grundrechtsdogmatik bemühen sich – in Aufnahme und Auseinandersetzung mit den (in sich unterschiedlichen) Auffassungen von ErnstWolfgang Böckenförde und Wolfgang Hoffmann-Riem81 – um eine Entlastung oder Minderung der Eigenarten des Abwägungsdenkens. Zentral ist dieser Ansatz in der Dissertation von Benjamin Rusteberg: „Der grundrechtliche Gewährleistungsgehalt“82. Der Untertitel bringt die Stoßrichtung deutlich zum Ausdruck: „Eine veränderte Perspektive auf die Grundrechtsdogmatik durch eine präzise Schutzbereichsbestimmung“. Eine der Hauptthesen der Arbeit lässt sich so zusammenfassen: Je mehr auf der Ebene des Schutz- bzw. Gewährleistungsgehalts der Grundrechtsbestimmungen „abgearbeitet“ und vor allem präzisiert werden könnte, desto weniger muss das Ergebnis der Grundrechtsprüfung dem problembeladenen Vorgang der Abwägung überlassen bleiben. Für Rusteberg sind diese Überlegungen Teile einer neuen Perspektive. Dem Abwägungsmodell attestiert er eine – falsche – Fokussierung auf das Thema der Einschränkungen des Grundrechts im Interesse von Gemeinwohl oder von Drittbelangen.83 Die stattdessen angezeigte Konzentration des Denkens und der Prüfung auf den im Schutz- bzw. Gewährleistungsgehalt zum Ausdruck gebrachten positiven Freiheitsgehalt des Grundrechts soll zugleich das Primäre der Grundrechtsverbürgung überhaupt, nämlich die Garantie des Grundrechts als subjektives Recht des Einzelnen, wieder in den Mittelpunkt zurückbringen.84 In diesen Überlegungen artikuliert sich ein starkes Unbehagen daran, dass die Grundrechtsdogmatik in den Lehrbüchern und der Praxis der Verfassungsjudikatur so wenige Seiten zum Schutzbereich und zum subjektiven Recht des Einzelnen und so viele Seiten zur Einschränkung und zum Zurücktreten des Anspruchs des Einzelnen aufwenden.85 Die Grundrechtsverbürgungen der Verfassungen erscheinen in 80

s. dazu schon oben Fußn. 67. Böckenförde (Fußn. 8); Hoffmann-Riem, Enge oder weite Gewährleistung der Grundrechte?, in: Bäuerle (Hrsg,) FS Bryde, 2004, S. 35 ff.; ders., Grundrechtsanwendung unter Rationalitätsanspruch, Der Staat 43 (2004), S. 233 ff. – Kritik von Kahl, Vom weiten zum engen Gewährleitungsgehalt, Der Staat 43 (2004), S. 167, 170 ff. 82 Rusteberg (Fn. 5); ders., Grundrechtsdogmatik als Schlüssel zum Verhältnis von Gemeinschaft und Individuum, in: Kollektivität – Öffentliches Recht zwischen Gruppeninteressen und Gemeinwohl. 52. Assistententagung Öffentliches Recht (im Erscheinen). 83 Rusteberg (Fußn. 5) S. 132 f. 84 Rusteberg (Fußn. 5) S. 173 ff. 85 Dieser Eindruck ist natürlich differenzierungsbedürftig. Lehre und Rechtsprechung betonen z. B. bei Art. 5 I, 5 III und 8 GG durchaus den Freiheitscharakter der Grundrechte. Dagegen kann es nicht verwundern, dass bei der Berufsfreiheit (Art. 12 GG) das soziale Umfeld, in dem der Handelnde notwendigerweise steht, zu beachten ist und dass sich daraus 81

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diesem Licht weniger als Garantie der (Handlungs)Freiheit in einem Lebensbereich denn als Gewährleistung eines – einschränkbaren – Lebensbereichs und zwar eines so kleinen Lebens- und Freiheitsbereichs, wie er nach den – verhältnismäßigen – Einschränkungen übrigbleibt. Vom Pathos der ursprünglichen Kämpfe um Grundrechte vor 220 Jahren in Nordamerika und in Frankreich, aber auch in den deutschen Staaten des 19. Jahrhunderts scheint da nur noch wenig auf. Die naheliegende Frage, ob dies grundsätzlich anders sein kann in einem hochgradig verflochtenen, gesellschaftlichen Leben und in einer Rechtsordnung, bei der die Grundrechte alle Schichten der gesamten Rechtsordnung und damit auch fast alle Lebensbereiche der Einzelnen durchdringen, soll hier nicht weiter verfolgt werden. Im Rahmen des Themas Alternativen zum Verhältnismäßigkeitsprinzip kann festgehalten werden: Zahlreiche Einwände gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip reiben sich an dessen Eigenart, dass es als substanziell gedachte „Güter“ oder Werte oder Positionen miteinander in Beziehung setzt und dadurch „verflüssigt“ oder relativiert. Hinter mancher Grundsatzkritik am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wird die Suche, manchmal auch eine Sehnsucht, nach absoluten Positionen oder der Wunsch am Aufrichten von absoluten, insofern auch verlässlichen und rechtssicheren Positionen, als die die „Grundrechte“ in der historisch-politischen Tradition zunächst verstanden (aber nicht praktiziert) wurden, erkennbar. Die Suche nach absoluten, der Abwägung entzogenen Positionen ist auch der Impetus, der hinter der Aktivierung bzw. Ausdehnung des Gehalts der Menschenwürdegarantie oder der Mobilisierung der Wesensgehaltsgarantie steckt. Gemeinsam ist diesen Positionen, dass man dem Sog des Abwägungsgebots entrinnen will.86 So hat es den Anschein, dass die Anerkennung und vor allem die weitgehende Praktizierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes und der in ihr beschlossenen Abwägung bemerkenswerte Gegenreaktionen hervorgebracht haben und hervorbringen. Auch darin, auch in dieser Abstoßreaktion, beweist sich seine große Bedeutung. Unabhängig davon ist dem Bestreben zuzustimmen, die Prüfungsebene des Schutzbereichs, die sich derzeit häufig als ziemlich entleert zeigt, aufzuwerten. Das Ziel, die Abwägung zu entlasten, kann man auch verfolgen, wenn man die Abwägung nicht als solche ersetzen will, sondern neben ihr andere Prüfungsstufen stärker zu profilieren sucht; jedes Mehr an Differenzierung und differenzierter Argumentation ist ein Vorteil. Das gilt zum einen für die „Schärfung der Gewährleistungsgehalte“; was damit erreicht werden kann, sollte ausgeschöpft werden. Darauf von vornherein zu verzichten, weil jedenfalls noch die Stufe der Abwägung zur Verfügung steht, lastet der Abwägung Unverhältnismäßiges auf. Das gilt zum anderen auch für Überlegungen, den Anwendungsbereich des Verhältnismäßigkeitsprinzips Schranken für dieses Handeln ergeben. Ähnlich verhält es sich beim Eigentumsgrundrecht, das ausdrücklich in einem Sozialbezug steht (Art. 14 II GG). 86 v. Bernstorff (Fußn. 33), S. 165, 166: Das BVerfG experimentiere seit einigen Jahren mit neuen grundrechtlichen Argumentationsformen, die die Abwägung zurückdrängen sollen (Hinweis auf Entscheidungen zum Gewährleistungsinhalt wie Glykol, Osho, außerdem auf den Wunsiedel-Beschluss); ausführlich dazu Rusteberg (Fußn. 5), S. 167 ff., 173 ff.

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dadurch zu beschränken, dass für bestimmte intensive Eingriffe abwägungsunabhängige Grenzen festgelegt werden (dazu unten VI.). Insgesamt kann man in der gegenwärtigen Grundrechtsdiskussion eine Tendenz feststellen, die Kategorienarmut der bisherigen Grundrechtsprüfung zu erweitern. Es zeigen sich die Konturen eines komplexeren und differenzierten Gesamtkontrollprogramms bei den Grundrechten, innerhalb dessen der Schutzbereich und die Gewährleistung ein stärkeres Gewicht, ja ihr notwendiges Eigengewicht erhalten. VI. Die andere Schranken-Schranke: Die Wesens- oder Kerngehaltsgarantie 1. Kerngehaltsschutz im nationalen und internationalen Recht Die Entwicklungsgeschichte der Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 II GG87 zur annähernden Bedeutungslosigkeit ist schon oben erwähnt worden.88 Als Groß-Alternative zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist diese Garantie vom Bundesverfassungsgericht schon 1958 im Apothekenurteil verabschiedet worden. Von dieser Weichenstellung hat sich diese Figur in der deutschen Dogmatik nicht erholt. Bleibt noch zu erwähnen, dass sich die Wesensgehaltsgarantie als methodisch „bessere“ Alternative im Vergleich zur Verhältnismäßigkeitsprüfung nicht unbedingt eignet. Berechenbarkeit und Vorhersehbarkeit ist bei der entscheidenden Frage, was zum Kern oder Wesensgehalt eines Grundrechts gehört, nicht in höherem Maße zu erwarten als bei den Operationen der Verhältnismäßigkeitsprüfung.89 Umso interessanter ist es, dass das Kernbereichsdenken in der Gegenwart einen beträchtlichen Auftrieb auf der völkerrechtlichen bzw. internationalen Ebene gewonnen hat, wie eine Reihe neuer Veröffentlichungen beweisen: So stellt Jochen von Bernstorff sein Plädoyer für das Konzept des Kerngehaltsschutzes ausdrücklich in den größeren vergleichenden Rahmen der grundsätzlichen Alternativen: Abwägungsdenken versus Kerngehaltsschutz.90 Er diskutiert diese Alternative ebenen87

Zuletzt dazu Leisner-Egensperger, Wesensgehaltsgarantie, in: HGR III, 2009, § 70 (auch rechtsvergleichend). 88 Oben II. 2. 89 Andere Rechtsordnungen – sie haben aber auch andere Kontexte – vertrauen mehr auf Kerngehalte. Die Schweizer Lehre fasst unter dem Oberbegriff der Kerngehalte insb. auch die Menschenwürde. Zusammen mit anderen Instituten der Grundrechtssicherung steht der Begriff des Kerngehalts für das Ensemble von Instituten zum Schutz des fundamentalen Gehalts von Grundrechten, dazu Schefer, Die Kerngehalte von Grundrechten. Geltung, Dogmatik, inhaltliche Ausgestaltung, 2001; diese auf breiter rechtsvergleichender Grundlage gestützte Arbeit verdiente eine breitere Rezeption in der deutschen Diskussion. 90 Zur dogmatischen Verortung des Kerngehaltsschutzes im nationalen wie im internationalen Bereich v. Bernstorff (Fußn. 33), S. 169 – 187; zum Für und Wider der Abwägungsorientierung ebd. 182 ff. – v. Bernstorff hat eine Arbeit, Kerngehalte im Grund- und Menschenrechtschutz, angekündigt.

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übergreifend, insb. im Hinblick auf die Rechtsprechung des EGMR und der Spruchpraxis des UN-Menschenrechtsausschusses. Nach seiner Grundthese versperrt eine starke gerichtliche Abwägungsorientierung die Herausbildung einer kerngehaltsschützenden menschenrechtlichen Rechtsprechung. Die aufschlussreichen Detailanalysen, die hier nicht im Einzelnen behandelt werden können, gelangen zum Ergebnis, dass der EGMR abwägungsorientiert, der UN-Menschenrechtsausschuss dagegen eher kategorial vorgeht.91 2. Kategorialer versus abwägungsorientierter Argumentationsstil Im Weiteren interessieren die dargelegten methodischen Eigenarten des Kerngehaltsschutzes auf der völkerrechtlichen Ebene. Dort fänden sich Beispiele für eine Methode, die v. Bernstorff kategoriale, d. h. abwägungsferne Argumentation bzw. Argumentationsformen nennt.92 Das begriffliche Gegensatzpaar kategorial gegenüber abwägungsorientiert entlehnt v. Bern-storff der klassischen US-amerikanischen Debatte um die richtige Methode der Verfassungsinterpretation. Die kategoriale Argumentation ist nach seiner Auffassung geeignet, Kerngehalte zu schützen und zwar mehr als eine Verhältnismäßigkeitsprüfung könnte: Je kategorialer der verwendete Argumentationsstil ist, desto höher ist sein kerngehaltsschützendes Potential. Wiederum erweist sich der Leitgedanke des absoluten Schutzes oder des Schutzes von festen unverrückbaren Positionen als Quelle des Interesses, ja der Faszination. Als Beispiele eines solchen kategorialen und zugleich kerngehaltssichernden Argumentierens nennt v. Bernstorff zunächst die Figur der „abwägungsunabhängigen Anwendung“ von menschenrechtlichen Verboten. Wenn dabei als Beispiel das Folterverbot genannt wird, so fügt dies der deutschen Rechtslage, die dieses Verbot in der Menschenwürdegarantie des Art. 1 GG festmacht, nichts Neues hinzu. Interessant ist die Figur der „abwägungsunabhängigen Grenzziehungen“, insb. die Anerkennung von Eingriffsschranken bei hoher Intensität des Eingriffs.93 Dadurch könnten absolute Schranken festgemacht werden, ohne dass man generell den Wesensgehalt abstrakt bestimmen müsste. Zu solchen Grenzziehungen könnte man auch bei einschränkbaren Grundrechten kommen, wenn der Eingriff eine hohe, zu hohe Intensität erreicht.94 91 v. Bernstorff (Fußn. 33), S. 181. Eingeräumt ist dabei von Anfang an, dass die Gerichte in ihrer konkreten Entscheidungspraxis Mischformen anwenden. 92 v. Bernstorff (Fußn. 33), S. 172. Das Gegensatzpaar wird in der amerikanischen Diskussion categorical bzw. absolutist approach gegenüber balancing approach genannt, ebd. S. 171 f. mit Nachweisen. 93 v. Bernstorff (Fußn. 33), S. 173, 176 ff.: Rückgriff auf abwägungsunabhängige Grenzziehungen für bestimmte Fallgruppen; ex-negativo Umschreibungen von Kerngewährleistungen allein aufgrund der hohen Intensität des Eingriffs, S. 177. 94 Der Vorzug oder Reiz dieser Figur besteht darin, dass absolute Schranken (oder Schwellen) in spezieller Hinsicht festgemacht werden können, ohne generell den Wesensgehalt abstrakt bestimmen zu müssen. Abgesehen davon, dass nach der überkommenen deutschen Lehre in diesen Fällen die Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne typischerweise fehlen

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Bleibt die Frage, warum das präferierte kategoriale Argumentieren methodisch überzeugender sein kann als die Prüfung der Verhältnismäßigkeit i. e.S. Wie es scheint, vertraut v. Bernstorff dabei auf die – im Völkerrecht sowieso notwendige und naheliegende – Methode des induktiven Entwickelns und ein Verständnis der Grund- und Menschenrechte als „institutionalisierte Argumentationspraxis“95. Aber dies war und ist beim Bundesverfassungsgericht nicht grundsätzlich anders. Gewiss im abstrakten ersten Teil der Entscheidungsgründe herrschen beim Bundesverfassungsgericht abstrakte Darlegungen und Deduktionen vor96 – scheinbar vor. In Wahrheit dürften auch diese so abstrakt aussehenden Erörterungen von den zu entscheidenden Fällen und Fallgruppen und vor allem vom konkreten Fall geprägt sein, mit anderen Worten: Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu Art. 5 GG ist in vielerlei Hinsicht eine Kombination von deduzierendem und induktivem Vorgehen. Die Literatur vergröbert oder isoliert häufig den deduktiven Teil und trägt deshalb zu einer einseitigen Wahrnehmung bei. Nicht anders dürfte es spiegelbildlich bei der Beschreibung der Charakterisierungen der sog. induktiven Vorgehensweise sein.97 Die weitere These von v. Bernstorff, dass kategoriale Argumentationsformen einen wichtigen Beitrag zur Erfüllung der zentralen Funktionen des völkerrechtlichen Individualschutzes98 leisten können, ist gut nachvollziehbar. Dieses Ergebnis folgt aber, näher betrachtet, nicht aus einem generellen Vorzug dieses Stiles gegenüber einem abwägungsorientierten Vorgehen. Es spricht einiges dafür, dass hier Besonderheiten des Menschenrechtsschutzes auf internationaler Ebene ausschlaggebend sind. Der völkerrechtliche Menschenrechts- und Individualrechtsschutz bezieht sich nämlich von vornherein auf Mindeststandards. Angesichts recht unterschiedlicher rechtskultureller Überzeugungen und ebenso unterschiedlicher Einstellungen zur Bindungskraft des Rechts in den Staaten und Gesellschaften der Welt ist es schon ein wichtiger Erfolg, dass Mindestrechte formuliert sind und klar definiertes hohes Unrecht rechtlich geächtet ist. Völkerrechtliche Gerichte bzw. Spruchkörper behandeln so nicht die gleiche Fülle an Problemen und Konflikten wie nationale Verdürfte, hat Schlink, Abwägung (Fußn. 3), S. 77 – 79 diese Figur schon früh unter dem Begriff Schutz der Mindestposition, die trotz der Erforderlichkeit des Eingriffs zu wahren ist, herausgearbeitet; Eingang in die Literatur hat diese Figur aber nicht gefunden; das könnte als Folge der neueren Diskussion mehr Aufmerksamkeit erhalten, vgl. Rusteberg (Fußn. 5), S. 224 ff. 95 v. Bernstorff (Fußn. 33), S. 168. 96 Stark – zu stark – betont von Lepsius, Die maßstabsetzende Gewalt, in: Jestaedt/Lepsius/ Möllers/Schönberger, Das entgrenzte Gericht. Eine kritische Bilanz nach sechzig Jahren Bundesverfassungsgericht, 2011, S. 159 ff., 167 ff. 97 Gleichwohl unterschieden sich natürlich die Denk- und Argumentationsstile der Höchstgerichte in wesentlicher Hinsicht. Für das Völkerrecht ist die induktive Methode und die Kunst des Fallrechts nicht eigentlich die bessere, sondern die einzig mögliche Methode in einem rechtlichen Umfeld, in dem sehr oft geschriebene Normen oder gar eine Kodifikation fehlen; bleibt gar nichts anderes als die Ausbildung eines Fallrechts übrig. 98 So wörtlich v. Bernstorff (Fußn. 33), S. 187 (Überschrift).

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fassungsgerichte, sondern von vornherein nur einen sehr eng begrenzten Ausschnitt, bei dem es sich auch aus der Vergleichsperspektive der staatlichen Grundrechte von vornherein nur um den Wesens- oder Kerngehalt handelt. Dass ein solcher von den völkerrechtlichen Normen allein ins Blickfeld genommener Kerngehalt dann auch absolut und fest gewährleistet sein soll, liegt nahe, mehr noch, ohne diesen festen Schutz wäre ein Mindestschutz sinnlos. Aber damit ist noch lange nicht der Beweis geführt, dass es für eine staatliche Verfassungsrechtsordnung zuträglich wäre, ebenfalls nur einen solchen Kerngehalt, wenn auch mit allen Vorzügen des Absoluten zu schützen. Zu fragen ist, ob kategorialer Schutz und ein großer (eigentlich flächendeckender) Anwendungsbereich der Grundrechte miteinander verträglich sind. Zu fragen ist auch, ob die Vorteile eines kategorialen oder absolut wirkenden Grundrechtsschutzes überzeugen, wenn diese Argumentationsweise mit einer Einschränkung des Anwendungsbereichs der Grundrechte auf die ganz harten Eingriffe erkauft werden müsste. Der ebenenübergreifende Diskurs hat ein hohes Anregungspotential, er ist heute überhaupt nicht mehr wegzudenken. Gleichwohl ist Skepsis gegenüber der Erwartung am Platze, dass die Alternative zwischen Abwägungsorientierung und kategorial-absolutem Schutz erschöpfend sein sollte oder auf allen Ebenen des Rechts auch das gleiche Ergebnis zu erwarten ist. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip und das Abwägen nicht anders als der Kerngehalt sind nicht nur Argumentationsformeln, sondern haben auf den verschiedenen Ebenen und in den verschiedenen Rechtsordnungen auch Kontexte und zwar unterschiedliche Kontexte – und: contexts matter.99 VII. Die große Alternative: Grundrechtsgewährleistung ohne Schrankenvorbehalt Beim letzten Gedankengang ist noch einmal das hohe Lied von der Rechtsvergleichung anzustimmen. Diesmal geht es nicht um die – unbestreitbare – Notwendigkeit, sondern um die sehr hohen Anforderungen an eine fruchtbare Vergleichung. Fruchtbar ist nämlich nur die Vergleichung, die raschen Erfolgen bei der Beschäftigung mit der Oberfläche der beiden Rechtsordnungen misstraut, die sich mit schnell ermittelten Gemeinsamkeiten nicht zufrieden gibt, sondern stattdessen die Kriterien der Relevanz immer weiter zieht und sich Schritt für Schritt in immer mehr Kontexte hineinbegibt, in denen die zu vergleichenden Rechtsvorschriften (und die von ihnen geregelten Sachprobleme) stehen. Anspruchsvolle Rechtsvergleichung erweitert den Horizont des Relevanten mehrfach und immer wieder. Ihr Ergebnis ist regelmäßig eine Kombination von (meist greifbaren) Gemeinsamkeiten und (tiefer liegenden) Unterschieden – und das Ganze in einer variablen Mischung. Und anspruchsvolle 99

Zur Forschungsperspektive: law and context oder constitution and contexts Wahl, Die Rolle staatlicher Verfassungen angesichts der Europäisierung und Internationalisierung, in: Vesting/Korioth (Hrsg.), Der Eigenwert des Verfassungsrechts, 2011, S. 355, 362 ff.; ders., Die praktische Wirksamkeit von Verfassungen: Der Fall des Grundgesetzes, in: Sachs/Siekmann, (Hrsg.), FS Klaus Stern zum 80. Geb., 2012, S. 233 ff., 246 ff.

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Rechtsvergleichung hört nicht dort auf, wo Gemeinsamkeiten gefunden sind. Es könnten Gemeinsamkeiten an der Oberfläche sein. Diese Vorbemerkung ist erstaunlicherweise erforderlich, wenn man einige Bemerkungen zur und Ergebnisse der Rechtsvergleichung zum Verhältnismäßigkeitsprinzip und seinen Alternativen anstellt. Es versteht sich dabei, dass der Blick auf die Rechtsordnung, die insgesamt dem Verhältnismäßigkeitsprinzip sehr ablehnend gegenübersteht, auf die US-amerikanische100, nicht fehlen darf. Der Bedarf, diese Perspektive einzunehmen, hat in den letzten Jahren noch stark zugenommen und zwar durch Entwicklungen auf beiden Seiten. In den USA bleibt die Abwehr gegenüber der Abwägung nicht auf Professoren des Verfassungsrechts oder auf rhetorisch starke Richter des Supreme Courts beschränkt, auch in der amerikanischen Rechtsphilosophie und -theorie sind die Schwächen und die behaupteten grundsätzlichen Defizite des Verhältnismäßigkeitsprinzips immer stärker artikuliert worden.101 Im International Journal of Constitutional Law gab es 2010 eine spektakuläre Debatte mit noch spektakuläreren, Aufmerksamkeit heischenden Titeln wie: „Proportionality. An assault on human rights?“ Wie man Debatten in der amerikanischen Wissenschafts-Community kennt, ist das Fragezeichen nicht ernst gemeint. In der deutschen Diskussion lässt sich, wie oben mehrfach erwähnt, ein Leiden an der Abwägung und ein Wunsch nach festen, absolut wirkenden Verbürgungen feststellen. Nichts liegt also näher als der Vergleich zwischen beiden Rechtsordnungen und Rechtstraditionen. Und dies scheint auch relativ leicht zu sein. So scheint zum Beispiel das Grundrecht der Meinungsfreiheit für eine solche Vergleichung geradezu prädestiniert: Die Sachprobleme und Konflikte sind offensichtlich die gleichen. Das deutsche Recht hat sich in sonst nicht vorkommender Weise am US-Recht und an einem seiner zentralen Gedanken orientiert: In der wichtigsten Entscheidung des BVerfG, im Lüth-Urteil von 1958, und in einem der wichtigsten Sätze dieser Entscheidung, wird der Ausspruch von Justice Cardozo über die Meinungsfreiheit zitiert: „The matrix, the indispensable condition of nearly every form of freedom“102. Angesichts der in dieser zentralen Passage zum Ausdruck gekommenen Annäherung scheint auch im Weiteren das Tor für Übernahmen, insb. die Übertragung des Verständnisses vom absoluten Schutz durch das Grundrecht der Meinungsfreiheit weit offen zu sein. Was dies bedeutet, hat jüngst der Supreme Court in einem vom Chief Justice Roberts formulierten Urteil deutlich gemacht: In seinem Urteil von 2010 United States vs. Stevens heißt es: 100 Nachweise dazu bei Saurer (Fußn. 19), S. 21 ff. und Klatt/Meister (Fußn. 33), durchgehend. 101 Bericht darüber in Klatt/Meister (Fußn. 33), S. 161 ff., dort auch Auseinandersetzung mit diesen und anderen rechtstheoretischen Einwänden gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, S. 163 ff.; Zusammenfassung S. 187. 102 BVerfGE 7, 198 (208). Die Formel des Gerichts von der schlechthin konstitutierenden Bedeutung der Meinungsfreiheit ist zu einem Wegweiser durch die Probleme der Meinungsund Versammlungsfreiheit geworden.

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„The First Amendment’s guarantee of free speech does not extend only to categories of speech that survive an ad hoc balancing of relative social costs and benefits. The First Amendment itself reflects a judgement by the American people that the benefits of its restrictions on the Government outweigh the costs. Our Constitution forecloses any attempt to revise that judgement simply on the basis that some speech is not worth it. The Constitution is not a document prescribing limits and declaring that those limits may be passed at pleasure.“ Marbury v. Madison, 1 Cranch 137, 178 (1803).103

Diese entschiedenen Sätze können das Verständnis von den Grundrechten als Trumpf, jedenfalls als partieller Trumpf erläutern.104 Diese Auffassung ist attraktiv, so wie grundsätzlich ein „Denken von der Freiheit her“ attraktiv ist und zur Rezeption herausfordert. So früh kann aber das Vergleichen nicht enden und so rasch kann man ein andernorts gefundenes Grundverständnis, wenn man es in seinem grundsätzlichen Gehalt ernst nimmt, nicht rezipieren. Alle Grundsatzdiskussionen können nicht davon dispensieren, die einschlägigen Verfassungstexte ernst zu nehmen und sich mit der Struktur der Verbürgungen diesseits und jenseits des Atlantiks auseinanderzusetzen. In Art. 5 I GG kann – unabhängig und vor allen Diskussionen pro und contra Verhältnismäßigkeit und Abwägung – nicht zweifelhaft sein, dass das Grundgesetz beim Grundrecht der Meinungsfreiheit drei Gesetzesvorbehalte kennt. Damit ist das mehrfach erwähnte Ausgangsproblem akut, den Schutz- oder Gewährleistungsbereich vor dem Leerlaufen oder vor zu weitgehenden Beschränkungen zu bewahren. Der deutschen Grundrechtsdogmatik bleibt gar nichts anderes übrig, als sich diesem Grund- und Ausgangsproblem zu stellen. Dass das deutsche Grundrechtsdenken den direkten Weg zu den Trümpfen nicht geht, sondern sich mit Grundrechtsschranken und dann mit Schranken-Schranken beschäftigt, ist also nicht eine vermeidbare Schwäche oder eine inhärente Neigung zur relativierenden Abwägungsorientierung, die deutsche Entscheidungen über die Meinungsfreiheit von denen des Supreme Court unterscheidet. Stattdessen sind es schon die Verfassungstexte, die einmal einen Schrankenvorbehalt enthalten, das andere Mal aber nicht. Weichenstellend für die deutsche Grundrechtsdogmatik ist die Struktur der Grundrechtsbestimmungen; sie ist durch den Dualismus von Schutzbereich (bzw. Gewährleistungsinhalt) und Beschränkungsmöglichkeiten gekennzeichnet. Und nicht minder wichtig ist es, dass am Ausgangspunkt des amerikanischen Grundrechtsverständnisses eben kein Hinweis auf Schranken steht und solche auch nicht durch Richterrecht ausgebildet worden sind, sondern die Verbürgung als solche im Mittelpunkt steht (mögen sich dann im weiteren Gang der Grundrechtsprüfung auch Einschränkungen ergeben).105 103 Ich verdanke den Hinweis Mathias Hong, vgl. ders., Grundrechte als Instrumente der Risikoallokation, in: Scharrer u. a., Risiko im Recht, Recht im Risiko, 50. Assistententagung Öffentliches Recht, 2010, S. 111, 129 f. mit Fn. 76. 104 Dworkin, Taking rights seriously? – New impression with a reply to critics, London, 1977, S. 193, 199; zu Grundrechten als „Schutzschilder“ Saurer (Fußn. 19), S. 21 ff. mit Nachweisen aus der US-amerikanischen Literatur; Klatt/Meister (Fn. 33), S. 163, 164 ff. 105 Ein Hinweis darauf bei Saurer (Fußn. 19), S. 21 f.

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Es spricht aus meiner Sicht vieles dafür, dass dieser Unterschied bedeutsam ist und dass so schon an der Wurzel jedes Vergleichs zwischen deutschem und US-amerikanischem Grundrechtsverständnis eine folgenreiche Differenz liegt. Ob diese Vermutung zutrifft, kann ich hier, ohne in einen Selbstwiderspruch zu geraten, nicht erörtern, vor allem nicht beiläufig erörtern. Zu sehr ist hier eine anspruchsvolle und voraussetzungsvolle Vergleichung erforderlich, die für diese aufgeworfene Frage nicht vorliegt. Auch und gerade hier müssen die verschiedenen Regelungen mit der gesamten Architektur der Grundrechtsverbürgungen in den beiden Rechtsordnungen in Verbindung gesetzt werden. Außerdem gilt nach meiner Auffassung das „Gesetz“ von der Erhaltung der Wertungen und der Wertungsnotwendigkeiten auch hier. Es kann als ausgeschlossen gelten, dass die US-Verfassungsgeber vor 220 Jahren alle heute relevanten Wertungsnotwendigkeiten haben abarbeiten können; deshalb müssen auch im System des US-amerikanischen Verfassungsrechts Wertungsprobleme auftauchen und in irgendeiner Form behandelt werden. Die amerikanische Praxis wird Konflikte vermutlich an anderen Stellen und unter Einsatz anderer Figuren behandeln und Wertungen vornehmen, sei es offengelegt, sei es inzidenter.106 Damit sind ein paar Fragen, aber nur einige Fragen angesprochen. Dem nachzugehen, ist eine Aufgabe der anspruchsvollen Rechtsvergleichung zwischen USA und europäischen Grundrechtsverbürgungen. In diesem Rahmen erhält dann auch die Frage Verhältnismäßigkeit ja oder nein für die beiden Rechtsordnungen einen unterschiedlichen Stellenwert. Und in diesem Kontext ist dann auch die Grundvorstellung vom absoluten Schutz oder von den Trümpfen zu diskutieren. Auch auf sie kann hier nicht im Vorbeigehen eingegangen werden. Jedenfalls spricht nach meiner Auffassung viel dafür, dass man die Diskussion über dieses Verständnis nicht unabhängig von der konkreten Verfassungsordnung führen und beantworten kann. Grundsätzliche und abstrakte Rechtsfiguren oder Leitvorstellungen sind nicht allein wegen ihrer Herkunft aus rechtstheoretischen oder rechtsphilosophischen Konzepten rechtsordnungsübergreifend und in diesem Sinne allgemein. Das kann sein, das muss nicht so sein. Generell gilt es, von Anfang an die Eigenarten der jeweiligen Rechtsordnungen in Rechnung zu stellen; sie sind auch ein relevanter Kontext für die Frage, ob eher das

106 Für die Frage, wie eine Verfassung die absolute Geltung von Grundrechten behaupten und durchführen kann, ist vergleichend auch zu beachten, dass im deutschen Verfassungsrecht – anders als in der US-Verfassung – mit Art. 12 GG ein Grundrecht enthalten ist, das einen sehr weitgehenden sozialen Bezug hat. Ihre Berufsfreiheit verwirklichen die einzelnen nicht in einem abgeschirmten privaten Bereich, sondern fast alle in vielen sozialen Bezügen und Institutionen, so dass die Ausübung dieser Freiheit mit einer Vielzahl von sozialen Konflikten verbunden ist, die eine – meist wertende – Entscheidung erfordern. Diese Konflikte und Wertungsnotwendigkeiten stellen sich in den USA nicht auf der Ebene der Grundrechte, die Amendments zur Verfassung enthalten keine Verbürgung der Gewerbe- oder Berufsfreiheit. Deshalb lässt sich ein Programm der Wertungsabstinenz von diesem Ausgangspunkt in den USA viel leichter und anders angehen als unter dem GG, wo es kein Zufall ist, dass das Bundesverfassungsgericht den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bei Art. 12 GG entwickelt hat.

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Verhältnismäßigkeitsprinzip und das Abwägen oder ein ganz anderer Grundansatz im Rahmen einer konkreten Verfassung systemkonform ist oder nicht. VIII. Schlussbemerkung Mit der Entwicklung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes (angewandt auf den Gesetzgeber) hat es die deutsche Verfassungsrechtsdogmatik verstanden, die allgemeine, mit der Gerechtigkeitsidee eng verbundene Vorstellung von der Angemessenheit, dem Maßhalten und der Vermeidung eines Übermaßes in eine juristisch fassbare und strukturierte Form zu bringen. Mit dieser Leistung waren die deutsche Verfassungsrechtslehre und Verfassungsgerichtsbarkeit eindeutig Vorreiter und Anreger für die weltweite Verbreitung des Verhältnismäßigkeitsprinzips, für seinen vielzitierten Siegeslauf. Die deutsche Ausgestaltung des Grundsatzes darf aber nicht als die einzig richtige und einzig vollständige verstanden werden. Die in anderen Rechtsordnungen verwirklichten Alternativen dürfen nicht als bloße Zwischenstationen auf dem Weg zum deutschen Typ missverstanden werden, sie können eigenständige Binnenvarianten der generellen Vorstellung von der Verhältnismäßigkeit sein. Nimmt man das dadurch gegebene beträchtliche Spektrum an Varianten ins Blickfeld, dann ist die deutsche Spielart am Rande, nicht in der Mitte angesiedelt – mit allen Folgen, die das im Zeichen von stärkeren Verflechtungen der Rechtsordnungen untereinander, zumal im europäischen Rechtsraum hat. Zu diesen Folgen kann gehören, dass der deutsche Entwicklungspfad in Sachen Verhältnismäßigkeitsprinzip und Abwägung, der von innen, von der deutschen Binnendiskussion kaum erschüttert worden ist, aus dem Außenverhältnis unter Druck gerät; in einem solchen Falle wäre die gesamte Diskussion und weitere Entwicklung offener, als sie es bisher war.

Eigentumsschutz im Rahmen von Politikänderungen – am Beispiel von § 29 Abs. 4 des Ersten GlüÄndStV Von Thomas Würtenberger, Stuttgart Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG gewährleistet das Eigentum. Der Gesetzgeber kann allerdings den Inhalt und die Schranken des Eigentums ändern (Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG). Durch solche Änderungen können Investitionen, die im Vertrauen auf die geltende Rechtslage getätigt worden sind, entwertet werden. Dies ist vor allem dann verfassungsrechtlich problematisch, wenn Gesetzesänderungen überraschend kommen, weil sie auf politischen Richtungswechseln beruhen. Solche „U-Turns“ des Gesetzgebers häufen sich: Beispielsweise wurden die im Dezember 2010 verlängerten Laufzeiten der deutschen Kernkraftwerke1 im Juli 2011 aufgehoben.2 Die im Jahre 2006 eingeführte Kleingruppenhaltung von Legehennen3 soll bereits wieder abgeschafft werden.4 Ein weiteres Beispiel ist der Betrieb von Spielhallen. Der Gesetzgeber wollte im Jahr 2006 dem gewerblichen Automatenspiel Perspektiven geben, damit dieses „den Wettbewerb mit dem öffentlich-rechtlichen Spiel und dem Spiel im Internet bestehen“ kann.5 Diese Entwicklung wurde im Jahr 2012 durch den Ersten Staatsvertrag zur Änderung des Staatsvertrages zum Glücksspielwesen in Deutschland (Erster Glücksspieländerungsstaatsvertrag, im Folgenden kurz: Erster GlüÄndStV) wieder rückgängig gemacht. Mit dem Entzug des Spielhalleneigentums durch den Ersten GlüÄndStV beschäftigt sich der vorliegende Beitrag.

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Vgl. das Elfte Gesetz zur Änderung des Atomgesetzes vom 08. 12. 2010, BGBl. I S. 1814. Vgl. das Dreizehnte Gesetz zur Änderung des Atomgesetzes vom 31. 07. 2011, BGBl. I S. 1704. 3 Vgl. die Zweite Verordnung zur Änderung der Tierschutz-Nutztierhaltungsverordnung vom 01. 08. 2006, BGBl. I S. 1804. 4 Vgl. den Entwurf der Fünften Verordnung zur Änderung der Tierschutz-Nutztierhaltungsverordnung vom 09. 08. 2011, BR-Drs. 445/11, S. 9. 5 Vgl. die Zielsetzung der Fünften Verordnung zur Änderung der Spielverordnung, BRDrs. 655/05, S. 1; Bericht des BMWi, Evaluierung der Novelle der Spielverordnung, Dezember 2010, S. 37 ff. (abrufbar unter www.bmwi.de, Stand: 21. 02. 2012). 2

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I. Härtefall- und Ausgleichsregelungen bei politischen Richtungswechseln Politikänderungen werden in der Regel mit Gesetzesänderungen durchgesetzt. Art. 14 GG stellt hohe Anforderungen an solche Änderungen, denn Eingriffe in das Eigentum müssen stets gerechtfertigt sein. Sie müssen vor allem verhältnismäßig sein.6 Der Gesetzgeber kann zwar im Einzelfall auch unverhältnismäßige Eigentumseingriffe, die er im öffentlichen Interesse für besonders dringend erforderlich hält, durchsetzen. Dann muss er aber Ausgleichsregelungen treffen, um die Verhältnismäßigkeit wiederherzustellen.7 Diesen Ausgleich muss der Gesetzgeber selbst regeln. Er darf nicht darauf vertrauen, dass die Verwaltung oder die Gerichte Verletzungen des Eigentums nachträglich reparieren.8 Geldleistungen sind nur in eng begrenzten Ausnahmefällen statthaft. Die Bestandsgarantie des Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG verlangt, dass zunächst Vorkehrungen getroffen werden, die eine unverhältnismäßige Belastung des Eigentümers vermeiden und die Privatnützigkeit des Eigentums so weit wie möglich erhalten. Als Instrumente stehen dem Gesetzgeber Übergangsund Ausnahmeregelungen sowie der Einsatz sonstiger administrativer und technischer Vorkehrungen zur Verfügung. Ein finanzieller Ausgleich kommt erst dann in Betracht, wenn ein anderweitiger Ersatz im Einzelfall nicht oder nur mit unverhältnismäßigem Aufwand möglich ist (Subsidiarität des finanziellen Ausgleichs).9 Wann der Eigentümer im Einzelfall unverhältnismäßig belastet wird, hat das Bundesverfassungsgericht bislang offen gelassen. In der „Denkmalschutzentscheidung“ heißt es dazu: „Wo die Grenze der Zumutbarkeit im Einzelnen verläuft und in welchem Umfang Eigentümer von der zur Prüfung gestellten Norm in unzumutbarer Weise getroffen werden, kann offen bleiben.“10 Im Einzelfall ist die Grenzziehung schwierig. Konkrete, allgemeingültige Kriterien, wo die Grenze der Zumutbarkeit

6 Zippelius/Würtenberger, Staatsrecht, 32. Auflage 2008, § 31 Rn. 7. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist nicht die einzige verfassungsrechtliche Vorgabe; weitere sind: die Bindung an das Rechtsstaatsprinzip, den Gleichheitssatz, das Sozialstaatsprinzip, das Grundrecht der Allgemeinen Handlungsfreiheit und die Institutsgarantie, ausführlich Eschenbach, Der verfassungsrechtliche Schutz des Eigentums, 1996, S. 334 ff. 7 Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner „Pflichtexemplarentscheidung“ für Härtefälle die Rechtsfigur der ausgleichspflichtigen Inhalts- und Schrankenbestimmung entwickelt. Die Pflicht zur Ablieferung eines Belegstücks von jedem im Geltungsbereich des Gesetzes (Hessisches Pressegesetz) erscheinenden Druckwerk ohne Kostenerstattung wurde für verfassungswidrig erklärt, weil sie für einzelne Betroffene zu unzumutbaren Vermögensbelastungen führte und dafür keine Kompensation vorgesehen war, BVerfGE 58, 137 (149 ff.); ausführlich Eschenbach, Der verfassungsrechtliche Schutz des Eigentums, 1996, S. 495 ff. 8 Wenn Entschädigungszahlungen begründet werden sollen, kann das ohnehin mit Rücksicht auf das Budgetrecht des Parlaments nur durch Gesetz geschehen. 9 BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 15. 09. 2011, Az. 1 BvR 2232/10, Rn. 38 ff. bei juris (insoweit nicht abgedruckt in BauR 2012, 63); BVerfGE 100, 226 (245 f.); vgl. auch BGHZ 186, 136 (147 f.). 10 BVerfGE 100, 226 (243).

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verläuft, haben weder die Rechtsprechung noch die Literatur entwickelt.11 Beide bestimmen die Grenzen in der Regel anhand der alten Eigentumsdogmatik und bejahen dann eine Ausgleichspflicht, wenn früher eine Inhalts- und Schrankenbestimmung in eine Enteignung „umschlug“.12 Bei Gesetzesänderungen im Zuge von Politikänderungen ist der Vertrauensschutz eines der wesentlichen Kriterien zur Bestimmung der Grenze der Zumutbarkeit. Der rechtsunterworfene Bürger darf nämlich nicht in seinem Vertrauen auf die Verlässlichkeit der Rechtsordnung enttäuscht werden. Der Bürger soll staatliche Eingriffe voraussehen und sich dementsprechend einrichten können.13 Jede Erschütterung des Vertrauens in die Rechtsordnung führt zu einem Vertrauensschwund gegenüber dem Staat und seiner jeweiligen Regierung, die an Glaubwürdigkeit verliert.14 Das Vertrauenkönnen in den Fortbestand rechtlicher Regelungen hat davon abgesehen auch eine erhebliche volkswirtschaftliche Bedeutung: Wer auf den Fortbestand rechtlicher Regelungen vertrauen kann, ist zu längerfristigen Dispositionen eher bereit als in einer Zeit raschen rechtlichen Wandels, in der Dispositionen entwertet werden.15 Je beständiger eine Rechtslage ist und je weniger rasche Wechsel es gibt, desto höher ist also das Vertrauensniveau und desto höher ist die Investitionsbereitschaft. Erschütterungen des Vertrauens in den Fortbestand rechtlicher Regelungen sind deshalb zu vermeiden. Dies gilt vor allem im Rahmen von Art. 14 GG. Die (entschädigungslose) Beschränkung und Beseitigung erworbener Eigentumsrechte sollte, soweit möglich, unterlassen werden. Um das Vertrauensniveau hoch zu halten, sollte der Gesetzgeber im Rahmen von Politikänderungen vor dem Hintergrund des Eigentumsschutzes des Art. 14 GG daher folgendes beachten: Je mehr Vertrauen der Gesetzgeber durch seine Politik in den Aufbau und Erhalt von Eigentum erzeugt hat, desto stärker hat der Gesetzgeber auch den Vertrauensschutz bei der Neubestimmung von Inhalt und Schranken des Eigentums zu berücksichtigen. II. Die Regelung von Spielhallen im Ersten GlüÄndStV Die Länder haben mit Ausnahme von Schleswig-Holstein am 15. 12. 2011 den Ersten GlüÄndStV unterzeichnet. Der Vertrag trat am 01. 07. 2012 in Kraft. Mit 11 Einige Fachgesetze bestimmen mittlerweile die Grenze der Ausgleichspflicht, vgl. z. B. § 7 Abs. 3 Landschaftsgesetz NRW. 12 BGHZ 121, 328 (336); BGHZ 123, 242 (252); BVerwGE 94, 1 (11); OVG BerlinBrandenburg, NuR 2011, 804 (810); Zippelius/Würtenberger, Staatsrecht, 32. Auflage 2008, § 31 Rn. 74; Wilhelmi, in: Erman, BGB, 13. Auflage 2011, Vorbemerkung zu § 903 ff. Rn. 12. 13 BVerfG, Nichtannahmebeschluss vom 26. 09. 2011, Az. 2 BvR 2216/06 und 2 BvR 469/ 07, Rn. 61 bei juris; vgl. auch Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, 5. Auflage 1998, S. 183, 189 f. 14 Blümle/Schoser, in: Würtenberger u. a. (Hg.), Wahrnehmungs- und Betätigungsformen des Vertrauens im deutsch-französischen Vergleich, 2002, S. 274. 15 Würtenberger, in: ders. u. a. (Hg.), Wahrnehmungs- und Betätigungsformen des Vertrauens im deutsch-französischen Vergleich, 2002, S. 153.

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ihm wurde der Anfang 2008 in Kraft getretene Glücksspielstaatsvertrag fortentwickelt. Der Erste GlüÄndStV enthält in seinem siebten Abschnitt (§§ 24 bis 26) erstmals Regelungen über Spielhallen und in § 29 Abs. 4 eine Übergangsregelung für bestehende Spielhallen. Die Neuregelungen sind umstritten, da in die Eigentumsrechte der Spielhallenbetreiber eingegriffen wird. Mit diesem Eingriff beschäftigen sich die folgenden Überlegungen. Auf andere Rechtsverstöße, wie beispielsweise die Eingriffe in die Berufsfreiheit (Art. 12 GG), die kommunale Selbstverwaltungsgarantie (Art. 28 Abs. 2 Satz 1 GG) und die Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit (Art. 49 und 56 AEUV) oder auf die fehlende Gesetzgebungskompetenz der Länder (Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG) wird nicht eingegangen. 1. Ausgangslage Spielhallen sind gewerblich betriebene Spielstätten mit dem Schwerpunkt auf dem Automatenspiel, das heißt auf Spielgeräten, bei denen der Gewinn in Geld besteht (Geldspielgeräte).16 Das Automatenspiel ist einer der wirtschaftlich bedeutendsten und umsatzstärksten Sektoren des deutschen Glücksspielmarkts. Im Jahr 2009 entfielen von den Gesamtumsätzen aller Spieleinsätze auf dem regulierten Glücksspielmarkt (24 Milliarden Euro) etwa 35 % auf das Automatenspiel.17 Das Automatenspiel ist in den letzten Jahren stark gewachsen. In dem Zeitraum von 2006 bis 2010 hat die Zahl der Spielhallenerlaubnisse um etwa 20 % zugenommen.18 Dieses Wachstum ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass die von der Großen Koalition CDU/CSU und SPD gebildete Bundesregierung im Jahr 2006 die Spielverordnung (SpielV), die Regelungen zu der Aufstellung von Geldspielgeräten enthält, geändert hat. Die Änderungen sollten zwar auch dem Spielerschutz dienen. Vor allem sollten aber die rechtlichen Rahmenbedingungen für den Betrieb von Geldspielgeräten „in engen Schranken liberalisiert“ werden.19 Dadurch sollten dem „gewerblichen Spiel Perspektiven gegeben werden“, damit es „den Wettbewerb mit dem öffentlich-rechtlichen Spiel und dem Spiel im Internet bestehen“ kann.20 Beispielsweise wurde die Spielzeit pro Spiel verkürzt (§ 13 Abs. 1 Nr. 1 SpielV), um ein schnelleres Spiel zu ermöglichen und dadurch dem Nachfrageverhalten ins16

Vgl. § 3 Abs. 7 des Ersten GlüÄndStV; Diegmann/Hoffmann, Praxishandbuch für das gesamte Spielrecht, 2008, S. 17; Guckelberger, GewArch 2011, 177 (178); Stühler, BauR 2009, 54 (55). 17 BVerfGE 115, 276 (305); BVerfG, NVwZ 2010, 313 (316); BayVGH, Urteil vom 12. 01. 2012, Az. 10 BV 10.2505, Rn. 49 bei juris; Dhom, ZUM 2011, 98 (98); kritisch Dürr, GewArch 2011, 99 (99). 18 AWI Automaten-Wirtschaftsverbände-Info, Update Vorurteile Tatsachen, Oktober 2011, S. 7; vgl. auch Stühler, BauR 2011, 54 (54 f.). 19 Zielsetzung der Fünften Verordnung zur Änderung der Spielverordnung, BR-Drs. 655/ 05, S. 1. 20 Bericht des BMWi, Evaluierung der Novelle der Spielverordnung, Dezember 2010, S. 37 ff. (abrufbar unter www.bmwi.de, Stand: 21. 02. 2012).

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besondere jüngerer Spieler zu entsprechen.21 Außerdem wurde die Zahl der maximal zulässigen Automaten in Spielhallen auf 12 erhöht und die Mindestquadratmeterzahl pro Automat auf 12 qm herabgesetzt (§ 3 Abs. 2 SpielV). Das Automatenspiel wurde durch diese Änderungen für die Betreiber wirtschaftlich attraktiver und die Zahl der Spielhallen hat in der Folge massiv zugenommen.22 Das Automatenspiel soll ein hohes Suchtpotential haben. An Geldspielautomaten sollen nach derzeitigem Kenntnisstand bei weitem die meisten Spieler mit problematischem oder pathologischem Spielverhalten spielen.23 Auch auf der kommunalen Ebene haben Spielhallen einen schlechten Ruf. Spielhallen sollen die Kern-, Misch- und Gewerbegebiete zerstören. Sie sollen zu einer negativen Sozialentwicklung führen, zu einer Verarmung in dem jeweiligen Viertel, zu einer Gefahr für den Einzelhandel etc. Dies wird unter dem Schlagwort des „Trading-Down-Effekts“ bzw. der „städtebaulichen Abwärtsspirale“ zusammengefasst.24 Vor diesem Hintergrund besteht heute ein politischer Konsens, dass Spielhallen stärker reguliert werden müssen. Bislang sah die Regulierung so aus: Bauplanungsrechtlich sind Spielhallen Vergnügungsstätten im Sinne der BauNVO und als solche in Besonderen Wohngebieten (§ 4a Abs. 3 Nr. 2), Mischgebieten (§ 6 Abs. 2 Nr. 8), Kerngebieten (§ 7 Abs. 2 Nr. 2) und Gewerbegebieten (§ 8 Abs. 3 Nr. 3) uneingeschränkt bzw. mit Einschränkungen zulässig. Zur Errichtung und zur Nutzung bedarf es einer Baugenehmigung, auf deren Erteilung grundsätzlich ein Anspruch besteht.25 Für den Betrieb einer Spielhalle bedarf es ferner einer gewerberechtlichen Erlaubnis nach § 33i Abs. 1 Satz 1 GewO, auf deren Erteilung der Betreiber ebenfalls einen Anspruch hat, wenn keiner der in § 33i Abs. 2 GewO genannten orts- und personenbezogenen Versagungsgründe vorliegt. Gewerberechtlich sind Spielhallen darüber hinaus vor allem durch die SpielV reguliert. Danach darf in Spielhallen je zwölf Quadratmeter Grundfläche höchstens ein Geldspielgerät aufgestellt werden. Die Gesamtzahl aller Geräte in einer Spielhalle darf zwölf Geräte nicht übersteigen (§ 3 Abs. 2 Satz 1 und 2 SpielV, so genannte „12er-Spielhalle“). In der Praxis hat diese Vorgabe dazu geführt, dass mehrere einzelne Spielhallen mit einer Nutzfläche von 144 m2 (zwölf Spielgeräte mal zwölf Quadratmeter) nebeneinander beantragt, unbefristet genehmigt und errichtet worden sind (so genannte 21 Begründung der Fünften Verordnung zur Änderung der Spielverordnung, BR-Drs. 655/ 05, S. 24. 22 Vgl. Peters, ZRP 2011, 134 (135 f.); Pagenkopf, NVwZ 2011, 513 (517); Dhom, ZUM 2011, 98 (102); Hermes, in: Hermes/Horn/Pieroth, Der Glücksspielstaatsvertrag, 2007, S. 79. 23 BVerfGE 115, 276 (305); BayVGH, Urteil vom 12. 01. 2012, Az. 10 BV 10.2505, Rn. 48 f. bei juris; VG Arnsberg, Urteil vom 09. 02. 2011, Az. 1 K 2979/07, Rn. 30 ff.; Dhom, ZUM 2011, 98 (98 f.); Stühler, BauR 2011, 54 (55). 24 BVerwG, BauR 2009, 76 (76 ff.); Guckelberger, GewArch 2011, 177 (177); Tarner, BauR 2011, 1273 (1273); Stühler, BauR 2011, 54 (56 f.); Prediger, Instrumente und Finanzierungsmodelle zur Stärkung des Einzelhandels in Stadtteilzentren, 2011, S. 35. 25 Ausführlich Guckelberger, GewArch 2011, 231 (232 ff.).

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„Mehrfachlizenzen“ bzw. „Mehrfachkonzessionen“).26 Dies ging soweit, dass bis zu 18 solcher „12er-Spielhallen“ als „Entertainmentcenter“ in einem Gebäude nebeneinander oder in unmittelbarer Nähe zueinander errichtet worden sind. Das Bundesverwaltungsgericht hat diese Praxis der Errichtung von „Mehrfachkonzessionen“ zugelassen, indem es die einzelnen Spielhallen trotz ihrer räumlichen Nähe rechtlich als separate Spielhallen eingestuft hat: „Will ein Antragsteller das Spielhallengewerbe in mehreren Betriebsstätten betreiben, in denen eine jeweils gesonderte Ausübung dieses Gewerbes möglich ist, so hat er einen Anspruch darauf, dass das rechtliche Schicksal der Betriebsstätten nicht miteinander verbunden wird und ihm eine Erlaubnis für jede einzelne Betriebsstätte, bezüglich der keine Versagungsgründe vorliegen, erteilt wird.“27 2. Spielhallenregelungen im Ersten GlüÄndStV Das Spielhallengewerberecht gehörte bis 2006 als Teil des Rechts der Wirtschaft zu der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz des Bundes. Mit den Regelungen in der Gewerbeordnung (vor allem § 33i) und in der Spielverordnung hat der Bundesgesetzgeber von seiner konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz Gebrauch gemacht. Im Rahmen der Föderalismusreform im Jahr 2006 haben die Länder die Gesetzgebungskompetenz für Spielhallen bekommen. Das Recht der Spielhallen wurde in Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG ausdrücklich aus dem Recht der Wirtschaft ausgeklammert. Das Recht der Spielhallen wurde damit in die ausschließliche Kompetenz der Länder überführt. Die Länder haben von ihren neuen Regelungsmöglichkeiten, die sie im Rahmen der Föderalismusreform erhalten haben, anfangs nur zögerlich Gebrauch gemacht. An Spielhallen haben sich die Länder zunächst nicht herangewagt. Sie haben Spielhallen insbesondere nicht in dem Staatsvertrag zum Glücksspielwesen in Deutschland (Glücksspielstaatsvertrag) geregelt, der Anfang 2008 in Kraft getreten ist. Mit dem Glücksspielstaatsvertrag wurden die vom Bundesverfassungsgericht in seinem „Sportwettenurteil“ vom 28. 03. 2006 gemachten Vorgaben für ein Lotterie- und Sportwettenmonopol umgesetzt. Das Bundesverfassungsgericht hatte gefordert, dass der Gesetzgeber den Bereich der Sportwetten bis zum 31. 12. 2007 neu regelt und das staatliche Wettmonopol konsequent dergestalt ausgestaltet, dass es entweder tatsächlich der Suchtbekämpfung dient oder aufgegeben wird.28

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Stühler, BauR 2011, 54 (55 f.). BVerwGE 70, 180 (184); auch baurechtlich hat das BVerwG (VBlBW 1993, 175 [Leitsatz]) die Praxis der Errichtung von „Mehrfachkonzessionen“ bestätigt: „Zwei selbständige Spielhallen sind bauplanungsrechtlich nicht schon deshalb als Einheit anzusehen, weil sie sich auf demselben Grundstück befinden.“ Vgl. dazu auch Hauth, BauR 2009, 1223 (1223 ff.); Kaldewei, BauR 2009, 1227 (1233). 28 BVerfGE 115, 276 (317 ff.). 27

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Der Glücksspielstaatsvertrag ohne Einbeziehung des Automatenspiels wurde kritisiert: Der EuGH hat in seinem Urteil vom 08. 09. 2010 unter anderem wegen der Nichtberücksichtigung des Automatenspiels Zweifel daran geäußert, dass das im Glücksspielstaatsvertrag genannte Ziel, die Spielsucht zu bekämpfen, kohärent und systematisch verfolgt wird, wenn einerseits privaten Anbietern gestattet wird, das Automatenspiel durchzuführen und insoweit eine Expansionspolitik verfolgt wird, aber andererseits Sportwetten für private Anbieter verboten sind und der Staat ein Monopol hat.29 Vor diesem Hintergrund haben die Länder Ende 2011 den Ersten GlüÄndStV beschlossen, der erstmals auch Spielhallen regelt. Der Staatsvertrag trat am 01. 07. 2012 in Kraft (Art. 2 Abs. 1 Satz 1 des Ersten GlüÄndStV). Er verbietet vor allem die in der Praxis beliebten Mehrfachkonzessionen. Außerdem sieht er Mindestabstände zwischen Spielhallen vor. Er enthält in § 25 Abs. 1 und 2 folgende Beschränkung von Spielhallen: „Zwischen Spielhallen ist ein Mindestabstand einzuhalten (Verbot von Mehrfachkonzessionen). Das Nähere regeln die Ausführungsbestimmungen der Länder. Die Genehmigung einer Spielhalle im Sinne des § 1 Abs. 1 SpielV, die in einem baulichen Verbund mit weiteren Spielhallen im Sinne des § 33i GewO steht, insbesondere in einem gemeinsamen Gebäude oder Gebäudekomplex untergebracht ist, ist ausgeschlossen.“ Im Ergebnis bedeutet das: Der ständigen Praxis der Spielhallenbetreiber wird dadurch die Grundlage entzogen. Situationen, wie sie heute in vielen Innenstädten und Gewerbegebieten anzutreffen sind (mehrere Spielhallen in einem Gebäude oder unmittelbar nebeneinander), soll es in Zukunft nicht mehr geben. Darüber hinaus soll es zu einem massiven Rückbau von bestehenden Spielhallen kommen. § 29 Abs. 4 Satz 2 des Ersten GlüÄndStVenthält eine Übergangsregelung. Danach gelten zum 01. 07. 2012 bestehende Spielhallen, für die bis zum 28. 10. 2011 eine (in der Regel unbefristete) Spielhallenerlaubnis nach § 33i GewO erteilt worden ist, nur bis zum Ablauf von fünf Jahren nach Inkrafttreten des Ersten GlüÄndStV als mit § 25 des Ersten GlüÄndStV vereinbar. Spätestens danach brauchen sie eine Erlaubnis nach dem Ersten GlüÄndStV bzw. den landesrechtlichen Ausführungsgesetzen, die sie in der Regel wegen der neuen, restriktiven Vorgaben nicht mehr bekommen. Auf Druck der Automatenindustrie und wegen der rechtlichen Bedenken gegen eine ausnahmslose Übergangsregelung haben die Länder in die Endfassung des Vertrages eine Härtefallregelung eingefügt, die in der vorletzten Entwurfsfassung noch nicht enthalten war. § 29 Abs. 4 Satz 4 des Ersten GlüÄndStV lautet: „Die für die Erteilung einer Erlaubnis nach § 24 zuständigen Behörden können nach Ablauf des in Satz 2 bestimmten Zeitraums eine Befreiung von der Erfüllung einzelner Anforderungen des § 24 Abs. 2 sowie § 25 für einen angemessenen Zeitraum zulassen, wenn dies zur Vermeidung unbilliger Härten erforderlich ist; hierbei sind der Zeit29 EuGH, Urteil vom 08. 09. 2010, Rs. C-316/07, C-358/07 bis C-360/07, C-409/07 und C410/07, Slg. 2010, S. I – 08069, Rdnr. 100 und 106.

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punkt der Erteilung der Erlaubnis gemäß § 33i GewO sowie die Ziele des § 1 zu berücksichtigen.“ Ein finanzieller Ausgleich ist in dem Staatsvertrag nicht vorgesehen und, soweit ersichtlich, auch noch in keinem den Staatsvertrag umsetzenden Landesgesetz. 3. Begründung der Spielhallenregelungen Durch das Verbot von Mehrfachkonzessionen und das Gebot von Mindestabständen soll nach der Vertragsbegründung das Maß dessen bestimmt werden, was aus Sicht des Gesetzgebers ordnungspolitisch mit den Zielen des Ersten GlüÄndStV noch vereinbar ist. Die Beschränkungen sind aus Sicht der Vertragsparteien verhältnismäßig, angemessen und erforderlich, um das gewerbliche Spiel auf das Maß von Unterhaltungsspielen und damit auf ein harmloses Zeitvergnügen zurückzuführen und die Entstehung spielbankenähnlicher Großspielhallen zu verhindern.30 Die Übergangsregelung wird damit begründet, dass die Übergangsfrist von fünf Jahren sowie die Möglichkeit, nach Ablauf der Frist im Einzelfall eine Befreiung von einzelnen materiellen Anforderungen zuzulassen, den Vertrauens- und Bestandsschutzinteressen der Betreiber in Abwägung mit den verfolgten Allgemeinwohlzielen angemessen Rechnung tragen würden. Mittels der Befreiung könne im individuellen Fall der notwendige Verhältnismäßigkeitsausgleich herbeigeführt werden. Dabei sei die Befreiung auf den Zeitraum zu beschränken, der erforderlich sei, um unzumutbaren Belastungen Rechnung zu tragen, ohne aber die verfolgten Allgemeinwohlinteressen auf Dauer hinten anzustellen. Durch die Befreiungsvorschrift und die Anknüpfung an den Zeitpunkt der Erlaubniserteilung könne beispielsweise bei Spielhallenkomplexen ein stufenweiser Rückbau erreicht werden.31 III. Bewertung der Neuregelung im Lichte des Art. 14 GG Die neuen Inhalts- und Schrankenbestimmungen des Spielhalleneigentums durch den Ersten GlüÄndStV werden den verfassungsrechtlichen Vorgaben des Art. 14 GG nicht gerecht. Dazu im Einzelnen: 1. Eingriff in Art. 14 GG Der Schutzbereich des Art. 14 GG ist eröffnet. Die Spielhallen, die auf der Grundlage der Unternehmergenehmigungen für ihren Bau und ihren Betrieb (Baugenehmigungen und unbefristete Erlaubnisse nach der GewO) mit erheblichen Investitionen errichtet worden sind, fallen unter Art. 14 GG.32 Das Bundesverfassungsgericht hat 30

Erläuterungen zum Ersten GlüÄndStV, LT-Drs. BW 15/849, S. 51. Erläuterungen zum Ersten GlüÄndStV, LT-Drs. BW 15/849, S. 54. 32 Schneider, GewArch 2011, 457 (458); vgl. auch Roller, in: Roßnagel/Roller, Die Beendigung der Kernenergienutzung durch Gesetz, 1998, S. 86 f. 31

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zuletzt in einer Kammerentscheidung ausdrücklich bestätigt, dass die auf der Grundlage einer immissionsschutzrechtlichen Genehmigung errichtete und in Betrieb genommene Anlage eine von Art. 14 Abs. 1 GG geschützte Rechtsposition darstellt.33 Nichts anderes gilt für die auf Grundlage einer Baugenehmigung und einer gewerberechtlichen Erlaubnis errichteten und in Betrieb genommenen Spielhallen. Die Neuregelungen des Ersten GlüÄndStV greifen massiv in dieses von Art. 14 GG geschützte Spielhalleneigentum ein. Die Betreiber, die auf der Grundlage unbefristeter Genehmigungen mehrere Spielhallen im Verbund errichtet haben, müssen diese fünf Jahre nach Inkrafttreten des Ersten GlüÄndStV bis auf eine einzige Spielhalle zurückbauen, da sie dann eine glücksspielrechtliche Erlaubnis brauchen (§ 24 Abs. 1 GlüÄndStV), die sie wegen des Verbots von Mehrfachkonzessionen (§ 25 Abs. 2 GlüÄndStV) nicht mehr bekommen. Die Betreiber zahlreicher einzelner Spielhallen in der Nähe anderer Spielhallen müssen diese wegen des einzuhaltenden Mindestabstands zwischen Spielhallen (§ 25 Abs. 1 Satz 1 GlüÄndStV) sogar vollständig aufgeben. Hinzu kommt die Unverkäuflichkeit von bestehenden Spielhallen: Bei der Spielhallenerlaubnis handelt es sich um eine an eine bestimmte Person und an einen bestimmten Raum gebundene Erlaubnis. Die Erlaubnis endet, wenn sich eine dieser Voraussetzungen ändert. Der Bestandsschutz gilt also nur so lange, wie sich die Person, der die Spielhallenerlaubnis erteilt worden ist, nicht ändert.34 Das heißt, bei einer Übertragung einer Spielhalle von einer Person auf eine andere erlischt die Erlaubnis. Daraus folgt, dass ein Erwerber einer alten bestandsgeschützten Spielhalle eine neue Erlaubnis bräuchte, die ihm aufgrund der Neuregelungen nicht mehr erteilt wird. Dies führt zur Unverkäuflichkeit von bestehenden Spielhallen.35 Darin liegt ein weiterer massiver Eingriff in die Eigentumsgarantie, die auch die Verwertbarkeit des Eigentums schützt. Dem Spielhallenbetreiber muss der Zugriff auf sein gesamtes Vermögen garantiert sein, damit er etwaige Verluste in anderen Lebensbereichen durch Rückgriff auf sein „Spielhallenvermögen“ ausgleichen kann.36 Die faktische Unverkäuflichkeit von bestandsgeschützten Altspielhallen verhindert dies. Der nachträgliche Entzug zahlreicher Spielhallen dürfte allerdings keine entschädigungspflichtige Enteignung, die zum Wohl der Allgemeinheit zulässig ist (Art. 14 Abs. 3 Satz 1 GG), darstellen. Inhalts- und Schrankenbestimmungen des Eigentums 33 BVerfG, NVwZ 2010, 771 (772); vgl. auch BGH, WM 1972, 1157 (1159); zu AtomGAnlagen Kloepfer, DVBl. 2011, 1437 (1438); Papier, DVBl. 2011, 189 (193); Roßnagel, in: Roßnagel/Roller, Die Beendigung der Kernenergienutzung durch Gesetz, 1998, S. 33 f. 34 VGH Baden-Württemberg, GewArch 1994, 417 (418); OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 16. 11. 2009, Az. OVG 1 S 137.09, Rn. 4 bei juris; VG Hannover, Urteil vom 24. 01. 2007, Az. 11 A 3724/05, Rn. 21 bei juris; Ennuschat, in: Tettinger/Wank/Ennuschat, GewO, 8. Auflage 2011, § 33i Rn. 39. 35 Denkbar wäre allenfalls, die alte Spielhallenerlaubnis bei einem Verkauf insoweit als fortbestehend anzusehen, als sie sich auf die nicht personenbezogenen Genehmigungsvoraussetzungen bezieht (z. B. Mindestabstände, Mehrfachkonzessionen etc.), so für die atomrechtliche Genehmigung HessVGH, Urteil vom 01. 11. 1989, Az. 8 A 2903/88, Rn. 135 ff. bei juris. 36 Vgl. BVerfGE 84, 382 (384); BVerfGE 79, 283 (290).

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und Enteignungen stehen in einem Entweder-Oder-Verhältnis. Selbst eine besonders intensive Inhalts- und Schrankenbestimmung kann nicht in eine Enteignung umschlagen, auch dann nicht, wenn sie sich für Betroffene faktisch wie eine Enteignung darstellt.37 Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem „Nassauskiesungsbeschluss“ Inhalts- und Schrankenbestimmungen und Enteignungen nach der Zielrichtung des hoheitlichen Rechtsakts voneinander abgegrenzt. Eine Inhalts- und Schrankenbestimmung ist die generelle und abstrakte Festlegung von Rechten und Pflichten hinsichtlich solcher Rechtsgüter, die Eigentum im Sinne des Art. 14 Abs. 1 GG sind. Eine Enteignung ist der zweckgerichtete finale Zugriff auf das Eigentum, der auf die Entziehung von Eigentumspositionen gerichtet ist. Später hat das Bundesverfassungsgericht hinzugefügt, dass die Enteignung dadurch geprägt sei, dass Güter hoheitlich beschafft werden, um mit ihnen ein konkretes, der Erfüllung öffentlicher Aufgaben dienendes Vorhaben durchzuführen.38 Stellt man auf den Güterbeschaffungsvorgang ab, dann dürfte keine Enteignung vorliegen. Den Ländern geht es hier nicht darum, sich durch einen zweckgerichteten hoheitlichen Zugriff auf das Eigentum Spielhallen zu beschaffen. Die Ausgestaltung der neuen glücksspielrechtlichen Erlaubnispflicht für Spielhallen dürfte daher (nur) den Inhalt und die Schranken des Eigentums neu bestimmen, selbst wenn die Regelungen des Ersten GlüÄndStV im Ergebnis dazu führen, dass zahlreiche Spielhallen keine Erlaubnis zum Weiterbetrieb bekommen und ihren bau- und gewerberechtlich unbefristet genehmigten Betrieb einstellen müssen. Dies wird zum Teil anders gesehen.39 2. Unverhältnismäßigkeit der Neuregelung Wenn man davon ausgeht, dass der nachträgliche Entzug von Spielhallen eine Inhalts- und Schrankenbestimmung des Eigentums darstellt, dann müsste die Neuregelung verhältnismäßig sein. Der Glücksspielgesetzgeber hat zwar einen weiten Regelungs- und Gestaltungsspielraum bei der Inhalts- und Schrankenbestimmung des Eigentums. Art. 14 GG schreibt ihm nicht vor, bestehenden Spielhallen einen unbedingten Bestandsschutz dergestalt zu gewähren, dass Spielhallen „auf immer und ewig“ betrieben werden dürfen. Ein Eingriff in nach früherem Recht entstandene 37 Vgl. zu der gesetzlichen Begrenzung der Laufzeiten bestandskräftiger atomrechtlicher Betriebsgenehmigungen Zippelius/Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 32. Auflage 2008, § 31 Rn. 56; Klopefer, DVBl. 2011, 1437 (1439); Papier, DVBl. 2011, 189 (193); Koch, NJW 2000, 1529 (1530); anders aber Schmidt-Preuß, NJW 2000, 1524 (1525). Unklar BVerfGE 58, 300 (331 f.): „eine neue, für die Zukunft geltende objektiv-rechtliche Regelung im Sinne des Art. 14 Abs. 1 Satz 2 [kann] zugleich eine Legalenteignung“ bewirken. 38 BVerfGE 104, 1 (10); kritisch dazu Krappel, DÖV 2012, 640. 39 Hufen, Die Einschränkung des gewerblichen Geld-Gewinnspiels, 2012, S. 68 ff.; Reichert/Rietdorf, Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes zur Errichtung und zum Betrieb von Spielhallen der Landesregierung Schleswig-Holstein, LT-Drs. Schleswig-Holstein 17/ 3446, unter II.1.; Uwer, Verfassungs- und unionsrechtliche Bewertung des 1. GlüÄndStV und der Landesspielhallengesetze in Berlin, Bremen, Hessen und Schleswig-Holstein, Thesenpapier vom 22. 11. 2011 (abrufbar unter www.vdai.de, Stand: 18. 02. 2012); offen lassend Schneider, GewArch 2011, 457 (458).

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Spielhallen muss aber durch Gründe des öffentlichen Interesses gerechtfertigt und insbesondere verhältnismäßig sein. Solche öffentlichen Interessen müssen so schwerwiegend sein, dass sie Vorrang vor dem Vertrauen der Betreiber in den Fortbestand ihrer unbefristet genehmigten Spielhallen haben.40 Klar dürfte sein, dass die Spielhallenregelungen des Ersten GlüÄndStV ein legitimes Ziel verfolgen. Der Erste GlüÄndStV dient wie sein Vorgänger vor allem den Zielen, das Entstehen von Glücksspielsucht und Wettsucht zu verhindern und die Voraussetzungen für eine wirksame Suchtbekämpfung zu schaffen (§ 1 Satz 1 Nr. 1 des Ersten GlüÄndStV) und durch ein begrenztes, eine geeignete Alternative zum nicht erlaubten Glücksspiel darstellendes Glücksspielangebot den natürlichen Spieltrieb der Bevölkerung in geordnete und überwachte Bahnen zu lenken sowie der Entwicklung und Ausbreitung von unerlaubten Glücksspielen in Schwarzmärkten entgegenzuwirken (§ 1 Satz 1 Nr. 2 des Ersten GlüÄndStV). Die Spielhallenregelungen des Ersten GlüÄndStV dürften grundsätzlich auch geeignet sein, diese Ziele zu erreichen, weil mit ihrer Hilfe der gewünschte Erfolg gefördert werden kann.41 Allerdings werden vor allem die Abstandsregelungen zwischen Spielhallen in dem Ersten GlüÄndStV zum Teil nicht als geeignetes Mittel einer wirksamen Suchtbekämpfung angesehen: Die Wirksamkeit von Mindestabstandsregeln als Mittel zur Suchtbekämpfung sei nicht erwiesen. Im Gegenteil, Mindestabstandsregeln seien sogar kontraproduktiv, weil sie dazu führen würden, dass Spielhallen nicht mehr konzentriert an einem Ort entstehen, sondern flächendeckend in den jeweiligen Gemeinden.42 Bei der Frage, ob es ein milderes, gleich wirksames Mittel zur Zielerreichung gibt, verfügt der Gesetzgeber über einen Beurteilungs- und Prognosespielraum. Infolge dieser Einschätzungsprärogative können Maßnahmen, die die Landesgesetzgeber zum Schutz eines wichtigen Gemeinschaftsguts wie der Abwendung der Gefahren, die mit dem Veranstalten und Vermitteln von Glücksspielen verbunden sind, für erforderlich halten, verfassungsrechtlich nur beanstandet werden, wenn nach den dem Gesetzgeber bekannten Tatsachen und im Hinblick auf die bisher gemachten Erfahrungen feststellbar ist, dass Beschränkungen, die als Alternativen in Betracht kommen, zwar die gleiche Wirksamkeit versprechen, indessen die Betroffenen weniger belasten.43 Die Spielhallenregelungen des Ersten GlüÄndStV könnten deshalb nicht erforderlich sein, weil es schon mildere, gleich wirksame Mittel gibt, Spielhallen zu regulieren. Vor allem das BauGB gibt den Gemeinden effektive Handlungsmittel. Spielhallen können ohne weiteres durch Bebauungspläne aus städtebaulichen Gründen in Gemeindegebieten ausgeschlossen werden und dadurch, wie von § 1 Satz 1 Nr. 2 des Ersten GlüÄndStV bezweckt, in geordnete und überwachte Bahnen gelenkt 40

Vgl. Zippelius/Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 32. Aufl. 2008, § 31 Rn. 54. Vgl. BVerfGE 115, 276 (304 ff.); BVerfG, NVwZ 2008, 1338 (1340 ff.); kritisch Hufen, Die Einschränkung des gewerblichen Geld-Gewinnspiels, 2012, S. 37 ff. 42 Vgl. EuGH, Urteil vom 16. 02. 2012, Rs. C-72/10 und C-77/10, EuZW 2012, 275 (278). 43 BVerfG, NVwZ 2008, 1338 (1340). 41

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werden.44 In der Praxis machen auch immer mehr Gemeinden davon Gebrauch. Außerdem können die gewerberechtlichen Regelungen der SpielV die von § 1 Satz 1 Nr. 1 des Ersten GlüÄndStV bezweckte effektive Suchtbekämpfung gewährleisten, vorausgesetzt, sie werden von den Vollzugsbehörden auch umgesetzt, was in der Praxis nicht immer der Fall ist. Ob darüber hinaus der angestrebte „Kahlschlag“ im Bestand der Spielhallen erforderlich ist, ist zweifelhaft. Schließlich müsste die Neuregelung angemessen sein. Ein Eingriff in das Eigentum der Spielhallenbetreiber wäre verfassungsgemäß, wenn dringende Gründe des öffentlichen Wohls Vorrang vor den Nutzungsinteressen der Eigentümer beanspruchen könnten.45 Die mit dem Ersten GlüÄndStV verfolgten Gemeinwohlinteressen sind besonders gewichtig.46 Sie könnten daher Vorrang vor den wirtschaftlichen Interessen der Alteigentümer haben. Allerdings ist offensichtlich, dass es zahlreiche Eigentümer gibt, die ihre Spielhallen erst wenige Jahre vor Kenntnis der Neuregelung mit erheblichen Investitionen errichtet haben. Vor allem in den Jahren 2006 bis 2010 haben Spielhallen massiv zugenommen. In diesen Jahren gab es einen regelrechten „Spielhallenboom“, der politisch nicht aufgehalten worden ist, sondern im Gegenteil gefördert worden ist. Diese Eigentümer haben darauf vertraut, dass sie ihre unbefristet genehmigten Spielhallen auf längere Zeit betreiben dürfen. Jedenfalls die Eigentumsposition dieser Spielhallenbetreiber, die ihre Spielhallen erst vor wenigen Jahren eröffnet haben, wird nicht hinreichend berücksichtigt. Im Kontext von Unternehmergenehmigungen und Grundstücksnutzungen hat das Bundesverfassungsgericht mit bemerkenswerter Klarheit ausgeführt:47 „Es wäre mit dem Gehalt des Grundrechts nicht vereinbar, wenn dem Staat die Befugnis zugebilligt würde, die Fortsetzung von Grundstücksnutzungen, zu deren Aufnahme umfangreiche Investitionen erforderlich waren, abrupt und ohne Überleitung zu unterbinden. Eine solche Regelung würde die geleistete Arbeit und den Einsatz von Kapital von heute auf morgen entwerten. Sie würde das Vertrauen in die Beständigkeit der Rechtsordnung, ohne das eine eigenverantwortliche Lebensgestaltung im vermögensrechtlichen Bereich nicht möglich ist, erschüttern.“ Das Bundesverfassungsgericht verbietet damit die Entwertung von geleisteter Arbeit und eingesetztem Kapital. Spielhalleneigentümer können zwar nicht darauf vertrauen, dass eine genehmigte Spielhalle auf Dauer betrieben werden kann. Spielhalleneigentümer können aber darauf vertrauen, dass durch eine Änderung der Rechtslage ihre erheblichen Investitionen nicht entwertet werden. Art. 14 Abs. 1 GG gebietet daher: Entweder muss die unbefristet genehmigte Spielhalle jedenfalls so lange genutzt werden können, bis der Eigentümer seine Investitionen wieder eingespielt hat, oder es ist ein ange-

44 Kröninger, LKRZ 2011, 406 (409 ff.); Tarner, BauR 2011, 1273 (1278 ff.); Stüer, ZfWG 2010, 386 (391 ff.); Brandenburg/Brunner, BauR 2010, 1851 (1856 ff.). 45 Vgl. Zippelius/Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 32. Auflage 2008, § 31 Rn. 68. 46 BVerfGE 115, 276 (304 f.); BVerfG, NVwZ 2008, 1338 (1343). 47 BVerfGE 58, 300 (349 f.).

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messener Ausgleich in Geld zu leisten.48 Zu beachten ist allerdings, dass Übergangsregelungen Vorrang vor Ansprüchen aus entschädigungspflichtigen Inhaltsbestimmungen haben.49 Das – im wahrsten Sinne des Wortes – Einspielen der Investitionen könnte sich an dem Amortisationszeitraum orientieren, das heißt an dem Zeitraum, in dem anfängliche Aufwendungen für den Bau und Betrieb der Spielhallen durch dadurch entstehende Erträge gedeckt werden können. Der Amortisationszeitraum soll bei Spielhallen zwischen 15 und 30 Jahre betragen.50 Denkbar ist auch ein Abstellen auf den Abschreibungszeitraum, das heißt auf den Zeitraum, in dem das Sachanlagevermögen der Spielhalle voraussichtlich genutzt werden kann (vgl. § 253 Abs. 3 HGB).51 Die Abschreibungsdauer für spielhallentypisches Anlagevermögen soll zwischen 10 und 33 Jahre betragen.52 Darüber hinaus könnte es erforderlich sein, neben dem Einspielen der Investitionen den Alteigentümern einen angemessenen Gewinn zu gestatten. Der hohe Stellenwert von Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG als Verfügungs- und Nutzungsfreiheit verbietet es, die Spielhalleneigentümer aus ihren Investments mit „plus-minus-null“ zu entlassen. Ein solcher Eigentumsentzug würde den Anreiz, neues Unternehmereigentum zu schaffen, untergraben und könnte negative Auswirkungen auf den Wirtschaftsstandort Deutschland haben.53 Jedenfalls die Erzielung eines angemessenen Gewinns bis zur Höhe einer durchschnittlichen Verzinsung des eingesetzten Kapitals muss daher möglich sein.54

48 Zu AtomG-Genehmigungen Klopefer, DVBl. 2011, 1437 (1442); Koch, NJW 2000, 1529 (1534); Roßnagel, in: Roßnagel/Roller, Die Beendigung der Kernenergienutzung durch Gesetz, 1998, S. 65; vgl. auch Papier, in: Maunz/Dürig, GG, Stand: Juli 2010, Art. 14 Rn. 106 ff.; Böhm/Schwarz, NVwZ 2012, 129 (131); BVerfGE 30, 392, Rn. 41 bei juris. Enger BVerwG, NVwZ 2009, 1441 (1443): „(E)in Recht darauf, von Neuregelungen verschont zu bleiben, bis einmal getätigte Investitionen sich vollständig amortisiert haben, besteht nicht.“ Das BVerwG hat allerdings eine Unverhältnismäßigkeit allein deshalb abgelehnt, weil das aus einem gesetzlichen Vertrauenstatbestand abgeleitete Vertrauen fehlte; dies ist bei den Neuregelungen des Ersten GlüÄndStV anders. 49 Zippelius/Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 32. Auflage 2008, § 31 Rn. 70; BVerfG, NVwZ 2005, 1412 (1414). 50 Reichert/Rietdorf, Stellungnahme zum Entwurf eines Gesetzes zur Errichtung und zum Betrieb von Spielhallen der Landesregierung Schleswig-Holstein, LT-Drs. Schleswig-Holstein 17/3446, unter II.1. 51 Dazu ausführlich Roller, in: Roßnagel/Roller, Die Beendigung der Kernenergienutzung durch Gesetz, 1998, S. 110 f. 52 Schneider, GewArch 2011, 457 (457); Hufen, Die Einschränkung des gewerblichen Geld-Gewinnspiels, 2012, S. 64. 53 Schmidt-Preuß, NJW 2000, 1524 (1527); Schmidt-Preuß, NJW 1995, 985 (989). 54 Kloepfer, DVBl. 2011, 1437 (1442); vgl. auch BGH, WM 1972, 1157 (1159): eine Entschädigung in Höhe des Wertes, der bei einer angenommenen Veräußerung unter Berücksichtigung der Gewinnerwartung erlöst worden wäre; kritisch Roller, in: Roßnagel/Roller, Die Beendigung der Kernenergienutzung durch Gesetz, 1998, S. 114.

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Zum Zweck der Bestandsgarantie wurde in den Ersten GlüÄndStV die Übergangsregelung des § 29 Abs. 4 Satz 2 eingeführt, wonach die Alteigentümer ihre Spielhallen maximal noch fünf Jahre betreiben dürfen. Diese fünf Jahre reichen allerdings in vielen Fällen nicht aus, da der Amortisations- bzw. der Abschreibungszeitraum für spielhallentypisches Anlagevermögen zwischen 10 und 33 Jahre betragen dürfte. Dies gilt vor allem für die zahlreichen Spielhallen, die erst wenige Jahre vor Kenntnis der Neuregelung mit erheblichen Investitionen errichtet worden sind.55 Denkbar wäre zwar, nur auf die Amortisation des in Geldspielgeräte investierten Kapitals abzustellen. Insoweit sollen sich die Investitionen bereits nach etwa vier Jahren amortisiert haben.56 Diese Auffassung verkennt aber, dass Spielhallen nicht nur aus Spielgeräten bestehen. Die Investitionen in den Bau von Spielhallen und vor allem auch in die Innenausstattung übersteigen die bloßen Investitionen in Spielgeräte bei weitem. Diese Investitionen in die Gebäude und die Innenausstattung können nicht mehr amortisiert werden; auf sie dürfte es ebenfalls entscheidend ankommen. Ein Eigentumsentzug, bevor der Eigentümer seine Investitionen jedenfalls wieder vollständig eingespielt hat, könnte allenfalls dann zulässig sein, wenn das Vertrauen der Spielhallenbetreiber auf den Fortbestand ihrer Rechtspositionen nicht schutzwürdig wäre.57 Das Gegenteil ist allerdings der Fall: Der deutsche Automatenspielsektor war lange Zeit durch eine expansive Politik gekennzeichnet, die mit dem Ziel einer Stärkung der Position der Spielhallenbetreiber betrieben wurde. Spielhallen wurden trotz der ausdrücklichen Forderungen des Bundesverfassungsgerichts und des EuGH aus der strengen Regulierung des Glücksspielstaatsvertrags ausgeklammert. Die Länder haben zu keinem Zeitpunkt nach der Föderalismusreform im Jahr 2006 Anstalten gemacht, Spielhallen zu regulieren. Erst in der Ministerpräsidentenkonferenz am 27. 10. 2011 haben sich die Länder auf den Entwurf des Ersten GlüÄndStV geeinigt. Frühestens ab diesem Zeitpunkt könnte ein Vertrauensschutz entfallen. Bis zu diesem Zeitpunkt konnten die Spielhallenbetreiber darauf vertrauen, dass sie ihre unbefristet genehmigten Spielhallen zumindest für einen Amortisationszeitraum nach Maßgabe der im Gewerberecht normierten Anforderungen betreiben dürfen. Die Spielhallenbetreiber konnten allenfalls damit rechnen, dass ihnen weitere Auflagen für den Betrieb auferlegt werden. Sie konnten nicht damit rechnen, dass sie ihre Spielhallen überhaupt nicht mehr betreiben dürfen. Vor diesem Hintergrund kann selbst das wichtige Ziel der Bekämpfung der Spielsucht nicht als Rechtfertigung 55

Zur Erinnerung: Die Übergangsregelung in der „Nassauskiesungsentscheidung“ war verhältnismäßig, weil sie eine Übergangsregelung von 17 Jahren (!) vorsah, BVerfGE 58, 300 (352). Für die Aufhebung der im Jahre 2006 eingeführten Kleingruppenhaltung von Legehennen sieht der Bundesverordnungsgeber eine Übergangsfrist bis zum Jahr 2035 vor, weil die betroffenen Halter im Vertrauen auf eine bestehende Rechtslage in die Kleingruppenhaltung investiert haben, vgl. den Entwurf der Fünften Verordnung zur Änderung der TierschutzNutztierhaltungsverordnung vom 09. 08. 2011, BR-Drs. 445/11, S. 9. 56 So z. B. die Begründung der Verhältnismäßigkeit des rheinland-pfälzischen Gesetzgebers in der Begründung des Landesglücksspielgesetzes LT-Drs. 16/1179, S. 49 f. 57 Ausführlich zum „Vertrauensschutzprinzip“ Papier, DVBl. 2011, 189 (190 ff.).

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für einen vorzeitigen Entzug des Spielhalleneigentums dienen.58 Aufgrund der bewussten Förderung von Spielhallen im Rahmen der Neufassung der Spielverordnung im Jahr 2006 mit dem ausdrücklichen Ziel, die Wettbewerbsfähigkeit von Spielhallenbetreibern zu stärken, dürfte sogar ein besonderer Vertrauensschutztatbestand geschaffen worden sein, der es ausnahmsweise rechtfertigen könnte, den Alteigentümern einen angemessenen Gewinn zu gestatten. Im Ergebnis ist daher allenfalls eine solche Auslegung von § 29 Abs. 4 Satz 4 des Ersten GlüÄndStV verfassungsgemäß, wonach Alteigentümer ihre Spielhallen jedenfalls solange betreiben dürfen, bis sie ihre Investitionen vollständig eingespielt haben. Es ist verfassungsrechtlich geboten, eine Befreiung von der Erfüllung einzelner Anforderungen des § 24 Abs. 2 und § 25 des Ersten GlüÄndStV für einen Zeitraum zuzulassen, der jedenfalls eine vollständige Amortisation bzw. Abschreibung garantiert. Vor diesem Hintergrund genießen zahlreiche Spielhallen in Deutschland noch weit über den Ablauf der fünfjährigen Übergangsfrist hinaus Bestandsschutz. Die Fünfjahresfrist läuft weitgehend leer. Die Landesgesetzgeber hätten dieses für sie sicherlich unbefriedigende Ergebnis verhindern können, indem sie den betroffenen Alteigentümern für den Entzug ihrer unbefristeten Unternehmergenehmigungen als Ausgleich eine Entschädigung in Geld gewährt hätten. Ein Ausgleich in Geld wäre zwar nur möglich gewesen, wenn Härteklauseln, Übergangsregelungen etc. nicht möglich sind. Erst dann müssen die gesetzlichen Regelungen einen angemessenen Ausgleich der unzumutbaren Sonderbelastung gewähren (Subsidiarität des finanziellen Ausgleichs).59 Die Landesgesetzgeber hätten sich allerdings auf den Standpunkt stellen können, dass die Übergangsregelungen wegen der langen Übergangszeiten nicht zum gewünschten Ergebnis führen und deshalb unmöglich sind.60 Mit dieser Argumentation wäre der Weg für einen kurzfristigen Entzug des Spielhalleneigentums möglich gewesen. Dann hätten sie aber selbst Entschädigungen festlegen müssen, denn der Ausgleichsanspruch, der auf Grund einer ausgleichspflichtigen Inhaltsbestimmung entsteht, bedarf einer gesetzlichen Grundlage.61 Vor dieser Belastung ihrer Haushalte sind die Landesgesetzgeber allerdings zurückgeschreckt, so dass sich die Frage aufdrängt, ob die Ziele des Ersten GlüÄndStV wegen des weiten Anwendungsbereichs des „Ausnahmetatbestands“ des § 29 Abs. 4 Satz 4 des Ersten GlüÄndStV überhaupt erreicht werden können. IV. Fazit Aufgrund der Neuregelungen des Ersten GlüÄndStV ist ein Großteil der in Deutschland bestehenden Spielhallen nicht mehr zulässig. Diese auf der Grundlage 58

Vgl. EuGH, Urteil vom 16. 02. 2012, Rs. C-72/10 und C-77/10, EuZW 2012, 275 (278). Zippelius/Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 32. Auflage 2008, § 31 Rn. 71. 60 Vgl. Roller, NJW 2001, 1003 (1008 f.). 61 Zippelius/Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 32. Auflage 2008, § 31 Rn. 76; Würtenberger, VBlBW 2007, 364 (368 ff.). 59

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Thomas Würtenberger

von unbefristeten gewerbe- und baurechtlichen Genehmigungen vor der Neuregelung errichteten und in Betrieb genommenen Spielhallen werden allerdings durch Art. 14 GG geschützt. Die Landesgesetzgeber haben dies im Grundsatz erkannt und deshalb in § 29 Abs. 4 des Ersten GlüÄndStV eine Übergangsregelung vorgesehen. Die Landesgesetzgeber haben allerdings verkannt, dass die als Regelfall vorgesehene Übergangsfrist von fünf Jahren nicht ausreicht, um die erheblichen Investitionen in Spielhallen einzuspielen. Viele Spielhallen sind in Deutschland erst in der jüngeren Vergangenheit (vor allem im Zeitraum von 2006 bis 2010) entstanden. Insoweit haben sich die Investitionen noch lange nicht amortisiert und werden sich auch bis zum Ablauf der Übergangsfrist (30. 06. 2017) noch nicht amortisiert haben. In der Praxis führt dies dazu, dass zahlreiche Spielhallen in Deutschland über die Härtefallregelung des § 29 Abs. 4 Satz 4 des Ersten GlüÄndStV, der eine Verlängerung im Einzelfall vorsieht, abgewickelt werden müssen. Denn die Länder haben zum Schutz ihrer Haushalte von einer ausgleichspflichtigen Inhaltsbestimmung in Form einer Entschädigung in Geld abgesehen. Die Konsequenz davon ist: Die Ziele des Ersten GlüÄndStV „verpuffen“ weitgehend, was Spielhallen betrifft. „Mehrfachkonzessionen“ und konzentrierte Spielhallenansiedlungen in den deutschen Innenstädten und Gewerbegebieten wird es auch in Zukunft noch lange Zeit geben.

VI. Prozessrecht

Eine Brücke über die Lücke: Die Normerlassklage im System verwaltungsgerichtlicher Klagearten Von Friedhelm Hufen, Mainz I. Die Ausgangslage 1. Und es gibt sie doch! Wir schrieben das Jahr 1982. Ich hatte die Ehre und die Freude, als gerade habilitierter Privatdozent dem Jubilar auf dessen erste Professur an der Universität Augsburg zu folgen. Augsburg, das hieß damals Einstufige Juristenausbildung nach „süddeutschem Modell“, und ich erbte von meinem Vorgänger den unter Dozenten zu Recht gefürchteten Examenskurs Verwaltungsrecht und Verwaltungsprozessrecht. Das war – nota bene – eine Vorlesung zur Vorbereitung auf die staatliche Abschlussprüfung. Es galt also, bestens vorbereiteten, praxisgestählten Assessor-Kandidaten auf wissenschaftlichem Niveau examensrelevanten Stoff beizubringen. In der brodelnden Gerüchteküche spielte ein Stichwort eine Rolle, dem ich nie zuvor begegnet war: Die „Normerlassklage“, zu der ich doch einen Fall bringen möge. Ich erwiderte nach kurzem Überlegen in Einklang mit der damals durchaus herrschenden Lehre1, eine „Normerlassklage“ könne ich mir nicht vorstellen. Mit der expliziten Ausnahme des Normenkontrollantrags nach § 47 VwGO sei der Rechtsschutz der VwGO auf Einzelentscheidungen ausgerichtet. Schon die Gewaltenteilung spreche gegen die Verurteilung eines Normgebers zum Normerlass. „Doch, doch“, insistierten die Studenten: „Unser“ – man beachte das Possessivpronomen – Bayerischer Verwaltungsgerichtshof habe in mehreren Verfahren aus dem Umfeld der Landesentwicklungsplanung und der Aufgabenzuteilung für Gemeinden Normerlass- und Normergänzungsklagen zugelassen2 und Professor Würtenberger habe diese Fälle im vorhergehenden Wintersemester besprochen und außerdem einen wichtigen AöR-Aufsatz zum Thema geschrieben3. 1 BVerwGE 13, 228 (243); 43, 248 (262); Schenke, Rechtsschutz bei normativem Unrecht 1979, 169. 2 BayVGH, BayVBl 1975, 168; BayVBl 1980, 209; Westbomke, Der Anspruch auf Erlass von Rechtsverordnungen und Satzungen, 1976. 3 Würtenberger, Die Normerlassklage als funktionsgerechte Fortbildung verwaltungsprozessualen Rechtsschutzes, AöR 1980 (105), 370; vgl. auch die Besprechung zum genannten Urteil des BayVGH in BayVBl 1980, 683.

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Friedhelm Hufen

Das war zwar nicht meine erste Begegnung mit dem Jubilar, denn wir kannten uns bereits aus dem erweiterten Kreis des berühmten Freiburger Seminars von Konrad Hesse, aber es war meine erste Begegnung mit der Normerlassklage. Der Anlass war der sogleich viel beachtete verwaltungsprozessuale Einstand des Staatsrechtslehrers Würtenberger; eine Seite seines wissenschaftlichen Werkes, die er in zahlreichen Beiträgen und insbesondere einem Standardlehrbuch4 seither stets weiter verfolgt hat. 2. Argumente „Pro“ und „Contra“ Dass es sich bei der Normerlassklage – ganz im Sinne Würtenbergers – um eine „funktionsgerechte Fortbildung des verwaltungsprozessualen Rechtsschutzes“ handle, hat mich damals sehr schnell überzeugt. Das Klagesystem der VwGO bietet schließlich für jede Form staatlichen Handelns unterhalb des parlamentarischen Gesetzes je eine Form der Abwehrklage und eine Form der Leistungsklage5. Nur bei untergesetzlichen Normen schien sich das auf den ersten Blick auf die Abwehr in Form der Normenkontrolle (§ 47 VwGO) zu beschränken. Dabei zeigte nicht nur der als Satzung zu erlassene Bebauungsplan, dass hier eine echte Lücke bestand. Warum sollte eine Gemeinde nicht die Aufnahme in einen Regionalplan, die Eingliederung bestimmter Gebiete, die Zusammenlegung mit einer anderen Gemeinde verwaltungsprozessual erstreiten können? Warum sollte es einem Doktoranden unmöglich sein, seine Fakultät endlich zum Erlass einer Promotionsordnung zu zwingen, einem Ladenbesitzer den Erlass einer Ausnahmeverordnung vom Ladenschlussrecht zu erreichen, einem Gemeinderatsmitglied verwehrt sein, die Ergänzung der Geschäftsordnung um ein Rauchverbot im Gemeinderat prozessual durchzusetzen? Soweit solche Entscheidungen in der Form von Rechtsverordnungen oder Satzungen ergingen, waren diese vielfach austauschbar mit der erst 1977 im „neuen VwVfG“ erweiterten Rechtsform der Allgemeinverfügung; sie schaffen Rechte und Rechtsbeziehungen, haben auch für einzelne Rechtssubjekte durchaus unmittelbar begünstigenden Charakter. So war es eine schlichte Konsequenz aus Art. 19 IV GG, die Normerlassklage bzw. – bei defizitären Normen – die Normergänzungsklage zuzulassen, was denn auch bald der durchaus herrschenden Lehre in der Literatur entsprach6.

4 Würtenberger, Verwaltungsprozessrecht, 3. Aufl. (2011); nicht zu vergessen auch Würtenberger, Prüfe Dein Wissen: Verwaltungsgerichtsbarkeit, 3. Aufl. (2007). 5 Hufen, Verwaltungsprozessrecht, 8. Aufl. (2011), § 20 Rn. 1. 6 Vgl. nur Robbers, JuS 1988, 949 und JuS 1990, 978; Duken, NVwZ 1993, 546; Würtenberger (Fußn. 4), Rn. 690 ff.; Hufen (Fußn. 5), § 20; Lorenz, Verwaltungsprozessrecht, § 26, 31; Hartmann, DÖV 1991, 62; Gleixner, Die Normerlassklage, 1993; Axer, MZS 1997, 10; Sodan, NVwZ 2000, 601; Köller/Haller, JuS 2007, 189; Reidt, DVBl 2000, 602; Eisele, Subjektive öffentliche Rechte auf Normerlass, 1999.

Die Normerlassklage im System verwaltungsgerichtlicher Klagearten

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Die Vorbehalte – auch wenn sie teilweise bis in die Gegenwart eisern durchgehalten werden7 – sind nur insoweit überzeugend, als sie sich auf parlamentarische Rechtsnormen, also förmliche Gesetze, beziehen. Hier verbietet allein schon Art. 20 Abs. 3 GG, der den Richter an das Gesetz bindet, dass ebenderselbe Richter den Gesetzgeber zum Erlass eines Gesetzes verurteilt. Im Übrigen aber beruhen die Gegenargumente vielfach auf Missverständnissen und historischen Reminiszenzen: Etwa dass die Einführung einer Normerlassklage Sache des Gesetzgebers sei, der Verwaltungsakt das Interesse des Einzelnen, die Rechtsnorm aber das Gemeinwohl im Auge habe, die Gewaltenteilung ein Überschreiten der Befugnis der Gerichte zu Lasten des Normgebers verbiete, die Normerlassklage in Planungshoheit und Satzungsautonomie der Gebietskörperschaften eingreife. Dabei geht es bei der Normerlassklage ausschließlich um exekutivisches Recht. Demokratie und Gewaltenteilung stehen insofern nicht entgegen8. Inzident und prinzipal werden Satzungen der Gemeinde zum Gegenstand verwaltungsgerichtlicher Kontrolle, und der untergesetzliche Normgeber hat längst die Aufgabe, neben dem Allgemeinwohl auch die Rechte einzelner Normbetroffener im Auge zu behalten. Schließlich ist die Normerlassklage auch keine eigene Klageart, denn mit der allgemeinen Leistungsklage und der Feststellungsklage stehen adäquate Klageformen zur Durchsetzung von Normerlassansprüchen zur Verfügung. Insgesamt ist unschwer zu konstatieren, dass die Bedenken sowohl in einem veralteten Verständnis von Rechtsverordnung und Satzung als „Gesetze im materiellen Sinne“ und Impermeabilitätsvorstellungen des 19. Jahrhunderts beruhen. W.-R. Schenkes anhaltende Skepsis schließlich hat vor allem damit zu tun, dass er die Normsetzung grundsätzlich als verfassungsrechtliche Angelegenheit sieht und selbst die Normenkontrolle nach § 47 VwGO als ausnahmsweise gesetzlich zugelassene verfassungsrechtliche Streitigkeit vor einem Verwaltungsgericht begreift9. Gleichwohl tat sich die Rechtsprechung zunächst mit der Zulassung von Normerlass- und Ergänzungsklagen eher schwer. Die „bayerischen Fälle“ der Normergänzungsklage waren durchweg Planungsergänzungsklagen von Gemeinden und Gemeindeverbänden10, während andere Oberverwaltungsgerichte und Verwaltungsgerichtshöfe die nicht seltenen Klagen auf Erlass von Ausnahmeregelungen zum Ladenschlussgesetz zunächst nahezu einhellig ablehnten11.

7

So insbesondere von Schenke (Fußn. 7), Rn. 131, 347; Hess. VGH, DÖV 1983, 2895; VGH Kassel, NVwZ 1993, 186; NVwZ 1992, 68; Eyermann-Schmidt, VwGO, § 47, Rn. 19; skeptisch auch Rupp, FS Isensee, 2007, 283; Lörler, ZRP 1996, 361. 8 Pietzcker (Fußn. 8), VwGO-Kommentar, § 42, Rn. 160. 9 So bereits Schenke (Fußn.1), 333; ders., VerwArch 1991 (82), 307 (336) und (Fußn. 7), Rn. 131; ebenso Kraayvanger, Der Begriff der verfassungsrechtlichen Streitigkeit im Sinne des § 40 Abs. 1 S. 1 VwGO (2004). 10 BayVGH, BayVBl 1975, 168, 189; BayVBl 1980, 663. 11 Hess.VGH, NJW 1983, DÖV 1983, 2895; zunächst auch OVG Rh.-Pf., NJW 1988, 1684; krit. dazu Robbers, JuS 1988, 949; Barby, NJW 1989, 80.

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Der Durchbruch kam von unerwarteter Seite: Im November 1988 verurteilte das Bundesverwaltungsgericht12 ohne Aufhebens und ohne aufwendige dogmatische Begründung einen Landesverordnungsgeber zur Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags und entschied gleich mit – gleichfalls ohne jede dogmatische Begründung –, dass es sich hier nur um eine Feststellungsklage handeln könne. Seither scheinen nur noch der Hessische VGH13 und vereinzelte Stimmen in der Literatur nicht überzeugt. Die Normerlassklage ist nicht alltägliche, aber immerhin doch in wichtigen Fallgruppen durchgesetzte Ergänzung im System der Klagearten, so wenn es um die Erstreckung von Gebührenordnungen auf Berufsgruppen geht14, wenn Finanzierungsregelungen auf andere Adressaten erstreckt werden sollen15, wenn es durch Rechtsverordnung durchzusetzende Übernahme einer Schule in die Schulträgerschaft des Landes geht16. Unschwer lässt sich auch voraussagen, dass die zahlreichen Fälle von kommunalen Neugliederungen, Zusammenlegungen, Aufstufungen zur großen Kreisstadt und für was auch immer der Landesgesetzgeber die Form einer Rechtsverordnung vorsieht, von den Gerichten „durchentschieden“ würden. Der Durchbruch im Großen scheint also geschafft. Reizvoll und notwendig aber bleibt die „dogmatische Feinarbeit“, denn Konturen, Reichweite und Voraussetzungen der Normerlassklage im Einzelnen sind ja weder durch höchstrichterliche Rechtsprechung noch gar durch den Gesetzgeber abschließend geklärt. II. Zulässigkeit und Begründetheit der Normerlassklage im Einzelnen 1. Rechtsweg Beim Streit um den Erlass von Rechtsnormen geht es grundsätzlich um öffentlichrechtliche Streitigkeiten im Sinne von § 40 VwGO. Das folgt schon daraus, dass nur die öffentliche Gewalt von sich aus einseitig verbindliches Recht setzen kann17. Weitgehend Einigkeit besteht heute auch darin, dass der Streit um untergesetzliche Rechtsnormen nicht verfassungsrechtliche Streitigkeit im Sinne von § 40 Abs. 1 VwGO ist18. Eher theoretisch ist die Frage, ob denn die Klage eines Bürgers auf Er12

BVerwGE 80, 355. Zuletzt OVG, NVwZ 1992, 68. 14 BVerwG, NVwZ 2002, 1505. 15 Reidt, DVBl 2000, 602. 16 BayVGH, BayVBl 1995, 146; weitere Anwendungsfälle bei Hufen (Fußn. 5), § 20, Rn. 1; umfassende Nachweise auch bei Sodan in: Sodan/Ziekow, VwGO, 3. Aufl. (2010), Rn. 42, 46; Würtenberger (Fußn. 4), Rn. 695 ff. 17 Hufen (Fußn. 5), § 20, Rn. 4; Würtenberger (Fußn. 4), VwProzR, Rn. 699. 18 Anders nur noch Schenke, VerwArch 1991 (82), 307 (336) und Verwaltungsprozessrecht, Rn. 131, 347. 13

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lass eines Parlamentsgesetzes schon am Verwaltungsrechtsweg scheitern würde19 oder erst – so der Jubilar – deshalb, weil die Streitigkeit durch Gesetz zwingend dem Bundesverfassungsgericht zugewiesen sei20. In einer Klage des Bürgers gegen den Staat eine verfassungsrechtliche Streitigkeit zu sehen, gelingt indessen nur demjenigen, der die m. E. zwingende Lehre von der „doppelten Verfassungsunmittelbarkeit“, also die Zugehörigkeit beider Seiten zur verfassungsrechtlichen Organstellung zum „Phantom“ erklärt21. Der Streit ist aber müßig, denn – wie gesagt – die Klage des Bürgers auf parlamentarisches Gesetz scheitert schon an der Gesetzesbindung des Richters. Das alles spricht freilich nicht gegen die Eröffnung des Verwaltungsrechtswegs für Klagen auf untergesetzliche Normen. 2. Zuständiges Gericht Wird die Normerlassklage als Leistungs- oder Feststellungsklage eingeordnet, so ergibt sich die sachliche Zuständigkeit aus § 45 VwGO, d. h. das Verwaltungsgericht ist zuständig. Nur bei einer (abzulehnenden) analogen Anwendung von § 47 VwGO käme das OVG in Betracht. Zwar ist es richtig, dass wegen der großen Bedeutung und der Nähe zur Normenkontrolle „eigentlich eine sachliche Zuständigkeit des OVG naheläge“22, doch wäre die Verwirklichung dieses richtigen Gedankens Sache des Gesetzgebers. Auch das Gebot des gesetzlichen Richters (Art. 101 GG) spricht gegen jedes gesetzlich nicht begründete Abweichen von der Regel § 45 VwGO. Schließlich ist zu bedenken, dass die „einfachen“ Verwaltungsgerichte über Allgemeinverfügungen von größter Bedeutung entscheiden23. Steht der Normerlass im Zusammenhang mit bestimmten Großprojekten, so ist die Zuständigkeit des OVG allerdings nach § 48 VwGO denkbar, denn dieser Fall („sämtliche Streitigkeiten“) ist nicht auf Genehmigungen und Planfeststellungsbeschlüsse beschränkt. 3. Statthafte Klageart So weitgehend unbestritten heute die Zulässigkeit der Normerlassklage als solcher ist, so groß ist nach wie vor die Uneinigkeit über die statthafte Klageart. Keine Besonderheit besteht zunächst bei der sogenannten „unechten Normerlassklage“. Unterschiede in der Beurteilung – auch zwischen dem Jubilar und dem Autor dieser Zeilen24 – rühren wohl eher aus dem in der Tat missverständlichen Begriff. Mit 19

So neben Schenke auch Sodan (Fußn. 16), § 42, Rn. 46. Würtenberger (Fußn. 4), Rn. 700. Das scheint freilich nicht zwingend, denn in § 90 BVerfG sind durchaus auch Klagen gegen Einzelakte (nach Erschöpfung des Rechtswegs) dem BVerfG zugewiesen. 21 So Bethge, Das Phantom der doppelten Verfassungsunmittelbarkeit, JuS 2001, 1100. 22 So zunächst Würtenberger (Fußn. 3), 105. Für die Zuständigkeit des VGH auch BayVGH, BayVBl 2003, 433. 23 So zu Recht Würtenberger (Fußn. 4), Rn. 708. 24 Vgl. dazu Würtenberger (Fußn. 4), Rn. 692, dort Fußn. 123. 20

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der unechten Normergänzungsklage macht der Antragsteller nicht seinen Anspruch auf Normerlass oder Normergänzung, sondern die Unwirksamkeit einer Norm wegen eines Gleichheitsverstoßes geltend; es geht ihm also schlicht um den Angriff auf die Norm im Wege der gewöhnlichen Normenkontrolle. Hier ist § 47 VwGO einschlägig. Der Antrag ist begründet, wenn die Norm wegen eines Gleichheitsverstoßes rechtswidrig ist. Will der Antragsteller aber die Erstreckung einer vorhandenen Norm auf sich selbst erreichen (wie in der Mehrzahl der Fälle wohl ratsam), so geht es in der Tat um eine echte Normergänzungsklage. „Unechte Normerlassklage und Normergänzungsklage“ schließen sich also nicht aus; es kommt wie stets auf das Klage- bzw. Antragsziel an25. Auch bei „echten“ Normerlassklagen besteht aber Uneinigkeit hinsichtlich der statthaften Klageart. Ausgeschieden aus dem Rennen sind hier anscheinend nur die analoge Anwendung von § 47 VwGO und die „Klage sui generis“. Aus der Annahme, bei der Normerlassklage handle es sich um eine actio contraria zur Normenkontrolle, könnte zwar zunächst geschlossen werden, § 47 VwGO sei analog anwendbar. Das freilich würde eine Lücke voraussetzen, die angesichts des Vorhandenseins von Leistungs- und Feststellungsklage nicht besteht26. Auch spricht auch hier das Gebot des gesetzlichen Richters (Art. 101 GG) gegen jegliche Analogie27. Gegen die Annahme einer „Klage sui generis“ spricht weniger die Annahme eines (nicht vorhandenen) „numerus clausus“ der verwaltungsprozessualen Klagearten, sondern gleichfalls die mangelnde Notwendigkeit: Leistungsklage und Feststellungsklage gehen vor und schließen die Annahme einer subsidiären Klage sui generis28 aus. Zunächst viel Zuspruch fand das Bundesverwaltungsgericht29, als es wie selbstverständlich die Klage auf Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrags als Feststellungsklage einordnete und im Anspruch auf den Normerlass also ein konkretes Rechtsverhältnis sah. Die Feststellungsklage sei mit Rücksicht auf den notwendigen Entscheidungsspielraum des Normgebers als hinreichend offen der Leistungsklage vorzuziehen. Mit Ausnahme von Schenke30, der das zu Grunde liegende Rechtsverhältnis als verfassungsrechtliche Streitigkeit begreift und die Feststellungsklage schon deshalb ablehnt, folgte eine ganze Reihe namhafter Autoren – wie auch der Jubilar31 sowie die Mehrzahl der seither ergangenen Urteile32 – dieser Einschätzung. 25 Zur Zulässigkeit der „unechten Normerlassklage“ auch Möstl in: Posser/Wolff, VwGO, 2008, § 43 Rn. 34; Sodan (Fußn. 16), § 42 Rn. 46; Lorenz, Verwaltungsprozessrecht, 2000, § 26 Rn. 29; nicht anders auch Hufen (Fußn. 5), § 20, Rn. 1 am Ende. 26 Sodan (Fußn. 16), § 42, Rn. 47; Würtenberger (Fußn. 4), Rn. 702. 27 Pietzcker (Fußn. 8), § 47 in Fn. 719. 28 Hufen (Fußn. 5), § 20, Rn. 9; Sodan (Fußn. 16), § 42, Rn. 13; a.A. zunächst wohl noch Würtenberger (Fußn. 3), 370, 389. 29 BVerwGE 80, 355. 30 Verwaltungsprozessrecht, Rn. 389 und Rn. 1075. 31 Würtenberger (Fußn. 4), Rn. 705; auch Möstl (Fußn. 25), § 43 Rn. 33; Dünchhein, Verwaltungsprozessrecht unter europäischem Einfluss, 2003, 97; Sodan, NVwZ 2000, 601 (609).

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Diese Argumente überzeugen aber letztlich nicht. Mit der Bevorzugung der Feststellungsklage setzt das Bundesverwaltungsgericht nämlich sein im Widerspruch zum klaren Wortlaut des § 43 Abs. 2 VwGO stehendes Unterlaufen des Subsidiaritätsprinzips fort. Hintergrund ist die durch nichts bewiesene Behauptung, die Subsidiaritätsklausel diene nur der Verhinderung eines Umgehens des Vorverfahrens und die Verwaltung werde sich bei vorliegendem Feststellungsurteil schon rechtstreu verhalten und die Konsequenzen ziehen. Mit den Tröstungen dieser „Ehrenmanntheorie“ wird sich ein Kläger aber vor allem dann nicht zufrieden geben, wenn die Verwaltung – was insbesondere bei kostenträchtigen Normergänzungen wie etwa der Erstreckung der Entschädigungsregelung auf den Kläger – vorkommen soll, den eigentlichen Normerlass auch nach dem Feststellungsurteil immer wieder aufschiebt und der Kläger schlicht kein vollstreckungsfähiges Urteil in Händen hält. Dieses ist vielmehr nur bei der Annahme einer Leistungsklage der Fall. Bei alledem ist die allgemeine Leistungsklage im Regelfall der Normerlass- und Ergänzungsklage die richtige Klageart33. Für diese spricht neben dem eindeutigen gesetzlichen Vorrang in § 43 Abs. 2 VwGO auch das einfache Klageziel: Der Kläger erreicht mehr als bei einem nicht verpflichtendem Feststellungsurteil. Die Behauptung, eine Leistungsklage könne sich nur auf schlichtes Verwaltungshandeln richten34 steht dagegen nirgendwo geschrieben. Alle untergesetzlichen Normen einschließlich Rechtsverordnungen des Bundes können vielmehr eine „Leistung“ der Exekutive sein, auf die ein Anspruch bestehen kann, der dann auch mit einer adäquaten Klage durchsetzbar sein muss35. Ernst zu nehmen ist aber der Vorbehalt, ein Verwaltungsgericht könne den Normgeber nur zum Normerlass als solchem, nicht aber zu einem bestimmten Norminhalt verurteilen. Zwar mag es Fälle geben, in denen das Ermessen des Normgebers auf Null reduziert und nur ein einziger rechtmäßiger Norminhalt denkbar ist. In allen anderen Fällen bleibt dem Normgeber aber ein Entscheidungsspielraum hinsichtlich des eigentlichen Norminhalts, der in Selbstverwaltungsangelegenheiten sogar verfassungsrechtlich untermauert sein kann. Diese Probleme sind aber nicht solche der Klageart, sondern der Spruchreife, also der Begründetheit. Es geht insofern36 um eine analoge Anwendung von § 113 Abs. 5 S. 2 VwGO37. Will der Kläger vermeiden, wegen mangelnder Spruchreife teilweise zu unterliegen, so steht ihm – wie in vergleichbaren Fällen bei der Verpflichtungsklage – die als solche kaum

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Exemplarisch z. B. Bundesverwaltungsgericht, NVwZ 2002, 1505. BayVGH, BayVBl 1981, 499; Barby, DVBl 1974, 817; Pietzcker (Fußn. 8), § 42, Rn. 153, 160; Lorenz, Verwaltungsprozessrecht, § 26 Rn. 31; T. I. Schmidt, DÖV 2011, 169; umfassende Nachweise auch bei Sodan (Fußn. 16), § 42, 50; Köller/Haller, JuS 2003, 189. 34 OVG Rh.-Pf, NJW 1988, 1684. 35 Hufen (Fußn. 5), § 20, Rn. 8. 36 So ebenfalls Würtenberger ebenda. 37 Ähnlich Pietzcker (Fußn. 8), § 42, Rn. 160. 33

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noch umstrittene Möglichkeit der Bescheidungsklage38 zur Verfügung. Er wird also beantragen, den Normgeber zu verurteilen, unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts seinen Anspruch auf Normerlass zu erfüllen – und dies bei Achtung eines fortbestehenden Normierungsermessens. Auch die Bescheidungsklage ist dabei keine „eigene Klageart“. Sie ist bei der Verpflichtungsklage in Ermessensfällen und Fällen des fortbestehenden Beurteilungsspielraums wohl bekannt39 und eröffnet, wie der Jubilar bescheiden in einer Fußnote anmerkt40, der Leistungsklage einen „breiteren Anwendungsbereich“. 4. Klagebefugnis Im Grundsatz Einigkeit besteht im Hinblick auf die Klagebefugnis. So eröffnet die Normerlassklage keine Möglichkeit zur Popularklage. Erforderlich ist also, dass der Kläger in analoger Anwendung von § 42 Abs. 2 VwGO geltend macht, dass er einen Anspruch auf den Erlass der Norm hat bzw. dass er in seinem subjektiven Recht verletzt ist, wenn der Normerlass unterbleibt41. Bei der Abgrenzung im engeren Sinne kann es Schwierigkeiten geben. So dürfte ein allgemeines Interesse einerseits und ein subjektives Recht andererseits mitunter ebenso schwierig abzugrenzen sein, wie dies freilich auch bei anderen Formen der Leistungs- bzw. Feststellungsklage oder erst recht bei der Normenkontrolle nach § 47 VwGO der Fall ist. Besonderheiten sind zu beachten, wenn der Anspruch auf Normsetzung europarechtlich begründet ist, denn hier kann das umzusetzende Europarecht eine schärfer gerichtliche Kontrolle erfordern. Auch ist es denkbar, dass bei umweltrelevanten Vorhaben Naturschutzverbände im Rahmen der Verbandsklage den Erlass von bestimmten Schutznormen erzwingen könen. Für die Klagebefugnis von Organen in (z. B. kommunalen Organstreit) wird man verlangen müssen, dass das betreffende Organ in seinem Mitwirkungsrecht durch das Unterlassen der Norm tangiert ist. Das beliebte Klausurbeispiel „Klage auf Rauchverbot in der Geschäftsordnung des Gemeinderats“ ist durch die neuere Gesetzgebung zwar verbraucht; andere Fälle einer Gleichstellung der Fraktionen oder Gemeinderatsmitglieder in der Gemeindeordnung aber sind durchaus denkbar. 5. Begründetheit der Klage Ohne Schwierigkeiten zu bestimmen ist die Passivlegitimation: Passiv legitimiert ist derjenige Rechtsträger, dessen Behörde bzw. Organ die entsprechende Norm erlassen müssten. Das können – anders als bei § 47 VwGO – neben Land, Kommunen und Körperschaften auf Landesebene auch der Bund und rechtsfähige Bundesanstalten sein42. Im Übrigen müssen Verfechter der Feststellungsklage bei der Begründet38

Ausf. dazu Hufen (Fußn. 5), § 15, Rn. 15 ff. Hufen (Fußn. 5), § 15, Rn. 15 ff. 40 Würtenberger (Fußn. 4), Rn. 704, Fußn. 158; dort m.w.N. 41 Würtenberger (Fußn. 4), Rn. 706; Möstl (Fußn. 25), § 43, Rn. 34; Eisele, Subjektive öffentliche Rechte auf Normerlass, 1999. 42 Zum Grundsatz bereits BayVGH, BayVBl 1975, 168 (169). 39

Die Normerlassklage im System verwaltungsgerichtlicher Klagearten

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heit ein Rechtsverhältnis konstruieren, kraft dessen den Normgeber eine rechtliche Verpflichtung trifft, die Norm zu erlassen. Einfacher geht es auch hier bei der Leistungsklage zu: Die Klage ist begründet, wenn der Kläger einen Anspruch auf Normerlass hat43. Der Anspruch kann sich aus Gesetz, Gleichheitssatz, aus den Grundrechten und wohl auch aus einer Zusage ergeben. Bei Letzterer freilich kommt es darauf an, ob das zuständige Organ die Zusage gegeben hat und mindestens die Voraussetzung von § 38 (analog) VwVfG erfüllt sind. Die Konkretheit des Anspruchs hängt davon ab, ob der Normgeber ein Ermessen beim Erlass der Norm hat44. Außerdem ist die Klage unbegründet, wenn der Normsetzungsanspruch durch Gesetz ausgeschlossen ist. Wichtigstes Beispiel ist hier nach wie vor § 1 Abs. 3 S. 2 BauGB, wonach auf Aufstellung von Bauleitplänen und städtebaulichen Satzungen kein Rechtsanspruch besteht und dieser auch durch Vertrag nicht begründet werden kann. Ergibt sich in diesem Fall der Anspruch aber unmittelbar aus der Verfassung – etwa bei willkürlicher Ungleichbehandlung45 – so besteht das Dilemma, dass das Gericht einerseits an § 1 Abs. 3 S. 2 BauGB gebunden ist und nicht einfach gegen dessen Wortlaut einen Anspruch auf die Ergänzung oder Aufstellung von Bauleitplänen verurteilen kann; andererseits im Normenkontrollverfahren nach Art. 100 GG aber nur die Verfassungswidrigkeit dieser wichtigen Norm als solches festgestellt werden könnte. Ob hier die Möglichkeit einer verfassungskonformen Auslegung etwa in dem Sinne eröffnet ist, dass § 1 Abs. 3 S. 2 BauGB zwar einen Anspruch auf Aufstellung von Bauleitplänen, nicht aber auf verfassungskonformer Ergänzung eines bestehenden Bebauungsplans ausschließe, bleibe an dieser Stelle offen. Zunehmende Bedeutung dürfte im Zusammenhang mit der Normergänzungsklage die Schutzpflicht für Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 GG erlangen46. Bei den Ausnahmeverordnungen zum Ladenschlussgesetz dürfte Art. 12 GG im Zusammenhang mit dem Gleichheitssatz, beim Anspruch auf Allgemeinverbindlicherklärung die Koalitionsfreiheit des Art. 9 Abs, 3 GG die eigentliche Rechtsgrundlage bilden. Nimmt man einen Anspruch auf Normerlass aus Verletzung des Gleichheitssatzes an, ist freilich zu beachten, dass der Normgeber die Beseitigung der Ungleichbehandlung auch durch Streichung einer normativen Vergünstigung erreichen kann47. Das entscheidende Problem bei der Begründetheit aber betrifft die Spruchreife: Hier besteht Einmütigkeit, dass das Gericht weder im Feststellungsurteil noch im Leistungsurteil den Wortlaut der Norm festlegen kann – von Ausnahmen eines reduzierten Ermessens, z. B. bei der Erstreckung einer als solcher feststehenden Entschädigungsregelung – den Wortlaut nicht festlegen kann48. Auch darf das Gericht vor 43

Queng, Der Anspruch auf Normerlass, Diss. von 1998. Würtenberger (Fußn. 4), Rn. 709. 45 VGH Mannheim, VBlBW 1995, 204. 46 Bekanntes Beispiel: Erlass einer Feinstaub-Schutzverordnung; so auch Würtenberger (Fußn. 4), Rn. 698. 47 Würtenberger (Fußn. 4), Rn. 698; Hufen (Fußn. 5), § 28, Rn. 17. 48 So bereits Renck, JuS 1982, 338 ( 342); Würtenberger (Fußn. 4), Rn. 709. 44

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allem im Selbstverwaltungsbereich nicht seine eigene Abwägungsentscheidung an die Stelle der zuständigen Körperschaft setzen49. Was bei der Verpflichtungsklage die Ausnahme ist, scheint bei der Normerlassklage daher mehr und mehr der Regelfall: Eine Normerlassklage auf einen bestimmten Inhalt scheitert in der Regel an der Spruchreife. Die Lösung kann nur analoge Anwendung von § 113 Abs. 5 S. 1 VwGO liegen, also sinngemäß nur lauten: „Soweit die Ablehnung oder Unterlassung der Normsetzung rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinem Recht verletzt ist, spricht das Gericht die Verpflichtung der Behörde aus, die beantragte Norm zu erlassen, wenn die Sache spruchreif ist. Andernfalls spricht es die Verpflichtung aus, eine entsprechende Rechtsnorm unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu erlassen“. Dabei sind selbstverständlich auch die Belange der übrigen durch die Rechtsnorm betroffenen Adressaten zu berücksichtigen. Hält sich das Gericht in dieser Weise zurück, dann bestehen keine Bedenken, grundsätzlich von einer Vollstreckbarkeit analog § 172 VwGO auszugehen. III. Auftrag für den Gesetzgeber? Der Autor der vorliegenden Zeilen hat bei mehreren gleichfalls offenen Fragen des Verfahrensrechts dazu aufgefordert, den erreichten Stand der Rechtsprechung durch eine mutige Kodifikation zu klären50. Für die Lösung der Probleme der Normerlassklage freilich reicht – wovon auch der Jubilar überzeugt ist – das vorhandene Instrumentarium. Leistungsklage und – wenn es unbedingt sein muss – Feststellungsklage schlagen hier selbst eine Brücke über alle bisher angenommenen Lücken im System des verwaltungsrechtlichen Rechtsschutzes. Insgesamt zeigt die geschilderte Entwicklung, an der Thomas Würtenberger von vornherein beteiligt war, wie Rechtsprechung und Rechtswissenschaft zusammenwirken können, um ein erkennbares Problem zu lösen. Es ist sein großer Verdienst, dass er sich von Anfang an nicht gescheut hat, sich neben den „großen Themen“ von Staat und Verfassung auch den nur scheinbar kleinen Problemen wie den Klagearten im Verwaltungsprozess zu widmen und überzeugende Lösungen beigetragen zu haben.

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Hufen (Fußn. 5), § 28, Rn. 17. So etwa im Hinblick auf die Überwindung der „heimlichen Normenkontrolle“ durch die Feststellungsklage: Lösung durch Ausweitung von § 47 VwGO auf alle untergesetzlichen Normen, FS Schenke, 2011, 803. 50

Zum ausgewogenen vorläufigen Rechtsschutz bei Fernstraßenprojekten Von Michael Ronellenfitsch, Tübingen/Wiesbaden Thomas Würtenberger hat apodiktisch festgestellt: „Der moderne Staat ist ein Abwägungsstaat.“1 So ist es. Die verbreitete Kritik an der juristischen Abwägungsmethode2 („Beliebigkeit der Abwägungsstrukturen“3 ist bereits im Ansatz verfehlt. Dies bedarf hier keiner Vertiefung. Bei näherem Zusehen bezieht sich die Kritik nämlich weniger auf die Methode als solche als vielmehr auf ihre konkrete Anwendung und kann dann durchaus berechtigt sein. In diesem Sinn ist die folgende Würdigung der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zu § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.V.m. § 17e Abs. 2 Satz 1 FStrG zu verstehen. I. 1. § 80 Abs. 1 VwGO gewährt gegenüber belastenden Verwaltungsakten vorläufigen Rechtsschutz in der Weise, dass er den Rechtsbehelfen Widerspruch und Anfechtungsklage grundsätzlich aufschiebende Wirkung beimisst (Suspensiveffekt)4. Dieser Suspensiveffekt wird gemeinhin als „fundamentaler Grundsatz des öffentlich-rechtlichen Prozesses“ verstanden.5 Begründung: Der Suspensiveffekt stelle den notwendigen Ausgleich dafür dar, dass die Exekutive beim Erlass von Eingriffsverwaltungsakten auf Grund des Wirksamkeitsprinzips (§ 43 VwVfG) in der Lage sei, vor endgültiger gerichtlicher Klärung der Rechtmäßigkeit (vorläufig) verbindli1

Würtenberger, Rechtliche Optimierungsgebote oder Rahmensetzungen für das Verwaltungsrecht, VVDStRL 58 (1999), 138 ff. (141). 2 Pieroth/Schlink, Grundrechte, 26. Aufl. 2010, Rn. 299 ff.; umfassende Nachweise bei Hofmann, Abwägung im Recht, 2007. 3 Möllers, Wandel der Grundrechtjudikatur, NJW 2005,1973 ff. (1974). 4 Vgl. Würtenberger, Verwaltungsprozessrecht, 3. Aufl., 2011, Rn. 503 ff.; Wolf-Rüdiger Schenke, Verwaltungsprozessrecht, 13. Aufl. 2012, Rn. 38 ff. 5 BVerfG v. 19. 6. 1973, BVerfGE 35, 263 (272); v. 1. 7. 1972, BVerfGE 35, 382,(402); v. 19. 10. 1977, BVerfGE 49, 166 (178); v. 2. 5. 1984, BVerfGE 67,43 (62); v. 21. 3. 1985, BVerfGE 69, 220 (22); v. 14. 5. 1996, BVerfGE 94, 166 (216, 226); v. 20. 2. 1998, BVerfGE 97, 298, 315; KB v. 15. 8. 2002, DVBl 2003, 257; KB v. 17. 5. 2004, NJW 2004, 2297 (2298); KB v. 19. 3. 2004, NJW 2004, 3100; v. 20. 3. 2009; EuGH v. 11. 8. 2003, DVBl 2004, 34 – Sfelero/ Prefetto di Genova.; BVerwG v. 21. 7. 1994, BVerwGE 96, 239 (240) = NVwZ 1995, 383; LSAOVG v. 12. 11. 2008, NJW 2009, 1829. Allgemein Wilfinger, Das Gebot effektiven Rechtsschutzes in Grundgesetz und Europäischer Menschenrechtskonvention, 1995.

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che Regelungen zu treffen. Die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG verlange, effektiven Gerichtsschutz gegenüber Maßnahmen der Exekutive zu sichern und durchzusetzen sowie die Schaffung vollendeter Tatsachen durch Vollzug zu verhindern.6 Deshalb sei der Suspensiveffekt die Regel; er entfalle nur kraft ausdrücklicher gesetzlicher Anordnung (§ 80 Abs. 2 S. 1 Nrn. 1 bis 3 VwGO) oder durch Anordnung der sofortigen Vollziehung seitens der Behörde (§§ 80 Abs. 2 S.1 Nr. 4, 80 Abs. 3 VwGO), die aber nach der gesetzlichen Systematik der VwGO die Ausnahme bilde und deshalb ein besonderes öffentliches Interesse voraussetze; dieses müsse dabei über das Interesse hinausgehen, das den Verwaltungsakt selbst rechtfertige.7 Komplettiert werde die Systematik der VwGO durch die Regelungen in § 80 Abs. 5 und Abs. 7 VwGO, für die derselbe Prüfungsmaßstab gelte.8 Gerade dieser Prüfungsmaßstab ist aber fraglich. Nicht leugnen lässt sich, dass der Gesetzeswortlaut des § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO – sprachlich und inhaltlich korrekt – zwei Fallgruppen des Suspensiveffekts unterscheidet: Das Gericht der Hauptsache hat in den Fällen des § 80 Abs. 2 S. 1 Nrn. 1 bis 3 VwGO die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anzuordnen, im Fall des § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO ganz oder teilweise wiederherzustellen (§ 80 Abs. 5 S. 1 VwGO). Die Unterscheidung von Anordnung und Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ist keine Wortspielerei; sondern greift die gesetzgeberische Entscheidung auf, Ausnahmen vom regelmäßig eintretenden Suspensiveffekt aufzulisten. Diese Entscheidung ist der richterlichen Interimsentscheidung vorgegeben. Im Rahmen des § 80 Abs. 5 VwGO hat das Gericht einen Interessenausgleich zu bewirken.9 Der Streit, ob es sich dabei um eine Ermessensentscheidung10 oder um eine Rechtsentscheidung11 handelt, spielt praktisch keine Rolle.12 Denn unbestritten ist, dass dem Gericht ein weiter Gestaltungsspielraum zusteht. Einen speziellen Maßstab für die Gestaltung gibt § 80 Abs. 5 VwGO nicht an. Die Gerichte könnten daher befugt sein, ihre Gestaltungsmöglichkeiten selbst zu definieren. Jedoch findet der gerichtliche Gestaltungsspielraum seine Grenzen an den verfassungsrechtlichen Vorgaben und der gesetzgeberischen Wertentscheidung, die der Systematik des § 80 VwGO insgesamt zugrunde liegt. Diese Systematik ist aber schon lange nicht mehr auf das bipolare Verhältnis Bürger/Eingriffsverwaltung zugeschnitten. Wurde § 80 Abs. 5 VwGO schon früher sinngemäß auf den Rechtsschutz des ursprünglich Begünstigten beim Verwaltungs-

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BVerfG v. 24. 4. 1974, BVerfGE 37, 150 (153); v. 16. 5. 1995, BVerfGE 93, 1(13). BVerfGE 35, 263 (274); 35, 382 (402): BVerfG KB v. 19. 2. 1991, NVwZ-RR 1991, 365. 8 BVerwG v. 22. 1. 1988, Buchholz 310 § 80 VwGO Nr. 47; v. 4. 7. 1988 BVerwGE 80, 16 (17 f.); v. 21. 7. 1994, BVerwGE 96, 239 (240). 9 Gersdorf, in: Posser/Wolff, VwGO-Beck-Online, § 9 Rn. 170. 10 So die h.M.; BWVGH v. 17. 9. 1995, NVwZ-RR 1995, 658, 659; BayVGH v. 21. 12. 2001, NVwZ-RR 2003, 9 (10). 11 Würtenberger, Verwaltungsprozessrecht, Rn. 532. 12 Decker, in: Wolff/Decker, VwGO, VwVfG, 2005, § 80 VwGO Rn. 69. Zur dogmatischen Überwindung des Streits durch Abwägung weiter im Text. 7

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akt mit Dritt- oder Doppelwirkung angewandt,13 so wurde 1990 mit dem 4. VwGOÄnderungsgesetz14 die entsprechende Anwendbarkeit von § 80 Abs. 5 bis 8 VwGO ausdrücklich angeordnet (§ 80 Abs. 1 S. 2, § 80a Abs. 3 S. 2 VwGO). Spätestens seither ist die einseitige verfassungsrechtliche Überhöhung des Suspensiveffekts überholt. Den Gerichten ist es damit verwehrt, unter Berufung auf Art. 19 Abs. 4 GG gesetzgeberische Modifikationen des Suspensiveffekts zu korrigieren. 2. Generell ignoriert die Verabsolutierung des Suspensiveffekts die Entwicklung vom eingreifenden zum ausgleichenden und distributiven Staat.15 Darf im bipolaren Verhältnis des Bürgers zur eingreifenden Verwaltung der effektive Rechtsschutz im Sinne des überkommenen Verständnisses der Verwaltungsgerichtsbarkeit schwerpunktmäßig gegen die Verwaltung ausgerichtet sein, so entfällt in den mehrpoligen Rechtsverhältnissen diese eindeutige Stoßrichtung. Der Interessenausgleich erfordert die Abwägung einer Vielzahl von Belangen. Bei gesellschaftlich kontroversen Vorhaben wie dem Bau und der Änderung von Bundesfernstraßen hat die – schwerpunktmäßig in den vorläufigen Verfahren ausgefochtene – rechtliche Auseinandersetzung obendrein eine unglückliche Schlagseite bekommen. Bereits der vorläufige Rechtsschutz dient hier der Verhinderung der Vorhaben schlechthin; es sollen vollendete Tatsachen zulasten des Vorhabens geschaffen werden. Art. 19 Abs. 4 GG rechtfertigt jedoch kein allgemeines „Verhinderungsinteresse“. Umgekehrt ist es falsch, mit Rücksicht auf die Bedeutung des Vorhabens ein „Durchsetzungsinteresse“ des Vorhabenträgers in der Interessenabwägung im vorläufigen Verfahren zu berücksichtigen. Verhinderungs- und Durchsetzungsinteresse beziehen sich auf die Hauptsacheentscheidung selbst. Im vorläufigen Rechtsschutzverfahren sind dagegen immer nur Aufschub- und Vollzugsinteresse abzuwägen. Zu prüfen ist, welche Konsequenzen der vorläufig gewährte Rechtsschutz haben wird, wenn der im Eilverfahren Obsiegende im Hauptsacheverfahren unterliegt. Dabei sind auch die Konsequenzen eines zeitweiligen Aufschubs von Vorhaben zu berücksichtigen. Bei mehrpoligen Rechtsverhältnissen kommt es damit nicht allein darauf an, dass der Rechtsschutz für den Antragsteller effektiv ist. Der durch Art. 19 Abs. 4 GG geforderte Rechtsschutz muss vielmehr im Interesse aller Beteiligter ausgewogen sein (proper balance)16. Ein Rechtsschutz, dessen Hauptaugenmerk auf die Verhinderung vollendeter Tatsachen gerichtet ist, läuft leicht auf die ungerechtfertigte Privilegierung des Status quo hinaus, es sei denn, er berücksichtigt, dass auch durch Verzögerungen irreparable Verhältnisse herbeigeführt werden können. Die Effektivität des einstwei13

Vgl. HessVGH v. 7. 2. 1991, NVwZ-RR 1991, 537. Viertes Gesetz zur Änderung der Verwaltungsgerichtsordnung v. 17. 12. 1990 (BGBl.I S. 2809). Hierzu Schoch, Der vorläufige Rechtsschutz im 4. VwGO-Änderungsgesetz, NVwZ 1991, 1121 ff. 15 Hierzu Ronellenfitsch, Sozialpolitische Lenkung durch (Markt-)Machteinsatz, in: Kartellrecht und Arbeitsmarkt, ZAAR Schriftenreihe Bd.16, 2010, S. 85 ff. 16 Vgl. Pietzner/Ronellenfitsch, Das Assessorexamen im Öffentlichen Recht, 12. Aufl. 2010, § 51 Rn. 6. Grundlegend Schmidt-Aßmann, Art. 19 IV als Teil des Rechtsstaatsprinzips, NVwZ 1983, 1 ff. 14

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ligen Rechtsschutzes darf nicht zum Vehikel einer allgemeinen Verzögerungs- und Verhinderungsstrategie gegenüber letztlich rechtmäßigen Vorhaben werden. Dies beeinflusst die gesetzgeberische Ausgestaltung des vorläufigen Rechtsschutzes. Soweit der Gesetzgeber den vorläufigen Rechtsschutz adäquat ausgewogen ausgestaltet hat, ist die Rechtsprechung gehindert, unter Berufung auf das Effektivitätsgebot „nachzubessern“. Eine adäquate Ausgestaltung hat der Sondersituation des vorläufigen Rechtsschutzes Rechnung zu tragen, der zugleich Eilrechtsschutz ist: Eine Entscheidung muss getroffen werden, ehe die Hauptsache entscheidungsreif ist. Eilbedürftigkeit ist aber keine Lizenz für Schnellschüsse. Zweck des summarischen Verfahrens ist es, die Hauptsache offen zu halten. Das heißt aber nicht, dass im Zeitpunkt der Eilentscheidung prognostische Aussagen über den Ausgang der Hauptsache völlig ausgeschlossen wären. Häufig lässt sich auf den ersten Blick erkennen, ob der angegriffene Verwaltungsakt rechtlichen Zweifeln unterliegt oder ob er rechtmäßig ist. Dass ein Verwaltungsakt, an dessen Rechtmäßigkeit ernstliche Zweifel bestehen, grundsätzlich17 nicht vollzogen werden soll, folgt in der Tat aus Art. 19 Abs. 4 GG. § 80 Abs. 5 S. 3 Alt. 1 VwGO drückt somit insoweit nur einen allgemeinen Rechtsgedanken aus, der auf alle Aussetzungsfälle übertragen werden kann. In die Interessenabwägung fließt somit eine summarische Rechtsprüfung ein, mit der die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs abgeschätzt werden.18 Diese Synthese von materiell-rechtlichen Erwägungen und Interessensgesichtspunkten hat sich im vorläufigen Rechtsschutzverfahren vor den Verfassungsgerichten bewährt. Sie vermeidet Einseitigkeiten und wird der Entscheidungssituation unter Zeitdruck gerecht (Doppelhypothese)19. Operational erfolgt die Prüfung gleichwohl in zwei Schritten, der vorgeschalteten Rechtsprüfung und der Abwägung. Die Prüfung der Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache im Rahmen der Interessenabwägung, aber noch vor der eigentlichen Abwägung, hat den Vorteil, dass die Gerichte ihrer originären Rechtsprechungsaufgabe nachkommen und nähere Auseinandersetzungen mit dem schwer fassbaren unbestimmten Rechtsbegriff des „besonderen öffentlichen Interesses“ vermeiden können. Völlig ausschließen lassen sich solche Auseinandersetzungen nach der Konzeption des § 80 Abs. 5 VwGO aber nicht. Sachgerecht sein kann letztlich nur eine konkrete Abwägungsentscheidung. Abwägen erfordert Gestaltungsfreiheit, die nicht auf einen richterlichen Dezisionismus hinauslaufen darf. Wie bei jeder Abwägung gilt es die Abwägungsbelange für die Interessenabwägung eindeutig zu ermitteln und zu gewichten, ohne dabei die gesetzgeberischen Gewichtungsvorgaben zu vernachlässigen. 17

Zu den Ausnahmen BayVGH v. 8. 10. 1987, NVwZ 1988, 749 m. Anm. Renck. BVerfG KB v. 17. 5. 2004, NJW 2004, 2297; BVerwG v. 6. 7. 1994, NVwZ 1995, 587; BWVGH v. 22. 10. 2003, NJW 2004, 89; BayVGH v. 18. 11. 1994, NVwZ 1995, 237; BremOVG v. 24. 9. 1982, DVBl 1983, 276; HbgOVG v. 13. 12. 2012, NJW 2012, 1975; HessVGH v. 26. 7. 1994, NVwZ 1995, 922; NdsOVG v. 20. 6. 2008, NJW 2008, 3451; v. 19. 11. 2008; DVBl, 2009, 298 (L); NWOVG v. 13. 1. 1999, NJW 1999, 2689; SaarlOVG v. 23. 7. 1992, NVwZ 1993, 201. 19 Vgl. Schoch, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, Loseblatt, § 80 Rn. 251. 18

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II. 1. Eine derartige Gewichtungsvorgabe hat der Gesetzgeber in § 17e FStrG getroffen. Die maßgeblichen Absätze lauten: „(2) Die Anfechtungsklage gegen einen Planfeststellungsbeschluss oder eine Plangenehmigung für den Bau oder die Änderung von Bundesfernstraßen, für die nach dem Fernstraßenausbaugesetz vordringlicher Bedarf festgestellt ist, hat keine aufschiebende Wirkung. Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Anfechtungsklage gegen einen Planfeststellungsbeschluss oder eine Plangenehmigung nach § 80 Abs. 5 Satz 1 der Verwaltungsgerichtsordnung kann nur innerhalb eines Monats nach der Zustellung des Planfeststellungsbeschlusses oder der Plangenehmigung gestellt und begründet werden. Darauf ist in der Rechtsbehelfsbelehrung hinzuweisen. § 58 der Verwaltungsgerichtsordnung gilt entsprechend. (3) Der Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 in Verbindung mit Abs. 2 Nr. 4 der Verwaltungsgerichtsordnung auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung einer Anfechtungsklage gegen einen Planfeststellungsbeschluss oder eine Plangenehmigung für den Bau oder die Änderung einer Bundesfernstraße, für die ein unvorhergesehener Verkehrsbedarf im Sinne des § 6 des Fernstraßenausbaugesetzes besteht oder die der Aufnahme in den Bedarfsplan nicht bedarf, kann nur innerhalb eines Monats nach Zustellung der Entscheidung über die Anordnung der sofortigen Vollziehung gestellt und begründet werden. Darauf ist in der Anordnung der sofortigen Vollziehung hinzuweisen. § 58 der Verwaltungsgerichtsordnung gilt entsprechend. (4) Treten in den Fällen des Absatzes 2 oder 3 später Tatsachen ein, die die Anordnung oder Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung rechtfertigen, so kann der durch den Planfeststellungsbeschluss oder die Plangenehmigung Beschwerte einen hierauf gestützten Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 der Verwaltungsgerichtsordnung innerhalb einer Frist von einem Monat stellen. Die Frist beginnt mit dem Zeitpunkt, in dem der Beschwerte von den Tatsachen Kenntnis erlangt.“

Daraus lassen sich zwei Anliegen des Gesetzgebers entnehmen: Erstens: Bei der Interessenabwägung zwischen Vollziehungs- und Verhinderungsinteresse hat sich der Gesetzgeber in den Fällen des § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 3 VwGO auf abstraktgenereller Ebene für das Vollziehungsinteresse entschieden. Auf diese Entscheidung nehmen § 17 e Abs. 2 S. 1 FStrG wie bereits die Vorgängerbestimmungen in § 5 Abs. 2 S.1 VerkPBG sowie §17 Abs. 6 c S.1 FStrG Bezug. Wie wiederum § 80 Abs. 4 S. 3 VwGO zeigt, hat diese Entscheidung aber nur für den Regelfall Bestand. Im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO. muss das Gericht nicht nur die behördliche Interessenabwägung überprüfen, sondern ebenfalls eine Interessenabwägung vornehmen. Eine „offene“ Interessenbewertung – völlig unabhängig von der gesetzgeberischen Interessengewichtung – geht aber zu weit. Zweitens: Anders als § 74 VwGO für die Anfechtungs- und Versagungsgegenklage sieht die VwGO für Anträge auf vorläufigen Rechtsschutz grundsätzlich keine Frist

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vor.20 Ausnahmen ergeben sich aus Fachgesetzen wie bereits aus § 5 Abs.1 S. 2 VerkPBG und § 17 Abs.6 a FStrG a.F. Bezweckt war mit diesen Regelungen eine Verfahrensbeschleunigung und Rechtssicherheit zu einem frühen Zeitpunkt.21 Der 4. und 9. Senat des Bundesverwaltungsgerichts22 haben in zwei Schritten die Entscheidung des Gesetzgebers korrigiert. Der erste Schritt bestand in der Relativierung des gesetzlich angeordneten Sofortvollzugs: Die einschlägigen Passagen im Beschluss von 21. Juli 1994 – 4 VR 1.94 –, BVerwGE 96, 239 (241) = NVwZ 1995,383 = Buchholz 407.4 § 17 FStrG Nr. 98 lauten: „Selbst wenn § 17 Abs. 4 a FStrG anzuwenden wäre, hätte das Gericht bei seiner Entscheidung nach § 80 Abs. 5 S. 1 VwGO eine Interessenbewertung vorzunehmen, nämlich dahin, ob im konkreten Fall – trotz der Entscheidung des Gesetzgebers des Fernstraßenausbaugesetzes über die Vordringlichkeit des Ausbaus oder der Änderung der Bundesfernstraße – das Interesse des Ast., vor Abschluß des Hauptsacheverfahrens keine vollendeten Tatsachen zu schaffen, höheres Gewicht hat als das gegenläufige Interesse, mit den Baumaßnahmen sofort beginnen zu können. Demgegenüber genügt es nicht, wenn die beklagte Planfeststellungsbehörde sich mit dem Hinweis begnügt, das planfestgestellte Vorhaben erfülle einen vordringlichen Bedarf; denn der vom Gesetzgeber – für das Gericht bindend – festgestellte vordringliche Bedarf hat i.V. mit § 17 Abs. 6 a FStrG für das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nur die Bedeutung, daß die sofortige Vollziehung kraft Gesetzes angeordnet (§ 80 Abs.2 Nr. 3 VwGO) und damit die Planfeststellungsbehörde – verfahrensbeschleunigend – von der ihr sonst nach §80 Abs.2 Nr. 4 VwGO obliegenden Pflicht entbunden ist, das öffentliche Interesse der sofortigen Vollziehung vorher gesondert zu begründen (§ 80 Abs.3b S. 1 VwGO). Das Gesetz unterstellt den Sofortvollzug keineswegs als stets, sondern nur im Regelfall geboten und verlagert deshalb die konkrete Interessenbewertung auf den Antrag des Planbetroffenen hin in das gerichtliche Verfahren nach § 80 Abs.5 VwGO. Hier wird die Planfeststellungsbehörde auf einen zu begründenden Antrag nach § 17 Abs. 6a FStrG hin konkretisieren müssen, weshalb auch im zu entscheidenden Einzelfall trotz der vom Ast. dargelegten gegenläufigen Interessen eine Abweichung von der gesetzlich als Regelfall gewollten sofortigen Vollziehung nicht gerechtfertigt ist. Der betroffene Bürger kann im Allgemeinen nicht substantiiert dartun, wie sich – über die auch von ihm nicht angreifbare allgemeine gesetzliche Bewertung hinaus, daß es sich um ein Vorhaben vordringlichen Bedarfs handelt – das öffentliche Interesse für den Vollzug des Planfeststellungsbeschlusses konkret darstellt. Dieses ist aber für die Beurteilung der Interessenlage erforderlich und gerade der Nachprüfung des Gerichts überantwortet.“

Der zweite Schritt bestand in der Verknüpfung der gesetzlichen Vollzugsanordnung mit der Befristung der Rechtsbehelfsmöglichkeit. Offenbar sah das Bundesverwaltungsgericht hierin eine derartige Belastungskumulation für die Vorhabenbetrof-

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MVOVG v. 29. 1. 1993, NVwZ 1994, 334. BT-Drs. 12/1092, S.10; Windthorst, Der verwaltungsgerichtliche einstweilige Rechtsschutz, 2009, S. 51. 22 Anders der 6. Senat; vgl. Beschl. v. 8. 4. 2010, DVBl 2010, 149. 21

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fenen, dass es einen gerichtlichen Ausgleich suchte. Der Beschluss vom 17. September 2001 – 4 VR 1901–23 knüpft denn auch unmittelbar an den Beschluss vom 21. Juli 1994 an. Die von den Antragstellern erhobene Anfechtungsklage hatte nach § 5 Abs. 2 Satz 1 VerkPBG keine aufschiebende Wirkung. Dies veranlasste das BVerwG zu folgender Argumentation: „Das bedeutet nach der Rechtsprechung des Senats (vgl. Beschluss vom 21. Juli 1994 – BVerwG 4 VR 1.94 – Buchholz 407.4 § 17 FStrG Nr. 98) indes nicht, dass das Vollzugsinteresse des Vorhabenträgers bereits kraft Gesetzes höheres Gewicht beansprucht als das Interesse der Antragsteller, vor Abschluss des Hauptsacheverfahrens vor vollendenden Tatsachen bewahrt zu werden. Der gesetzliche Ausschluss der aufschiebenden Wirkung der Klage hat lediglich zur Folge, dass die Behörde von der ihr sonst nach § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO obliegenden Pflicht entbunden wird, das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung anhand der konkreten Gegebenheiten besonders zu begründen. Macht der Betroffene, der sich im Klagewege gegen eine auf der Grundlage des § 17 Abs. 1 a FStrG erlassene Plangenehmigung zur Wehr setzt, von der Möglichkeit Gebrauch, nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO um vorläufigen Rechtsschutz nachzusuchen, so hat die Planungsbehörde im gerichtlichen Verfahren näher darzulegen, aus welcher Interessenposition sie für sich die Befugnis ableitet, mit der Ausführung des Planvorhabens zu beginnen, ohne den Ausgang des Hauptsacheverfahrens abwarten zu müssen.“

Auf eine solche Interessenposition könne sich der Antragsgegner zurzeit nicht berufen. Sodann fährt der Senat fort: „Das geht indes nicht zu Lasten der Antragsteller. Wird eine Plangenehmigung erteilt, so kann ein Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung nach § 5 Abs. 2 Satz 2 VerkPBG nur innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe gestellt werden. Um ihre Rechte zu wahren, durften die Antragsteller es als angemessenes Mittel ansehen, innerhalb der Monatsfrist um vorläufigen Rechtsschutz nachzusuchen. Die Einsicht, von diesem Schritt ohne Rechtsverlust Abstand nehmen zu können, brauchte sich ihnen nicht aufzudrängen. Denn wie dringlich die Ausführung des Vorhabens ist, das den Gegenstand der Plangenehmigung …bildet, lag außerhalb ihrer Erkenntnissphäre. Vielmehr hatte es die Plangenehmigungsbehörde in der Hand, die Einleitung eines gerichtlichen Verfahrens innerhalb der Einmonatsfrist des § 5 Abs. 2 Satz 2 VerkPBG entbehrlich zu machen. Es war ihr unbenommen, zum Ausdruck zu bringen, dass nicht beabsichtigt ist, das Planvorhaben in absehbarer Zukunft ins Werk zu setzen. Das hierfür geeignete rechtliche Instrument bot ihr § 80 Abs. 4 Satz 1 VwGO. Danach kann die Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen hat, in den Fällen des Absatzes 2 die Vollziehung aussetzen, soweit nicht bundesgesetzlich etwas anderes bestimmt ist. Von der Aussetzungsbefugnis, die ihr nach dieser Regelung zusteht, kann sie mithin auch dann Gebrauch machen, wenn, wie hier auf der Grundlage des § 5 Abs. 2 Satz 1 VerkPBG, die aufschiebende Wirkung der Anfechtungsklage kraft Bundesgesetzes entfällt. Die Aussetzung der Vollziehung ist nicht von einem Antrag abhängig. Sie ist auch von Amts wegen möglich. Die Plangenehmigungsbehörde wurde nicht durch ein bundesgesetzliches Verbot daran gehindert, die Vollziehung der von ihr getroffenen Planungsentscheidung auszusetzen. Ihr war 23 NVwZ-RR 2002, 153 = NZV 2002, 51 = ZfBR 2002, 178 = BauR 2002, 63 = DVBl 2001, 1861 = UPR 2002, 72.

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es auch nicht verwehrt, … die Aussetzung der Vollziehung bereits in der Plangenehmigung … anzuordnen. Denn § 80 Abs. 4 Satz 1 VwGO in der seit dem 1. Januar 1991 geltenden Fassung legt insoweit keine zeitliche Grenze fest. Anders als nach der Vorgängerregelung gehört die Einlegung eines Rechtsbehelfs in keiner der von ihm erfassten Konstellationen zu den Anwendungsvoraussetzungen. Die Aussetzungsbefugnis ist nurmehr an den Erlass des Verwaltungsaktes geknüpft. Unter welchen Voraussetzungen die Vollziehung ausgesetzt werden kann oder muss, regelt der Gesetzgeber nur für die Anforderung von öffentlichen Abgaben und Kosten. Nach § 80 Abs. 4 Satz 3 VwGO soll in diesem Falle die Aussetzung erfolgen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes bestehen oder wenn die Vollziehung für den Abgaben- oder Kostenpflichtigen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte. Ansonsten gibt der Gesetzgeber keinen bestimmten Maßstab vor. Zwar mag es auch außerhalb des Anwendungsbereichs des § 80 Abs. 4 Satz 3 VwGO vielfach der gesetzlichen Risikoverteilung entsprechen, sich an der Interessenbewertung zu orientieren, die dieser Vorschrift zu Grunde liegt. Das schließt die Berücksichtigung anderer Kriterien jedoch nicht aus. Insbesondere in den Fällen, in denen der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO einem Fristerfordernis unterliegt, lässt sich eine mit dem Verwaltungsakt verbundene Aussetzungsentscheidung auf der Grundlage des § 80 Abs. 4 Satz 1 VwGO als Mittel nutzen, um Betroffenen Schritte zur Erlangung eines vorläufigen Rechtsschutzes zu ersparen, der sich als unnötig erweist, solange feststeht, dass die Behörde eine sofortige Vollziehung, zu der sie der Gesetzgeber berechtigt, grundsätzlich aber nicht verpflichtet, aus welchen Gründen immer weder beabsichtigt noch auch nur ernsthaft in Erwägung zieht. Durch eine Aussetzung der Vollziehung erlegt sich die Behörde keine Bindungen auf, die es ihr für die Zukunft erschweren, die Möglichkeiten auszuschöpfen, die ihr der Gesetzgeber mit dem Wegfall der aufschiebenden Wirkung zubilligt. Freilich wirkt die Aussetzung nach § 80 Abs. 4 Satz 1 VwGO, vorbehaltlich einer Befristung, grundsätzlich bis zu dem Eintritt der Bestandskraft des Verwaltungsaktes oder dem in § 80 b VwGO bestimmten Zeitpunkt. Die zuständige Behörde kann indes, soweit keine anderweitigen rechtlichen Bindungen bestehen, die Aussetzungsentscheidung ändern oder aufheben. Allerdings findet sich in § 80 Abs. 4 VwGO keine dem § 80 Abs. 7 Satz 1 VwGO entsprechende Regelung. Das bedeutet aber allenfalls, dass die Aussetzungsentscheidung nicht im Sinne dieser Vorschrift jederzeit geändert oder aufgehoben werden darf. Zu einer Neubeurteilung berechtigen indes allemal veränderte Umstände. Eine neue Sachlage, die die Behörde zum Anlass für eine Änderung oder eine Aufhebung der Aussetzung nehmen darf, ist jedenfalls auch dann gegeben, wenn das tatsächliche oder rechtliche Hindernis wegfällt, das im Zeitpunkt der Entscheidung einer sofortigen Vollziehung im Wege stand.“

An diesem Verständnis hielt das BVerwG in der Folgezeit fest.24 III. Die geschilderte Rechtsprechung des 4. und 9. Senats widersetzt sich dem deutlich zum Ausdruck gebrachten Willen des Gesetzgebers, verzichtet ohne Not auf die 24 BVerwG v. 7.7.2010 – 9 VR 1.10 –; BeckRS 2011, 45535; v. 22.9.2010 – 9 VR 2.10 –, v. 31.3.10 2011 – 9 VR 2.11 –, NVwZ 2011, 820.

Zum ausgewogenen vorläufigen Rechtsschutz bei Fernstraßenprojekten

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summarische Rechtsprüfung und ist nicht durch Art.19 Abs. 4 GG geboten. Kurz: Die Rechtsprechung schießt über das Ziel hinaus. Das bietet Anlass nach Wegen zu suchen, auf denen zum ausgewogenen Rechtsschutz zurückgefunden werden kann. Um von den Umständen des Einzelfalls zu abstrahieren ist dabei auf eine summarische materielle Rechtsprüfung ohne eindeutigem Ergebnis zu verzichten und die Interessenlage trotz des gesetzgeberischen Prioritätenbildung als offen anzusehen. Zu achten ist dann immer noch darauf, dass die Rollenverteilung des § 80 VwGO gewahrt bleibt. Die Initiative für eine von der gesetzlichen Regel abweichende Entscheidung hat danach von dem auszugehen, der sich auf die Abweichung beruft. Die Ausgewogenheit des Rechtsschutzes wäre eher gewährleistet, wenn dem Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO ein obligatorisches behördliches Aussetzungsverfahren vorgeschaltet wäre. Hierfür spräche der Pauschalverweis in § 80a Abs. 3 VwGO auf § 80 Abs. 6 VwGO. Dabei handelt es sich jedoch um eine eng zu verstehende, nicht analogiefähige Rechtsgrundverweisung.25 Die Annahme einer Rechtsfolgeverweisung26 korrigiert unzulässig die Entscheidung des Gesetzgebers, lediglich eine fiskalische Ausnahmeregelung zu treffen. Analogiefähig ist allerdings der Grundgedanke, dass Rechtsbehelfe einen entsprechenden Antrag des Betroffenen erfordern. Letztlich ist die Ausgestaltung des vorläufigen Rechtsschutzes eine Frage des Rechtsschutzbedürfnisses. Ein Rechtsschutzbedürfnis für unmittelbar gerichtlichen Rechtsschutz besteht nicht, wenn der Gesetzgeber die aufschiebende Wirkung ausgeschlossen hat, aber eine Aussetzung der Vollstreckung in Betracht kommt. Eine Prüfung der Vollstreckungsnotwendigkeit von Amts wegen widerspricht der gesetzgeberischen Gewichtung. Wenn man gleichwohl davon ausgeht, dass die Vollstreckungsbehörde konkret vor der Durchführung von Vollstreckungsmaßnahmen prüfen muss, ob die Voraussetzungen eines sofortigen Vollzugs gegeben sind, entspricht es der prozessualen Risikoverteilung im einstweiligen Rechtsschutzverfahren, dass die Betroffenen sich zunächst an die zur Aussetzung der Vollstreckung befugten Behörden wenden. Eine Prüfpflicht von Amts wegen ist abzulehnen.

25 BWVGH v. 29. 6. 1994; NVwZ 1995, 292; HessVGH, v. 1. 8. 1991, NVwZ 1993, 491 (492). 26 NdsOVG, v.8.7 2004 – NVwZ – RR 2005, 69.

Das gerichtliche „in camera“-Verfahren im Informationsfreiheitsrecht Von Friedrich Schoch, Freiburg i. Br. I. Das Problem: Behördliche Vorlage- und Auskunftspflichten im Verwaltungsprozess 1. Gerichtliche Aufklärung des entscheidungserheblichen Sachverhalts Nach § 99 Abs. 1 S. 1 VwGO sind Behörden im verwaltungsgerichtlichen Verfahren zur Vorlage von Urkunden oder Akten, zur Übermittlung elektronischer Dokumente und zu Auskünften verpflichtet.1 Diese verwaltungsprozessuale Pflicht der Behörden steht im Dienst der umfassenden Aufklärung des entscheidungserheblichen Sachverhalts (§§ 86 Abs. 1, 125 Abs. 1 VwGO) und dient damit dem öffentlichen Interesse an der Wahrheitsfindung.2 Die erschöpfende Ermittlung der Tatsachengrundlage gewährleistet, dass die verwaltungsgerichtliche Entscheidung auf einen zutreffend erkannten Sachverhalt gegründet ist; dies ist vom Rechtsstaatsprinzip gefordert und liegt zugleich in dem durch Art. 19 Abs. 4 GG geschützten Individualinteresse der Prozessparteien.3 Über die Vorlagepflicht gemäß § 99 Abs. 1 S. 1 VwGO entscheidet das Gericht der Hauptsache. Dieses Gericht hat darüber zu befinden, welche Beweismittel zur Aufklärung des Sachverhalts heranzuziehen sind und welche Tatsachen entscheidungserheblich sind oder nicht.4 Konsequenterweise bestimmt auch das Gericht der Hauptsache (und nicht etwa die vorlagepflichtige Behörde) den Umfang der Vorlagepflicht; sie erstreckt sich auf alle Unterlagen, die nach Auffassung des Gerichts der notwendigen Sachverhaltsaufklärung dienlich sein können.5 Ist die Vorlage von Akten selbst Gegenstand des Rechtsstreits, wie dies in Rechtsstreitigkeiten auf dem Gebiet des Informationsfreiheitsrechts (nach IFG, UIG, VIG, BArchG etc.) regelmäßig der Fall ist, beschränkt sich die Pflicht nach § 99 Abs. 1 S. 1 VwGO nicht auf die 1

Parallelvorschriften sind § 86 FGO und (mit Modifizierungen) §§ 119, 120 Abs. 3 SGG. BVerfGE 101, 106 (124); BVerwGE 119, 229 (230); 125, 40 f. Rn. 5; BVerwG, NVwZ 2006, 1423; NVwZ-RR 2008, 706; OVG NW, NVwZ-RR 2005, 749. 3 BVerfGE 84, 34 (49); Schoch, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band III, 2. Aufl. 2013, § 50 Rn. 242. 4 BVerwGE 119, 229 (230); 125, 40 (42 Rn. 8); BVerwG, DVBl 2006, 851 (852). 5 BVerwG, NVwZ-RR 2008, 706 (707 Tz. 28). 2

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Vorlage von Akten, die bei der Behörde vor dem Rechtsstreit aus Anlass des Streits über die Aktenvorlage entstanden sind; umfasst sind vielmehr auch Akten, in die Einsicht zu nehmen die Behörde unter Berufung auf fachgesetzlich normierte Geheimhaltungsgründe abgelehnt hat.6 Damit deutet sich ein Konflikt zwischen Fachrecht und Prozessrecht an. Die Aktenvorlage oder behördliche Auskunftserteilung (etc.)7 im verwaltungsgerichtlichen Verfahren kann die zuständige oberste Aufsichtsbehörde unter den Voraussetzungen des § 99 Abs. 1 S. 2 VwGO verhindern (Sperrerklärung). Ist ein Verfahrensbeteiligter mit der Vorenthaltung der Information nicht einverstanden, kann er – sofern die Voraussetzungen vorliegen8 – die Rechtmäßigkeit der aufsichtsbehördlichen Verweigerung im „in camera“-Verfahren nach § 99 Abs. 2 VwGO überprüfen lassen.9 Die geltende Fassung der Bestimmung geht bekanntlich auf eine verfassungsgerichtliche Entscheidung zurück, die die vormalige bloße behördliche Glaubhaftmachung der Gründe für die Informationsverweigerung (§ 99 Abs. 2 S. 1 a. F.)10 wegen Verstoßes gegen Art. 19 Abs. 4 GG verworfen hat.11 In seiner Grundstruktur ist § 99 VwGO unverändert auf das bipolare Verhältnis zwischen Verfahrensbeteiligten und Staat fixiert und steht vornehmlich im Dienste des Schutzes von „Staatsgeheimnissen“ oder sonstigen öffentlichen Belangen.12 Diese Grundorientierung der Vorschrift ist, wie sich zeigen wird, folgenreich. 2. Systemrationalitäten des Prozessrechts und des Fachrechts bei geheimhaltungsbedürftigen Informationen Die Bedeutung der behördlichen Vorlagepflicht (nebst Grenzen) gemäß § 99 Abs. 1 VwGO und die Funktion des gerichtlichen „in camera“-Verfahrens nach § 99 Abs. 2 VwGO erschließen sich in ihrer Tragweite erst, wenn man sich Klarheit über den Gegenstand des Hauptsachestreits verschafft und diesen in Beziehung setzt zu den Bemühungen des zuständigen Hauptsachegerichts um die möglichst vollständige Aufklärung des Sachverhalts. Im „Normalfall“, auf den § 99 VwGO trifft, geht 6

BVerwGE 130, 236 (239 Rn. 9); BVerwG, NVwZ 2009, 1114 (1115 Tz. 7). Zur Vereinfachung erfolgt nachfolgend eine Beschränkung auf die Vorlage von Akten; für die sonstigen behördlichen Informationspflichten nach § 99 Abs. 1 S. 1 VwGO gilt indessen nichts anderes. 8 Wesentlich ist nach der Rechtsprechung ein Beweisbeschluss des Gerichts der Hauptsache oder eine sonstige förmliche Verlautbarung, es sei denn, die betreffenden Akten sind zweifelsfrei entscheidungserheblich (in der Regel – aber ohne Automatismus – wenn sie selbst Gegenstand des Rechtsstreits sind); BVerwG, NVwZ 2006, 1423; NVwZ 2010, 194 Tz. 2 f.; BVerwGE 136, 345 (348 Rn. 4); BVerwG, NJW 2010, 2295 (2296 Tz. 7); NVwZ 2011, 233 Tz. 10 ff.; NVwZ 2011, 880 Tz. 8; krit. Gärditz/Orth, JuS 2010, 317 (318). 9 Näher zu den Determinanten der gerichtlichen Kontrolle unten II. 10 Dazu sowie zur Entstehungsgeschichte der geltenden Fassung der Bestimmung Rudisile, in: Schoch/Schneider/Bier (Hrsg.), VwGO (Stand: 9/2012), § 99 Rn. 2 ff. 11 BVerfGE 101, 106 (121 ff.); dazu Margedant, NVwZ 2001, 759. 12 Schmidt-Aßmann, FS Schenke, 2011, 1147 (1159 f.). 7

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es um ganz unterschiedliche Streitgegenstände aus den verschiedensten Rechtsgebieten. Zur Tatsachenermittlung benötigt das Gericht Behördenakten (§ 99 Abs. 1 S. 1 VwGO), deren Vorlage jedoch unter Berufung auf geheimhaltungsbedürftige Informationen (teilweise) verweigert werden kann (§ 99 Abs. 1 S. 2 VwGO), so dass – falls eine Sperrerklärung ergeht – in einem Zwischenverfahren vom zuständigen Fachsenat (§ 99 Abs. 2 S. 2 und S. 4 i. V. m. § 189 VwGO) über die Rechtmäßigkeit der behördlichen Informationsverweigerung im verwaltungsgerichtlichen Verfahren entschieden werden muss (§ 99 Abs. 2 S. 1 VwGO). In dieser Grundkonstellation ist das Rechtsschutzziel des Klägers nicht etwa die Akteneinsicht als solche, er klagt vielmehr – wie einige Beispiele zu § 99 VwGO zeigen – gegen eine immissionsschutzrechtliche Genehmigung,13 auf Berichtigung einer Eintragung in seiner Personalakte,14 auf bestimmte Leistungen der Bundeswehr,15 gegen seine ausländerbehördliche Ausweisung,16 gegen die behördliche Feststellung seiner (sicherheitsrechtlichen) Unzuverlässigkeit,17 gegen eine atomrechtliche Genehmigung zur Aufbewahrung von Kernbrennstoffen,18 auf die Erteilung einer Verkehrsfähigkeitsbescheinigung für ein Pflanzenschutzmittel19 oder auf den Widerruf einer atomrechtlichen Betriebsgenehmigung.20 Die Akten, von denen § 99 VwGO handelt, stehen (z. B. in Gestalt von Protokollen, Gutachten, Personalakten) im Dienste der gerichtlichen Sachverhaltsaufklärung; ein „Wert an sich“ kommt ihnen nicht zu. In der jüngeren Vergangenheit sieht sich § 99 VwGO zunehmend mit verwaltungsgerichtlichen Verfahren konfrontiert, in denen es – nach Maßgabe des anwendbaren Fachrechts (IFG, UIG, VIG etc.) – in der Hauptsache um den Informationszugang als solchen21 geht.22 Die der Rechtsprechung entnommenen Praxisbeispiele weisen „in camera“-Rechtsstreitigkeiten zum IFG des Bundes23 oder eines Landes24, 13

BVerwGE 119, 229 = DVBl 2004, 254 = NVwZ 2004, 485. BVerwGE 126, 365 = NJW 2007, 789 = MMR 2007, 171 (m. Anm. Ivo Geis). 15 BVerwG, NVwZ-RR 2008, 706. 16 BVerwG, NJW 2010, 2295. 17 BVerwGE 137, 318 = NVwZ 2010, 1493. 18 BVerwG, NVwZ-RR 2011, 135. 19 OVG NW, NVwZ 2009, 475. 20 OVG SH, NVwZ-RR 2011, 269. 21 Nach den Fachgesetzen geht es (grundsätzlich entsprechend dem Wunsch des Antragstellers) um behördliche Auskunftserteilung, Akteneinsicht oder um die Herausgabe einer amtlichen Information in sonstiger Weise (z. B. Zusendung von Kopien, Information per EMail); vgl. § 1 Abs. 2 IFG, § 3 Abs. 2 UIG, § 6 Abs. 1 S. 1 und 2 VIG. 22 Zur Anwendbarkeit des § 99 VwGO im Informationsfreiheitsrecht BVerwGE 130, 236 (240 Rn. 12). 23 BVerwG, NVwZ 2010, 1495 und NVwZ 2011, 880 (Verweigerung von Akteneinsicht beim Bundesverwaltungsamt unter Hinweis auf den Schutz von behördlichen Entscheidungsprozessen); BVerwG, NVwZ 2012, 112 (Verweigerung von Akteneinsicht durch die 14

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zum UIG25 sowie zum VIG26 und auch zum BArchG27 aus.28 In derartigen Konstellationen besteht häufig eine faktische Kongruenz zwischen dem Streit in der Hauptsache und der Problematik im Zwischenverfahren („in camera“). Kommen im Falle der behördlichen Informationsverweigerung unterschiedliche rechtliche Maßstäbe zur Beurteilung der Rechtmäßigkeit zwischen den Fachgesetzen einerseits und § 99 Abs. 1 S. 2, Abs. 2 S. 1 VwGO andererseits zur Anwendung, sind Friktionen die unabweisbare Folge.29 Nicht minder brisant ist die umgekehrte Fallgestaltung: Werden bestimmte Informationen auf Grund der behördlichen Aktenvorlage (§ 99 Abs. 1 S. 1 VwGO) in den Prozess eingeführt, verschafft das prozessuale Akteneinsichtsrecht (§ 100 Abs. 1 VwGO) den Beteiligten denjenigen Informationszugang, der ihnen materiellrechtlich nach dem einschlägigen Fachgesetz (möglicherweise) nicht zusteht bzw. sogar verschlossen bleiben muss und über den in der Hauptsache ja erst noch zu entscheiden ist.30 Dieser Vorgang ist deshalb besonders heikel, weil „Information“ irreBaFin unter Berufung auf Verschwiegenheitspflichten), dazu Bespr. Schoch, NVwZ 2012, 85 ff. 24 BVerwG, NVwZ 2010, 194 (Ablehnung der Herausgabe von Sitzungsprotokollen der ZVS wegen Vertraulichkeit der Beratungen); BVerwG, DVBl 2011, 501 (Verweigerung der Einsicht in Unterlagen zu Cross-Border-Leasing-Transaktionen einer Stadt unter Berufung auf Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse). 25 BVerwGE 130, 236 (Verweigerung von Informationen zu einem Störfall in einem Kernkraftwerk aus Gründen des Datenschutzes sowie zum Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen des Kraftwerkbetreibers); BVerwG, NVwZ 2009, 1114 (Verweigerung der Einsicht in Akten eines Anlagenbetreibers unter Berufung auf Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse); OVG NW, NVwZ 2009, 794 (Verweigerung einer Auskunft zur Genehmigung für die Freisetzung von gentechnisch verändertem Weizen unter Hinweis auf Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse); OVG RP, NVwZ 2009, 477 (Verweigerung von Ablichtungen aus Behördenakten zu bestimmten Dioxinbelastungen des Bodens unter Verweis auf den Datenschutz sowie Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse). 26 NdsOVG, NVwZ 2010, 198 (Auskunftsverweigerung zur Untersuchung von Lebensmitteln wegen „Wettbewerbsrelevanz“ der Information); OVG NW, ZLR 2009, 643 (m. Anm. Grube/Immel) = NVwZ 2009, 1510 (Herausgabe von Unterlagen zu Chemikalienbestandteilen in Getränke-Kartonverpackungen nur mit Schwärzungen zwecks Wahrung der Betriebsund Geschäftsgeheimnisse); zur Klage eines betroffenen Dritten: BVerwG, NVwZ 2011, 233 (Herausgabe von Datensätzen zu behördlichen Beanstandungen von Fleischprodukten, dagegen Klage unter Berufung auf Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse). 27 BVerwGE 136, 345 (Ablehnung des Zugangs zu Archivunterlagen des BND über „Adolf Eichmann in Argentinien“ wegen noch nicht abgelaufener Schutzfristen nach dem BArchG und Vertraulichkeit der von ausländischen Nachrichtendiensten erlangten Informationen); dazu Bespr. Schnabel, NVwZ 2010, 881 ff. 28 Eine gewisse Verwandtschaft mit den „in camera“-Rechtsstreitigkeiten auf dem Gebiet des Informationsfreiheitsrechts haben Klagen auf behördliche Auskunft zur Speicherung eigener Daten des Klägers (z. B. beim Bundes- und Landesamt für Verfassungsschutz); dazu BVerwG, NVwZ 2010, 706 und BayVBl 2011, 417. 29 Weber, NVwZ 2008, 1284 (1287); Schemmer, DVBl 2011, 323 (329). 30 Schroeter, NVwZ 2011, 457 (458).

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versibel ist.31 Der einmal erfolgte Zugang zu einer bestimmten Information kann im Nachhinein nicht ungeschehen gemacht werden. Was dies praktisch z. B. für Geheimdienstinformationen oder für Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse bedeuten kann, liegt auf der Hand. 3. Gesetzliche Vorkehrungen zum „Geheimnis“schutz Vor diesem Hintergrund ist unmittelbar einsichtig, dass im Konfliktfall gegenüber einem „vorzeitigen“ Informationszugang Vorsorge getroffen werden muss. Aufschlussreich ist insoweit der Vergleich der Strukturen, Mechanismen und Inhalte in den Fachgesetzen des Informationsfreiheitsrechts einerseits und des Verwaltungsprozessrechts andererseits. a) Fachgesetzliche Sicherungen Die Informationsfreiheitsgesetze – exemplarisch: IFG, UIG, VIG – sichern die (vorläufige) Abschottung geheimhaltungsbedürftiger amtlicher Informationen durch materiellrechtliche und durch verfahrensrechtliche Vorkehrungen. Erfasst werden sowohl das bipolare Rechtsverhältnis zwischen Antragsteller und Behörde als auch mehrseitige Konstellationen insbesondere für den Fall, dass die Behörde bei ihr vorhandene Informationen über Dritte gegen deren Willen offenbaren möchte: – Materiellrechtlich ist der Anspruch auf Informationszugang ausgeschlossen zum Schutz bestimmter öffentlicher Belange32 und privater Interessen (Dritter).33 – Verfahrensrechtlich ist bestimmt, dass der Informationszugang (im Falle einer positiven Entscheidung über den Antrag) erst erfolgen darf, wenn die behördliche Entscheidung bestandskräftig ist oder zwei Wochen seit der Bekanntgabe der Anordnung der sofortigen Vollziehung an den Dritten verstrichen sind.34 – Prozessual kann gegen die behördliche Ablehnung des beantragten Informationszugangs (nach erfolglosem Widerspruch) mit der Verpflichtungsklage vorgegangen werden;35 bei positiver Antragsbescheidung räumt das Bestandskrafterfordernis für die (tatsächliche) Informationsgewährung dem Dritten die Möglichkeit des Ergreifens von Rechtsbehelfen ein, bei Anordnung der sofortigen Vollziehung stehen ihm zwei Wochen für einen Eilantrag zur Verfügung.36

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Näher dazu Schoch, AfP 2010, 313 (314 f.). § 3 und § 4 IFG, § 8 UIG, § 3 Satz 1 Nr. 1 VIG. 33 § 5 und § 6 IFG, § 9 UIG, § 3 Satz 1 Nr. 2 VIG. 34 § 8 Abs. 2 S. 2 IFG, § 4 Abs. 3 S. 3 VIG; anders insoweit das UIG. 35 § 9 Abs. 4 IFG, § 6 Abs. 1 und 2 UIG, § 5 Abs. 5 VIG i. V. m. § 42 Abs. 1 VwGO. 36 Näher dazu Schoch, IFG, 2009, § 8 Rn. 54 ff. 32

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Das Fachrecht schafft demnach Mechanismen, die in ihrem Zusammenwirken die Offenbarung möglicherweise geheimhaltungsbedürftiger amtlicher Informationen „zur Unzeit“ zu verhindern wissen. Die dazu gesetzlich geschaffenen Elemente sind rechtsstaatlich geprägt und – beim Schutz Dritter – im Sinne eines wirksamen Grundrechtsschutzes ausgeformt.37 b) Verwaltungsprozessuale Sicherungen Ein probates Mittel zum Schutz geheimhaltungsbedürftiger amtlicher Informationen während eines laufenden gerichtlichen Verfahrens ist die fachgesetzliche Integration gerichtlicher „in camera“-Befugnisse im Rahmen behördlicher Vorlageund Auskunftspflichten bzw. der Akteneinsichtsrechte Verfahrensbeteiligter. Dazu bietet die Rechtsordnung bemerkenswerte Beispiele.38 Die Informationsfreiheitsgesetze kennen ein derartiges Regelungskonzept nicht. Der an sich durch § 100 Abs. 1 VwGO ermöglichte Informationszugang während eines Gerichtsverfahrens muss folglich durch andere Sicherungsmechanismen ausgeschlossen werden (können): – Der zuständigen obersten Aufsichtsbehörde (und nicht etwa der materiellrechtlich an sich informationspflichtigen Behörde)39 ist die Befugnis zur Informationsverweigerung eingeräumt (§ 99 Abs. 1 S. 2 VwGO). – Das unter den Voraussetzungen des § 99 Abs. 2 VwGO stattfindende Zwischenverfahren kommt auch dann zur Anwendung, wenn die Vorlage der Akten selbst Gegenstand des Rechtsstreits ist.40 – Entgegen dem Wortlaut des § 99 Abs. 2 S. 1 VwGO findet das Zwischenverfahren – zwecks Erfassung mehrseitiger Rechtsverhältnisse – nicht nur im Falle der aufsichtsbehördlichen Informationsverweigerung statt, sondern auch bei der behördlichen Bereitschaft zur Preisgabe der begehrten Information.41 Die VwGO-Strukturen zum Schutz geheimhaltungsbedürftiger amtlicher Informationen sind demnach signifikant andere als die Vorkehrungen im Informationsfreiheitsrecht. Damit stellt sich die Frage, ob und wie die beiden Teil-Systeme aufeinander abgestimmt sind.

37 Hinzu tritt die Verfahrensbeteiligung Dritter, falls ihre Belange durch den Antrag auf Informationszugang berührt sind (§ 8 Abs. 1 IFG, § 9 Abs. 1 S. 3 UIG, § 5 Abs. 1 VIG); zu den inhaltlichen Anforderungen instruktiv HessVGH, NVwZ 2009, 60. 38 Vgl. etwa § 138 TKG, § 84 EnWG, § 72 GWB, § 31 StUG; näher zu derartigen Zwischenverfahren Schmidt-Aßmann (Fußn. 12), S. 1151 ff., 1153 ff. 39 Näher zur Zuständigkeitsregelung Rudisile (Fn. 10), § 99 Rn. 28, 29. 40 BVerwGE 130, 236 (240 Rn. 11 und 12); OVG NW, DVBl 2008, 1324 (1325); NVwZ 2009, 1510 (1511); Gurlit, Die Verwaltung 44 (2011), 75 (101). 41 BVerwGE 118, 350 f.; BVerwG, NVwZ 2004, 105; BVerwGE 125, 40; BVerwG, NVwZ-RR 2008, 706 Tz. 11; NVwZ 2011, 233 Tz. 8; NdsOVG, NVwZ 2010, 199; OVG NW, NVwZ 2009, 1510.

Gerichtliches „in camera“-Verfahren im Informationsfreiheitsrecht

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II. Gerichtliche Kontrolle behördlicher Entscheidungen im „in camera“-Verfahren 1. Allgemeine Determinanten § 99 VwGO ist an keiner Stelle speziell auf das Informationsfreiheitsrecht zugeschnitten. Dieses gerät gleichsam „zufällig“ neben den üblichen Fallgestaltungen, in denen es aus Beweisgründen um die Vorlage von Behördenakten geht,42 in den Anwendungsbereich der Vorschrift. Folglich gelten die allgemeinen Regelungen auch dann, wenn die Aktenvorlage als solche Gegenstand des (Hauptsache-)Rechtsstreits ist: – Nicht das zuständige Gericht der Hauptsache entscheidet über die Geheimhaltungsbedürftigkeit der Unterlagen, sondern der Fachsenat beim OVG oder BVerwG (§ 99 Abs. 2 S. 2 und S. 4 i. V. m. § 189 VwGO).43 – Das Akteneinsichtsrecht nach § 100 VwGO ist im Zwischenverfahren ausgeschlossen (§ 99 Abs. 2 S. 9 VwGO); außerdem bestehen Verschwiegenheitspflichten (§ 99 Abs. 2 S. 10 und S. 11 VwGO). – Der Fachsenat entscheidet auf Grund einer Durchsicht der ihm vorgelegten Akten (§ 99 Abs. 2 S. 5 VwGO) über die behördliche Berechtigung zur Vorlageverweigerung bzw. Preisgabe der Information;44 Kontrollmaßstab des Gerichts (§ 99 Abs. 2 S. 1 VwGO) ist der Handlungsmaßstab der zuständigen obersten Aufsichtsbehörde (§ 99 Abs. 1 S. 2 VwGO).45 Der äußere Rahmen, den § 99 VwGO setzt, besagt noch nichts zur interpretatorischen Ausfüllung der rechtsnormativen Vorgaben für die Informationsverweigerung bzw. Offenlegung der begehrten Information. Die Frage lautet, ob es gelingen kann, durch eine systematisch geleitete Gesetzesauslegung die angedeuteten Friktionen mit dem Informationsfreiheitsrecht zu vermeiden.

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Vgl. allg. oben I. 1.; Rechtsprechungsbeispiele oben I. 2. Mehrfach ist in der Judikatur betont worden, dass (anders als z. B. § 138 TKG) ein „in camera“-Verfahren beim Gericht der Hauptsache nach § 99 VwGO unzulässig ist; BVerwG, K&R 2004, 95 (97); NVwZ 2004, 105 (106) und 745 (746); BVerwGE 118, 352 (356); verfassungsrechtlich bestätigt durch BVerfGE 115, 205 (240). 44 BVerwGE 117, 8 (9); BVerwG, NVwZ 2003, 347 (348); DVBl 2006, 851 (853); BVerwGE 130, 236 (249 ff.); BVerwG, NVwZ 2010, 706 (707 Tz. 6 f.); NVwZ 2010, 1493 (1495 Tz. 14); BayVBl 2011, 417 (418 Tz. 9); NVwZ 2011, 880 (881 f. Tz. 13 ff.). 45 § 99 Abs. 1 S. 2 VwGO fungiert als Rechtsgrundlage für die Informationsverweigerung und ist damit Handlungsmaßstab der Verwaltung sowie Kontrollmaßstab des Fachsenats; vgl. BVerwGE 117, 8; BVerwG, NVwZ 2003, 347 (348). 43

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2. Determinanten zur behördlichen Verweigerung der Aktenvorlage § 99 Abs. 1 S. 2 VwGO ist im Sinne eines konditional strukturierten Rechtssatzes mit Tatbestandsvoraussetzungen und Rechtsfolgeermessen aufgebaut: Wenn eine der drei Tatbestandsalternativen erfüllt ist, kann die Aufsichtsbehörde dem Gericht der Hauptsache die an sich nach § 99 Abs. 1 S. 1 VwGO zu übermittelnde Information verweigern. Tatbestandlich sind auslegungs- und konkretisierungsbedürftige Rechtsbegriffe (Wohl des Bundes oder eines Landes, gesetzliche Vorgaben zur Geheimhaltung, dem Wesen nach geheimhaltungsbedürftige Informationen) normiert; die Rechtsfolgenseite der Bestimmung verlangt für die gerichtliche Kontrolle die Festlegung von Zweck und Grenzen des Ermessens (§ 40 VwVfG, § 114 Satz 1 VwGO). Die Rechtsprechung qualifiziert § 99 Abs. 1 S. 2 VwGO im Verhältnis zum Fachrecht als prozessrechtliche Spezialnorm, die der Bund auf Grund seiner Gesetzgebungskompetenz für das gerichtliche Verfahrensrecht (Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG) habe erlassen dürfen. Zunächst wurde diese Verhältnisbestimmung auf das aufsichtsbehördliche Ermessen bezogen;46 später ist diese Doktrin verallgemeinert worden.47 Diese Festlegung ist für das „in camera“-Verfahren auf dem Gebiet des Informationsfreiheitsrechts folgenreich. a) Tatbestand: gesetzlich angeordnete Geheimhaltung Im vorliegenden Zusammenhang ist die zweite Tatbestandsalternative des § 99 Abs. 1 S. 2 VwGO von Interesse. Danach liegt ein Geheimhaltungsgrund vor, wenn Informationen nach einem Gesetz geheim gehalten werden müssen. Die h. M. wird nicht müde zu betonen, dass sich die Geheimhaltungsgründe des § 99 Abs. 1 S. 2 VwGO und des Fachrechts unterscheiden (können).48 Diese „Trennungstheorie“ mit der dogmatischen Ausblendung der Fachgesetze führt zu der Annahme, dass die zweite Fallgruppe des § 99 Abs. 1 S. 2 VwGO in der Praxis „nur relativ selten vorkommt“.49 Konsequenterweise wird der fachgesetzlich vielfach normierte Schutz personenbezogener Daten über die dritte Alternative rezipiert, da derartige Informationen nach ihrem „Wesen“ geheim zu halten seien;50 dasselbe gilt für den Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen.51 46

BVerwG, NVwZ 2005, 334 (335); DVBl 2006, 1245 (1246 Tz. 6); OVG NW, NVwZ 2009, 475 (476); ebenso Mühlbauer, DVBl 2009, 354 (358); Geiger, in: Eyermann, VwGO, 13. Aufl. 2010, § 99 Rn. 25; Posser, in: ders./Wolff, VwGO, 2008, § 99 Rn. 27. 47 BVerwG, BayVBl 2011, 417 (418 Tz. 4); ebenso Lang, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 3. Aufl. 2010, § 99 Rn. 20; krit. Gurlit, Die Verwaltung 44 (2011), 75 (101 f.). 48 BVerwGE 130, 236 (243 Rn. 19); BVerwG, NVwZ 2010, 706 Tz. 4; NVwZ 2010, 905 (908 Tz. 24); NVwZ 2010, 1495 (1498 Tz. 20); OVG RP, NVwZ 2009, 477 (478). 49 So Posser (Fußn. 46), § 99 Rn. 21; ähnlich Rudisile (Fußn. 10), § 99 Rn. 17. 50 So z. B. BVerwG, NVwZ 2010, 1493 (1494 Tz. 9); NVwZ 2011, 880 (881 Tz. 12); OVG NW, DVBl 2010, 1517.

Gerichtliches „in camera“-Verfahren im Informationsfreiheitsrecht

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In seiner jüngsten Rechtsprechung behauptet das BVerwG, ob ein gesetzlich geschütztes Geheimnis i. S. d. § 99 Abs. 1 S. 2 VwGO vorliege, beurteile sich nicht nach den einschlägigen fachgesetzlichen Vorgaben; da es um den Schutz besonders sensibler Grundrechtsbereiche gehe, erfasse § 99 Abs. 1 S. 2 VwGO mit der zweiten Fallgruppe nur „grundrechtlich geschützte Lebensbereiche von hoher Bedeutung“ wie z. B. das Post- und Fernmeldegeheimnis, das Sozialgeheimnis und das Steuergeheimnis.52 Sonstige Grundrechte und gesetzliche Geheimhaltungsvorschriften werden danach tatbestandlich ausgesondert. Die aktuelle Rechtsprechung erklärt nicht, warum „Gesetz“ nicht „Gesetz“ meint und warum zum Grundrechtsschutz zwischen „besonders sensiblen“ und weniger sensiblen Grundrechtsbereichen schon auf der Tatbestandsseite des § 99 Abs. 1 S. 2 VwGO unterschieden werden soll; keine der richterlichen Behauptungen findet im Gesetz einen Anhaltspunkt.53 Die h. M. verdient aber auch unabhängig von der jüngsten Zuspitzung der „Trennungstheorie“ keine Zustimmung. Wenn der Gesetzeswortlaut einen Sinn haben soll, ist § 99 Abs. 1 S. 2 VwGO (2. Fallgruppe) als Rezeptionsnorm in Bezug auf fachgesetzliche Geheimhaltungsvorschriften zu verstehen. Würde die fortschreitende Normierung auf dem Gebiet des Informationsfreiheitsrechts hinreichend zur Kenntnis genommen, ergäbe sich beinahe zwangsläufig, dass die Versagungstatbestände der Informationsfreiheitsgesetze bei Streitigkeiten über den Informationszugang im Rahmen des § 99 Abs.1 S. 2 VwGO tatbestandlich als „Gesetze“ zur Geheimhaltung anzusehen sind.54 Nicht anders verfährt die Rechtsprechung auf anderen Gebieten.55 Der erwähnte „lex specialis“-Satz der h. M. muss demnach umgedreht werden: Die Versagungstatbestände der Informationsfreiheitsgesetze sind leges speciales und normieren bereichsspezifisch, welche amtlichen Informationen tatbestandlich der Geheimhaltung unterliegen. Es ist nicht erkennbar, wie der Bund als Prozessrechtsgesetzgeber eine Kompetenz zur Normierung materieller Geheimhaltungstatbestände (zumal des Landesrechts) haben sollte.56

51

BVerwGE 127, 282 (284 Rn. 3); BVerwG, DVBl 2011, 501 (503). BVerwG, NVwZ 2012, 112 (113 Tz. 12), unter Hinzufügung des richterlichen Beratungsgeheimnisses. 53 Näher zur Kritik Schoch, NVwZ 2012, 85 (86, 87). 54 Ebenso die sich abzeichnende h. L.: Weber, NVwZ 2008, 1284 (1287); Mühlbauer, DVBl 2009, 354 (357, 360); Gärditz/Orth, JuS 2010, 317 (321); Schemmer, DVBl 2011, 323 (329); Schroeter, NVwZ 2011, 457 (460). 55 Vgl. etwa zur Rezeption des § 96 StPO BVerwGE 117, 8; BVerwG, NVwZ 2003, 347 (348). 56 Zur kompetenzrechtlichen Kritik bereits Schoch, NJW 2009, 2987 (2993); ders., VBlBW 2010, 333 (342). 52

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b) Rechtsfolge: Ermessensdirektiven Die sog. Sperrerklärung beruht ausweislich des Wortlauts des § 99 Abs. 1 S. 2 VwGO auf einer aufsichtsbehördlichen Ermessensentscheidung; gegeneinander abzuwägen sind nach der Rechtsprechung die im Widerstreit stehenden Interessen an der Offenlegung der Unterlagen einerseits und der Wahrung der Geheimhaltung der betreffenden Information andererseits.57 Diese Ermessensentscheidung ist prozessrechtlich auch dann gefordert, wenn nach fachgesetzlichen Vorgaben eine bestimmte Information geheim gehalten werden muss.58 Zu rechtfertigen ist diese rechtsdogmatische Diskrepanz gegenüber dem Fachrecht mit der Funktion des Ermessens gemäß § 99 Abs. 1 S. 2 VwGO: Der obersten Aufsichtsbehörde wird die Befugnis eingeräumt, dem öffentlichen Interesse und dem individuellen Interesse Prozessbeteiligter an der Wahrheitsfindung den Vorrang vor dem öffentlichen oder privaten Interesse an der Geheimhaltung der Unterlagen zu geben.59 Diese auf einen gewissen Holismus hindeutende Formel vermag indes die Schwierigkeiten einer Abwägung ohne handhabbare Kriterien kaum zu verbergen.60 Wenn das BVerwG davon spricht, der Fachsenat habe zu überprüfen, ob die behördliche Entscheidung den an die Ermessensausübung gemäß § 99 Abs. 1 S. 2 VwGO gestellten Anforderungen genüge,61 müssen diese „Anforderungen“ bekannt sein. Da das Gesetz schweigt, hat die Judikatur einen Katalog mit drei Elementen entwickelt:62 – Das private Interesse an effektivem Rechtsschutz zielt auf die Durchsetzung des Klaganspruchs. – Das gegenläufige – je nach Fallgestaltung – öffentliche oder private Interesse steht im Dienste des Geheimnisschutzes. – Das öffentliche Interesse an der von Amts wegen gebotenen Sachverhaltsaufklärung dient der Wahrheitsfindung. Ob mit dieser Trias auf dem Gebiet des Informationsfreiheitsrechts substantiell viel gewonnen ist, stehe dahin. Aufschlussreicher ist die Erkenntnis, dass die Recht57 BVerwGE 117, 8 (9 f.); 118, 350 (351); BVerwG, NVwZ 2004, 105; DVBl 2006, 1245; NVwZ 2010, 1493 (1495 Tz. 17); DVBl 2011, 501 (503); OVG NW, NVwZ 2009, 475 (476); NVwZ-RR 2011, 965 (966). 58 BVerwG, NVwZ 2005, 334 (335); BVerwGE 125, 40 (41 Tz. 7); BVerwG, DVBl 2006, 1245 Tz. 4; BVerwG, NJW 2010, 2295 (2297 Tz. 12); NVwZ 2010, 1495 (1498 Tz. 20); NVwZ-RR 2011, 135 (136 Tz. 13); NVwZ 2012, 112 (115 Tz. 23). 59 BVerwGE 130, 236 (242 f. Tz. 18); BVerwG, NJW 2010, 2295 (2297 Tz. 12); NVwZ 2010, 1495 (1498 Tz. 20); NVwZ 2011, 880 (883 Tz. 22). 60 BVerfGE 115, 205 (236) bemerkt, der Gesetzgeber verlange eine Abwägungsentscheidung, ohne dafür Kriterien vorzugeben. 61 BVerwGE 130, 236 (242 Rn. 17). 62 Vgl. BVerwGE 130, 236 (243 Rn. 19); BVerwG, NVwZ 2010, 706 Tz. 4; NJW 2010, 2295 (2297 Tz. 12).

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sprechung auch auf der Rechtsfolgenseite des § 99 Abs. 1 S. 2 VwGO die „Trennungstheorie“ propagiert: Rechtlich biete das im Hauptsacheverfahren maßgebliche Fachrecht keine Determinanten; das Prüfprogramm für die Ermessensentscheidung nach § 99 Abs. 1 S. 2 VwGO könne sich allenfalls faktisch den fachgesetzlichen Vorgaben der Hauptsache annähern.63 Mitunter wird von einer „Orientierung“ an fachgesetzlichen Geheimhaltungsgründen gesprochen.64 Auf der anderen Seite bietet die Praxis aber auch Beispiele, bei denen der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG entscheidende Bedeutung oder sogar Vorrang im Rahmen der Ermessensentscheidung eingeräumt wird.65 Die behördliche Ausübung von Ermessen (§ 40 VwVfG) und die gerichtliche Kontrolle (§ 114 Satz 1 VwGO) sind rechtlich determiniert. Für die Sperrerklärung (§ 99 Abs. 1 S. 2 VwGO) und deren Überprüfung im „in camera“-Verfahren (§ 99 Abs. 2 S. 1 VwGO) liegt es daher nahe, die maßgeblichen normativen Wertungen dem im Hauptsacheverfahren maßgeblichen Informationsfreiheitsgesetz zu entnehmen.66 Der Hinweis auf Art. 19 Abs. 4 GG hilft in diesem Zusammenhang nicht weiter. Diese Verfassungsbestimmung gewährt selbst keine subjektiven Rechte, sondern setzt sie voraus (und sichert ihre gerichtliche Durchsetzbarkeit). Wenn aber das einschlägige Informationsfreiheitsrecht im konkreten Fall einen Anspruch des Klägers (Antragstellers) wegen eines Geheimhaltungstatbestands nicht kennt oder ein Recht, vor Bestandskraft der stattgebenden Verwaltungsentscheidung an die begehrte Information zu gelangen, nicht vorsieht, ist der Rekurs auf Art. 19 Abs. 4 GG unbehelflich, da ohne juristische Substanz.67 Ist das Ermessen gemäß § 99 Abs. 1 S. 2 VwGO demnach durch die Versagungstatbestände des Informationsfreiheitsrechts determiniert, kann von einem durch das Fachrecht „intendierten Ermessen“ gesprochen werden. Daneben besteht nur eine Art prozessuale „Ermessensreserve“, die sich aus dem spezifischen Verhältnis zwischen der obersten Aufsichtsbehörde und dem Gericht der Hauptsache erklärt.68 Wenn die Rechtsprechung meint, die Aufsichtsbehörde müsse bei ihrer Ermessens63

BVerwGE 130, 236 (247 Rn. 27); BVerwG, NVwZ 2009, 1114 (1115 f. Tz. 9); DVBl 2011, 501 (503); OVG RP, NVwZ 2009, 477 (478). 64 BVerwG, NVwZ 2010, 1495 (1498 Tz. 17); NVwZ 2012, 112 (113 Tz. 11). 65 Signifikant die Entscheidungen des BVerwG vom 15. 8. 2003: E 118, 352 (357 ff.); K&R 2004, 95 (97 f.); NVwZ 2004, 105 (107); NVwZ 2004, 745 (746 f.); diese Judikatur wurde gestoppt von BVerfGE 115, 205 (236 ff.). 66 So die Rechtsprechung des OVG NW, DVBl 2008, 1324 (1325 ff.); NVwZ 2009, 794; NVwZ 2009, 1510 (1511); NVwZ-RR 2011, 965 (966 f.); ebenso Weber, NVwZ 2008, 1284 (1287); Gärditz/Orth, JuS 2010, 317 (321); Schemmer, DVBl 2011, 323 (329 f.). – Ausdrücklich a. A. OVG RP, NVwZ 2009, 477 (478); rigide (und wenig überzeugend) BVerwG, DVBl 2006, 1245 (1246 Tz. 7 f.); anders, d. h. Rezeption des Fachrechts (§ 72 Abs. 2 S. 4 GWB) BVerwG, K&R 2004, 95 (99). 67 Wustmann, ZLR 2009, 161 (174); Schemmer, DVBl 2011, 323 (329); Kopp/Schenke, VwGO, 18. Aufl. 2012, § 99 Rn. 3. 68 In diesem Sinne wohl BVerwGE 130, 236 (243 Rn. 18); BVerwG, NVwZ 2009, 1114 (1115 Tz. 7); NJW 2010, 2295 (2297 Tz. 12).

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ausübung die rechtsschutzverkürzende Wirkung der Verweigerung der Aktenvorlage für den Betroffenen in den Blick nehmen,69 ist diese Formulierung zumindest missverständlich: Ob im Informationsfreiheitsrecht ein „Recht“ des Klägers (Antragstellers) besteht, ist gerade die zu klärende Frage; zudem gibt es im mehrseitigen Rechtsverhältnis nicht nur einen (potentiell) „Betroffenen“, so dass die Rede von der „Rechtsschutzverkürzung“ ambivalent ist. Die Nichtvorlage von Unterlagen ist in Wahrheit in erster Linie ein Problem der Sachverhaltsaufklärung.70 Die hier vorgeschlagene Harmonisierung der Rechtsfolgenseite des § 99 Abs. 1 S. 2 VwGO (und damit auch des Rechtmäßigkeitsmaßstabs gemäß § 99 Abs. 2 S. 1 VwGO) mit den Wertungen des Informationsfreiheitsrechts vermeidet die ansonsten auftretenden Friktionen zwischen dem Prozessrecht und dem Fachrecht; dennoch wird das – lediglich „intendierte“ – Ermessen nicht funktionslos: – Die Vor-Wertungen des Fachrechts mit seinen „Muss“-, „Soll“- und „Kann“-Verweigerungsgründen71 können angemessen rezipiert und verarbeitet werden. – Im Einzelfall können ausnahmsweise auch zwingende Versagungsgründe des Fachrechts (z. B. Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse, § 6 Satz 2 IFG) überwunden werden, wenn ihnen kein erhebliches Gewicht zukommt.72 – Ist im mehrseitigen Rechtsverhältnis der Informationszugang erst nach Bestandskraft der Verwaltungsentscheidung vorgesehen,73 kann auch diese fachgesetzliche Wertung im Rahmen des prozessualen Ermessens berücksichtigt werden.74 Die Redeweise von der nur „faktischen“ Annäherung des § 99 VwGO an das Fachrecht (h. M.) sollte aufgegeben und stattdessen offen propagiert werden, dass es bei der Anwendung des § 99 VwGO auf informationsrechtliche Streitigkeiten um die Ausübung eines fachgesetzlich „intendierten“ Ermessens geht. Für eine systematisch geleitete Rechtsfindung macht die Trennungstheorie wenig Sinn, weil über den „Umweg“ des § 99 VwGO mittels „frei schwebender“ Abwägung strikte fachgesetzliche Geheimhaltungsvorschriften unterlaufen werden können75 und anschließend das prozessuale Akteneinsichtsrecht nach § 100 VwGO den eigentlichen Streitgegenstand zur Erledigung führt.76

69 BVerwGE 130, 236 (243 Rn. 19); BVerwG, NVwZ 2009, 1114 (1115 Tz. 8); NJW 2010, 2295 (2297 Tz. 12); NVwZ 2011, 880 (883 Tz. 22). 70 Diese Einsicht deckt sich mit der Funktion des nach § 99 Abs. 1 S. 2 VwGO bestehenden Ermessens, s. o. Text zu Rn. 59; vgl. auch unten Text zu Fußn. 80. 71 Näher dazu Schoch, IFG, Vorb §§ 3 bis 6 Rn. 37 ff. 72 Vgl. BVerfGE 115, 205 (240). 73 Vgl. oben Text zu Fußn. 34. 74 Wustmann, ZLR 2009, 161 (162); Grube/Immel, ZLR 2009, 649 (654). 75 Grube/Immel, ZLR 2009, 649 (650). 76 Gurlit, Die Verwaltung 44 (2011), 75 (101) – Vgl. ferner unten Text zu Fußn. 82.

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III. Folgen der Entscheidung im „in camera“-Verfahren Die Notwendigkeit einer „Kurskorrektur“ der h. M. zeigt auch ein Blick auf die Folgen der Entscheidung des Fachsenats im „in camera“-Verfahren. Das BVerwG betont die Bindungswirkung der im Zwischenverfahren nach § 99 Abs. 2 VwGO getroffenen Entscheidung für das Hauptsacheverfahren; dem Gericht der Hauptsache sei eine eigenständige – gegebenenfalls abweichende – Bewertung der Geheimnisschutzbelange und deren Abwägung mit dem Rechtsschutzinteresse des Betroffenen verwehrt.77 Dazu muss gesehen werden, dass im System des § 99 Abs. 1 S. 2, Abs. 2 S. 1 VwGO immer nur eine „entweder-oder-Entscheidung“ getroffen werden kann, was in mehrpoligen Rechtsverhältnissen besonders misslich ist. Mit den Worten des BVerfG: „Die Entscheidung ergeht immer nur entweder zu Lasten des effektiven Rechtsschutzes oder zu Lasten des Geheimhaltungsinteresses.“78 Das ist zutreffend aber unvollständig: Effekt der Entscheidung kann auch eine lückenhafte Sachverhaltsaufklärung sein, so dass nach Beweislastgrundsätzen entschieden werden muss.79 In der Sache stellen sich die beiden Alternativen zur Bindungswirkung der Entscheidung im Zwischenverfahren für das Hauptsacheverfahren wie folgt dar: (1) Bestätigt der Fachsenat die Rechtmäßigkeit der aufsichtsbehördlichen Informationsverweigerung, kann das Urteil des Gerichts der Hauptsache auf die vorenthaltenen Unterlagen nicht gestützt werden (vgl. § 108 Abs. 2 VwGO), im Zweifel ist nach den Grundsätzen der materiellen Beweislast zu entscheiden;80 faktisch wird das Ergebnis des „in camera“-Verfahrens den Ausgang des Hauptsacherechtsstreits in vielen Fällen vorwegnehmen, da eine Verpflichtungsklage auf Informationszugang an einem Verweigerungsgrund scheitern wird.81 (2) Erklärt der Fachsenat die Rechtswidrigkeit der Sperrerklärung und entscheidet damit zu Gunsten der Aktenvorlage, wird der im Hauptsacheverfahren in Streit stehende Anspruch faktisch erfüllt, weil mit der Vorlage der Akten an das Gericht der Hauptsache das Recht der Verfahrensbeteiligten auf Akteneinsicht entsteht (§ 100 VwGO);82 doch dies, so die Rechtsprechung, habe der Gesetzgeber 77

BVerwGE 126, 365 (373 f. Rn. 29 und Rn. 30). BVerfGE 115, 205 (235) mit dem Hinweis, dies genüge den Anforderungen an die Herstellung praktischer Konkordanz nur, „wenn die mit der Rechtsanwendung betrauten Organe … die Möglichkeit haben, zu einer der Verfassung entsprechenden Zuordnung der kollidierenden Rechtsgüter zu kommen.“ – Deutlich(er) zu der Problematik OVG NW, NVwZ 2009, 475 (477). 79 Vgl. dazu Nachw. in Fußn. 80. 80 BVerwG, K&R 2004, 95 (97); NVwZ 2004, 105 (107); NVwZ 2004, 745 (746); BVerwGE 126, 365 (370 ff. Rn. 22 ff.) unter Betonung der Konsequenzen für den Kläger. 81 Wustmann, ZLR 2009, 161 (171); Mühlbauer, DVBl 2009, 354 (360); Schroeter, NVwZ 2011, 457 (459). 82 BVerwGE 130, 236 (240 f. Rn. 12); Wustmann, ZLR 2009, 161 (171); Gurlit, Die Verwaltung 44 (2011), 75 (102); Schroeter, NVwZ 2011, 457 (459); differenzierend Mühlbauer, 78

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„als unvermeidbare Folge des Verfahrens nach § 99 Abs. 2 VwGO in Kauf genommen“.83 Die Ergebnisse in beiden Varianten sind wenig befriedigend. Unrichtig ist bei der Alternative (2) die „Unvermeidbarkeitsthese“; diese Folgen sind nicht vom Gesetzgeber veranlasst, sondern von der Rechtsprechung selbst auf Grund ihrer Trennungstheorie verursacht.84 Unabhängig davon drängt sich angesichts der tatsächlichen (weitgehenden) Verlagerung der Entscheidung über den Informationszugang in das Zwischenverfahren die Frage auf, ob in der Sache wirklich der „gesetzliche Richter“ (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG) entscheidet.85 IV. Strukturelle Defizite des „in camera“-Verfahrens nach § 99 VwGO im Informationsfreiheitsrecht Der Zwischenbefund leitet über zu der Frage nach den strukturellen Bedingungen des „in camera“-Verfahrens im Informationsfreiheitsrecht. Die (begrenzte) Leistungsfähigkeit des bestehenden Systems ist mit tragfähigen Alternativen zu konfrontieren. 1. Problem: Herstellung praktischer Konkordanz In seiner Entscheidung zur früheren Fassung des § 99 VwGO hat das BVerfG für das bipolare Rechtsverhältnis zwischen Bürger und Staat aus der Perspektive des Art. 19 Abs. 4 GG eine gesetzliche Regelung gefordert, die den legitimen Geheimhaltungsbedürfnissen Rechnung trägt, ohne den Anspruch auf effektiven Rechtsschutz unangemessen zu verkürzen.86 Schon darin kommt das verfassungsrechtliche Postulat zum Ausdruck, konfligierende Interessen einem schonenden Ausgleich zuzuführen. In seinem Beschluss zur geltenden Fassung des § 99 VwGO musste das Gericht die Konfliktlage im mehrpoligen Rechtsverhältnis analysieren und feststellen, dass „die für bipolare Konfliktlagen entwickelten Regeln zur abwägenden Prüfung der Verhältnismäßigkeit eines Eingriffs nicht ohne Anpassung an die Besonderheiten der Mehrpoligkeit“ angewendet werden könnten; die Rechtsanwendung DVBl 2009, 354 (360), da bei behebbaren Ermessensfehlern gemäß § 99 Abs. 1 S. 2 VwGO noch eine ermessensfehlerfreie Sperrerklärung möglich sei. 83 BVerwGE 130, 236 (241 Rn. 12); bekräftigend BVerwG, NVwZ 2010, 1495 (1499 Tz. 21); NVwZ 2011, 880 (883 Tz. 23); NVwZ 2012, 112 (115 Tz. 23). 84 Vgl. zur Kritik Schoch, NVwZ 2012, 85 (87). 85 Formaljuristisch lässt sich argumentieren, dass Zuständigkeit und Entscheidungsbefugnis des Fachsenats durch ein Parlamentsgesetz geregelt sind, so dass Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG Genüge getan ist; Schroeter, NVwZ 2011, 457 (459). Materiell entscheidet jedoch nach den im Text aufgezeigten Varianten vielfach nicht das Gericht der Hauptsache auf Grund des spezielle(re)n Fachgesetzes (IFG etc.), weil die Entscheidung des an sich zuständigen Gerichts durch das Ergebnis des Zwischenverfahrens präjudiziert ist; Schoch, NJW 2009, 2987 (2993); Schemmer, DVBl 2011, 323 (327). 86 BVerfGE 101, 106 (128).

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müsse „zur Herstellung praktischer Konkordanz im konkreten Streitfall führen“.87 Kurze Zeit später hat das BVerwG die Verfassungsmäßigkeit des § 99 VwGO ausdrücklich bejaht; insbesondere sei nicht zu beanstanden, dass nach § 99 Abs. 2 VwGO die erforderliche Abwägung zwischen dem Rechtsschutzinteresse des Betroffenen und dem öffentlichen Interesse an der Wahrheitsfindung im Prozess auf der einen und den öffentlichen Geheimnisschutzbelangen auf der anderen Seite nicht in dem Rechtsschutzverfahren selbst, sondern abschließend in einem gesonderten Zwischenverfahren erfolge.88 Eine höchstrichterliche Antwort auf die verfassungsrechtlich geforderte Leistungsfähigkeit des Zwischenverfahrens bei der Rechtsanwendung auf dem Gebiet des Informationsfreiheitsrechts und in mehrseitigen Rechtsverhältnissen steht aus. Die strukturellen Defizite bei der Anwendung des § 99 VwGO sind indes bekannt:89 – Wird im „in camera“-Verfahren die Rechtmäßigkeit der Sperrerklärung bestätigt, muss wegen der Vorgaben des § 108 Abs. 2 VwGO nach Beweislastregeln entschieden werden, obwohl Beweismittel und weiterer Tatsachenstoff vorhanden sind. – Die Alternativität zwischen der Nichtberücksichtigung geheimhaltungsbedürftigen Tatsachenstoffs und der Berücksichtigung nur bei fehlendem Geheimhaltungsbedarf sperrt in multipolaren Konfliktlagen bei kollidierenden Grundrechten die Herstellung praktischer Konkordanz. – Infolge dieser strukturellen Unzulänglichkeit ist es den Fachgerichten verwehrt, bei der Rechtsanwendung sowohl dem effektiven Rechtsschutz als auch den Geheimhaltungsbelangen angemessen Rechnung zu tragen. Auf Grund dieser strukturellen Defizite wird § 99 Abs. 2 VwGO jedenfalls hinsichtlich der Begrenzung auf ein „in camera“ geführtes Zwischenverfahren in multipolaren Konstellationen für verfassungswidrig erachtet, weil die verfassungsrechtlich gebotene Zuordnung der konfligierenden Rechtsgüter im Sinne praktischer Konkordanz gesetzlich ausgeschlossen sei.90 Schon diese Zuspitzung wirft (unabhängig davon, ob ihr zu folgen ist) die Frage nach Alternativen auf.

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BVerfGE 115, 205 (233 und 234). BVerwGE 126, 365 (373 Rn. 29). 89 Ausführlicher zu der im Text nachfolgenden Skizze OVG NW, NVwZ 2009, 475 (476 f.); Schemmer, DVBl 2011, 323 (330 f.); Schroeter, NVwZ 2011, 457 (459). 90 Sondervotum Gaier, BVerfGE 115, 250 ff.; Schenke, in: Kluth/Rennert (Hrsg.), Entwicklungen im Verwaltungsprozessrecht, 2. Aufl. 2009, S. 115 (119 ff.). 88

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2. Lösung: „in camera“-Verfahren im Hauptsacherechtsstreit Vor dem skizzierten Hintergrund liegt die Überlegung nahe, das „in camera“-Verfahren nicht als separates Verfahren auf den Zwischenstreit über die Aktenvorlage beim Fachsenat zu beschränken, sondern auf das Hauptsacheverfahren zu erstrecken und zu dessen Bestandteil zu machen.91 Dadurch könnte die beschriebene Alternativität („entweder-oder-Entscheidung“) vermieden und die Herstellung praktischer Konkordanz angestrebt werden. Auf dem Gebiet des Informationsfreiheitsrechts hätte das beim Gericht der Hauptsache angesiedelte „in camera“-Verfahren zugleich den Vorzug, dass die hier geforderte Deutung des § 99 Abs. 1 S. 2 (i. V. m. Abs. 2 S. 1) VwGO als Rezeptionsnorm in Bezug auf die Informationsfreiheitsgesetze leicht(er) zu bewerkstelligen wäre.92 Der Verfahrenstyp des „integrierten Zwischenverfahrens“ ist von § 138 TKG 2004 her bekannt.93 Diese vor dem Hintergrund des § 99 VwGO „fortschrittliche“ Regelung musste indes europarechtlich als defizitär eingestuft werden. Nach Art. 4 RL 2002/21/EG („TK-Rahmenrichtlinie“) muss diejenige Stelle, die über Rechtsbehelfe gegen Entscheidungen der nationalen Regulierungsbehörde befinden soll, über sämtliche (auch: vertrauliche) Informationen verfügen können, die zur Beurteilung der Begründetheit eines Rechtsbehelfs notwendig sind; neben den Erfordernissen des effektiven Rechtsschutzes müssen aber auch der Schutz geheimhaltungsbedürftiger Informationen sichergestellt und die Verteidigungsrechte der Verfahrensbeteiligten gewahrt werden.94 Das BVerwG hat daraufhin eine – methodisch zweifelhafte – „europarechtskonforme Auslegung“ des § 138 TKG 2004 vorgenommen,95 in der Sache jedoch einen Widerspruch zu Vorgaben des BVerfG provoziert.96 Im novellierten TKG (2012) hat der Gesetzgeber eine Anpassung des § 138 an die EuGH-Rechtsprechung vorgenommen. Die Bundesnetzagentur hat nicht länger die Befugnis, die Vorlage von Unterlagen an das Gericht (der Hauptsache) zu verweigern; als geheimhaltungsbedürftig eingestufte Unterlagen sind nurmehr zu kennzeichnen. Fragen zur Geheimhaltungsbedürftigkeit werden dann vom Gericht der Hauptsache entschieden.97

91 Sondervotum Gaier, BVerfGE 115, 250 (254); OVG NW, NVwZ 2009, 475 (477); Schemmer, DVBl 2011, 323 (331); Schroeter, NVwZ 2011, 457 (460). 92 Zu den Vorzügen der „Integrationslösung“ bereits Schoch, NVwZ 2012, 85 (87 f.). 93 Einzelheiten dazu bei Schmidt-Aßmann (Fußn. 12), S. 1151 ff. 94 EuGH, Slg. 2006, I-6675 Rn. 40. 95 BVerwGE 127, 282; krit dazu Rudisile (Fußn. 10), § 99 Rn. 68. 96 Erläuternd Bier, N&R 2009, 25 (31 f.). 97 Vgl. dazu die Gesetzesbegründung, BT-Drs. 17/5707, S. 86 f.

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V. Ausblick und Erwartungen Das gerichtliche „in camera“-Verfahren auf dem Gebiet des Informationsfreiheitsrechts verdient eine Optimierung. Die überfällige inhaltliche Verklammerung der Maßstäbe zwischen Prozessrecht und Fachrecht für die Beurteilung der Geheimhaltungsbedürftigkeit von Informationen kann durch eine zweckentsprechende Auslegung der Rechtmäßigkeitskriterien nach § 99 Abs. 2 S. 1 i. V. m. Abs. 1 S. 2 VwGO geleistet werden. Die Verlagerung des Zwischenverfahrens in den Hauptsacherechtsstreit bedarf einer Gesetzesänderung. Zu der auf Grund BVerfGE 101, 106 notwendig gewordenen Neufassung des § 99 VwGO hatte der damalige Gesetzentwurf der Bundesregierung dem Informationsfreiheitsrecht schon eine gewisse Referenz erwiesen. Der Entwurf unterschied zwischen „Verfahren, in denen die Einsichtnahme in Urkunden oder Akten oder die Erteilung von Auskünften Gegenstand des Klagebegehrens ist“ (§ 99 Abs. 2 RegE) und „anderen“ Verfahren (§ 99 Abs. 3 RegE).98 Der Bundesrat lehnte diese nach Streitgegenständen differenzierende Konzeption ab und setzte das geltende „Fachsenat“System mit der Erwägung durch, dass die für die Hauptsache zuständigen Richter die geheimhaltungsbedürftigen Akten nicht sehen sollten.99 Verfassungsrechtlich geboten war diese Vorgehensweise nicht.100 Dem Informationsfreiheitsrecht ist dadurch kein guter Dienst erwiesen worden. Falls in absehbarer Zeit eine Änderung des § 99 VwGO rechtspolitisch nicht erreichbar sein sollte, müsste im Interesse einer Optimierung der Gesetzeslage darüber nachgedacht werden, ob spezielle Regelungen (in Anlehnung an § 138 TKG) zum „in camera“-Verfahren in den Fachgesetzen (IFG, UIG, VIG etc.) einzuführen sind. Ein derartiges – nicht unbedingt wünschenswertes – Sonderprozessrecht wäre besser als eine Perpetuierung der bestehenden, aber unbefriedigenden Gesetzeslage.

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Vgl. BT-Drs. 14/6393, S. 5 f. und (Begründung) S. 10 f. Vgl. BT-Drs. 14/6853, S. 3 und (Begründung) S. 4. 100 Nach BVerfGE 101, 106 (130 f.) ist es eine Möglichkeit, „den Kreis der Geheimnisträger im Spruchkörper klein zu halten“, der Gesetzgeber sei „freilich nicht auf diesen Weg festgelegt“. 99

Der sog. funktionslose Bebauungsplan im Rechtsschutzkonzept des § 47 VwGO Von Udo Steiner, Regensburg I. Der funktionslose Bebauungsplan im materiellen Bauplanungsrecht 1. Der funktionslose Bebauungsplan als eigenständiger Unwirksamkeitstatbestand a) In der großen und komplex gewordenen Welt des Bauplanungsrechts und deren Spiegelung im Rechtsschutzsystem der VwGO hat sich die Figur des sog. funktionslosen Bebauungsplans (BBauPl) ihre Selbständigkeit als eigener und spezifischer Rechtsgrund für die allgemein gültige Beendigung der Rechtsverbindlichkeit bauplanerischer Festsetzungen erhalten können. Seit ihrer „Akkreditierung“ durch das Urteil des BVerwG vom 29. April 1977 gehört sie fast unangefochten zum Städtebaurecht und hat auch in das geschätzte Lehrbuch des Jubilars zum Verwaltungsprozessrecht Eingang gefunden.1 Weder Rechtsprechung noch Rechtswissenschaft haben die im Urteil formulierten materiellen Voraussetzungen für diesen besonderen Grund des Verlustes der juristischen Maßstäblichkeit eines BBauPl in Frage gestellt. Nach wie vor gilt, dass ein BBauPl oder eine bauplanerische Festsetzung – wegen Funktionslosigkeit – außer Kraft tritt, wenn und soweit die Verhältnisse, auf die sie sich bezieht, in der tatsächlichen Entwicklung einen Zustand erreicht haben, der eine Verwirklichung der Festsetzung(en) auf unabsehbare Zeit ausschließt, und die Erkennbarkeit dieser Tatsache einen Grad erreicht hat, der einem etwa dennoch in die Fortgeltung der Festsetzung gesetzten Vertrauen die Schutzwürdigkeit nimmt.2 b) Diese Formel hat das BVerwG danach nicht modifiziert, sondern in ihren Bestandteilen schrittweise erläutert. Allgemein gilt, dass die Annahme des Tatbestandes der Funktionslosigkeit an den Gegebenheiten des Einzelfalls zu prüfen ist3, und dies ggf. für jede einzelne Festsetzung.4 Das Gericht hat zur Klarstellung hervorgehoben, dass der Eintritt der Funktionslosigkeit grundsätzlich auf einer tatsächlichen Entwicklung beruht und es deshalb einer vorherigen Abwägung der Interessen nicht be1

Würtenberger, Thomas, Verwaltungsprozessrecht, 3. Aufl. 2011, Rn. 442. BVerwGE 54, 5 (Leitsatz). 3 Siehe z. B. BVerwG, Beschl. vom 17. 2. 1997, NVwZ-RR 1997, 512; Beschl. vom 7. 2. 1997, NVwZ-RR 1997, 513, 514. 4 Siehe BVerwG, Beschl. vom 9. 10. 2003, BauR 2004, 1128. 2

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darf.5 Es hat weiter entschieden, dass die Ausweisung einer Gemeinbedarfsfläche nach § 9 Abs. 1 Nr. 5 BauGB ihre städtebauliche Steuerungsfunktion nicht mehr erfüllen kann, wenn der Gemeinbedarfscharakter, den die planende Gemeinde mit der Festsetzung verbunden hat, aufgrund einer Änderung der Rechtslage entfällt und die Festsetzung damit ihren Gegenstand oder ihren Adressaten verliert.6 Bloße Zweifel an der Verwirklichungsfähigkeit eines BBauPl reichen nach Auffassung des BVerwG für die Annahme eines unüberwindlichen Hindernisses für den Planvollzug dagegen nicht aus.7 Auch die Änderung der Planungskonzeption durch die Gemeinde bewirkt nicht den Eintritt der Funktionslosigkeit.8 Gleiches gilt, wenn der Planinhalt mit den tatsächlichen Verhältnissen im Plangebiet nicht (voll) übereinstimmt; erst wenn die tatsächlichen Verhältnisse vom Planinhalt so massiv und so offenkundig abweichen, dass der BBauPl insoweit eine städtebauliche Gestaltungsfunktion unmöglich zu erfüllen vermag, könne von Funktionslosigkeit die Rede sein.9 Deshalb wird die bauplanerische Festsetzung der Art der baulichen Nutzung eines Gebiets als allgemeines Wohngebiet (WA) nicht funktionslos und damit nicht ungültig, wenn auf den Grundstücken tatsächlich (zunächst) nur Nutzungen verwirklicht werden, die im reinen Wohngebiet zulässig sind; die Realisierung des Plans in Richtung auf ein allgemeines Wohngebiet sei eben – im Sinne der Formel von 1977 – nicht „auf unabsehbare Zeit ausgeschlossen“.10 Insgesamt ist die Rechtsprechung des BVerwG erkennbar bemüht, Angriffe auf die Gültigkeit von BBauPl, die mit einer (vollständigen oder teilweisen) Funktionslosigkeit begründet werden, in die Schranken der Formel von 1977 zu weisen. So führen beispielsweise tatsächliche oder rechtliche Hindernisse im Planvollzug, die nur eine Teilfläche im Plangebiet betreffen, nicht zum Verlust der Geltung.11 Man lässt zu, dass allein der Wille eines Grundstückeigentümers, die Realisierung einer bestimmten Festsetzung zu verhindern, zur Außerkraftsetzung dieser Festsetzung führt.12 c) In prozessualer Hinsicht hat der BVerwG13 klargestellt, dass ohne einen entsprechenden substantiierten Vortrag des Antragstellers im Normenkontrollverfahren im Regelfall kein Anlass besteht, die Funktionslosigkeit des Plans oder einzelner Festsetzungen zu überprüfen. Es sei auch insoweit nicht Aufgabe der Verwaltungs5

BVerwG, Beschl. vom 24. 4. 1998, NVwZ 1998, 711. BVerwG, Urt. vom 30. 6. 2004, NVwZ 2004, 1315 (für die Ausweisung einer Gemeinbedarfsfläche „Postdienstgebäude“ nach Privatisierung der Post). 7 BVerwG, Urt. vom 18. 11. 2004, NVwZ 2005, 442, 444. 8 So BVerwG, Beschl. vom 7. 2. 1997, NVwZ-RR 1997, 513, 514. 9 BVerwG, Beschl. vom 17. 2. 1997, NVwZ-RR 1997, 512; ebenso BVerwG, Beschl. vom 6. 6. 1997, NVwZ-RR 1998, 415, 416. 10 BVerwG, Urt. vom 12. 8. 1999, NVwZ 2000, 550, 552; siehe auch BVerwG, Beschl. vom 11. 12. 2000, BRS Bd. 63, Nr. 54, S. 284, 285; anders für das faktische „Umkippen“ eines ganzen Baugebiets BVerwG, Beschl. vom 29. 5. 2001, NVwZ 2001, 1055. 11 BVerwG, Beschl. vom 21. 12. 1999, NVwZ-RR 2000, 411. 12 BVerwG, Beschl. vom 5. 11. 2002, BRS Bd. 53, Nr. 54, S. 266 f. 13 BVerwG, Urt. vom 3. 12. 1998, NVwZ 1999, 986, 987. 6

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gerichte nach § 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO, „gleichsam ungefragt auf Fehlersuche zu gehen“.14 Der Prüfungsaufwand zur Feststellung der Funktionslosigkeit braucht im Regelfall – so das BVerwG in seinem Beschluss vom 11. Dezember 2000 – nicht über das hinauszugehen, was sich aus dem Vorbringen des Antragstellers im Normenkontrollverfahren ergibt.15 2. Die Rezeption der bundesverwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung in der verwaltungsgerichtlichen Instanzenpraxis und im Schrifttum a) Die Rechtsprechung der Oberverwaltungsgerichte und der Verwaltungsgerichtshöfe der Länder hat nicht nur die Rechtsprechung des BVerfG zum funktionslosen BBauPl ohne Vorbehalt akzeptiert. Sie hat sich vor allem erkennbar darum bemüht, den Tatbestand der Funktionslosigkeit eines BBauPl in der Praxis so eng zu führen, wie es der bundesverwaltungsgerichtlichen Grundvorstellung dieser Rechtsfigur entspricht. Sie folgt der Auffassung des BVerwG, dass der BBauPl nur „in äußerst seltenen Fällen“ funktionslos sein könne.16 Die verwaltungsgerichtliche Instanzrechtsprechung ist – unbeschadet ihrer kontroversen Beantwortung der Fristfrage nach § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO17 – vor allem wegen der Vielfalt der Sachverhalte von Interesse, die einen Streit um den Eintritt der Funktionslosigkeit bauplanerischer Festsetzungen ausgelöst haben. So hat das OVG NRW – auch zeitgeschichtlich von Interesse – entschieden, die bauplanerische Ausweisung eines Sondergebiets „Hauptstadteinrichtungen“ sei in der ehemaligen Bundeshauptstadt Bonn ihrem objektiven Festsetzungsgehalt nach funktionslos geworden.18 Die durchaus variantenreiche praktische Tragweite der Rechtsfigur des funktionslosen BBauPl wird auch im Beschluss des Gerichts vom 14. April 2000 sichtbar.19 Gegenstand des Verfahrens war ein (Ursprungs-)BBauPl, der rechtlich wieder auflebte, weil seine Änderung im Normenkontrollverfahren für nichtig erklärt wurde. Der Änderungsbebauungsplan war zu diesem Zeitpunkt aber bereits weitgehend verwirklicht; der „alte“ BBauPl konnte deshalb nicht mehr umgesetzt werden.20 Auch können Festsetzungen 14

BVerwG (Fußn. 13), S. 987. BVerwG, Beschl. vom 11. 12. 2000, BRS Bd. 63, Nr. 54, S. 284. 16 OVG Nds, Urt. vom 16. 11. 2004, BauR 2005, 523 im Anschluss an BVerwG, Urt. vom 3. 12. 1998, NVwZ 1999, 986, 987. 17 Siehe dazu unter II. 2. 18 OVG NRW, Urt. vom 2. 2. 2000, BauR 2000, 1024. 19 OVG NRW, Beschl. vom 14. 4. 2000, BRS Bd. 63, Nr. 53, S. 281. 20 Vergleichbar dazu ist der Sachverhalt, der dem Normenkontrollurteil des VGH BW vom 14. 11. 2002 (BauR 2003, 504) zugrunde lag. Nach Auffassung des Gerichts kann ein BBauPl funktionslos werden, wenn der Vorhabenträger aufgrund eines unwirksamen Änderungsplans ein anderes Vorhaben im Rohbau erstellt hat und nicht zu erwarten ist, dass die Baurechtsbehörde den Rückbau des Vorhabens anordnen bzw. der Vorhabenträger einen solchen von sich aus vornehmen würde. 15

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eines BBauPl wegen wirtschaftlicher Unzumutbarkeit der zugelassenen Nutzung funktionslos werden und außer Kraft treten.21 b) Das wissenschaftliche Schrifttum hat die Entdeckung des funktionslosen BBauPl – wohl von Peter Baumeister abgesehen – von Anfang an positiv bewertet und sie bis heute nicht in Frage gestellt.22 Dies gilt ganz besonders für die Kommentarliteratur.23 Die Funktionslosigkeit des BBauPl als eigenständige dogmatische Kategorie des Bauplanungsrechts hat sich auch gegenüber dem Versuch behaupten können, als Fall der allgemeinen Kategorie des Rechtswidrigwerdens eines BBauPl qualifiziert zu werden. Diesen Versuch hat Peter Baumeister unternommen mit der These: Ebenso wie Recht mit funktionslosem Inhalt nicht in Kraft treten kann, weil es rechtswidrig ist, tritt „funktionslos“ gewordenes Recht außer Kraft, weil es rechtswidrig geworden ist.24 Im Mittelpunkt der Begründung seiner These steht die Annahme, angesichts der (für die Annahme des Rechtswidrigwerdens eines BBauPl) erforderlichen nachträglich entstandenen Unausgewogenheit seien die inhaltlichen Anforderungen an das Abwägungsergebnis Maßstab für die Frage des Rechtswidrigwerdens.25 Man darf zunächst bezweifeln, ob die komplizierte Dogmatik von Abwägungsvorbereitung (§ 2 Abs. 3, § 214 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 214 Abs. 3 Satz 2, 1. HS BauGB), Abwägung (§ 1 Abs. 7, § 214 Abs. 3 Satz 1, § 215 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 BauGB) und (ggf. nicht begründbarem) Abwägungsergebnis26 eine angemessen rechtssichere Basis zur Beurteilung der mit dem Wirkungs- und Steuerungsverlust eines BBauPl verbundenen Geltungsproblematik abgeben. Es kann schwerlich bestritten werden, dass die Formel des BVerwG in Verbindung mit ihrer bisherigen Interpretation und Anwendung erfreulich rechtsklare Ergebnisse ermöglicht. Aber auch aus rechtsdogmatischer Sicht ist die Anerkennung eines eigenständigen Tatbestandes „Funktionslosigkeit“ des Geltungsverlustes von BBauPl vorzugs21

BayVGH, Urt. vom 25. 3. 2002, NVwZ-RR 2005, 776. Dazu Selmer, JuS 2006, 279. Siehe dazu die Nachweise bei Steiner, in: FS für Schlichter, 1995, S. 313 Fußn. 3 und die folgenden Belege. 23 Kalb/Külpmann, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg/Krautzberger, BauGB, § 10 Rn. 401 ff. (Bearbeitungsstand 2010); Gaentzsch, in: Berliner Kommentar zum BauGB, 3. Aufl. 2002, § 10 Rn. 47 (Bearbeitungsstand 2005); Jäde, in: Jäde/Dirnberger/Weiß, BauGB. BauNVO, 6. Aufl. 2010, § 30 Rn. 39 ff.; Tophoven, in: Spannowsky/Uechtritz, BauGB, Kommentar, 2009, § 30 Rn. 5; Petz, aaO, § 8 Rn. 11; siehe ferner Finkelnburg/Ortloff/Kment, Öffentliches Baurecht, 6. Aufl. 2011, Rn. 107 ff.; Stüer, Handbuch des Bau- und Fachplanungsrechts, 4. Aufl. 2009, Rn. 1206 ff.; vgl. ferner Bier, UPR 2004, 335; Erhard, NVwZ 2006, 1362; Troidl, BauR 2010, 1511. Aus der Literatur zur VwGO vgl. Gerhardt/Bier, in: Schoch/SchmidtAßmann/Pietzner, VwGO, § 47 Rn. 111 (Bearbeitungsstand Juli 2005); Ziekow, in: Sodan/ Ziekow, VwGO, Großkommentar, 2. Aufl. 2006, § 47 Rn. 71 ff. 24 Baumeister, GewArch 1996, 318, 319. Diese These hat Baumeister aus seiner grundlegenden Arbeit „Das Rechtswidrigwerden von Normen“ (1996, S. 368 ff.), entwickelt. Ihm folgend Schenke, in: Kopp/Schenke, VwGO, Kommentar, 17. Aufl. 2011, § 47 Rn. 139. 25 Baumeister, GewArch 1996, 318, 324. 26 Siehe BVerwGE 45, 309, 314 f.; 47, 145, 147. 22

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würdig. Zutreffend findet sich in der Rechtsprechung die Feststellung, dass der BBauPl, den § 10 BauGB als Rechtssatz bestimmt, nicht bereits dann funktionslos wird, wenn sich das Abwägungsmaterial durch spätere Erkenntnisse oder Entwicklungen in einer Weise ändert, die ein anderes Abwägungsergebnis nahelegen. Vielmehr sei entscheidend, ob sich die tatsächlichen Verhältnisse, auf die sich der Rechtssatz bezieht oder unter denen er allein eine sinnvolle Regelung darstellt, für immer wegfallen.27 Eine solche Situation – fehlende Aussicht einer Verwirklichung des BBauPl oder einzelner Festsetzungen auf unabsehbare Zeit – würde man, läge sie beim Inkrafttreten eines BBauPl vor, als mangelnde Planrechtfertigung im Sinne von § 1 Abs. 3 Satz 1 BauGB qualifizieren und nicht als Abwägungsmangel (§ 1 Abs. 7 BauGB). Auch die nach Inkrafttreten des BBauPl eintretende Unwirksamkeit wegen Funktionslosigkeit wird in der Rechtsprechung thematisch eher dem § 1 Abs. 1 Satz 3 BauGB zugeordnet; es geht eben um die fehlende Eignung eines BBauPl oder seiner Festsetzungen, einen wirksamen Beitrag zur städtebaulichen Ordnung zu leisten.28 Für den funktionslosen29 wie für den rechtswidrigen BBauPl gilt im Übrigen in gleicher Weise, dass die Gemeinde als Plangeber unbeschadet der sich aus dem objektiven Recht ergebenden Unwirksamkeitsfolge den BBauPl ganz oder teilweise aufheben kann und unter Umständen dazu sogar rechtlich verpflichtet ist. II. Verwaltungsprozessuale Fragen 1. Die Eignung des Normenkontrollverfahrens für die Unwirksamkeitserklärung von funktionslosen Bebauungsplänen Spätestens seit dem Urteil des BVerwG vom 3. Dezember 199830 ist geklärt, dass die Frage, ob ein BBauPl wegen Funktionslosigkeit ungültig ist, Gegenstand der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle nach § 47 Abs. 1 Nr. 1 VwGO sein kann. Zu Recht stellt das Gericht heraus, das verwaltungsgerichtliche Normenkontrollverfahren sei nicht auf die Prüfung beschränkt, ob eine Rechtsvorschrift formell und materiell rechtmäßig zustande gekommen sei. Der Zweck der Normenkontrolle bestehe in der Klärung, ob eine Vorschrift geltender Bestandteil der Rechtsordnung ist. Das Normenkontrollgericht kann die heute geltende Tenorierungsfassung nutzen, den 27

OVG Lüneburg, Urt. vom 6. 1. 1995, NVwZ-RR 1995, 439. VGH BW, Normenkontrollbeschluss vom 26. 6. 1997, NuR 1997, 599, 600. Siehe dazu auch Troidl, BauR 2010, 1511, 1513 mit Nachweisen. In seinem Urteil vom 3. 8. 1990 hat das BVerwG für seine „Kontrollfrage“ als Maßstab allerdings ganz allgemein § 1 BauGB angeführt (BVerwGE 85, 273, 282). 29 Siehe dazu BVerwG, Beschl. vom 24. 4. 1998, NVwZ-RR 1998, 711. 30 BVerwG, Urt. vom 3. 12. 1998, NVwZ 1999, 986; ihm folgend z. B. VGH BW, Normenkontrollurteil vom 31. 3. 1999, BauR 2000, 1237; BayVGH, Urt. vom 25. 3. 2004, NVwZRR 2205, 776. Siehe schon vorher OVG Berlin, Urt. vom 31. 3. 1992, UPR 1992, 357 f.; zustimmend z. B. Pabst, ZfBR 1999, 244. 28

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funktionslosen BBauPl für unwirksam zu erklären (§ 47 Abs. 5 Satz 2 VwGO).31 Es bedarf also nicht einer – regelmäßig „rechtswidrigkeitsbasierten“ – Nichtigkeitserklärung.32 Die Auslegung des § 47 VwGO darf in methodischer Hinsicht von der Grundvorstellung bestimmt sein, dass der Gesetzgeber auf einen solch atypischen und eher seltenen Fall wie den des Außerkrafttretens eines BBauPl wegen Funktionslosigkeit nicht durch besondere Vorschriften reagieren muss. Die Einpassung dieser Rechtsfigur in das Rechtsschutzsystem der VwGO ist eine legitime richterliche Aufgabe unter Einbeziehung der rechtswissenschaftlichen Diskussion.33 2. Die Lösung der Fristfrage (§ 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO) a) Beantwortet muss allerdings noch die Frage werden, ob und ggf. mit welchen Maßgaben die Jahresfrist des § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO auf den funktionslosen BBauPl zur Anwendung kommt. Das BVerwG konnte diese Frage in seinem zweiten Grundsatzurteil vom 3. Dezember 1998 noch offen lassen, weil in der von ihm anzuwendenden Fassung der VwGO von 1986 der Normenkontrollantrag noch nicht befristet war. Die Befristung auf zwei Jahre nach Bekanntmachung der Satzung hat bekanntlich das so umstrittene 6. VwGO-ÄndG 199634 eingeführt. 2006 wurde dann die Frist auf ein Jahr verkürzt.35 Die Rechtsprechung der Obergerichte36 ist bisher nicht einheitlich37 und wird es bis zu einer Entscheidung des BVerwG schwerlich werden. Auch das Schrifttum zeigt sich in dieser Frage nicht geschlossen. Wenige Autoren wollen für funktionslose BBauPl nichts anderes gelten lassen als für die sonstigen Rechtsvorschriften; die Jahresfrist soll auch hier mit der Bekanntmachung beginnen.38 Wichtige Stimmen sprechen sich aber dafür aus, von der Anwendung der Fristbestimmung des § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO im Falle funktionsloser BBauPl ganz 31 Neufassung des § 47 Abs. 5 VwGO durch Art. 8 BauROG vom 18. 8. 1997 (BGBl. I, S. 2081). 32 Das BVerwG (Fußn. 30) hatte sich noch 1998 mit der Fassung des § 47 Abs. 5 Satz 2 VwGO 1996 auseinanderzusetzen, wonach das Normenkontrollgericht die angegriffene Rechtsvorschrift für „nichtig“ erklärt. 33 Troidl fordert dagegen den Gesetzgeber auf, durch eine Ergänzung des § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO klarzustellen, dass die hier enthaltene Antragsfrist für funktionslose BBauPl nicht gilt (BauR 2010, 1511, 1521). 34 Dazu Steiner, BayVBl. 2012, 129, 131 ff. 35 Gesetz vom 21. 12. 2006, BGBl. I, S. 3316. 36 Siehe zur Übersicht Troidl, BauR 2010, 1511, 1515 ff. 37 Siehe etwa OVG Berlin, Urt. vom 6. 9. 2002, BRS Bd. 65, Nr. 85, S. 402, 403; BayVGH, Urt. vom 25. 3. 2004, NVwZ-RR 2005, 776, 777 einerseits (keine Anwendung in den Fällen nachträglich eingetretener Funktionslosigkeit von BBauPl), andererseits VGH BW, Urt. vom 17. 10. 2002, DVBl. 2003, 416-Ls (anderer Ansicht aber noch VGH BW, Urt. vom 31. 3. 1999, NuR 2000, 329, 330) und OVG Nds, Urt. vom 16. 11. 2004, BauR 2005, 523 f. (Lauf der Frist nach Bekanntmachung des BBauPl auch in Fällen der Funktionslosigkeit). 38 So etwa Schmidt, in: Eyermann/Fröhler, VwGO, Kommentar, 3. Aufl. 2010, § 47 Rn. 74; M. Redeker, in: Redeker/v. Oertzen, VwGO, Kommentar, 15. Aufl. 2010, § 47 Rn. 26.

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allgemein abzusehen.39 Hingegen finden sich selten Anhänger der Auffassung, die Befristungsregelung des § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO von der Bekanntmachung zu lösen und die Frist ab dem Zeitpunkt laufen zu lassen, in dem die Funktionslosigkeit des BBauPl eingetreten ist.40 b) Die Frage hat praktische Bedeutung. Es sind zwar Fälle vorstellbar, in denen ein – zunächst nach § 1 Abs. 3 Satz 1 BauGB gerechtfertiger – BBauPl41 zeitnah zu seinem Inkrafttreten funktionslos wird, etwa weil seine Festsetzungen auf einen bestimmten Investor mit bestimmtem Investitionsplan zugeschnitten sind und dieser ersatzlos und auf Dauer entfällt.42 In der Regel werden die Voraussetzungen für den Eintritt der Funktionslosigkeit aber erst in einem Zeitraum eintreten, der nach der Jahresfrist des § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO liegt.43 Knüpft man den Fristbeginn an die Bekanntmachung des BBauPl, wie dies der Vorstellung des § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO entspricht, fällt der funktionslose BBauPl praktisch aus der Rechtsschutzzone des verwaltungsgerichtlichen Normenkontrollverfahrens heraus.44 c) Der Praxisanalyse zum funktionslosen BBauPl im materiellen Bauplanungsrecht unter I kann man entnehmen, dass es Situationen gibt, in denen das Außerkrafttreten eines BBauPl als Folge seines dauerhaften Funktionsverlustes einigermaßen zeitlich fixiert werden kann. Dies gilt beispielsweise, wenn die Funktionslosigkeit die direkte Folge der Nichtigerklärung eines (anderen) BBauPl im verwaltungsgerichtlichen Normenkontrollverfahren ist.45 Solche Konstellationen sind aber die Ausnahme. Es liegt in der Eigenart des die Funktionslosigkeit auslösenden maßgeblichen Tatbestandmerkmals „Veränderung der tatsächlichen Verhältnisse“, dass der Zeitpunkt der Funktionslosigkeit nicht in einer dem Rechtssicherheitsbedarf einer prozessualen gesetzlichen Frist entsprechenden Genauigkeit festgestellt werden 39

So etwa Gerhardt/Bier, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (Fußn. 23), § 47 Rn. 111; Giesberts, in: Posser/Wolff, VwGO, Kommentar, 2008, § 47 Rn. 55, 55.1; Schenke (Fußn. 24), § 47 Rn. 85; Troidl, BauR 2010, 1511, 1516 ff.; Ziekow, in: Sodan/Ziekow (Fußn. 23), § 47 Rn. 290; wohl auch Stüer (Fußn. 23), Rn. 1209 i.V.m. Fußn. 2444. 40 So Brohm, Öffentliches Baurecht, 3. Aufl. 2002, § 16 Rn. 4 (S. 316). Jäde (Fußn. 23) meint, die Fristenregelung könne nicht oder nur entsprechend mit der Maßgabe gelten, dass sie – was freilich nicht unerhebliche Rechtsunsicherheiten in sich schlösse – durch den Eintritt der Funktionslosigkeit des BBauPl in Lauf gesetzt werde (§ 30 Rn. 98). 41 Stehen unüberwindliche tatsächliche oder rechtliche Hindernisse der Umsetzung planerischer Festsetzungen auf unabsehbare Weise entgegen, so sind diese bekanntlich nach der st. Rspr. des BVerwG unter dem Gesichtspunkt der Erforderlichkeit nicht wirksam. Siehe etwa BVerwG, Urt. vom 19. 11. 2004, NVwZ 2005, 442, 444. 42 Nicht immer geht aus der Rechtsprechung der BVerwG klar hervor, ob für den Fall einer von Anfang an bestehenden objektiven Unmöglichkeit des Planvollzugs ein Rechtmäßigkeitsmangel vorliegt (§ 1 Abs. 3, § 1 Abs. 7 BauGB) oder der BBauPl mangels Funktionsfähigkeit unwirksam ist. Siehe etwa BVerwG, Beschl. vom 6. 6. 1997, NVwZ-RR 1998, 415, 416. 43 So auch BVerwG, Urt. vom 3. 12. 1998, NVwZ 1999, 986, 987. 44 So z. B. auch BayVGH, Urt. vom 25. 3. 2004, NVwZ-RR 2005, 776, 777. 45 Siehe oben unter Fußn. 19.

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kann.46 Die Funktionslosigkeit steht regelmäßig am Ende eines „Prozesses“47, das zeitlich nicht rechtssicher bestimmt werden kann.48 d) Die Jahresfrist des § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO (und natürlich auch § 47 Abs. 2a VwGO) zielt auf schnellstmögliche kommunale Planungssicherheit. Sie wird flankiert von der Entscheidung des Gesetzgebers, durch die materiellrechtlich wirkende Jahresfrist des § 215 Abs. 1 Satz 1 BauGB zeitlichen Druck auf diejenigen auszuüben, die einen verwaltungsgerichtlichen Angriff wegen solcher rechtlicher Mängel des Flächennnutzungsplans oder einer städtebaulichen Satzung planen, die nicht ohnehin durch die Unbeachtlichkeitsvorschriften des § 214 BauGB herausgefiltert werden; vorgebeugt wird damit auch dem Risiko einer inzidenten Plankontrolle durch die Verwaltungsgerichte. Es geht aber immer nur um die Minimierung der Folgen von Rechtsfehlern der städtebaulichen Plangebung. Ein solches „strukturelles“, in der juristischen Komplexität des materiellen Bauplanungsrechts liegendes Risiko der Bebauungsplanung gilt es aber beim funktionslosen BBauPl gerade nicht zu bewältigen. Deshalb kann die gesetzgeberische Zielsetzung der Fristregelung in § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO nicht angeführt werden, um zu begründen, dass diese Vorschrift auch auf funktionslose BBauPl zur Anwendung kommt. Zudem besteht nicht die Gefahr einer Umgehung der Jahresfrist durch einen Wechsel von der Rechtswidrigkeitsrüge zur Geltendmachung der Funktionslosigkeit, weil die Rechtsprechung – wie dargestellt – die Tatbestandsvoraussetzungen der Funktionslosigkeit streng interpretiert. 3. Die Antragsbefugnis (§ 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO) Es gilt weiterhin, dafür zu werben, dass auch die Interpretation der Antragsbefugnis des § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO auf die Besonderheiten des funktionslosen BBauPl zugeschnitten wird. Schwer vorstellbar ist, dass der Eintritt der Funktionslosigkeit eines BBauPl die Möglichkeit der Verletzung von Rechten einzelner begründet. Es entspricht der Sonderdogmatik des funktionslosen BBauPl, dass er seine Geltung verliert, nicht aber – wie schon erörtert – rechtswidrig wird. Er verliert seine Maßstabskraft nicht durch einen Rechtsmangel, sondern durch eine Veränderung der maßgeblichen tatsächlichen Verhältnisse. Deshalb scheint es konsequent zu sein, dem Antragsteller eines verwaltungsgerichtlichen Normenkontrollverfahrens nur den Nachweis aufzuerlegen, dass er durch den funktionslosen BBauPl oder dessen Anwendung einen rechtlich relevanten Nachteil erleidet oder in absehbarer Zeit erleiden wird. Dies wäre eine sektorale Rückkehr zur Rechtslage vor dem 6. VwGOÄndG. Der gesetzgeberischen Intention dieses prozessualen Paradigmenwechsels würde eine solche Interpretation nicht zuwiderlaufen. Der Gesetzgeber wollte ganz allgemein die Nutzung des Normenkontrollverfahrens als Popularklage 46

So z. B. auch BayVGH, Urt. vom 25. 3. 2004, NVwZ-RR 2005, 776, 777 im Anschluss an Schenke (Fußn. 24), § 47 Rn. 85. 47 Ziekow (Fußn. 39), § 47 Rn. 290. 48 Schmidt (Fußn. 38) leitet aus dieser Gegebenheit freilich die gegenteilige Auffassung ab, es müsse auf den Zeitpunkt der Bekanntmachung abgestellt werden (a.a.O.).

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verhindern.49 Ein praktisch so seltener Fall wie die Feststellung der Unwirksamkeit eines funktionslosen BBauPl im Normenkontrollverfahren unterläuft diese Intention nicht grundsätzlich. III. Schlussbemerkung Der funktionslose BBauPl als „atypische Normalität“ im Bauplanungsrecht50 und eben auch im System des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens gehört zugegebenermaßen nicht zu den zentralen Fragen unseres verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzsystems. Andere Fragen stehen bei § 47 VwGO im Vordergrund. Dazu gehört beispielsweise, dass diese Vorschrift den Weg zur prinzipalen Kontrolle von Bundesrechtsverordnungen und auch zu Verordnungen des Unionsrechts nicht eröffnet.51 Das BVerfG52 hat zu seiner Entlastung im Verfahren der Verfassungsbeschwerde bekanntlich von Zeit zu Zeit versucht, die Verwaltungsgerichte zur Gewährung von Rechtsschutz im Wege der Feststellungsklage nach § 43 VwGO zu bewegen.53 Gerne liest man beim Jubilar, dass er diesen Weg für gangbar hält.54 Zu Recht haben sich aber Rechtsprechung und Rechtswissenschaft auch darum bemüht, eine Außenseiter-Rechtsfigur wie den funktionslosen BBauPl kontrolliert und behutsam in die Verwaltungsrechtsordnung einzupassen. Zum Abschluss dieses Prozesses fehlen nur noch kleine Schritte.

49 Siehe dazu Redeker (Fußn. 38), § 47 Rn. 31. Zur Neufassung des § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO insoweit auch eingehend Ziekow (Fußn. 39), § 47 Rn. 144 ff. 50 Siehe schon Steiner (Fußn. 22), S. 329. 51 Dazu von Nicolai, in: Redeker/v. Oertzen (Fußn. 38), § 43 Rn. 6. 52 Siehe z. B. BVerfGE 115, 81, 95 ff. 53 Siehe dazu eingehend Schenke (Fußn. 24), § 43 Rn. 8 ff. 54 Würtenberger (Fußn. 1), Rn. 440.

Europäisches und US-amerikanisches Grundverständnis der Verfahrensöffentlichkeit im Zivilprozess Von Rolf Stürner, Freiburg Vorbemerkung* Es war unter dem Dekanat von Thomas Würtenberger, als sich der Autor entschloss, den Ruf an die Freiburger Fakultät anzunehmen. Dieser Zeit erster freundlicher Bekanntschaft folgten viele Jahre loyaler Zusammenarbeit und menschlicher Begegnung in vielen Gesprächen. So ist es selbstverständlicher Ausdruck akademischer, kollegialer und menschlicher Wertschätzung, wenn in diesem Beitrag der Versuch unternommen wird, den Jubilar mit Überlegungen zu ehren, die zunächst auf einem ihm fachfremden Gebiet ansetzen, dann aber doch vertrautes Terrain erreichen. Die Öffentlichkeit des Zivilprozesses berührt sich mit Thomas Würtenbergers Arbeitsgebieten im Verfassungsrecht und Europarecht, Verwaltungsprozessrecht und in der Rechtsvergleichung. So verbindet sich mit dem Beitrag die Hoffnung, mit ihm den Jubilar nicht nur zu ehren, sondern vielleicht auch sein fachliches Interesse zu wecken. I. Grundsätzliche Anerkennung der zivilprozessualen Verfahrensöffentlichkeit Der Grundsatz der Öffentlichkeit ist allen wichtigen europäischen Prozesskulturen bekannt.1 Allerdings ist seine genaue Reichweite sehr unterschiedlich geregelt. * Für die Mithilfe bei der Materialbeschaffung danke ich meiner früheren Mitarbeiterin Richterin Dr. Therese Müller sowie Assessorin Beatrice Stapf, Assessor Ulrich Kühne und Referendar Johannes Wolber. 1 England: Supreme Court Act 1981, sec. 67; Supreme Court Rules 2009, sec. 27; CPR 32.2, 39.2; Human Rights Act 1998 Sch. 1; Andrews, English Civil Procedure, 2003, Rn. 4.59 ff.; Frankreich: Art. 22, 433, 435, 451 n.c.p.c.; Cadiet, Droit Judiciaire Privé, 3. Aufl. 2000, Rn. 1246 ff.; Guinchard/Chanais/Ferrand, Procédure Civile, 30. Aufl. 2010, Rn. 724 ff., 1054; Deutschland: § 169 GVG, §§ 272, 279 Abs. 1, 285 ZPO; Rosenberg/ Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, § 21 Rn. 12 ff.; Stürner, Festschrift F. Baur, S. 647 ff., 659 ff.; Italien: Art. 128 c.p.c., Art. 84 Abs. 1, Disposizioni per l’Attuazione del Codice di Procedura Civile; zurückhaltende Bewertung der Bedeutung der „pubblicità“ bei Mandrioli, Diritto Processuale Civile, Vol. I, 19. Aufl. 2007, S. 432; grundlegende Bedeutung billigt zu Liebmann, Manuale di Diritto Procuessuale Civile, 1992, S. 12; ferner Corte Cost., 14. 04. 1965, No. 25; 25. 02. 1971, No. 12; Spanien: Art. 24.2, 120.1 und 3 CE; Art. 229.2, 232.1 LOPJ; Art. 138.1, 289.1, 443, 464, 486 LEC; statt vieler Montero Aroca u. a., Derecho Juris-

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Es gibt Rechtsordnungen, die mehr oder weniger alle denkbaren Ausformungen der Öffentlichkeit berücksichtigen; andere beschränken sich eher auf ein Minimum. Der folgende Beitrag soll kurz die nationale geschichtliche Entwicklung in Europa bis zum heutigen Stand skizzieren (sub II.), um dann die Verfassungslage in Europa und seinen Nationalstaaten zu beschreiben (sub III.) und einen Vergleich mit den USA zu versuchen (sub IV.), der Grundlage eines weltweiten Standards sein könnte (sub V.). II. Geschichte der Öffentlichkeit Die Geschichte der Öffentlichkeit in Europa zeigt naturgemäß starke Parallelen zur Geschichte der Mündlichkeit, spiegelt aber auch die Teilhabe der Gesellschaft an der Rechtsverwirklichung wider und damit den Stand ihrer demokratischen Entwicklung. 1. Frühe Öffentlichkeit und ihre Verdrängung in Kontinentaleuropa Die frühen Prozessformen verwirklichten mit der Mündlichkeit auch Öffentlichkeit, die natürlich nur von „freien“ Bürgern wahrgenommen werden konnte. Diese Öffentlichkeit galt für den klassischen römischen Prozess und seine Vorstufen,2 nach überwiegender Meinung nicht für den Kognitionsprozess der nachklassischen Zeit des späten Prinzipats und der Monarchie.3 Im frühen und späteren germanischen Prozess herrschten Mündlichkeit und Öffentlichkeit,4 wobei diese Prozessform nicht nur Deutschland, sondern wesentliche Teile Europas prägte. Erst mit dem Vordringen des römisch kanonischen Prozesses und des oberitalienischen Prozesses setzte – beginnend etwa mit dem 12. Jahrhundert – ein starker Trend zur Schriftlichkeit und damit verbunden zur Nichtöffentlichkeit ein. Die Tendenz zur Nichtöffentlichkeit verstärkte neben der aufkommenden Schriftlichkeit eine gesellschaftspolitische Entwicklung, die weg vom Feudalstaat zu einer stärkeren Zentralisierung führte. Sie schwächte die Mitwirkung des „Volkes“ bei der Rechtssetzung und Rechtsprechung und förderte die Bedeutung des „gelehrten“ Rechts im Dienste der Spitze der Hierarchie. Diese Entwicklung vollzog sich mit großer Deutlichkeit in Spanien und Italien sowie zeitlich versetzt in Deutschland.5 Die italienischen Verfahren der „solemnis ordo“ und das spanische Verfahren der Siete Partidas mit seinen Nachfahren

diccional Vol. I, 18. Aufl. 2010, S. 399 ff.; Gimeno Sendra, Derecho Procesal Civil I, 2. Aufl. 2007, S. 59. 2 Dazu Kaser/Hackl, Das Römische Zivilprozessrecht, 2. Aufl. 1996, § 1 IV 4, S. 11. 3 Zum Diskussionsstand Kaser/Hackl, Das Römische Zivilprozessrecht, 2. Auflage 1996, § 84 I, S. 555; Simon, Untersuchungen zum Justinianischen Prozess, 1969, S. 374 ff. 4 Statt vieler van Caenegem, History of European Civil Procedure. International Encyclopedia of Comparative Law, Stand 1973, Ch. 2, S. 6 ff. 5 Zur aufkommenden Schriftlichkeit ausführlicher Stürner, Festschrift Athanassios Kaissis, 2012, S. 991 ff.

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kannten ebenso wenig Öffentlichkeit6 wie der deutsche Kammergerichtsprozess oder der deutsche „gemeine“ Prozess. Etwas mehr Öffentlichkeit blieb in Frankreich, was mit der Grundstruktur des Prozesses des Pariser Parlaments zusammenhängt, die bis zur Revolution überlebte.7 Dieses Verfahren hielt an der mündlichen Verhandlung fest, die wohl in beschränkter Öffentlichkeit erfolgte, und blieb insoweit „germanischer“ als der deutsche Kammergerichtsprozess und gemeine Prozess.8 Allerdings waren Zeugenvernehmungen (enquête) nichtöffentlich. 2. Öffentlichkeit in England Mit dem „trial“ vor der „jury“ des common law-Verfahrens überlebte auch in England die Öffentlichkeit der Verhandlung und Beweisaufnahme durch Zeugenvernehmung. Dabei war bereits die „Jury“ selbst Repräsentant der Öffentlichkeit, die damit sehr früh als konstituierendes Merkmal des Gerichtswesens zu betrachten ist.9 Schon das Statute of Marlborough von 1267 bestimmt: „All causes ought to be heard, ordered and determined before the Judges of the King’s Court openly in the King’s Courts…“.

Interessanterweise war Motiv für Öffentlichkeit zunächst weniger die Kontrolle des Gerichts, sondern stärker der Gedanke der Kontrolle der Zeugenaussage und ihrer Wahrheit.10 Dabei vertrat der Common Law-Prozess die extreme Gegenposition zum gelehrten kontinentalen Prozess und zum verwandten Prozess der equity courts, die gerade in geheimer Vernehmung die bessere Chance zur Wahrheit sahen.11 Erst relativ spät begann man in der Öffentlichkeit des Verfahrens auch eine Garantie gegen richterliches Fehlverhalten zu sehen,12 nicht zuletzt wohl auch unter dem Einfluss eines stärker werdenden Demokratisierungsprozesses. 6 Verbote der Öffentlichkeit in der Fuero Real 1255, 2. Buch, 1. Titel Nr. 5 und der Nueva Recopilación 1567 2/20/6 bei der Zeugenvernehmung; dazu Miras, Die Entwicklung des spanischen Zivilprozessrechts, 1994, S. 34, 75, 108 f. 7 Zur Entwicklung der Prozessstruktur in Europa Stürner, Festschrift E. Schumann, 2001, S. 491 ff.; ferner Stürner, in: Cadiet/Canivet, De la commémoration d’un code à l’autre. 200 ans de procédure civile en France, 2006, S. 329 f. (in französischer Sprache). 8 Hierzu ausführlich van Caenegem, History, S. 60 ff., No. 47 und 48. 9 Hierzu Jacob, The Fabric of English Justice, 1987, S. 21 f.; Millar, Formative Principles of Civil Procedure, 18 Ill.L.R. 150 ff., 165 (1923); Nettheim, The Principle of Open Justice, 8 U.Tas.L.R. 25 ff., 26 (1984); Radin, The Right to a Public Trial, 6 Temp.L.Q. 381 ff., 388 (1931); Coke, The second part of the Institutes of Laws in England: Containing the exposition of many ancient and other statutes, 1797, S. 103 f. 10 Hale/Gray, The History of the Common Law of England, 1971, S. 163. 11 Zum in camera-Verfahren der equity courts van Caenegem, History, No. 53 ff., 55, S. 75; ferner Millar, 18 Ill.L.R. 150, 165 f. (1923); Spence/Maddock, The equitable jurisdiction of the Court of Chancery, 1846, S. 380 f. 12 Vor allem J. Bentham, The works of Jeremy Bentham. First collected under the superintendence of his executor John Bowring, Vol. IV, London 1838, S. 317; ders., Rationale of Judicial Evidence, specially applied to English practice, Vol. I, 1827, S. 511.

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3. Der Neuanstoß der französischen Revolution Den entscheidenden Anstoß zur Öffentlichkeit des Verfahrens auf dem Kontinent gab die französische Revolution. Der Code de procédure civile 1806 knüpfte zwar an die Struktur des überkommenen Prozesses an, wie ihn die königlichen Ordonnances geprägt hatten, machte aber die mündliche Öffentlichkeit der Eingangsverhandlung mit urkundlicher Beweisaufnahme und die Öffentlichkeit der Schlussverhandlung zu „Eckpunkten“13 des Verfahrensverständnisses. Allerdings blieb es letztendlich bei der nichtöffentlichen „enquête“ der Zeugen durch einen juge commissaire, bei der aber die Parteien zugegen sein konnten. Der Grund für die Betonung der Öffentlichkeit lag nunmehr – wohl erstmals in voller Eindeutigkeit – in der Kontrolle der Gerichte durch das in der Öffentlichkeit repräsentierte Volk und die aufkommenden Printmedien, mögen auch diese Vorstellungen in Frankreich selbst in der Folgezeit sehr wechselndem Schicksal ausgesetzt gewesen sein. Diese Grundgedanken begannen – gefördert durch die aufkommende Demokratisierungsbewegung des Liberalismus – im 19. Jahrhundert Europa zu beherrschen und die Prozessordnungen nicht nur des Strafprozesses, sondern auch des Zivilprozesses zu formen. In Deutschland gewann der französische Prozess mit seinem Öffentlichkeitsgrundsatz unmittelbaren Einfluss in den linksrheinischen Gebieten und Westfalen durch die Napoleonische Eroberungspolitik.14 Der Verfassungsentwurf der Paulskirche von 1849 enthielt die ausdrückliche Garantie des öffentlichen Gerichtsverfahrens,15 und die nachfolgenden kurzlebigen Prozessordnungen einiger Einzelstaaten16 sowie die ZPO 1877 taten es ihm darin gleich.17 Die Öffentlichkeit der ZPO 1877 war ähnlich wie die Mündlichkeit von durchschlagenderer Qualität als in Frankreich und erfasste auch die Beweisaufnahme, die erst in den Novellen 1924 und 1933 nach französischem Vorbild wieder auf beauftragte Einzelrichter übertragen werden konnte und dann in camera unter bloßer Parteiöffentlichkeit stattfand. Eine Rückkehr zur grundsätzlich vollen Öffentlichkeit war die Folge der Novelle 1976 mit ihrem öffentlichen Haupttermin, der die Beweisaufnahme im Regelfalle umfassen soll (§§ 272, 279 Abs. 2 ZPO). In Italien führte der Einfluss Frankreichs18 im Codice di Procedura Civile del Regno d’Italia von 1865 zu einem Regelverfahren mit beschränkter mündlicher Öffentlichkeit in einer überwiegend schriftlichen Gesamtkonzeption und einem – teilweise sehr breit praktizierten – summarischen Verfahren mit zunächst stärkerer Bedeutung mündlicher Öffentlichkeit. In der Reformdiskussion zwischen den Weltkriegen konnte sich die Konzeption Chiovendas mit ihrer Fokussierung 13

Van Caenegem, History, No. 65, S. 89. Statt vieler die Zusammenfassung der Motive zur ZPO bei Hahn, Die gesamten Materialien zu den Reichsjustizgesetzen, Band 2, Abs. 1, 2. Aufl. 1881, Neudruck 1983, Begründung des Entwurfs S. 12 ff., Neudruck S. 116 ff. 15 § 178 der Paulskirchen-Verfassung von 1849. 16 Dazu statt vieler Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozessrecht, § 5 Rn. 30. 17 § 169 Abs. 1 GVG für alle Prozessverfahren. 18 Dazu und zum Folgenden van Caenegem, History, No.67, S. 94 f.; Pisani, Diritto Processuale Civile, 4. Aufl. 2002, No. 4.1, S. 19. 14

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auf Mündlichkeit, Unmittelbarkeit und Öffentlichkeit nicht durchsetzen, ebenso wenig andere grundlegendere Reformvorschläge. So kam es im c.p.c. 1942 zum heutigen Zustand eingeschränkter Öffentlichkeit. In Spanien hielt die LEC 1855 an der „geheimen“ und nicht einmal parteiöffentlichen Zeugenvernehmung fest,19 erst die LEC 188120 brachte dann nach gemeineuropäischem Vorbild die volle Öffentlichkeit für alle mündlichen Verfahrensabschnitte einschließlich der Beweisaufnahme. Da aber die Mündlichkeit sehr stark von Schriftlichkeit verdrängt blieb, erlangte die Öffentlichkeit des Verfahrens keine grundlegende Bedeutung.21 Erst im späten 20. Jahrhundert erfolgt der Durchbruch zur breiten mündlichen Öffentlichkeit. 4. Verzögerte volle Öffentlichkeit in England Im englischen Prozess überlebte zwar die Öffentlichkeit des „trial“ im common law-Verfahren anders als auf dem Kontinent die Anfechtungen des nichtöffentlichen, vorwiegend schriftlichen Verfahrens des gelehrten und gemeinen Prozesses, das in Verfahren der equity courts weithin Einzug gehalten hatte. Mit der Verbindung beider Verfahren im Judicature Act 1883, blieb zwar die Öffentlichkeit des „trial“ mit seiner Beweisaufnahme gewahrt. Die „Hearings“ des Master im pretrial fanden aber bis zum Anfang des 21. Jahrhunderts „in camera“ und damit nichtöffentlich statt.22 Obwohl das „Principle of Publicity“ von der aufkommenden englischen Prozessrechtswissenschaft durchaus hochgehalten war,23 bleibt doch festzuhalten, dass in der prozessualen Realität nur etwa 1/10 aller Fälle zum „trial“ kamen und damit die große Masse aller Fälle mündlicher Öffentlichkeit entzogen war – ein sehr unbefriedigendes Ergebnis. Die moderne Entwicklung des letzten Jahrzehnts setzt auch insoweit auf eine zumindest beschränkte Öffentlichkeit, um dieses Defizit etwas auszugleichen.24 III. Menschenrechtliche und verfassungsrechtliche Garantie der Gerichtsöffentlichkeit 1. Grundlagen Die heutigen menschenrechtlichen und verfassungsrechtlichen Garantien der Gerichtsöffentlichkeit finden sich in zahlreichen einschlägigen Texten: Art. 10 der Allgemeinen Erklärung über Menschenrechte der UN 1948, Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 14 Abs. 1 Satz 2 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte 1966, Art. 47 Abs. 2 EU-Grundrechtscharta; Art. 94 Belgische Verfassung; 19

Miras, Entwicklung, S. 108 f. LEC 1881 Art. 313, 570, 652.2. 21 Dazu Montero Aroca u. a., Derecho Jurisdiccional, Vol. I, S. 406. 22 Statt vieler Jacob, The Fabric of English Justice, S. 21 ff., 23. 23 Jacob, The Fabric of English Justice, S. 21 ff. 24 Ausführlich Zuckerman, On Civil Procedure, 2. Aufl. 2006, Rn. 2.92 ff., 2.100 ff.; Andrews, English Civil Procedure, 2003, Rn. 4.59 ff., 4.67 ff. mNw. 20

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Art. 65 Abs. 1 Dänische Verfassung; Art. 93 Abs. 2 Griechische Verfassung; Art. 175 Niederländische Verfassung; Art. 90 Abs. 1 Österreichische Verfassung; Art. 24 Abs. 2 und Art. 120 Abs. 1 Spanische Verfassung etc. Großbritannien hat im Human Rights Act 1998 den Grundsatz des Art. 6 Abs. 1 EMRK in sein Recht förmlich inkorporiert, der allerdings schon vorher im englischen Recht eine lange und starke Tradition hatte.25 Trotzdem bleibt festzuhalten, dass es in England der Anstoß der Sunday Times-Entscheidung des EGMR war, der die Liberalisierung der Gerichtsberichterstattung einleitete.26 In Frankreich gewährleistet die Verfassung nicht ausdrücklich die Öffentlichkeit eines Gerichtsverfahrens, jedoch entnimmt der Conseil Constitutionnel ihrem Gesamtgefüge das „droit à un procès équitable stricto sensu“, das wiederum die Öffentlichkeit des Verfahrens umfasst.27 In Deutschland hat zwar – wie schon erwähnt – Art. X § 178 der Paulskirchenverfassung von 1849 die Öffentlichkeit der Gerichtsverfahren garantiert, alle späteren Verfassungen haben aber wie das Grundgesetz von 1949 hierzu geschwiegen. Das BVerfG hat zunächst die verfassungsrechtliche Gewährleistung eines öffentlichen Gerichtsverfahrens dem Grundgesetz nicht nur nicht entnommen,28 sondern sogar schlicht geleugnet.29 Erst sehr spät – nämlich im Jahre 2001 – konnte es sich nach einer vorsichtigen Bemerkung zum Zusammenhang von Demokratieprinzip und Öffentlichkeit30 endlich entschließen, den Grundsatz der Öffentlichkeit als wesentliches Element des Rechtsstaats- und Demokratieprinzips anzuerkennen31 mit der Folge, dass sie nicht nur als Institut garantiert, sondern auch Bestandteil der grundrechtlichen Gewährleistung eines fairen und rechtsstaatlichen Verfahrens ist. In Italien hat die Corte Costituzionale die Garantie der Öffentlichkeit einiges früher dem Demokratieprinzip entnommen: „coessenziale ai principii ai quali, in un ordinamento democratico fondato sull sovranità populare, deve conformarsi l’amministrazione della giustizia, che in quella sovranità trova fondamento (art. 101, secondo comma, Costituzione)“.32 So darf man heute von dem allgemeinen Grundsatz ausgehen, dass in einer demokratischen Gesellschaft die Öffentlichkeit von Gerichtsverfahren für ein rechtsstaatliches Verfahren schlechthin konstitutiv ist und nur engere Ausnahmen ihre Einschränkung oder gar ihren Ausschluss rechtfertigen. 25

Dazu Andrews, English Civil Procedure, Rn. 4.59 ff. mNw. EGMR EuGRZ 1979, 386 ff.; dazu Stürner, JZ 1980, 1 ff. 27 Conseil Constitutionnel, Déc. 95 – 360 DG, 02. 02. 1995; dazu Guinchard/Chainais/ Ferrand, Procédure Civile, Rn. 719 ff. 28 BVerfGE 4, 74, 97 (weiter Spielraum des Gesetzgebers). 29 BVerfGE 15, 303, 307. 30 BVerfGE 70, 324, 358. 31 BVerfGE 103, 44 = JZ 2001, 704 ff., 705 f.; kritisch zu diesem langen Weg Stürner, JZ 2001, 699 ff., 700; für die verfassungsmäßige Gewährleistung sehr früh Stürner, Festschrift Baur, 1981, S. 647 ff.; 660; ders., JZ 1980, 1 ff., 6; Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970, S. 123, 576; G. Walter, Freie Beweiswürdigung, 1979, S. 301/302, 344 ff., 347. 32 Corte Cost., 14. 04. 1965, No. 25; 02. 02. 1971, No. 12. 26

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2. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und die Garantie von Mindeststandards Der EGMR und die Verfasser der Menschenrechtskonvention haben am Anfang ihrer Aktivitäten auch in Staaten längerer demokratischer Tradition sehr unterschiedliche Vorstellungen über den notwendigen Umfang der Öffentlichkeit und ihr rechtsstaatliches Gewicht vorgefunden. Für diese Diskrepanz stehen insbesondere England und Frankreich. Andererseits gab es Staaten vor allem des sozialistischen Rechtskreises, die zwar in ihren Verfassungen Öffentlichkeit garantierten,33 sie aber in der Realität nicht selten selektiv gestalteten, um sie so gegebenenfalls zum Forum eines Schauprozesses zu machen, wie man ihn aus totalitären Staatsformen kennt. Der Gerichtshof war deshalb von Anfang an bemüht, seine Rechtsprechung zu Art. 6 Abs. 1 EMRK der Festlegung von Mindeststandards zu widmen, die einerseits als Maßstab für Demokratiebewegungen geeignet waren, andererseits aber die Traditionen entwickelter Demokratien in Rechnung stellten. a) Parteigewillkürte Nichtöffentlichkeit Ein gewichtiges Entgegenkommen für bestimmte nationale Traditionen liegt im möglichen stillschweigenden bzw. konkludenten Verzicht auf die Öffentlichkeit des Zivilprozesses.34 Der EGMR hält es grundsätzlich für zulässig, die öffentliche und mündliche Verhandlung von einem amtswegigen Beschluss oder einem Parteiantrag abhängig zu machen, und geht von einem konkludenten Verzicht aus, falls ein Antrag nicht gestellt ist.35 Diese Disposition der Parteien über ihre menschenrechtliche Gewährleistung schränkt der Gerichtshof aber dahin ein, dass solchem Verzicht kein öffentliches Interesse entgegenstehen darf, sodass amtswegige Anordnung der öffentlichen mündlichen Verhandlung stets möglich bleiben muss.36 Diese sehr maßvolle Auslegung des Gerichtshofs kommt einigen romanischen Verfahren entgegen, die wie Frankreich auf Antrag den Ausschluss der öffentlichen Verhandlung ins Ermessen des Richters stellen37 oder wie Italien teilweise nur auf Antrag öffentlich verhandeln,38 wobei sich die italienische Lösung insoweit an der äußersten Grenze men33 Dazu die – etwas unkritische – Zusammenstellung bei Schwab/Gottwald, Verfassung und Zivilprozess, in: Habscheid, Effektiver Rechtsschutz und verfassungsmäßige Ordnung, 1983, S. 6 ff., 20. 34 Gute Darstellung bei Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, 5. Aufl. 2012, § 24 Rn. 91/92. 35 Dazu insbesondere EGMR, 23. 02. 1994, Fredin/Schweden Nr. 18928/91 Z. 22; 26. 04. 1995, Fischer/Österreich, Nr. 16922/90, Z. 44; 21. 12. 1990, Häkansson und Sturesson/ Schweden, Nr. 11855/85, Z. 87; 24. 06. 1993, Schuler-Zgraggen/Schweiz, Nr. 14518/89, Z. 58; 21. 09. 1993, Zumtobel/Österreich, Nr. 12235/86, Z. 34. 36 EGMR, 21. 02. 1990, Häkansson und Sturesson/Schweden, Nr. 11855/85, Z. 66. 37 Art. 435 n.c.p.c.: „Le juge peut décider …“. 38 Vgl. Art. 275, 128 Abs. 1 c.p.c.

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schenrechtlicher Zulässigkeit bewegen dürfte. Aber auch die in Deutschland an sich unverzichtbare Öffentlichkeit kann durch einverständliche Schriftlichkeit unterlaufen werden, deren Gewährung aber im gerichtlichen Ermessen liegt,39 sodass auch dieser – sehr selten eingeschlagene – Schleichweg dem menschrechtlichen Mindeststandard noch standhält.40 Sowohl das englische als auch das spanische Recht werden auf ihrem heutigen Niveau den Anforderungen des Art. 6 Abs. 1 EMRK insoweit ebenfalls ohne weiteres gereicht. b) Umfang der Öffentlichkeit Art. 6 Abs. 1 EMRK garantiert nach der Rechtsprechung des EGMR nicht die mündliche Öffentlichkeit jedes Verfahrensabschnitts. Seine Überlegungen zur Mündlichkeit ergeben aber, dass der Gerichtshof im Laufe des gesamten Verfahrens die wesentlichen Elemente der Tatsachenfeststellung wenigstens einmal in mündlicher und öffentlicher Sitzung abgehandelt wissen will.41 Das bedeutet, dass es daneben nichtöffentliche Verfahrensabschnitte geben darf und dass darüber hinaus in der Rechtsmittelinstanz eine öffentliche mündliche Verhandlung nicht notwendig ist, es sei denn, sie ersetzt ganz oder teilweise die Verhandlung erster Instanz. Während England, Frankreich, Spanien und Deutschland diesen Mindestanforderungen ohne weiteres gerecht werden, ist die Nichtöffentlichkeit der instruktionsrichterlichen Verhandlung in Italien mit Art. 6 Abs. 1 EMRK kaum zu vereinbaren,42 vor allem wenn eine letzte mündliche öffentliche Verhandlung mit Beweisaufnahme vor dem Urteil eine große Ausnahme darstellt. Insoweit wird das 2009 neu eingeführte „Kurzverfahren“43 mit seiner konzentrierten, schriftlich vorbereiteten, öffentlichen und mündlichen Verhandlung Art. 6 Abs. 1 EMRK besser gerecht. Während sich Art. 6 Abs. 1 EMRK zur Urteilsberatung ausschweigt und jeder Rechtskultur ihre Tradition lässt, ist die Öffentlichkeit der Urteilsverkündung eigens erwähnt. In fast allen europäischen Rechtskulturen harmoniert diese Anforderung mit den Bestimmungen des nationalen Prozessrechts, nur Italien bewegt sich mit seiner Hinterlegung zur Einsicht auf der Geschäftsstelle wiederum im gerade noch to39 § 128 Abs. 2 ZPO: „Mit Zustimmung der Parteien … kann das Gericht eine Entscheidung ohne mündliche Verhandlungen treffen …“. 40 Immerhin besteht zudem beschränkte Aktenöffentlichkeit: § 299 Abs. 2 ZPO. 41 Vgl. EGMR Scarth/UK, 22. 07. 1999, No. 33745/96; Salomonsson/ Schweden, 12. 11. 2002, No. 38978/97; für höhere Instanzen 12. 11. 2002, Döry/Schweden, No. 28394/95, Z. 37; 08. 02. 2005, Miller/Schweden, No. 55853/00; zu strengeren Maßstäben bei Kontrollbefugnissen und Glaubwürdigkeitsbeurteilungen durch höhere Instanzen 29. 10. 1991, Fejde/ Schweden No. 12631/87 Z. 34; 29. 10. 1991, Helmers/Schweden, No. 11826/85, Z. 37; 26. 05. 1988, Ekbatani/Schweden, No. 10563/83, Z. 32; 10. 03. 2009, Igual Coll/Spanien, No. 37496/ 04, Z. 36 ff. 42 Dazu Art. 128 c.p.c. Italien mit Art. 84 Abs. 1 Disposizioni per l’Attuazione del Codice di Procedura Civile. 43 Vgl. Art. 702-bis ff. c.p.c. Italien.

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lerierbaren unteren Grenzbereich.44 Bei berechtigtem Ausschluss der Öffentlichkeit von der Verhandlung muss die Verkündung des Urteils zwar öffentlich bleiben, jedoch lässt der EGMR zu Recht Einschränkungen bei der Veröffentlichung des vollen Wortlauts zu.45 c) Ausschlusstatbestände und menschenrechtliche Gewährleistung Die Ausschlussgründe des Art. 6 Abs. 1 EMRK entsprechen dem nationalstaatlichen Kanon.46 Ob ein Ausschlussgrund gegeben ist, bleibt dabei grundsätzlich und im Ausmaß auch auf menschenrechtlicher Ebene immer eine Frage der Abwägung und damit – so auch der EGMR47 – der Verhältnismäßigkeit. Dabei übt der EGMR eine relativ tolerante Kontrolle aus. Er bestätigt den teilweisen Öffentlichkeitsausschluss zum Schutz jugendlicher Zeugen48 (Jugendschutz, Schutz geordneter Rechtspflege) ebenso wie zum Schutz des Berufsgeheimnisses der Ärzte49 oder Anwälte50 (Schutz des Privatlebens). Teilweise vertritt die menschenrechtliche Literatur eine strengere Verhältnismäßigkeitskontrolle, z. B. im Sinne des bloßen Ausschlusses der Medienöffentlichkeit zum Schutz der Privatsphäre oder im Sinne der Förderung und Privilegierung der Medienöffentlichkeit bei Raumproblemen.51 Ob die Kontrolle nationalstaatlicher Praxis so weit gehen sollte, ist eine andere Frage. Es ist aber zu begrüßen, wenn die Nationalstaaten selbst die Ausnahmen eng auslegen. d) Offene Fragen Art. 6 Abs. 1 EMRK äußert sich nicht zur Aktenöffentlichkeit als menschenrechtlich notwendiges Verfahrenselement, und auch der bisherigen Rechtsprechung des EGMR zur Informationsfreiheit nach Art. 10 Abs. 1 EMRK ist ein so weitreichendes Informationsrecht nicht zu entnehmen.52 Die Öffentlichkeit in Art. 6 Abs. 1 EMRK lässt zwar Funk und Fernsehen unerwähnt, man kann aber mit guten Gründen vertre44

EGMR, 08. 12. 1983, Pretto/Italien, Nr. 7984/77 = EuGRZ 1985, 548, Z. 27. EGMR, 24.04.01, B.u.P./Großbritannien, Nr. 36337/97, RDJ-2000-III, Z. 46 f. Natürlich gilt dies nicht, falls die Verhandlung zu Unrecht nichtöffentlich war: EGMR, 21. 09. 2006, Moser/Österreich, Nr. 12643/02, Z. 103. 46 §§ 170 – 172 GVG Deutschland; Art. 434, 435 c.p.c. Frankreich; Art. 138, 754 LECD Spanien; CPR Part. 32.2(3) England; Art. 128 c.p.c. Italien. 47 EGMR, 28. 06. 1984, Campbell u. Fell/Großbritannien, Nr. 7819/77 = EuGRZ 1985, 534 ff. Z 87; 26. 09. 1995, Diennet/Frankreich, Nr. 18160/91, Z. 34. 48 EGMR, 24. 04. 2001, B. u. P./Großbritannien, Nr. 36337/97 RJD 2001-III, Z. 38. 49 Wohl zuletzt EGMR, 26. 09. 1995, Diennet, Frankreich, Nr. 18160/91, Z. 34. 50 EGMR, 23. 06. 1994, De Moor/Belgien, Nr. 16997/90, Z. 56. 51 Hierzu Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, 5. Aufl. 2012, § 24 Rn. 87, 89 mwNw. 52 Zurückhaltend insoweit EGMR, 19. 02. 1998 (GK), Guerra u. a./Italien Nr. 14967/89, Z. 53, 60 (Herleitung einer Informationspflicht der öffentlichen Hand nicht aus Art. 10 Abs. 1, sondern Art. 8 EMRK). 45

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ten, dass Art. 6 Abs. 1 EMRK auch diese Form der medialen Verfahrensöffentlichkeit grundsätzlich erfasst, allerdings mit den aus Art. 6 Abs. 2, 10 Abs. 2 EMRK folgenden Schranken, die Ausschlüsse oder allgemeine Verbote rechtfertigen oder sogar gebieten könnten.53 Die Entwicklung in wichtigen Prozesskulturen Europas zu größerer Offenheit gegenüber diesen Formen medialer Verfahrensöffentlichkeit wird auf Dauer auch den EGMR zu einer Stellungnahme zwingen. Als Promotor eines echten oder vermeintlichen medialen Fortschritts sollte sich der Gerichtshof aber besser nicht betätigen, sondern sich an den wachsenden Erfahrungen in den Nationalstaaten orientieren. IV. Die Öffentlichkeit im US-amerikanischen Zivilprozess 1. Die Öffentlichkeit des trial und der Gerichtsakten Die amerikanische Bundesverfassung garantiert wie die Verfassungen der Einzelstaaten für Klagen unter dem traditionellen Common Law das „trial by jury“.54 Für alle Verfahren gilt das „due process“-Erfordernis der Verfassung.55 Öffentlichkeit eines „trial“ vor dem Berufsrichter oder der „jury“ ist wesentliches Element des „due process“, in dem vor allem die Beweisführung in „open court“56 zu erfolgen hat. Die „instruction“ der jury durch den Richter ist ebenso öffentlich wie die Urteilsverkündung, die Urteilsbegründung des Einzelrichters und das Votieren des Kollegiums in höheren Gerichten. Die Gerichtsakten, zu denen alle eingereichten Schriftsätze und Anlagen gehören, sind der Öffentlichkeit und damit auch den Medien zugänglich und können vervielfältigt werden,57 sofern keine protective bzw. confidentiality order ergangen ist.58 2. Nichtöffentliche Elemente des Verfahrens Das US-amerikanische Verfahren kennt aber andererseits trotz seiner grundsätzlichen Offenheit auch bemerkenswert viele nichtöffentliche Elemente: die pretrial conferences zwischen Richter und Parteien bzw. Anwälten,59 die dem Prozessmana-

53 In diesem Sinne zu Recht Grabenwarter/Pabel, Europäische Menschenrechtskonvention, § 24 Rn. 74. 54 Amendment VII US-Constitution. 55 Amendment V US-Constitution. 56 Z.B. FRCP Rule 43(a): „In every trial, the testimony of witnesses shall be taken in open court …“. 57 Dazu ausführlich in deutscher Sprache Lange/Black, Der Zivilprozess in den Vereinigten Staaten, 1987, S. 15. 58 FRCP Rule 26(c) und 37(1)(5)(C); dazu Miller, Confidentiality, Protective Orders, and Public Access to Courts, 105 Harv. L. Rev. 427 – 502 (1991). 59 FRCP Rule 16.

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gement und der Prozessplanung dienen; die „depositions upon oral examination“,60 die in privaten Büroräumen stattfinden und in denen Zeugen, Sachverständige oder Parteien vernommen werden und nur Parteien bzw. Anwälte, die Vernehmungsperson und der „court reporter“ anwesend sind; die in der „pretiral discovery“ ausgetauschten schriftlichen Informationen, Urkunden, Beweisgegenstände oder Protokolle, soweit sie nicht zu den Gerichtsakten gegeben werden; die „conferences“ der Parteien mit dem Richter, vor und während des „jury trial“, in denen sich die Beteiligten separiert „in camera“ oder im Verhandlungssaal flüsternd verständigen. Die Beratung und das Votieren der Jury sind streng nichtöffentlich. Berichte hierüber sind erst nach Ablauf der Rechtsmittelfrist erlaubt. Wenn man mitberücksichtigt, dass nur unter 10 % der Verfahren überhaupt zum „trial“ kommen und vorher durch settlement, dismissal, summary judgment oder „withdrawal“ enden, so wird deutlich, welch hoher Anteil der Verfahren trotz des hohen Ranges der Gerichtsöffentlichkeit sich letztlich „privatissime“ oder „in camera“ erledigt und öffentlicher Kontrolle mehr oder weniger entzieht. Dieses Bild verstärkt sich, falls man die Erledigungen im Rahmen der „court annexed mediation“ einbezieht, die natürlich ebenfalls nichtöffentlich abgewickelt wird, was nach ihrem eigenen Selbstverständnis gerade besonders vorteilhaft und zielführend sein soll. 3. Medienöffentlichkeit Sofern es allerdings zum „day in court“ und öffentlichen „trial“ kommt, hat die mediale Öffentlichkeit in Gestalt von Funk- und Fernsehübertragungen61 nicht nur in Strafverfahren, sondern auch bei Zivilprozessen sozialen Gewichts eine bedeutsame gesellschaftliche Funktion. „Trial by television“ ist in den USA vor allem in state courts vielfach unangefochtene Realität. In den Federal Courts sind „cameras for television“ nach wie vor umstritten. Trotz mehrer Anläufe im Rahmen des „Judicial Conference Committee on Court Administration and Case Management“ gibt es bisher keine allgemeine Erlaubnis für Court TV.62 Seit 1996 ist audiovisuelle Übertragung in federal courts of appeals erlaubt, falls diese Gerichte entsprechende rules und guidelines erlassen. Seit 2010 läuft in 14 federal district courts ein dreijähriges Pilotprojekt, für das Guidelines des Judicial Conference Committee existieren.63 Notwendig ist die Zustimmung des Richters und der Parteien. „In the United States … civil litigation can partake of high drama. Flamboyant trial lawyers use publicity and 60

FRCP Rule 30. Zum Court TV statt vieler Schack, Einführung in das US-amerikanische Zivilprozessrecht, 4. Aufl. 2011, Rn. 15; Friedman, „Lexitainment: Legal Process as Theatre“, 50 DePaul Law Review, 539 (2000). 62 Immer noch in Kraft ist Rule 53 der Federal Rules of Criminal Procedure: „Except as otherwise provided by a statute or these rules, the court must not permit the taking of photographs in the courtroom during judicial proceedings or the broadcasting of judicial proceedings in the courtroom.“ (Dezember 2002). 63 Zur Kompetenz für Rules und Guidelines 28 USC § 331. 61

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media exposure to make their claims bigger than life. Televised live coverage of both criminal and civil trials brings the drama of litigation confrontation into the livingrooms of the American public.“64 Hinter dieser Entwicklung steht ein Verständnis des Verhältnisses von Rechtsprechung und Gesellschaft, das von den kontinentalen und sogar englischen Vorstellungen deutlich abweicht. 4. US-amerikanisches und europäisches Verständnis von Rechtsprechung und Gesellschaft Ursprünglich überwog auf dem Kontinent und auch in England die Vorstellung, unmittelbarer Einfluss der Öffentlichkeit auf das Verfahren entarte allzu leicht zur Druckübung auf Verfahrensbeteiligte und neige zur Vorwegnahme des Urteils und damit zur Gefahr des Akzeptanzverlustes anderslautender richterlicher Entscheidung. Diese Vorstellung findet in Art. 6 Abs. 2 und Art. 10 Abs. 2 EMRK beredten Ausdruck (Beeinträchtigung der „Interessen der Rechtspflege“, Wahrung der „Autorität und Unparteilichkeit der Rechtsprechung“). Nach dieser Grundkonzeption sollen Gerichte in einem zunächst vom Einfluss der Öffentlichkeit eher abgeschirmten Verfahren das erste Wort haben, um sich erst nach Verfahrensabschluss voller medialer und öffentlicher Kritik in positivem oder negativem Sinne zu stellen.65 Mit dieser vor allem in der englischen contempt power gegen Medien zum Ausdruck kommenden Konzeption hat die US-amerikanische Rechtskultur mehr oder weniger gebrochen und die gerichtliche contempt power der Common Law-Tradition gegen Medien nach und nach verdrängt.66 Wegweisend ist die berühmte Formulierung des USSupreme Court zum Verhältnis von Gerichtsgewalt und Öffentlichkeit: „The administration of the law is not the problem of the judge or the prosecuting attorney alone, but necessitates the active cooperation of an enlightened public. Nothing is to be gained by an attitude on the part of the citizenry of civic irresponsibility and apathy in voicing their sentiments on community problems …“.67 Mit diesen Ausführungen hob der Supreme Court eine contempt-Bestrafung gegen einen harten Kritiker des Gerichts während einer laufenden „grand jury investigation“ in Strafsachen auf. Es versteht sich von selbst, dass bei diesem Grundverständnis audiovisuelle Übertragungen von Gerichtsverhandlungen eher erwünscht als misstrauisch betrachtet sind. Der EGMR hat zwar – wie schon erwähnt – in Europa eine Mäßigung regulierender Maßnahmen gegenüber medialer Berichterstattung eingeleitet68 und sich dabei ohne Zweifel etwas am US-Supreme Court orientiert.69 Allerdings erhebt sich die Frage 64

Murray/Stürner, German Civil Justice, 2004, S. 577/578. Hierzu Stürner, JZ 1980, 161, 165 ff. 66 Hierzu Schweizer, Der Schutz der Rechtsverwirklichung im angelsächsischen Rechtskreis, 1974, S. 115 ff.; Goldfarb, The Contempt Power, 1963, S. 89 ff.; Ziegel, 6 McGill Law Journal 229 ff., 248 ff. (1960). 67 Wood v. Georgia, 370 U.S. 375, 391 (1962). 68 Dazu oben sub III 1; EGMR EuGRZ 1979, 386 ff. (Sunday Times/Großbritannien). 69 Stürner, JZ 1980, 1 ff., 4 r.Sp. 65

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nach einem maßvollen Schutz gegen unmittelbare öffentliche Einflussnahme, auch wenn man den grundsätzlichen Ausgangspunkt der US-amerikanischen Rechtskultur akzeptiert. Die geheime Beratung der „jury“ gerade in US-Verfahren zeigt, dass auch dort vor allem Laien als durch öffentliche Dauerbeobachtung beeinflussbar gelten. Es bleibt abzuwarten, inwieweit Court TV in den USA aufgrund dieser Beeinflussbarkeit von Zeugen und Jury-Mitglieder auf Dauer nicht doch restriktiver gehandhabt wird, als dies gegenwärtig teilweise der Fall ist.70 Die fehlende Beeinflussbarkeit von Berufsrichtern und Anwälten ist zudem die wohl gehütete Illusion einer ganzen Profession.71 Für Europa empfiehlt sich eine vorsichtige Zwischenlösung, wie sie bereits vorgestellt ist.72 V. Die Principles of Transnational Civil Procedure und der gemeinsame Entwicklungsstand Während die Vorschläge der Storme-Kommission für eine Harmonisierung des Europäischen Zivilprozessrechts73 zur Frage der Öffentlichkeit von Gerichtsverfahren schweigen, widmen die von Unidroit und dem American Law Institute verabschiedeten Principles of Transnational Civil Procedure74 ein eigenes Principle 20 diesem Thema und regeln Fragen der Öffentlichkeit und ihres Ausschlusses sehr detailliert. Principle 20 lautet: 20. Public Proceedings 20.1 Ordinarily, oral hearings, including hearings in which evidence is presented and in which judgment is pronounced, should be open to the public. Following consultation with the parties, the court may order that hearings or portions thereof be kept confidential in the interest of justice, public safety, or privacy. 20.2 Court files and records should be public or otherwise accessible to persons with a legal interest or making a responsible inquiry, according to forum law. 20.3 In the interest of justice, public safety, or privacy, if the proceedings are public, the judge may order part of them to be conducted in private. 20.4 Judgements, including supporting reasons, and ordinarily other orders, should be accessible to the public.

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Die Diskussion um das Pilotprojekt der Federal District Courts in der Judicial Conference zeigt, dass auch in den USA das letzte Wort noch nicht gesprochen scheint. 71 Dazu Stürner, JZ 1978, 161 ff., 164 f.; ders., Der straffreie Schwangerschaftsabbruch in der Gesamtrechtsordnung, 1994, S. 5 ff., 13 – 15. 72 Oben III. 2.d). 73 Hierzu Marcel Storme (Hg.), Rapprochement du Droit Judiciaire de l’Union Européenne, 1994. 74 ALI/Unidroit, Principles of Transnational Civil Procedure, Cambridge University Press, 2006; zur Geschichte und Gesamtkonzeption Stürner, RabelsZ 69 (2005), 201 ff.; ders., ZZPInt 11 (2006), 381 ff.

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Dieses Principle gibt den mehr oder weniger gemeinsamen Entwicklungsstand der europäischen Staaten und der USA wieder. Auch hier ist zu bemerken, dass sich vor allem Italien mit einem allenfalls gerade noch ausreichenden Minimum an Öffentlichkeit begnügt. Ferner bleibt festzuhalten, dass bloße Einverständlichkeit zur Nichtöffentlichkeit keinen legitimen Ausschlussgrund bildet. Gerade dieses Principle zeigt, wie sehr allgemeine Grundprinzipien auch entwickeltere Prozesskulturen davon abhalten können, von gemeinsamen Traditionen prozessualer Transparenz unbedacht abzuirren. Der Comment zu Principle 20 stellt klar, dass auch ein berechtigtes Interesse von Medien auf Zugang zu Gerichtsakten bestehen kann.75 Ein Defizit mag darin liegen, dass sich das Regelwerk zur Frage audiovisueller Übertragung nicht äußert, obwohl sich der Streit hierüber in vielen Prozesskulturen bereits anzubahnen begonnen hatte.76

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Hierzu ALI/Unidroit, Principles of Transnational Civil Procedure, 2006, Comment P20 A, S. 41. 76 Auch Rule 24 der Reporters’ Study äußert sich hierzu nicht; ALI/Unidroit, Principles, S. 99 ff., 136 f.

Das Recht auf wirkungsvollen Rechtsschutz Von Arnd Uhle, Dresden* I. Einleitung Zu den unhintergehbaren essentialia des grundgesetzlichen Rechtsstaatsprinzips gehört die Gewährleistung des Rechtsschutzes durch unabhängige Gerichte1. Diese Gewährleistung zielt auf zweierlei: auf den tatsächlichen Zugang zum Gericht einerseits und auf den rechtsschutzeffektiven Ablauf des gerichtlichen Verfahrens andererseits. Während der Zugang zum Gericht bei Rechtsverletzungen durch die öffentliche Gewalt im Wesentlichen durch Art. 19 Abs. 4 GG2 und bei sonstigen Rechtsverletzungen durch den allgemeinen Justizgewährungsanspruch gesichert wird3, dienen der Gewährleistung eines rechtsschutzeffektiven Verfahrensablaufs zunächst die ausdrücklich positivierten Justizgrundrechte. Zu ihnen zählen – neben den besonderen Verbürgungen für das Strafverfahren4 – vor allem das in Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG verankerte Recht auf den gesetzlichen Richter und der in Art. 103 Abs. 1 GG gesicherte Anspruch auf rechtliches Gehör5. Ergänzt werden diese Justizgrundrechte durch rechtsstaatlich fundierte Verfahrensanforderungen an den ordnungsgemäßen

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Das Manuskript des nachfolgenden Beitrags wurde am 1. März 2012 abgeschlossen. Siehe dazu BVerfGE 54, 277 (291); 85, 337 (345); 88, 118 (123); 101, 275 (294); 107, 395 (401); Maurer, in: Badura/Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. 2, 2001, S. 467 ff. (491 f.); Papier, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VIII, 3. Aufl. 2010, § 176 Rn. 1. 2 Dazu BVerfGE 35, 382 (401); Maurer, in: Badura/Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. 2, 2001, S. 467 ff. (493). – Hinzu treten die speziellen Verbürgungen in Art. 14 Abs. 3 Satz 4 GG und Art. 34 Satz 3 GG. 3 Dazu BVerfGE 107, 395 (401); 116, 135 (150); 117, 71 (121 f.); 119, 292 (295 f.); BVerfGK 6, 206 (209); 6, 295 (300 f.); BVerfG (K), NJW-RR 2010, 1474 (1475); SchmidtAßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Stand: 63. Erg.-Lfg. (Oktober 2011), Art. 19 Abs. 4 Rn. 16. 4 Hierzu zählen namentlich Art. 103 Abs. 2 GG, Art. 103 Abs. 3 GG und Art. 104 GG. Siehe dazu aus dem Schrifttum stellvertretend Möstl, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VIII, 3. Aufl. 2010, § 179 Rn. 56 ff. 5 Stellvertretend zum Recht auf den gesetzlichen Richter Roth, Das Grundrecht auf den gesetzlichen Richter, 2000, S. 13 f. und passim; Degenhart, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, 3. Aufl. 2007, § 114 Rn. 33 ff.; zum Anspruch auf rechtliches Gehör Waldner, Der Anspruch auf rechtliches Gehör, 2. Aufl. 2000, passim; Knemeyer, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VIII, 3. Aufl. 2010, § 178 Rn. 113 ff. und 17 ff. 1

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Ablauf eines gerichtlichen Verfahrens6. In ihnen berühren sich zwei Materien, die im wissenschaftlichen Œuvre von Thomas Würtenberger einen hervorgehobenen Stellenwert einnehmen: das Verfassungs- und das Prozessrecht. Folgerichtig hat der Jubilar diesen Anforderungen ein besonderes Augenmerk gewidmet7. In deren Zentrum steht die Garantie eines wirkungsvollen Rechtsschutzes. Diese soll im Folgenden näher untersucht werden. Zu diesem Zweck beleuchten die nachfolgenden Ausführungen zunächst die verfassungsrechtlichen Grundlagen der Gewähr eines wirkungsvollen Rechtsschutzes (hierzu sub II.). Hernach gehen sie der Frage nach, ob diese Verbürgung neben ihrem objektiven auch einen subjektiven Gehalt aufweist (hierzu sub III.). Sodann widmen sie sich den aus ihr folgenden Teilkonkretisierungen im Einzelnen (hierzu sub IV.) und wenden sich anschließend einer Bestimmung des Verhältnisses zu, das zwischen der auf diese Weise konkretisierten Garantie eines wirkungsvollen Rechtsschutzes und dem Gebot prozessualer Waffengleichheit besteht (hierzu sub V.). Abgerundet werden die nachfolgenden Betrachtungen mit einigen Anmerkungen zu der Verbürgung eines wirkungsvollen Rechtsschutzes durch das europäische Recht (hierzu sub VI.). II. Grundlagen der Gewähr eines wirkungsvollen Rechtsschutzes Die verfassungsrechtlichen Grundlagen der Gewähr eines wirkungsvollen Rechtsschutzes liegen in der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG und im Justizgewährungsanspruch – je nachdem, ob der Rechtsschutz gegen Rechtsverletzungen durch die öffentliche Gewalt oder der Rechtsschutz in anderen Bereichen betroffen ist. Das gründet darin, dass sowohl Art. 19 Abs. 4 GG als auch der Justizgewährungsanspruch nicht nur den Zugang zum gerichtlichen Rechtsschutz sichern, sondern darüber hinaus auch dessen Effektivität verbürgen. Das ist zunächst im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 GG anerkannt – und zwar ebenso in der bundesverfassungsgerichtlichen Judikatur8 wie auch im Schrifttum9. Denn an 6 Dazu m.w.N. Maurer, in: Badura/Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. 2, 2001, S. 467 ff. (493 ff.). 7 Zu den verfassungsrechtlichen Anforderungen an das Gerichtsverfahren Zippelius/Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 32. Aufl. 2008, § 47 Rn. 10 ff.; Würtenberger, Verwaltungsprozessrecht, 3. Auflage. 2011, Rn. 83 ff., v. a. 85 ff.; zum Gebot effektiven Rechtsschutzes ebd., Rn. 3, 86. 8 Siehe dazu etwa BVerfGE 35, 263 (274); 35, 382 (401); 40, 272 (275); 41, 23 (26); 51, 268 (284); 61, 82 (110 f.); 67, 43 (58); 77, 275 (284); 84, 34 (49); 93, 1 (13); 96, 27 (39); 101, 106 (122 f.); 101, 397 (407); 104, 220 (231); 107, 299 (337); 113, 297 (310); 117, 244 (268); 118, 168 (207); BVerfGK 4, 36 (40); 5, 45 (47 f.); 5, 196 (201); 6, 344 (347); 7, 363 (381); 9, 37 (40); 10, 48 (56); 10, 129 (131); 11, 153 (158); 11, 262 (266). 9 Wilfinger, Das Gebot effektiven Rechtsschutzes in Grundgesetz und Europäischer Menschenrechtskonvention, 1995, S. 22 ff., 36 ff., 46 ff.; Schenke, in: Wolter/Riedel/Taupitz (Hrsg.), Einwirkungen der Grundrechte auf das Zivilrecht, Öffentliche Recht und Strafrecht, 1999, S. 153 ff. (178 f.); Stern, in: Lüke/Mikami/Prütting (Hrsg.), Festschrift für Akira Is-

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dem von ihm verbürgten Rechtsschutz gegen Rechtsverletzungen durch die öffentliche Gewalt fehlt es nicht nur dort, wo die tatsächliche Möglichkeit der Anrufung eines Gerichts – etwa durch einen Ausschluss des Individualrechtsschutzes oder durch die Begründung von Zugangsbeschränkungen, die eine nur theoretische Möglichkeit der Anrufung eines Gerichtes belassen10 – unzumutbar und ohne sachlich rechtfertigenden Grund erschwert wird. Vielmehr fehlt es hieran auch dort, wo im Ablauf des gerichtlichen Verfahrens Grundsätze rechtsstaatlich-fairer Verhandlung missachtet werden, wo der Verfahrensgegenstand gerichtlich nicht umfassend geprüft, Rechtsschutz erst mit unangemessener Verzögerung zur Verfügung gestellt oder ein Verfahren ohne verbindliche und durchsetzbare gerichtliche Entscheidung zum Abschluss gebracht wird. Vor diesem Hintergrund sanktioniert die aus Art. 19 Abs. 4 GG resultierende Gewähr eines wirkungsvollen Rechtsschutzes Verstöße gegen jene Anforderungen an einen rechtsstaatlichen Ablauf des gerichtlichen Verfahrens, die nicht von spezielleren Vorschriften des Grundgesetzes – namentlich von den Justizgrundrechten – erfasst werden, aber die Wirksamkeit des gerichtlichen Rechtsschutzes in rechtsstaatswidriger Weise beeinträchtigen. Außerhalb des Anwendungsbereichs von Art. 19 Abs. 4 GG ergibt sich Gleiches aus der ihrerseits rechtsstaatlich begründeten allgemeinen Justizgewährungspflicht. Auch das ist in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts11 und im Schrifttum anerkannt12. Daher folgt aus dieser Pflicht für den von ihr umfassten Bereich – namentlich für die gerichtliche Durchsetzung zivil- und arbeitsrechtlicher Ansprüche – ebenfalls die Verbürgung eines wirkungsvollen Rechtsschutzes. Deren sachlicher Gehalt entspricht bereits im Hinblick auf den gemeinsamen rechtsstaatlichen Kern und das gemeinsame Anliegen von Rechtsschutzgarantie und Justizgewährungspflicht dem des Art. 19 Abs. 4 GG. Auf dieser Auffassung beruht auch die Judikatur des Bundesverfassungsgerichts. Denn dieses gelangt im Rahmen seiner Rechtsprechung weithin zu identischen Anforderungen an die Wirksamkeit des gerichtlichen Rechtsschutzes, unabhängig davon, ob Art. 19 Abs. 4 GG oder die allgemeine Justizgewährungspflicht die Grundlage seiner Ausführungen bildet. Das zeigt sich vor allem daran, dass sich diesbezüglich nicht nur die grundsätzlichen bundesverfassungsgerichtlichen Feststellungen zur Gewähr eines wirkungsvollen Rechtsschutzes decken, sondern auch die hieraus resultierenden Konkretisierungen wie hikawa zum 70. Geburtstag am 27. November 2001, 2001, S. 505 ff. (512 ff.); aus der Kommentarliteratur etwa Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, 6. Aufl. 2010, Art. 19 Rn. 459 ff., v. a. 474 ff. 10 Zu Ersterem BVerfGE 37, 150 (153); zu Letzterem vgl. BVerfGE 101, 397 (408). 11 Siehe dazu BVerfGE 54, 277 (291); 85, 337 (345); 88, 118 (123), 93, 99 (107); 107, 395 (406 f.); 108, 341 (347); 112, 185 (207); 116, 135 (149); 117, 71 (121 f.); 119, 292 (295); 122, 248 (270 f.); BVerfGK 6, 206 (209); 6, 295 (300 f.); 7, 71 (77); 9, 225 (228); 11, 48 (53); 13, 348 (350); 14, 270 (274); BVerfG (K), NJW 2011, 1497 (1498). 12 Stellvertretend hierzu Dütz, Rechtsstaatlicher Gerichtsschutz im Privatrecht, 1970, S. 95 ff.; Lorenz, AöR 105 (1980), 623 (631); Schmidt-Jortzig, NJW 1994, 2569; zusammenfassend Degenhart, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, 3. Aufl. 2007, § 114 Rn. 8; Papier, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VIII, 3. Aufl. 2010, § 176 Rn. 1 und 7 f.

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etwa die Verbürgung eines Rechtsschutzes in angemessener Zeit13. Darüber hinaus finden vielfach sogar dieselben gerichtlichen Formulierungen Verwendung, unabhängig davon, ob sich diese im Einzelfall auf Art. 19 Abs. 4 GG oder auf die allgemeine Justizgewährungspflicht beziehen14. III. Subjektiver Gehalt der Gewähr eines wirkungsvollen Rechtsschutzes Auch wenn sich vor dem vorstehend skizzierten Hintergrund die Verbürgungen eines effektiven Rechtsschutzes im Anwendungsbereich des Art. 19 Abs. 4 GG einerseits und in dem der allgemeinen rechtsstaatlichen Justizgewährungspflicht andererseits entsprechen, ist damit noch nicht die Frage beantwortet, ob dies auch für deren subjektiven Gehalt gilt. In ihrer dogmatischen Anlage nämlich unterscheiden sich Art. 19 Abs. 4 GG und die Justizgewährungspflicht als Grundlage dieser Gewähr erheblich. Dieser Unterschied resultiert daraus, dass Art. 19 Abs. 4 GG als „formelles Hauptgrundrecht“15 ohne Weiteres ein subjektives Recht des Einzelnen gegenüber der staatlichen Gewalt umfasst16, während die rechtsstaatlich begründete und insofern namentlich auf Art. 20 Abs. 3 GG zurückzuführende Justizgewährungspflicht in ihrem Ausgangspunkt objektiv-rechtlicher Natur ist. Folglich bedarf sie zur Ableitung eines Individualanspruchs einer Subjektivierung durch eine grundrechtliche Fundierung17. Diese darf nicht pauschal und vorschnell unterstellt werden, sondern verlangt ihrerseits nach einer verfassungsrechtlichen Ableitung. Das Bundesverfassungsgericht gewinnt diese Subjektivierung überwiegend aus einem im Einzelnen nicht näher begründeten Rückgriff auf die Grundrechte, vor allem auf Art. 2 Abs. 1 GG18. In der Konsequenz spricht das Gericht teilweise von einem „Grundrecht auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes“, das in zivilrechtlichen Streitigkeiten „durch Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechts13

Zu ihr im Kontext des Justizgewährungsanspruchs BVerfGE 88, 118 (124); 93, 99 (107 f.), 117, 71 (121 ff.); BVerfG (K), NJW-RR 2009, 207 (208), im Kontext des Art. 19 Abs. 4 GG BVerfGE 54, 39 (41); 55, 349 (369); 60, 253 (269). 14 Maurer, in: Badura/Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. 2, 2001, S. 467 ff. (493). 15 Klein, VVDStRL 1950 (8), 67 (87 f.). 16 Maurer, in: Badura/Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. 2, 2001, S. 467 ff. (474); Zippelius/Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 32. Aufl. 2008, § 12 Rn. 102; Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, 6. Aufl. 2010, Art. 19 Rn. 367; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Stand: 63. Erg.-Lfg. (Oktober 2011), Art. 19 Abs. 4 Rn. 7; Sachs, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, 6. Aufl. 2011, Art. 19 Rn. 113. 17 Die der Justizgewährungspflicht fehlende Grundrechtsqualität hebt etwa Papier, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VIII, 3. Aufl. 2010, § 177 Rn. 16, hervor. 18 Für eine Ableitung des Justizgewährungsanspruchs aus dem Rechtsstaatsprinzip i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG BVerfGE 29, 21 (36); 38, 105 (111); 69, 381 (385); 78, 123 (126); 88, 118 (123); 93, 99 (107); 94, 166 (226); 101, 275 (294 f.); 112, 185 (207); 117, 71 (122).

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staatsprinzip verbürgt wird“19. Allerdings schwanken die bundesverfassungsgerichtlich herangezogenen Begründungsansätze. Zum Teil findet sich auch ein Rekurs alleine auf das Rechtsstaatsprinzip20 oder der undifferenzierte Rückgriff auf „Art. 19 Abs. 4 GG und […] Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip“21. Das offenbart eine nicht unerhebliche dogmatische Unsicherheit. Diese Unsicherheit dürfte jedenfalls zum Teil darin wurzeln, dass Art. 2 Abs. 1 GG ein subjektiver Gehalt der staatlichen Justizgewährungspflicht nur insofern entnommen werden kann, als hieraus ein Leistungsrecht folgt. Denn der gerichtliche Rechtsschutz stellt eine staatliche Leistung dar, so dass ein darauf gerichteter Individualanspruch – wie nicht zuletzt Art. 19 Abs. 4 GG belegt – nach einem Leistungsrecht als Grundlage verlangt22. Die Ableitung eines solchen Leistungsanspruchs aus einem Freiheitsrecht indessen begegnet – worauf vereinzelt auch im Schrifttum hingewiesen wird23 – ihrerseits dogmatischen Bedenken, weil die Freiheitsgrundrechte vorrangig Abwehrrechte sind. Etwas anderes gilt freilich ausnahmsweise dort, wo der Staat in der Konsequenz des von ihm in Anspruch genommenen Gewaltmonopols auch über ein Monopol bei der Durchsetzung von Rechten und diesen korrespondierenden Grundrechten verfügt24. Denn in dessen Folge ist der Rechtsinhaber zur Realisierung seines Rechts auf den Staat und dessen Gerichte angewiesen, dies umso mehr, als für ihn aufgrund des staatlichen Gewaltmonopols zugleich die allgemeine bürgerliche Friedenspflicht und das Selbsthilfeverbot gilt25. Das spricht trotz der grundsätzlichen Bedenken dafür, im Fall der staatlichen Justizgewährungspflicht eine grundrechtliche Subjektivierung zu bejahen, also aus Art. 2 Abs. 1 GG ein grundrechtliches Leistungsrecht im Umfang der staatlichen Justizgewährungspflicht abzuleiten. Allerdings fragt sich, ob aus Art. 19 Abs. 4 GG Bedenken gegen die Ableitung eines solchen Rechts folgen. Immerhin normiert das Grundgesetz mit dieser Vorschrift einen Rechtsschutzanspruch, der sich als eine besondere Erscheinungsform 19 So BVerfGE 88, 118 (123, 125); 101, 275 (294 f.); 117, 71 (71); BVerfGK 2, 140 (140, 142 f.); 4, 119 (127); 14, 270 (270, 275); BVerfG (K), NJW 2000, 944 (945); NJW 2010, 2567 (2567); FamRZ 2010, 1235 (1236); vgl. auch BVerfGE 97, 169 (185); BVerfGK 6, 206 (209); 10, 19 (38). 20 So etwa BVerfGE 54, 277 (291); 85, 337 (345); 116, 135 (149). 21 Dafür BVerfGE 80, 103 (107). 22 Vgl. dazu bereits Scholz, in: Randelzhofer/Scholz/Wilke (Hrsg.): Gedächtnisschrift für Eberhard Grabitz, 1995, S. 725 ff. (729 f.); wie hier Maurer, in: Badura/Dreier (Hrsg.): Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. 2, 2001, S. 467 ff. (492). 23 Restriktiv etwa Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck (Hrsg.), GG, 6. Aufl. 2010, Art. 19 Rn. 355; kritisch Maurer, in: Badura/Dreier (Hrsg.): Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. 2, 2001, S. 467 ff. (492). 24 Vgl. hierzu BVerfGE 33, 303 (331 ff.); ausdrücklich wie hier, auch zum Folgenden Schenke, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGR III, 2009, § 78 Rn. 79. 25 Vgl. BVerfGE 54, 277 (292 f.); 81, 347 (356); 85, 337 (347); aus dem Schrifttum so auch Isensee, in: ders./Kirchhof (Hrsg.), HStR II, 3. Aufl. 2004, § 15 Rn. 93; Papier, in: Isensee/ Kirchhof (Hrsg.), HStR VIII, 3. Aufl. 2010, § 176 Rn. 1 und § 177 Rn. 16; Stern, Staatsrecht III/1, 1988, S. 1438.

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des allgemeinen Justizgewährungsanspruchs verstehen lässt. In der Folge erhebt sich die Frage, ob aus der verfassungsrechtlichen Positivierung alleine dieses Anspruchs im Umkehrschluss folgt, dass sich das Grundgesetz einer weitergehenden Subjektivierung der Justizgewährungspflicht entzieht. Im Ergebnis freilich ist ein solcher Umkehrschluss nicht überzeugend zu begründen. Denn entstehungsgeschichtlich betrachtet hat Art. 19 Abs. 4 GG vor allem deshalb Eingang in das Grundgesetz gefunden, weil der Rechtsschutz des Bürgers gegen Rechtsverletzungen der öffentlichen Gewalt zum Zeitpunkt der Verfassungsgebung noch nicht in umfassender Weise modernen rechtsstaatlichen Vorstellungen entsprach und daher im Unterschied zu dem seit langem anerkannten Justizgewährungsanspruch in bürgerlich-rechtlichen Streitigkeiten besonders regelungsbedürftig war26. Vor diesem Hintergrund ist der bundesverfassungsgerichtlichen Subjektivierung der Justizgewährungspflicht durch Rückgriff auf Art. 2 Abs. 1 GG im Ergebnis zuzustimmen. Der staatlichen Justizgewährungspflicht korrespondiert folglich ein Justizgewährungsanspruch des Einzelnen. Dieser ist mit der Verfassungsbeschwerde durchsetzbar27. Für eine solche verfassungsprozessuale Durchsetzbarkeit spricht, dass sie zum einen in der Konsequenz der grundrechtlich begründeten Subjektivierung der staatlichen Justizgewährungspflicht liegt und zum anderen zu einer Parallelität der Durchsetzbarkeit der Justizgewährungsansprüche im öffentlich-rechtlichen und im zivilrechtlichen Bereich führt, die dem gemeinsamen rechtsstaatlichen Anliegen beider Justizgewährungsansprüche Rechnung trägt28. Für die grundgesetzliche Gewähr eines effektiven Rechtsschutzes folgt aus alledem, dass sie auch im Bereich des allgemeinen Justizgewährungsanspruchs einen subjektiven Gehalt enthält, auf ihre Realisierung also ein Individualanspruch besteht und sie sich demgemäß als grundrechtsgleiches Recht auf einen wirkungsvollen Rechtsschutz erweist. Angesichts dessen entsprechen sich die diesbezüglichen Verbürgungen im Anwendungsbereich des Art. 19 Abs. 4 GG und in dem der allgemei-

26 Wie hier auch Maurer, in: Badura/Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. 2, 2001, S. 467 ff. (471 ff., 492). 27 Im Ergebnis wie hier Dütz, Rechtsstaatlicher Gerichtsschutz im Privatrecht, 1970, S. 281 ff. (286); ebenso Degenhart, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, 3. Aufl. 2007, § 114 Rn. 8; anders etwa Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Stand: 63. Erg.-Lfg. (Oktober 2011), Art. 19 Abs. 4 Rn. 16 a.E., der bei grundsätzlicher Bejahung einer Durchsetzbarkeit des Justizgewährungsanspruchs annimmt, dass dieser „nicht in seiner ganzen Breite“, sondern (nur) „in seinen grundrechtsunmittelbaren Sektoren und in seinen flankierenden Instituten (Art. 101 Abs. 1 S. 2, Art. 103 Abs. 1)“ mit der Verfassungsbeschwerde verfolgbar sei. 28 Ein Unterschied zum vorbehaltlos gewährleisteten Art. 19 Abs. 4 GG ergibt sich allerdings aus dem Umstand, dass der Justizgewährungsanspruch aufgrund seiner Subjektivierung durch Art. 2 Abs. 1 GG konsequenterweise auch den dort normierten Schranken unterliegt; siehe dazu etwa Dörr, in: Bungenberg/Huber/Streinz (Hrsg.), Wirtschaftsverfassung und Vergaberecht – Der verfassungsrechtliche Rahmen der Auftrags- und Konzessionsvergabe, 2011, S. 105 ff. (107); Knauff, NVwZ 2007, S. 546 f. (547); Bungenberg, SächsVBl. 2008, S. 53 ff. (54).

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nen rechtsstaatlichen Justizgewährungspflicht nicht nur in ihrem objektiven Gehalt, sondern auch in ihrer individualrechtlichen Durchsetzbarkeit. IV. Gehalt und Konkretisierung des Rechts auf wirkungsvollen Rechtsschutz Vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen lässt sich die Garantie eines wirkungsvollen Rechtsschutzes als ein subjektives Recht beschreiben, das jene Anforderungen an Organisation und Ablauf eines gerichtlichen Verfahrens verbürgt, die von spezielleren Verfassungsnormen nicht erfasst werden, aber für die rechtsstaatlich geforderte Effektivität des gerichtlichen Rechtsschutzes unerlässlich sind. Freilich ist das Recht auf wirkungsvollen Rechtsschutz auch mit dieser Annäherung zunächst nur leitlinienhaft umschrieben. Das erhellt, dass es der Konkretisierung im Detail bedarf. Für diese Konkretisierung sind zwei Umstände von Bedeutung. So ist zunächst – in gleichsam negativer Hinsicht – von Relevanz, dass das Recht auf wirkungsvollen Rechtsschutz eine Verbürgung mit Auffangcharakter darstellt, es also zu seiner Aktualisierung von vornherein erst und nur dort kommt, wo nicht die Prozessgrundrechte als leges speciales einschlägig sind. Angesichts dessen sind es die Prozessgrundrechte, die den Bereich bestimmen, innerhalb dessen sich das Recht auf wirkungsvollen Rechtsschutz entfalten kann. Innerhalb dieses Rahmens sind für die Konkretisierung sodann – in gleichsam positiver Hinsicht – die Personenhaftigkeit der Verfahrensbeteiligten, ein dieser entsprechendes Mindestmaß effektiver Verfahrensrechte, vor allem aber die tatsächliche Möglichkeit der gerichtlichen Rechtsdurchsetzung entscheidend29. Zur Frage, welche Konkretisierungen des Rechts auf wirkungsvollen Rechtsschutz vor diesem Hintergrund im Einzelnen anzuerkennen sind, werden in der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts wie auch im Schrifttum sich im Detail vielfältig unterscheidende Auffassungen vertreten. Gleichwohl lassen sich einige Einzelausprägungen herausschälen, über deren Bestand im Ergebnis – trotz zum Teil unterschiedlicher Herleitung und Systematisierung – weithin Konsens besteht. Diese reichen vom Anspruch auf ein faires gerichtliches Verfahren über das Recht auf eine öffentliche Durchführung der Gerichtsverhandlung bis zum Anspruch auf eine umfassende gerichtliche Prüfung des Verfahrensgegenstandes und vom Recht auf einen Verfahrensabschluss in angemessener Zeit über die Gewährleistung eines rechtzeitigen, also unter Umständen auch vorläufigen bzw. vorbeugenden Rechtsschutzes bis zum Anspruch auf eine rechtsbeständige und durchsetzbare Entscheidung des erkennenden Gerichts. Da sie Maßstab für die gesetzliche Ausgestal29 Wie hier, wenngleich im Hinblick auf das Recht auf ein faires Verfahren, auch Maurer, in: Badura/Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. 2, 2001, S. 467 ff. (501); speziell im Hinblick auf das Strafverfahren Möstl, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VIII, 3. Aufl. 2010, § 179 Rn. 63.

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tung des gerichtlichen Rechtsschutzes wie auch für die gerichtliche Anwendung und Auslegung des Prozessrechts sind, sind ihre Adressaten sowohl Legislative als auch Judikative30. Gesetzliche Einschränkungen des Rechts auf wirkungsvollen Rechtsschutz sind zwar nicht von vornherein unstatthaft, müssen aber jeweils „zweckgerichtet, geeignet und angemessen sowie für den Rechtsuchenden zumutbar sein“31. Sie sind daher nur dort statthaft, wo sie nicht zu unzumutbaren und ungerechtfertigten Beeinträchtigungen des Anspruchs auf eine wirksame gerichtliche Kontrolle führen32. 1. Der Anspruch auf ein faires Verfahren Eine erste Einzelausprägung des Rechts auf wirkungsvollen Rechtsschutz stellt der Anspruch auf ein rechtsstaatlich-faires Gerichtsverfahren dar. Freilich wird dieser von Bundesverfassungsgericht und Schrifttum überwiegend unmittelbar aus dem Rechtsstaatsprinzip i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG abgeleitet und in der Folge weithin als selbständige Ergänzung des Rechts auf effektiven Rechtsschutz begriffen33. Das indessen vermag bereits deshalb nicht zu überzeugen, weil in der Konsequenz die Notwendigkeit entsteht, den Anspruch auf faire Verfahrensgestaltung vom Recht auf wirkungsvollen Rechtsschutz abzugrenzen, obgleich für eine solche Abgrenzung kaum überzeugende Kriterien namhaft zu machen sind. Vor allem aber ist nur ein faires gerichtliches Verfahren in der Lage, einen effektiven Rechtsschutz sicherzustellen, während ein unfaires Verfahren von vornherein einen Rechtsschutz bewirkt, dessen Effektivität eingeschränkt, wenn nicht gar aufgehoben ist34. Das verdeutlicht, dass die – ihrerseits verfassungsbeschwerdefähige35 – Gewähr eines fairen Prozesses integraler Bestandteil des Rechts auf wirkungsvollen Rechtsschutz ist. 30

Vgl. unter dem Aspekt des Art. 19 Abs. 4 GG BVerfGE 77, 275 (284); 97, 298 (315); aus dem Schrifttum stellvertretend so etwa Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), GrundgesetzKommentar, Bd. 1, 2. Aufl. 2004, Art. 19 IV Rn. 80. 31 BVerfGE 60, 253 (269); vgl. auch BVerfGE 101, 106 (124 f.). 32 „Vor diesem Hintergrund ist es etwa im gerichtlichen Verfahren unstatthaft, durch eine übermäßig strenge Handhabung verfahrensrechtlicher Schranken den Anspruch auf gerichtliche Durchsetzung des materiellen Rechts unzumutbar zu verkürzen“, BVerfGE 84, 366 (369 f.). 33 BVerfGE 38, 105 (111); 46, 202 (209); 57, 250 (274); 63, 45 (60); 69, 381 (385); 78, 123 (126); 86, 288 (317); 89, 120 (129 ff.); 91, 176 (180 f.); 93, 99 (113); 101, 397 (404); 103, 44 (64); 109, 13 (34); 109, 38 (60); 110, 226 (253); 110, 339 (342); 118, 212 (231); 122, 248 (270); BVerfG (K), NJW 2011, 207 (208 f.); Vollkommer, in: Baltzer/Baumgärtel/Peters/Pieper (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Rudolf Bruns, 1980, S. 195 ff. (213 f.); Tettinger, Fairneß und Waffengleichheit, 1984, S. 12 ff.; Rzepka, Zur Fairneß im deutschen Strafverfahren, 2000, S. 124 ff. und passim; a.A. Dörr, Faires Verfahren, 1984, S. 177. 34 Das belegt ein Verständnis, das den sachlichen Gehalt des Anspruchs auf faires Verfahren dahingehend umschreibt, dass der Betroffene seine Rechtsposition effektiv vertreten kann. Hierfür etwa Grabenwarter/Pabel, in: Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG-Konkordanzkommentar, 2006, Kap. 14 Rn. 87 f.; Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Stand: 63. Erg.-Lfg. (Oktober 2011), Art. 2 Rn. 73 („Grundrecht auf effektiven, wirkungsvollen Rechtsschutz“). 35 Degenhart, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 6. Aufl. 2011, Art. 103 Rn. 42.

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Eine Herausforderung stellt die Konkretisierung des solchermaßen systematisierten Rechts auf faires Verfahren dar, die vorrangig eine gesetzgeberische Aufgabe bildet36. Deren maßgebliche Maxime ist der rechtsstaatsadäquate und insofern rücksichtsvolle gerichtliche Umgang mit den Verfahrensbeteiligten, in dessen Zentrum das Gebot steht, den Beteiligten die Realisierung ihrer Verfahrensrechte zu ermöglichen. Diese Sichtweise entspricht der des Bundesverfassungsgerichts, das formuliert, dass der Anspruch auf ein faires Verfahren eine gerichtliche Rücksichtnahme auf die Verfahrensbeteiligten in ihrer konkreten Situation erfordert37. In der Konsequenz resultiert aus dem Recht auf faires Verfahren etwa die Pflicht des Richters, sich nicht widersprüchlich zu verhalten38. Diesem Verbot des widersprüchlichen Verhaltens entspricht in positiver Wendung das Gebot, das Verfahren vorhersehbar auszugestalten, also den Prozess seitens des Gerichts so zu führen, wie die Parteien „es von ihm erwarten dürfen“39. Darüber hinaus folgt aus dem Recht auf faire Verfahrensgestaltung etwa das Verbot, Versäumnisse des Gerichts mit Konsequenzen zu belegen, die für die Parteien nachteilig sind40. Das unter Zugrundelegung des Rücksichtnahmegebotes zu konkretisierende Recht auf ein faires Verfahren verfügt über einen weit gefassten Anwendungsbereich. Es gilt etwa im Verwaltungsprozess, aber – entgegen der früher vertretenen, zwischenzeitlich geänderten Sicht des Bundesverfassungsgerichts – auch im Zivilprozess41, für den aus ihm u. a. Anforderungen an die richterliche Handhabung des Beweisrechts, insbesondere der Beweislastregeln42 sowie das Verbot, die Richtigkeit bestrittener Tatsachen ohne hinreichende Begründung zu bejahen, folgen43. Besondere Bedeutung kommt ihm im Strafprozess zu44. Hier tritt es dem staatlichen Inte36

BVerfGE 57, 250 (275 f.); 63, 45 (61); 70, 297 (308 f.); 74, 358 (371 f.); 86, 288 (317 f.); Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, 2. Aufl. 2006, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 216. 37 BVerfGE 78, 123 (126); BVerfGK 4, 137 (140); 7, 198 (200). 38 BVerfGE 69, 381 (386 f.); 78, 123 (126); BVerfGK 1, 214 (216); 2, 70 (72); 3, 169 (172 f.); 4, 137 (140). 39 BVerfGE 78, 123 (126 f.). Zum Recht auf ein vorhersehbares Verfahren Degenhart, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, 3. Aufl. 2007, § 115 Rn. 19; vgl. auch BVerfGE 87, 48 (65). 40 Dazu BVerfGE 69, 381 (387); 78, 123 (126); 110, 339 (342); BVerfGK 1, 214 (216); 2, 70 (72); 4, 137 (140); 7, 198 (200); im Kontext des rechtlichen Gehörs nach Art. 103 Abs. 1 GG BVerfGE 51, 188 (192); 60, 1 (6). 41 BVerfGE 78, 123 (126); 88, 118 (123); BVerfGK 7, 198 (200); 11, 461 (463); für das Zwangsvollstreckungsverfahren BVerfGE 49, 220 (225); gegen eine verallgemeinernde Anwendung im Zivilprozess noch BVerfGE 52, 131 (155 f.). 42 BVerfGE 106, 28 (48); 117, 202 (240); zur Bedeutung des fairen Verfahrens für das Beweisrecht Tettinger, Fairneß und Waffengleichheit, 1984, S. 38 f. 43 Hierzu BVerfGE 91, 176 (181 ff.). 44 BVerfGE 38, 105 (111); 70, 297 (308); 118, 212 (231); 122, 248 (271); aus dem Schrifttum Hartmann/Apfel, Jura 2008, S. 495 ff.; monographisch Steiner, Das Fairneßprinzip im Strafprozeß, 1995, S. 35 ff. und passim; Rzepka, Zur Fairneß im deutschen Strafverfahren, 2000, S. 124 ff. und passim; siehe hierzu auch Grabenwarter/Pabel, in: Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG-Konkordanzkommentar, 2006, Kap. 14 Rn. 90; soweit sich das Recht auf

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resse an einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege entgegen und stellt diesem die Verbürgung einer fairen und damit effektiven Verteidigungsmöglichkeit gegenüber45. In deren Konsequenz folgert das Bundesverfassungsgericht aus dem Anspruch auf faires Verfahren etwa das Recht des Angeklagten auf Auswahl und Zuziehung eines Wahlverteidigers, ferner auch das Recht auf einen Pflichtverteidiger, sofern er die Kosten eines Wahlverteidigers nicht zu tragen in der Lage ist46. Dem Verteidiger muss es hierbei im Interesse einer wirksamen Verteidigung möglich sein, in jeder Situation des Verfahrens auf dessen Ablauf Einfluss zu nehmen47. Dazu gehören auch jene Verfahrensstadien, die dem eigentlichen gerichtlichen Strafprozess vorausgehen, weil sonst nicht ausgeschlossen werden kann, dass sich der Beschuldigte in diesen Stadien – beispielsweise zu Beginn der polizeilichen Vernehmung – unwissentlich zu seinem Nachteil verhält, etwa indem er sich entgegen dem Grundsatz „nemo tenetur se ipsum accusare“ unbemerkt selbst belastet48. Geschützt ist von dem Recht auf faires Strafverfahren des Weiteren, dass ausreichend Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung der Verteidigung bestehen49. Auch zählt hierzu das Recht auf vertrauliche Kommunikation zwischen Angeklagtem und Verteidiger50. 2. Der Anspruch auf ein öffentliches Verfahren Der Sicherung eines in diesem Sinne fairen Verfahrens dient die Öffentlichkeit gerichtlicher Verhandlungen, da sie die an einer Verhandlung Beteiligten gegen eine der öffentlichen Kontrolle entzogene Geheimjustiz schützt51. Damit stellt sie zugleich ein bedeutsames Instrument zum Schutz der Effektivität eines gerichtlichen Prozesses und insofern eine weitere Teilkonkretisierung des Anspruchs auf wir-

faires Verfahren speziell auf den Strafprozess bezieht, wird es bundesverfassungsgerichtlich auch auf Art. 1 Abs. 1 GG bzw. Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG gestützt; vgl. dazu BVerfGE 57, 250 (274 f.); 70, 297 (308); 122, 248 (271). 45 Wie hier Degenhart, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, 3. Aufl. 2007, § 115 Rn. 19; zum Verfassungsrang einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege BVerfGE 46, 214 (222 f.); 51, 324 (343); 74, 257 (262); 80, 367 (378); 103, 142 (154); 107, 104 (118 f.); 113, 29 (54). 46 Zum Wahlverteidiger BVerfGE 39, 156 (163); 66, 313 (318 f.); 68, 237 (255); zum Pflichtverteidiger BVerfGE 39, 238 (243); 68, 237 (255 f.); zum Vorrang des Beschuldigten bei der Auswahl des Pflichtverteidigers BVerfGE 9, 36 (38); BGHSt 43, 153 (154 f.). 47 BVerfGE 63, 45 (68 f.); BVerfGK 8, 355 (357); BVerfG (K), NJW 2001, 2245 (2246); NJW 2010, 592 (595). 48 Für die erste polizeiliche Vernehmung im Ermittlungsverfahren so EGMR, NJW 2009, 3707 (3707 f.). 49 Vgl. auch Grabenwarter/Pabel, in: Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG-Konkordanzkommentar, 2006, Kap. 14 Rn. 132. 50 BVerfGE 113, 29 (47). 51 Zur Öffentlichkeit des Gerichtsverfahrens Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, 2. Aufl. 2006, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 220; Degenhart, in: Isensee/ Kirchhof (Hrsg.), HStR V, 3. Aufl. 2007, § 115 Rn. 41.

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kungsvollen Rechtsschutz dar52. Als solche ist sie, auch wenn das Bundesverfassungsgericht sie als „Grundsatz“ bezeichnet53, ein grundrechtsgleiches Recht54, das freilich nicht absolut gilt55. Denn einer unbegrenzten Öffentlichkeit können das Persönlichkeitsrecht der am Verfahren Beteiligten, ihr Anspruch auf ein faires Verfahren sowie die Funktionstüchtigkeit der Rechtspflege, insbesondere die Wahrheits- und Rechtsfindung, entgegenstehen56. Daher beurteilt das Bundesverfassungsgericht nicht nur die gesetzliche Begrenzung der Öffentlichkeit auf die Saalöffentlichkeit, sondern auch den Ausschluss von Ton- und Fernsehaufnahmen in Gerichtsverhandlungen als verfassungsrechtlich statthaft57. 3. Der Anspruch auf eine umfassende gerichtliche Prüfung des Verfahrensgegenstandes Eine weitere Teilkonkretisierung des Rechts auf wirkungsvollen Rechtsschutz liegt in der Gewähr einer umfassenden tatsächlichen und rechtlichen Prüfung des Verfahrensgegenstandes durch das damit befasste Gericht, soweit der Verfahrensbeteiligte nicht in verfassungsrechtlich statthafter Weise präkludiert ist58. Folglich muss jedenfalls bei der erstmaligen gerichtlichen Befassung zunächst der für ein gerichtliches Verfahren relevante Tatsachenstoff gerichtlich festgestellt bzw. überprüft werden59, so dass insofern eine Beschränkung auf eine ausschließlich rechtliche Über52

Zum grundgesetzlichen Schutz der Öffentlichkeit einer Gerichtsverhandlung BVerfGE 103, 44 (63 f.); BVerfG (K), 1 BvR 2069/00 vom 13. 9. 2001, Rn. 6; ebenso im Kontext von Art. 6 EMRK BVerwGE 110, 203 (206). Aus dem Schrifttum umfassend dazu Bröhmer, Transparenz als Verfassungsprinzip, 2004, v. a. S. 264 ff.; v. Coelln, Zur Medienöffentlichkeit der dritten Gewalt, 2005, S. 167 ff. und 198 ff. 53 BVerfGE 103, 44 (63); ebenso BVerfG (K), 1 BvR 2069/00 vom 13. 9. 2001, Rn. 6 und 11. 54 Im Ergebnis so auch Grabenwarter/Pabel, in: Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GGKonkordanzkommentar, 2006, Kap. 14 Rn. 109; ebenso wohl Grzeszick, in: Maunz/Dürig, GG, Stand: 63. Erg.-Lfg. (Oktober 2011), Art. 20 VII Rn. 149. 55 Zum Folgenden BVerfGE 103, 44 (64); so auch Schenke, in: Dolzer/Kahl/Waldhoff/ Graßhof (Hrsg.), Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Stand: 154. Erg.-Lfg. (Oktober 2011), Art. 19 Abs. 4, Rn. 147 ff. 56 Wie hier dezidiert auch BVerfGE 103, 44 (64); BVerfG (K), 1 BvR 2069 /00 vom 13. 9. 2001, Rn. 6; ebenso Grabenwarter/Pabel, in: Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG-Konkordanzkommentar, 2006, Kap. 14 Rn. 117. 57 BVerfGE 103, 44 (63 ff.). 58 Im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 GG so auch BVerfGE 15, 275 (282); 18, 203 (212); 31, 113 (117); 45, 297 (333); 51, 268 (284); 61, 82 (111); 73, 339 (373); 78, 214 (226); 84, 34 (49); 101, 106 (123); 101, 397 (407); 103, 142 (156); 113, 273 (310); BVerfGK 4, 1 (6); im Hinblick auf den Justizgewährungsanspruch ebenso BVerfGE 54, 277 (291); 84, 366 (369); 85, 337 (345); 101, 275 (294 f.); 107, 395 (401); BVerfGK 4, 119 (127 f.). 59 Vgl. BVerfGE 101, 275 (294 f.); BVerfGK 4, 119 (127 f.); 9, 390 (395 f.); 9, 460 (463 f.). – Aus diesem Grund ist namentlich eine gerichtliche Bindung an behördliche Tatsachenfeststellungen unzulässig, BVerfGE 15, 275 (282); 61, 82 (111); 73, 339 (373); 84, 59 (77); 101, 106 (123); 103, 142 (156).

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prüfung ausscheidet60. Darüber hinaus ist Ausfluss des Rechts auf wirkungsvollen Rechtsschutz, dass auch ein Anspruch auf eine prinzipiell vollständige Nachprüfung des Verfahrensgegenstandes in rechtlicher Hinsicht besteht61. Dieser Anspruch steht einer gerichtlichen Bindung an behördliche Wertungen von vornherein entgegen und fordert zudem ausreichende Prüfungs- und Entscheidungsbefugnisse der Gerichte62. Gleichwohl kann die gerichtliche Kontrolldichte speziell im Verwaltungsprozess zur Schaffung eines Ausgleichs mit kollidierenden Verfassungsgütern eingeschränkt werden, insbesondere zur Herstellung eines Ausgleichs mit den Prinzipien von Demokratie und Gewaltenteilung, die eine gesetzgeberische Gewichtung der exekutiven und judikativen Beiträge zur Gesetzeskonkretisierung durch Rücknahme der gesetzlichen Regelungsdichte gestatten63. In der Konsequenz endet eine gerichtliche Kontrolle dort, „wo das materielle Recht der Exekutive in verfassungsrechtlich unbedenklicher Weise Entscheidungen abverlangt, ohne dafür hinreichend bestimmte Entscheidungsprogramme vorzugeben“64. Das ist nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts namentlich bei Gestaltungsspielräumen, bei Beurteilungs-, Einschätzungs- und Prognosespielräumen sowie bei Ermessensspielräumen der Fall65. 4. Der Anspruch auf ein zeitgerechtes Verfahren Aus dem Recht auf wirkungsvollen Rechtsschutz folgt des Weiteren die Verbürgung, dass eine abschließende gerichtliche Entscheidung zeitgerecht, also in ange60 Statthaft sind demgegenüber – worauf Papier, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VIII, 3. Aufl. 2010, § 176 Rn. 18, ausdrücklich hinweist – Einschränkungen der Prüfungsdichte unter dem Aspekt der Präjudizialität oder der Tatbestandswirkung von Verwaltungsakten, da in derartigen Fällen eine vorherige Kontrolle erfolgt ist bzw. hat erfolgen können. 61 Zur umfassenden rechtlichen Überprüfung im Kontext der Rechtsschutzgarantie BVerfGE 49, 220 (241 f.); 67, 43 (58); 101, 106 (122 f.); 101, 397 (407); 103, 142 (156); BVerwGE 94, 307 (309). 62 Zur Bindung an behördliche Wertungen BVerfGE 61, 82 (111); 84, 59 (77); 101, 106 (123); 103, 142 (156); BVerwGE 106, 263 (266 f.); 118, 352 (357); zu ausreichenden gerichtlichen Prüfungs- und Entscheidungsbefugnissen BVerfGE 61, 82 (111); 67, 43 (58); 101, 106 (123). 63 Ausdrücklich so Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 6. Aufl. 2010, Art. 19 Rn. 512; im Ergebnis so auch Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 1, 2. Aufl. 2004, Art. 19 IV Rn. 117 ff. – Da eine Rücknahme der gerichtlichen Kontrolldichte einen Eingriff in Art. 19 Abs. 4 GG darstellt, ist für sie eine gesetzgeberische Entscheidung vonnöten, sog. normative Ermächtigungslehre; näher zu dieser Lehre SchmidtAßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Stand: 63. Erg.-Lfg. (Oktober 2011), Art. 19 Abs. 4 Rn. 185 ff. 64 BVerfGE 103, 142 (156 f.); ebenso auch BVerfGE 88, 40 (61); 116, 1 (18); wie hier etwa Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 6. Aufl. 2010, Art. 19 Rn. 512 f.; Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Stand: 63. Erg.-Lfg. (Oktober 2011), Art. 19 Abs. 4 Rn. 184. 65 BVerfGE 61, 82 (111 und 114 f.); 88, 40 (56); 103, 142 (157); 113, 273 (310); 116, 1 (18); BVerfGK 4, 1 (6); BVerwGE 106, 263 (267 f.); 106, 318 (319 f.); 116, 188 (191); 120, 227 (231 f.); 129, 328 (344); detailliert zu Beurteilungs- und Ermessensspielräumen Papier, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VIII, 3. Aufl. 2010, § 177 Rn. 68 ff., v. a. 72 f. und 74 ff.

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messener Zeit ergeht66. In der Konsequenz trifft den Staat die weithin konsentierte Pflicht, Gerichtsorganisation und -verfahren so auszugestalten, dass angemessene Verfahrensdauern realisiert werden können. Namentlich den Gerichten obliegt hierbei die Pflicht zur Verfahrensbeschleunigung67. Sie sind dazu verpflichtet, die Gesamtdauer des Verfahrens zu beobachten, voraussehbaren Engpässen vorzubeugen und sich mit zunehmender Verfahrensdauer effektiv um eine Verfahrensbeschleunigung und -beendigung zu bemühen68. Überschreiten sie die angemessene Verfahrensdauer erheblich, ohne bestehende Beschleunigungsmöglichkeiten zu nutzen, verletzen sie das Recht auf zeitgerechten und insofern wirkungsvollen Rechtsschutz69. Doch was ist eine angemessene Verfahrensdauer? Die Frage stellen heißt, auf die Schwierigkeiten ihrer Beantwortung hinzuweisen. Denn verallgemeinern lässt sich lediglich, dass der Rechtsschutz jedenfalls dann nicht mehr angemessen ist, wenn er so spät gewährt wird, dass er nicht mehr wirksam werden kann70. Das ist in der Regel (jedenfalls) dann der Fall, wenn nach über sechs Jahren Verfahrensdauer noch keine erstinstanzliche Entscheidung ergangen ist71. Wann indessen eine Verfahrensdauer im Übrigen (noch) als angemessen gelten kann und wann nicht, kann kein Gegenstand einer generellen Festlegung sein, weil allgemeingültige Vorgaben für die Bestimmung einer angemessenen Verfahrensdauer nicht bestehen72. Folglich kann die Angemessenheit der Verfahrensdauer nur unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls bestimmt werden73. Hierüber besteht legislativer wie judikativer Kon66 BVerfGE 35, 382 (405); 40, 237 (257); 54, 39 (41); 55, 349 (369); 60, 253 (269); 82, 126 (155); 88, 118 (124); 93, 1 (13); 93, 99 (107 f.); 126, 1 (27); BVerfGK 5, 155 (158); 8, 118 (122 f.); 10, 129 (131); 11, 241 (250); BVerfG (K), EuGRZ 2009, 695 (697); NZS 2010, 381 (382); NJW-RR 2010, 207 (208); NZS 2011, 384 (385); monographisch dazu Schlette, Der Anspruch auf gerichtliche Entscheidung in angemessener Frist, 1999, S. 25 und passim; Steger, Überlange Verfahrensdauer bei öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten vor deutschen und europäischen Gerichten, 2008, S. 231 f. 67 BVerfG (K), NJW 2001, 214 (215); NJW-RR 2010, 207 (208). 68 BVerfG (K), NJW 2001, 214 (215); NZS 2010, 381 (382); im Hinblick auf die Vorbeugung voraussehbarer Engpässe so auch BVerfG (K), NJW-RR 2010, 207 (209). 69 BVerfG (K), EuGRZ 2009, 695 (697); zur gebotenen Nutzung gerichtsinterner Entlastungsmöglichkeiten BVerfG (K), NJW 2005, 739 (739). 70 Kloepfer, JZ 1979, 209 (211); Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 6. Aufl. 2010, Art. 19 Rn. 484. 71 BVerfG (K), NJW 1997, 2811 (2812); gleiches gilt, wenn ein Finanzgericht über neun Jahre hinweg keine Entscheidung trifft, BVerfG (K), NJW 2001, 216 (216); unstatthaft ist auch eine fünfjährige Dauer für ein Prozesskostenhilfeverfahren in zwei Instanzen, BVerfG (K), NVwZ 2004, 334 (335). 72 Statt Vieler BVerfG (K), NZS 2010, 381 (382); EuGRZ 2009, 695 (697); BVerfG (K), NJW-RR 2010, 207 (208). 73 BVerfGE 55, 349 (369); BVerfG (K), NJW 1997, 2811 (2812); NJW 1999, 2582 (2583); NJW 2001, 214 (215); NJW 2004, 3320 (3320); NJW 2008, 503 (503); NJW-RR 2010, 207 (208); StV 2011, 41 (41); NVwZ-RR 2011, 625 (626); Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, 2. Aufl. 2006, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 220.

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sens. So stellt etwa das im Jahre 2011 neu geschaffene Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren auf die Umstände des Einzelfalls ab74. Gleiches gilt für die Judikatur des Bundesverfassungsgerichts. Dieses ermittelt zunächst die durchschnittliche Dauer des in Frage stehenden Verfahrens bei dem jeweiligen Gerichtszweig, um beurteilen zu können, ob sich das im Einzelfall vorliegende konkrete Verfahren (noch) in diesem Rahmen bewegt, und prüft sodann, ob besondere Umstände des Einzelfalls vorliegen, die auf die Beurteilung der Angemessenheit Einfluss nehmen75. Zu den letztgenannten Umständen rechnet es die Bedeutung der jeweiligen Rechtsstreitigkeit für die Parteien und die Auswirkungen der zunehmenden Verfahrensdauer auf sie, die Komplexität des gerichtlich zu beurteilenden Sachverhaltes, das Verhalten der Verfahrensbeteiligten und die in ihren zeitlichen Auswirkungen gerichtlich nicht beeinflussbaren Handlungen Dritter, insbesondere die von Sachverständigen76. Im Strafprozess sind die Schwere des Tatvorwurfs, die Komplexität des Verfahrensgegenstandes, die durch Verzögerungen der Justizorgane bewirkten Verfahrensverlängerungen, die Gesamtdauer des Verfahrens und das Ausmaß der hieraus für den Angeklagten resultierenden Belastungen zu berücksichtigen77. Essentiell für eine an diesen Kriterien ausgerichtete Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer ist die Festlegung der heranzuziehenden Zeitspanne. Diese beginnt im Zivilprozess mit der Klageerhebung. Im Strafverfahren hingegen setzt ihr Ablauf regelmäßig bereits mit jenem Zeitpunkt ein, in dem der Beschuldigte von den Ermittlungen gegen ihn in Kenntnis gesetzt wird78. Im Verwaltungsprozess schließlich ist ihr Beginn wiederum auf den Zeitpunkt der Erhebung der Klage zu terminieren, was nicht ausschließt, unter Umständen auch die Dauer eines vorangegangenen Verwaltungsverfahrens zu berücksichtigen79. Das Ende der maßgeblichen Zeitspanne wird grundsätzlich von der abschließenden Entscheidung der letzten Instanz markiert, es sei denn, dass sich hieran ein Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht 74 Siehe hierzu das Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren vom 24. November 2011, BGBl. I S. 2302. 75 BVerfGE 55, 349 (369); Grabenwarter/Pabel, in: Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GGKonkordanzkommentar, 2006, Kap. 14 Rn. 106. 76 BVerfGK 5, 155 (158 f.); 11, 281 (283 f.); BVerfG (K), NJW 1997, 2811 (2812); NJW 2001, 214 (215); NJW 2008, 503 (503 f.); NJW-RR 2010, 207 (208); VersR 2010, 1617 (1618); NZS 2010, 381 (382); BVerfG (K), 1 BvR 2597/05 vom 15. 2. 2006, Rn. 12; BVerfG (K), 1 BvR 772/10 vom 5. 10. 2010, Rn. 12; dem Staat ist die Berufung auf von ihm zu verantwortende Umstände verwehrt, BVerfG (K), NVwZ 2004, 334 (335). 77 Nicht einzurechnen sind demgegenüber Verfahrensverzögerungen, die von dem Angeklagten herbeigeführt werden; zu alledem BVerfGE 122, 248 (279 f.); BVerfGK 1, 269 (279); 2, 239 (246 f.); BVerfG (K), NJW 2003, 2225 (2225); StV 2009, 673 (673 f.); vgl. auch BVerfG (Vorprüfungsausschuss), NJW 1984, 967 (967); BVerfG (K), NJW 1993, 3254 (3255). 78 BVerfG (K), NJW 1993, 3254 (3256); BGH, NStZ 1982, 291 (291); NStZ 2004, 504 (504). 79 Vgl. dazu Grabenwarter/Pabel, in: Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG-Konkordanzkommentar, 2006, Kap. 14 Rn. 103.

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anschließt, da dieses dem Grundsatz nach – trotz der zu berücksichtigenden spezifischen Stellung des Gerichts – zur Verfahrensdauer gerechnet wird80. Ergibt sich vor dem Hintergrund der vorstehenden Ausführungen im Einzelfall, dass der Anspruch auf einen Verfahrensabschluss in angemessener Zeit verletzt ist, folgt daraus zunächst eine Reduktion des dem Gericht grundsätzlich zustehenden Ermessensspielraums bei der Gewichtung der für die Reihenfolge der zu entscheidenden Verfahren maßgebenden Faktoren81. Weitere Konsequenzen einer Verletzung des Rechts auf zeitangemessenen Rechtsschutz ergeben sich aus dem Gesetz über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren vom 24. November 201182. Dieses Gesetz – das der deutsche Gesetzgeber geschaffen hat, nachdem er vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte nachdrücklich verpflichtet worden ist, einen Rechtsbehelf für Fälle zu schaffen, in denen eine Verletzung des Anspruchs auf zeitgerechten Rechtsschutz vertretbar behauptet wird83 – sieht vor, dass ein Verfahrensbeteiligter, der infolge einer unangemessenen Dauer eines Gerichtsverfahrens einen Nachteil erleidet, angemessen entschädigt wird84. Allerdings soll eine Entschädigung nur beansprucht werden können, soweit nicht nach den Umständen des Einzelfalls Wiedergutmachung auf andere Weise – insbesondere durch die gerichtliche Feststellung, dass die Verfahrensdauer unangemessen war – ausreichend ist. Voraussetzung für eine Entschädigung ist zudem, dass der von der Verfahrensverzögerung betroffene Beteiligte bei dem mit der Sache befassten Gericht die Dauer des Verfahrens gerügt hat, also eine entsprechende Verzögerungsrüge erhoben hat. Diese Rüge kann geltend gemacht werden, wenn Anlass zur Besorgnis besteht, dass das Verfahren nicht in einer angemessenen Zeit abgeschlossen wird85. 80

Siehe hierzu EGMR, NJW 1997, 2809; NJW 2001, 211 (212); NJW 2001, 213 (213); dazu Lansnicker/Schwirtzek, NJW 2001, 1969 (1969 ff.); Klein, NVwZ 2010, 221 (222); speziell zur Berücksichtigung der besonderen Stellung des Verfassungsgerichts bei der Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte EGMR, EuGRZ 1996, 514 (519 f.); NJW 2001, 211 (212); NJW 2001, 213 (213 f.). 81 Vgl. BVerfGK 5, 155 (159). 82 BGBl. I S. 2302. 83 EGMR, NJW 2010, 3355 (3356) mit Anm. Meyer-Ladewig, 3358 (3358); dazu Althammer, JZ 2011, 446 (446 f.); Bäcker, EuGRZ 2011, 222 (222 f.); Böcker, DStR 2011, 2173; Kotz, ZRP 2011, 85 (86); Althammer/Schäuble, NVwZ 2012, 1 (1 ff.); Schenke, NVwZ 2012, 257 (257); kritisch zur Umsetzung Zuck, NVwZ 2012, 265 (266). Vgl. zuvor bereits EGMR (GK), NJW 2001, 2694 (2700); EGMR (GK), NJW 2006, 2389 (2393 f.); EGMR, NJW 2009, 1403 (1404 m.w.N.) – Dazu aus dem Schrifttum Britz/Pfeiffer, DÖV 2004, 245 (245 ff.); Gundel, DVBl. 2004, 17 (17, 22 ff.); Steinbeiß-Winkelmann, ZRP 2007, 177 (178 ff.); Roller, ZRP 2008, 122 (122 f.). 84 Ein entsprechender Nachteil, der nicht Vermögensschaden ist, wird vermutet, falls ein Gerichtsverfahren unangemessen lange gedauert hat. 85 Zur Erhebung der Verzögerungsrüge Böcker, DStR 2011, 2173 (2176); Althammer/ Schäuble, NVwZ 2012, 1 (2 f.); Schenke, NVwZ 2012, 257 (260); Burhoff, VRR 2012, 44 (46 f.); Graf, in: ders. (Hrsg.), BeckOK StPO, Edition 13, Stand: 01. 02. 2012, § 198 GVG

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5. Der Anspruch auf ein rechtzeitiges Verfahren Eine weitere Ausprägung des Rechts auf einen wirkungsvollen Rechtsschutz stellt der Anspruch auf ein rechtzeitiges Verfahren dar. Er gründet in dem Umstand, dass ein effektiver Rechtsschutz nicht nur einen zeitgerechten Verfahrensabschluss fordert, sondern auch ein rechtzeitiges gerichtliches Einschreiten. Deshalb kann im Einzelfall aus der Verbürgung eines wirkungsvollen Rechtsschutzes die Pflicht des Staates resultieren, auch Formen des vorläufigen und vorbeugenden Rechtsschutzes zur Verfügung zu stellen86. Das gilt zunächst im Anwendungsbereich des Art. 19 Abs. 4 GG, also für den verwaltungsrechtlichen Rechtsschutz gegen die öffentliche Gewalt. Sofern hier der Eintritt irreparabler Nachteile durch eine nachträgliche Entscheidung in der Hauptsache nicht unterbunden werden kann, ist unter dem Aspekt eines wirkungsvollen Rechtsschutzes ein einstweiliges Verfahren geboten87. Anderes gilt nur dort, wo ausnahmsweise überwiegende, besonders gewichtige Gründe – beispielsweise grundrechtlich geschützte Belange anderer Beteiligter88 – entgegenstehen89. Aus der Gewähr eines effektiven Rechtsschutzes kann ein Anspruch auf einstweiligen Rechtsschutz indessen nicht nur im Anwendungsbereich des Art. 19 Abs. 4 GG, sondern auch in dem des Justizgewährungsanspruchs folgen. Daher kann aus ihr auch hier ein Anspruch auf die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes resultieren, sofern andernfalls irreversible Schäden eintreten würden90. Hier wie dort besteht indessen für die Ausgestaltung des vorläufigen Rechtsschutzes ein erheblicher gesetzgeberischer Gestaltungsspielraum91. Im Interesse eines wirksamen Rechtsschutzes – namentlich zur Abwendung irreversibler Zustände oder irreparabler Schäden noch vor dem Eintritt gegenwärtiger Rechtsverletzungen und damit vor Erreichbarkeit einer gerichtlichen Überprüfung – kann im Einzelfall schließlich ausnahmsweise auch die Einräumung vorbeugenden Rechtsschutzes geboten sein. Das gilt zunächst wiederum im Anwendungsbereich Rn. 18; kritisch zum seinerzeitigen Gesetzentwurf Beukelmann, NJW-spezial 2010, 632 (633); zu den Implikationen für Verfahren vor dem BVerfG Zuck, NVwZ 2012, 265 (267). 86 Zum Verhältnis zwischen vorläufigem und vorbeugendem Rechtsschutz im Kontext des Art. 19 Abs. 4 GG Schoch, Vorläufiger Rechtsschutz und Risikoverteilung im Verwaltungsrecht, 1988, S. 129 ff. 87 BVerfGE 35, 382 (401 f.); 37, 150 (153); 46, 166 (178); 51, 268 (284 f.); 65, 1 (70 f.); 79, 69 (74); 93, 1 (13 f.); 94, 166 (216); 126, 1 (27 f.); BVerfGK 4, 36 (40); 5, 237 (241); 9, 37 (40); 11, 153 (158); 11, 179 (186 f.); BVerfG (K), NVwZ 2009, 581 (583); NZS 2009, 674 (675); Windthorst, Der verwaltungsgerichtliche einstweilige Rechtsschutz, 2009, S. 524 ff.; Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 6. Aufl. 2010, Art. 19 Rn. 479. 88 BVerfGE 116, 1 (21 f.). 89 Vgl. BVerfGE 93, 1 (13 f.); zuvor bereits BVerfGE 79, 69 (75); nachfolgend BVerfGK 5, 135 (140). 90 Ebenso Papier, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VIII, 3. Aufl. 2010, § 176 Rn. 23. 91 Vgl. wiederum Papier, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VIII, 3. Aufl. 2010, § 177 Rn. 95.

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des Art. 19 Abs. 4 GG92, weshalb hier ein vorbeugender Rechtsschutz gegen drohende Rechtsverletzungen einzuräumen ist, falls eine Verweisung auf den repressiven Regelrechtsschutz unzumutbar erscheint93. Das kann namentlich bei Realakten oder auch bei administrativem Informationshandeln der Fall sein94. Darüber hinaus kann im Lichte der Verbürgung eines wirkungsvollen Rechtsschutzes auch im Anwendungsbereich des Justizgewährungsanspruchs im Einzelfall ein vorbeugender Rechtsschutz geboten sein95. Das ist wiederum dann der Fall, wenn und soweit ein späteres Verfahren keinen wirkungsvollen Rechtsschutz (mehr) darstellen würde. 6. Der Anspruch auf eine rechtsbeständige und durchsetzbare gerichtliche Entscheidung Wesentlich für das Recht auf wirkungsvollen Rechtsschutz ist schließlich, dass eine gerichtliche Entscheidung rechtsbeständig und durchsetzbar ist96. Notwendig hierfür ist die Rechtskraft gerichtlicher Entscheidungen97, die auch in der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts als verfassungsfestes Element des Rechtsstaatsprinzips anerkannt ist98. Für deren Ausgestaltung besteht ein gesetzgeberischer Spielraum. Auch wenn dieser die Berücksichtigung jenes Spannungsverhältnisses gestattet, das zwischen der Beständigkeit gerichtlicher Entscheidungen und dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit bzw. Gerechtigkeitsbelangen besteht, muss die nachträgliche Aufhebung eines rechtskräftigen Richterspruchs im Rahmen einer Wiederaufnahme des Verfahrens die Ausnahme bleiben99. Über die Rechtskraft hinaus verlangt das Recht auf wirkungsvollen Rechtsschutz ferner auch die Durchsetzbarkeit ge-

92 Hierzu und zum Folgenden Bauer, Gerichtsschutz als Verfassungsgarantie, 1973, S. 97 ff.; Lorenz, Der Rechtsschutz des Bürgers und die Rechtsweggarantie, 1973, S. 138 ff.; Sachs, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, 6. Aufl. 2011, Art. 19 Rn. 149; Ibler, in: Friauf/Höfling (Hrsg.), Berliner Kommentar, Stand: 34. Erg.-Lfg. (August 2011), Art. 19 IV Rn. 226. 93 Papier, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VIII, 3. Aufl. 2010, § 177 Rn. 92; zum Erfordernis eines qualifizierten Rechtsschutzbedürfnisses BVerwGE 40, 323 (326 f.); 54, 211 (215 f.); 77, 207 (212); 132, 64 (72). 94 Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Stand: 63. Erg.-Lfg. (Oktober 2011), Art. 19 Abs. 4 Rn. 278. 95 Ausdrücklich wie hier Papier, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VIII, 3. Aufl. 2010, § 176 Rn. 23. 96 Vgl. im Kontext des Art. 19 Abs. 4 GG BVerfGE 60, 253 (269 f.) und im Rahmen des Justizgewährungsanspruchs BVerfGE 54, 277 (291); 85, 337 (345); 88, 118 (124). 97 Vgl. wiederum BVerfGE 60, 253 (269 f.); Dütz, Rechtsstaatlicher Gerichtsschutz im Privatrecht, 1970, S. 120 ff.; Bauer, Gerichtsschutz als Verfassungsgarantie, 1973, S. 102 f. 98 BVerfGE 2, 380 (403 f.); 47, 146 (161); BVerfG (K), AP GG Art. 20 Nr. 32; vgl. auch BVerfGE 22, 322 (329); 60, 253 (268 f.). 99 BVerfGE 22, 322 (328 f.); wie hier ausdrücklich Papier, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VIII, 3. Aufl. 2010, § 176 Rn. 20.

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richtlicher Entscheidungen. Gerichtliche Urteile müssen daher durch staatliche Organe vollstreckbar sein100. V. Das Verhältnis des Rechts auf wirkungsvollen Rechtsschutz zum Gebot prozessualer Waffengleichheit Ergänzt wird das so konkretisierte Recht auf wirkungsvollen Rechtsschutz durch das Gebot prozessualer Waffengleichheit. Dieses wurzelt in Art. 3 Abs. 1 GG sowie dem Rechtsstaatsgebot101 und gilt – ebenso wie das Recht auf wirkungsvollen Rechtsschutz – prinzipiell für alle Zweige der Gerichtsbarkeit102. Seinem Inhalt nach verlangt es, dass die Beteiligten eines gerichtlichen Verfahrens über eine gleichwertige prozessuale Stellung verfügen, ihre verfahrensmäßigen Rechte also prinzipiell in gleicher Weise wahrnehmen und so auf das Ergebnis des gerichtlichen Verfahrens einen grundsätzlich gleichen Einfluss nehmen können103. Im Verhältnis zu den grundgesetzlich ausdrücklich positivierten Justizgrundrechten kommt dem Gebot prozessualer Waffengleichheit – ebenso wie dem Anspruch auf effektiven Rechtsschutz – eine Auffangfunktion zu104. Schwieriger als sein Verhältnis zu den Justizgrundrechten gestaltet sich indessen die Bestimmung seines Verhältnisses zum Recht auf wirkungsvollen Rechtsschutz. Denn aufgrund seines sachlichen Gehalts wird es vielfach herangezogen, um inhaltliche Anforderungen an den Ablauf gerichtlicher Verfahren heranzutragen, wie sie in jedenfalls teilweise vergleichbarer Weise auch aus der Gewähr des effektiven Rechtsschutzes bzw. deren Einzelkonkretisierungen resultieren. Das wirft die Frage nach dem Verhältnis beider Anforderungen zueinander auf. Ausgangspunkt für deren Beantwortung ist der Umstand, dass aus dem Recht auf wirkungsvollen Rechtsschutz originäre Leistungsansprüche abgeleitet werden können, während das Gebot prozessualer Waffengleichheit fordert, anderweitig begründete Verfahrensrechte aus Gründen der Gleichheit allen Verfah100 Wie hier Dütz, Rechtsstaatlicher Gerichtsschutz im Privatrecht, 1970, S. 132 f.; Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, 6. Aufl. 2010, Art. 19 Rn. 476; Schmidt-Aßmann, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR II, 3. Aufl. 2004, § 26 Rn. 74. 101 Hierzu BVerfGE 52, 131 (143 ff. und 156); 55, 72 (94); 69, 126 (140); 74, 78 (94 f.); 81, 347 (356); 117, 163 (185); Tettinger, Fairneß und Waffengleichheit, 1984, S. 19 f.; Vollkommer, in: Gottwald/Prütting (Hrsg.), Festschrift für Karl Heinz Schwab zum 70. Geburtstag, 1990, S. 503 ff. (504); für eine Ableitung aus dem Recht auf faires Verfahren SchulzeFielitz, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, 2. Aufl. 2006, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 217; für eine Ableitung nur aus Art. 3 Abs. 1 GG Maurer, in: Badura/Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. 2, 2001, S. 467 ff. (499). 102 Grabenwarter/Pabel, in: Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG-Konkordanzkommentar, 2006, Kap. 14 Rn. 100; Degenhart, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, 3. Aufl. 2007, § 115 Rn. 20. 103 BVerfGE 52, 131 (156); Degenhart, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR V, 3. Aufl. 2007, § 115 Rn. 40; Grabenwarter/Pabel, in: Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GGKonkordanzkommentar, 2006, Kap. 14 Rn. 100. 104 Zum Auffangcharakter des Rechts auf wirkungsvollen Rechtsschutz oben bereits sub IV.

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rensbeteiligten zur Verfügung zu stellen. Das lässt es angezeigt erscheinen, die Ableitung originärer Verfahrensrechte im Gerichtsprozess vorrangig auf das Recht auf wirkungsvollen Rechtsschutz zu stützen, es sei denn, dass sich aus dem Gebot der prozessualen Waffengleichheit im Einzelfall weitreichendere Verbürgungen als aus dem Recht auf effektiven Rechtsschutz ableiten lassen oder dass die Waffengleichheit mit ihrer auf den Gleichheitssatz abstellenden Perspektive die speziellere Grundlage für die Ableitung verfahrensrechtlicher Ansprüche darstellt. Vor diesem Hintergrund dürften insbesondere die im Strafprozess vielfach mit dem Gebot prozessualer Waffengleichheit erfassten Belange jedenfalls teilweise zutreffender als Anforderungen des Rechts auf wirkungsvollen Rechtsschutz, genauer: als Anforderungen des Anspruchs auf effektive Verteidigung zu deuten sein105. Dafür spricht auch, dass aus der Stellung des Staatsanwalts im gerichtlichen Verfahren Besonderheiten resultieren106, die sich auch im Lichte des Gebots prozessualer Waffengleichheit nicht ohne Weiteres auf die Stellung eines Beschuldigten bzw. Angeklagten übertragen oder ausgleichen lassen107. Dieser Befund bedeutet freilich nicht, dass für den Grundsatz der Waffengleichheit im Strafprozess keine Anwendungsbereiche blieben. So gelangt dieser etwa dort zur Anwendung, wo das Recht des Angeklagten in Frage steht, die Ladung und Vernehmung von Entlastungszeugen unter denselben Bedingungen erwirken zu können, die bei der Beantragung einer Ladung und Vernehmung von Belastungszeugen auch für die Staatsanwaltschaft gelten108. VI. Die europarechtliche Dimension des Rechts auf wirkungsvollen Rechtsschutz Einen wirkungsvollen Rechtsschutz verbürgt nicht allein das innerstaatliche Recht. Vielmehr treten zu diesem Gewährleistungen des europäischen Rechts hinzu. Diese sind zum einen enthalten in der Europäischen Menschenrechtskonvention, die in der Bundesrepublik Deutschland im Range eines einfachen Bundesgesetzes steht109. Zum anderen sind sie Teil der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, die seit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon rechtsverbindlich ist110. 105 Zum Gebot prozessualer Waffengleichheit im Strafprozess BVerfGE 38, 105 (111); 63, 45 (61); 110, 226 (253); Kohlmann, in: Baumann/Tiedemann (Hrsg.), Einheit und Vielfalt des Strafrechts, Festschrift für Karl Peters zum 70. Geburtstag, 1974, S. 311 ff.; Müller, NJW 1976, 1063 (1066 f.); Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, 2. Aufl. 2006, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 217. 106 Maurer, in: Badura/Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Bd. 2, 2001, S. 467 ff. (499); Möstl, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR VIII, 3. Aufl. 2010, § 179 Rn. 64. 107 So schon BVerfGE 63, 380 (392 f.); ausdrücklich so nunmehr auch BVerfGE 122, 248 (272). 108 Im Ergebnis wie hier Grabenwarter/Pabel, in: Grote/Marauhn (Hrsg.), EMRK/GGKonkordanzkommentar, 2006, Kap. 14 Rn. 149. 109 Zu Rang und Anwendung der EMRK im deutschen Recht BVerfGE 111, 307 (316 ff.); Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, 4. Aufl. 2009, § 3 Rn. 6.

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Im Hinblick auf die Verbürgungen der Europäischen Menschenrechtskonvention ist die Bestimmung des Art. 6 Abs. 1 EMRK von zentraler Bedeutung. Diese begründet für zivilrechtliche Ansprüche und strafrechtliche Anklagen den Anspruch auf ein faires Verfahren vor einem unabhängigen, unparteiischen und auf Gesetz beruhenden Gericht, das Recht auf eine öffentliche Verhandlung und Urteilsverkündung sowie den Anspruch auf Verhandlung und Entscheidung der vorgelegten Rechtsstreitigkeit in angemessener Zeit111 und normiert damit Verbürgungen, die den einzelnen Teilkonkretisierungen des innerstaatlichen Rechts auf wirkungsvollen Rechtsschutz korrespondieren. Ergänzt wird Art. 6 Abs. 1 EMRK durch Art. 13 EMRK, der dem Einzelnen im Falle der Verletzung einer konventionsrechtlichen Gewähr das Recht vermittelt, bei einer innerstaatlichen Instanz Beschwerde zu erheben. Diese Bestimmung entfaltet im hiesigen Kontext Relevanz vor allem im Hinblick auf die Geltendmachung einer Verletzung des Rechts auf angemessene Verhandlungsdauer. Denn auch wenn Art. 13 EMRK grundsätzlich nur dort zur Anwendung gelangt, wo Art. 6 Abs. 1 EMRK keine Aktualisierung findet112, soll eine Ausnahme hiervon nach der jüngeren Rechtsprechung des EGMR für Fälle überlanger Verfahrensdauer gelten113. So hat der Gerichtshof zuletzt von der Bundesrepublik Deutschland nachdrücklich die hier bereits erörterte114 Einführung eines wirksamen innerstaatlichen Rechtsbehelfs verlangt, mit dem eine Verletzung des Rechts auf Rechtsschutz in angemessener Zeit geltend gemacht werden kann115. Ergänzt werden Art. 6 Abs. 1 und Art. 13 EMRK durch besondere Gewährleistungen für das Strafverfahren116 sowie durch weitere Verfahrensgarantien117. Weiterhin ist die Garantie eines effektiven Rechtsschutzes auch Gegenstand der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, namentlich des dortigen Art. 47 110

Zur Rechtsverbindlichkeit dieser Charta siehe Art. 6 Abs. 1 EUV; hierzu Gundel, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 3. Aufl. 2009, § 20 Rn. 5. 111 Hierzu eingehend Grabenwarter, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 3. Aufl. 2009, § 6 Rn. 35 ff.; Gundel, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGR VI/1, 2010, § 146 Rn. 69 ff. 112 EGMR Slg. 1997-VIII, 2945 (2957); EGMR (GK), NJW 2001, 2694 (2699); vgl. auch EGMR Slg. A Nr. 331 S. 29 Rz. 89. 113 EGMR (GK), NJW 2001, 2694 (2699 f.); näher dazu Schmidt-Aßmann, in: Horn (Hrsg.), Recht im Pluralismus, Festschrift für Walter Schmitt Glaeser zum 70. Geburtstag, 2003, S. 317 ff. (331 ff.); Britz/Pfeifer, DÖV 2004, 245 (246); Gundel, DVBl. 2004, 17 (17 ff.); Bien/Guillaumont, EuGRZ 2004, 451 (462 ff.). 114 Hierzu näher oben sub IV. 4. 115 EGMR, NJW 2010, 3355 (3356 f.); hierbei soll als Rechtsbehelf die Verfassungsbeschwerde nicht ausreichen, EGMR (GK), NJW 2006, 2389 (2390 ff.); ebenso EGMR, JR 2009, 172 (173). 116 Zu Art. 6 Abs. 2 und 3 EMRK näher Meyer-Ladewig, Europäische Menschenrechtskonvention, 3. Aufl. 2011, Art. 6 EMRK Rn. 211 ff.; Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, 4. Aufl. 2009, § 24 Rn. 97 ff. 117 Vgl. dazu Meyer-Ladewig, Europäische Menschenrechtskonvention, 3. Aufl. 2011, Art. 5 EMRK Rn. 99 sowie Art. 1 ZP 7 Rn. 1; vgl. ferner Grabenwarter/Pabel, in: Grote/ Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG-Konkordanzkommentar, 2006, Kap. 14 Rn. 166 ff.

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GRCh118. Dieser garantiert, dass im Falle einer Verletzung der durch das Recht der Union garantierten Rechte oder Freiheiten jedermann über das Recht verfügt, einen wirksamen Rechtsbehelf bei einem Gericht einzulegen. Der demgemäß in Art. 47 GRCh enthaltene Anspruch auf effektiven Rechtsschutz119 umfasst Gewährleistungen, die inhaltlich denen des Art. 6 EMRK entsprechen, ohne sich hierbei freilich dessen Beschränkung auf zivilrechtliche Ansprüche und strafrechtliche Anklagen zu eigen zu machen. Demgemäß verbürgt Art. 47 GRCh erneut das Recht auf ein faires Verfahren vor einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor durch Gesetz errichteten Gericht, den Anspruch auf eine öffentliche Verhandlung sowie das Recht auf eine Verhandlung in angemessener Frist120. Zu diesen Gewährleistungen tritt eine Garantie des Rechts auf Beratung, Verteidigung und Vertretung. Darüber hinaus enthalten weitere Bestimmungen der GRCh wiederum spezifische Garantien für das Strafverfahren121. Vor dem Hintergrund der vorstehenden Ausführungen lässt sich festhalten, dass die EMRK und die GRCh Gewährleistungen des Rechts auf wirkungsvollen Rechtsschutz enthalten, die der grundgesetzlichen Sicherung desselben korrespondieren. Freilich ist das Grundgesetz im Vergleich zu den Einzelrechten, die auf der Ebene des europäischen Rechts bestehen, knapper und karger formuliert. In der Konsequenz enthalten die EMRK und die GRCh ausdrückliche Bestimmungen über einen effektiven Rechtsschutz auch dort, wo das Grundgesetz keine derartigen, expliziten Vorschriften über das Recht auf wirkungsvollen Rechtsschutz aufweist. Das reflektiert die im Vergleich zum Grundgesetz spätere Entstehung der europarechtlichen Bestimmungen, sagt indessen weder etwas über den Umfang noch über die Intensität der grundgesetzlichen Sicherung des Rechts auf wirkungsvollen Rechtsschutz aus. Daher wäre es verfehlt, von den umfangreicheren expliziten Gewährleistungen des europäischen Rechts auf eine im Vergleich verminderte Effektivität der grundgesetzlichen Verbürgungen schließen zu wollen.

118 Näher dazu Gundel, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 3. Aufl. 2009, § 20 Rn. 6; Magiera, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGR VI/1, 2010, § 161 Rn. 67 ff. 119 Schröder, Gesetzesbindung des Richters und Rechtsweggarantie im Mehrebenensystem, 2010, S. 259 ff.; Gundel, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 3. Aufl. 2009, § 20 Rn. 5 f.; Blanke, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 47 GRCh Rn. 1. 120 Näher hierzu Magiera, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGR VI/1, 2010, § 161 Rn. 73 ff.; Alber, in: Tettinger/Stern (Hrsg.), Europäische Grundrechte-Charta, 2006, Vor Art. 48 – 50 Rn. 1. 121 Hierzu Magiera, in: Merten/Papier (Hrsg.), HGR VI/1, 2010, § 161 Rn. 77 ff.; Eser, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 3. Aufl. 2011, Art. 48 Rn. 11 ff., 30 ff., Art. 49 Rn. 9 ff., Art. 50 Rn. 5 ff.

VII. Sicherheitsrecht und Sicherheitsforschung

Das Bundesverfassungsgericht und die Sicherungsverwahrung Von Wolfgang Frisch, Freiburg i. Br. Mit der Sicherungsverwahrung hatte das Bundesverfassungsgericht sich schon früh zu befassen. Die erste Entscheidung zu dieser Maßnahme stammt aus dem Jahre 1953 und betrifft eine Verfassungsbeschwerde, in der der Beschwerdeführer gerügt hatte, dass der Vollzug der Sicherungsverwahrung der Verfassung widerspreche, weil er im Wesentlichen dem Vollzug der Strafe, und zwar der Zuchthausstrafe, entspreche. Das Bundesverfassungsgericht verwarf die Beschwerde als unbegründet: Es seien „stichhaltige Gründe vorhanden, die es rechtfertigen, den Vollzug der Sicherungsverwahrung dem Vollzug einer Strafe im wesentlichen anzugleichen“; „für eine Unterscheidung zwischen dem Vollzug der Strafe und dem Vollzug der Sicherungsverwahrung“ bestehe „nur ein verhältnismäßig bescheidener Raum“.1 In den folgenden Jahren war das Bundesverfassungsgericht zunächst eher selten aufgerufen, zu verfassungsrechtlichen Problemen der Sicherungsverwahrung Stellung zu nehmen. Die wenigen – veröffentlichten – Entscheidungen des Gerichts zu dieser Maßnahme2 betrafen vor allem die Notwendigkeit der Gewährung rechtlichen Gehörs3 und der Einholung neuer Sachverständigengutachten vor der Entscheidung über die weitere Vollstreckung der Sicherungsverwahrung4. Später hatte das Gericht u. a. die Frage zu beantworten, ob der zur Umschreibung der materiellen Anordnungsvoraussetzungen in § 66 Abs. 1 Nr. 3 StGB benutzte Begriff des „Hanges zur Begehung erheblicher Straftaten“ den Anforderungen der Verfassung, insbesondere dem Gebot der Gesetzesbestimmtheit, genüge.5 Zu einer – dramatischen – Änderung kam es erst in den späten neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Seit 1998/1999 war das Bundesverfassungsgericht plötzlich mit Anträgen befasst, mit denen im Eilrechtsschutzverfahren die (vorläufige) Entlas1

Vgl. BVerfGE 2, 118 (120). Vgl. neben den nachfolgenden Entscheidungen noch BVerfGE 42, 1 ff. zur Frage, ob der Vollzug der Sicherungsverwahrung gegen Art. 2 Abs. 2 oder Art. 104 GG verstößt, wenn er im Anschluss an den Vollzug der Strafe erfolgt, obwohl eine Entscheidung des Vollstreckungsgerichts zur Erforderlichkeit des weiteren Vollzugs noch nicht ergangen ist. 3 Vgl. etwa BVerfGE 17, 139 ff.; 18, 419 ff.; später BVerfG 2 BvR 2229/00 v. 21.8. 2001 bei Juris (3. Kammer des 2. Senats). 4 Vgl. z. B. BVerfG, NJW 1994, 510. 5 Vgl. dazu BVerfG, NStZ-RR 1996, 122, das die Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift bejahte. 2

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sung aus der Sicherungsverwahrung begehrt wurde.6 In einer Reihe von Verfassungsbeschwerden war zudem die Verfassungswidrigkeit der Regelung des § 67d Abs. 3 StGB über die Dauer der Sicherungsverwahrung gerügt worden.7 Was waren die Gründe für diesen plötzlichen Anstieg artikulierter Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit des Rechts der Sicherungsverwahrung? I. Gründe für das plötzlich gestiegene Interesse an der Sicherungsverwahrung Den Hintergrund bilden eine Reihe von Veränderungen des Rechts der Sicherungsverwahrung und des Umgangs mit gefährlichen Tätern, zu denen es in den letzten Jahren des 20. Jahrhunderts gekommen war. Diese Veränderungen waren ihrerseits Reaktionen auf Änderungen im Bereich der Kriminalität, auf die vor allem aus polizeilicher Sicht mit Nachdruck hingewiesen worden war, die zum Teil aber auch von kriminologischer Seite Bestätigung erfahren hatten. Bestimmte Erscheinungsformen der Gewalt- und der Sexualkriminalität waren danach brutaler geworden; manche Täter waren offenbar auch deutlich länger gefährlich, als man dies bisher angenommen hatte.8 Aus der Vollzugspraxis war zudem über Fälle berichtet worden, in denen sich das volle Ausmaß der Gefährlichkeit bestimmter Personen erst im Rahmen des Vollzugs der Strafe zeigte, es aber wegen der fehlenden Anordnung der Sicherungsverwahrung im Urteil des erkennenden Gerichts keine Möglichkeit gab, der zutage getretenen Gefährlichkeit wirksam zu begegnen.9 Verstärkt hingewiesen worden war darüber hinaus auf Erscheinungsformen der Kriminalität, in denen die Täter lebenslang gefährlich sind, weil kriminelles Handeln ihr Beruf ist – wie in gewissen Fällen der organisierten Kriminalität.10 Um diese Erscheinungsformen der Kriminalität wirksam bekämpfen zu können, wurden die Strafrahmen bestimmter Aggressions- und Sexualdelikte sowie die Strafrahmen solcher Delikte, die für Erscheinungsformen der organisierten Kriminalität typisch sind, erheblich verschärft – so dass, wie es in einer amtlichen Begründung 6

Vgl. z. B. BVerfG (2. Kammer des 2. Senats), NJW 1999, 634 = NStZ 1999, 156; später z. B. BVerfG (3. Kammer des 2. Senats vom 27. 5. 2003/2 BvR 1588/02), NJW 2003, 2672 und 2 BvR 765/03 v. 28. 5. 2003 bei Juris. 7 Vgl. BVerfG (3. Kammer des 2. Senats) 2 BvR 2033/98 v. 29. 2. 2000 = NStZ-RR 2000, 281; 2 BvR 571/01 v. 2. 5. 2001 bei Juris; 2 BvR 765/03 v. 28. 5. 2003 bei Juris. 8 s. dazu m.w.N. Frisch, Gedächtnisschrift für Schlüchter, 2002, S. 669 (677 ff., 682 ff.). 9 Vgl. die Begründungen der Gesetzesentwürfe zur vorbehaltenen und nachträglichen Sicherungsverwahrung, z. B. die in den Bundesrat eingebrachten Entwürfe der Länder Bayern, BR-Drucks. 699/97, Anlage S. 1, 4 und Baden-Württemberg, BR-Drucks. 159/00, Anlage S. 1, 3; s. auch den Entwurf der Bundesregierung zur vorbehaltenen Sicherungsverwahrung, BT-Drucks. 14/8586, S. 1, 3, 4; weitere Nachw. unten Fußn. 14. 10 Dazu – mit eingeh. Darstellung entsprechender polizeilicher Berichte – Kinzig, Die rechtliche Bewältigung von Erscheinungsformen organisierter Kriminalität, 2004; eingeh. weit. Nachw. bei Frisch, Art. „Sicherungsverwahrung“ in Lexikon des Rechts, 8/1390, September 2004, S. 12 f.

Das Bundesverfassungsgericht und die Sicherungsverwahrung

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heißt, gewährleistet erschien, dass Täter dieser Erscheinungsformen der Kriminalität „für lange Zeit aus dem Verkehr gezogen“ sind.11 Vor allem aber wurde die zweite Spur des Strafrechts, das Maßregelrecht, und hier insbesondere die Sicherungsverwahrung, deutlich ausgebaut. In einem ersten Schritt wurden dabei die Anordnungsvoraussetzungen der Sicherungsverwahrung gesenkt, insbesondere wurde die Anordnung der Sicherungsverwahrung auch bei erstmals verurteilten, aber bereits wiederholt rückfälligen Tätern bestimmter Erscheinungsformen der Kriminalität ermöglicht.12 Zugleich wurde die im Zuge der Reform der sechziger und siebziger Jahre eingeführte zeitliche Begrenzung der erstmals angeordneten Sicherungsverwahrung auf zehn Jahre gestrichen, und zwar auch für Täter, die sich zu diesem Zeitpunkt bereits in Sicherungsverwahrung befanden13 – ein Punkt, der sich für die weitere Entwicklung der Diskussion als höchst bedeutsam erweisen sollte. Nicht verwirklicht wurde dagegen auf der Ebene der Bundesgesetzgebung zunächst der Wunsch einiger Bundesländer, die durch das erkennende Gericht angeordnete Sicherungsverwahrung durch die Möglichkeit einer nachträglich angeordneten Sicherungsverwahrung zu ergänzen, wenn sich während des Vollzugs der Strafe zeigt, dass der Täter in hohem Maße gefährlich ist. Den hierzu in den Bundesrat eingebrachten Gesetzesentwürfen14 hielt das Bundesministerium der Justiz entgegen, dass es bei dieser Art der Straftatenverhütung um Maßnahmen gehe, für die nicht der Bundesgesetzgeber, sondern die Länder zuständig seien.15 Diese ergriffen daraufhin in der Folgezeit die Initiative und erließen selbst jene Gesetze über die nachträgliche Anordnung einer Unterbringung gefährlicher Straftäter, deren Erlass der Bundesgesetzgeber abgelehnt hatte.16 Sie gingen dabei – in Übereinstimmung mit ein11

In diesem Sinn die Begründung des „Gesetzes zur Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandels und anderer Erscheinungsformen der Organisierten Kriminalität“ vom 15. 7. 1992, BT-Drucks. 12/989, S. 1, 21, 30; weit. Nachw. bei Frisch, GA 2009, 385 (396). 12 Vgl. § 66 Abs. 3 StGB, eingefügt durch das „Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und sonstigen gefährlichen Straftaten“ vom 26. 1. 1998 (BGBl. I, S. 160); zum Hintergrund BT-Drucks. 13/7559, S. 1 f., 8, 9 und BT-Drucks. 13/8586, S. 1 f., 7, 8. 13 Vgl. den heutigen § 67d Abs. 3 S. 1 StGB und Art. 1a Abs. 3 EGStGB in der Neufassung durch Art. 2 Nr. 3 des Gesetzes vom 26. 1. 1998 (siehe die vorstehende Fußn.); zur (ersten) Diskussion um diese rückwirkende Verschärfung vgl. Kinzig, StV 2000, 330 ff. und Ullenbruch, NStZ 1998, 326 ff.; weit. Nachw. bei Frisch (Fußn. 10), S. 12. 14 Vgl. dazu Goll/Wulf, ZRP 2001, 284 (285 f.) und die Entwürfe der Länder Bayern, BRDrucks. 699/97 (Wiedervorlagen: BR-Drucks. 144/00 und BR-Drucks. 176/01); BadenWürttemberg, BR-Drucks. 159/00; Baden-Württemberg und Thüringen, BR-Drucks. 48/02 (Wiedervorlagen: BR-Drucks. 304/02, BR-Drucks. 507/02; erweiterte Fassung: BRDrucks. 860/02 nach Stellungnahme der Bundesregierung [BR-Drucks. 14/9847 Anlage 2]); Hessen, BR-Drucks. 118/02 (Wiedervorlage: BR-Drucks. 281/02); vgl. ferner den in den Bundestag eingebrachten Gesetzentwurf der CDU/CSU, BT-Drucks. 14/6709. 15 So das Schreiben der Bundesministerin der Justiz an die Justizminister der Länder vom 13. 9. 1999, wiedergegeben bei BVerfGE 109, 190 (193 f.). 16 Vgl. das Baden-Württembergische „Gesetz über die Unterbringung besonders rückfallgefährdeter Straftäter“ (StrUBG) vom 14. 3. 2001 (BWGBl. S. 188 = ZRP 2001, 322), das

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schlägigen Gutachten17 – zutreffend davon aus, dass die Rechtskraft des Strafurteils einer solchen nachträglichen Anordnung nicht entgegenstehe und es Fälle gebe, in denen das Ausmaß der nachträglich erkennbar gewordenen Gefährlichkeit den gravierenden Eingriff in die Rechte der Person materiell rechtfertige. Gestützt auf diese Gesetze kam es in der Folgezeit in mehreren Bundesländern zu nachträglich angeordneten Unterbringungen.18 Demgegenüber blieb die so genannte vorbehaltene Sicherungsverwahrung des § 66a StGB, zu deren Einführung sich der Gesetzgeber im Jahre 2002 doch noch entschloss,19 um den Fällen einer im Verurteilungszeitpunkt bestehenden Unsicherheit über die Gefährlichkeit Rechnung zu tragen, zunächst ohne große Bedeutung.20 Es war zu erwarten, dass dieses Bündel von Verschärfungen der Sicherungsverwahrung nicht einfach hingenommen werden würde. In der Literatur stießen die Neuregelungen der Sicherungsverwahrung alsbald auf heftige Kritik. Gestützt auf eine zum Teil ohnehin vorhandene latente Kritik an der Sicherungsverwahrung21 wurden die Verschärfungen hier von vielen abgelehnt und als verfassungswidrig bezeichnet.22 Dabei galt die Kritik nicht nur der vom Bundesgesetzgeber überraschend verfügten Aufhebung der Begrenzung der Sicherungsverwahrung auf zehn Jahre, in deren Erstreckung auf „Altfälle“ eine verfassungswidrige Rückwirkung gesehen wurde. Auch die Landesgesetze zur nachträglichen Anordnung der Unterbringung gefährlicher Täter wurden von der Kritik als verfassungswidrig eingestuft – aus materiellen Gründen wie wegen der fehlenden Kompetenz des Landesgesetzgebers. Im Einklang mit dieser Kritik wandten sich schließlich eine Reihe der von den VerschärBayerische „Gesetz zur Unterbringung von besonders rückfallgefährdeten hochgefährlichen Straftätern“ (BayStrUBG) vom 24. 12. 2001 (BayGVBl. S. 978), das „Gesetz des Landes Sachsen-Anhalt über die Unterbringung besonders rückfallgefährdeter Personen zur Abwehr erheblicher Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung“ (UBG) vom 6. 3. 2002 (GVBl. LSA S. 80), das Thüringer „Gesetz über die Unterbringung besonders rückfallgefährdeter Straftäter“ vom 17. 3. 2003 (ThürGVBl. S. 195) und das Niedersächsische „Gesetz über die Unterbringung besonders gefährlicher Personen zur Abwehr erheblicher Gefahren für die öffentliche Sicherheit“ vom 30. 10. 2003 (Nds. GVBl. S. 368); zu Gesetzesvorhaben andererer Länder vgl. Ullenbruch, NStZ 2002, 466 m.N. 17 Vgl. insbes. Würtenberger/Sydow, NVwZ 2001, 1201 ff. 18 Vgl. z. B. die in BVerfGE 109, 190 (200 ff.) dokumentierten Fälle; zur Anwendung des StrUBG in Baden-Württemberg vgl. Ullenbruch, NStZ 2002, 466 (467); Jansing, Nachträgliche Sicherungsverwahrung, 2004, S. 154 m.w.N. 19 Vgl. § 66a StGB, eingefügt durch das „Gesetz zur Einführung der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung“ v. 21. 8. 2002 (BGBl. I, S. 3344); dazu Finger, Vorbehaltene und nachträgliche Sicherungsverwahrung, 2008. 20 Fischer, StGB, 58. Aufl. 2011, § 66a Rn. 2a; Schönke/Schröder-Stree/Kinzig, StGB, 28. Aufl. 2010, § 66a Rn. 1; Jehle, in: Satzger/Schmitt/Widmaier (Hg.), StGB, 2009, § 66a Rn. 2. 21 Vgl. z. B. die grundlegende Arbeit von Kinzig, Die Sicherungsverwahrung auf dem Prüfstand, 1996, insbes. S. 79 ff., 565 ff., 568 ff. 22 Vgl. Ullenbruch, NStZ 1998, 326 ff.; Kinzig, StV 2000, 330 ff.; ders., NStZ 2004, 655 (660); Finger (Fußn. 19), S. 225; Paeffgen, FS Amelung, 2009, S. 81 (100); weit. Nachw. zur kontroversen Beurteilung bei Lackner/Kühl, StGB, 27. Aufl. 2011, § 66b Rn. 1.

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fungen Betroffenen im Wege der Verfassungsbeschwerde sowie mit Anträgen auf Eilrechtsschutz an das Bundesverfassungsgericht. II. Die Urteile des 2. Senats aus dem Jahre 2004 und ihre gesetzgeberische Umsetzung Die mit den Beschwerden vor allem befasste 3. Kammer des 2. Senats konnte einen Teil dieser Beschwerden zunächst im Wege der Nichtannahme nach § 93a Abs. 2 BVerfGG erledigen, da die Beschwerdeführer entweder den Rechtsweg nicht ausgeschöpft hatten23 oder – aus der Sicht des Bundesverfassungsgerichts – ihrer Substantiierungspflicht nicht nachgekommen waren.24 Anträge auf vorläufige Entlassung im Wege des Eilrechtsschutzes wurden unter Hinweis auf die bei fehlendem Erfolg der Beschwerde in der Hauptsache (in der Zwischenzeit) drohenden erheblichen Gefahren für die Allgemeinheit abgelehnt.25 Im Februar 2004 kam es dann schließlich zu zwei grundlegenden Urteilen des 2. Senats des Bundesverfassungsgerichts zur Sicherungsverwahrung. 1. Der ersten Entscheidung26 lag eine Verfassungsbeschwerde zugrunde, in der nicht nur die Unvereinbarkeit des Fortfalls der Höchstbegrenzung der Sicherungsverwahrung auf zehn Jahre für „Altfälle“27 mit dem verfassungsrechtlichen Rückwirkungsverbot gerügt, sondern zugleich geltend gemacht worden war, dass die mangelnde zeitliche Limitierung der Sicherungsverwahrung mit dem Bestimmtheitsgebot und dem Verhältnismäßigkeitsprinzip unvereinbar sei.28 Das Bundesverfassungsgericht sah die Verfassungsbeschwerde als unbegründet an. Die Sicherungsverwahrung sei im Hinblick auf das Menschenbild des Grundgesetzes als Präventivmaßnahme zum Schutz der Allgemeinheit mit dem Grundgesetz vereinbar.29 Verfassungsrechtlich sei es nicht unzulässig, einer Person, die für besonders bedeutsame Individual- und Gemeinschaftsgüter gefährlich ist, zum Schutz dieser Güter für die Dauer der Gefährlichkeit die Freiheit zu entziehen. Auch eine le23

Vgl. z. B. BVerfG 2 BvR 2033/98 v. 29. 2. 2000 = NStZ-RR 2000, 281; BVerfG 2 BvR 571/01 v. 2. 5. 2001 bei Juris. 24 Vgl. BVerfG 2 BvR 2290/00 v. 29. 8. 2001 bei Juris. 25 Vgl. z. B. BVerfG (2. Kammer des 2. Senats) 2 BvR 2033/98 v. 3. 12. 1998 = NJW 1999, 634 = NStZ 1999, 156; BVerfG (3. Kammer des 2. Senats) 2 BvR 1588/02 v. 25. 7. 2003 = NJW 2003, 2672; BVerfG 2 BvR 765/03 v. 28. 5. 2003 bei Juris. 26 Vgl. BVerfG 2 BvR 2029/01 v. 5. 2. 2004 = BVerfGE 109, 133 = NJW 2004, 739 ff. m. krit. Bespr. von Kinzig, NJW 2004, 911 (912 f.); krit. auch Mushoff, KritV 2004, 137 ff.; Satzger, Jura 2006, 746 (752); zust. aber Passek, GA 2005, 96 (105 ff.). 27 Also Personen, die sich zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Wegfalls der zeitlichen Begrenzung der Sicherungsverwahrung bereits in dieser befanden und nach Art. 2 des Gesetzes zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten vom 26. 1. 1998 (BGBl. 1998, 160) von der neuen Regelung ebenfalls erfasst wurden. 28 Vgl. BVerfGE 109, 133 (145 f.). 29 Vgl. BVerfGE 109, 133 (151 f.).

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benslange Freiheitsentziehung sei bei entsprechender Gefährlichkeit nicht ausgeschlossen. Die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung ohne gesetzlich geregelte zeitliche Obergrenze verstoße weder gegen das nur für Strafen geltende Bestimmtheitsgebot30 noch gegen die in Art. 1 Abs. 1 GG verankerte Garantie der Menschenwürde, wenn der Vollzug der Freiheitsentziehung menschenwürdig ausgestaltet sei. Das treffe zu, wenn sie dem Untergebrachten durch geeignete Resozialisierungsmaßnahmen die Chance erhalte, wieder ein Leben in Freiheit führen zu können.31 Auch die Wesensgehaltsgarantie des Freiheitsgrundrechts aus Art. 2 Abs. 2 GG werde durch die unbefristete Sicherungsverwahrung nicht angetastet, solange gewichtige Schutzinteressen Dritter den Eingriff zu legitimieren vermögen und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gewahrt ist.32 Dies sei – auch bei einer über zehn Jahre hinaus dauernden Freiheitsentziehung – der Fall, wenn sich aus „konkreten und gegenwärtigen Anhaltspunkten“33 die Gefährlichkeit des Täters für Leib oder Leben potentieller Opfer ergibt. Selbst der Fortfall einer bisherigen zeitlichen Begrenzung der Sicherungsverwahrung für bereits in der Sicherungsverwahrung Untergebrachte sei durch das Grundgesetz nicht ausgeschlossen. Das Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG stehe dem nicht entgegen. Es verbiete nur die rückwirkende Verschärfung von Strafen, worunter nach der Entstehungsgeschichte der Vorschrift wie nach ihrem Normzweck allein missbilligende und vergeltende Reaktionen auf ein rechtswidriges schuldhaftes Verhalten zu verstehen seien, nicht aber Maßnahmen, die wie die Sicherungsverwahrung einen rein präventiven Zweck verfolgen.34 Die Schwere des in der Sicherungsverwahrung liegenden Eingriffs und Ähnlichkeiten des Vollzugs seien keine für die Bestimmung des Anwendungsbereichs des Rückwirkungsverbots geeigneten Kriterien;35 der Normzweck des Art. 103 Abs. 2 GG ziele allein darauf, eine Person vor der rückwirkenden Neubewertung des Unrechts- und Schuldgehaltes einer Tat zu schützen, um die es bei der Verlängerung einer Maßregel wegen fortdauernder Gefährlichkeit nicht gehe. Auch das allgemeine Vertrauensschutzgebot (Art. 2 Abs. 2 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG) verbiete eine solche Verlängerung nicht.36 Denn dessen Schutz gehe nicht so weit, den Staatsbürger vor jeglicher Enttäuschung seiner Erwartung in die Dauerhaftigkeit der Rechtslage zu schützen;37 Änderungen zur Abwendung drohender erheblicher Gefahren für potentielle Opfer

30

Vgl. BVerfGE 109, 133 (187 f.). Vgl. BVerfGE 109, 133 (150, 156 f.). 32 Vgl. BVerfGE 109, 133 (156 f.). 33 So BVerfGE 109, 133 (161). 34 Vgl. BVerfGE 109, 133 (167); s. auch BVerfGE 109, 190 (212); BVerfG, NStZ 2010, 265. 35 BVerfGE 109, 133 (175 ff.). 36 BVerfGE 109, 133 (180 ff.). 37 BVerfGE 109, 133 (180 f. m.w.N.). 31

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müssten als gerechter und vertretbarer Ausgleich der kollidierenden Interessen hingenommen werden.38 2. Im Mittelpunkt der zweiten Entscheidung, die nur wenige Tage später verkündet wurde,39 stand die heftig umstrittene Frage der verfassungsrechtlichen Haltbarkeit des bayerischen und des sachsen-anhaltinischen Gesetzes über die nachträglich angeordnete Unterbringung besonders rückfallgefährdeter hochgefährlicher Straftäter. Das Bundesverfassungsgericht erachtete beide Gesetze wegen mangelnder Regelungskompetenz des Landesgesetzgebers für unvereinbar mit dem Grundgesetz, sah aber gleichwohl mit der Mehrheit des Senats für eine Übergangzeit davon ab, die Gesetze für nichtig zu erklären. Das Fehlen einer Regelungskompetenz des Landesgesetzgebers begründete das Bundesverfassungsgericht dabei damit, dass es sich bei den von den beiden Landesgesetzen geregelten Materien um „Strafrecht“ im Sinne des Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG handele.40 Zum Strafrecht gehöre die „Regelung aller … repressiver oder präventiver staatlicher Reaktionen auf Straftaten, die an die Straftat anknüpfen, ausschließlich für Straftäter gelten und ihre sachliche Rechtfertigung auch aus der Anlasstat beziehen“.41 „Dieser Sachzusammenhang“ bestehe „auch dann noch, wenn über Anordnung, Vollstreckung oder Fortdauer präventiver Sanktionen nicht im Zeitpunkt der strafrichterlichen Verurteilung, sondern erst nachträglich während des Vollzugs einer Freiheitsstrafe entschieden wird“.42 Die in den beiden Landesgesetzen vorgesehenen Regelungen über die nachträgliche Unterbringung von Straftätern seien vor diesem Hintergrund dem „Strafrecht“ und damit der konkurrierenden Gesetzgebung des Bundes gem. Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG zuzuordnen.43 Damit fehle es für sie an einer Befugnis der Länder zu einer eigenen Regelung; denn in dem betroffenen Bereich habe der Bund von seiner konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz abschließend Gebrauch gemacht:44 Der Bundesgesetzgeber habe das Recht der Sicherungsverwahrung bei der Novellierung von 1998 und 2002 umfassend regeln und auf die von ihm für vertretbar gehaltenen Maßnahmen beschränken wollen, zu denen die nachträglich angeordnete Sicherungsverwahrung nicht zähle.45 Dass die Mehrheit des 2. Senats trotz dieses Fehlens der Gesetzgebungskompetenz die Gesetze nicht für nichtig, sondern für eine kurze Übergangszeit unter be38

BVerfGE 109, 133 (186 f.). BVerfGE 109, 190 ff. v. 10. 2. 2004; vgl. dazu z. B. Baier, Jura 2004, 552 ff.; Frommel, KJ 2004, 81 ff.; Gärditz, BayVBl. 2006, 231 ff.; Haurand, DVP 2004, 250 ff.; Kinzig, NJW 2004, 911 ff.; Merk, KritV 2004, 150 ff.; Pestalozza, JZ 2004, 605 ff.; Rzepka, Recht & Psychiatrie, 2004, 222; Waterkamp, StV 2004, 267 ff. 40 BVerfGE 109, 190 (211 – 235). 41 BVerfGE 109, 190 (212 f.). 42 BVerfGE 109, 190 (216 f.). 43 BVerfGE 109, 190 (219 ff.). 44 BVerfGE 109, 190 (229 ff.). 45 BVerfGE 109, 190 (230 ff.). 39

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stimmten Einschränkungen für weiterhin anwendbar erklärte, hatte dabei mit einer gewissen Sympathie der Mehrheit des Senats für das Konzept einer nachträglich angeordneten Sicherungsverwahrung zu tun: „Der Schutz vor Verurteilten, von denen auch nach Verbüßung ihrer Freiheitsstrafe schwere Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die Freiheit oder die sexuelle Selbstbestimmung anderer mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwarten sind“, stelle „ein überragendes Gemeinwohlinteresse dar“;46 „ein vom zuständigen Gesetzgeber entwickeltes Konzept nachträglicher Anordnung einer präventiven Verwahrung noch inhaftierter Straftäter“ stehe daher „bei entsprechend enger Fassung nicht von vornherein unter dem Verdikt der Verfassungswidrigkeit“.47 Die Anwendbarkeit der als verfassungswidrig erachteten Landesgesetze bis zum Ablauf einer kurzen Übergangsfrist sollte verhindern, dass ein vom zuständigen Gesetzgeber (ebenfalls) für richtig erachtetes, eng begrenztes Konzept der nachträglichen Anordnung präventiver Verwahrung wegen der (mit der Nichtigerklärung notwendig verbundenen) vorläufigen Entlassung „hochgradig gefährlicher Personen“„ohne Wirkung bliebe“48 – ein Standpunkt, den drei Mitglieder des Senats aus einer Reihe von grundsätzlichen Gründen mit Nachdruck ablehnten.49 Dass der Bundesgesetzgeber nach dieser Stellungnahme der Senatsmehrheit zum Konzept der nachträglichen Anordnung präventiver Verwahrung und der Feststellung seiner Zuständigkeit zur Verwirklichung eines solchen Konzepts schon wenige Monate später ein Gesetz über die nachträgliche Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung erließ, das sich an den Vorstellungen der Entscheidung des 2. Senats orientierte,50 war nicht sonderlich überraschend.51 Und ebenso wenig konnte es überraschen, dass der Senat bei der Prüfung von Verfassungsbeschwerden, die alsbald auch gegen Anordnungen der Sicherungsverwahrung auf Grund des neuen Bundesgesetzes eingelegt wurden, die Verfassungsmäßigkeit der Neuregelungen über die nachträgliche Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung bestätigte.52 Zu einer nochmaligen grundsätzlichen Überprüfung der bisherigen 46

BVerfGE 109, 190 (236 ff.). BVerfGE 109, 190 (238 ff.). 48 BVerfGE 109, 190 (238). 49 Vgl. dazu im Einzelnen BVerfGE 109, 190 (244 – 255). 50 Vgl. § 66b StGB, eingefügt durch das „Gesetz zur Einführung der nachträglichen Sicherungsverwahrung“ v. 23. 7. 2004 (BGBl. I, S. 1838); dazu Bender, Die nachträgliche Sicherungsverwahrung, 2007; Brandt, Sicherheit durch nachträgliche Sicherungsverwahrung, 2008; Finger (Fußn. 19); Flaig, Die nachträgliche Sicherungsverwahrung, 2009; zur Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift (bestätigend) BVerfGK 9, 108 sowie BVerfG (2. Kammer des 2. Senats), NStZ 2010, 265. 51 Zutreffend Foth, NStZ 2007, 89. 52 Vgl. die Entscheidungen BVerfG, NJW 2006, 3483 (= NStZ 2007, 87 m. Anm. Foth) und 2009, 980, die auf BVerfGE 109, 190 (236) aufbauend, die Verfassungsmäßigkeit auch der – danach eingeführten – nachträglichen Sicherungsverwahrung bestätigen; BVerfG, NStZ 2010, 265 f. mit krit. Anm. Foth bekräftigt die Vereinbarkeit des § 66b Abs. 3 mit dem Verhältnismäßigkeitsprinzip und die Unbedenklichkeit der Vorschrift für „Altfälle“ (anders jüngst 47

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Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kam es erst, nachdem – auf Beschwerde der Betroffenen – auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) mit den bisher allein von den nationalen Gerichten behandelten Fragen befasst wurde. III. Die Entscheidung des EGMR vom 17. 12. 2009, die Reform des Rechts der Sicherungsverwahrung (2010) und die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 4. 5. 2011 1. Die Befassung des EGMR brachte einen bislang von den nationalen Gerichten kaum herangezogenen Prüfungsmaßstab ins Spiel: die Europäische Konvention für Menschenrechte (EMRK). Als bedeutsam sollten sich dabei insbesondere die Artikel 5 und 7 der EMRK erweisen. Die rückwirkende Verlängerung der Sicherungsverwahrung stellte nach der Auffassung der Kammer der 5. Sektion des EGMR eine Verletzung sowohl des Art. 5 als auch des Art. 7 der EMRK dar;53 die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung eine solche des Art. 5 Abs. 1 der EMRK.54 Die Verletzung des Art. 5 Abs. 1 EMRK sah der EGMR dabei darin, dass diese Vorschrift keine Grundlage für jene Freiheitsentziehung biete, die der Beschwerdeführer nach Ablauf der im Verurteilungszeitpunkt geltenden Höchstfrist der Sicherungsverwahrung von zehn Jahren erlitten hatte.55 Die Verurteilung des Beschwerdeführers zu einer Freiheitsstrafe und zu Sicherungsverwahrung legitimiere nach der im Zeitpunkt der Verurteilung geltenden Rechtslage zwar die Vollstreckung der verhängten Freiheitsstrafe und eine weitere Freiheitsentziehung von bis zu zehn Jahren (Sicherungsverwahrung). Die Entziehung der Freiheit über diesen Zeitpunkt hinaus lasse sich indessen nicht mehr auf die frühere Verurteilung zurückführen. Sie sei daher durch Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. a EMRK nicht mehr gedeckt56 und, da auch ein

EGMR v. 7. 6. 2012 Nr. 61827/09 [K. vs. Germany]); Nachw. der Besprechungen dieser Entscheidungen bei Lackner/Kühl (Fußn. 22), § 66b Rn. 1. 53 Vgl. das Urteil der Kammer der 5. Sektion des EGMR v. 17. 12. 2009 Nr. 19359/04 (Mücke vs. Germany), abgedr. in NJW 2010, 2495 m. Anm. Eschelbach aaO. und Bespr. v. Kinzig, NStZ 2010, 233 und Laue, JR 2010, 198; krit. dazu Freund, GA 2010, 193 (206 f.); Volkmann, JZ 2011, 835 (841); Hörnle, FS Rissing-van Saan, 2011, S. 239 (242 ff.); Landau, NJW 2011, 537 (538 f.). Die Entscheidung ist inzwischen durch weitere Entscheidungen v. 13. 1. 2011 (nämlich Nr. 20008/07 [Mautes vs. Germany]; 27360/04 und 42225/05 [Schummer vs. Germany]; 6587/04 [Haidn vs. Germany]) und v. 14. 4. 2011 (Nr. 30060/04 [Jendrowiak vs. Germany]) bestätigt worden. 54 Vgl. die Urteile des EGMR v. 13. 1. 2011 Nr. 6857/04 (Haidn vs. Germany), abgedruckt in NJW 2011, 3423 (insbes. 3424 f., Tz. 83 – 96) und v. 7. 6. 2012 Nr. 61827/09 (K. vs. Germany); s. erg. zum Ganzen SK-StPO/Paeffgen, 4. Aufl. 2011, Art. 5 EMRK Tz. 17 – 18. 55 Vgl. EGMR Nr. 19359/04 (Mücke vs. Germany) Tz. 96 – 105 = NJW 2010, 2495 (2496 f.). 56 Krit. dazu Hörnle, FS Rissing-van Saan, 2011, S. 239 (246 ff.).

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anderer Rechtsgrund des Art. 5 Abs. 1 nicht vorliege,57 nach der Konvention als rechtswidrige Freiheitsentziehung anzusehen. Praktisch heißt schon das, dass eine nachträgliche gesetzliche Verlängerung einer Maßregel gegen schuldfähige Personen nach der Auffassung des EGMR untauglich ist, eine hinreichende Rechtsgrundlage für eine konventionsgerechte Freiheitsentziehung zu schaffen, weil sich die so ermöglichte Freiheitsentziehung unter keinen der Entziehungsgründe des Art. 5 Abs. 1 EMRK subsumieren lasse.58 In einer späteren Entscheidung hat der EGMR aus ganz vergleichbaren Gründen auch eine nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung wegen Verstoßes gegen Art. 5 EMRK als konventionswidrig angesehen.59 Die Ausführungen zu Art. 7 EMRK60 werden dann noch grundsätzlicher. Sie äußern Zweifel an der für das zweispurige System charakteristischen Trennung von Strafe und Maßregeln. Die Sicherungsverwahrung werde nicht nur wie eine Strafe nach begangener Tat verhängt; sie habe wie die Strafe eine Freiheitsentziehung zur Folge und werde weitgehend wie diese vollstreckt – die Unterschiede im Vollzug seien minimal. Selbst die Zwecke von Strafe und Maßregeln seien nicht völlig verschieden. Nicht nur die Maßregel, auch die Strafe soll weiteren Straftaten vorbeugen, und andererseits lasse sich auch die Sicherungsverwahrung, insbesondere „wegen ihrer unbegrenzten Dauer, durchaus als zusätzliche Strafe für die von der betroffenen Person begangene Straftat“ verstehen. Sie „enthält“ nach der Auffassung des EGMR „eindeutig ein Element der Abschreckung“, sei sie doch „eine der schwersten – wenn nicht die schwerste – (Maßnahme), die nach dem StGB verhängt werden kann“.61 Aus all dem folgert der EGMR, dass die Sicherungsverwahrung des deutschen StGB als Strafe im Sinne von Art. 7 Abs. 1 EMRK anzusehen sei – so dass es sich bei ihrer rückwirkenden Verlängerung durch Aufhebung der bis dahin geltenden Höchstfrist um eine dem Art. 7 Abs. 1 S. 2 EMRK zuwiderlaufende Verlängerung (Verschärfung) der Strafe handele. 2. Die Entscheidung des EGMR und die sich alsbald abzeichnende Position des EGMR auch zur nachträglich angeordneten Sicherungsverwahrung veranlassten den Bundesgesetzgeber – noch vor einer zu erwartenden weiteren Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts – im Jahre 2010 zu einer umfassenden Reform des Rechts der Sicherungsverwahrung. Das einschlägige Reformgesetz vom 22. De-

57

Vgl. dazu die (in NJW 2010, 2495 nur zum Teil abgedruckten) Tz. 102 – 104 der Entscheidung EGMR Nr. 19359/04 (Mücke vs. Germany). 58 Bei „psychisch Kranken“ mag es anders liegen, vgl. Art. 5 Abs. 1 lit. e und EGMR Nr. 19359/04 (Mücke vs. Germany) Tz. 104; dies aufnehmend BVerfGE 128, 326 (393) = NJW 2011, 1931 (1942, Tz. 143). 59 Vgl. die Nachw. oben Fußn. 54. 60 Vgl. EGMR Nr. 19359/04 (Mücke vs. Germany) Tz. 106 ff., insbes. 127 ff. (= NJW 2010, 2495 [2498 f.]). 61 Vgl. EGMR Nr. 19359/04 (Mücke vs. Germany) Tz. 130 und 132 (= NJW 2010, 2495 [2499]).

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zember 201062 beseitigte nicht nur weitgehend die Möglichkeit der nachträglichen Anordnung der Sicherungsverwahrung.63 Es schuf in Gestalt des so genannten Therapieunterbringungsgesetzes64 auch eine an Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. e EMRK orientierte Grundlage für die weitere Unterbringung solcher besonders rückfallgefährdeter hochgefährlicher Straftäter, die wegen des Rückwirkungsverbots nicht länger in der Sicherungsverwahrung untergebracht werden durften: Sie konnten nunmehr zum Zweck ihrer Behandlung in einer dafür geeigneten geschlossenen Einrichtung untergebracht werden, wenn ihre Gefährlichkeit auf einer psychischen Störung beruhte.65 Weitere wichtige Punkte der Reform waren die Eingrenzung der Sicherungsverwahrung vor allem auf Täter, die eine hohe Gefahr für das Leben, die körperliche Integrität, die Freiheit und die sexuelle Selbstbestimmung darstellen, sowie eine Stärkung des Instituts der vorbehaltenen Sicherungsverwahrung.66 3. Den – vorläufigen – Schlusspunkt in dem Ringen um eine sowohl den Anforderungen des Grundgesetzes als auch der Europäischen Menschenrechtskonvention gerecht werdende Lösung des Problems der „besonders rückfallgefährdeten hochgefährlichen Straftäter“ bildet die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 4. 5. 2011,67 die inzwischen durch Kammerentscheidungen fortgeführt und konkretisiert worden ist. Das Bundesverfassungsgericht hatte in dieser Entscheidung nochmals über eine Reihe von Verfassungsbeschwerden zu befinden, die das als verfassungswidrig kritisierten, was der EGMR zuvor (aus doppeltem Grund) als konventionswidrig bezeichnet hatte: die Verlängerung der Sicherungsverwahrung über zehn Jahre hinaus für so genannte „Altfälle“. 62 Vgl. das „Gesetz zur Neuordnung der Sicherungsverwahrung“ v. 22. Dezember 2010 (BGBl. I, S. 2300 ff.) sowie BT-Drucks. 17/3403, S. 13 ff. (Begründung); dazu Esser, JA 2011, 727 (732 f.); Kinzig, NJW 2011, 177 (179 ff.); ders., StraFo 2011, 429 (430 ff.); Kreuzer, StV 2011, 122 ff. 63 Eine Ausnahme gilt nach § 66b StGB n.F. unter bestimmten Voraussetzungen nur für Fälle einer zuvor bestehenden, erledigten Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus; außerdem bleibt es für so genannte „Altfälle“ nach § 315e Abs. 1 S. 2 EGStGB in der Fassung des Art. 4 des Gesetzes vom 22. 12. 2010 (oben Fußn. 62) prinzipiell bei der Anwendbarkeit des § 66b a.F.; vgl. dazu und zu den Gründen BT-Drucks. 17/3043, S. 49 f. 64 Vgl. das Gesetz zur Therapierung und Unterbringung psychisch gestörter Gewalttäter (Therapieunterbringungsgesetz) vom 22. Dezember 2010 (BGBl. I S. 2300, 2305); dazu BTDrucks. 17/3403, S. 14, 19 f. und 53 ff. 65 Vgl. § 1 Abs. 1 und Abs. 2 des Therapieunterbringungsgesetzes v. 22. 12. 2010. 66 Vgl. dazu den Gesetzesentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und FDP, BT-Drucks. 17/ 3403, S. 22 und 25 sowie die darauf beruhende Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses, BT-Drucks. 17/4026, S. 17 f. 67 Vgl. BVerfG, Urteil des 2. Senats v. 4. 5. 2011 = BVerfGE 128, 326 ff. = NJW 2011, 1931; s. dazu die Anmerkungen und Entscheidungsbesprechungen von Eisenberg, StV 2011, 480; Kreuzer/Bartsch, StV 2011, 472; Streng, JZ 2011, 827 und Wolf, Rpfleger 2011, 413 sowie die (Besprechungs-)Aufsätze von Dessecker, ZIS 2011, 706; Esser, JA 2011, 727; Hörnle, NStZ 2011, 488; Kinzig, StraFo 2011, 429; Landau, NStZ 2011, 537; Mosbacher, HRRS 2011, 229; Nußstein, StV 2011, 633; Peglau, NJW 2011, 1924; Radtke, GA 2011, 636; Renzikowski, Ad legendum 2011, 401; Schöch, GA 2012, 14 ff.; Volkmann, JZ 2011, 835 und Zabel, JR 2011, 467.

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Das Bundesverfassungsgericht war ersichtlich bemüht, einen Konflikt mit dem EGMR zu vermeiden, gleichwohl aber zentrale Positionen des deutschen Sanktionenrechts zu bewahren. Es hob deshalb zunächst nachdrücklich das Gebot der völkerrechtsfreundlichen Auslegung des nationalen Rechts unter Einschluss der Verfassung hervor, dem es entspreche, die Wertungen der EMRK in der Ausformung durch die Judikatur des EGMR bei der Auslegung und der Konkretisierung (auch) der Verfassung zu berücksichtigen.68 Zugleich machte es indessen klar, dass es in der Judikatur des EGMR keinen Grund sehe, vom dualistischen System abzugehen: Die Strafe als vergeltende Reaktion auf die begangene Tat und Maßregeln wie die Sicherungsverwahrung, die allein der Vorbeugung vor künftigen Straftaten dienten, unterschieden sich nach Zweck und Legitimation.69 Allerdings reicht es auch nach der Auffassung des Bundesverfassungsgerichts für die (verfassungsrechtliche) Rechtfertigung nicht, dass Strafe und Sicherungsverwahrung verschiedenen Zwecken dienen und durch unterschiedliche Erwägungen legitimiert werden. Strafe und Sicherungsverwahrung müssten sich über diese Unterschiede im Zweck und in der Begründung des Freiheitsentzugs hinaus auch in tatsächlicher Hinsicht, also insbesondere im realen Vollzug, unterscheiden. Zwischen Strafe und Sicherungsverwahrung müsse – so das Bundesverfassungsgericht unter Aufnahme eines schon im 109. Band verwendeten Begriffs – auch insoweit ein deutlicher „Abstand“ bestehen.70 Dazu bedürfe es nicht nur einer Beschränkung des Eingriffs in die Freiheiten der Sicherungsverwahrten auf das geringstmögliche Maß. Zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit unabdingbar sei auch ein Optimum an therapeutischen Angeboten, die es ermöglichen, zu Sicherungsverwahrung verurteilte Täter so früh wie möglich in die Freiheit zu entlassen.71 All das dürfe dabei nicht dem Ermessen der Vollstreckungs- und Vollzugsbehörden überlassen bleiben, sondern sei vom Gesetzgeber durch präzise Vorschriften mit hoher Regelungsdichte zu gewährleisten.72 Kurz: Das Bundesverfassungsgericht hält zwar an der Zweispurigkeit und der Sicherungsverwahrung im Grundsätzlichen fest, versucht aber zugleich, den Bedenken des EGMR durch ein dezidiert eingefordertes und in vielen Facetten entfaltetes „Abstandsgebot“ Rechnung zu tragen. Da diesem durch die gegenwärtigen Bestimmungen des Rechts der Sicherungsverwahrung nicht hinreichend Rechnung getragen werde, erklärte das Gericht die im Zeitpunkt seiner Entscheidung bestehende Regelung des Rechts der Sicherungsverwahrung wegen Verstoßes gegen das Prinzip der Verhältnismäßigkeit für verfassungswidrig. 68

94).

Vgl. BVerfGE 128, 326 (364 f., 366 – 372) = NJW 2011, 1931 (1934 – 1936, Tz. 82, 86 –

69 Vgl. BVerfGE 128, 326 (376 f. und passim) = NJW 2011, 1931 (1937 f., Tz. 104 – 106 und passim). 70 Vgl. BVerfGE 128, 326 (374 ff., 378 ff.) = NJW 2011, 1931 (1937 ff., Tz. 100 ff., 111 ff.). 71 Vgl. BVerfGE 128, 326 (378 ff.) = NJW 2011, 1931 (1938 f., Tz. 111 ff.). 72 Vgl. BVerfGE 128, 326 (376 ff., insbes. 378 ff. und 383 ff., 388) = NJW 2011, 1931 (1938, insbes. Tz. 110 ff., und 1940 f., Tz. 121 ff., 130).

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Differenzierend behandelt das Bundesverfassungsgericht die Problematik der Rückwirkung bzw. nachträglichen Anordnung oder Verschärfung von Maßregeln.73 Es hält zwar daran fest, dass der „nulla-poena-Satz“ des Art. 103 Abs. 2 GG der Rückwirkung bei Maßregeln nicht entgegenstehe; denn dieser Satz setze vergeltende, missbilligende Sanktionen voraus und sei daher auf rein vorbeugende Maßregeln wie die Sicherungsverwahrung nicht anwendbar.74 Das Bundesverfassungsgericht weist dabei ausdrücklich darauf hin, dass auch scheinbar parallel laufende Vorschriften der EMRK (wie Art. 7 Abs. 1 S. 2) und des Grundgesetzes (wie Art. 103 Abs. 2 GG) nicht unbedingt inhaltsgleich ausgelegt werden müssten.75 Im Rahmen der Erwägungen zum allgemeinen Vertrauensschutz aus Art. 2 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG gibt das Gericht dann freilich doch noch das, was es zuvor versagt hatte: Selbst wenn gravierendste Straftaten drohten und das Abstandsgebot eingehalten sei, habe der Vertrauensschutz gegenüber der rückwirkenden Anordnung oder Verschärfung der vorbeugenden Maßnahmen Vorrang. Eine Ausnahme soll – angelehnt an die Eingriffsbefugnis des Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. e EMRK – nur dann gelten, wenn es sich um drohende Taten psychisch Kranker handelt.76 Diesen grundsätzlichen Standpunkt hat das Bundesverfassungsgericht sowohl in der Senatsentscheidung als auch in nachfolgenden Kammerentscheidungen weiter konkretisiert. Das Gericht hat insoweit insbesondere deutlich gemacht, dass der Begriff der psychischen Krankheit im weiteren Sinne einer psychischen Störung zu verstehen sei; die Voraussetzungen einer – für die verminderte Schuldfähigkeit oder die Schuldunfähigkeit im Sinne der §§ 20, 21 StGB erforderlichen – psychischen Krankheit müssten nicht vorliegen.77 Es genüge das, was der EGMR im Rahmen des Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. e EMRK als „unsound mind“ bezeichnet und der deutsche Gesetzgeber in § 1 Abs. 1 Nr. 1 des Therapieunterbringungsgesetzes durch den Begriff der „psychischen Störung“ umschreibt.78 Diese Voraussetzungen könnten insbesondere auch bei Tätern gegeben sein, die „spezifische Störungen der Persönlichkeit, des Verhaltens, der Sexualpräferenz sowie der Impuls- und Triebkontrolle“ aufweisen; gleiches gelte für „dissoziale Persönlichkeiten“. Auch ein „weiterhin abnorm aggressives und ernsthaft unverantwortliches Verhalten eines verurteilten Straftäters“ könne danach (gem. Art. 5 Abs. 1 S. 2 lit. e EMRK) eine Freiheitsentziehung rechtferti73

Vgl. BVerfGE 128, 326 (388 ff.) = NJW 2011, 1931 (1941 ff., Tz. 131 ff.). Vgl. BVerfGE 128, 326 (392 ff.) = NJW 2011, 1931 (1942, Tz. 141 ff.). 75 Vgl. BVerfGE 128, 326 (370 ff. und 392 f.) = NJW 2011, 1931 (1936, Tz. 91 ff., und 1942, Tz. 142). 76 Vgl. im Einzelnen BVerfGE 128, 326 (393 ff., 399 f.) = NJW 2011, 1931 (1942 f., Tz. 143 ff., 1944, Tz. 156) mit Ausführungen zum Begriff der psychischen Erkrankung; dazu eingeh. Mosbacher, HRRS 2011, 229 (234 ff.); krit. zum Urteil Kreuzer/Bartsch, StV 2011, 472 (473); Zabel, JR 2011, 467 (471). 77 Vgl. BVerfGE 128, 326 (396 ff., 406 f.) = NJW 2011, 1931 (1942 f., Tz. 143 ff., 1944, Tz. 156); BVerfG (3. Kammer des 2. Senats) 2 BvR 1516/11 v. 15. 9. 2011, StV 2012, 25 f. m. krit. Anm. Krehl (27 ff.). 78 Vgl. die Nachw. in Fußn. 77; s. ferner BT-Drucks. 7/3043, S. 53 f. 74

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gen – und zwar unabhängig von einer im klinischen Sinne behandelbaren psychischen Krankheit.79 Ob das Bundesverfassungsgericht mit dieser Sicht der „psychischen Störung“ die Zustimmung des EGMR findet, wird die Zukunft zeigen.80 Für die folgende kritische Würdigung der Diskussion zwischen Bundesverfassungsgericht und EGMR um die Sicherungsverwahrung empfiehlt es sich, diesen speziellen Punkt (und die Problematik der nachträglichen Verlängerung bzw. Anordnung) zunächst zurückzustellen und sich auf jene Kernaussagen der Entscheidung zu konzentrieren, die aus der Sicht des Strafrechts besonders bedeutsam erscheinen. Dazu gehören die Stellungnahmen der Gerichte, insbesondere des Bundesverfassungsgerichts, zum dualistischen Sanktionensystem des Strafrechts, die Überlegungen zum Verhältnis von Strafe und Sicherungsverwahrung, vor allem auch unter dem Aspekt des Vollzugs, und die Frage der Geltung des Rückwirkungsverbots für die Sicherungsverwahrung. Ist diese letztere Frage hinreichend vertieft beantwortet, so fällt auch die Antwort auf die Frage nach der nachträglichen „Verlängerung“ oder „Anordnung“ nicht mehr schwer. IV. Würdigung: Die Richtigkeit des Bekenntnisses zum dualistischen System – Vorzüge dieses Systems Wenngleich die Entscheidung des EGMR nur der Frage der Zulässigkeit einer rückwirkenden Verlängerung der Sicherungsverwahrung gewidmet war und der Gerichtshof nicht darüber zu entscheiden hatte, ob das dualistische System überhaupt ein sachgerechtes System zur Reaktion auf die Taten rückfallgefährdeter Straftäter darstellt – zwischen den Zeilen lässt sich der Entscheidung doch eine gewisse Skepsis gegenüber der Sachgerechtigkeit und der Überzeugungskraft der Unterscheidung von Strafen und Maßregeln im deutschen Strafrecht entnehmen. Auch manche Medien haben die Entscheidung des EGMR als Infragestellung der Sicherungsverwahrung überhaupt interpretiert und den EGMR in die Nähe der latenten Kritik an diesem Institut gestellt.81 Vor diesem Hintergrund ist es zu begrüßen, dass das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung vom 4. 5. 2011 dezidiert am dualistischen System festgehalten hat. Nicht nur tatvergeltende oder schuldausgleichende Strafen sind – als Mittel zur Erhaltung der Geltung der Rechtsordnung – zu rechtfertigen. Auch Maßnahmen der Prävention sind zu legitimieren, wenn sie sich als sachlich richtige Lösung des Konflikts zwischen der Freiheit des Gefährlichen und den Freiheiten und Gütern der von dessen Taten Bedrohten erweisen. Das wiederum ist dann der Fall, wenn es um drohende gravierende Beeinträchtigungen geht, deren Hinnahme poten79

So wörtlich BVerfG (3. Kammer des 2. Senats), StV 2012, 25 f. m. krit. Anm. Krehl. Zweifel bei Krehl, StV 2012, 27 (29 f.). 81 Vgl. aus den Medien die Beiträge und Kommentare von Hipp/Ludwig/Verbeet, Der Spiegel 53/2009, S. 36; Prantl, Süddeutsche Zeitung vom 18. 12. 2009 (im Internet abrufbar auf http://www.sueddeutsche.de); Tretbar, Tagesspiegel vom 18. 12. 2009 (auf http://www.tagesspiegel.de); vgl. zur latenten Kritik z. B. Kinzig (oben Fußn. 21), insbes. S. 79 ff., 565 ff., 568 ff. 80

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tiellen Opfern nicht zugemutet werden kann und die anders als durch den Eingriff in die Freiheit des Gefährlichen als Verursacher des Konflikts nicht zu verhindern sind.82 Freilich hätte der Versuch des Bundesverfassungsgerichts, das dualistische System zu verteidigen, noch mehr an Überzeugungskraft gewonnen, wenn sich das Gericht nicht auf die isolierte Legitimation der Maßregeln aus dem Gedanken des überwiegenden Interesses beschränkt, sondern in seine Argumentation auch vergleichende Erwägungen einbezogen hätte. Tatsächlich findet Prävention ja nicht nur im dualistischen System statt. Auch Staaten, die keine Maßregeln kennen, betreiben sie – nur eben über entsprechende Verlängerungen der Standardstrafe – und müssen sie als solche rechtfertigen. Und Prävention findet schließlich auch dort statt, wo man über Prävention gar nicht zu sprechen braucht, weil die Bedürfnisse der Prävention durch hohe Vergeltungs- oder (Lebensführungs-)Schuldstrafen abgedeckt werden.83 Im Verhältnis zu all diesen anderen Varianten der Realisierung von Prävention bildet das dualistische System die Lösung, welche die Freiheiten der vom Strafrecht Betroffenen am besten wahrt84 und somit auch unter dem Aspekt der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs vorzugswürdig ist. Skizzenhaft: Ein dualistisches Modell kann es sich leisten, auf die allermeisten Straftaten, nämlich die Taten der Täter, für die der berühmte Denkzettel ausreicht, mit relativ milden Strafen zu reagieren85 – genauer: mit dem, was noch dem Unrecht und der Schuld des Täters entspricht und zur Erhaltung der Normgeltung benötigt wird. Diese Sichtweise hat in einer Reihe von europäischen Staaten zu einer erheblichen Milderung der Strafen geführt, ohne dass dadurch zugleich das Ausmaß dieser Konflikts- und Gelegenheitskriminalität deutlich angestiegen wäre.86 Mit diesem Vorgehen werden eine Vielzahl unnützer Freiheitsentziehungen (oder sonstiger zu hoher Strafen) vermieden, zu denen es in einem Strafrecht kommt, das unreflektiert oder im Blick auf eine kleine Gruppe gefährlicher Täter (die solche Strafen brauchen) insgesamt an hohen Strafen festhält (und dies mehr schlecht als recht mit hoher Schuld rechtfertigt). Aber auch gegenüber der zahlenmäßig bei Weitem kleineren Gruppe der immer wieder Rückfälligen ist das dualistische System tendenziell stärker freiheitsschonend. Präventionsbedürfnisse, die durch die (Tat-)Schuldstrafe nicht befriedigt werden können, führen hier nicht einfach automatisch im Rahmen der richterlichen 82 Zu eingehenden Rechtfertigungsversuchen vgl. schon Frisch, ZStW 102 (1990), 343 (364 ff.); ders., GA 2009, 385 (393 f.); ders., FS Puppe, 2011, S. 425 (434 ff.); s. auch Streng, JZ 2011, 827 (828). 83 Typisch dafür eine Reihe romanischer Länder (wie Frankreich, Italien und Spanien), insbes. nach neuerlichen Verschärfungen der Strafbarkeit für Rückfalltäter (vgl. dazu Frisch, GA 2009, 385 [397]). 84 Übereinstimmend Freund, GA 2010, 193 (208); Radtke, GA 2011, 636 (640). 85 Vgl. dazu näher Frisch, GA 2009, 385 (391 f., 394 f.). 86 Nachweise dazu und Erklärungen dafür bei Frisch, GA 2009, 383 (394 f., 398 f.).

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Strafzumessung zur Anordnung von unter Umständen langdauernden Sicherungsstrafen.87 Sie sind vielmehr nur relevant, wenn sie so gewichtig sind, dass sie die gesetzlich definierten Schwellenwerte legitimer Maßregelanordnung erreichen. Dazu gehören nicht nur begangene und drohende Taten von sehr erheblichem Gewicht,88 sondern auch Prognosen, die spezifische verfahrensrechtliche und methodische Anforderungen erfüllen müssen.89 All das unterliegt, anders als die allgemeine Strafzumessung, intensiver obergerichtlicher Kontrolle.90 Eine weitere Freiheitssicherung im Verhältnis zu unter Umständen vorsichtshalber üppig bemessenen Präventionsstrafen liegt darin, dass die Vollstreckung und Fortdauer der Maßregeln nur dann erfolgt, wenn ihre Notwendigkeit nach der Verbüßung der Strafe und später durch (periodische) Kontrollen belegt werden kann.91 Der eben angestellte Systemvergleich weist das dualistische System nicht nur aus strafrechtlicher Sicht als vorzugswürdiges System aus. Auch das verfassungsrechtliche Gebot der Verhältnismäßigkeit spricht für dieses Modell. Es wäre wünschenswert gewesen, wenn das Bundesverfassungsgericht dies in seinem Dialog mit dem EGMR auch diesem Gericht verdeutlicht hätte. Möglicherweise hätte das die Skepsis mancher Richter dieses Gerichtshofs, denen diese Zusammenhänge offenbar nicht recht geläufig sind, ausgeräumt und etwas mehr Verständnis für das dualistische System geweckt. V. Zum berechtigten Kern und zur Fragwürdigkeit des „Abstandsgebots“ Zustimmung verdient das Bundesverfassungsgericht auch darin, dass es in die Legitimation der Sicherungsverwahrung den Vollzug einbezieht. Die Sicherungsverwahrung ist nur legitimierbar, wenn auch der Vollzug so ausgestaltet ist, dass er den geringstmöglichen Eingriff in die Freiheit des Täters gewährleistet. Dazu gehört nicht nur – wie das Bundesverfassungsgericht zutreffend betont (vgl. oben III. 3.) – ein differenziertes sozialtherapeutisches Angebot, um zu erreichen, dass der Sicherungsverwahrte möglichst früh wieder in die Freiheit entlassen werden kann; denn natürlich hat der Sicherungsverwahrte, unter anderem im Blick auf das Sozialstaats87 Wie das in vielen Staaten mit einem monistischen System der Fall ist. Freilich gibt es auch unter den Ländern mit monistischem System solche, die die Möglichkeit der Verhängung langdauernder, insbes. lebenslanger Sicherungsstrafen auf bestimmte Delikte beschränken; vgl. z. B. für England und Wales Wischmeyer, ZStW 118 (2006), 773 ff. (792 ff.). 88 Vgl. etwa die Anforderungen in § 66 Abs. 1 – 3 StGB. 89 Vgl. zur prozessualen Seite § 80a und § 246a der StPO; wegen der methodischen Anforderungen vgl. die Mindestanforderungen für Prognosegutachten einer interdisziplinären Arbeitsgruppe von Richtern am BGH, Bundesanwälten, forensischen Psychiatern und Psychologen, abgedruckt in NStZ 2006, 537 ff.; ferner Mosbacher, HRRS 2011, 229 (231 ff.). 90 Insbesondere im Rahmen der Revision, wo die Nichterfüllung der gesetzlichen Voraussetzungen der Maßregel oder Mängel in den Feststellungen und der Prognosestellung häufig zur Aufhebung führen. 91 Vgl. dafür insbes. § 67c Abs. 1 und § 67e Abs. 1 StGB.

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prinzip, genauso Anspruch auf solche Angebote wie der Gefangene im Strafvollzug. Auch im Übrigen muss sich der Freiheitsentzug auf das zur Sicherung Unverzichtbare beschränken und dürfen Vergünstigungen nur insoweit versagt werden, als sie mit der Sicherungsaufgabe unvereinbar sind. Muss man dem Bundesverfassungsgericht bis dahin zustimmen, so geht das Gericht freilich zu weit, wenn es diese Erwägungen auch noch mit einem so genannten „Abstandsgebot“ krönt92 – nämlich dem Postulat eines deutlichen Abstands zwischen dem Vollzug der Sicherungsverwahrung und der Strafe. Das Gericht ist hier ganz offensichtlich von dem Bemühen geleitet, die vom EGMR vermisste Unterschiedlichkeit von Strafe und Maßregel durch ein plakatives Postulat zu gewährleisten. Unglücklicherweise und ohne Auseinandersetzung mit dem schon erwähnten ganz anderen Standpunkt in der eingangs erwähnten Entscheidung BVerfGE 2, 118 wird dieses Abstandsgebot dann auch noch zur Legitimationsbedingung der Sicherungsverwahrung erhoben – wodurch die Entscheidung in doppelter Hinsicht fragwürdig wird. Das Gericht verkennt damit nicht nur, dass die Forderung nach einem deutlichen Abstand zwischen dem Vollzug der Sicherungsverwahrung und der Strafe wohl gar nicht erfüllbar ist.93 Denn auch der Strafgefangene, der sozialtherapeutische Angebote benötigt, hat Anspruch auf diese;94 und ebenso wie die Sicherungsverwahrung besteht auch die Strafe nach heutigem Strafverständnis in der bloßen Freiheitsentziehung und hat nichts mit unnötigen Belastungen und Schikanen zu tun. Mag sein, dass für den Sicherungsverwahrten einige Vergünstigungen bleiben, die dem Strafgefangenen versagt werden dürfen; aber dass diese, zumal unter Berücksichtigung der gegenläufigen Beschränkungen gewisser anderer Entfaltungen im Blick auf besondere Sicherungsbedürfnisse, einen deutlichen Abstand zwischen dem Vollzug der Sicherungsverwahrung und der Strafe ergeben könnten, erscheint einigermaßen unrealistisch. Das bestätigt auch der inzwischen vorliegende „Entwurf eines Gesetzes zur Verwirklichung des Abstandsgebots“95, bei dessen Lektüre es schwerfällt, bedeutsame Unterschiede zwischen dem Vollzug der Sicherungsverwahrung und dem (gebotenen) Vollzug der Strafe (in Fällen mit sozialtherapeutischem Bedarf) zu entdecken. 92 Vgl. BVerfGE 128, 326 (374 ff., 378 ff.) = NJW 2011, 1931 (1937 ff., Tz. 100 ff., 111 ff.). 93 Zweifelnd gegenüber der Erfüllbarkeit des Abstandsgebots auch Streng, JZ 2011, 828 (831); Kreuzer/Bartsch, StV 2011, 472 (479); Radtke, GA 2011, 636 (644 f.); Renzikowski, Ad legendum 2011, S. 401 (404, 405); Schöch, GA 2012, 14 (18 f.); anders wohl Zabel, JR 2011, 467 (469 f.). 94 s. dazu § 2 Abs. 2 S. 1 StVollzG i.V.m. § 9 Abs. 1 StVollzG. Zu dem sich aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG und dem Sozialstaatsprinzips des Art. 20 Abs. 3 GG ergebenden verfassungsrechtlichen Anspruch auf resozialisierenden Vollzug vgl. BVerfG 45, 187 (239); 98, 169 (200); BVerfG (K), NStZ 2003, 109 (110). 95 Vgl. den „Entwurf eines Gesetzes zur bundesrechtlichen Umsetzung des Abstandsgebots im Recht der Sicherungsverwahrung“ (Referentenentwurf des BMJ, Bearbeitungsstand 9. 11. 2011) sowie die Pressemitteilung des BMJ v. 7. 3. 2012.

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Hiervon abgesehen ist es aber auch logisch falsch, einen deutlichen Abstand zwischen dem Vollzug der Sicherungsverwahrung und der Strafe zur Legitimationsbedingung der Sicherungsverwahrung zu machen. Die Legitimation der Sicherungsverwahrung folgt in Wahrheit ihren eigenen Regeln. Diese sind (nicht einfach in einer „Abwägung“, sondern) in den Prinzipien der sachgerechten Auflösung notstandsähnlicher Kollisionssituationen zu finden,96 aus denen sich auch die Anforderungen an den Vollzug ausschließlich vorbeugender Maßnahmen ergeben; ein einzuhaltender Abstand zum Vollzug der Freiheitsstrafe kommt in dieser Ableitung nicht vor.97 Das folgt schon daraus, dass die Frage nach den Legitimationsbedingungen der Sicherungsverwahrung (und ihres Vollzugs) auch in einem Strafrecht beantwortbar sein muss, das die Freiheitsstrafe als normbestätigende Sanktion nicht (mehr) kennt98 (hierauf verzichtet) und freiheitsentziehende Eingriffe auf die Verhinderung gravierender Taten durch besonders gefährliche Täter beschränkt. VI. Die Revisionsbedürftigkeit der Sicht des Art. 103 Abs. 2 GG in Bezug auf die Sicherungsverwahrung Den Ausgangspunkt nahezu der gesamten neueren Diskussion um die Sicherungsverwahrung bildete die Frage, ob das Rückwirkungsverbot, insbesondere das in Art. 103 Abs. 2 GG verankerte Rückwirkungsverbot, auch für die Sicherungsverwahrung zu gelten habe. 1. Die Frage war schon vor der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 5. 2. 200499 außerordentlich umstritten. Im Schrifttum war seit langem von vielen die Auffassung vertreten worden, dass das Rückwirkungsverbot – anders als möglicherweise für gewisse andere Maßregeln der Besserung und Sicherung – für die Sicherungsverwahrung jedenfalls zu beachten sei, und zwar nicht erst in Gestalt des allgemeinen Vertrauensschutzgebots nach Art. 2 Abs. 2 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG, sondern gewährleistet durch Art. 103 Abs. 2 GG, der auch die 96

Diese Prinzipien bestimmen, wann die Kollision zwischen der Freiheit des Täters und der Freiheit und den Gütern potentieller Opfer vom Staat durch die Inanspruchnahme der Freiheit des Täters (als des für den Konflikt Verantwortlichen) zu dessen Lasten aufzulösen ist (vom BVerfG wohl mit den „mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen“ gemeint). Weiterführend dazu die Nachw. oben Fußn. 82. 97 Die Notwendigkeit einer dezidiert sozialtherapeutischen Ausgestaltung des Vollzugs der Sicherungsverwahrung ergibt sich nicht aus einem „Abstandsgebot“ zum Strafvollzug, sondern daraus, dass nur der geringstmögliche Eingriff in die Freiheit gestattet ist, was dazu zwingt, alles auszunutzen, um den Freiheitsentzug möglichst kurz zu halten und somit in bestmöglicher Weise therapeutische Angebote zur Verfügung zu stellen. 98 Das mag etwas utopisch klingen; aber tatsächlich ist die vollstreckte Freiheitsstrafe ja schon heute im Gesamtfeld aller verhängten Strafen die absolute Ausnahme; vgl. dazu m.w.N. Frisch, GA 2009, 385 (394 f.); ders., FS Jung, 2007, S. 189 (196 ff.). 99 BVerfGE 109, 133 ff.

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Sicherungsverwahrung meine.100 Dementsprechend hatte z. B. auch der Gesetzgeber nach dem Beitritt der neuen Bundesländer und der Erstreckung der Geltung des StGB auf diese Länder die Anwendbarkeit der Sicherungsverwahrung für Taten ausgeschlossen, die vor dem Zeitpunkt der Erstreckung begangen worden waren.101 Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 5. 2. 2004, die die rückwirkende Verlängerung der Sicherungsverwahrung als mit der Verfassung vereinbar qualifizierte, weil Art. 103 Abs. 2 GG die Sicherungsverwahrung nicht umfasse und auch das allgemeine Vertrauensschutzgebot bei bestimmten hochgefährlichen Straftätern der rückwirkenden Verlängerung nicht entgegenstehe, musste daher fast zwangsläufig erhebliche Kritik auslösen;102 die Entscheidung des EGMR wurde von dieser Kritik als fällige und zutreffende Korrektur des Kurses des Bundesverfassungsgerichts eingestuft. Mittlerweile hat der Diskurs zwischen dem Bundesverfassungsgericht und dem EGMR zu einer Annäherung der Standpunkte geführt. Auch das Bundesverfassungsgericht sieht eine solche Rückwirkung nunmehr prinzipiell als unzulässig an; es stützt dies – anders als der EGMR – nur nicht auf das Verbot der rückwirkenden Verschärfung der Strafe (Art. 103 Abs. 2 GG), sondern auf Art. 2 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG. Eine Ausnahme macht das Gericht nur für psychisch kranke hochgefährliche Straftäter bzw. – wie das Gericht gleichsetzend formuliert – hochgefährliche Straftäter, die an einer psychischen Störung im Sinne des Art. 1 Abs. 1 Nr. 1 des Therapieunterbringungsgesetzes leiden.103 2. In der Tat muss das Verbot rückwirkender Anordnung oder Verschärfung auch für die Sicherungsverwahrung gelten. Kaum jemand käme wohl in einem monistischen System, in dem die Strafe auch Sicherungsinteressen befriedigt, auf die Idee, eine nach der Tat erfolgte Ausweitung der Strafdrohung für eine Verlängerung der spezialpräventiven Komponente der Strafe in Anspruch zu nehmen und damit eine Strafe zu verhängen, die im Zeitpunkt der Tat nicht angedroht war. Natürlich würde darin ein Verstoß gegen das Verbot der rückwirkenden Verschärfung der Strafe gesehen. Hieran kann die Aufspaltung der auf eine Tat bezogenen Reaktion in einen schuldorientierten und einen gegen die Gefährlichkeit gerichteten Teil und die Realisierung dieser Teile in eigenständigen Sanktionen (Strafe/Maßregel) nichts ändern. 100 Vgl. eingeh. Best, ZStW 114 (2002), 88 ff., 95 ff.; Kinzig, NJW 2001, 1455, 1457 f. jeweils m.w.N.; vgl. ferner die Nachw. unten Fußn. 106. 101 Vgl. dafür Artikel 1a EGStGB in der Fassung des Artikel 1 des Gesetzes zur Rechtsvereinheitlichung der Sicherungsverwahrung (SichVG) vom 16. 6. 1995 (BGBl. I, S. 818) und dessen Begründung, BT-Drucks. 13/757. Mit dem SichVG wurde die Sicherungsverwahrung schließlich auch in den neuen Bundesländern eingeführt, vgl. dazu Anlage 1 Kapitel III Sachgebiet C Abschnitt II Nr. 1a des Einigungsvertrages (BGBl. 1990 II S. 954). 102 Vgl. etwa Baier, Jura 2004, 552, 553; Braum, ZRP 2004, 105, 108; Dünkel, NK 2004, 42, 47; ders., KrimPäd 2004, 47 ff.; Hörnle, StV 2006, 383, 386; Kinzig, NJW 2004, 911, 913; Kreuzer, ZIS 2006, 145, 147 f.; Laubenthal, ZStW 116 (2004), 703, 724; Jung, GA 2010, 639, 642; Böllinger/Pollähne, in: Paeffgen/Kindhäuser u. a. (Hg.), NK-StGB, § 66b Rn. 7; s. ausf. Best, ZStW 114 (2002), 88 ff., 99 ff. m.w.N. 103 BVerfGE 128, 326 (396 ff.) = NJW 2011, 1931 (1943 f., Tz. 151 ff.).

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Auch bei einer solchen Aufspaltung geht es um die „Reaktion auf eine Tat“, geht es um deren Aufarbeitung – nur eben unter verschiedenen Aspekten: dem der Bestätigung der Normgeltung nach dem Maß der Schuld und dem der Reaktion auf die in der Tat zutage getretene Gefährlichkeit.104 Auch die Ratio des Rückwirkungsverbots verlangt die Einbeziehung der auf die Beseitigung der Gefährlichkeit gerichteten Reaktion: Der Täter muss nicht nur in Bezug auf die vergeltende oder normbestätigende und missbilligende Sanktion darauf vertrauen dürfen, dass aus der Tat später nicht gravierendere Konsequenzen als angedroht gezogen werden; das gleiche Vertrauen kann er auch beanspruchen, soweit es um die Aufarbeitung seiner Tat unter dem Aspekt der Gefährlichkeit durch Eingriffe in seine Freiheit geht. Die begriffliche Trennung von Strafe und Maßregel bildet unter dem Aspekt dieser Ratio kein tragfähiges Gegenargument. Im Gegenteil, das Grundanliegen der Trennung spricht ebenfalls für eine Einbeziehung der Sicherungsverwahrung in das Rückwirkungsverbot: Die Trennung zwischen den beiden Formen der Aufarbeitung der Tat will den Schein einer zu großen Missbilligung, der durch lange Strafen leicht erweckt wird, vermeiden und die rein vorbeugend legitimierte Freiheitsentziehung besonders freiheitsschonend gestalten.105 Sie hat dagegen nicht den Sinn (und sollte dazu auch nicht benutzt werden), dem Täter Gewährleistungen zu nehmen, die er im monistischen System hätte. All das gilt nicht nur für die nachträgliche Verlängerung der Sicherungsverwahrung, sondern ebenso für die nachträgliche Ermöglichung ihrer Anordnung unter abgesenkten Voraussetzungen. 3. Geltungsgrundlage dieses Verbots der rückwirkenden Verschärfung der Sicherungsverwahrung ist dabei nicht erst das allgemeine Gebot des Vertrauensschutzes nach Art. 2 Abs. 2 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG, sondern die für Ausnahmen unzugängliche Regelung des Art. 103 Abs. 2 GG.106 Die Auffassung des Bundesverfassungsgerichts, Art. 103 Abs. 2 GG schütze allein vor rückwirkender Anordnung oder Verlängerung der Schuldstrafe, überzeugt nicht. Seit je und noch 104 Dazu, dass es in den strafrechtlichen Maßregeln, insbes. aber in der Sicherungsverwahrung, immer nur um eine Antwort auf die in der Tat zutage getretene Gefährlichkeit (und damit ersichtlich um eine – wenn auch um Zukünftiges bemühte – Reaktion auf die Tat) geht, vgl. z. B. BVerfGE 109, 133 (174); OLG Brandenburg, v. 6.1.2005 – 2 Ws 229/04, teilweise abgedruckt in StraFo 2008, 208 ff.; OLG Karlsruhe, NStZ-RR 2002, 54; Schöch, in: Laufhütte/Rissing-van Saan/Tiedemann (Hg.), Strafgesetzbuch. Leipziger Kommentar, 12. Aufl. 2008, Vor § 61 Rn. 68, § 62 Rn. 20; Sinn, in: Rudolphi/Wolter u. a. (Hg.), SK-StGB, 118. Lfg. 2009, § 61 Rn. 2; Müller-Christmann, JuS 1990, 801 (802). 105 Vgl. oben IV. 106 Ebenso z. B. Best, ZStW 114 (2002), 88 (95 ff.); Böllinger/Pollähne, in: Paeffgen/ Kindhäuser u. a. (Hg.), NK-StGB, 3. Aufl. 2010, § 66 Rn. 7; Finger (Fußn. 19), S. 149 ff., 169 ff.; Kinzig, NJW 2001, 1455 (1456 f.); Kreuzer, StV 2011, 122 (126); Laubenthal, ZStW 116 (2004), 703 (724); Pieroth, JZ 2002, 922 (926); Renzikowski, ZStW 2011, 531 (542); Rzepka, Recht & Psychiatrie 21 (2003), 191 (195 ff.); Streng, FS Lampe, 2003, S. 611 (633 f., 640); ders., JZ 2011, 827 (831 f.); Waterkamp, StV 2004, 267 (270); s. auch die Nachw. oben Fußn. 102.

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heute dienen die Strafrahmen auch der Verwirklichung präventiver Zwecke; dementsprechend finden sich auch in den konkret verhängten Strafen häufig Strafanteile, die allein auf präventive Bedürfnisse zurückgehen.107 Es ist selbstverständlich, dass z. B. auch diese präventiven Teile der Strafe der Garantie des Art. 103 Abs. 2 GG unterliegen und dass zum Zwecke der Prävention nicht Strafen verhängt werden dürfen, die der frühere Strafrahmen nicht zuließ – selbst wenn hinter der Erweiterung des Strafrahmens vor allem präventive Bedürfnisse stehen sollten. Bei dieser Sachlage ist schwer einzusehen, wieso zwar der präventive Teil der Strafe dem Rückwirkungsverbot unterliegt, nicht aber tataufarbeitende präventive Maßnahmen, die allein zur Vermeidung von Fehlvorstellungen über die Schuld des Täters neben der Strafe stehen. Das gilt umso mehr, als schon nach dem Wortlaut des Art. 103 Abs. 2 GG anders verfahren werden müsste, wenn die Strafe in umfassenderem Maße präventiv ausgestaltet wäre oder den Täter unter den lange Zeit vertretenen Stichworten der materiellen Schuld108 auch wegen seiner Entscheidungshaltungen zur Rechenschaft zöge. Die Auffassung des Bundesverfassungsgerichts führt zur unmöglichen Konsequenz, dass der Schutzbereich des Art. 103 Abs. 2 GG größer oder geringer ist, je nach dem, welche einfachgesetzliche Strafzweckkonzeption vertreten wird. Dies lässt sich auch nicht dadurch entschärfen, dass man annimmt, bestimmte Strafzweckkonzeptionen, die zu einem weitergehenden Schutzbereich des Rückwirkungsverbots führten, seien als Strafzweckkonzepte nicht mit der Verfassung vereinbar. Ich weiß nicht, worauf überzeugend gestützt werden sollte, dass die Verfassung Strafen verbiete, die den Täter nicht nur für seine konkrete Tatschuld zur Rechenschaft ziehen, sondern auch für seine Entscheidungshaltungen und Einstellungen verantwortlich machen und die deshalb so bemessen sind, dass gravierende dissoziale Einstellungen im Vollzug der Strafe beseitigt werden können. VII. Zum Umgang mit später sichtbar werdenden Präventionsbedürfnissen – Neue Anordnungsgründe jenseits des Strafrechts Aus kriminalpolitischer Sicht mag die Annahme der Geltung des Rückwirkungsverbots aus Art. 103 Abs. 2 GG manchem auf den ersten Blick vielleicht als Nachteil erscheinen. Denn anders als das „weiche“ Vertrauensschutzgebot aus Art. 2 Abs. 2 GG und Art. 20 Abs. 3 GG ermöglicht diese Verfassungsbestimmung es nicht, selbst in Fällen evidenter später sichtbar werdender Präventionsbedürfnisse Ausnahmen zu 107 Ganz deutlich z. B. auf der Basis der „Spielraumtheorie“ des BGH (dazu BGHSt 7, 28 [32]; 20, 264 [266 f.] und Bruns, Strafzumessungsrecht, 2. Aufl. 1974, S. 232 ff., 263 ff., 291 ff., nach der die Strafhöhe innerhalb eines erheblichen Spielraums der Schuldstrafe (zur Weite Bruns aaO., S. 277 ff.) von präventiven Erwägungen abhängt. 108 Vgl. z. B. Eb. Schmidt, ZStW 69 (1957), 359 (372); ders., NJW 1967, 1929 (1939); Mezger, Strafrecht, 3. Aufl. 1949, S. 275 ff.; H. Mayer, Strafrecht. Allg. Teil, 1953, S. 274 ff., 379 ff.; Köhler, Strafrecht. Allg. Teil, 1997, S. 363 f., 632 ff., 643.

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machen – selbst dann nicht, wenn eine weitere Freiheitsentziehung (in Gestalt einer Verlängerung oder Neuanordnung) auch nach Art. 5 Abs. 1 lit. e EMRK zulässig wäre. In Wahrheit liegt darin jedoch kein Nachteil, sondern ein Vorzug der hier vertretenen Auffassung. Die Rigidität des Art. 103 Abs. 2 GG macht deutlich, dass eine „Verlängerung“ des Eingriffs oder eine weitere Anordnung nicht mehr auf die Tat gestützt werden kann, sondern eines eigenen neuen Legitimationsgrundes bedarf. 1. Solche Legitimationsgründe sind denkbar und sie spielen auch in der jüngsten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine Rolle. Auch der seelische Zustand einer Person kann unter bestimmten Voraussetzungen freiheitsentziehende oder freiheitsbeschränkende Maßnahmen rechtfertigen. Auf diesem Gedanken beruhen insbesondere die landesrechtlichen Unterbringungsgesetze, welche die Unterbringung psychisch kranker Personen ermöglichen, die für sich selbst oder für andere eine Gefahr bilden.109 Freilich trägt der Gedanke nicht nur in Bezug auf Personen, die aufgrund einer psychischen Erkrankung im medizinischen Sinne gefährlich erscheinen. Er trägt grundsätzlich auch, soweit es um prinzipiell verantwortliche Personen geht, die tiefeingeschliffene Fehlhaltungen und Fehlprägungen in ihrem Entscheidungsverhalten oder gravierende Defizite im Bereich der Triebkontrolle und der Steuerung aufweisen und dadurch für andere in hohem Maße gefährlich sind. Die moderne Hirnforschung hat sehr eindrucksvoll herausgearbeitet, dass verfehlte Entscheidungsmuster für bestimmte Situationen („Fehlschaltungen“) und Defizite im Bereich der Kontrollinstanzen für bestimmte Situationen mit hoher Wahrscheinlichkeit zu aggressivem oder sonstigem deliktischen Handeln führen.110 Jedenfalls dann, wenn aufgrund solcher feststellbarer Fehlhaltungen und Defizite hinreichend erfahrungsfundiert mit gravierenden Beeinträchtigungen höchster Rechtsgüter zu rechnen ist, können auch derartige psychische Strukturen präventive Eingriffe legitimieren. Auf dieser Linie bewegen sich mittlerweile auch das Bundesverfassungsgericht und das Therapieunterbringungsgesetz, wenn sie für die Zulässigkeit der weiteren Unterbringung auf eine die Gefährlichkeit begründende „psychische Störung“ abheben. Freilich werden die exakten Zusammenhänge noch terminologisch und konstruktiv verschleiert. Es geht nicht um eine „Verlängerung“ der früheren Sicherungsverwahrung wegen der Tat, die „ausnahmsweise“ zulässig ist, weil nicht Art. 103 Abs. 2 GG, sondern „nur“ das Vertrauensschutzgebot aus Art. 2 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG gelte, das für Fälle gravierendster Gefahren Ausnahmen vom Verbot rückwirkender Verlängerung zulässt.111 Es geht um etwas anderes, das 109 Vgl. z. B. § 1 Abs. 4 des Baden-Württembergischen „Gesetzes über die Unterbringung psychisch Kranker“ in der Fassung vom 2. 12. 1991, GBl.BW 1991, 794; § 1 Abs. 1 des bayerischen „Gesetzes über die Unterbringung psychisch Kranker und deren Betreuung“ in der Fassung vom 5. 4. 1992, GVBl. 1992, 60. 110 Vgl. z. B. Roth/Lück/Strüber, DRiZ 2005, 356 ff.; dies., in: Lampe/Pauen/Roth (Hg.), Willensfreiheit und rechtliche Ordnung, 2008, S. 126 (130 ff.); W. Singer, in: Geyer (Hg.), Hirnforschung und Willensfreiheit, 2004, S. 30 (53 ff.). 111 So BVerfGE 128, 356 (388 ff., 393, 395 ff.) = NJW 2011, 1931 (1941 – 1944, Tz. 131 ff., 143, 150 – 156).

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außerhalb der Aufarbeitung der Straftat über einen definierten Katalog von Tatfolgen liegt. Es handelt sich, wie in den Unterbringungsgesetzen und im Polizeirecht, um schlichte Gefahrenabwehr, die – freilich – einen Täter betrifft, gegen den zuvor schon im Rahmen der Aufarbeitung einer Straftat Prävention betrieben worden ist. Aber die Dinge sind zu trennen – auch unter dem Aspekt der Kompetenzen. 2. Hieraus ergeben sich zugleich Folgerungen für die so genannte nachträgliche Sicherungsverwahrung, d. h. die Anordnung der Unterbringung von Personen, deren Gefährlichkeit erst nach der Aburteilung der Tat durch das Gericht (voll) erkennbar geworden ist. Auch insoweit handelt es sich um jenseits des Strafrechts liegende Gefahrenabwehr – Thomas Würtenberger hat dies in seinem den Landesgesetzen zur nachträglichen Unterbringung vorausgehenden Gutachten mit aller Klarheit gesagt.112 Die Diskussion um diese Maßnahme litt von Anfang an darunter, dass diese viel zu sehr an das Strafrecht angebunden und als Eingriff angesehen wurde, der entscheidend mit der begangenen Tat zu tun hat. Schon die Landesgesetze erweckten diesen Eindruck, noch mehr die Anträge der Bundesländer, der Bundesgesetzgeber möge Bestimmungen zur Ermöglichung einer nachträglichen Sicherungsverwahrung schaffen. Endgültig auf das falsche Gleis gebracht wurde die Entwicklung dann durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 10. 2. 2004.113 Hier wurde der gefahrenabwehrorientierte Hintergrund der Vorschriften verkannt, die in dieser Richtung nicht hinreichend deutlichen Landesgesetze wurden als späte Reaktion auf die Tat eingestuft, auf dieser Basis wurde die Gesetzgebungskompetenz des Bundesgesetzgebers festgestellt und diesem nahegelegt, sich ggf. zum Erlass einschlägiger Bestimmungen zu entschließen.114 Mit all dem wurde (und wird zum Teil noch) übersehen, dass die Tätigkeit und die Kompetenz des Strafrechts und des Strafrichters auf die repressive und präventive Aufarbeitung der Straftat beschränkt ist.115 Die Befriedigung von Präventionsbedürfnissen ist nur insoweit Aufgabe des Strafrechts, als sich solche Bedürfnisse in der Tat gezeigt haben und nach ihrem Gewicht die Ergänzung der Schuldstrafe durch präventiv orientierten Freiheitsentzug legitimieren. Zeigen sich Präventionsbedürfnisse erst später – etwa in Gestalt von dissozialen Persönlichkeitszügen oder deliktischen Präferenzen, die in der Tat noch nicht sichtbar waren –, so geht es nicht mehr um die Aufarbeitung der Tat, sondern um diesen Persönlichkeitszügen Rechnung tragende Gefahrenabwehr, die mit eben diesen Persönlichkeitszügen und den damit verbun-

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Vgl. Würtenberger/Sydow, NVwZ 2001, 1201 (1202). BVerfGE 109, 190 ff. 114 Vgl. BVerfGE 109, 190 (219 ff., 229 ff., 236 ff.). 115 Zutr. Würtenberger/Sydow, NVwZ 2001, 1201 (1202) im Anschluss an Dreher, NJW 1952, 1282: „Antwort des Staates auf die Straftat“. 113

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denen Gefahren begründet werden muss und außerhalb des Strafrechts stattzufinden hat.116 Die Idee einer nachträglichen Sicherungsverwahrung in der Hand des Strafrichters ist aber nicht nur deshalb problematisch, weil sie die Begrenzung des Strafrechts übersieht. Sie eröffnet auch unnütze Angriffsflächen, weil sie leicht als problematische Korrektur des Urteils oder als nochmalige Reaktion auf schon abschließend Beurteiltes verstanden werden kann.117 Vor allem aber bagatellisiert sie die Legitimationsproblematik solcher späterer präventiver Eingriffe: Sie tut so, als sei es möglich, eine nicht ganz ausreichende Anordnungsbasis im Zeitpunkt der Tat mit Hilfe einiger indizieller Daten, insbesondere aus dem Vollzug, dahin zu ergänzen, dass sie zu einer ausreichenden Legitimationsbasis für den Eingriff wird. Damit wird das eigentliche Problem nicht einmal angesprochen: Dieses besteht darin, jene Persönlichkeitsstrukturen oder Persönlichkeitszüge (mit dafür geeigneten Begriffen) zu umschreiben, deren Vorhandensein es auf der Basis hinreichend abgesicherten empirischen Wissens wegen der mit solchen Strukturen verbundenen hohen Gefahren für andere Personen rechtfertigt, einer Person die Freiheit zu entziehen. Welche Schwierigkeiten an dieser Stelle schon bei der Umschreibung der maßgeblichen Sachverhalte auftauchen, zeigen der vage Begriff der „psychischen Störung“118 und die Versuche des Bundesverfassungsgerichts ihn zu präzisieren.119 Immerhin befindet sich die Diskussion insoweit – nach der bedauerlichen Zwischenphase der „nachträglichen Sicherungsverwahrung“ – im Ansatz wieder auf dem rechten Weg.

116 So mit Recht Würtenberger/Sydow, NVwZ 2001, 1201 (1202 f.) mit zutr. Analyse der Bedeutung der Anlasstat in einem solchen Konzept; ebenso Peglau, NJW 2001, 2436 (2437). 117 Vgl. die Bedenken des Bundesrates gegen die oben in Fußn. 14 erwähnten Gesetzesinitiativen der Länder in BR-Drucks. 854/98. 118 So § 1 Abs. 1 Nr. 1 des Theraphieunterbringungsgesetzes (oben Fußn. 64). 119 Vgl. insbes. BVerfG (3. Kammer des 2. Senats), StV 2012, 25 f. mit krit. Anm. Krehl (27 ff.).

Das Verlangen nach Sicherheit. Anthropologische Befunde Von Hans-Helmuth Gander, Freiburg Ereignisse wie die Terroranschläge des 11. September 2001 oder auch die seit 2008 anhaltende Finanzkrise zeigen, wie Wolfgang Hoffmann-Riem betont, das „Staatsziel Sicherheit ist prekär geworden“1. Mit Recht wird darauf hingewiesen, dass die Garantie der öffentlichen Sicherheit nicht einzulösen Autorität und Legitimität eines Staatswesens nachhaltig erschüttert. Als mögliche Folge zeitigt sich, dass die „Zerstörung der Illusionen zum Zielwert Sicherheit […] die Bereitschaft, den Zielwert Freiheit zur Disposition zu stellen“2, fördert. In der damit verbundenen und breit geführten Debatte ,Sicherheit versus Freiheit‘ dokumentiert sich dieser Umstand aus Sicht derer, die die Freiheit bedroht sehen, besonders anschaulich in der sich ausweitenden Sicherheitsgesetzgebung, durch die für nicht wenige bereits alle Anzeichen dafür sprechen, dass sich der Rechtsstaat in einen Sicherheitsstaat verwandelt, ja mehr noch der Überwachungsstaat bereits eine reale Gefahr darstellt.3 Andererseits ist nicht zu verkennen, dass vermehrt seit der Finanzmarktkrise in vielen Foren wieder vernehmlich die Rückkehr des starken Staates, mindestens aber eine deutlich erkennbare Renaissance der Staatsidee diskutiert wird.4 Das aus diesen Hinweisen herauslesbare Verlangen nach Sicherheit aus der Erfahrung von Unsicherheit verweist aber noch diesseits der politischen, rechtlichen und staatstheoretischen Perspektiven auf einen für die Bestimmung von Sicherheit anthropologisch existenziellen Grundverhalt, der für die vortheoretische Selbstverständigung des Menschen über sich und seine Stellung in der Welt von entscheidender Bedeutung ist und mithin in elementarer Weise sein Verhalten beeinflusst. Sofern unser Verhalten situationsbezogenes Handeln ist, stellt sich mithin die Frage nach den normativen Regeln respektive Maßstäben und Prinzipien, gemäß denen das Bedürfnis nach Sicherheit sich in entsprechenden Handlungen einzulösen vermag. Von hier aus formulieren sich bzw. lassen sich formulieren Anforderungen und Ansprüche an eine mögliche Sicherheitsphilosophie. Als angewandte bzw. konkrete Ethik 1 Hoffmann-Riem, Sicherheit braucht Freiheit, in: Arnauld/Staack (Hrsg.), Sicherheit versus Freiheit?, 2009, S. 120. 2 Hoffmann-Riem (Fußn. 1), S. 121. 3 Vgl. dazu Frankenberg, Staatstechnik. Perspektiven auf Rechtsstaat und Ausnahmezustand, 2010; Baum, Rettet die Grundrechte. Bürgerfreiheit contra Sicherheitswahn, 2009. 4 Vgl. dazu Heinze, Rückkehr des Staates? Politische Handlungsmöglichkeiten in unsicheren Zeiten, 2009; Vogel, Die Staatsbedürftigkeit der Gesellschaft, 2007.

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kann sie dazu beitragen, die in ihrem Bereich damit verbundenen Spielräume menschlichen Handelns moralisch zu gestalten und also in Konflikt- und Zweifelsfällen die Handlungsoptionen aus der Situation heraus ethisch zu beurteilen und so zu einem moralisch verantwortlichen Verhalten zu führen. Im Folgenden geht es jetzt darum, den anthropologischen Horizont des Sicherheitsphänomens ein Stück weit auszuleuchten, um von hier aus einige Verbindungslinien zu politikphilosophischen bzw. sicherheitsphilosophisch relevanten Problemstellungen auszuziehen. I. Sicherheitsbedürfnis und Sicherheitsgefühl im lebensweltlichen Erfahrungszusammenhang Um einleitend zu veranschaulichen, wie sehr das Sicherheitsphänomen aus dem lebensweltlichen Erfahrungszusammenhang her seine Bedeutsamkeit entfaltet, sei mit einer kleinen Geschichte begonnen: Ein Mitarbeiter des Freiburger Husserl-Archivs, der im Rahmen eines von der Europäischen Union geförderten Projektes zu Menschenrechten und Interkulturalität forschte, ging gemeinsam mit seiner Frau und einer kleinen Tochter hierzu für drei Jahre nach Brasilien. Während dieser Zeit wurde das kleine Mädchen eingeschult. Nach Ablauf des Projekts kam die Familie nach Freiburg zurück und entsprechend wurde die Tochter umgeschult. Am Tag nach Schulbeginn weigerte sie sich vehement zur Schule zu gehen und zeigte alle Symptome höchster Verängstigung. Was war passiert? Das Mädchen war von Brasilien her gewohnt, dass Schulen am Eingang von Polizisten bewacht werden und kein Kind das Schulgelände ohne Begleitung verlassen darf. Hier in Freiburg empfand sie die Tatsache, dass Schulen nicht von Polizisten bewacht werden und man sich auch außerhalb des Schulgeländes freizügig bewegen darf, als zutiefst verstörend und für sie bedrohlich. Es benötigte eine gewisse Zeit, bis sie schließlich ihre Bewegungsfreiheit als normal und sie nicht gefährdend empfinden konnte. – In geradezu umgekehrter Perspektive kann ich von mir sagen, dass der Umstand, dass ich bei Tagungsbesuchen in Rio de Janeiro den Universitätscampus als eine Art Festung mit Wachpersonal und Eingangskontrollen erlebt habe, etwas für mich Beunruhigendes an sich hatte. Denn diese sichtbare Präsenz von Gefahrenabwehr signalisierte mir, dass man auf dem Universitätsgelände nur sicher ist, wenn man aktiv geschützt wird. So war, was das kleine Mädchen in ihrem Erlebenshorizont des brasilianischen Schulalltags beruhigte, für mich aus meiner anderen lebensweltlichen Erfahrung heraus Anlass zur Beunruhigung. Die beiden im konkreten Erlebenskontext unterschiedlichen emotional gefärbten Reaktionen auf eine strukturell ähnlich gelagerte Situation lassen im Blick auf die Frage der Sicherheit erkennen, dass Sicherheit sich für Menschen primär und d. h. existenziell in einem sich Sicherfühlen bekundet, das als Freisein von Furcht erlebt wird. Als dieses Gefühl ist Sicherheit, wie das Beispiel zeigt, erfahrungsbedingt und kontext- bzw. situationsabhängig. Zudem ist dieses Gefühl von Sicherheit für das menschliche Wohlbefinden und Wohlergehen von erheblicher Bedeutung, weshalb frei von Furcht zu leben und in diesem Sinne sich sicher zu fühlen ein erstrebenswer-

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tes Ziel darstellt, das zu erlangen als intrinsisch wertvoll erfahren wird. Beschreibt in diesem Sinne Sicherheit als Freisein von Furcht ein Grundbedürfnis des Menschen, so bleibt es in seinem Motivations- und Wesensgrund darin korrelativ bezogen auf die Furcht bzw. Angst als einer menschlichen Befindlichkeit, in der sich mir mein Selbstwie Weltverhältnis konstitutiv erschließt. Sofern dieses Bedürfnis nach Sicherheit nicht vom Einzelnen für sich befriedigt werden kann, sondern nur innerhalb eines Gemeinwesens, in dem das Individuum sich frei von existenziellen Gefährdungen entfalten kann, ist Sicherheit bzw. das Sicherheitsbedürfnis gleichermaßen ein Phänomen der individuellen Befindlichkeit wie der menschlichen Sozialität. Sicherheit ist, sofern wir uns handelnd immer schon in die Welt verstricken und verstricken lassen, m.a.W. von Hause aus relational bestimmt, und zwar als Verhältnis zu sich, zu anderen und zur Welt.5 In dieser funktionellen wie strukturellen Hinsicht erscheint das menschliche Selbst- und Weltverhältnis durchherrschende Sicherheitsverlangen in seiner „strukturellen Allgegenwart und Relevanz“6 als eine anthropologische Konstante, die dabei aber hinsichtlich ihrer gegenständlichen Korrelate und konkreten Erscheinungsformen ein breites Spektrum an historischer Varianz einschließt.7 In diese Varianzbreite ist ferner einzubeziehen, dass Sicherheit in der normativen Grammatik eines Sozialverbandes entsprechend der kulturellen Wahrnehmung ebenfalls historisch unterschiedlich ausgeprägte und durchaus ambivalente Wertungen erfährt. Beispielsweise wird Sicherheit als gesellschaftliches Gut explizit hochgeschätzt in Krisenzeiten, wie sie durch Kriege, terroristische Anschläge, durch Naturkatastrophen oder technische Großunfälle evoziert werden. Demgegenüber tritt Sicherheit als gesellschaftlicher Wert diskursiv deutlich weniger in Erscheinung, wenn sich die Lebensverhältnisse als stabil und eher ungefährdet erweisen. Hier ist es sogar eher so, dass sich auf der Basis sicherer Verhältnisse, wie der Berliner Sozialwissenschaftler Herfried Münkler es nennt, ,Kulturen des Risikos‘ etablieren, die sich in Teilen aus einer gewissen „Abenteuerlust [speisen,] bei der […] die expressive Selbststeigerung im Vordergrund steht: Man will vor allem sich selbst beweisen und den Vorrang vor anderen zur Darstellung bringen“8. Anschauliche Beispiele liefern hier die verschiedenen Formen der Extremsportarten, die aber gerade wegen der ihnen eigenen erhöhten Risiken in der Regel mit rational ausgeklügelten Sicherungsmaßnahmen verbunden sind. So nehme ich etwa beim Fallschirmspringen zwar von vornherein ein höheres Risiko für Leib und Leben in Kauf, aber wenn ich 5 Philippe Merz (ders., Das Bedürfnis nach Sicherheit und die Aufgaben einer Sicherheitsethik, in: Riescher (Hrsg.), Sicherheit und Freiheit statt Terror und Angst. Perspektiven einer demokratischen Sicherheit, 2010, S. 273 – 294) entfaltet in grammatischer wie semantischer Hinsicht den Sicherheitsbegriff als „mindestens sechsstelligen Relationsbegriff: wer/ was, wen, weshalb, wie, welche Folgen, vor wem“ (a.a.O., S. 277). 6 Merz (Fußn. 5), S. 281. 7 Vgl. dazu Conze, Sicherheit, Schutz, in: Geschichtliche Grundbegriffe Bd. 5, 831 – 862. 8 Münkler, Strategien der Sicherung: Welten der Sicherheit und Kulturen des Risikos. Theoretische Perspektiven, in: Münkler/Bohlender/Meurer (Hrsg.), Sicherheit und Risiko. Über den Umgang mit Gefahr im 21. Jahrhundert, 2010, S. 20.

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nicht mit suizidaler Absicht springe, werde ich auf die Sicherheit des Materials wie der Sprungbedingungen ein hohes Maß an Aufmerksamkeit verwenden. Also auch das auf expressive Selbststeigerung angelegte risikoaffine Verhalten wird von einem Sicherheitsbedürfnis grundiert, auch wenn es für eher risikoaverse Personen nach außen so nicht aussieht. Emil Angehrn spricht im Anschluss an Michael Balint von einer affektiv zwiespältigen „Angstlust [als] einer Lust an Unsicherheit um der Sicherheit willen.“9 In diesem Sinne demonstrieren solch risikoaffine Verhaltensweisen anschaulich, was für das Verständnis des Sicherheitsphänomens grundlegend ist, dass nämlich Sicherheit „sich nicht in direkter Fixierung, sondern nur im Umweg über Unsicherheit erreichen [lässt]“10. II. Sicherheit aus Furcht: Thomas Hobbes Besonders eindrücklich und zudem politikphilosophisch relevant zeigt sich dies in der Position von Thomas Hobbes. Sie bietet zugleich den Umschlagpunkt zum neuzeitlich-modernen Verständnis von Sicherheit, in dem das menschliche Sicherheitsbedürfnis anthropologisch mit der Erfahrung von Kontingenz korreliert und dabei sich affektiv, wie gesehen, der Furcht verschwistert, von der Hobbes in einer berühmten Formulierung sagt, dass sie als sein Zwilling mit ihm geboren wurde. Und in der Tat ist Furcht in der politischen Philosophie von Hobbes das, was das Sicherheitsbedürfnis befeuert. Angesichts des durch den religiösen Bürgerkrieg erschütterten gesellschaftlichen Ordnungsgefüges und dem damit verbundenen Wegfall der tradierten Bindungskräfte stellt sich für Hobbes’ politische Anthropologie die Frage, wie denn angesichts der Bedrohungen im Naturzustand das menschliche Grundbedürfnis nach Sicherheit, das aus dem Selbsterhaltungstrieb erwächst, befriedigt werden kann in der Herstellung des gesellschaftlichen Friedens. Bekanntlich bürgt dann der Leviathan für diese Sicherheit, weil der Einzelne in seiner Sterblichkeit und Verwundbarkeit sich selbst diese Sicherheit nicht verbürgen kann und Unsicherheit und Gefährdung primär durch die anderen Menschen erfährt. So gesehen bestimmt sich bei Hobbes die das menschliche Überleben und Leben garantierende und im Gesellschaftsvertrag hinterlegte Staatsbildung durch das aus dem Selbsterhaltungstrieb stammende anthropologisch fundamentale Sicherheitsbedürfnis. Als solches aber ist es in einem wesentlichen Sinne korreliert mit der vorgängigen Erfahrung von Unsicherheit, die sich affektiv in der Angst ausdrückt und darin auf die Kontingenz menschlicher Existenz verweist. Bei Hobbes heißt es daher, dass „die Furcht vor Tod, Armut oder einem anderen Unglück den ganzen Tag über am Herzen des Menschen [nagt], der aus Sorge über die Zukunft zu weit blickt und […] vor seiner Angst nur im Schlaf Ruhe [findet]“11. Zukunft ist aber nicht nur je9

Angehrn, Das Streben nach Sicherheit. Ein politisch-metaphysisches Problem, in: FinkEitel/Lohmann (Hrsg.), Zur Philosophie der Gefühle 1993, S. 230. 10 Ebd. 11 Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates, 1984, S. 83.

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derzeit offen, sondern für mich in seinen vielfältigen Gefährdungen stets auch unbestimmt und unbestimmbar. Nicht umsonst symbolisiert sich für Hobbes der in die Zukunft angstvoll blickende Menschen im Schicksal des gefesselten Prometheus. Dass meine eigene Zukunft für mich unbestimmbar und offen bleibt, diese aus der eigenen Endlichkeit und also Sterblichkeit her erfahrene Kontingenz des Daseins birgt in sich eine tiefe Verunsicherung, der eine existenzielle Angst korrespondiert. III. Securitas als Streben nach Sorglosigkeit und politischer Stabilität Die Art von Sicherheit, die der Hobbessche Mensch im Schlaf findet, dürfte wenig mit dem zu tun haben, was sich aus einem denkbar anderen Erfahrungshintergrund als Sicherheit im Sinne der Geborgenheit fassen lässt, der als Einstellung korrespondiert eine Haltung des Vertrauens. Als, wenn man so will, Weltvertrauen manifestiert es sich u. a. als Vertrauen zu anderen Menschen, zu gesellschaftlichen wie politischen Institutionen, aber auch in unseren meist unausdrücklichen Sicherheitserwartungen in die Technik und deren Produkte – wer würde sich sonst in ein Auto oder in ein Flugzeug setzen, sich beim Arzt röntgen lassen oder über eine Brücke gehen? Vertrauen im Sinne der relational bestimmten Sicherheit artikuliert sich aber auch im Verhältnis zu uns selbst und wird begrifflich dann positiv konnotiert als Selbstsicherheit oder auch Selbstvertrauen, die zu den existenziellen Garanten eines gelingenden Lebens zählen und selbst wiederum gestiftet werden durch das Vertrauen anderer in uns. Die mit Selbstsicherheit und Selbstvertrauen verbundene innere Ausgeglichenheit findet im älteren Sprachgebrauch ihren Ausdruck als ,Gemütsruhe‘ oder auch ,Seelenfrieden‘ und verweist damit auf eine Tradition, in der sich begriffsgeschichtlich Sicherheit als Terminus für eine bestimmte Lebensform bzw. -führung ausprägte.12 Der Begriff verweist nämlich auf das lateinische Securitas und ist eine Wortschöpfung von Cicero, der diesen Begriff in seinen „Tusculanae disputationes“ aus den Wörtern ,sine‘ und ,cura‘ geprägt hat, was wörtlich ,ohne Sorge‘ heißt. Präzise heißt es bei Cicero: „Sicherheit [securitatem] aber nenne ich jetzt die Freiheit von Kummer [vacuitatem aegritudinis], auf der das glückliche Leben [vita beata] beruht“13. Cicero formuliert hier ganz in der Tradition der Stoischen Ethik das Ziel des guten Lebens in der angestrebten Seelenruhe, die als Securitas die griechische Ataraxia, die Unerschütterlichkeit aufnimmt. Wichtig ist für Cicero und die stoische Ethik überhaupt, dass das mit der Securitas verbundene Glücksversprechen nicht einfach gegeben ist, sondern, wie er betont, eine erstrebte Sicherheit ist, und zwar in12

Vgl. zum Folgenden Makropoulos, Sicherheit, in: Hist. Wörterbuch der Philosophie Bd. 9, 746 – 750; Conze, Sicherheit, Schutz, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 5, 831 – 862; Schrimm-Heins, Gewissheit und Sicherheit. Geschichte und Bedeutungswandel der Begriffe certitudo und securitas, Archiv für Begriffsgeschichte XXXIV (1991), 123 – 213 und XXXV (1992), 115 – 213; Münkler, Strategien der Sicherung, S. 23 – 26. 13 Cicero, Tusculanae disputationes/Gespräche in Tusculum, 1997, S. 415.

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mitten „einer Menge von Übeln [multitudo malorum]“14. Diese treten oft in Form der Leidenschaften auf, die in ihrer affektiven Energie als Verwirrungen des Geistes, als, wie es bei Cicero heißt, perturbationes animi den Menschen aus seiner vernunftgeleiteten Bahn werfen können. Deshalb, sagt Cicero, bedarf es für die erstrebte Sicherheit als Freiheit von Kummer und in diesem Sinne Sorglosigkeit stets noch der Mäßigung, der temperantia, „die die Lenkerin aller Erregungen sein soll“15. Sicherheit als Ziel des moralisch gelingenden und also guten bzw. glücklichen Lebens verwirklicht sich im Sinne der stoischen Ethik erst durch eine entsprechende Lebensführung. Der Begriff Sicherheit, so lässt sich zusammenfassend feststellen, formuliert aus seinen stoischen Ursprüngen heraus im Kontext des menschlichen Strebens nach dem guten Leben das durch eine bestimmte Lebensführung zu erreichen mögliche Gefühl der Freiheit von Sorgen und Furcht, die den Menschen in vielerlei Gefahren und Gefährdungen beständig heimsuchen. Im ersten nachchristlichen Jahrhundert wird die moralpsychologische Bedeutung der Securitas als Sicherheitsgefühl und Freisein von Sorgen dann über die persönliche Haltung der Seelenruhe hinaus in der Folge dadurch objektiviert, dass Securitas nun auch zu einem Begriff der rechtlichen wie der politischen Sphäre wird. Securitas bezeichnet im Zeitalter des Kaiser Augustus die politische Stabilität der römischen Friedensordnung, der sogenannten Pax romana. Als diese Pax romana avanciert, wie Münkler betont, öffentliche Sicherheit, die securitas publica, „zur Legitimationsformel der imperialen Ordnung“16 und wird damit zu einer vordringlichen Aufgabe des Staates, der mit der öffentlichen Sicherheit zugleich die Möglichkeitsbedingungen des Privatlebens garantiert und im Zeichen der so verstandenen Sicherheit im Verhältnis des Bürgers zum Staat eine eher konservative Haltung befördert. Verfolgt man die Geschichte des Begriffes Sicherheit weiter, wie dies Werner Conze, Michael Makropoulos oder auch Andrea Schrimm-Heins getan hat, dann zeigt sich, wie sehr sich der Begriff der Sicherheit als zentrale politische Kategorie in der vom Herrscher garantierten Schutzfunktion über einen langen historischen Zeitraum hinweg etabliert hat und in ihren Sicherungsinstrumentarien nach außen territoriale Machtsicherung intendierte und nach innen Herrschaftsausübung produzierte und legitimierte. Münkler spricht vom Konzept „einer paternalistischen Sicherheit […], wobei der familiale Vater durch den Landesvater, den Staat oder Gott abgelöst werden kann bzw. abgelöst werden muss“17. Die von Münkler darin erkannten möglichen „regressiven Züge […] [können] zum Einfallstor für autoritäre politische Ordnungen werden […]. Und hier liegt [nach ihm] zugleich der Quellgrund für die zuletzt häufig apostrophierte Entgegensetzung von Sicherheit und Frei-

14

Ebd. Ebd. 16 Münkler, Strategien der Sicherung, S. 24. 17 Münkler, Strategien der Sicherung, S. 25. 15

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heit, die [und das zu betonen ist wichtig] keineswegs prinzipieller Art ist, sondern aus bestimmten Sicherheitsvorstellungen erwächst.“18 IV. Angst/Furcht und das Streben nach Überwindung Was das über die Artikulation der Sicherheitsfrage mögliche Einfallstor für ein autoritäres Staatsverständnis betrifft, so ist politisch mit Hobbes hierfür eine entsprechende und wirkungsmächtige Option angezeigt, sofern, wie gesehen, er anthropologisch den Menschen aus Unsicherheit und Furcht heraus denkt und in der daraus resultierenden Fokussierung auf öffentliche Sicherheit deren Sicherstellung zum wesentlichen Prinzip der Absicherung von politischer Macht ausgestaltet. Wie Angehrn deutlich macht, ist von daher die „Angst […] [als das aus dem Selbsterhaltungstrieb stammende Unsicherheitsgefühl] der Affekt, auf den sich Politik am verlässlichsten abstützen kann“19. Allerdings ist Politik in ihren Versprechungen daran gebunden, die unbestimmbare Angst in eine identifizierbare konkrete Furcht umzulenken, die überwinden zu können wesentlich zu den Erfolgsversprechen der Politik gehört. Hinter dieser Differenzierung der aus der Erfahrung der Kontingenz menschlichen Seins heraus unbestimmten Angst und der objektgerichteten Furcht steht die von Kierkegaard und in der Folge dann auch von Heidegger aufgewiesene und weithin bekannte existenziale Unterscheidungsmöglichkeit.20 Während die Angst in ihrem Wovor unbestimmbar bleibt und in diesem Sinne den Menschen vor die Unheimlichkeit seines Existierens führt,21 ist die Furcht gegenständlich auf etwas gerichtet, hat also ein konkretes Wovor des Fürchtens. Indem ich aber das Etwas der Furcht identifizieren kann, sei es durch mich selbst oder auch durch eine geschickte Lenkung oder Erklärung von außen, tritt die existenzielle Unheimlichkeit, wie sie in der Angst aufscheint und bodenlos macht, zurück. Was in diesem Sinne als Gegenstand der Furcht bestimmbar ist, öffnet sich damit der Möglichkeit, überwunden werden zu 18

Ebd.; vgl. dazu auch Münkler, Sicherheit und Freiheit. Eine irreführende Oppositionssemantik der politischen Sprache, in: Münkler/Bohlender/Meurer (Hrsg.), Handeln unter Risiko. Gestaltungsansätze zwischen Wagnis und Vorsorge, 2010, S. 13 – 32; dazu weiterhin Arnauld/Staack (Hrsg.), Sicherheit versus Freiheit?, 2009. 19 Angehrn, Das Bedürfnis nach Sicherheit als Grundmotiv der Denkgeschichte, in: Gander/Perron/Poscher/Riescher/Würtenberger (Hrsg.), Resilienz in der offenen Gesellschaft, 2012, S. 78. 20 Vgl. dazu Kierkegaard, Der Begriff der Angst, 1976; Heidegger, Sein und Zeit, 1972, §§ 30 u. 40. 21 Bei Heidegger heißt es hierzu: „Die Angst vor … ist immer Angst um …, aber nicht um dieses oder jenes. Die Unbestimmtheit dessen jedoch, wovor und worum wir uns ängstigen, ist kein bloßes Fehlen der Bestimmtheit, sondern die wesenhafte Unmöglichkeit der Bestimmbarkeit. […] In der Angst – sagen wir – ,ist einem unheimlich‘. Was heißt das ,es‘ und das ,einem‘? Wir können nicht sagen, wovor einem unheimlich ist. Im Ganzen ist einem so. Alle Dinge und wir selbst versinken in eine Gleichgültigkeit: das Seiende spricht nicht mehr an.“ (Was ist Metaphysik?, in Heidegger, Wegmarken, 1976, S. 111).

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können. So betrachtet ist „der Gewinn von Sicherheit [gleichbedeutend mit der] Befreiung von Angst“22. V. Zur Paradoxie von Sicherheitsbedürfnis und Unsicherheitsgefühl Der Weg dazu führt, wie Münkler betont, über die Strategien der Sicherung zu einem Sicherheitsbegriff, „in dem sich persönliche und gesellschaftliche, ökonomische und soziale, technologische und ökologische Sicherheiten zu einem Kollektivsingular verbinden, der seinerseits die Vorstellung einer prinzipiell erreichbaren Zuständlichkeit suggeriert“23. Die hierzu erforderlichen Strategien der Sicherung sollen nach Münkler „Gefahr und Bedrohung, in welcher Form und Gestalt auch immer sie auftreten mögen, gänzlich aus der Welt […] schaffen“24. Münkler spricht im Blick auf die damit intendierten „sicheren Orte und Räume“25 von „Welten der Sicherheit“26. Sie werden „dadurch definiert, dass sie Gefahr und Bedrohung auszugrenzen versuchen“27. In diesen Versuchen überblenden die Sicherungsstrategien zumeist die in der Angst erfahrbare Unheimlichkeit und Ungesichertheit des menschlichen Existierens. Ihre „Welten der Sicherheit beruhen auf dem impliziten Versprechen einer sicheren Welt und befördern auf diese Weise Erwartungen, an denen sie schließlich gemessen werden“28. Das aber führt, wie Münkler zeigt, in ein Dilemma, sofern weder auf Seiten der Politik die gemachten Versprechen noch auf Seiten der Bürger die damit geweckten Erwartungen gänzlich erfüllt werden können, und zwar „unabhängig davon, ob es um äußere oder innere, soziale oder technische Sicherheit geht“29. Die fehlende Übereinstimmung kann zudem dann dazu verleiten, dass man auf das, was nicht möglich ist, sich lediglich im defizienten Modus bezieht und d. h. inmitten der Welten der Sicherheit das Nichtmögliche als Noch-nicht-mögliches und in diesem Sinne als Sicherheitslücke bewertet. Diese Sicherheitslücken werden als Sicherheitsrisiken definiert, die, um sie künftig zu vermeiden und zugleich damit das Sicherheitsbedürfnis zu befriedigen, einen zusätzlichen Einsatz von Sicherungsstrategien erforderlich machen, womit aber in einer Gesellschaft beispielsweise auch ökonomisch in der Abwägung von Kosten und Nutzen einseitig zugunsten von mehr Sicherheit auf Verteilungsressourcen zugegriffen wird. Zusammenfassend kann man mit Münkler darauf verweisen, dass die „Welten der Sicherheit ein Bedürfnis nach Sicherheit bzw. komplementär dazu ein Gefühl von Unsi22

Angehrn, Das Bedürfnis nach Sicherheit, S. 78. Münkler, Strategien der Sicherung, S. 23. 24 Münkler, Strategien der Sicherung, S. 12. 25 Ebd. 26 Ebd. 27 Ebd. 28 Ebd. 29 Ebd. 23

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cherheit hervorbringen, das umso höher ist, je größer die Sicherheitszusagen sind“30. Mit anderen Worten lässt sich feststellen, dass mit der Fortentwicklung der Strategien der Sicherung nicht allein das objektivierbare Sicherheitsgefühl wächst, sondern sich zugleich auch „die Sensibilität für die fortbestehende Unsicherheit, für immer noch vorhandene Gefahren und noch längst nicht verschwundene Bedrohungen“31 steigert. Das heißt, „die realen Welten der Sicherheit bringen aus sich einen Erwartungsüberschuss hervor, der durch keinerlei Strategien der Sicherung eingelöst werden kann“32. Es handelt sich also um eine Paradoxie, die „unabhängig davon [gilt], ob es um äußere oder innere, soziale oder technische Sicherheit geht“33. Sozialwissenschaftler wie Franz-Xaver Kaufmann, Wolfgang Sofsky oder eben auch Herfried Münkler haben dieses paradoxale Verhältnis von Sicherheit und durch mehr Sicherheit gesteigertes Unsicherheitsgefühl als ein Sicherheitsdilemma beschrieben34. So gesellschaftspolitisch brisant diese Dilemma auch erscheint, so wird es von Seiten der Politik allerdings kaum ausreichend in die Gesellschaft hinein kommuniziert. Die Politik, wie Münkler bemerkt, bleibt bei ihren Versprechungen und setzt darauf, in und für die Fortentwicklung der Sicherungsstrategien „weitergehende Interventionsbefugnisse in die Gesellschaft und die Privatsphäre der Bürger zu gewinnen“35. Wie berechtigt und auch nötig Kritik in diesem Falle ist, um „Freiheit als Fluchtpunkt der Sicherheit“36 zu verteidigen, so ist doch auch wichtig zu beachten, worauf Herfried Münkler mit Recht nachdrücklich aufmerksam macht, nämlich dass selbst angesichts übertrieben erscheinender Sicherheitsvorkehrungen und der daraus resultierenden berechtigten Sorge um die Einhaltung der Grundrechte man sich bewusst machen muss, dass es Aufgabe einer verantwortungsvollen Politik ist, wie Münkler es nennt, „sich immer auch auf die Verhinderung tsunamiförmiger Angstwellen zu konzentrieren“37. Sie im Ansatz zu verhindern, ist nötig, denn die „Verheerungen von Angstwellen [zu denen bspw. die Verwüstung des gesellschaftlichen Konsenses über Toleranz oder Solidarität ebenso gehören kann wie die nachhaltige Beschädigung von Institutionen] sind weder durch Gesetzgebung noch durch Verwaltungsakte zu beseitigen“38 und bedrohen das Gemeinwesen als Ganzes. Inso30

Ebd. Münkler, Strategien der Sicherung, S. 13. 32 Münkler, Strategien der Sicherung, S. 23. 33 Münkler, Strategien der Sicherung, S. 12. 34 Vgl. Kaufmann, Sicherheit als soziologisches und sozialpolitisches Problem, 1973; Sofsky, Das Prinzip Sicherheit, 2005; Münkler, Strategien der Sicherheit, 2010. 35 Münkler, Strategien der Sicherheit, S. 12. 36 Arnauld/Staack, Sicherheit versus Freiheit?, S. 11; dazu im selben Band auch die Beiträge von Bruha/Claaszen, Sicherheit und Freiheit im internationalen Kampf gegen den Terrorismus, S. 83 – 115 sowie von Hoffmann-Riem, Sicherheit braucht Freiheit, S. 117 – 129; weiterhin auch Masing, Die Ambivalenz von Freiheit und Sicherheit, in: Gander/Perron/Poscher/Riescher/Würtenberger (Hrsg.), Resilienz in der offenen Gesellschaft, 2012, S. 41 – 53. 37 Münkler, Strategien der Sicherheit, S. 31. 38 Ebd. – Vgl. dazu Münkler, Sicherheit und Freiheit, S. 28 f. 31

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fern zählt es zu den weithin unterschätzten Verdiensten wie auch Aufgaben der Rationalität politischer Entscheidungen, dass sie in Anerkennung der dem Menschen existenziell eigenen diffusen Angst diese als Bedrohtheitsgefühl unspezifizierte und lähmende Angst der Bürger durch ihr Entscheidungshandeln transformiert in gegenständlich bestimmbare Furcht und zugleich damit auch Mut und Zuversicht aufbaut, sie zu überwinden. Entsprechend ist es die gleichrangige Aufgabe des Staates wie der politischen Institutionen sowohl die Freiheit des Einzelnen wie auch das Wohl des politischen wie gesellschaftlichen Gemeinwesens zu schützen. Darin formulieren sich zugleich die Herausforderungen an eine neue Sicherheitsarchitektur.39 VI. Sicherheitsphilosophischer Ausblick Im Blick auf die Frage von ,Sicherheit und Gesellschaft‘ als ein wechselseitiges Bedingungsverhältnis kann im Verhältnis von Freiheit und Sicherheit die Losung daher nur lauten: Sicherheit in Freiheit als Freiheit in Sicherheit. Mit Wilhelm von Humboldt gesprochen: „Ohne Sicherheit vermag der Mensch weder seine Kräfte auszubilden, noch die Früchte derselben zu geniessen; denn ohne Sicherheit ist keine Freiheit.“40 So betrachtet erschöpft sich, wie Gert-Joachim Glaeßner betont, eine „recht verstandene Sicherheitspolitik […] nicht in der Gegenüberstellung von Sicherheit, die durch den Staat zu gewährleisten ist, und Freiheit, die den Individuen zusteht; sie muss vielmehr nach den politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Bedingungen fragen, die es ermöglichen, ja die befördern, dass beide zentralen Aspekte in einer offenen Gesellschaft in ihr Recht gesetzt werden“41. In der so zu konstatierenden sicherheitspolitischen Neujustierung staatlicher wie gesellschaftspolitischer Aufgaben gewinnen, wie Glaeßner betont, im „Konfliktfeld zwischen der Sicherheitsaufgabe des Staates (heute auch zwischen- und suprastaatlicher Einrichtungen) und der Freiheitssphäre der Bürger […] Prinzipien der Gerechtigkeit und Fairness, der Responsivität von Sicherheit gewährleistenden Institutionen und der Einbeziehung zivilgesellschaftlicher Organisationen gegenüber den klassischen repressiven Vorstellungen von Sicherheitsspezialisten an Bedeutung“42. Sicherheitsphilosophisch bedeutet diesen Weg einzuschlagen, sich im lebendigen Austausch mit den systematischen Handlungswissenschaften, also Jurisprudenz, Ökonomie, Psychologie und Sozialwissenschaften um die Ausbildung und Profilierung moralischer Normen für neu entstehende Anwendungsprobleme in den unterschiedlichen sicherheitsrelevanten Bereichen zu bemühen. Damit ist zugleich das 39 Vgl. dazu Würtenberger/Tanneberger, Sicherheitsarchitektur als interdisziplinäres Forschungsfeld, in: Riescher (Hrsg.), Sicherheit und Freiheit statt Terror und Angst. Perspektiven einer demokratischen Sicherheit, 2010, S. 97 – 125. 40 Wilhelm v. Humboldt, Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen, in Werke Bd. 1, 1980, S. 95. 41 Glaeßner, Freiheit durch Sicherheit?, in: Neue Frankfurter Hefte 12/2009, 16. 42 Glaeßner, Freiheit durch Sicherheit?, 19.

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Aufgabenfeld einer als Moralpragmatik zu fassenden Sicherheitsethik bezeichnet.43 Mit Blick auf beispielsweise die Kooperation mit den Rechtswissenschaften im Zusammenhang der neuen Herausforderungen an die Sicherheitsarchitektur im Ziel der Resilienz in einer offenen Gesellschaft44 kann die moralpragmatische Reflexion einen besonderen Beitrag hinsichtlich der Frage möglicher Umsetzungen von moralischen Normen in Rechtsnormen leisten. „Angesichts der Tatsache, dass eine staatliche Durchsetzung moralischer Forderungen in Gestalt von Rechtsnormen moralische signifikante Nebenfolgen insbesondere für die Freiheit des Einzelnen haben kann und nicht jede moralisch legitime Forderung auch schon eine geeignete Grundlage für rechtliche Kodifikationen darstellt, ist es [wie Dieter Birnbacher betont] Aufgabe der Moralpragmatik, zu prüfen, unter welchen konkreten Bedingungen eine Umsetzung von Moral in Recht erforderlich oder vertretbar ist.“45 Zu denken wäre hier im Zuge der allgemeinen Gewährleistungsforderung von innerer Sicherheit, als anthropologisch im Sicherheitsbedürfnis des Menschen fundierter legitimer Anspruch des Bürgers an den Staat, etwa an die kontrovers und heftig geführte Diskussion um die präventiv durchzuführenden oder faktisch auch durchgeführten Überwachungsmaßnahmen der Online-Durchsuchungen oder der Vorratsdatenspeicherung und die damit verbundenen Nebenfolgen der Eingriffe in die Freiheitssphäre des einzelnen Bürgers. Wie Würtenberger und Tanneberger in ihren Überlegungen zu den Herausforderungen einer neuen Sicherheitsarchitektur ausführen, ist dabei das „allgemeine Interesse an der Wahrung öffentlicher Sicherheit […] aber allein dadurch zu rechtfertigen, dass Sicherheit letztlich im Interesse jedes Einzelnen zu gewährleisten ist“46 – ein Interesse, das in einem anthropologischen Grundbedürfnis verwurzelt ist.

43 Zur Moralpragmatik als Sicherheitsethik vgl. Gander, Sicherheitsethik – ein Desiderat? Mögliche Vorüberlegungen, in: Gander/Perron/Poscher/Riescher/Würtenberger (Hrsg.), Resilienz in der offenen Gesellschaft, 2012, S. 85 – 94. 44 Vgl. zu diesem derzeit stark beachteten Thema Würtenberger, FS Schenke, 2011, 561 – 578; ferner die Beiträge des III. Teils von Gander/Perron/Poscher/Riescher/Würtenberger (Hrsg.), Resilienz in der offenen Gesellschaft, 2012. 45 Birnbacher, Analytische Einführung in die Ethik, 2007, S. 62 f. 46 Würtenberger/Tanneberger (Fußn. 39), S. 110.

Resilient Societies Staatliche Katastrophenschutzverantwortung und Selbsthilfefähigkeit der Gesellschaft Von Christoph Gusy, Bielefeld T. Würtenberger1 hat als einer der Ersten die Figur der Resilient Society in die wissenschaftliche Diskussion eingebracht.2 Sie findet sich in ganz unterschiedlichen Kontinenten, Staaten und Kulturkreisen und steht dort überwiegend im Kontext von Sicherheits- und Katastrophen(schutz)diskussionen. Die Vielfalt der Theorien und ihrer Anwendungsmöglichkeiten kann hier nicht einmal nachgezeichnet, geschweige denn ausdiskutiert werden. Hier soll der Frage nach ihrer Relevanz und Brauchbarkeit unter den Rahmenbedingungen des deutschen Rechts, namentlich des deutschen Katastrophenschutzrechts, nachgegangen werden.3 I. Die Resilienz und die Selbsthilfefähigkeit der Gesellschaft Resilienz ist eine eingeführte Kategorie in zahlreichen wissenschaftlichen Disziplinen.4 Allgemein kann sie als Toleranz eines Systems gegenüber Störungen ver1 Der Jubilar hat das staatstheoretische und staatsrechtliche Denken in Deutschland in vielfältiger Weise bereichert. Meine Zusammenarbeit mit ihm steht insbesondere im Kontext seiner sicherheitspolitischen und -rechtlichen Forschungen. Auch wenn wir in zahlreichen Grundfragen unterschiedlicher Auffassung sind: Von seinen Einsichten und Reflexionen habe ich – gerade auch über den deutschen Rechtskreis hinaus – viel gelernt. Dafür möchte ich danken! 2 Würtenberger, Resilienz, in: Baumeister u. a. (Hg.), FS Schenke, 2011, S. 561. Zuvor Würtenberger/Tanneberger, Sicherheitsarchitektur als interdisziplinäres Forschungsfeld, in: Riescher u. a. (Hg.), Sicherheit und Freiheit statt Terror und Angst, 2010, S. 97; ferner mehrere Beiträge in: Würtenberger u. a. (Hg.), Innere Sicherheit im europäischen Vergleich, 2012; zuletzt Gander/Perron/Poscher/Riescher/Würtenberger (Hg.), Resilienz in der offenen Gesellschaft, 2012. 3 Für intensive Vorarbeiten danke ich Frau E. Dopheide, Bielefeld. Für nützliche Hinweise bin ich den Kolleginnen und Kollegen vom inzwischen abgeschlossenen BMBF-geförderten Forschungsprojekt „Prioritätenbildung bei Rettungsmaßnahmen“ (Prikats) (Witten/Herdecke und Bielefeld) zu Dank verpflichtet. 4 Allgemein zum Thema Resilienz Allenby/Fink, Science 2005, S. 1034; Bohle, Leben mit Risiko – Resilience als neues Paradigma für die Risikowelten von morgen, in: Felgentreff/ Glade (Hg.), Naturrisiken und Sozialkatastrophen, 2008, S. 435; Dombrowsky, Resilience from a sociological viewpoint, 2010; Maguire/Hagan, Australian Journal of Emergency Ma-

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standen werden. Eine technikorientierte Begriffsverwendung bezeichnet damit die Fähigkeit eines Körpers, nach Deformationen von außen wieder zu seiner ursprünglichen Form zurückkehren zu können. In der Psychologie bedeutet sie die Fähigkeit, Krisen durch Rückgriff auf persönliche und soziale Ressourcen zu meistern bzw. als Anlass für Entwicklungen zu nutzen. Und die Resilienz von Ökosystemen liegt in deren Fähigkeit, Störungen zu tolerieren, ohne dass das System zusammenbricht. In den unterschiedlichen Kontexten finden sich verwandte Konzepte unter den Stichwörtern „Vulnerabiltät“, „Coping(fähigkeit)“, Fehlertoleranz und Widerstandsfähigkeit. Es war wohl am ehesten der ökologische Verwendungszusammenhang, welcher Begriff und Konzepte der Resilient Society begründete.5 Sie finden sich inzwischen in zahlreichen Kultur- und Rechtskreisen, Staaten und Gesellschaften,6 in anderen hingegen (bislang) nicht.7 Von hier aus ist die Diskussion sowohl in Europa8 als

nagement 2007 (22), S. 16; Manyena, Disasters 2006, S. 433; Norris/Stevens/Pfefferbaum, B./ Wyche/Pfefferbaum, R., American Journal of Community Psychology 2008, 127; Trachsler, Resilienz: Konzept zur Krisen- und Katastrophenbewältigung, in: CSS Analysen zur Sicherheitspolitik 60 (2009); Voss, Resilienz, Vulnerabilität und transdisziplinäre Katastrophenforschung, in: Siedschlag (Hg.), Jahrbuch für Europäische Sicherheitspolitik 2009, S. 67. 5 Kaufmann, Zivile Sicherheit: Vom Aufstieg eines Topos, in: Hempel/Krasmann/Bröckling (Hg.), Sichtbarkeitsregime, 2011, S. 101 (117 ff.). 6 USA: Flynn, The Edge of Disaster: Rebuilding a Resilient Nation. New York: Random House, 2007; Flynn, Foreign Affairs 2008 (2), 2; Giuliani, The Resilient Society, City Journal 2008 (18), Nr. 1; Lasker, Redifining Readiness: Terrorism Planing Through the Eyes of the Public, 2004. Vereinigtes Königreich: Edwards, Resilient Nation, 2009. Türkei: Karanci/ Aksit, International journal of mass emergencies and disasters 2008, 403. Israel: Elran, Benchmarking Civilian Home Front Resilience: Less than Meets the Eye, in: Brom/Kurz (Hg.), Strategic Survey for Israel, 2010, 71; UJA Federation of New York/The Reut Institute/ The Israeli Traume Coalation, Civil Resilience Network, Conceptual Framework for Israel’s Local & National Resilience, 2009. Singapur: Koh, Social Resilience and its Bases in Multicultural Singapore, in: Vasu (Hg.), Social Resilience in Singapore: Reflections from London Bombings, 2007, S. 27; s.a. Korff, Sicherheit im modernen Urbanismus zwischen Überwachung und lokaler Selbstorganisation, in: Allmendinger (Hg.), Entstaatlichung und soziale Sicherheit, Bd. 31, 2003, S. 624. Japan: Atsumi, Les Annales de la Recherche Urbaine 2004 (95), 63; Ikeda/Fukuzono/Sato (Hg.), A Better Integrated Management of Disaster Risks, Toward Resilient Society to Emerging Disaster Risks in Mega-Cities, 2006; Kawasaki, International Journal for Japanese Sociology 2000, 111; Okazaki/Pandey, Regional Development Dialogue 2005 (2), 52; Shaw/Goda, Disasters 2004, 16. Australien: Tempelman/Bergin, Taking a punch: Building a more resilient Australia, 2008. 7 Überblick bei Würtenberger, FS Schenke (Fußn. 2), S. 564 ff. Auffällig ist das Fehlen vergleichbarer Diskussionen in Frankreich und im romanischen Raum, in den Niederlanden und im mittelosteuropäischen Raum. 8 European Security Research and Innovation Forum (ESRIF): ESRIF – Final Report, Brüssel, 2009; Lentzos/Rose, Die Unsicherheit regieren, Biologische Bedrohungen, Notfallplanung, Schutz und Resilienz in Europa, in: Purtschert/Meyer/Winter (Hg.), Gouvernementalität und Sicherheit, Zeitdiagnostische Beiträge im Anschluss an Foucault, 2008, S. 75.

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auch in Deutschland9 angekommen. Im Kontext von Sicherheits- und Katastrophenforschung thematisiert sie hier die Ausbildung von Toleranzpotential gegenüber Störungen des gesellschaftlichen Lebens, etwa bei (Groß-)Schadensereignissen, und die Stärkung zivilgesellschaftlicher Ressourcen, namentlich von Fähigkeiten und Fertigkeiten zur Selbsthilfe.10 Der Zusammenhang zur Katastrophendiskussion macht bereits deutlich: Resilienz soll keine Eigenschaft der Gesellschaft sein, welche zu jeder Zeit und unter allen äußeren Bedingungen gefordert sein soll. Es geht nicht um Aktivierung der Gesellschaft parallel zu anderen funktionierenden Organisationen oder Handlungssystemen wie etwa dem Staat. Es geht vielmehr um ihre Aktivierung im Falle von Beeinträchtigungen von innen oder außen, oder des Versagens anderer, eigentlich verantwortlicher Stellen. Resilienz ist nicht im Normalfall, sondern im pathologischen Fall gefragt: „No reformation without deformation.“ Wohlgemerkt: Auch in diesem Kontext sind Resilienz und Selbsthilfefähigkeit von Gesellschaften nicht identisch. Letztere ist wahrscheinlich ein zwar wichtiges, aber eben nur ein Element von gesellschaftlicher Resilienz. Aber ebenso richtig dürfte auch sein, dass Selbsthilfefähigkeit ein gewisses Maß an Resilienz voraussetzt. Eine Gesellschaft, welche durch eine Störung völlig außer Funktion gerät und für solche Fälle über keine Mechanismen für deren Wiederherstellung verfügt, kann auch kaum Selbsthilfefähigkeit entwickeln. Ebenso wichtig ist die Unterscheidung zwischen Resilienz bzw. Selbsthilfefähigkeit von Gesellschaften und derjenigen von Individuen: Die vielfach betonte Notwendigkeit persönlicher Notfallvorsorge11 bezieht sich nicht auf dasselbe wie die gesellschaftliche Notfallvorsorge. Das ist insbesondere dort offensichtlich, wo Handlungen zur Katastrophenbewältigung nur gemeinschaftlich oder arbeitsteilig (etwa bei der Versorgung von Verletzten und Pflegebedürftigen) wahrgenommen werden können. Aber auch hier sind Zusammenhänge nicht zu übersehen: Wer selbst (individuell) nicht handlungsfähig ist, kann auch keine sozialen Aufgaben oder Funktionen erfüllen. In der Ausprägung der Selbsthilfefähigkeit ist unser Gegenstand schon in der Vergangenheit vereinzelt zum Inhalt von Rechtsnormen geworden.12 So bezeichnet § 1 Abs. 2 Nr. 1 ZSKG den „Selbstschutz“ als ein Element des Zivilschutzes, welcher seinerseits die „Selbsthilfe der Bevölkerung“ ergänzen soll (§ 1 Abs. 1 S. 2 9 s. etwa Reichenbach u. a. (Hg.), Risiken und Herausforderungen für die öffentliche Sicherheit in Deutschland, Grünbuch des Zukunftsforums Öffentliche Sicherheit, 2008; S. 52; s.a. Schutzkommission beim Bundesministerium des Innern, Bericht über mögliche Gefahren für die Bevölkerung bei Großkatastrophen und im Verteidigungsfall, 2006, S. 42 ff.; Schutzkommission beim BMI (Hg.), Vierter Gefahrenbericht, 2011, S. 94 f. Breiter Überblick bei Goersch, Empirische Untersuchung von Möglichkeiten der Förderung der persönlichen Notfallvorsorge in Deutschland, 2010; s.a. Lorenz, Kritische Infrastrukturen aus Sicht der Bevölkerung, 2010, S. 33 ff. (Nachw.). 10 Kaufmann (Fußn. 5), S. 118. 11 Eingehend Goersch (Fußn. 9), S. 20 ff., 26 ff. 12 Nach Würtenberger, FS Schenke (Fußn. 2), S. 569 findet sich in Deutschland schon gegenwärtig eine „an Resilienz orientierte politisch-rechtliche Gestaltung ohne eigenständiges Resilienz-Konzept“.

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ZSKG).13 § 5 ZSKG begründet die Aufgabe von „Aufbau, Förderung und Leitung des Selbstschutzes der Bevölkerung“ u. a. durch „Unterrichtung und Ausbildung der Bevölkerung“.14 Und im Rahmen des Art. 196 AEUV fördert die Kommission u. a. Aktivitäten mit dem Ziel, den „EU-Bürgern zu helfen, sich selbst wirksamer zu schützen“.15 II. Staatliche Sicherheitsaufgaben und resiliente Gesellschaft Die hier in Umrissen angedeutete Theorie geht davon aus, dass die Resilienz der Gesellschaft nicht jederzeit, sondern nur bei besonderem Bedarf abgerufen werden muss. Sie ist also eine Notfallkompetenz, welche den Notfall voraussetzt und auch dann erst mobilisiert werden soll, wenn ein Bedarfsfall eintritt. Diese Subsidiarität der Resilient Society ist geeignet, ihren politischen und rechtlichen Stellenwert näher zu bestimmen. Katastrophen sind die Stunde des Staates.16 Zumeist werden ihm die größte Fachkompetenz und die relativ bestmögliche Ausstattung zugetraut, um mit derartigen Großschäden so weit wie möglich fertig zu werden. Und wenn und wo dies einmal nicht der Fall ist – wie nach dem großen Erdbeben von Haiti Anfang 2010 –, wird dies öffentlich angeprangert und nach Unterstützung durch andere Staaten gerufen. Jene Sicht kann man als etatistisch kritisieren. Doch ist zu bedenken: In den meisten Staaten der Welt sind bislang (noch) keine Alternativen erkennbar. Hier steht der Staat in einer charakteristischen Doppelrolle. Einerseits obliegt ihm die Aufgabe der Katastrophenprävention,17 also der vorbeugenden Verhinderung von Katastrophen. Auch dies ist eine Aufgabe des Staates, der sie selbst oder ggf. unter Einschaltung Anderer zu erfüllen hat. Dass die Deiche ausreichend hoch, die Kraftwerke auf modernstem Stand sicher oder der Schutz vor Attentaten und anderer schwerer Kriminalität auf hohem Niveau durchgesetzt wird, ist von den öffentlichen Händen selbst sicherzustellen oder von ihnen gegenüber sonstigen Verpflichteten oder Akteuren (Grundstückseigentümern, Kraftwerks- oder Flughafenbetreibern 13 Ähnliche Zielsetzungen finden sich in einigen Brandschutzgesetzen der Länder; s. etwa für Hessen: § 1 Abs. 4 HBKG, NRW: § 8 FSHG, Rheinland-Pfalz: § 1 Abs. 4 LBKG, Sachsen: § 52 SächsBRKG, Thüringen: § 1 Abs. 3 ThürBKG. 14 Zum Gesetz Schmidt, in: Praxis der Kommunalverwaltung, Bd. K22 Nds, Kapitel 21. Zu § 5 ZSKG Stein, Selbstschutz der Bevölkerung, in: BBK (Hg.), 50 Jahre Zivil- und Bevölkerungsschutz in Deutschland, 2008, S. 53 ff. 15 Mitteilung der Komm. an das EP v. 23. 2. 2009, Komm (2009) 82 endg.; s.a. Entscheidung des Rates v. 5. 3. 2007, 2007/162/EG, ABl. 2007 E 71/9. s. Walus, EuR 2010, 564 ff.; ders. Bevölkerungsschutz 2010 (4), 22 ff. 16 Dazu grundlegend Reichenbach u. a. (Fußn. 9); Trute, KritV 2005, 342 ff.; Stober/Eisenmenger, NVwZ 2005, 121 ff.; Gusy, DÖV 2011, 85 ff. (Nachw.). 17 Zum Unterschied zwischen Katastrophenprävention und Katastrophenschutz in Deutschland Kloepfer, Verwaltungsarchiv 2007 (98), 161 (168 f., 191 f.); Trute (Fußn. 16), S. 342 (349 f.).

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u. a.) durchzusetzen. Je effektiver solche Aufgaben durchgeführt werden, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit einer Katastrophe. Man kann geradezu formulieren: Ein wesentlicher Indikator für die angemessene Wahrnehmung dieser Aufgabe ist, dass keine Katastrophe stattfindet.18 Daneben gibt es auch die Staatsaufgabe des Katastrophenschutzes. Er ist jedenfalls in Deutschland kein Schutz vor der Katastrophe selbst, sondern vor den Katastrophenfolgen.19 Diese Aufgabe setzt also das Stattfinden der Katastrophe schon voraus: Ohne Katastrophenfall kann der Katastrophenschutz gar nicht wirksam werden. Das heißt aber auch: Würden Katastrophenprävention bzw. Katastrophenvermeidung optimal gelingen, so bliebe für die Selbsthilfefähigkeit der Gesellschaft im oben umschriebenen Sinne kein Raum. Wem auf zureichende Weise geholfen wird, der braucht sich nicht selbst zu helfen. Und die Resilienz der Gesellschaft wäre danach eine Folge staatlicher Aktivitäten, also eben gerade nicht durch Selbsthilfefähigkeit gefördert oder gar hergestellt. Die Theorien über die Resilient Society würden so zwar nicht notwendig falsch, blieben jedoch ohne Anwendungsbereich. Offenbar gehen sie jedoch von einem anderen Kalkül aus: Nämlich davon, dass es einen Bedarf nach Resilienz und Selbsthilfefähigkeit geben kann. Ein solcher würde voraussetzen, dass es Situationen geben kann, in welchen die bekannten staatlichen Katastrophenbewältigungsmechanismen nicht greifen; sei es, weil die Katastrophe zu groß ist oder weil die vorhandenen Mechanismen aus anderen Gründen nicht ausreichen. Ressourcen können zu klein kalkuliert sein, es fehlen dann im Notfall ausreichende Vorräte bzw. Reserven. Die staatlichen Mittel unterliegen zahlreichen Restriktionen, etwa im Haushaltsrecht und bei mobilisierbarem geeignetem Personal. Weiter können die personellen und materiellen Ressourcen durch eine Vielzahl zeitgleicher Ereignisse an unterschiedlichen Stellen zugleich gebunden sein und so nicht ausreichen: Wenn zahlreiche Flüsse gleichzeitig über die Ufer treten, werden irgendwann die Sandsäcke knapp. Noch weiter können die zur Verfügung stehenden Ressourcen durch die Katastrophe selbst in ihrer Einsetzbarkeit beeinträchtigt sein. Dies kann etwa bei Pandemien – hier fehlt das Personal – oder bei großflächigem Stromausfall – hier fehlen Geräte – der Fall sein. Es gibt also unterschiedlich denkbare Szenarien, in welchen die Staatsaufgabe der Katastrophen- und der Katastrophenfolgenprävention nicht mehr angemessen wahrgenommen werden können. Solche Fälle können im Sinne einer tradierten Terminologie als Staatsversagen bezeichnet werden. Die öffentliche Hand ist aus intern oder extern induzierten Gründen nicht in der Lage, eine notwendige Aufgabe im notwendigen Umfang wahrzunehmen. Das Konzept ist ein allein beschreibendes, nicht notwendig zugleich bewertendes. Im genannten Sinne setzt die Theorie der Resilient Society sogar bei einem doppelten Staatsversagen an. Zunächst versagen die staatlichen Mechanismen der Ka18 Zusammenhänge zwischen Katstrophenschutz(recht) und Resilienz-Diskussion zeigt Würtenberger, FS Schenke (Fußn. 2), S. 572 f. auf. 19 Dazu näher Gusy (Fußn. 16), S. 85 (86 f.).

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tastrophenprävention, wenn die vorhandenen Mittel ihrer Verhütung nicht ausgereicht haben: Die Deiche waren nicht hoch genug, das Stromnetz nicht ausreichend leistungsfähig. Sodann versagen aber auch die staatlichen Mechanismen der Katastrophenfolgenbewältigung: Die vorhandenen Sandsäcke waren nicht zur richtigen Zeit am richtigen Ort, die Notstromaggregate waren anderorts gebunden oder sprangen nicht an. Erst jetzt ist die Resilient Society gefragt, welche das Fehlen oder die Funktionsunfähigkeit der üblichen Katastrophenschutzmechanismen ersetzen soll. Sie setzt also ein zweifaches Staatsversagen voraus, oder anders formuliert: Sie begründet eine Reservekompetenz zur Reservekompetenz. Sie ist gefragt, wenn nichts mehr geht. Und sie ist gefragt unter widrigen Umständen: Katastrophen sind eben nicht bloß Staatskatastrophen, sondern treffen die Gesellschaft mindestens ebenso intensiv, zahlreiche ihrer Mitglieder sogar intensiver. Deren Lage ist dann in jeder Bedeutung des Wortes katastrophal.20 In diesem Sinne bezeichnet Resilienz eine Art Reservefähigkeit und -funktion der Gesellschaft, die andernorts vorhandene Krisenbewältigungsmechanismen ergänzen soll, aber nur zum Einsatz kommen soll, wenn jene Mechanismen versagen. Sie ist also im mehrfachen Sinne subsidiär und kann allenfalls als ultima ratio eines sozialen Katastrophenpräventions- und -bewältigungssystems angesehen werden. III. Resilienz zwischen „Staat“ und „Gesellschaft“ Wer eigentlich ist gemeint, wenn nach der Resilienz der „Gesellschaft“ gefragt wird? Um wessen Resilienz geht es eigentlich, wer ist ihr „Subjekt“? In der deutschen Wahrnehmung könnte es nahe liegen, diese Frage in der tradierten Dichotomie von „Staat“ und „Gesellschaft“21 dahin zu beantworten, dass in einem Fall, wenn die eine Seite nicht (mehr) hinreichend handlungsfähig ist, subsidiär die andere Seite in die offen gelassenen Handlungsräume einzutreten hat. Staat und Gesellschaft stünden nach einem solchen Verständnis einander nicht nur als getrennt gedachte Sphären gegenüber, sondern zugleich in einem Verhältnis wechselseitiger subsidiärer Unterstützungspflicht. Wohlgemerkt: Die in diesem Satz ausgedrückte Formel entspricht so nicht mehr dem tradierten Konzept von Staat und Gesellschaft. Ein solches Verständnis wäre allerdings geeignet, das Konzept der Resilient Society in Deutschland von vornherein leerlaufen zu lassen. Denn „die Gesellschaft“ ist nach jener Theorie die Summe der freien Menschen, welche in ihr ihre eigenen Zwecke leben. Sie lebt also von den freien Handlungen ihrer Mitglieder, seien es Individuen, seien es soziale Organisationen wie Unternehmen, Vereine oder Gesellschaften. Demgegenüber ist die Gesellschaft als Ganze weder handlungsfähig noch als solche anerkannt. Zurechnungssubjekt überindividueller Handlungsfähigkeit ist nicht sie, sondern es sind die sozialen Einheiten in ihr. Eine kollektive Handlungsfähigkeit 20

Zum Wortsinn Nachw. bei Gusy (Fußn. 16), S. 85 (86). Zu ihr näher Gesellschaft, Gemeinschaft, in: Brunner/Conze/Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Band 2, 1975, S. 801 ff. 21

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erlangen die Menschen in ihrer Gesamtheit als Mitglieder der Gesellschaft nicht, sondern allenfalls als Bürger im Staat. Es mag genau diese Sichtweise gewesen sein, welche einzelnen Betrachtern die Frage aufdrängte, ob es „die Gesellschaft“ als soziales System überhaupt gebe (N. Luhmann). Wer also von der Resilient Society irgendeine Form von Handlungsbereitschaft oder gar Handlungsfähigkeit erwartet, kann damit nicht die Gesellschaft im Sinne der tradierten deutschen Staatstheorien meinen. Zu einer solchen Annahme besteht allerdings auch keine Veranlassung. Schon die Tatsache, dass die Idee der Resilient Society keine originär deutsche Erfindung darstellt, legt den Schluss nicht eben nahe, dass sie auf die deutschen Staatstheorien rekurriert. Ihr Grundanliegen liegt vielmehr darin, eine funktionsgerechte Aufgabenverteilung zwischen staatlichen und anderen Stellen im Gemeinwesen zu suchen und zu finden. Ihr Ausgangspunkt ist also die Annahme, dass den öffentlichen Händen kein Monopol der Sozialgestaltung zukommt. Vielmehr sind sie in der Reichweite seiner Legitimation, der Summe seiner Ressourcen und der Begrenztheit seiner Mittel längst nicht mehr in der Lage, alle auf die Politik zukommenden sozialen Gestaltungsanforderungen selbst zu erfüllen. Diese Erkenntnis, die sich für die Wirtschaftsund Sozialpolitik längst durchgesetzt hat, ist im Prinzip auch auf den Bereich der Sicherheitspolitik zu übertragen. Auch wer hier ein Gewaltmonopol annimmt, hat sich innerhalb und außerhalb des Katastrophenfalles der Erkenntnis zu stellen, dass es Erscheinungsformen staatlicher Handlungspflichten geben kann, welche seine Handlungsmöglichkeiten überschreiten.22 Dies gilt umso mehr, je größer und außerordentlicher die Anforderungen sind, welche im Einzelfall zu erfüllen sind. Unter diesen ist der Katastrophenfall gewiss ein Extremfall, welcher in der Rechtsordnung schon begrifflich gerade durch die Unzulänglichkeit der normalen staatlichen Ressourcen gekennzeichnet ist. In solchen Fällen liegt es nahe, über die Möglichkeiten, Vorbedingungen und Grenzen einer Heranziehung anderer, als originär staatlicher Stellen, nachzudenken. Als eine der hierzu vertretenen theoretischen Grundannahmen lässt sich für den Bereich der Sicherheitsgewährleistung im Katastrophenfall die Theorie von der Resilient Society begreifen. So stellt jene Idee aus der Sicht der Rechtswissenschaft am ehesten eine Theorie funktioneller Privatisierung dar.23 Ihr ginge es dann um die Frage, wie und in welcher Form andere als staatliche Stellen – die man auch „gesellschaftliche“ nennen kann – an der Bewältigung von Katastrophenfolgen beteiligt werden können und sollen. Aus einer solchen Sicht ließe sie sich formulieren als die Fähigkeit des verfassten politischen, ökonomischen und sozialen Systems (über den tradierten staatlichen Sektor hinaus) zur Bewältigung von Katastrophen und Kriminalitätsfolgen. Es geht hier um 22

Näher dazu Gusy, DÖV 1996, 573 ff. Zu anderen Formen im Sicherheitsbereich Marx, The New Surveillance. Some Concepts and Some Implications for Privacy and Stratification, in: Hempel u. a. (Fußn. 5), S. 85 ff.; Kreissl, Privatisierung von Sicherheit, in: Zoche/Kaufmann/Haverkamp (Hg.), Zivile Sicherheit, 2011, S. 267. 23

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das Gemeinwesen insgesamt, um Staat und Gesellschaft, nicht um Staat oder Gesellschaft. In diesem Rahmen stellen sich mehrere Fragen: (1) Grundannahme ist die Einsicht, dass Resilienz der Gesellschaft nicht einfach da ist oder vorausgesetzt werden kann.24 Sie ist also keine gleichsam natürliche Ressource „der Gesellschaft“, welche im Katastrophenfall einfach abgerufen bzw. nach der Katastrophe wieder abgeschaltet werden kann. Vielmehr ist sie als solche definitions-, herstellungs- und erhaltungsbedürftig. Überlegen könnte hier eine Politik sein, welche auf Herstellung, Erhaltung und ggf. Stärkung gesellschaftlicher Resilienz hinwirkt. In diesem Sinne würde dann die Resilienz der Gesellschaft auch zu einer Staatsaufgabe. (2) Da ist weiter die Frage nach einer sinnvollen Arbeitsteilung zwischen staatlichen und anderen Stellen im Katastrophenfall,25 also die Frage danach, wem sinnvoller Weise welche Funktionen zugewiesen werden sollten. Infolge der vorausgesetzten Subsidiarität gesellschaftlicher Resilienz stellt sich die Abgrenzungsfrage insbesondere danach, wie weit der staatliche Eigenbereich der Katastrophenfolgenbewältigung reichen kann bzw. was für andere Stellen offen gelassen werden muss. Eine solche Aufgabe stellt sich umso mehr, wenn man die Annahme zugrunde legt, dass möglicherweise nicht alle staatlichen Katastrophenbewältigungsressourcen gleichzeitig oder gleichermaßen ausfallen, sondern ggf. nur einzelne von ihnen. Dabei ist nicht allein das Ausfallrisiko behördlicher Ressourcen in den Blick zu nehmen, sondern zumindest ebenso die Frage nach der Fähigkeit anderer Stellen, diese zeitweise ganz oder zum Teil zu ersetzen. (3) Schließlich stellt sich die Frage nach den notwendigen oder möglichen Maßnahmen, um jene Resilienz herzustellen oder zu garantieren. Dafür wird im gesellschaftlichen Normalzustand geplant für einen Fall des Wegfalls genau jenes Normalzustandes. Dies ist gewiss möglich, aber wenn schon die Katastrophe selbst ungewiss ist, so ist es ebenso die vorherige Erkenntnis dessen, welche Mechanismen zu ihrer Bewältigung notwendig, ausreichend und ausfallsicher sind. Wer dies vorher wüsste, bräuchte nicht mit der resilienten Gesellschaft zu planen, sondern könnte gleich die notwendigen und ausfallsicheren Vorkehrungen treffen. Auch hier gilt also: Der Weg zur Resilient Society ist in diesem Sinne weder klar vorgezeichnet, noch einfach, noch kurz.26

24 Davon gehen alle mir bekannten ausländischen Theorien aus. Resilienz ist danach Ziel und Aufgabe, nicht Prämisse oder Basis gesellschaftlicher Katastrophenbewältigungsfähigkeit. Ausdrücklich „wider die Illusion einer ,Dauergesundheit‘“ unserer Gesellschaft Paulus, Sicherheit oder Resilienz?, in: Hempel u. a. (Fußn. 5), S. 143. 25 Zur Notwendigkeit einer Vernetzung von staatlichem und gesellschaftlichem Bereich insoweit Würtenberger, FS Schenke (Fußn. 2), S. 574 ff. 26 Rechtliche Vorgaben und Anforderungen nennt Trute (Fußn. 16), S. 342 (351 ff.).

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IV. Selbsthilfefähigkeit der Gesellschaft – vor und in der Katastrophe Wer die Selbsthilfefähigkeit der Gesellschaft thematisiert, thematisiert regelmäßig zugleich deren Schwinden. In der Realität herrsche eine „Vollkasko- und Blaulichtmentalität“ vor.27 Erklärend findet sich bisweilen der Hinweis auf den expandierenden Sozialstaat als Motor und Instrument einer schleichenden Entmündigung der Bürger und damit der Verweis auf den Staat als Verursacher und Verantwortlichen für die Entwicklung. Eine solche Betrachtung greift jedoch mindestens zu kurz. Die abnehmende Selbsthilfefähigkeit ist zumindest gleichermaßen eine Folge von Marktveränderungen und des Verhaltens der Marktteilnehmer. Vielerorts finden sich neue Angebote, welche das Leben erleichtern können und sollen. Mobile Pflegedienste nehmen anstrengende und auch unangenehme Arbeiten ab; Tiefkühlkost wird ins Haus geliefert oder ist im Laden erhältlich; das Internet erspart für die Kommunikationsteilnahme den Gang zum Briefkasten, das Handy den zur Telefonzelle. Dies und vieles mehr geschieht weder mit dem Ziel einer Entmündigung der Menschen noch aus sozialstaatlicher Motivation, sondern aus geschäftlichen Gründen. So werden neue Märkte erschlossen und neue Geschäftsmodelle eingeführt. Im optimalen Falle ist dies im Interesse aller Beteiligten: Für die Anbieter entstehen neue Gewinnmöglichkeiten, die Kunden sparen lästigen oder unerwünschten Aufwand und der Staat erhält neue Steuerquellen. Die abnehmende Selbsthilfe ist dann eine Nebenfolge solcher Verhaltensänderungen: Wer regelmäßig den Pflegedienst kommen lässt, verliert die Fähigkeit, selbst zu pflegen, hat möglicherweise auch gar nicht mehr die dafür notwendigen Gegenstände im Haushalt. Wo der nächste Briefkasten hängt, wird unwichtiger. Und auch die häusliche Vorratshaltung nimmt ab, wenn es die dort früher vorhandenen Lebensmittel ganzjährig im Nahbereich zu kaufen gibt. Der beschriebene Wandel ist keine Folge einer irgendwie gearteten Verschwörung oder staatlicher Fremdbestimmung. Im Gegenteil: Er ist die Folge eines außerhalb des Katastrophenfalles erwünschten und ökonomisch wie sozial erfolgreichen Wandels. Und vielleicht die größte Katastrophe in der Katastrophe wäre, wenn die gewandelten Zustände oder Verhältnisse nicht mehr funktionieren würden. Denn jetzt kann jener Wandel nicht mehr einfach rückgängig gemacht werden, wenn die dafür erforderlichen Kenntnisse fehlen – Angehörige wissen immer weniger von der Pflege – oder aber die erforderlichen Gegenstände nicht mehr vorhanden sind – etwa Kartoffelkisten (mit Kartoffeln!) dort, wo man diese längst nicht mehr brauchte. Wer im Normalfall nicht mehr selbsthilfefähig ist, ist es im Katastrophenfall erst recht nicht. Das gilt für den Einzelnen wie für die Gesellschaft. Und die Normalität ist eben auch nicht katastrophensicher. Ein Blick in die AGB der meisten Versorgungs-, Dienstleistungs- u. a. -unternehmen würde wahrscheinlich zeigen: „Höhere Gewalt“ ist ein Grund, die Leistung nicht erbringen zu müssen. Dazu kann auch der Katastro27

Goersch (Fußn. 9), S. 54.

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phenfall zählen, also der Fall, in dem man auf die Leistungen besonders dringend angewiesen wäre. Wer für solche Fälle auf die Selbsthilfefähigkeit der Gesellschaft verweist, wälzt das Katastrophenrisiko der Dienstleister auf ihre Kunden ab. Für diese würde ein solcher Verweis wesentliche Vorteile der neuen Dienstleistungsgesellschaft rückgängig machen: Wer regelmäßig frisch einkauft, für den würde sich eine parallele Vorratshaltung in der Tiefkühltruhe nicht lohnen und durch doppelte Kosten wirtschaftliche Vorteile der neuen Versorgungsmöglichkeiten schmälern, wenn nicht zunichte machen. Ganz Ähnliches gilt hinsichtlich vorhandener Kenntnisse und Fertigkeiten der Menschen. Da bei Verkehrsunfällen regelmäßig schnell professionelle Hilfe erreichbar ist, brauchen Beteiligte oder Zuschauer immer seltener Erste Hilfe zu leisten. So ist bei den allermeisten Menschen das Wissen aus dem Erste-Hilfe-Kurs längst dermaßen verblasst, dass es inzwischen Experten gibt, die vor seiner Anwendung warnen: Wenn schon der Unfall die Betroffenen überleben ließ, sollte sie die danach auch noch so gut gemeinte Hilfe der (oft selbst unter Schock stehenden) Anwesenden nicht noch weiteren Lebensgefahren aussetzen! Abnehmende Selbsthilfefähigkeit ist also eine Folge erwünschten ökonomischen und sozialen Wandels. Der Staat ist höchstens am Rande beteiligt. Und schon gar nicht ist sie primär Folge einer Verschwörung oder ihrer intendierten Beseitigung durch die öffentliche Hand. Aber was im Normalfall abgebaut wird, lässt sich im Katastrophenfall nicht einfach wieder abrufen. Wer also Resilienz der Gesellschaft im Katastrophenfall will, muss bei der Betrachtung der Gesellschaft außerhalb des Katastrophenfalles beginnen. Hier gilt es, gerade für den Ernstfall an reale Menschen, nicht an Normmenschen anzuknüpfen. Vorausgesetzt werden können also allein diejenigen persönlichen und sachlichen Ressourcen, welche tatsächlich vorhanden sind, nicht diejenigen, welche nach geltenden Regelwerken vorhanden sein sollten. Bei Personen, welche vor 30 Jahren ihren Erste-Hilfe-Kurs besuchen mussten, kann deren Hilfsfähigkeit in der Katastrophe jedenfalls dann nicht mehr einfach vorausgesetzt werden, wenn diese seitdem nicht mehr abgerufen worden ist. Und im Katastrophenfall entfällt oft als Erstes die meistverbreitete Grundlage häuslicher Vorratshaltung, die Tiefkühltruhe. Wenn dann die Lebensmittel nicht mehr brauchbar sind, kann und sollte bei Planungen für gesellschaftliche Resilienz von deren Vorhandensein eben nicht mehr ausgegangen werden. Zusätzlich ist ein Sondereffekt zu berücksichtigen: Es gibt Beobachtungen, wonach Menschen sich in der Katastrophe anders verhalten als sonst.28 Doch ist „das 28 Beobachtungen bei Glass, Allein gelassen in der Katastrophe? – Selbsthilfe der Bevölkerung in der Sicherheitsvorsorge, ein Ratgeber für Familie, Beruf und Betrieb, 2005; John, Die Modernität der Gemeinschaft, Soziologische Beobachtungen zur Oderflut 1997, 2008; Kunz-Plapp, Vorwarnung, Vorhersage und Frühwarnung, in: Felgentreff/Glade (Hg.), Naturrisiken und Sozialkatastrophen, 2008, S. 213 ff.; Quarantelli, Auf Desaster bezogenes soziales Verhalten, Resümee der Forschungsergebnisse von fünfzig Jahren, in: Clausen/Geenen/Macamo (Hg.), Entsetzliche soziale Prozesse, Theorie und Empirie der Katastrophen, 2003,

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Verhalten von Gruppen und Individuen in einem Katastrophenfall ein noch nicht hinreichend erschlossener Untersuchungsgegenstand. So fehlen Untersuchungen zu Schutz-, Flucht- und Unterstützungsverhalten der Bevölkerung sowie zur Belastungsakkumulation in lang andauernden Bedrohungslagen. Zugleich existiert hierzu aber eine Reihe von weitgehend fragwürdigen Annahmen – insbesondere zu „erwartbarem, überwiegend unsozialem, apathischem oder panikartigem Verhalten der Bevölkerung.“29 Die Katastrophe und ihre möglichen Auswirkungen auf das Verhalten der Menschen bergen also noch unbekannte Risiken und Chancen, auf die ggf. zurückgegriffen werden kann. Doch dafür muss man sie erst kennen!30 V. Mögliche Konsequenzen: Ein Ausblick 1. Funktionsgerechte Verantwortungsteilung Vorab sind zwei Aspekte von Bedeutung:31 (1) Angeblich kennt Not kein Gebot. Richtig daran ist: Im Katastrophenfall hängt der Rettungserfolg nur in äußerst geringem Umfang von der Kenntnis und Einhaltung der Vorschriften ab. Dies gilt ganz besonders für Vorschriften, welche im und für den Normalfall erlassen worden sind und im Katastrophenfall möglicherweise ihre Anwendbarkeit einbüßen, weil deren Voraussetzungen weggefallen sind. Auch wenn inzwischen die Prämisse zu Recht in Frage gestellt wird32: In der Katastrophe unterliegt die Durchsetzbarkeit von Vorschriften besonderen tatsächlichen Vorbedingungen, die wenig vorhersehbar und daher wenig planbar sind. Doch darum geht es hier allenfalls am Rande: Wer die Resilient Society will, muss damit im Normalfall beginnen. Und in diesem Fall unterliegen Erlass und Durchsetzbarkeit von Vorschriften den normalen Prämissen. Dass diese im Notfall nicht gleichsam „eins zu eins“ angewandt werden können, ist Voraussetzung der Theorie von der Resilient Society: Wenn alles normal liefe, bräuchte man diese schließlich nicht. Demnach gilt: Wer Resilienz will, muss mit ihr im Normalfall, aber für den Notfall planen. (2) Die Anerkennung einer solchen Staatsaufgabe im Rahmen der Katastrophenvorsorge33 wirft die Frage nach einer angemessenen Verantwortungsteilung auf. Eine Erfüllungsverantwortung der öffentlichen Hand kommt schon deshalb nicht in BeS. 25 ff.; Ungerer/Morgenroth, Analyse des menschlichen Fehlverhaltens in Gefahrensituationen, Empfehlungen für die Ausbildung, 2001. 29 Zusammenfassend: Bericht des BT-Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung zur Gefährdung und Verletzbarkeit moderner Gesellschaften, BT-Drs. 17/ 5672, S. 12. 30 s. dazu etwa Dombrowsky u. a., Menschen und Katastrophen, in: BBK (Hg.), Notfall und KatastrophenPharmazie I: Bevölkerungsschutz und medizinische Notfallversorgung, 2009, S. 249 ff.; Drabek, The Human Side of Disaster, 2010. 31 Dazu o. III. Zum Folgenden wichtig Trute (Fußn. 16), S. 342 (351 ff.). 32 Volkmann, Merkur – Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 2008, S. 369 ff. 33 So wohl Würtenberger, FS Schenke (Fußn. 2), S. 571 f.

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tracht, weil es hier um Planungen für einen Fall des Staatsversagens geht. Schon deshalb kann allenfalls eine Regulierungs- oder Gewährleistungsverantwortung in Betracht kommen.34 Was im Bedarfsfall tatsächlich geschieht, geschieht eben nicht durch die öffentlichen Hände selbst. 2. Resilienz – aber wie? Das Konzept der Resilienz muss mit zahlreichen Unbekannten auskommen: Unbekannt sind die zukünftigen Katastrophen und ihre zukünftigen Auswirkungen, also die tatsächliche Situation, in welcher sich Resilienz beweisen und bewähren muss. Unbekannt ist das Verhalten der Menschen im Katastrophenfall; also das Verhalten derjenigen, von denen letztlich die Resilienz erwartet und geleistet werden muss. Und unbekannt ist letztlich auch, wie Normen und rechtliche Vorkehrungen im Katastrophenfall wirken und durchgesetzt werden können. Dies schränkt die Möglichkeit jeder Planung und Vorbereitung von Resilienz ein. Dabei haben sich bislang sowohl persuasive („Die Katastrophe lauert überall – Macht Euch bereit!“)35, als auch imperative Ansätze wegen des Widerstandes bzw. der Geringschätzung der Betroffenen als wenig aussichtsreich erwiesen: So finden sich mancherorts veraltete und nicht mehr voll taugliche Feuerlöscher, deren Anbringung verpflichtend war, deren Aktualisierung und Erhaltung aber vernachlässigt und wegen zu hohen Kontrollaufwandes auch nicht durchgesetzt worden ist. Es gilt also, die richtigen Maßnahmen gegenüber den richtigen Adressaten mit den richtigen Instrumenten zu treffen.36 a) Katastrophentauglichkeit als Grundlage Ist die abnehmende Selbsthilfefähigkeit der Gesellschaft eine Folge des angedeuteten ökonomischen und sozialen Wandels, so kann hier angesetzt werden: Wer eine (Dienst-) Leistung anbietet, welche die Selbsthilfefähigkeit beeinträchtigen kann, hat diese katastrophentauglich auszugestalten. Das gilt für die Gas-, Strom- und Wasserversorgung ebenso wie für sonstige öffentliche oder private Angebote, welche für die Selbsthilfefähigkeit Relevanz erlangen können. Für sie ist die Stunde der Katastrophe als Stunde der Bewährung und nicht als solche des Ausfalls zu begreifen. Zudem sind die Anbieter am ehesten in der Lage, die Angebotsketten zu kennen, auf mög34 Zu diesen Formen Schulze-Fielitz, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts I, 2006, § 12 Rn. 154 ff. (164). 35 Untersuchungen dazu bei Goersch (Fußn. 9), S. 40 ff. (46 ff., 60 ff.). 36 Zum Problem und zu möglichen Lösungen Bollin, Staatliche Verantwortung und Bürgerbeteiligung, Voraussetzungen für eine effektive Katastrophenvorsorge, in: Felgentreff/ Glade (Hg.), Naturrisiken und Sozialkatastrophen, 2008, S. 253; Faupel/Kelley/Petee, International journal of mass emergencies and disasters 1992, 5 ff.; Geenen, Warnung der Bevölkerung, in: Schutzkommission beim Bundesminister des Innern (Hg.), Gefahren und Warnung, Drei Beiträge, 2009, S. 61.

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liche Schwachstellen zu überprüfen und so katastrophentauglich zu machen. Das gilt insbesondere dort, wo mehrere kritische Leistungsketten ineinander greifen können: Bei Stromausfall lassen sich die meisten Türen von Geschäften nicht öffnen, die Beleuchtung nicht einschalten und die Kassen nicht betreiben. Hier trifft sich der Grundsatz der Resilienz mit möglichen Ausprägungen des Konzepts der kritischen Infrastrukturen.37 Zugleich würde an das Verursacherprinzip angeknüpft. Doch hat dieser Ansatz jedenfalls eine empfindliche Schwachstelle: Infolge der überschaubaren Zahl von Adressaten solcher Verpflichtungen lassen sich diese besser organisieren. Damit erlangen sie eine erhöhte politische Durchsetzungsmacht gegenüber „der Allgemeinheit“, die – erst recht in ihrer Rolle als potentiell Katastrophenbetroffene – kaum organisierbar ist. Dadurch würden mögliche Widerstände gegen solche Verpflichtungen eine überlegene Durchsetzungsstärke erlangen. b) Die Organisation der resilienten Gesellschaft In der Katastrophe können nicht nur Gebäude und Infrastrukturen zusammenbrechen, sondern auch die „normale“ Gesellschaft. Als normal empfundene Umgangsformen können nicht einfach fortgesetzt werden. Möglicherweise ist es gar nicht realisierbar, sich in das Auto zu setzen und nach den am anderen Ende der Stadt wohnenden Verwandten oder Freunden zu schauen. Oder vorhandene gesellschaftliche Organisationen und Strukturen brechen zwar nicht zusammen, sind aber nicht einfach abrufbar. Die bekannten Helfer, Selbsthilfe- oder Hilfsorganisationen sind möglicherweise nicht erreichbar oder mit sich selbst beschäftigt. Wer über die Individuen hinaus auch die Gesellschaft selbsthilfefähig machen will, bedarf für solche Fälle einer Reserveorganisation, um kollektives Handeln erst zu ermöglichen und herzustellen. Dafür bedarf es zunächst einzelner Personen, welche eine zweifache Befähigung brauchen: Zunächst eine gewisse Initiativ- und Durchsetzungsfähigkeit, um auch in der Notsituation gemeinsames Denken und Handeln zu ermöglichen,38 und zugleich eine gewisse Fachkompetenz, die es ihnen ermöglicht, Maßnahmen zu initiieren, welche Andere nicht gleich gut oder besser vornehmen können. Katastrophen können Gesellschaften, gesellschaftliche Strukturen und insbesondere Vertrauensbeziehungen beeinträchtigen oder gar zerstören, nicht hingegen neue aufbauen. Hier setzt das Resilienz-Konzept an. Gesellschaftliche Resilienz soll im Katastrophenfall abgerufen werden, kann aber im Katastrophenfall nicht erst hergestellt werden. Von daher liegt es nahe, soweit wie möglich aus noch vorhandenen 37 Dazu etwa Birkmann u. a., State of the Art der Forschung zur Verwundbarkeit kritischer Infrastrukturen am Beispiel Strom/Stromausfall, 2010, S. 85 f.; Bundesministerium des Innern (Hg.), Nationale Strategie zum Schutz kritischer Infrastrukturen (KRITIS-Strategie), 2009; Kloepfer (Hg.), Schutz kritischer Infrastrukturen. IT und Energie, 2010; Lenz, Vulnerabilität kritischer Infrastrukturen, 2009; Lorenz, Kritische Infrastrukturen aus Sicht der Bevölkerung, 2010, mit Bezügen zur Selbsthilfefähigkeit (ebd., S. 33 ff.). 38 Die hier notwendigen Strukturen werden politisch am ehesten unter dem Stichwort „leadership“ diskutiert; vielleicht wäre es angemessener, von responsibility zu sprechen.

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Strukturen und Ressourcen zu schöpfen und nicht erst auf die Schaffung neuer zu warten. Insbesondere ist die Katastrophe ein besonders ungünstiger Zeitpunkt, um neue oder spezielle Infrastrukturen zu schaffen oder zu organisieren. Besser ist, an ohnehin vorhandene Infrastrukturen anzuknüpfen. Gewiss: Im Ernstfall wird jeder zum Experten – für das eigene Überleben.39 Doch schließt dies ein anderes Expertentum zumindest nicht aus. Auch im Normalfall gibt es zahllose Rettungsexperten, welche besondere Aufgaben erfüllen, besondere Leistungen erbringen und schon deshalb besondere Expertise aufweisen: (Freiwillige) Feuerwehrleute, (freiwillige) Rettungshelfer u. a. finden sich in der Bundesrepublik flächendeckend. Sie können auch im Katastrophenfall eine besondere Verantwortung übernehmen und gleichsam als Nuklei gesellschaftlicher Selbstorganisation im Notfall fungieren,40 wenn sie dazu in der Lage sind. Dies setzt voraus, dass sie benötigte Leistungen auch als Einzelne und unter besonderen Umständen erbringen können; dass sie also einsatzfähig sind, auch ohne dass die Kollegen versammelt sind oder sie vorher besondere Einsatzorte erreichen müssen, wo eine Notfallausrüstung ausschließlich vorhanden ist. Hier könnten Einsatzmöglichkeiten und -bedingungen notfalltauglich ausgestaltet werden, ohne dass besondere Infrastrukturen unter Katastrophenbedingungen aufgebaut werden müssten. Dazu bestehen weder Zeit noch Ressourcen. Und auch hier zeigt sich: Was im Normalfall nicht vorbereitet und eingeübt worden ist, kann auch im Ernstfall nicht abgerufen werden. c) Ressourcen des resilienten Gesellschaft Zentralfrage individueller und gesellschaftlicher Selbsthilfefähigkeit ist die Ressourcenfrage. Hier wurden auf der individuellen Ebene schon in der Vergangenheit nicht die besten Erfahrungen gemacht, wenn der Ruf nach besonderen Katastrophenschutzvorkehrungen der Bevölkerung erscholl. Wenn überhaupt (Not-)Vorräte angelegt wurden, waren diese gerade im Katastrophenfall wenig greifbar, da entweder die Haltbarkeit längst abgelaufen war oder durch die Katastrophe die Grundlagen häuslicher Vorratshaltung (Kühlschrank bzw. Tiefkühltruhe) ausfielen. Ähnliches illustriert die bei manchen Experten anzutreffende Zurückhaltung gegenüber dem Einsatz der beim Führerscheinerwerb vor langer Zeit erworbenen Erste-Hilfe-Kenntnisse bei einem Verkehrsunfall.41 Besondere Katastrophenvorräte oder -kenntnisse zu fordern, erbringt wenig, wenn diese im Normalzustand brach liegen und erst im Notfall am Einsatztag am Einsatzort wieder abgerufen werden. Was auf der individuellen Ebene problematisch ist, schlägt auch auf die gesellschaftliche Ebene durch: Dass Personen handlungsfähig und handlungsbereit sind, 39

So ebenso eindrücklich wie zutreffend Trute (Fußn. 16), S. 342 (363). Hier zeigt sich ein Anknüpfungspunkt zu der o. (III.) dargestellten Verknüpfung staatlicher und gesellschaftlicher Bereiche. Gerade die Feuerwehren nehmen eben auch im Normalfall staatliche Aufgaben wahr. Bei den Katastrophenhelfern ist dies zumindest nicht ausgeschlossen. 41 Dazu o. IV. 40

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nutzt unter den Bedingungen von Großschadensereignissen relativ wenig, wenn ihnen dafür nicht die erforderlichen Hilfsmittel zur Verfügung stehen. In solchen Fällen kann nicht davon ausgegangen werden, dass etwa Feuerwachen erreichbar und für alle, welche Hilfsmittel brauchen, zu öffnen sind. Leitstellen und Hotlines können ausfallen oder überlastet, Transportmittel oder -wege zerstört oder blockiert, Kommunikationseinrichtungen unterbrochen sein. In solchen Fällen können auch Personen, welche im Normalfall Zugang zu den notwendigen Informationen und Hilfsmitteln haben, in ihrer Rettungsfähigkeit stark beeinträchtigt sein.42 Eine mögliche Anknüpfung gesellschaftlicher Resilienz an jene Personen ist demnach für sich allein keine Hilfe. Hierfür bedarf es der Vorbereitungen außerhalb der Katastrophe. – Dies beginnt damit, solche (bislang regelmäßig) ehrenamtlichen Positionen wo nötig zu erhalten und nicht abzubauen, und zwar weder intendiert noch als nicht intendierte Nebenfolge anderer Entscheidungen, etwa der Verlagerung von Rettungsdiensten auf Privatunternehmen ohne Katastropheninfrastruktur. Zumindest sind in solchen Fällen die Rückwirkungen auf den Katastrophenschutz zu beachten und ggf. als Abwägungsposten einzustellen. – Dazu zählt weiter die Ermöglichung des Zugangs solcher Personen zu den notwendigen Informationen im Bedarfsfall – Resilienz und Katastrophenkommunikation hängen eng zusammen. – Und nicht zuletzt zählt hierzu die Verfügbarkeit und Erreichbarkeit notwendigen Materials einschließlich seiner Zugänglichkeit für diejenigen, die es anwenden können, und zwar auch unter den Bedingungen von Katastrophen.

VI. Resilienz der Gesellschaft als Option? Ob die Theorie der Resilient Society für Deutschland Relevanz erlangen kann, ist noch keineswegs gesichert. Hier besteht noch erheblicher Forschungsbedarf. Was sind die sozialtheoretischen Grundlagen jener Theorien in ihren Ursprungsländern? Lassen sich diese auf die Bundesrepublik übertragen? Und was sind die praktischen Erfahrungen? Manchmal könnte man gar den Eindruck gewinnen, es gäbe unterschiedliche Resilienz-Leitbilder oder -ideen. Infolge ihrer mehrfachen Subsidiarität geht es bei der Frage nach der Resilienz der Gesellschaft um die Problematik der Bewältigung akuter und regelmäßig kurzfristiger Notsituationen im Katastrophenfall bis zu dem Moment, wo die regulären Katastrophen- und Notfallbewältigungsmechanismen wieder funktionieren. Dies gelingt umso eher, je schneller und je mehr es möglich ist, Ressourcen aus anderen, intakten

42 Dies gilt erst recht, wenn sie selbst, nahe Angehörige oder Freunde vom Unglück betroffen sind.

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Strukturen herbeizuschaffen.43 Hier ist die Kooperation der zuständigen Stellen über die Grenzen einzelner Katastrophenschutzbehörden, ggf. über Länder- und sogar die Bundesgrenzen hinaus, gefragt. Letztlich hängt die Realisierbarkeit solcher Ansätze allerdings nicht allein von staatlichen Vorkehrungen, sondern auch von solchen der einzelnen Bürger ab. Nur wer selbst handlungsfähig ist, kann (auch) anderen helfen. Und hier kommen dann doch soziale und persönliche Notfallvorsorge zusammen.44

43

Nach Reichenbach u. a. (Fußn. 9), S. 15, ist dies das eigentliche Kriterium der Katastrophe: Sie liegt bei Großschadensereignissen danach vor, wenn es nicht möglich ist, Ressourcen aus intakten Infrastrukturen herbeizuschaffen. 44 Dazu o. I. und Goersch (Fußn. 9).

Die Stadt im Zeichen ziviler Sicherheit Von Stefan Kaufmann, Freiburg I. Einleitung Seit dem Ende des Kalten Krieges, verstärkt noch seit 9/11 haben sich wesentliche Verschiebungen im Verständnis von Sicherheit und Sicherheitspolitik durchgesetzt. In den Sozialwissenschaften wird mit Konzepten wie Sicherheitsgesellschaft1 oder der These von einer neuen Kultur der Kontrolle2 eine Verlagerung von einem wohlfahrtsstaatlichen Sicherheitsverständnis zu innerer Sicherheit diagnostiziert. Davon zeugen zahlreiche neue Begriffe, um das sich das Sicherheitsdenken dreht: etwa „Homeland Security“ in der US-amerikanischen Sicherheitspolitik oder „Civil Security“, wie es in den Sicherheitsforschungsprogrammen der EU bzw. „zivile Sicherheit“ in dem des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) heißt. Das Spezifische an den Programmen ist, mit Phänomenen, die von Terrorismus über Kriminalität bis zu großtechnischen Unfällen und Naturkatastrophen reichen, Gefährdungen heterogener Natur zu bündeln. Nicht die Heterogenität der Gefährdungen, sondern die Verletzlichkeit moderner Gesellschaften aufgrund von enorm gesteigerter Mobilität, Vernetzung und Interdependenz des modernen Lebens rückt in den Blick. So werden etwa in der Strategie zur inneren Sicherheit der EU von 2010 als wichtigste, gemeinsame Bedrohungen aufgeführt: Terrorismus, Organisierte Kriminalität (u. a. Menschenschmuggel, Waffenhandel, Kinderpornographie, Geldwäsche), Cyberkriminalität, grenzüberschreitende Kleinkriminalität, Gewalt an sich, Naturkatastrophen, Großunfälle (zu denen auch der Ausfall von Infrastrukturen wie Energie- oder Informations- und Kommunikationsinfrastrukturen zählen).3 Mit solchen Strategien und Konzepten gehen Verschiebungen und Erweiterungen des bisherigen Verständnisses von innerer Sicherheit einher, die sich in sechs Momenten bündeln lassen.4 Erstens steht zivile gegenüber der klassischen Form innerer Sicherheit für eine enorm gesteigerte politische Mobilisierungskraft im Zeichen von Sicherheit. Selbst schlichte Formen von Kriminalität rücken nun in den Kontext von 1 Legnaro, Konturen der Sicherheitsgesellschaft; in: Leviathan, 1997, 271; Singelnstein/ Stolle, Die Sicherheitsgesellschaft, 2008. 2 Garland, Culture of Control, 2001. 3 Europäische Union, Strategie innere Sicherheit, 2010. 4 Vgl. Albrecht, Neue Bedrohungen?, in: Zoche et al. (Hg.), Zivile Sicherheit, 2011, S. 111; Groenemeyer, Wege der Sicherheitsgesellschaft, in: ders. (Hg.), Wege der Sicherheitsgesellschaft, 2010, S. 7; Kaufmann, Zivile Sicherheit, in: Hempel et al. (Hg.), Sichtbarkeitsregime, 2010, S. 101.

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Bedrohungen der nationalen Sicherheit. Zweitens werden Risiken (Terrorismus, Naturkatastrophen, Großunglücke) ins Zentrum von Sicherheitsbestrebungen gestellt, die vom Typus low probality/high impact sind. Nicht die Realität, sondern die Potentialität von Bedrohungen rückt in den Blick. Nicht mehr konkrete Gefahrenabwehr, sondern die Vorbeugung vor möglichen Gefährdungen und Bedrohungen bestimmt das Sicherheitsmanagement, das entsprechend einer Logik der Prävention folgt. Man muss für immer mehr mögliche Ereignisse Vorsorge treffen, bzw. dem potentiellen Eintreten katastrophaler Ereignisse bereits im Keim entgegentreten:5 Precaution etwa durch Verzicht auf Großtechnologien, pre-emption etwa als Präventivkrieg oder „targeted killing“ im Kampf gegen Terrorismus. Das dritte Moment ist ebenfalls mit der Wende zu potentiellen Gefährdungen verbunden. Während sich Kriminalitätsphänomene in ihren Dimensionen einigermaßen prognostizieren lassen, gilt dies etwa für Terroranschläge oder auch AKW-Unfälle nicht. Der Umgang mit Bedrohungen und Risiken dieses Typus folgt weniger klassischen Formen der Risikokalkulation als sozialen Logiken der Risikowahrnehmung;6 die Sicherheitswahrnehmung erhält einen erhöhten Stellenwert in den neuen Konzeptionen. Viertens werden institutionell ganz neue Formen von Vernetzungen anvisiert, eine viel engere Zusammenarbeit staatlicher Agenturen im Sicherheitsbereich quer durch die Felder von Geheimdienst, Polizei, Katastrophenschutz und Rettungsdiensten wird angestrebt. Fünftens setzt das Sicherheitsmanagement verstärkt auf Technik – so etwa ist das deutsche Sicherheitsforschungsprogramm unter der High-Tech-Strategie der Bundesregierung angesiedelt und auch das Sicherheitsforschungsprogramm der EU ist wesentlich auf technische Innovationen ausgerichtet. Sechstens schließlich werden unter der neuen Sicherheitsleitlinie „Resilienz“7 verstärkt Versuche unternommen, gesellschaftliche Akteure in Sicherheitsprogramme und -maßnahmen einzubinden. Infrastrukturbetreiber etwa werden zu Selbstverpflichtungen angehalten, die ein betriebsförmiges Sicherheitskalkül übersteigt, und noch die Bevölkerung wird dazu angehalten, sich in Selbstschutz- und Selbsthilfemaßnahmen zu üben, um für Katastrophen vorbereitet zu sein.8 Rückt das Sicherheitsdenken die Verletzlichkeit des modernen Lebens in den Blick, so setzen Sicherheitspolicies, also Regulationsformen und Sicherheitsmaßnahmen, auf umfassende Prävention, vernetzte Organisation, technische Vorkehrungen und die Aktivierung der Bevölkerung. Wie manifestiert sich diese Dynamisierung des Sicherheitsfeldes im Bereich städtischer Sicherheit? Nimmt man eine Ausschreibung zu urbaner Sicherheit des BMBF zur Hand, finden sich in den genannten Forschungsschwerpunkten und -desideraten die für Politiken unter der Maßgabe ziviler Sicherheit typischen Charakteristika:9 5

Vgl. Bröckling, Dispositive der Vorbeugung, in: Daase et al. (Hg.), Sicherheitskulturen, 2012, S. 93. 6 Klassisch dazu: Perrow, Normale Katastrophen, 1987, S. 355 ff. 7 Vgl. Gander et al. (Hg.), Resilienz in der offenen Gesellschaft, 2012. 8 Vgl. Kaufmann/Blum: Governing (In)Security, in: Gander (Fußn. 7), S. 235 (250 ff.); Kaufmann: Resilienz als ,Boundary Object‘, in: Daase (Fußn. 5), S. 109 (124 ff.). 9 http://www.bmbf.de/foerderungen/18513.php. (Zugriff 31. 07. 2012).

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Forschungen zu Gefährdungen aus heterogensten Quellen werden adressiert; umfassende Prävention und Vorsorge gelten als Ziele; Problemlösungen sollen nicht nur der Sicherheit, sondern auch der Sicherheitswahrnehmung gelten; Forschungen zur Mobilisierung und Vernetzung unterschiedlicher Akteure werden gefordert; der programmatische Rahmen stellt auf avancierte technische Lösungen ab; und schließlich werden unter dem Schlagwort Resilienz auch Arbeiten zur Aktivierung der Widerstandsfähigkeit der Bevölkerung angefordert. Der Aufstieg des Themas zivile Sicherheit wird in der Regel als Folge von 9/11 interpretiert. Dennoch lassen sich das Sicherheitsdenken und die Programmatiken, die sich mit Konzepten wie Homeland Security oder ziviler Sicherheit verbinden, keineswegs als radikale Kehrtwenden und als Neuausrichtung nationaler (Regierungs-)Politik nach 9/11 verstehen. Ihre Plausibilität gewinnen die Konzepte vielmehr, weil sie an vorgängige Transformationen anschließen, an eine vorgängige Wende zu Themen der inneren Sicherheit und an neue Regulationsformen, die auf unterschiedlichen Feldern entstanden. Dies gilt auch für das Feld urbaner Sicherheit. Die wesentlichen Punkte des Wandels von Sicherheitspolitiken im Rahmen der Stadtentwicklung, an die eine nationale Strategie ziviler Sicherheit anschließen und in die sie sich einschreiben kann, sollen im Folgen dargelegt werden. Ein knapper Einstieg skizziert den Rahmen kommunaler Sicherheitsaktivitäten und verweist auf deren Verortung in gesellschaftlichen und städtischen Entwicklungen in den 1990er Jahren (II.). Einer der am meisten diskutierten Aspekte städtischer Sicherheitsproduktion ist die These einer Privatisierung von Sicherheitsgewährleistung, die an eine Privatisierung des öffentlichen Raums gekoppelt ist (III.). In diesem Zusammenhang entsteht durch eine Zusammenarbeit von privaten und öffentlichen Sicherheitsakteuren ein organisatorischer Wandel, der sich in einem zweiten Kontext verfolgen lässt: der kommunalen Kriminalprävention, mit der sich eine Dynamisierung des Präventionsdenkens abzeichnet (IV.). Als weiteres signifikantes Moment, das im Rahmen ziviler Sicherheit aufgegriffen wird, lassen sich stadtplanerische Konzepte nennen, Sicherheit und Ordnung durch Technik und Design herzustellen (V.). Die vieldiskutierte „Festivalisierung der Städte“ schließlich verbindet das Moment der Vorsorge für den Katastrophenfall mit neueren Trends der Stadtpolitik (VI.). II. Zur Entstehung von Sicherheitspolicies auf kommunaler Ebene Während ziviler Bevölkerungsschutz und polizeiliche Aufgaben Bund und Ländern unterstehen, haben die Kommunen – so konstatiert eine aktuelle Veröffentlichung des Deutschen Instituts für Urbanistik10 – „erst seit Beginn der 1990er Jahre […] Sicherheit als Querschnittsaufgabe entdeckt und integrierte Ansätze zum Umgang mit dem Thema entwickelt“. Dieser Umgang mit dem Thema Sicherheit entfaltet sich im Wesentlichen in drei Bereichen kommunaler Zuständigkeit. Zu10

Floeting/Seidel-Schulze, Sicherheit in der Stadt, 2012, S. 3.

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nächst dem klassischen ordnungspolitischen Bereich der Gefahrenabwehr, zu dem u. a. Gewerbelizensierungen, Sperrbezirksregelungen, Regelung der Polizeistunde, Jugendschutz und Versammlungsrecht gehören. Dann der Bereich der Städtebaupolitik, indem Sicherheitsaspekte in Nutzungsstrukturen und bauliche Gestaltungen von Flächen, Plätzen und Gebäuden einfließen. Und schließlich gestalten Städte den Rahmen kommunaler Kriminalprävention, indem Maßnahmen sozialer, Jugend-, Familien-, Wohnungs-, Bildungs- und Kulturarbeit zusammengeführt werden.11 Ein „multi-agency appraoch“ in den Sicherheitspolicies, wie er in vielen europäischen Städten bereits in den 1980er Jahren zu verzeichnen war,12 ist mittlerweile auch in deutschen Städten Standard geworden: Die kommunale Arbeit wird stärker auf Sicherheit abgestellt und die Polizeiarbeit stärker mit lokalen Akteuren verbunden. Die Gründe für diese sicherheitspolitische Wende sind umstritten. Während die Akteure in der Regel auf gewandelte Problemlagen verweisen, stellen sozialwissenschaftliche Erklärungen der Konjunktur von städtischer Sicherheit eher auf makrogesellschaftliche Wandlungsprozesse und auf einen damit zusammenhängenden Wandel in der Stadtpolitik ab. So mag man einerseits, was die Daten angeht, auf einen starken Anstieg von Kriminalitätsraten in den 1970er und 80er Jahren verweisen, die seit den 1990er Jahren zwar in einem kontinuierlichen, aber nur leichten Rückgang begriffen sind.13 Selbst David Garlands Kritik am Wandel des gesellschaftlichen Umgangs mit Kriminalität in den 1980er und 90er Jahren spricht in Bezug auf Großbritannien und die USA von einer „High-Crime-Society“. Andererseits betont Garlands auch in der deutschen Diskussion einflussreiche Studie, dass es weniger die faktischen Entwicklungen als eine neue kulturelle Empfindsamkeit sei, welche die kriminalpolitische Wende bewirkt habe.14 Als Indiz für diese Empfindsamkeit lässt sich denn auch auf die signifikante Diskrepanz zwischen Kriminalitätswahrnehmung und Kriminalitätsentwicklung verweisen, vor allem was die Überschätzung der Entwicklung im Bereich schwerer Delikte angeht.15 Manche Beobachtungen deuten gar auf ein spezifisches Sicherheitsparadox hin: „In many cities“ – so heißt es in einer empirischen Studie zur Sicherheit in elf europäischen Städten – „the actual security situation seems to be improving (with declining crime rates), while simultaneously perceptions of safety seem to be worsening.“16 11

Vgl. ebd. 3 f. Vgl. van den Berg et al., The Safe City, 2006, S. 21. 13 In Deutschland weist die Polizeiliche Kriminalstatistik 1955 3.018 Delikte pro 100.000 Ew. auf, diese Häufigkeitziffer steigt bis 1993 auf 8.337 Fälle und ist seither, trotz vereinzelter Aufwärtsbewegungen, kontinuierlich gefallen; 2010 belief sie sich auf 7.253, 2011 auf 7.328. 14 Vgl. Garland (Fußn. 2), S. 139 ff. 15 Vgl. Windizio et al., Kriminalitätswahrnehmung und Punitivität in der Bevölkerung, 2007, S. 20. 16 van den Berg et al. (Fußn. 12), S. 268. 12

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Die Thematisierung von Kriminalität scheint folglich weniger in der Unsicherheit der Städte begründet, denn in einer Kriminalitätsfurcht, die auch als „Projektionsfläche verschiedener sozialer Ängste“17 betrachtet werden kann. Insofern ist das Interesse an innerer Sicherheit eher Ausdruck einer generelleren Verunsicherung und einer Unsicherheit im sozialen Zusammenleben: Ein Ausdruck von generellen Verunsicherungen, die durch makrostrukturelle Umbrüche und Dynamiken ökonomischer, sozialer und politischer Natur sowie einen relativen Verlust wohlfahrtsstaatlicher Absicherung hervorgerufen sind,18 und ein Ausdruck von Unsicherheiten, die veränderten Bedingungen sozialer Kontrolle entspringen, bedingt durch die zunehmende Heterogenität von Gesellschaften, die Schwächung von sozialen Bindungen und den Verlust informeller Nachbarschafts- und familialer Kontrolle.19 Ein weiterer Erklärungsstrang stellt die Intensivierung urbaner Sicherheitspolitik und ihre spezifische Ausprägung in den Kontext eines generellen Wandels städtischer Politik. Ausgangspunkt bildet die Beobachtung, dass Stadtpolitik seit den späten 1980er Jahren unter anderen ökonomischen Vorzeichen und neuen Konkurrenzbedingungen steht. Stadtpolitik bedeutet zunehmend Standortpolitik und damit verbunden eine Ausrichtung auf die Bedürfnisse des Dienstleistungssektors. Sicherheit avanciert in diesem Kontext zu einem wichtigen Standortfaktor. In dieser Diagnose treffen sich sowohl sozialwissenschaftliche Interpretationen, die eher Entwicklungschancen mit einer forcierten städtischen Sicherheitspolitik verbinden, als auch Kritiker dieser Entwicklung. Erstere sehen die Notwendigkeit einer forcierten kommunalen Sicherheitspolitik durch einen engen Zusammenhang zwischen (wahrgenommener) Sicherheit, städtischer Attraktivität und städtischer Entwicklung begründet. Ein zirkulärer Prozess, der seinen Ausgangspunkt mit Sicherheitsfragen nimmt, wird unterstellt: „A reduction in crime activities generates a safer living environment which makes the area more attractive: a more attractive environment can contribute to reducing crime (i. e. investments in an area can attract inhabitants and businesses and this can reduce criminal activity). Both of them, of course, have a direct influence on the perception of safety.“20 Mit einer Perspektive hingegen, welche die sicherheitspolitische Wende der 1990er Jahre in den Kontext von Gentrifizierungsprozessen und einer investorengetriebenen Aufwertung der Innenstädte stellt, rücken die konkreten Praktiken in ein kritisches Licht. So etwa wenn betont wird, dass sich eine Ausweitung des Verständnisses von Gefahrenabwehr zunehmend an ökonomi-

17

Hummelsheim/Oberwittler/Pritsch, Subjektive Unsicherheit, in: Daase (Fußn. 5), S. 301. Dieses Erklärungsmuster findet sich prominent bei Singelnstein/Stolle (Fußn. 1), S. 17 ff. 19 Darauf verweist Albrecht (Fußn. 4), S. 114. 20 van den Berg et al. (Fußn. 12), S. 283. An anderen Stellen zeigen die Autoren durchaus auch einen Sinn für negative Effekte von Sicherheitspolicies, so etwa wenn sie auf einen Widerspruch zwischen Offenheit bzw. Attraktivität einer Stadt und dem einschränkenden Charakter von Sicherheitsmaßnahmen hinweisen (ebd., S. 268). 18

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schen Interessen und einem Verständnis von sozialer Ordnung ausrichte, das zur Exklusion von Randgruppen führe und schließlich soziale Polarisierung verschärfe.21 Wie unterschiedlich auch die Interpretationen – dass sich die sicherheitspolitische Wende in der Stadtpolitik und der Wandel in den Regulationsformen, der zahlreiche Akteure in die Sicherheitsaufgaben einbindet, vor dem Hintergrund einer ökonomischen Aufwertung bzw. Inwertsetzung städtischer Räume vollzieht, ist unumstritten. Dazu gehört auch die Beobachtung einer tendenziellen Privatisierung des öffentlichen Raums. III. Sicherheit und die „Privatisierung“ des öffentlichen Raums Die Differenz von öffentlichem und privatem Raum ist ein konstitutives Element der bürgerlichen Gesellschaft wie auch der europäischen Stadt. In dieser Differenz manifestieren sich prinzipielle Polaritäten des bürgerlichen Lebens – Markt und Politik vs. Produktion und Reproduktion, öffentliches Recht vs. Hausrecht, sowie spezifische Differenzen sozialer Erfahrungs- und Darstellungsformen, die sich in Stichworten wie dem Fremden, Stilisierten, Zivilisierten vs. dem Vertrauten, Intimen, Distanzlosen festmachen.22 Der klassische öffentliche Raum, der Raum der Begegnung in der Stadt ist der Marktplatz, aber auch Parks, Bahnhöfe, belebte Fußgängerbereiche und die zahlreichen freien, offenen Plätze in den Wohnvierteln sind hervorragende Orte des öffentlichen Lebens. Der Zutritt zu diesem Raum steht allen offen, und der Raum ist funktionsoffen: auf dem Markplatz wird verkauft oder auch demonstriert, Bettler betteln, Trinker trinken, Jugendliche fahren Skateboard. Der öffentliche Raum ist stets auch mit der Erfahrung von Fremdem, Unerwartetem, Unübersichtlichem, von Konkurrenz und Konflikt verbunden – er wird im Gegensatz zum privaten Rückzugsraum in spezifischer Weise mit Unsicherheitserfahrungen assoziiert.23 Auch wenn diese Typisierungen idealtypisch zu verstehen sind, lassen sie sich als Hintergrund nehmen, um den Wandel des öffentlichen Raums zu skizzieren, der vor allem mit den Privatisierungen städtischer Infrastrukturen und Flächen seit den 1980er Jahren verbunden ist: Bahnhöfe werden privatisiert, Einkaufs- und Freizeitzentren entstehen, Parks, Parkplätze, großflächige Wohnanlagen werden in private Hände übergeben. Es entstehen – gerade in Innenstädten – Hybridformen privater und öffentlicher Räume, semi-öffentliche Räume, die prinzipiell für die Öffentlichkeit zugänglich sind und die nicht unmittelbar als private Räume erkennbar sind. Der 21

So z. B. Wehrheim, Die überwachte Stadt, 2012, S. 36 ff. Dies kann man bei Klassikern wie Max Weber und Georg Simmel nachlesen, eine pointierte Zusammenfassung mit Blick auf Sicherheit und soziale Kontrolle bieten Siebel/ Wehrheim, Security and Urban Public Sphere, in: German Policy Studies/Politikfeldanalyse, 2006, 19 sowie Siebel, Vom Wandel des öffentlichen Raums, in: Wehrheim (Hg.), Shopping Malls, 2007, S. 79. 23 Das betont auch: Gusy, Der öffentliche Raum, in: Daase (Fußn. 5), S. 279, (284 ff.). 22

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damit verbundene Wandel in der Regulation von (Un-)Sicherheit und der Ausübung sozialer Kontrolle ergibt sich im Wesentlichen aus einem funktionalen Wandel des Raums. Semi-öffentliche Räume sind, im Unterschied zum öffentlichen Raum, nicht funktionsoffen, sondern streng funktional ausgerichtet. Ein funktionaler Raum, so formuliert Martin Mogin, „ist ein Raum, dessen Daseinsgrund, dessen Funktion und dessen Legitimität in Hinblick auf Frequentierung und Nutzung im Vorhinein festgelegt und durch eine Hausordnung kodiert ist. In einem Raum, der in monofunktionelle Einheiten unterteilt ist (Raum zur Entspannung, Raum für Gastronomie, Raum für Kinder, Raum für Raucher), weiß jeder, der sich hier aufhält, genau, was er zu tun und zu unterlassen hat. In einem solchen Raum sind alle Wege im Voraus festgelegt, alle Verhaltensmöglichkeiten antizipiert. Es ist ein logischer Raum – das heißt, er basiert auf einem abgeschlossenen System aus notwendigen Beziehungen zwischen Dingen, Personen, Zeichen –, dessen sämtliche Teile jedes für sich der Realisierung dieses Gesamtplans untergeordnet sind.“24 Die paradigmatische Beschreibung der Funktion sozialer Kontrolle in solchen Räumen lieferten die Kriminologen Clifford Shearing und Philip Stenning mit ihrer Beschreibung von Disney-World, wo ein ausgeklügeltes System von Hinweisen, Personal und technischen Vorrichtungen die Besucherströme in subtiler Weise durch den Park führt, ohne dass diese den Eindruck haben, beobachtet oder kontrolliert zu werden. Noch die Ordner selbst erscheinen als Figuren von Themenparks, die Überwachungs- und Kontrollfunktionen sind ins Vergnügen integriert, die Besucher unterwerfen sich der Ordnung, weil dies ihrem Vergnügen dient: „Within Disney World control is embedded, preventive, subtle, cooperative and apparently non-coercive and consensual“.25 Sicherheit durch funktionale Raumarrangements zu erzielen, bedeutet, und daran sind die weiteren Spezifika semi-öffentlicher Sicherheit gekoppelt, dass sich nur reibungslos in diese Form der Ordnung integriert, wer sich den Funktionszwecken unterwirft. Unter rechtlichen Gesichtspunkten gilt in solchen Räumen eben nicht öffentliches Recht, sondern das „Prinzip Hausordnung“, und diese ist letztlich am kommerziellen Interesse orientiert.26 Der Aufenthalt ist an bestimmte Nutzungen gekoppelt: Wer demonstrieren will, wer betteln will, wer lediglich herumlungert, oder manchmal schon – wie Clifford Shearing in Disney World erfahren musste27 – wer einfach nur barfuß läuft, ist mit Platzverweis bedroht. Die Hausordnung setzt eine spezifische Vorstellung von Ordnung durch, die nicht moralisch, an Recht und Unrecht orientiert ist, sondern sich funktional auf Störungen des Betriebsablaufs 24

Mogin, Dieses Subjekt wird bewacht, in: Le Monde diplomatique, 11. 1. 2008. Shearing/Stenning, From the Panopticon to Disney Word, in: Doob/Greenspan (Hg.): Perspectives in Criminal Law, 1984, S. 300 (304). 26 Termeer, Die Entgrenzung des Prinzips Hausordnung in der neoliberalen Stadt, in: Groenemeyer (Fußn. 4), S. 296. 27 Shearing/Stenning (Fußn. 25), S. 302 f. 25

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richtet.28 Interventionsmöglichkeiten sind deshalb schon weit unterhalb von Ordnungswidrigkeiten oder Straftaten gegeben – und noch diese begründen sich eher funktional. Sicherheit wird in solchen Raumarrangements hergestellt, indem Verunsicherung aus der Umwelt ausgeschlossen wird, sie ist integrales Produkt eines Ambientes, das auf das Wohlbefinden von Kunden zugeschnitten ist. Ausschluss von Verunsicherung bedeutet auch, soziale Randgruppen auszuschließen. Das Sicherheitsmanagement adressiert in erster Linie das Sicherheitsgefühl, nicht die Sicherheit, weniger die Reglementierung von gefährlichem als die von nicht angepasstem Verhalten steht im Vordergrund.29 Dieser Typus von Sicherheitsmanagement bleibt nicht auf solche semi-öffentlichen Räume beschränkt, seit den 1990er Jahren werden auch städtische Gefahrenabwehrverordnungen und das Polizeirecht erweitert. Die Nutzung des öffentlichen Raums wird mit Bettelverboten, Verboten von Alkoholkonsum, mit neuen Interventionsmöglichkeiten, wie individuellen Platz- und Aufenthaltsverboten oder mit dem Ausweis von „gefährlichen Orten“ mit spezifischen Interventionsrechten eingeschränkt.30 Diese Form der Arbeit am Sicherheitsgefühl ist mit einer forcierten Präventionslogik verknüpft. Ihre kriminologische Fundierung findet sie im viel diskutierten „Broken Windows-Ansatz“, der eine Abwärtsspirale von Stadtteilentwicklungen beschreibt, die – sehr grob skizziert – bei Anzeichen sozialer Desorganisation, wie eben zerbrochenen Fensterscheiben, Graffiti und „sozial unerwünschtem Verhalten“ (wie „anti-social behavior“ meist übersetzt wird) und dadurch ausgelösten Unsicherheitsgefühlen beginnt. Dies führe dazu, dass solche Orte vermieden werden, damit zugleich die Sozialkontrolle nachlasse und in der Folge schließlich die Kriminalität tatsächlich steige.31 „Zero-Tolerance“ gegenüber Unordnung – so wurde daraus geschlossen – könne schwerere Kriminalität verhindern. Die mit „Broken Windows“ verbunden Konzepte, wie bürgernahe Polizeiarbeit, „community policing“ und teils auch Null-Toleranz „bilden“ – so heißt es in einem Gutachten zu Broken Windows mit Bezug auf die Situation in Deutschland – „noch immer den Antriebsmotor für zahlreiche kommunale Präventionsprojekte. […] Das Ziel lautet ,Ordnung schaffen‘ in Richtung ,Saubere Stadt‘.32 Mit solchen Erweiterungen verschiebt sich

28 Dass ein Verlust der moralischen Dimension von Ordnung mit privater Kontrolle einhergeht, betont Feltes, Akteure der Inneren Sicherheit, in: Lange et al. (Hg.), Auf der Suche nach neuer Sicherheit, 2008, S. 105 (110 f.). 29 Diese Differenz im Management betont: Gusy (Fußn. 23), S. 286 ff. 30 Vgl. Wehrheim (Fußn. 21), S. 57 ff., Termeer (Fußn. 26). 31 Wilson/Kelling, Broken Windows, in: Atlantic Quarterly 1982, 29. 32 Laue, Broken Windows und das New Yorker Modell, Düsseldorfer Gutachten Teil IV, 2002, S. 333 (432 f.). Die elaborierte Kritik an der Broken Windows-Theorie im Gutachten zu kriminalpräventiven Maßnahmen von Laue hindert den Deutschen Städtetag nicht, sich in seinem Positionspapier zu „Sicherheit und Ordnung in der Stadt“ von 2011 immer noch positiv auf Broken Windows und die Bedeutung des Zusammenhangs von Sicherheit und Sau-

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das Verständnis von Gefahrenabwehr nicht nur von der Differenz Recht/Unrecht zu Sicherheit/Unsicherheit, vielmehr wird öffentliche Sicherheit mit öffentlicher Ordnung verknüpft – was de facto bedeutet, Nutzungskonflikte des öffentlichen Raums unter dem Label Sicherheit und Kriminalprävention zu verhandeln.33 Zu dieser Erweiterung des Verständnisses von Gefahrenabwehr zählt auch ein organisatorischer Wandel des städtischen Sicherheitsmanagements. IV. Privatisierung, Kooperation, Vernetzung: ein hybrides Akteursfeld der Kriminalprävention Regieren wird gegenwärtig als „Governance“ ausbuchstabiert. Das gilt auch für den Bereich der Sicherheitsproduktion:34 die Grundüberzeugung, dass staatliches Handeln nicht alleine für Sicherheit sorgen könne, ist im Feld städtischer Sicherheit spätestens seit den 1990er Jahre fest verankert. Neue Akteure erscheinen, neue Formen von Kooperationen und Vernetzungen bilden sich aus. Privatisierung von Sicherheit, für das vor allem die Zunahme von privaten Sicherheitsdienstleistern steht, ist dabei nur ein Moment.35 Diese Zunahme hat viele strukturelle Gründe:36 Was den engeren Bereich der öffentlichen Sicherheit in der Stadt angeht, führt die Zunahme an semi-öffentlichen Räumen zu einem zunehmenden Bedarf an privatem Sicherheitsmanagement, in ähnlicher Weise entsteht auch ein Bedarf durch Spitzenlastprobleme bei der Polizei vor allem bei Großveranstaltungen; zu nennen sind auch Outsourcing-Prozesse, wenn etwa selbst Polizeigebäude durch private Sicherheitsdienstleister bewacht werden; schließlich zählt dazu die Entstehung neuer Aufgaben durch eine bürgernahe Polizeiarbeit, die dann häufig an kommunale Ordnungsdienste oder eben private Sicherheitsdienste ausgelagert wird – wie etwa die Überwachung von Parkanlagen, S- und U-Bahnen. In diesem Kontext entstehen oft formalisierte Privat-Public-Partnerships, in denen Polizei, Einzelhandel und Sicherheitsdienste ihre Zusammenarbeit regeln. Die Entdeckung von „Sicherheit als Querschnittsaufgabe“ in den Kommunen geht mit weiteren Formen von Sicherheits- und Ordnungsinitiativen einher. Zu nennen berkeit zu beziehen. Deutscher Städtetag, Sicherheit und Ordnung in der Stadt, Positionspapier, S. 8. 33 Vgl. Braun, Mehr öffentliche Sicherheit in der Stadt!, (=Kooperative Sicherheitspolitik in der Stadt, Working Paper 2), 2010, S. 23 f. 34 Vgl. Zum Governance-Konzept in diesem Feld: Frevel/Schulze, Public Safety and Security Governance, (= Kooperative Sicherheitspolitik in der Stadt, Working Paper 1), 2010. 35 2010 betrug die Anzahl der Beschäftigten in der Sicherheitswirtschaft nach Angaben des Bundesverbandes der Sicherheitswirtschaft 250.000 – was in etwa der Anzahl der Polizeibeamten entspricht –, mit 4,6 Milliarden Umsatz im Bereich der Sicherheitsdienstleistungen (www.bdsw.de). 36 Vgl. zum Folgenden: Kreissl, Privatisierung von Sicherheit, in: Zoche (Fußn. 4), S. 267; Feltes (Fußn. 28); Beste, Zur Privatisierung verloren gegangener Sicherheit in der Kontrollgesellschaft, in: Lange (Fußn. 28), S. 183 (185).

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sind Privat- oder Bürgerinitiativen (wie mit Nachbarschaftsschutzprogrammen oder „gated communities“); Versuche, Bürgerpolizeien in den staatlichen Dienst zu stellen (etwa mit der Bayrischen Sicherheitswacht); die Einführung bzw. Verstärkung kommunaler Ordnungsdienste; Sicherheitspartnerschaften von Kommunen mit der Polizei, teils auch mit Einbindung von privaten Sicherheitsdiensten; und schließlich die Einrichtung von Gremien der kommunalen Kriminalprävention, die in der Regel Polizei, Kommunalverwaltung und -politik, Justiz, Wirtschaft, soziale Dienste, freie Träger und andere Akteure umfassen. Eine Bestandsaufnahme dieser Gremien im Jahr 2004 ergab, dass sich rund 75 % der deutschen Städte über 50.000 Einwohner im Bereich kommunaler Kriminalprävention engagieren und in mehr als 60 % formal organisierte Gremien existieren.37 Die programmatischen Leitgedanken dieser Gremien manifestieren sich in drei Schlagewörtern: „Lokale Orientierung, Ressort übergreifende Vernetzung und Bürgerpartizipation“38. In ihnen spiegelt sich eine generelle steuerungspolitische Wende, mit der zahlreiche in alternativen Bewegungen der 1970er und 1980er Jahre formulierten Prinzipien des Regierens in offizielle Policies Eingang fanden: Der Gedanke, dass Makroprobleme auch ihre je spezifischen lokalen Ursachen haben und entsprechende Lösungen kennen, das Schlagwort der Vernetzung, das auf „ganzheitliche“, umfassende Lösungsansätze zielte, und das demokratietheoretisch aufgeladene Prinzip der Partizipation sollten dergestalt auch in die Kriminalprävention eingehen. Protagonisten sprechen denn auch von einem „basisdemokratischen Ansatz“, der mit dieser Form von Kriminalprävention „möglich und sinnvoll“ sei.39 Solche Gremien verdeutlichen, dass sich die Entwicklungen im Sicherheitsbereich weniger mit dem Begriff der „Privatisierung“, denn mit dem der „Hybridisierung“40 beschreiben lassen; es handelt sich nicht einfach um eine Verschiebung von klassischen hoheitlichen Aufgaben in den privaten Bereich, sondern um die Entstehung von Handlungsfeldern, in denen nicht-staatliche und staatliche Akteure in unterschiedlichen Mischformen in mehr oder weniger kooperativer und vernetzter Form agieren. Programmatik und erhoffte Beteiligung sowie Wirkung scheinen nicht unbedingt zur Deckung zu kommen, wobei sich die kritische Reflexion solcher Kooperationsformen und Präventionsansätze zum einen auf die Pragmatik der Zusammenarbeit und zum anderen auf deren Effekte bezieht. Zu ersterem seien als Stichworte genannt:41 Heterogene Professionsverständnisse, etwa von Polizei und Sozialarbeit, führen häufig zu sehr konträren Problemdeutungen; stark differierende Sicherheitsund Präventionsbegriffe führen zu heterogenen Lösungsansätzen: Ordnungsämter 37 Steffen, Gremien Kommunaler Kriminalprävention, in: Kerner/Marks (Hg.), Internetdokumentation Deutscher Präventionstag, 2004, S. 6. 38 Ebd., S. 4. 39 Feltes (Fußn. 28), S. 106. 40 Vgl. Kreissl (Fußn. 36), S. 276. 41 Vgl. Frevel/Schulze (Fußn. 34), S. 12 ff.

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und Wirtschaftsvertreter orientieren sich eher an situativer Prävention, Justiz und Sozialarbeit eher an langfristiger tertiärer Prävention; ungleiche Ressourcen etwa in puncto Wissen oder Zeit, vor allem auch die Differenz von Profis und Laien erschweren die Zusammenarbeit; insgesamt scheint die bürgerschaftliche Partizipation jenseits geschäftlicher Interessen begrenzt. Das zweite Moment der Kritik bezieht sich auf die Folgen solcher Kooperationen. Als rechtliche Konsequenz wird eine tendenzielle Abschleifung des staatlichen Gewaltmonopols beklagt. Vor allem wird die Rolle der Polizei in solchen Kooperationsformen kritisch beurteilt, da Ordnungsbegriffe in die Aufgabenbestimmung einfließen, und die rechtsstaatliche Bindung von polizeilichem Handeln an Strafverfolgung und an die Abwehr konkreter Gefahren ausgehebelt werden. Die Polizeiarbeit tendiere zu einer nachfragegesteuerten Ausrichtung durch lokale Akteure, insbesondere seitens privater Sicherheitsdienstleister, die zwar keine besonderen Eingriffsbefugnisse haben, aber im Bereich des Gefahrenvorfelds aktiv sind und dort eine gewisse Definitionsmacht erlangen.42 Als soziale Konsequenz wird die Gefahr gesehen, dass über Definitionsfragen von Sicherheitsproblemen und eine generelle Kommerzialisierung von Sicherheit eine soziale und räumliche Ungleichverteilung entstehen könne.43 Als sicherheitspolitische Folge kann in solchen Formen verteilter Sicherheit das Problem „organisierter Unverantwortlichkeit“44 auftreten – was z. B. bei der Love-Parade in Duisburg evident wurde. Und schließlich stellt sich das sicherheitskulturelle, mithin politische, Problem, dass Kriminalprävention unabschließbar ist: wird Jugendarbeit künftig an ihrer Präventionseignung gemessen, soll „Gewaltprävention ab Nabelschnur“ betrieben werden?45 Wo also liegen die Grenzen, wenn es – wie ein Gutachten für den Deutschen Präventionstag kritisiert – „zur öffentlichen Aufgabe geworden [ist], schon die kleinsten Vorzeichen von Bedrohungen wahrzunehmen und zu beschwichtigen, bereits die Kriminalitätsfurcht zu besänftigen und das Sicherheitsgefühl zu stärken – und nicht mehr nur Kriminalität zu verhindern bzw. zu verfolgen. Damit besteht die Gefahr der Herausbildung eines Präventionsstaates: Eines Staates, der seine Bürger, um Sicherheitsrisiken zu minimieren, (massiven) Misstrauens- und Überwachungsmaßnahmen aussetzt, die auf keinem konkreten Verdacht beruhen.“46 So evident der Sinn einer breit aufgestellten, gar basisdemokratischen Kriminalprävention sein mag – gerade unter ihren Vorzeichen tendieren Sicherheitsherrschaft und Lebensformkontrolle ineinander geschrieben zu werden.47 42

So die ausführliche Kritik von Braun (Fußn. 33), S. 11 ff. Ebd.; Wehrheim (Fußn. 21), S. 226 ff. 44 Kreissl (Fußn. 36), S. 276. 45 So fragt: Heinz, Kommunale Kriminalprävention aus wissenschaftlicher Sicht, in: Kerner/Marks (Fußn. 37), S. 16 f. 46 Steffen, Gutachten für den 17. Deutschen Präventionstag, 2012, S. 70 f. 47 Vgl. von Trotha, Ordnungsformen der Gewalt, in: Nedelmann (Hg.), Politische Ordnungsformen im Wandel, 1995, S. 129. 43

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V. Technisierung von Sicherheit: Video und Raumgestaltung Prävention setzt nicht nur an den Lebensumständen von (potentiellen) Delinquenten an, sie kann sich ebenso auf die situativen Umstände einer Tat richten. Die „Broken Windows-Theorie“ rückt diese Form der Prävention ins Zentrum, in ihr spiegelt sich der Aufstieg von Rational-Choice-Konzepten in der Kriminologie wider und sie entbehrt auch nicht alltagstheoretischer Plausibilität („Gelegenheit macht Diebe“). Die Steigerung situativer Kontrolle in Städten wird vor allem mit zwei Formen von Technisierung verknüpft: mit der Überwachung des öffentlichen Raums durch Videosysteme und mit der kriminalpräventiven Gestaltung von Räumen. 1. Formale Kontrolle per Videoüberwachung Während die Technisierung sozialer Kontrolle durch Videoüberwachung in Banken, Tankstellen, Bahnhöfen, Flughäfen, Stadien, Einkaufszentren und vielen anderen Räumen mit Publikumsverkehr zu einer weit verbreiteten, kaum mehr hinterfragten Praxis geworden ist, gilt dies für die Überwachung des öffentlichen Raums nicht. Offizielle Projekte polizeilicher Videoüberwachung zur Kriminalitätsbekämpfung und -prävention wurden in Deutschland ebenfalls im Rahmen der kriminalpräventiven Wende in den 1990er Jahren gestartet. Im Vergleich zu den USA und Großbritannien besteht in Deutschland allerdings ein weitaus ausgedehnterer Schutz der Privatsphäre im öffentlichen Raum, Anforderungen an die Installationen sind entsprechend restriktiver, die Verbreitung von Videosystemen deutlich geringer.48 Möglicherweise sind Videokameras die „sichtbarsten Symbole umfassender Überwachung“49 und daher nach wie vor eines der prominentesten Themen in der öffentlichen Diskussion um das Verhältnis von Privatsphäre und Kontrolltechnologien. Die Virulenz der Diskussion hingegen scheint eher in strukturellen Bedingungen der Technisierung von Sicherheit zu liegen. Drei Momente seien hier knapp skizziert. Da ist zunächst die Frage nach der Effizienz von Videoüberwachungen zur Bekämpfung von Kriminalität. Evaluationsstudien deuten darauf hin, dass lediglich für bestimmte Deliktarten ein Präventionseffekt eintreten kann, entscheidend dafür aber nicht der Einsatz von Videobeobachtung als solcher ist, sondern die Eigenschaften eines technischen und organisatorischen Gesamtsettings, das zahlreiche Komponenten beinhaltet, die von der Wahrnehmbarkeit der Maßnahme, Arbeitsweisen bei der Monitorbeobachtung bis zur Verbindung von Beobachtung und lokaler Intervention reichen. Nicht nur die präventive Wirkung, überschätzt wird in der Regel auch die Bedeutung von Videoaufzeichnungen für die Strafverfolgung, 48 Vgl. Gras, Überwachungsgesellschaft, in: Hempel et al. (Hg.), Bild – Raum – Kontrolle, 2005, S. 293. In einer Umfrage bei Ordnungsämtern und Stadtplanung wird Videoüberwachung lediglich von 20 % bzw. 35 % als eingesetzte Sicherheitsmaßnahme genannt; vgl. Floeting/Seidel-Schulze (Fußn. 10), S. 12 f. 49 Schaar, Ende der Privatsphäre, 2007, S. 59.

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deren Grenzen u. a. in der oft mangelhaften Bildqualität oder einem exorbitanten Suchaufwand im vorhandenen Bildmaterial liegen.50 Gerade weil generell kein eindeutig positiver Effekt, aber auch keine generelle Wirkungslosigkeit feststellbar ist, kann jede einzelne Kamerainstallation umstritten sein. Ein zweites Bewertungsproblem ist empirisch noch schwieriger zu fassen als die Präventionswirkung: Städtisches Leben, das unterscheidet es eben vom Dorf, ist auch von der Anonymität sozialer Beziehungen geprägt, Videoüberwachung tendiert dazu, diese Anonymität auszuhöhlen. Wenn diese Anonymität nun ausgehöhlt werde, Videoüberwachung das Gefühl vermittle, beobachtet zu werden, führe dies in der Folge zu Verunsicherung und zu angepasstem Verhalten – so die Vermutung, die auch in die Rechtsprechung zur Betriebserlaubnis hineinwirkt. Wie tief nun aber dieser Eingriff ins öffentliche Leben tatsächlich wirkt, wird umstritten bleiben. Zusätzliche Virulenz gewinnt diese Frage vor allem deshalb, weil die Sicherheitstechnologie selbst spezifische Unsicherheiten mit sich bringt: im Zuge der Digitalisierung der Aufzeichnungen lassen sich Daten ohne Aufwand dauerhaft speichern, neue Formen elektronischer Auswertung sind absehbar, neue Identifikationsmöglichkeiten (biometrische Gesichtserkennung) und neue Formen der Vernetzung (ubiquitous computing) in der Entwicklung. Die Aktualität des Videoeinsatzes weist insofern über sich hinaus, die Potentialität zukünftiger Nutzungsoptionen – inklusive möglichen illegalen Gebrauchs – ist digitalen Systemen eingeschrieben. Die Erwartungshaltung ist folglich in beide Richtungen enorm steigerbar: sowohl was Sicherheiterwartungen an die Präventionswirkung wie Verunsicherung durch die Eingriffstiefe ins öffentliche Leben angeht. 2. Informelle Kontrolle: Sicherheit und Raumgestaltung In Deutschland scheint Kriminalitätsfurcht in den 1980er und 1990er Jahren zum expliziten Thema der Stadtplanung erst geworden zu sein als Gleichstellungsbeauftragte eine unzureichende Berücksichtigung der Belange von Frauen einklagten.51 Der Begriff „Angstraum“ zog in die Stadtplanung ein und damit die Frage, wie sich ihre Entstehung verhindern lässt. Ein Grundgedanke, auf den sich gegenwärtige Konzeptionen einer kriminalpräventiven Gestaltung von Plätzen und Gebäuden, teils auch von ganzen Vierteln beziehen, wurde von Jane Jacobs Kritik an der amerikanischen Stadtplanung der 1950er und 60er Jahre formuliert:52 Sicherheit resultiere im Wesentlichen aus informeller Kontrolle, daraus, dass das Leben auf der Straße von vielen Leuten beobachtet 50 Vgl. Bornewasser, Evaluation der Videoüberwachung, in: Hempel (Fußn. 48), S. 235; Norris, Vom Persönlichen zum Digitalen, in: Hempel (Fußn. 48), S. 360 (372 ff.); Kammer, Bilder der Überwachung, 2008, S. 73 ff. 51 So zumindest beschreibt dies: Schubert, Sicherheit als Thema der Stadtgestaltung, in: ders. (Hg.), Sicherheit durch Stadtgestaltung, 2005, S. 13 (29 f.). 52 Jacobs, The Death and Life of Great American Cities, 1961.

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werde. Jacobs verband soziale Kontrolle mit der Belebtheit von Stadtvierteln und mit einer sichtbaren Verbindung des Lebens auf der Straße mit dem in den Häusern. Davon ausgehend wurden in der Stadtplanung Konzepte ausgearbeitet, Sicherheitsaspekte in Gebäude- und Quartierstrukturen zu verankern.53 Oscar Newman setzte in seinen Schriften zum „defensible space“ von 1972 und 1996 im Wesentlichen darauf, dass Abgrenzungen und Markierungen eine symbolische Aneignung und Verantwortlichkeit für den privaten und den öffentlichen Raum der Gemeinde entstehen ließen, dass die architektonische Gestaltung Einsehbarkeit und mithin soziale Kontrolle ermögliche, und dass die Struktur ein positives Image erzeuge, als Anreiz, um Verfall und Vermüllung entgegen zu wirken. Diese Überlegungen sind inzwischen mit dem Konzept „Crime Prevention Through Environmental Design“ (CPTED) weiter entwickelt worden. Neben detaillierten Vorschlägen zur konkreten Baugestaltung um Sichtbarkeit zu erzeugen, ist nun über Newman hinausgehend vorgesehen, durch Raumgestaltungen auch konkrete Nutzungsformen und Verhaltensweisen vorzugeben. Von Jacobs zu CPTED – so Jan Wehrheims Analyse – verschieben sich die Betonungen in signifikanter Weise. Wo bei Jacobs die heterogene soziale und funktionale Nutzung betont wurde, dominieren nun Homogenitätsvorstellungen von Verhalten und Nutzung. Damit verschiebt sich auch der Modus sozialer Kontrolle: wo die informelle Kontrolle aller – der Fremden und der Anwohner – den Raum dominierten, besteht jetzt eine asymmetrische Relation zwischen Anwohnern und Nicht-Dazugehörigen, die auch durch Zugangsbarrieren außen vor gehalten werden. Sicherheit in die Planung einzubinden, kann folglich in verschiedenen Modi ausgelegt werden: an einem Ende würde das Quartier stehen, das sicher ist, weil es rund um die Uhr belebt ist – Freiburg-Rieselfeld etwa wurde auch unter diesen Gesichtspunkten geplant; am anderen Ende steht die „gated community“, die sicher ist, weil sie sozial und räumlich gut abgeschottet und rund um die Uhr bewacht ist. VI. Mega-Events: die Stadt im Zeichen ziviler Sicherheit Mega-Events, Olympische Spiele, Welt- und Europameisterschaften im Fußball oder auch Weltausstellungen sind hochgradig symbolische Angelegenheiten: Sie sind hochgepriesen in der Stadtplanung, weil sie zugleich politische, ökonomische und kulturelle Ereignisse sind. Mega-Events sind kritische Weichenstellungen, an denen global vermittelte städtische Identitäten im Kontext intensiver globaler interurbaner Wettbewerbe neu gebildet werden können. Mega-Events stehen für eine „Festivalisierung der Stadtpolitik“ – also den Trend, Stadtentwicklung über Großveranstaltungen voranzutreiben, wie dies in etwas kleineren Dimensionen etwa mit Love-Parade, Pop-Festivals oder Theaterfestivals betrieben wird.54 In vier Punkten lässt sich am Beispiel von Mega-Events skizzieren, wie sich neue Anforderungen zi53 Ich orientiere mich hier an der pointierten Beschreibung von Wehrheim (Fußn. 21), S. 108 ff.; vgl. auch Schubert (Fußn. 51). 54 Häußermann/Siebel (Hg.): Festivalisierung der Stadtpolitik, Leviathan Sonderheft 1993.

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viler Sicherheit und die Wende städtischer Sicherheit in den 1990er Jahren ineinander schreiben. Erstens sind Mega-Events einzigartige Medienereignisse – und das macht sie zum attraktiven Ziel für Anschläge. Der Schutz solcher Megaevents wird zu einer vorrangigen Aufgabe nationaler Sicherheit. Eine Journalist schrieb über die Planer der Olympischen Spiele von Sydney 2000, sie hätten alle Notfälle durchgespielt, außer vielleicht einem Nuklearangriff und einem Meteoriteneinschlag. Nach 9/11 wird das erste mit ins Kalkül gezogen. Vor den Spielen von Athen 2004 wurden 211 Versionen von terroristischen Angriffen durchgeplant, von denen 10 als Vollübungen durchgespielt wurden, um möglichst realitätsnah zu erproben, wie man diese verhindern oder wie man im Falle ihres Gelingens darauf reagieren könne.55 Unter den Vorzeichen ziviler Sicherheit werden worst case-Szenarien nicht nur bei Großereignissen, sondern generell zum Ausgangspunkt von Sicherheitsüberlegungen. Wenn Sicherheitsexperten oft kritisieren, dass solche Szenarien aus Kostengründen selten zu Ende gedacht werden, dann spielt dies bei Mega-Events keine Rolle. Solche Spiele werden zum Spielfeld, um die Effekte möglicher Katastrophen durchzuspielen – die Events bewirken mithin auch einen Entwicklungsschub für das Sicherheitsmanagement von Städten. Zweitens wird mit Mega-Events ein Funktionsraum par excellence geschaffen, der das Prinzip Hausordnung auf weite Bereiche ausdehnt. Diese gilt etwa bei Fußballwelt- oder Europameisterschaften – genauer heißt dies z. B. FIFA WM 2006TM oder UEFA EURO 2008TM – nicht nur in und um die Stadien, sondern seit der Einführung offizieller public viewing Zonen auch in den Zentren der Veranstaltungsorte. Bewerberländer und Städte müssen Sicherheitskonzepte vorlegen, diese mit den Standards eines privaten Akteurs, eben der FIFA oder der UEFA, abstimmen und sich vertraglich noch auf die Durchsetzung einer Ordnung festlegen, die etwa vorsieht, dass im öffentlichen Erscheinungsbild nur Werbung zugelassener Sponsoren erscheint.56 Das Prinzip Hausordnung findet dergestalt nicht nur im Mikrobereich städtischer Politik, sondern auch im Rahmen nationaler Sicherheit seine Geltung. Drittens sind Mega-Events zugleich Katalysatoren und Experimentierfelder zur Vernetzung von Sicherheitsakteuren, sie sind Anlass, Kooperationen auf und zwischen transnationaler, nationaler und städtischer Ebene zu initiieren und zu erproben. Während der Fußball WM 2006 etwa wurden internationaler Datenaustauch gepflegt, internationale und länderübergreifende polizeiliche Kooperationen und Verwaltungskooperationen initiiert; Sicherheitsbehörden wie Verfassungsschutz, Bundesnachrichtendienst, BKA, Bundespolizei und Justiz übten und erprobten im Vorfeld und während der WM auf allen Ebenen Formen der Zusammenarbeit. Dazu ge55 Boyle/Haggerty, Spectacular Security, in: International Political Sociology 2009, 257 (260 ff.). 56 Vgl. Baasch, Event-driven security policies and spatial control, in: Bennet/Haggerty (Hg.), Security Games, 2011, S. 103; Klauser, Commonalities and specificities in mega-event securitization, in: ebd., S. 120.

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hörte die Integration privater Sicherheitsdienste in und außerhalb der Stadien in das Sicherheitsmanagement, die Unterstützung durch Bundeswehreinheiten zur Vorbereitung für Notfälle wie auch, dass Rettungsdienste neue Methoden übten, um einen eventuellen „Massenanfall von Verletzten“ zu bewältigen – und nicht zu vergessen ist die Einbeziehung der zahlreichen Helfer, die Dienst leisten, um einen ordnungsgemäßen Ablauf des Großereignisses zu gewährleisten. Solche Veranstaltungen – sofern ihre Konzepte aufgehen – leisten einen wesentlichen Beitrag, „,Vernetzung‘ als neue[n] Effektivitätsmythos für die ,innere Sicherheit‘“57 erscheinen zu lassen. Der regulative Sinn klassischer Funktionstrennung, institutioneller Grenzen und klar definierter Eingriffstiefen rückt unter der Maßgabe von Effizienz in den Hintergrund. Davon, dass 9.000 Personen während der WM 2006 zeitweise in Präventivhaft genommen wurden, hat kaum jemand Notiz genommen.58 Viertens sind in technologischer Hinsicht vielfältige spin-off-Effekte von MegaEvents zu verzeichnen. So etwa wurde für die ersten olympischen Spiele nach 9/11, die von Athen 2004, eine Sicherheitsinfrastruktur in Form eines umfassenden Überwachungs- und Informationsnetzwerks, einschließlich biometrischer Ausweissysteme und 1.800 Videosysteme geschaffen. Spezielles Training, während der Spiele gewonnenes Know-how und ultramodernes Equipment sollten die griechische Polizei schlagartig zu einer der am besten gerüsteten avancieren lassen.59 Neben der Mobilisierung von finanziellen Ressourcen eignen sich Mega-Events zur Mobilisierung von Legitimation für Sicherheitsprojekte, die anders eventuell nicht durchsetzbar sind. So etwa werden Videosysteme – wie in Genf anlässlich der Fußballeuropameisterschaft 2008 – dauerhaft installiert, die bis dahin nicht durchgesetzt werden konnten;60 in Peking wurden unter ganz anderen politischen Vorzeichen die Spiele genutzt, um eine nach Zeitungsberichten 300.000 Kameras umfassende Videoüberwachung aufzubauen. In London sollen die olympischen Spiele nicht nur dazu genutzt werden, um das Konzept des „Ring of Steel“ – einer Kombination aus avancierter Kameraüberwachung (mit Gesichtserkennung und Personentracking), bewaffneter Bewachung, Betonbarrieren, druckresistenten Gebäudekonstruktionen, mit dem seit den 1990er Jahren 9/11 Finanz- und Businessdistrikte der Innenstadt abgeschirmt wurden – auf den neuesten technologischen Stand zu bringen. Vielmehr sollen solche Konzepte der Raum-, Bewegungs- und Zugangskontrolle durch Überwachungstechnologie und Design auf weitere Stadtgebiete ausgedehnt werden.61 Unter den Vorzeichen ziviler Sicherheit bilden Mega-Events nicht mehr nur die Ausnahme, die ein exzeptionelles Sicherheitsregime erfordert. Unter der Annahme, 57 Stegmaier/Feltes, ,Vernetzung‘ als neuer Effektivitätsmythos für die ,innere Sicherheit‘, in: APuZ 2007, (12), 18. 58 Eick/Sambale/Töpfer, Kontrollierte Urbanität, in: dies. (Hg.), Kontrollierte Urbanität, 2007, S. 7 (13 f.). 59 Boyle/Haggerty (Fußn. 55), S. 265 f. 60 Klauser (Fußn. 56) S. 131 f. 61 Fussey/Coaffee, Olympic Rings of Steel, in: Bennet/Haggerty (Fußn. 56), S. 20 (42, 45 ff.).

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dass gesellschaftliche Vulnerabilität den worst-case jederzeit auslösen kann, scheinen viel eher die Kontinuitäten bedeutsam, die sich vom Sicherheitsregime der Großereignisse zur alltäglichen urbanen (Un-)Sicherheitsregulation erstrecken. Genau in ihnen zeigt sich, was, und vor allem welche Spannungen die Stadt im Zeichen ziviler Sicherheit charakterisieren.

Öffentliche Ordnung und Grundgesetz Zur verfassungsrechtlichen Einhegung eines rechtsstaatlichen Risikos Von Ralf Poscher, Freiburg Das Interesse am Polizei- und Sicherheitsrecht im weiteren Sinn hat die wissenschaftliche Karriere des Jubilars durchgehend geprägt.1 Gerade in seiner letzten Schaffensdekade hat Thomas Würtenberger mit seinen Arbeiten zum nationalen, europäischen und internationalen Sicherheitsrecht an der Spitze der Forschung gestanden. Er hat Themen behandelt, Forschungsprojekte und Dissertationen betreut, die sich mit Problemen beschäftigt haben, die viele noch gar nicht als solche wahrgenommen hatten. Es zeichnet die fortdauernde wissenschaftliche Neugier des Jubilars aus, dass seine Themen in der Reife seiner Forschungen eher aktueller geworden sind.2 Er kann sich den Themen von großer Aktualität mit systematischer Klarheit, die keine harten Fragen scheut, stellen, weil er den Stoff sowohl historisch als auch von seinen systematischen Grundlagen her durchdrungen hat. So habe ich erste Bekanntschaft mit der polizeirechtlichen Arbeit des Jubilars während Vorarbeiten zu meinem späteren Promotionsprojekt im rheinischen Bonn gemacht. Auch im rheinischen Bonn habe ich das von dem Jubilar mitverantwortete Lehrbuch zum badenwürttembergischen Polizeirecht immer dann herangezogen, wenn ich mich der Grundbegriffe des Polizeirechts vergewissern wollte. Als ein kleiner Tribut an diese frühen Hilfestellungen, die mein eigenes Interesse am Polizei- und Sicherheitsrecht mitbegründet haben, versteht sich der folgende Beitrag, der noch einmal einem der Grundbegriffe des Polizeirechts gilt: der öffentlichen Ordnung.

1 Würtenberger, Polizei- und Ordnungsrecht, 1974; ders., Polizeirecht in Baden-Württemberg, 6. Aufl. 2005 (gem. mit Heckmann/Riggert); ders., Legalität und Legitimität staatlicher Gewaltausübung, in: Polizei-Führungsakademie (Hg.), Polizei im demokratischen Verfassungsstaat – soziale Konflikte und Arbeitskampf, 1986, S. 47 ff.; ders., Polizei- und Ordnungsrecht, in: Achterberg/Püttner (Hg.), Besonderes Verwaltungsrecht, Bd. II 1992, S. 329 ff.; ders., Modernisierung des Polizeirechts als Paradigma für die Entwicklung des Rechtsstaates, GS Kopp, 2007, S. 427 ff.; ders., Sicherheitsarchitektur im Wandel, in: Kugelmann (Hg.), Polizei unter dem Grundgesetz, 2010, S. 73 ff. 2 s. etwa Würtenberger, Das Polizei- und Sicherheitsrecht vor den Herausforderungen des Terrorismus, in: Masing/Jouanjan (Hg.), Terrorismusbekämpfung, Menschenrechtsschutz und Föderation, 2008, S. 27 ff.; ders., Entwicklungslinien eines transnationalen informationellen Polizeirechts, FS Steiner, 2009, S. 948 ff.

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I. Die Ausdifferenzierung der öffentlichen Ordnung als selbständiges Teilschutzgut Das polizeirechtliche Institut der öffentlichen Ordnung hat alles andere als eine Erfolgsgeschichte durchlaufen. Seine Geschichte verläuft vielmehr vom Inbegriff der Polizei zu einem auch heute noch als rechtsstaatlich bedenklich geltenden Teilschutzgut, das von vielen am liebsten in die Historienkammern des Verwaltungsrechts verbannt würde, sich aber trotz aller Anfeindung als fester Bestandteil des Polizei- und Ordnungsrechts in den meisten ordnungsrechtlichen Kodifikationen erhalten hat. 1. Kaiserreich In der Frühzeit der Entwicklung eines rechtsstaatlichen Polizeibegriffs galt die öffentliche Ordnung oft als der Inbegriff der polizeirechtlichen Schutzgüter.3 Bis in die Weimarer Republik hinein wurde sie jedenfalls in der Rechtsprechung des Preußischen Oberverwaltungsgerichts als integraler Bestandteil des Gesamtbegriffs der „öffentlichen Sicherheit und Ordnung“4 gehandelt, der ein einheitliches polizeiliches Schutzgut beschrieb, das den Schutz staatlicher und gesellschaftlicher Normen und öffentlicher und privater Rechtsgüter umfasste.5 Erste in die Richtung der späteren begrifflichen Entwicklung des Schutzgutes weisende Ausführungen wurden von Zeitgenossen in den polizeirechtlichen Ausführungen Otto Mayers gesehen. In seinem Meisterwerk „Deutsches Verwaltungsrecht“ von 1895 richtete Mayer den polizeilichen Schutz gerade an der Gesellschaft aus. Mayer spricht von der Gesellschaft, im Unterschied zum rechtlich verfassten Staat, deren guter Ordnung die Polizei dient. „Unter guter Ordnung des Gemeinwesens, die aufrechterhalten werden soll, verstehen wir also einen allgemeinen Zustand der Gesellschaft, bei welchem die in ihr enthaltenen Kräfte durch Schädlichkeiten, die ihnen bereitet werden, möglichst wenig beeinträchtigt werden.“6 1913 resümiert Walter Jellinek in Bezug auf Mayer: „Seit seiner Darstellung ist die Abhängigkeit der öffentlichen Ordnung von den Anschauungen der Gesellschaft Gemeingut der Wissenschaft.“7 Allerdings zielte Mayer 3 Bluntschli, Allgemeines Staatsrecht, Bd. 2, 5. Aufl. 1876, S. 276; Wolzendorff, PrVBl. 1910/11, 257 (259); weitere Nachweise bei Heuer, Die Generalklausel des preußischen Polizeirechts von 1875 bis zum Polizeiverwaltungsgesetz von 1931, 1988, S. 282; Naas, Die Entstehung des Preußischen Polizeiverwaltungsgesetzes von 1931, 2003, S. 258. 4 So die nach der Rechtsprechungsdurchsicht von Heuer (Fußn. 3), S. 314 bis weit in die Weimarer Republik hinein gebräuchlichste Formulierung der Schutzgüter in den Entscheidungen des Preußischen Oberverwaltungsgerichts, das sie häufig noch in Anlehnung an § 10 II 17 ALR um die öffentliche „Ruhe“ ergänzte. 5 Bluntschli, Allgemeines Staatsrecht, Bd. 2, 5. Aufl. 1876, S. 276; Wolzendorff, PrVBl. 1910/11, 257 (259); von einem „Steigerungsverhältnis“ von öffentlicher Ruhe über öffentliche Sicherheit zu öffentlicher Ordnung spricht Rosin, VerwArch 1895 (3), 249 (316); weitere Nachweise bei Heuer (Fußn. 3), S. 282. 6 O. Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, Bd. 1, 1895, S. 258. 7 W. Jellinek, Gesetz, Gesetzesanwendung und Zweckmässigkeitserwägung, 1913, S. 74.

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nicht auf die Anerkennung gesellschaftlicher Normen als polizeiliches Schutzgut, sondern gerade auf die Notwendigkeit der gesetzlichen Konkretisierung polizeilicher Pflichten. Entsprechend teilte er später die Polizeigüter in reale und ideale ein, wobei er die idealen – u. a. „sittliche und religiöse Anschauungen, Vaterlandsliebe, Treue gegen die geschichtlich überlieferten Ordnungen“8 – für die „Machtmittel des eifrigen Polizeibeamten … keineswegs geeignet“9 erachtete, weil „in diesen Dingen mit täppischem Dreinfahren viel geschadet werden kann.“10 Er sprach sich daher nachdrücklich gegen eine Einbeziehung der idealen Schutzgüter in die polizeilichen Generalermächtigungen und für eine gesetzliche Konkretisierung ihres Schutzes aus.11 Dem Ahnherrn des rechtsstaatlichen Verwaltungsrechts galt die Einbeziehung eines wesentlichen Teils der Schutzgüter, die 1924 von anderen Autoren bereits unter der öffentlichen Ordnung versammelt wurden, als nicht verträglich mit rechtsstaatlichen Grundsätzen. Die Zuordnung der außerrechtlichen Sittenvorstellungen zur öffentlichen Ordnung wurde – soweit ersichtlich – zum ersten Mal 1894 in einem Beitrag von Schilling erwogen. Schilling rekonstruiert darin die Bedeutung der einzelnen Begriffsmerkmale des § 10 II 17 ALR anhand der Materialien zum Preußischen Allgemeinen Landrecht einschließlich der nicht gedruckten handschriftlichen Originale, die ihm im preußischen Justizministerium zugänglich gemacht worden waren. Danach kommt dem in § 10 II 17 ALR aufgeführten Merkmal der öffentlichen Ruhe keine eigenständige Bedeutung zu. Bevor Schilling sich dem historischen Verständnis der beiden anderen Schutzgüter des § 10 II 17 ALR zuwendet, entwickelt er eine begriffliche These, die dem späteren Verständnis vorgreift: „Welche Gegenstände zur ,öffentlichen Sicherheit‘ und welche zur ,öffentlichen Ordnung‘ zu zählen sind, darüber spricht sich das Landrecht nicht aus. Wenn die private Sicherheit in der Abwesenheit von Gefahren für die Rechtsgüter des Einzelnen besteht, so könnte gefolgert werden, besteht die öffentliche Sicherheit in der Abwesenheit von Gefahren für die Rechtsgüter des Staates und der Gesellschaft. Die öffentliche Ordnung würde demnach den Zustand bezeichnen, von welchem die übrigen von der Rechtsordnung unberührt gelassenen Faktoren des öffentlichen Lebens frei von jeder Störung sind.“12 Er verwirft diese Zuordnung jedoch zugunsten einer abweichenden historischen Verwendung der Begriffe, die in den ihm zugänglichen Materialien deutlich belegt sei. Bei der Schaffung des Allgemeinen Landrechts und in der preußischen Verwaltungspraxis habe die Gefahr für die öffentliche Sicherheit jeweils die schwereren und gröberen Gefahren für das Gemeinwesen bezeichnet und die öffentliche Ordnung den minder schweren Fällen gegolten. Ebenso ordnet auch der preußische Oberverwaltungsgerichtsrat Genzmer noch 1905 die Begriffe zu: „Öffentliche Sicherheit und 8

O. Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, Bd. 1, 3. Aufl. 1924, S. 214. Ebd. S. 215. 10 Ebd. 11 Ebd. 215 f. 12 Schilling, VerwArch 1894 (2), 475 (515 f.). 9

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Ordnung sind keine Gegensätze. Sie unterscheiden sich nur durch die größere oder geringere Erheblichkeit der Gegenstände, auf die sich diese Begriffe beziehen, für das Gemeinwesen und die Gesellschaft.“13 Historisch zielte die Unterscheidung zwischen öffentlicher Sicherheit und Ordnung danach auf eine Einteilung mehr und weniger schwerwiegender Gefahren – entfernt ähnlich unserer heutigen Unterscheidung zwischen Straf- und Ordnungswidrigkeiten. Bereits Schilling hatte jedoch auf einen Zusammenhang hingewiesen, der die spätere Begriffsverschiebung erklären könnte. Schilling räumte gegenüber der von ihm verworfenen Zuordnung ein, dass sich regelmäßig – wenn auch nicht notwendig – Gefahren für die öffentliche Sicherheit auf eine drohende Rechtsverletzung bezögen und Gefahren für außerrechtliche Schutzgüter regelmäßig – wenn auch nicht notwendig – die öffentliche Ordnung beträfen.14 Diese typische Zuordnung von Gefahren unterschiedlicher Intensität zu rechtlichen auf der einen und außerrechtlichen Schutzgütern auf der anderen Seite mag am Grund der Bedeutungsverschiebung gelegen haben, die sich bei Schilling andeutet, aber erst Jahre später – soweit ersichtlich – zunächst von Anschütz als zutreffendes Verständnis der öffentlichen Ordnung vertreten wird. In seinem 1910 gehaltenen Vortrag „Die Polizei“ unterscheidet Anschütz zunächst die öffentliche Ordnung als einen Gesamtbegriff für polizeiwidrige Zustände von der öffentlichen Ordnung in ihrem spezifischen Sinn. „Im engsten und spezifischen Sinne … ist ,öffentliche Ordnung‘ … der Inbegriff der Normen, deren Befolgung nach den jeweils herrschenden ethischen und sozialen Anschauungen als Vorbedingung einer gedeihlichen Koexistenz aller mit allen, als Grundlage des Gemeinlebens gilt.“15 Anders als andere Autoren versteht Anschütz die herrschenden ethischen und sozialen Anschauungen nicht wieder als Inbegriff der polizeilichen Schutzgüter, die eben auch die herrschenden ethischen und sozialen Anschauungen einschließen, die sich in der Rechtsordnung niedergeschlagen haben,16 sondern kontrastiert sie ausdrücklich mit der Rechtsordnung. „Es handelt sich hierbei um Normen, welche über die Gebote und Verbote der Rechtsordnung hinausgehen“17, heißt es im Anschluss an seine Definition. Bei Anschütz findet sich keine Auseinandersetzung mehr mit der von Schilling und Genzmer in Bezug genommenen historischen Begriffsverwendung. Es bleibt mithin unklar, ob die neue Besetzung des Begriffs auf einer bewussten dogmatischen Entscheidung für eine trennschärfere Systematisierung der Schutzgüter beruht oder auf einer ahistorischen Systematisierung des Fallmaterials, das eben die von Schilling beschriebene Typik aufweist. Auch wenn sich ein einheitliches Verständnis der öffentlichen Ordnung als Teilschutzgut der Polizei noch bis weit in die Weimarer Republik hinein weder in der Literatur noch in der Rechtsprechung herausbilden sollte, gewann der Gedanke, 13

Genzmer, Die Polizei, 1905, S. 4. Ebd. S. 516. 15 Anschütz, Die Polizei, 1910, S. 17. 16 Wolzendorff, Der Polizeigedanke des modernen Staats, 1918, S. 197 f. 17 Anschütz, Die Polizei, 1910, S. 17.

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dass sie sich auf die außerrechtlichen Normen bezieht, doch allmählich den Vorrang.18 Umstritten blieb der Bezug auf die gesellschaftlichen Vorstellungen von den Vorbedingungen einer gedeihlichen Koexistenz nicht zuletzt, weil er wohlfahrtsstaatliche Befürchtungen weckte. Es schien, als würde der wohlfahrtsstaatliche Polizeibegriff, den man über die Beschränkung der Aufgaben der Polizei auf die Gefahrenabwehr zu überwinden gehofft hatte,19 über die Hintertür des polizeilichen Schutzgutes der öffentlichen Ordnung wieder eingeführt, das die Polizei dann doch wieder ermächtigen würde, ihre Vorstellung von der guten Gesellschaft durchzusetzen.20 Bereits bei ihrer begrifflichen Entwicklung stand die öffentliche Ordnung unter vielfachem rechtsstaatlichem Verdacht. 2. Weimar Dennoch setzte sich die Ausdifferenzierung der öffentlichen Ordnung zu einem selbständigen Teilschutzgut auf der vorgezeichneten Linie fort. In dem von dem damaligen Präsidenten des Preußischen Oberverwaltungsgerichts Bill Drews verfassten Lehrbuch des Polizeirechts von 1927 bezieht sich die öffentlichen Ordnung – ganz in der Linie von Anschütz – auf „den Schutz aller Normen über Handlungen, Unterlassungen und Zustände, deren Befolgung – über die Grenzen des geltenden bürgerlichen, kriminellen oder andern öffentlichen positiven Rechtes hinaus – nach der herrschenden allgemeinen Auffassung zu den unerlässlichen Voraussetzungen gedeihlichen menschlichen und staatsbürgerlichen Zusammenlebens gehört.“21 Da der Entwurf des Preußischen Polizeigesetzes von 1931 wesentlich aus der Feder von Bill Drews stammte,22 überrascht es dann weiter nicht, dass die amtliche Begründung zur Generalklausel die Formulierung nur leicht variiert: „Die Öffentliche Ordnung bedeutet den Inbegriff der Normen, deren Befolgung nach den jeweils herrschenden sozialen und ethischen Anschauungen als unentbehrliche Voraussetzung für ein gedeihliches Miteinanderleben der innerhalb eines Polizeibezirkes wohnenden Menschen angesehen wird.“23 Damit wurde das auch heute noch geltende Verständnis der öffentlichen Ordnung als Teilschutzgut des Polizeirechts durch den Gesetzgeber anerkannt.

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Zu der Entwicklung der Diskussion in Literatur und Rechtsprechung i.E. s. Heuer (Fußn. 3) , S. 276 – 372. 19 PrOVG 9, 353 ff.; wieder abgedruckt in DVBl. 1985, 216 ff. 20 Besonders prononciert etwa bei Kitzinger, Die Verhinderung strafbarer Handlungen durch Polizeigewalt, 1913, S. 70; zu den damaligen Kritiken i. E. Heuer (Fußn. 3), S. 288 – 291. 21 Drews, Preußisches Polizeirecht, Allgemeiner Teil, 1927, S. 12. 22 Zur Bedeutung der Entwürfe von Drews für das preußische Polizeiverwaltungsgesetz eingehend Naas (Fußn. 3), S. 116 ff. 23 Zitiert nach Klausener/Kerstiens/Kempner, Das Polizeiverwaltungsgesetz vom 1. Juni 1931, 1932, S. 70.

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3. Nationalsozialismus Zur Diskreditierung der öffentlichen Ordnung hat dann besonders ihr Einsatz zur Umsetzung der nationalsozialistischen Ideologie bereits in den Jahren unmittelbar nach dem Ende der Republik und in den Händen derjenigen beigetragen, die kurz zuvor noch als Garanten eines rechtsstaatlichen Polizeirechts galten. Paradigmatisch steht dafür die unter dem Vorsitz von Bill Drews24 getroffene Entscheidung des Preußischen Oberverwaltungsgerichts zu Damenboxkämpfen vom 9. 11. 1933. Hatte dasselbe Gericht noch im Herbst 1932 lediglich Anforderungen an die konkrete Ausführung der Kämpfe gestellt,25 führte es nur wenige Monate später zur Rechtfertigung eines grundsätzlichen Verbots an: „Inzwischen hat mit dem Durchbruch der nationalen Revolution ein gewaltiger innerer Umschwung stattgefunden, der sich u. a. gerade auf die Begriffe von öffentlicher Ordnung, von öffentlichem Anstand und öffentlicher Sittlichkeit erstreckt, und in den Anschauungen über Bestimmung und Betätigung der Frau einen Wandel bewirkt, wie er in der Entwicklung des deutschen Wesens selten erlebt worden ist. Nach diesen veränderten Anschauungen ist es mit den Wesenseigentümlichkeiten der Frau, ihrer Stellung und ihrer Würde innerhalb der Volksgemeinschaft unvereinbar, wenn zur Befriedigung der Schaulust in öffentlichen Lokalen weibliche Personen auftreten, die im Kampfe aufeinander losschlagen und sich gegenseitig Verletzungen beizubringen suchen. Bei Boxkämpfen zwischen Männern liegt die Sache anders; denn mit der Natur des Mannes ist die wechselseitige Erprobung von Mut und Körperkraft im Faustkampf selbst dann noch vereinbar, wenn sie in der Form einer Varietédarbietung erfolgt und deshalb, sportlich betrachtet, ohne Wert ist.“26 Knapper formuliert das Gericht dann in einem Leitsatz zu einer Entscheidung zur öffentlichen Ordnung aus dem Jahr 1934: „Die durch die nationale Revolution geschaffene Rechtslage gibt dem Richter nicht die Befugnis, von dem geschriebenen Rechte abzuweichen. Wohl aber fordert die Anwendung der sog. Generalklauseln eine Auslegung im Sinne des herrschenden Rechtsbewußtseins, d. h. im Sinne der nationalsozialistischen Weltanschauung“.27 Das Gericht berief sich dabei auf Carl Schmitt, der bereits im Dezember 1933 in einem Leitartikel für die Juristische Wochenschrift „Neue Leitsätze für die Rechtspraxis“ formuliert hatte. Leitsatz 4 sah vor: „Für die Anwendung und Handhabung der Generalklauseln durch den Richter, Anwalt, Rechtspfleger oder Rechtslehrer sind die Grundsätze des Nationalsozialismus unmittelbar und ausschließlich maßge-

24 Drews war von 1921 – 1937 Präsident des Gerichts und Vorsitzender des 3. Senats, von dem die Entscheidung stammt, siehe Götz, Polizei und Polizeirecht, in: Jeserich/Pohl/v. Unruh (Hg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, 1985, S. 397 (417). 25 s. den entsprechenden Hinweis in PrOVGE 91, 139 (140). 26 PrOVGE 91, 139 (140 f.). 27 PrOVG, RVBl. 1934, 286; s. a. SächsOVG, Fischers Zeitschrift für Verwaltungsrecht 1935, 67 f.: Wandel der Anschauungen gegenüber Kondomautomaten; weitere Entscheidungen bei Schwegel, Der Polizeibegriff im NS-Staat, 2005, S. 139 ff.

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bend.“28 In der Erläuterung geht Schmitt dann auch ausdrücklich auf die polizeiliche Generalklausel ein. „Im deutschen Staat der Gegenwart ist die nationalsozialistische Bewegung führend. Von ihren Grundsätzen aus muss daher bestimmt werden, was … öffentliche Sicherheit und Ordnung usw. sind. Jeder Anwendungsfall dieser Begriffe hat sich daher an der Hand nationalsozialistischer Grundsätze auszuweisen und ist unter nationalsozialistischen Gesichtspunkten zu prüfen.“29 In der ihm eigenen Perfidie mahnt Schmitt die Richter vor der Missachtung der richterlichen Unabhängigkeit und des Rechtsgehorsams, die gerade in dem unbedingten Gehorsam gegenüber nationalsozialistischen Grundsätzen bestünde: „Gegenüber den herrschend nationalsozialistischen Anschauungen des deutschen Volkes andere, ihnen fremde oder gar feindliche Anschauungen geltend zu machen, wäre subjektive Willkür … Es würde die Voraussetzung und Grundlage der richterlichen Unabhängigkeit, die Rechts- und Gesetzesgebundenheit des Richters, gefährden und zerstören.“ Es dürfte wohl zur Diskreditierung der öffentlichen Ordnung beigetragen haben, dass dem Argument Schmitts für die öffentliche Ordnung, die auf die jeweils herrschenden sozialen Anschauungen abstellt, – anders als für weniger volatile Tatbestände – eine gewisse systematische Stimmigkeit nicht abgesprochen werden kann. II. Öffentliche Ordnung zwischen verfassungsrechtlicher Eliminierung und Nobilitierung Die öffentliche Ordnung, die schon im Kaiserreich als wohlfahrtsstaatliche Reminiszenz beargwöhnt wurde, hatte ihren rechtsstaatlichen Kredit im Nationalsozialismus verspielt. Unter dem Grundgesetz wurden dann Ende der 60er Jahre auch Stimmen laut, die ihre Verfassungsmäßigkeit in Frage stellten.30 1. Verfassungswidrigkeit der öffentlichen Ordnung? Den Nachweis der Verfassungswidrigkeit der öffentlichen Ordnung zu führen, war allerdings auch deshalb nicht leicht, weil das Grundgesetz selbst auf die traditionellen polizeilichen Schutzgüter einschließlich der öffentlichen Ordnung in Bezug nimmt.31 So bekannte sich denn auch das Bundesverfassungsgericht bereits früh zur Verfassungsmäßigkeit der polizeilichen Generalklausel,32 die gerade auch die öffentliche Ordnung umschließt. Zwar sind damit die Stimmen, die von der Ver-

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Schmitt, JW 1933, 2793 (2794). Ebd. 30 Denninger, Polizei in der freiheitlichen Demokratie, 1968, S. 26 ff.; Götz, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, 1970, S. 42 ff. 31 Art. 13 Abs. 7 GG; Art. 35 Abs. 2 GG. 32 BVerfGE 14, 245 (253); 54, 143 (144 f.). 29

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fassungswidrigkeit der öffentlichen Ordnung ausgehen, nicht ganz verstummt,33 und auch das Bundesverfassungsgericht hat besonders eingriffsintensive Maßnahmen wie etwa Versammlungsverbote für unzulässig erachtet, wenn sie lediglich auf das Schutzgut der öffentlichen Ordnung gestützt werden können.34 Die verfassungsrechtlichen Bedenken haben das Fortleben der öffentlichen Ordnung in den Polizei- und Ordnungsgesetzen jedoch kaum beeinflusst. Selbst dort, wo – wie etwa in NordrheinWestfalen – die öffentliche Ordnung aus den Schutzgütern der polizeilichen Generalklausel – zum Teil auch nur zeitweise – herausgenommen wurde,35 lebte sie in den Ordnungsgesetzen36 oder jedenfalls in dem bundesgesetzlichen Tatbestand des „groben Unfugs“37 fort, der es zu einer Ordnungswidrigkeit erklärt, wenn jemand „eine grob ungehörige Handlung vornimmt, die geeignet ist, die Allgemeinheit zu belästigen oder zu gefährden und die öffentliche Ordnung zu beeinträchtigen“. Ganz ernst hat es auch der Gesetzgeber mit der Abschaffung der öffentlichen Ordnung nie gemeint. 2. Konstitutionalisierung der öffentlichen Ordnung? Das rechtsstaatlich schlechte Gewissen, das sich mit dem Tatbestand der öffentlichen Ordnung verbindet, konnte letztlich nicht erfolgreich dadurch bewältigt werden, dass der Tatbestand kraft Verfassungsrecht oder durch positiv-rechtliche Setzung aufgehoben wurde. Eine dritte Strategie setzte daher nicht auf Eliminierung der öffentlichen Ordnung, sondern auf ihre verfassungsrechtliche Nobilitierung. Nach dieser Strategie sollen die Normen und Werte, auf die sich die öffentliche Ordnung bezieht, verfassungsrechtlich imprägniert werden. Mit der öffentlichen Ordnung sollen danach in erster Linie diejenigen Werte und Normen geschützt werden, die besonders im Grundrechtskatalog der Verfassung ihren Ausdruck gefunden haben. Das Schutzgut der öffentlichen Ordnung schützt danach besonders die Menschenwürde, die Diskriminierungsverbote und andere bedeutende Grundrechtspositionen, besonders aus dem Umkreis des allgemeinen Persönlichkeitsrechts.38 Die öffentliche Ordnung soll gleichsam konstitutionalisiert werden. Abgesehen davon, dass die verfassungsrechtliche Veredelung der öffentlichen Ordnung schlicht eine Umdefinition des Schutzgutes bedeutet, ist der Vorschlag 33 Kappeler, Öffentliche Sicherheit durch Ordnung, 2001, S. 129 ff., 139; Nolte, NordÖR 1999, 52 (53 ff.); Waechter, NVwZ 1997, 729 (730 f.); Götz, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, 13. Aufl. 2008, § 5 Rn. 4. 34 BVerfGE 69, 315 (353). 35 So bei §§ 1 Abs. 1, 8 Abs. 1 PolG NW: Streichung der öffentlichen Ordnung durch Gesetz vom 07. 02. 1990 (GV NW S. 46) und Wiedereinführung durch Gesetz vom 09. 02. 2010 (GV NRW S. 132); gestrichen in §§ 162 ff. LVwG SH. 36 §§ 1 Abs. 1, 14 Abs. 1 OBG NW. 37 § 118 Abs. 1 OWiG. 38 OVG Münster, DVBl. 2001, 584; Franßen, Der Einfluß des Verfassungsrechts auf die Auslegung der polizei- und ordnungsrechtlichen Generalklausel, FG BVerwG, 1978, 201 (204 ff.); Hill, DVBl. 1985, 88 (96).

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auch systematisch nicht stimmig und birgt erhebliche verfassungsrechtliche Risiken.39 Die in Bezug genommenen Grundrechtspositionen sind regelmäßig keine, die den Adressaten polizeirechtlicher Maßnahmen binden, sondern sich vielmehr an die staatliche Gewalt und damit besonders auch an die Polizei richten. Grundrechtliche Bindungen staatlicher Gewalt werden so nicht nur in Bindungen der Grundrechtsträger umgedeutet, sondern in Umkehrung ihrer Schutzrichtung über die öffentliche Ordnung als Eingriffsermächtigungen zu Lasten der Grundrechtsträger fruchtbar gemacht. Statt die Konkurrenz widerstreitender Grundrechtspositionen unter Wahrung des ausdifferenzierten Systems der grundrechtlichen Gesetzesvorbehalte durch den Gesetzgeber auszutarieren, erhält die Polizei so die Möglichkeit, unter Berufung auf den Schutz von Grundrechtspositionen den Ausgleich unter Umgehung des Gesetzgebers unmittelbar vorzunehmen. Käme den Grundrechten eine solche unmittelbar die Rechte der Bürger beschränkende Wirkung tatsächlich zu, wäre zudem bereits die öffentliche Sicherheit als Schutzgut einschlägig, da die Grundrechte unter das Teilschutzgut der Unversehrtheit der Rechtsordnung fielen. Zu Recht hat dieser Versuch der Umdefinition der öffentlichen Ordnung keine nachhaltige Anhängerschaft gefunden.

III. Verfassungsrechtliche Einhegung der öffentlichen Ordnung Kann das Grundgesetz einerseits die öffentliche Ordnung nicht eliminieren und andererseits sie auch nicht verfassungsrechtlich nobilitieren, kann ihm aber dennoch eine dritte bedeutende Funktion zukommen, die sich sowohl mit dem traditionellen Verständnis der öffentlichen Ordnung als auch mit einer traditionellen Funktion der Verfassung verträgt. Der Vorschlag, der hier skizziert werden soll, geht dahin, die Rolle des Grundgesetzes als Rahmen und Grenze der öffentlichen Ordnung stärker zu akzentuieren und damit die öffentliche Ordnung verfassungsrechtlich so zu disziplinieren, dass sich die mit ihr verbundenen rechtsstaatlichen Risiken in Grenzen halten lassen. Grundlage eines solchen Verständnisses des Verhältnisses von öffentlicher Ordnung und Grundgesetz ist die Einsicht, dass sich der Staat die sozialen Normen, die er mit der öffentlichen Ordnung unter polizeilichen Schutz stellt, grundrechtlich als Eingriffstatbestände zurechnen lassen muss. Die öffentliche Ordnung nimmt gesellschaftliche Normen als Elemente einer polizeilichen Eingriffsermächtigung in sich auf. Die Tatbestände der in Bezug genommenen gesellschaftlichen Normen werden damit zu Bestandteilen polizeilicher Ermächtigungsgrundlagen für Eingriffe in Grundrechtspositionen. Erklärt eine gesellschaftliche Norm, die den von der öffentlichen Ordnung geforderten sozialen Qualifikationen genügt, ein bestimmtes Verhalten oder einen bestimmten Zustand für unzulässig, so entsprechen dieser sozialen Norm staatliche Normen, die eben dieses Verhalten oder diesen Zustand zum An39

Eine ausführliche Kritik bei Störmer, DV 1997, 233 (244 ff., bes. 245 und 250).

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knüpfungspunkt für freiheitsverkürzende polizeiliche Maßnahmen machen. Die staatlichen Normen, die die sozialen Ordnungsmaßstäbe integriert haben, unterliegen wie alle staatlichen Eingriffsnormen den verfassungsrechtlichen Bindungen. Entsprechend wurde schon in den 60er Jahren darauf hingewiesen, dass die öffentliche Ordnung nicht verbieten könne, was durch Grundrechte erlaubt werde.40 Zum Ausdruck kommt dieses Verständnis in neueren Definitionen des Schutzguts der öffentlichen Ordnung, die die Grenzen der Verfassung in die traditionelle Formulierung aufnehmen. Erstmals findet sich die Integration der verfassungsrechtlichen Bindungen in die Definition des Begriffs der öffentlichen Ordnung im Zuge der Neufassungen der Polizeigesetze nach der Wiedervereinigung. Diese Generation der Polizeigesetze ging zum Teil dazu über, Legaldefinitionen polizeirechtlicher Grundbegriffe nicht nur wie beim Preußischen Polizeiverwaltungsgesetz in die Gesetzesbegründung, sondern in das Gesetz selbst aufzunehmen.41 In Sachsen-Anhalt erhielt das Polizeigesetz so 1991 eine Bestimmung, die unter anderem auch den Begriff der öffentlichen Ordnung definierte. Nach der Legaldefinition in § 3 Nr. 2 SOG LSA umfasst die öffentliche Ordnung die „Gesamtheit der im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung liegenden ungeschriebenen Regeln für das Verhalten des Einzelnen in der Öffentlichkeit, deren Beachtung nach den jeweils herrschenden Anschauungen als unerläßliche Voraussetzung eines geordneten staatsbürgerlichen Zusammenlebens betrachtet wird.“ In den Gesetzesberatungen tauchte mehrfach und gerade auch im Zusammenhang mit den Beratungen zur öffentlichen Ordnung das Motiv auf, dass der „Regierungsentwurf dem Verfassungsprinzip Nachdruck verleihen sollte“42. So wurde auch die traditionelle Definition der öffentlichen Ordnung auf einen Vorschlag aus den Reihen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, deren eigener Gesetzentwurf den Verzicht auf das Tatbestandsmerkmal vorsah,43 durch die Version ersetzt, die den Hinweis auf die Grenzen der Verfassung enthält.44 Thüringen folgte dem Beispiel Sachsen-Anhalts 1993.45 In der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts findet sich eine die verfassungsrechtliche Bindung reflektierende Definition erstmals in einer Entscheidung von 2001 zum Versammlungsrecht. „Unter öffentlicher Ordnung wird die Gesamtheit der ungeschriebenen Regeln verstanden, deren Befolgung nach den jeweils herrschenden und mit dem Wertgehalt des Grundgesetzes zu vereinbarenden sozialen und ethischen Anschauungen als unerlässliche Voraussetzung eines geordneten menschlichen Zusammenlebens innerhalb eines bestimmten Gebiets angesehen wird“46. In 40 Schnur, DVBl. 1962, 1 (3 ff.); so auch Friauf, Polizei- und Ordnungsrecht, in: v. Münch (Hg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 1. Aufl. 1969, S. 136 (158). 41 § 3 SOG LSA; § 54 OBG Thür. 42 Landtag Sachsen-Anhalt, APr Aussch INN 25. 09. 1991, S. 6. 43 LT-Drs. 1/719, Entwurf SOG LSA der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, S. 8. 44 Landtag Sachsen-Anhalt, APr Aussch INN 26. 09. 1991, S. 6. 45 § 54 Nr. 2 OBG Thür; Thüringer Landtag, Zuschrift 1/1356 zu Drs. 1/2047, S. 2. 46 BVerfG 1. Senat 1. Kammer, NJW 2001, 2069 (2071).

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späteren Entscheidungen hat das Gericht dann auf diese um den Verfassungsvorbehalt ergänzte Definition der öffentlichen Ordnung wiederholt zurückgegriffen.47 Die Neufassung der Definition der öffentlichen Ordnung wurde auch zunehmend in Lehrbüchern48 und in der instanzgerichtlichen Rechtsprechung49 rezipiert. Was folgt aus der nun auch in die Definition der öffentlichen Ordnung eingegangen Verfassungsbindung? Die verfassungsrechtlichen Bindungen der öffentlichen Ordnung knüpfen an alle diejenigen Elemente der Verfassung an, die auch sonst für staatliche Eingriffsermächtigungen gelten. Jede einzelne Anforderung trägt dazu bei, den Kreis derjenigen sozialen Normen, die für eine Einbeziehung in das Schutzgut der öffentlichen Ordnung in Betracht kommen, ein Stück weit einzuhegen. Dabei darf die verfassungsrechtliche Bindung der öffentlichen Ordnung als Tatbestandsmerkmal staatlicher Eingriffsnormen nicht so verstanden werden, dass auch die sozialen Normen, die einer bestimmten regionalen Gemeinschaft als unerlässlich gelten, an die Verfassung gebunden wären. Die sozialen Normen sind die, die sie eben sind. Welche sozialen Normen in einer Gemeinschaft vorherrschen, ist keine normative, sondern eine faktische Frage. Eine normative Frage ist hingegen, welche sozialen Normen gemessen an den Vorgaben des Grundgesetzes in das Schutzgut der öffentlichen Ordnung eingehen können. Nach dem hier akzentuierten Verständnis schützt die öffentliche Ordnung soziale Normvorstellungen nur, soweit sie den für das staatliche Recht geltenden verfassungsrechtlichen Anforderungen genügen. 1. Vorrang des Gesetzes Eine erste Schranke für die Aufnahme sozialer Normen in das Schutzgut der öffentlichen Ordnung ergibt sich bereits aus dem in Art. 20 Abs. 3 GG festgelegten Vorrang des Gesetzes. Hat der Gesetzgeber entweder positiv durch die rechtliche Anerkennung eines Verhaltens oder negativ durch den Verzicht auf entsprechende Verbotsvorschriften zu erkennen gegeben, dass das Verhalten von der Rechtsordnung als zulässig erachtet wird, so kann diese Entscheidung nicht durch die Aufnahme sozialer Normen in das Schutzgut der öffentlichen Ordnung unterlaufen werden, die dieser gesetzgeberischen Entscheidung entgegenstehen.50 Als Beispiel könnten insoweit soziale Normen über die Unzulässigkeit der Prostitution gelten. Falls sich eine entgegenstehende gesetzliche Wertung nicht bereits aus der Existenz besonderer Ver47 BVerfGE 111, 147 (156); BVerfG 1. Senat 1. Kammer, NVwZ 2004, 90 (91); NVwZ 2008, 671 (673). 48 s. etwa Knemeyer, Polizei- und Ordnungsrecht, 1995, S. 58; Möller/Wilhelm, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, 4. Aufl. 1995, S. 41; Pieroth/Schlink/Kniesel, Polizeiund Ordnungsrecht, 1. Aufl. 2002, § 8 Rn. 46; Würtenberger/Heckmann/Riggert, Polizeirecht in Baden-Württemberg, 5. Aufl. 2002, S. 176. 49 s. etwa VG Münster, Beschluss vom 01. 03. 2012, 1 L 88/12, Rn. 5; VG Sigmaringen, Urteil vom 19. 01. 2011, 1 K 1561/10, Rn. 43; VG Gelsenkirchen, Urteil vom 18. 05. 2010, 14 K 2054/09, Rn. 33; VG Aachen, Urteil vom 14. 01. 2009, 6 K 374/08, Rn. 114. 50 Knemeyer, Polizei- und Ordnungsrecht, 11. Aufl. 2007, S. 76.

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botstatbestände für bestimmte Formen und Umstände der Prostitution ableiten lässt,51 so hat der Gesetzgeber jedenfalls mit dem Gesetz zur Regelung der Rechtsverhältnisse der Prostituierten,52 das Vereinbarungen über die entgeltliche Vornahme sexueller Handlungen rechtlich anerkennt, deutlich gemacht, dass die Prostitution rechtlich nicht mehr als unzulässig gelten soll, soweit nicht besondere Verbotstatbestände greifen. Entsprechendes gilt auch für negative Entscheidungen des Gesetzgebers. So hat das Bundesverwaltungsgericht in seiner Entscheidung zum Verbot von Laserdromen eingehend die parlamentarischen Beratungen zur gesetzlichen Regelung der Frage geprüft und ein Verbot auf der Grundlage der öffentlichen Ordnung nur bestätigt, weil sich dem Abbruch der Beratungen des Gesetzgebers entnehmen ließ, dass er Verbote nicht ablehnte, sondern auf der Grundlage des Polizeirechts für einen Beobachtungszeitraum als ausreichend erachtete.53 Der Vorrang des Gesetzes schließt es aus, dass die öffentliche Ordnung zur Korrektur von positiven oder negativen Entscheidungen des Gesetzgebers herangezogen wird. Angesichts des Ausmaßes der gesetzlichen Verhaltensregelung ergibt sich daraus keine geringe Einschränkung für die Aufnahme sozialer Normen in das Schutzgut der öffentlichen Ordnung. 2. Gesetzes- und Parlamentsvorbehalt Dem schlichten Vorbehalt des Gesetzes, der lediglich verlangt, dass irgendeine gesetzliche Regelung besteht, die zu einem Grundrechtseingriff der Verwaltung ermächtigt, ist durch die gesetzlichen Regelungen genügt, die wie etwa die polizeiliche Generalklausel das Tatbestandsmerkmal der öffentlichen Ordnung in sich aufnehmen. Die Entscheidung, soziale Normen zur Grundlage von polizeilichen Maßnahmen zu machen, hat der Gesetzgeber überall dort getroffen, wo er auf das Merkmal der öffentlichen Ordnung zurückgreift. Dem einfachen Gesetzesvorbehalt ist damit Genüge getan. Schranken für die Aufnahme sozialer Normen in das Schutzgut der öffentlichen Ordnung ergeben sich hingegen aus dem mit dem Wesentlichkeitsgrundsatz verknüpften Parlamentsvorbehalt, nach dem der Gesetzgeber nicht nur überhaupt eine Entscheidung, sondern die wesentlichen, d. h. besonders die für die Grundrechtsausübung wesentlichen, Entscheidungen selbst treffen muss.54 Ebenso wenig wie der Vorrang des Gesetzes darf der Parlamentsvorbehalt durch einen Verweis auf die öffentliche Ordnung unterlaufen werden. Wesentliche Fragen der Grundrechtsausübung dürfen nicht durch den Hinweis auf soziale Normen entschieden 51

s. etwa die Sperrgebietsverordnungen der Landesregierungen nach § 297 EGStGB, etwa in Baden-Württemberg: Verordnung der Landesregierung über das Verbot der Prostitution vom 03. 03. 1976 (GBl. BW S. 290). 52 Gesetz vom 20. 12. 2001, BGBl. I S. 3983. 53 BVerwGE 115, 189 (194 f.). 54 BVerfGE 49, 89 (126); 120, 378 (423 f.).

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werden. Die populistische Legitimation durch eine überwiegende Mehrheitsansicht kann die parlamentarisch-demokratische nicht ersetzen. Auch wenn sich in einer lokalen oder regionalen Gemeinschaft eine ganz überwiegende Ansicht zur Präimplantationsdiagnostik herausgebildet haben sollte, hätte sie auch vor Erlass des PID-Gesetzes55 nicht herangezogen werden dürfen, um Paaren unter Berufung auf die öffentliche Ordnung entsprechende Untersuchungen polizeilich zu verbieten. Auch der Parlamentsvorbehalt schränkt die praktische Bedeutung der öffentlichen Ordnung erheblich ein. Für die öffentliche Ordnung bleiben lediglich solche sozialen Normen relevant, die Sachverhalten gelten, die entweder schwer typisierbar oder vorhersehbar sind oder Grundrechtspositionen nur unwesentlich berühren. Der Parlamentsvorbehalt erklärt, warum die Kasuistik der öffentlichen Ordnung in der forensischen Praxis in weiten Teilen den Eindruck eines juristischen Kuriositätenkabinetts vermittelt, in dem der Zwergenweitwurf56 neben dem Nacktradeln57 und anderen Fällen des Exotischen und Obskuranten steht. Nicht zuletzt aufgrund des Parlamentsvorbehalts kommt der öffentlichen Ordnung lediglich eine Reservefunktion58 unter den polizeilichen Schutzgütern zu. Bereits aus verfassungsrechtlichen Gründen eignet sich die öffentliche Ordnung nicht zur Bewältigung gesellschaftspolitisch bedeutender Konflikte. 3. Bestimmtheitsgrundsatz Ganz ähnlich wie der Parlamentsvorbehalt wirkt sich der aus dem Rechtsstaatgebot in Art. 20 Abs. 3 GG abgeleitete Bestimmtheitsgrundsatz aus. Auch die rechtsstaatlichen Bestimmtheitsanforderungen haben nicht die Verfassungswidrigkeit des Tatbestandsmerkmals der öffentlichen Ordnung zur Folge. Zum einen ist die Zulässigkeit der Verwendung generalklauselartiger Tatbestandsmerkmale für schwer typisierbare Sachverhalte anerkannt;59 zum anderen können die Anforderungen an die Offensichtlichkeit der Sozialnorm, die sich mit ihrer Unterstützung durch die ganz überwiegende Mehrheit und deren Unerlässlichkeitsurteil verbindet, so angespannt werden, dass die rechtsstaatliche Warnfunktion, die mit dem Bestimmtheitsgrundsatz verknüpft ist, auch durch einen Verweis auf diese Sozialnormen erfüllt werden kann. Der Bestimmtheitsgrundsatz verlangt hingegen ähnlich dem Parlamentsvorbehalt, dass praktisch häufig relevante und gut typisierbare Anknüpfungspunkte für polizeiliche Maßnahmen durch spezielle gesetzliche Regelungen erfasst werden.60 55

Gesetz zur Regelung der Präimplantationsdiagnostik vom 21. 11. 2011, BGBl. I S. 2228. Vgl. VG Neustadt, NVwZ 1993, 98 (99) zu „gute Sitten“ nach GewO. 57 VG Karlsruhe, NJW 2005, 3658 zu § 118 OWiG. 58 Schoch, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Schmidt-Aßmann (Hg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 2005, 2. Kap. Rn. 81. 59 BVerfGE 13, 153 (161); 49, 168 (181). 60 Allgemein zu den Anforderungen des Bestimmtheitsgrundsatzes für den Einsatz von Generalklauseln BVerfGE 8, 274 (325 f.); 22, 330 (345 f.); großzügig für die polizeiliche Generalklausel allerdings BVerwGE 129, 142 (150); zutreffend restriktiver etwa Pieroth/ 56

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4. Grundrechte Während die drei zunächst genannten verfassungsrechtlichen Grundsätze eher formale Grenzen für die Aufnahme von Sozialnormen in die polizeilichen Schutzgüter statuieren, ergeben sich aus den Grundrechten materielle Inkorporationsschranken. Die sozialen Normen, die für eine Aufnahme in das Schutzgut der öffentlichen Ordnung in Betracht kommen, dürfen mit ihren Regelungsinhalten auch nicht gegen grundrechtliche Vorgaben verstoßen. Dabei geht es nicht darum, dass die Gesellschaft bei der Entwicklung der gesellschaftlichen Normen des Zusammenlebens an die Grundrechte gebunden wäre. In einer religiös noch homogenen ländlichen Gemeinschaft mag es etwa immer noch als anstößig gelten, über Konfessions- oder jedenfalls über Religionsgrenzen hinweg romantische Beziehungen zu unterhalten. Entsprechende soziale Normen wären nicht etwa „verfassungswidrig“. Die Grundrechte sagen schlicht nichts dazu, welchen Inhalt soziale Normen annehmen dürfen. Eine entsprechende soziale Norm könnte jedoch auch dann nicht in das Schutzgut der öffentlichen Ordnung eingehen, wenn sie den herrschenden Anschauungen entspräche und für „unerlässlich“ für das Zusammenleben der Gemeinschaft erachtet würde. Mit der Aufnahme in das Schutzgut der öffentlichen Ordnung würde sie Element staatlicher Rechtsnormen, die sich an Art. 3 Abs. 3 GG messen lassen müssen. Dieser Gedanke liegt auch der oben bereits erwähnten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zugrunde, die die öffentliche Ordnung unter die Qualifikation der Vereinbarkeit mit dem „Wertgehalt des Grundgesetzes“61 stellt. In dem Fall stand die Frage zur Entscheidung, ob eine Versammlung wegen zu erwartender rechtsextremistischer Meinungsäußerungen mit antisemitischer Tendenz unter Verweis auf die öffentliche Ordnung auch dann verboten werden kann, wenn die Äußerungen die Schwelle der Strafbarkeit nicht erreichen.62 Das Gericht geht der Frage nicht weiter nach, ob eine entsprechende Sozialnorm tatsächlich besteht. Es ist jedoch keineswegs unwahrscheinlich, dass rechtsextremistische Meinungsäußerungen mit antisemitischer Tendenz der ganz überwiegenden Mehrheit angesichts der einmaligen antisemitischen Verbrechen im Nationalsozialismus als unvereinbar mit den unerlässlichen Voraussetzung des staatsbürgerlichen Zusammenlebens gelten.63 Dennoch kann eine entsprechende soziale Norm keinen Eingang in das Schutzgut der öffentlichen Ordnung finden. Die in Art. 5 Abs. 2 GG geforderte Allgemeinheit des Gesetzes verbietet grundsätzlich Beschränkungen der Meinungsfreiheit, die sich allein gegen den meinungsmäßigen Inhalt einer Meinungsäußerung richten. „Das Schlink/Kniesel, Polizei- und Ordnungsrecht, 6. Aufl. 2010, § 7 Rn. 18 ff.; vgl. auch noch BVerwGE 115, 189 (194). 61 BVerfGE 111, 147 (156). 62 BVerfGE 111, 147 (154). 63 Soweit die Billigung der nationalsozialistischen Gewalttaten betroffen ist, erachtet das Bundesverfassungsgericht dies sogar als einen verfassungsrechtlich sanktionierten negativen Gründungskonsens der Bundesrepublik, BVerfGE 124, 300 (328 f.), der sogar eine Ausnahme vom Gebot der Meinungsneutralität rechtfertigen soll.

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Grundrecht der Meinungsfreiheit ist ein Recht auch zum Schutz von Minderheiten; seine Ausübung darf nicht allgemein und ohne eine tatbestandliche Eingrenzung, die mit dem Schutzzweck des Grundrechts übereinstimmt, unter den Vorbehalt gestellt werden, dass die geäußerten Meinungsinhalte herrschenden sozialen oder ethischen Auffassungen nicht widersprechen.“64 Die Vorgaben des Art. 5 Abs. 2 GG schränken den Kreis derjenigen sozialen Normen ein, die Eingang in das Schutzgut der öffentlichen Ordnung finden können. Gleiches gilt für alle anderen Vorgaben der Grundrechte, da die sozialen Normen, die die öffentliche Ordnung in Bezug nimmt, am Maßstab der Verfassung zu messen sind, soweit sie als Anknüpfungspunkt für polizei- oder ordnungsrechtliche Maßnahmen dienen. 5. Verhältnismäßigkeit Hervorzuheben bleibt letztlich noch der verfassungsrechtliche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der auch Eingang in die einfachrechtlichen Kodifikationen des Polizei- und Ordnungsrechts gefunden hat. Hier gilt letztlich nichts anderes als für die sonstigen materiellen Vorgaben des Grundgesetzes. Soziale Normen sind zwar nicht an den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gebunden, aber sie können nur soweit Eingang in die öffentliche Ordnung finden, wie sie die Verhältnismäßigkeit der Mittel wahren. Als Beispiel kann hier wieder die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Versammlungsrecht dienen. Bereits in seiner Brokdorf-Entscheidung hatte das Bundesverfassungsgericht darauf hingewiesen, dass Versammlungsverbote sich regelmäßig nicht auf die öffentliche Ordnung stützen lassen.65 Bestätigt hat das Gericht diese Rechtsprechung besonders in seinen Entscheidungen, die Verbote rechtsextremistischer Versammlungen betrafen.66 Darf aufgrund der Anforderungen der Allgemeinheit des die Meinungsfreiheit beschränkenden Gesetzes nicht gegen die Meinungsinhalte einer Versammlung vorgegangen werden, so kann ein Verstoß gegen die öffentliche Ordnung regelmäßig nur mit der Art und Weise der Durchführung der Versammlung begründet werden, soweit diese etwa durch implizite Gewaltdrohung oder sonstige illegitime Einschüchterungen versucht, mit nicht meinungsmäßigen Mitteln Einfluss auf den öffentlichen Meinungsbildungsprozess zu nehmen. Insoweit sind aber regelmäßig Auflagen hinsichtlich der Art und Weise der Versammlungsdurchführung möglich, im Allgemeinen ausreichend und damit als mildere Mittel auch einzig zulässig. Die häufig kritisierte Differenzierung zwischen Auflagen und Verbot bei Verstößen gegen die öffentliche Ordnung ergibt sich aus dem Zusammenspiel der von Art. 5 Abs. 2 GG geforderten Meinungsneutralität staatlicher Eingriffe und den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes.67

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BVerfGE 111, 147 (156). BVerfG, NVwZ-RR 2002, 500 (501); NJW 2001, 1409 (1410); NJW 2001, 2076 (2077). 66 BVerfG, NJW 2001, 2069 (2070 f.); NJW 2001, 2075 (2075). 67 Kniesel/Poscher, NJW 2004, 422 (428).

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IV. Resümee Die öffentliche Ordnung spielt in der polizeirechtlichen und forensischen Praxis nur noch eine sehr untergeordnete Rolle. Neben der gesellschaftlichen Pluralisierung der Wertmaßstäbe ist dies zum einen darauf zurückzuführen, dass die umfassende Kodifikation der Rechtsordnung bereits weitgehend alle gesellschaftlich wesentlichen Bereiche erfasst hat. Zum anderen folgt dies aber auch aus dem Verhältnis, in dem das Grundgesetz zur öffentlichen Ordnung steht. Die verfassungsrechtlichen Vorgaben des Vorrangs des Gesetzes, des Parlamentsvorbehalts und des Bestimmtheitsgrundsatzes lassen der öffentlichen Ordnung wenig Raum; sie bleibt bereits aus verfassungsrechtlichen Gründen auf eine Reservefunktion für unvorhergesehene, schwer typisierbare oder gesellschaftlich eher marginale Phänomene beschränkt. Weiter eingeschränkt wird ihre Bedeutung dadurch, dass zwar die Gesellschaft soziale Normen frei von Verfassungsbindungen entwickeln kann, aber nur diejenigen sozialen Normen in das Schutzgut der öffentlichen Ordnung aufgenommen werden können, die auch den materiellen Vorgaben des Grundgesetzes genügen. Durch diese Vorgaben wird die öffentliche Ordnung verfassungsrechtlich so eingehegt, dass es weder ihrer Eliminierung noch ihrer Konstitutionalisierung bedarf, um die rechtsstaatlichen Risiken des Instituts, die schon von den Vorkämpfern für ein rechtsstaatliches Verwaltungsrecht im Kaiserreich geltend gemacht wurden, in Grenzen zu halten. Noch eines zeigt die Betrachtung des Verhältnisses von öffentlicher Ordnung und Grundgesetz. In der Rechtsphilosophie herrscht ein die Diskussionen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dominierender Streit um die Bedeutung außerrechtlicher – besonders moralischer – Normen für das Recht. Während das eine Lager die Unabhängigkeit des Rechts von moralischen Normen betont, bemüht sich das andere Lager, die vielfachen Einflüsse moralischer Normen auf das Recht nachzuweisen. An den Betrachtungen des Verhältnisses von öffentlicher Ordnung und Grundgesetz zeigt sich, dass es sich weitgehend um eine schiefe Fragestellung handelt. Am Beispiel der öffentlichen Ordnung wird vielmehr deutlich, dass selbst dort, wo das Recht explizit gesellschaftliche Normen in das Recht einbezieht, dies immer nur zu den Bedingungen des Rechts erfolgt, das die sozialen Normen nach den Kriterien des Rechts selektiert und modifiziert. So lassen sich Tatbestandsmerkmale wie das der öffentlichen Ordnung zwar einerseits für die These anführen, dass außerrechtliche Normen Einfluss auf das Recht haben; andererseits verändern die sozialen Normen, wenn sie in das Recht eingehen, aber ihren Charakter und werden an die Vorgaben des Rechts so angepasst, dass der Streit darum, ob es sich nun um soziale oder rechtliche Normen handelt, fast müßig erscheint. Wenn außerrechtliche Normen in das Recht eingehen, bleiben sie davon nicht unberührt. Sie wandeln sich nicht nur formal in Recht, sondern unterliegen auch einer inhaltlichen Transformation. Das Recht hat eine dem

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König Midas ähnliche Qualität: Alles, was es berührt, verwandelt sich nicht nur der Form, sondern auch der Substanz nach in Recht.68

68 Dazu i.E. Poscher, The Hand of Midas: When Concepts Turn Legal, or Deflating the Hart-Dworkin Debate, in: Hage/von der Pfordten (Hg.), Concepts in Law, 2009, 99 (103).

„… einfach wieder die Folgerungsweise des Polizeistaates“ Zur Unterscheidung von Aufgaben und Befugnissen im Polizeirecht Von Franz Reimer, Gießen I. Ein Fall … Am 22. April 1880 erschien in der Beilage einer Straßburger Zeitung unter der Überschrift „Ueber das Verhaftungs-Recht“ ein Artikel, in dem ein Rechtsanwalt, offenbar aus Anlass einer Vorladung der Polizeidirektion Straßburg, seine Leser aufforderte: „Folget keiner Einladung der Polizei, Euch in ihre Bureaux zu begeben. Die Polizei hat kein Recht, Euch solche Einladung zukommen zu lassen.“1 Das Landgericht Straßburg verurteilte den Verfasser wie den Herausgeber der Zeitung nach § 110 StGB2 wegen Ungehorsam gegen Gesetze und gegen die von der Obrigkeit innerhalb ihrer Zuständigkeit getroffenen Anordnungen. Das Reichsgericht verwarf die Revision der Angeklagten, indem es die Annahme des Landgerichts rechtfertigte, nach §§ 158, 159, 161 StPO3 sei die Polizei, sobald sie durch eine Anzeige von dem Ver1 Zit. n. RG v. 30. 9. 1880, RGSt. 2, 281 (282) = Juristische Zeitschrift für das Reichsland Elsaß-Lothringen, 1880 (5), 386 (388); Sachverhalt zusammengestellt aus beiden Entscheidungsveröffentlichungen sowie Otto Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, Bd. 1, Leipzig 1895, S. 286 Fußn. 20. 2 „Wer öffentlich vor einer Menschenmenge, oder wer durch Verbreitung oder öffentlichen Anschlag oder öffentliche Ausstellung von Schriften oder anderen Darstellungen zum Ungehorsam gegen Gesetze oder rechtsgültige Verordnungen oder gegen die von der Obrigkeit innerhalb ihrer Zuständigkeit getroffenen Anordnungen auffordert, wird mit Geldstrafe bis zu sechshundert Mark oder mit Gefängniß bis zu zwei Jahren bestraft.“ – Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich v. 15. Mai 1871 ist nach Art I des Einführungsgesetzes zum Strafgesetzbuch für Elsaß-Lothringen v. 30. August 1871 (GB. f. Els.-Lothr. S. 255) zum 1. Oktober 1871 in Kraft getreten. Beide Normen abgedruckt in (und hier zit. n.) Philipp Allfeld, Die Strafgesetzgebung des Deutschen Reichs, Sammlung aller Reichsgesetze strafrechtlichen und strafprozessualen Inhalts mit einem Gesammtregister, München 1900. 3 § 158 StPO: „Sobald die Staatsanwaltschaft durch eine Anzeige oder auf anderem Wege von dem Verdacht einer strafbaren Handlung Kenntniß erhält, hat sie behufs ihrer Entschließung darüber, ob die öffentliche Klage zu erheben sei, den Sachverhalt zu erforschen. Die Staatsanwaltschaft hat nicht blos die zur Belastung, sondern auch die zur Entlastung dienenden Umstände zu ermitteln und für die Erhebung derjenigen Beweise Sorge zu tragen, deren Verlust zu besorgen sei.“ – § 159 StPO: „Zu dem im vorstehenden Paragraphen bezeichneten Zwecke kann die Staatsanwaltschaft von allen öffentlichen Behörden Auskunft verlangen und Ermittelungen jeder Art, mit Ausschluß eidlicher Vernehmungen, entweder selbst vornehmen

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dachte einer strafbaren Handlung Kenntnis erhalte, „berechtigt und verpflichtet, … die strafbaren Handlungen zu erforschen und alle keinen Aufschub gestattenden Anordnungen zu treffen, beziehungsweise Ermittelungen jeder Art vorzunehmen, soweit nicht specielle Gesetzesbestimmungen beschränkend einwirken.“4 Das Reichsgericht begründet dies mit folgenden Worten: „Wenn das Landgericht aus diesem, im wesentlichen der Wortfassung der einschlagenden Bestimmungen der St.P.O. sich anschließenden und zutreffenden Grundsatze die Folgerung ableitet, daß in den Bereich dieses zuständigen Berufskreises der Behörden des Polizeidienstes die Vernehmung von Personen, von denen sie Auskunft zu erhalten zu können glauben … als das natürlichste und sachgemäße Erforschungsmittel gehöre, zur Erfüllung dieses im öffentlichen Interesse gebotenen Zwecks die Polizei auch ermächtigt sein müsse, solche Personen in ihre Bureaux zu ,bestellen, vorzuladen‘, und daß dieser Berechtigung die Verpflichtung der Privaten gegenüberstehe, einer solchen Aufforderung und Ladung Folge zu leisten, der rechtliche Charakter dieser Pflicht als einer gesetzlichen auch dadurch keine Änderung erleide, daß diese Verpflichtung im Gesetze nicht erzwingbar gemacht sei, so ist diese Auffassung in keiner Weise als rechtsirrig zu bezeichnen.“5 Zutreffend habe das Landgericht „erklärt, daß der unter gewissen Voraussetzungen bestehenden gesetzlichen Befugniß der Polizeibehörden, Vorladungen zum Zwecke der polizeilichen Vernehmung zu erlassen, die staatsrechtliche Pflicht zum Erscheinen entspreche. Eine Verletzung der St.P.O. §§ 159 – 161 ist daher nicht erkennbar.“6

Das Reichsgericht akzeptiert also den Schluss des Landgerichts von der strafprozessualen Pflicht der Polizei zu Ermittlungen auf die Ermächtigung zur Vorladung und von ihr auf die Pflicht des Geladenen zum Erscheinen. Dass die Terminologie nicht nur hinsichtlich des Wortes „staatsrechtlich“7, sondern auch im Übrigen („Berechtigung“, „zuständigen Berufskreises“) nicht unserer heutigen Begriffsverwendung entspricht, kann nicht überraschen.8 Bemerkenswert erscheint vielmehr, dass das Gericht eine glasklare Unterscheidung zwischen Ermittlungspflicht, Anordnungsbefugnis und Befolgungspflicht formuliert. oder durch die Behörden und Beamten des Polizei- und Sicherheitsdienstes vornehmen lassen. Die Behörden und Beamten des Polizei- und Sicherheitsdienstes sind verpflichtet, dem Ersuchen oder Auftrage der Staatsanwaltschaft zu genügen.“ – § 161 StPO: „Die Behörden und Beamten des Polizei- und Sicherheitsdienstes haben strafbare Handlungen zu erforschen und alle keinen Aufschub gestattenden Anordnungen zu treffen, um die Verdunkelung der Sache zu verhüten. […]“ (zit. n. Allfeld [Fußn. 2]. 4 RGSt. 2, 281 (282). 5 RGSt. 2, 281 (282 f.) = Jur. Zs. Elsaß-Lothringen 1880 (5), 386 (388). 6 RGSt. 2, 281 (283) = Jur. Zs. Elsaß-Lothringen 1880 (5), 386 (389). 7 Das Wort „staatsrechtlich“ wurde im 19. Jahrhundert zum Teil noch unterminologisch, nämlich auch in Kontexten gebraucht, in denen wir heute von „öffentlich-rechtlich“ oder gar „staatsbürgerlich“ sprechen. 8 Zum zwei Jahre später ergangenen 2. Kreuzbergurteil vgl. Fußn. 39. – Überraschend ist freilich, dass der Begriff der Zuständigkeit in § 110 StGB („innerhalb ihrer Zuständigkeit getroffenen Anordnungen“) durchaus terminologisch zu verstehen und insbesondere nicht mit Rechtmäßigkeit (vgl. hierzu § 113 StGB) gleichzusetzen ist; näher Karl Lorenz, in: v. Olshausen, StGB, Berlin 1927, § 110 Anm. 20.

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II. … und eine Fußnote Fünfzehn Jahre später fasst Otto Mayer, seit 1872 als erster deutscher Rechtsanwalt (Advokat-Anwalt) in Mülhausen/Elsass lebend,9 seit September 1880 in Straßburg,10 in einer Fußnote seines „Deutschen Verwaltungsrechts“ die Argumentation des Reichsgerichts so zusammen: „Die Polizeibehörden, sagt es, sind zuständig, Personen, welche Auskunft erteilen können, über polizeilich interessierende Angelegenheiten zu vernehmen, also müssen sie dieselben auch auf ihre Bureaux vorladen können, also sind diese verpflichtet zu erscheinen. Das ist natürlich einfach wieder die Folgerungsweise des Polizeistaates, der in Elsaß-Lothringen längst nicht mehr besteht.“11

Kontext der Erwähnung ist die Abgrenzung des Polizeibefehls, der durch die Möglichkeit der Vollstreckung durch Polizeizwang gekennzeichnet sei, von der bloßen Einladung.12 Otto Mayer verstand im elsässischen Fall, aus dem das Reichsgericht „(e)twas sehr Merkwürdiges“ gemacht habe, die zugrunde liegende Aufforderung der Polizeidirektion, weil sie als nicht vollstreckbar qualifiziert wurde, als eine solche schlichte Einladung (was seine am Ende der Fußnote geäußerte Befürchtung erklärt, „dass im Geiste des Reichsgerichts die staatsrechtliche Pflicht des Unterthanen eine mehr moralische und den Gegensatz zu seiner echten ordentlichen Rechtspflicht bedeuten soll“13). Es mag offen bleiben, ob Mayer tatsächlich auch für Einladungen im Sinne unverbindlicher Vorladungen eine Befugnisnorm verlangen oder sich für die Kritik der Entscheidung auf die Prämisse des Reichsgerichts einlassen will, also einen Polizeibefehl unterstellt. Jedenfalls kennzeichnet er den expliziten Schluss des Reichsgerichts von der Aufgabe/Zuständigkeit der Polizei auf deren Befugnis als anachronistisch, nämlich als „Folgerungsweise des Polizeistaats“; er greift damit auf ein 9 Rückblickend Otto Mayer, DJZ 1909 (14), 1041 (1044): „Ich war in Mülhausen der ständige Vertreter und Berater aller Landes- und Reichsbehörden gewesen. Das brachte mich mannigfach in Berührung mit öffentlichem Recht, namentlich dem mir vorher ziemlich unbekannten Verwaltungsrecht.“ 10 Erk Volkmar Heyen, „Mayer, Otto“, in: Neue Deutsche Biographie 16 (1990), S. 550 – 552 [Onlinefassung]; URL: http://www.deutsche-biographie.de/pnd118579606.html (19. 6. 2012); näher ders., Otto Mayer. Studien zu den geistigen Grundlagen seiner Verwaltungsrechtswissenschaft, 1981, S. 17 ff. 11 Mayer (Fußn. 1), S. 284 Fußn. 20. In seiner „Theorie des französischen Verwaltungsrechts“ (Straßburg 1886) ist der Gedanke nicht erkennbar vorgezeichnet. 12 Mayer (Fußn. 1), S. 283: „Die Kraft der Gehorsamspflicht, welche der Polizeibefehl erzeugt, äußert sich in den Folgen, welche der Ungehorsam rechtmäßig nach sich zieht. Diese Folgen sind einesteils der Polizeizwang zur Überwindung des Ungehorsams und Herstellung des befehlsgemäßen Zustandes, andererseits die Polizeistrafen, welche dem Ungehorsamen ein Übel zufügen, weil er nicht gehorcht hat. Die Zumutung eines bestimmten Verhaltens, deren Missachtung solche Rechtspflichten nicht begründet, die also eine rechtlich wirksame Gehorsamspflicht nicht erzeugt, ist kein Befehl, sondern nur der Schein eines solchen.“ 13 Mayer (Fußn. 1), S. 284 Fußn. 20 a.E.

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Staatsmodell zurück, das er eingangs seines Werks dem Rechtsstaat gegenüberstellt.14 Dennoch taugt Mayer als Kronzeuge für ein modernes rechtsstaatliches Polizeirecht jedenfalls insofern nicht, als er – was den skizzierten elsässischen Fall als Sonderfall ausweist – von einer immanenten, letztlich naturrechtlichen15 Pflicht des Untertanen zur Unterlassung von Störungen ausgeht, die auch ohne gesetzliche Grundlage durch Polizeibefehl durchgesetzt werden könne:16 „Der verfassungsrechtliche Vorbehalt verlangt eine gesetzliche Grundlage für jeden Eingriff in Freiheit und Eigentum; aber ohne gesetzliche Grundlage kann die Störung der guten Ordnung mit unmittelbarer Gewaltanwendung abgewehrt werden: die einfache Geltendmachung der bereits bestehenden Pflicht ist kein vorbehaltener Eingriff; einer gesetzlichen Grundlage bedarf es nur, wenn dieser Pflicht neue rechtliche Formen gegeben oder besondere Zwangsmittel und selbständige Nachteile mit der Verletzung verbunden werden sollen.“17

Dass der Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes, analytisch gesagt, in der Regel dann eingreift, wenn eine verfassungsrechtliche Normallage verändert, von einem verfassungsrechtlichen Verteilungsprinzip abgewichen werden soll,18 ist hier in gewisser Weise vorgezeichnet. Aber die Art der Anwendung des Gedankens kann nicht (mehr) überzeugen. Denn was eine „Störung der guten Ordnung“ ist, wird in vielen Fällen umstritten sein, und es ist Sache des Gesetzgebers, die dafür relevanten Wertentscheidungen und Voreinschätzungen zu treffen. Daher muss der Gesetzgeber nicht erst tätig werden, wenn der (vermeintlichen) allgemeinen Störungsunterlassungspflicht „neue rechtliche Formen gegeben oder besondere Zwangsmittel und selbständige Nachteile mit der Verletzung verbunden werden sollen“; vielmehr muss der Gesetzgeber bereits die Unterlassungspflicht konkret normieren (wofür er selbstverständlich alle Register ziehen, also durch Begriffe wie „öffentliche Sicherheit“ auch und gerade auf sonstige Normkomplexe wie das Zivil-, Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht verweisen kann). Denn je komplexer die Gesellschaft wird, desto häufiger begegnen Situationen, in denen nicht von vornherein klar ist, wer Störer und wer Gestörter ist, wer ein sozial missbilligtes und wer ein sozialadäquates Risiko verwirklicht. Insofern ist Mayer in seinem „Deutschen Verwaltungsrecht“ mit seiner scharfsichtigen und scharfzüngigen Kritik an der „Folgerungsweise des Polizeistaats“ nicht weit genug gegangen.

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Mayer (Fußn. 1), S. 38 ff., 53 ff. Thomas Würtenberger/Dirk Heckmann, Polizeirecht in Baden-Württemberg, 6. Aufl. 2005, Rn. 6. 16 Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, 2. Aufl. 1981, S. 327. 17 Mayer (Fußn. 1), S. 252. f. 18 Vgl. bspw. Franz Reimer, Das Parlamentsgesetz, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/ Voßkuhle (Hg.), GVwR I, 2. Aufl. 2012, § 9 Rn. 59 m.w.N. 15

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III. Die Replik eines Schülers Etwa fünfzehn Jahre nach dem Erscheinen seines „Deutschen Verwaltungsrechts“ betreut Otto Mayer eine Habilitation, die 1912 abgeschlossen und ein Jahr später, ihm gewidmet, unter dem Titel „Gesetz, Gesetzesanwendung und Zweckmässigkeitserwägung“ veröffentlicht wird. Ihr Verfasser, Walter Jellinek, widmet sich in der Einleitung in kritischer Absicht dem Argument der „Notwendigkeit“, in weniger kritischer Absicht dem Schluss vom Zweck auf das Mittel.19 Durch Zitate aus Rechtsnormen und Entscheidungen verteidigt er die Berechtigung dieses „Auslegungsmittels“, gesteht aber zu, dass der Schluss „vom Zwecke auf das Mittel auch seine bedenkliche Seite“ habe; „wegen der schweren Berechenbarkeit seines Inhalts birgt er die größten Überraschungen; wenn das Gesetz seinen Gegenstand nur nach dem Zwecke bezeichnet, so schlägt es den Gegenstand selbst in eine verdunkelnde Hülle ein“:20 „Diese Eigenart des Auslegungsmittels tritt namentlich dort ins Bewusstsein, wo es angewendet wird, um dem Untertan eine im Gesetze nicht ausdrücklich genannte Pflicht aufzuerlegen, etwa die Auskunftspflicht gegenüber der Polizei. „Es hieße, die Aktion der Polizeibehörden, zu der das Gesetz sie beruft, geradezu illusorisch machen, wollte man ihnen die Mittel, ohne welche eine solche nicht möglich ist, lediglich um [sic] deshalb versagen, weil dieselben nicht speziell und ausdrücklich im Gesetz bezeichnet sind,“ äußert sich hierüber das preußische Oberverwaltungsgericht. Otto Mayer nennt das die „Folgerungsweise des Polizeistaates“ […]. In der Tat ist hier Vorsicht geboten, weil die Zuweisung einer amtlichen Pflicht häufig nichts weiter ist als ein Dienstbefehl und zu Eingriffen in die Freiheit des Bürgers nicht ermächtigt.“21

Trotz der Bedenken erlaubt Jellinek den Schluss vom Zweck auf das Mittel.22 Weitere fünfzehn Jahre später – in seinem „Verwaltungsrecht“ – wendet sich Jellinek dem Schluss vom Zweck auf das Mittel erneut zu. Diesmal fällt die Verteidigung deutlicher aus. Im Abschnitt über die Gesetzesanwendung rekapituliert er: „Man hat die Beweisführung bekämpft, da auf diese Weise dem Bürger ungeahnte Lasten auferlegt werden könnten [Fußnote 104 mit Verweis auf Otto Mayers Ausgangsfußnote]. Aber die Möglichkeit liegt schon in der weitgehenden Ermächtigung der Polizei, nicht in einer fehlerhaften Schlussfolgerung. […] Bei Anwendung des Schlusses zugunsten des einzelnen trägt man denn auch kein Bedenken gegen seine Zulässigkeit. Aber auch bei seiner 19 Walter Jellinek, Gesetz, Gesetzesanwendung und Zweckmäßigkeitserwägung. Zugleich ein System der Ungültigkeitsgründe von Polizeiverordnungen und -verfügungen, 1913, S. 10 f.: „Man begreift, daß … der „Notwendigkeit“ mit einem gewissen Misstrauen begegnet wird, wenn sie in einer weiteren Bedeutung gar als regelrechtes Auslegungsmittel auftritt, nämlich in der Form des Schlusses vom Zwecke auf das zur Erreichung des Zweckes notwendige Mittel.“ 20 Jellinek (Fußn. 19), S. 11. 21 Jellinek (Fußn. 19), S. 11 f. 22 Jellinek (Fußn. 19), S. 80 („eine völlig einwandfreie Art der Auslegung“) und S. 316. Jellineks Position wird freilich dadurch abgemildert, dass der Anwendung des Mittels u. U. rechtliche Unmöglichkeit oder „die Macht der gesellschaftlichen Anschauungen“ entgegenstehen soll (S. 80).

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Anwendung zur Geltendmachung verborgener Pflichten des einzelnen ist nicht er zu tadeln, sondern höchstens das Gesetz, das es verabsäumt hat, die Grenzen zwischen Pflicht und Nicht-Pflicht klar zu umreißen.“23

Für Jellinek ist der Schluss vom Zweck auf das Mittel „ein rein logischer, eindeutiger Schluß“.24 Wie schon in seiner Habilitationsschrift versucht er, ihn in einem Parforceritt durch Zeit und Raum plausibel zu machen: Er verweist auf § 89 Einl. ALR („Wem die Gesetze ein Recht geben, dem bewilligen sie auch die Mittel, ohne welche dasselbe nicht ausgeübt werden kann.“) und auf die implied-powers-Doktrin des USamerikanischen Staatsorganisationsrechts.25 In Walter Jellineks Rückblick erscheint der rechtsstaatliche Grundsatz, dass kein belastender Verwaltungsakt ohne gesetzliche Grundlage ergehen dürfe, als längst errungene, keineswegs erst in den letzten Jahrzehnten entwickelte Einsicht (wie er unter anderem mit § 85 Einl. ALR zeigen will).26 Offen bleibt die eigentliche Frage, ob dies auch für die separat behandelte Forderung nach „(g)enau umschriebene(n) Ermächtigungen“ gilt;27 die Fülle an Einzelermächtigungen im Badischen Polizeistrafgesetzbuch – von Vorschriften zum Besitz von Waffen und Verkehr mit Brieftauben über das Auslöschen von Straßenlaternen bis hin zur Vertilgung schädlicher Tiere – jedenfalls ironisiert Jellinek liebevoll,28 vielleicht nicht ohne wehmütige Erinnerung an badische Studienzeiten (aus dem Kieler Exil). IV. Ein logischer Schluss? Jellineks Position vom logischen Charakter des Schlusses wird verständlicher, wenn man sich klarmacht, dass der zitierte Satz aus § 89 Einl. ALR einen Gedanken aufgreift, der in der politischen Philosophie der Neuzeit verbreitet ist29 und sich in

23

Walter Jellinek, Verwaltungsrecht, 1928, S. 143, der (gegen Hans Peters, Grenzen der kommunalen Selbstverwaltung, 1926, S. 223 ff. gewendet) anfügt: „Es ist daher nicht richtig, daß er den Grundsatz von der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung durchbricht, wie neuerdings behauptet wird.“ 24 Jellinek (Fußn. 23), S. 143. 25 Jellinek (Fußn. 19), S. 11; ders. (Fußn. 23), S. 143. 26 Jellinek (Fußn. 23), S. 84. 27 A.a.O., S. 85 f. 28 A.a.O., S. 85. 29 Auf Dig. 2.1.2 geht zurück Bernhard Schlink, Die Amtshilfe, 1982, S. 92 („Cui iurisdictio data est, ea quoque concessa esse videntur, sine quibus iurisdictio non explicari potuit.“/ Wem die Jurisdiktion gegeben ist, wird auch das zugestanden sein, ohne das die Jurisdiktion nicht ausgeübt werden kann); vgl. in der Neuzeit dann Nicolaus Everardi, Loci argumentorum legales 125, 2 (1591): „Cui conceditur aliquid, intelliguntur concessa omnia, sine quibus explicari non potest“ (Wem etwas eingeräumt ist, von dem ist anzunehmen, daß ihm alles eingeräumt ist, ohne das die Sache nicht ausgeführt werden kann), Zitat und Übersetzung nach Detlev Liebs, Lateinische Rechtsregeln und Rechtssprichwörter, 4. Aufl. 1986, C. 100.

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ähnlichen Formulierungen bei Hobbes, Wolff, Kreittmayr, Pufendorf und anderen Autoren30 findet: „But because it is in vaine for a man to have a Right to the end, if the Right to the necessary meanes be deny’d him; it followes, that since every man hath a Right to preserve himself, he must also be allowed a Right to use all the means, and do all the actions, without which He cannot Preserve himself.“31 „Quodsi lex naturae obligat ad finem, jus quoque dat ad media, consequenter si medium nonnisi unicum fuerit, jure eodem utitur.“32 „(I)us ad finem dat ius ad media“.33 „(Q)ui vult finem, vult etiam media, sine quibus finis non obtineri nequit.“34

Hier soll nicht die historische Entwicklung der Formulierung und Eindämmung des Schlusses nachgezeichnet,35 sondern (in systematischer Absicht) nach der Berechtigung des in diesen Formulierungen zum Ausdruck kommenden Gedankens gefragt werden. Unrichtig ist er gewiss nicht; fraglich scheint nur, ob er einen relevanten Anwendungsbereich hat, wann nämlich einmal ein ius ad finem oder ein unbedingter Wille zum Ziel vorliegt. Denn wenn die bloße Zuweisung einer Zuständigkeit, eines Ziels oder einer Aufgabe nach heutiger Vorstellung gerade kein Recht auf die Zielerreichung gibt, so ist nicht die Schlussfolgerung problematisch, sondern seine Prämisse: die eines Rechts (das darüber hinaus unbedingt gedacht wird), oder – in der Pufendorfschen Variante der Maxime – eines unbedingten Willens. Die Anwendung des Satzes ist dann gerade deshalb attraktiv, weil er die Begründungslücke überspielt, die Frage, ob ein Recht, zumal ein uneingeschränktes, auf die Zielerreichung besteht. Die Suggestivkraft der Schlussfolgerung vom nicht näher qualifizierten Zweck auf die Mittel, von der Aufgabe auf die Befugnis lebt von dieser Verschleierung. Von der puren Zwecksetzung ließe sich allenfalls bedingt 30 Bspw. James Madison, The Federalist Papers, Nr. 44 (1788): „No axiom is more clearly established in law, or in reason, than that wherever the end is required, the means are authorized; wherever a general power to do a thing is given, every particular power necessary for doing it is included.“; hierzu Heinrich Triepel, Die Kompetenzen des Bundesstaats und die geschriebene Verfassung, FG Laband, 1908, Bd. 2, 249 (264); Geoffrey Sawer, „Implied Powers“ in bundesstaatlichen Verfassungen des britischen Commonwealth, ZaöRV 1959 (20), 562 (562 f.). 31 Thomas Hobbes, De Cive, London 1651, I 8; von Jellinek (Fußn. 19), S. 80 Fußn. 63, als „naturrechtliche Ausartung“ betrachtet. 32 Christian Wolff, Institutiones juris naturae et gentium, Venedig 1765, § 46. 33 Wiguläus von Kreittmayr, Grundriß des Allgemeinen, Deutsch- und Bayrischen Staatsrechtes, München/Leipzig 1769, § 7, S. 15; bei Karl-Peter Sommermann, Staatsziele und Staatszielbestimmungen, 1997, S. 422, Pufendorf zugeschrieben; bei Liebs (Fußn. 29), J 178, ohne Verfasserzuordnung; ibid., Q 33, in der Version: „Qui dat finem, dat media ad finem necessaria.“ 34 Samuel von Pufendorf, De officio hominis, 1673, liber primus, III § 9. 35 Hierzu insbesondere Schlink (Fußn. 29), S. 92 ff.; teilweise anders (nicht nur für das bayerische Recht) Franz Mayer, Die Eigenständigkeit des bayerischen Verwaltungsrechts, dargestellt an Bayerns Polizeirecht, 1958, S. 29 ff., 63 ff.

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auf die Mitteleinräumung schließen – in dem Sinne einer vorsichtigen Vermutung, dass mit dem Ziel auch die für seine Erreichung notwendigen oder aber typischen Mittel36 grundsätzlich gewollt sind. Dies führt zur Frage, was überhaupt die innere Berechtigung des Vorbehalts und damit der Unterscheidung von Zielvorgabe und Mittelgewährung ist. Sie dürfte darin liegen, dass es in aller Regel gleichermaßen unklug und ungerecht ist, ein Ziel um jeden Preis, d. h. mit allen Mitteln, erreichen zu wollen – erstens mit Blick auf die Rechte des Verantwortlichen („Störers“), sofern einer vorliegt, zweitens mit Blick die Rechte Dritter (der Nichtstörer) und die Belange der Allgemeinheit. Mir scheint evident, dass die von der Verfolgung eines Ziel betroffenen Belange, die von ihr berührten Interessen umso zahlreicher werden, je komplexer eine Gesellschaft, die beeinträchtigten Rechtspositionen umso vielfältiger werden, je ausdifferenzierter die jeweilige Rechtsordnung ist.37 Mit anderen Worten: In keinem modernen Gemeinwesen wird es Maßnahmen geben, die nicht zu Beeinträchtigungen und Einbußen Dritter führen – und in keinem Rechtsstaat kann es Beeinträchtigungen und Einbußen Dritter geben, die von vornherein als Kollateralschäden der Gemeinwohlverwirklichung verbucht werden dürften. So dürfte es kein Zufall sein, dass die juristische Differenzierung von Zweck und Mittel, Aufgabe und Befugnis gerade in der beginnenden Industriegesellschaft relevant wird. Die Kritik am Schluss vom Zweck auf das Mittel, von der Aufgabe auf die Befugnis zählt zu den Prozessen der Disziplinierung der Polizei in Deutschland seit 1848.38 Sie setzt die Übertragung von „Zweck“ in „Aufgabe“ und von „Mittel“ in „Befugnis“, also die Übernahme und Nutzung der begrifflichen Unterscheidung aus der Staatsphilosophie ins Verwaltungsrecht voraus. Bis zu einer operablen begrifflichen und inhaltlichen Unterscheidung von Aufgabe und Befugnis war es indes noch ein weiter Weg. So wurde im 2. Kreuzbergurteil39 der Maßstabsnorm § 10 II 17 ALR der Sache nach (ohne ganz klare Benennung) kurzerhand eine Doppelfunktion als Aufgaben- und Befugnisnorm untergeschoben. Während das Badische Polizeistrafgesetzbuch von 1863 in seiner Generalklausel40 bereits auf „Befugniß“ abstellt, nutzt das Preußische Oberverwaltungsgericht im Kreuzbergurteil die

36

Ähnlich das Reichsgericht, RGSt. 2, 281 (282): das „natürlichste und sachgemäße Erforschungsmittel“. 37 Auch in der von Dieter Grimm (Der Wandel der Staatsaufgaben und die Krise des Rechtsstaats, in: ders., Die Zukunft der Verfassung, 2. Aufl. 1994, S. 159 ff.) als „Konzept des bürgerlichen Rechtsstaats“ stilisierten Konstellation, in der Staatstätigkeit „bipolar“ gewesen sein soll, „insofern sich die Tätigkeit auf das Verhältnis zwischen Staat und Störer beschränkte“ (S. 165), hat sich staatliches Handeln im komplexen Beziehungsgeflecht einer industrialisierten Massengesellschaft abgespielt. 38 Bodo Pieroth/Bernhard Schlink/Michael Kniesel, Polizei- und Ordnungsrecht, 6. Aufl. 2010, § 1 Rn. 9. 39 Endurtheil des 2. Senats v. 14. 6. 1882, PrOVGE 9, 353 ff. 40 Art 30 (abgedruckt bei Würtenberger/Heckmann, Fußn. 15, Rn. 12).

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Begriffe „Amt“, „Aufgabe“, „Befugnis“ und „Beruf“41 ununterscheidbar nebeneinander.42 In der Rechtsprechung des Preußischen Oberverwaltungsgerichts scheint sich, wiederum anders als im badischen Polizeirecht,43 die Kontrolle der Verwaltung durch Entfaltung des Verhältnismäßigkeitsgebots eher entfaltet zu haben als die Unterscheidung und Trennung von Aufgabe und Befugnis.44 Beispielhaft erwähnt sei jener Fall, in dem ein Grundeigentümer auf seinem Grundstück, über das aber ein öffentlich genutzter Weg führte, Pfähle zur Abgrenzung seines Grundstücks eingerammt hatte. Die Beseitigungsanordnung hielt das Gericht für rechtswidrig, weil die Auflage einer ausreichenden Beleuchtung genügt hätte.45 Sprachlich – wohl nicht schon begrifflich – wurden Aufgabe und Befugnis hierbei zwar getrennt, inhaltlich aber gerade noch nicht gesondert: „diese Aufgabe und Befugnis findet aber darin ihre Grenze, daß die danach zu treffenden Anstalten sich nur so weit erstrecken dürfen, als sie zum Zwecke haben, die vorhandene Gefahr zu beseitigen.“46

Einen kleinen Schritt weiter war offenbar das Reichsgericht im elsässischen Fall, insofern es Verpflichtung (Aufgabe) und Befugnis (Berechtigung) konzeptionell unterschied, wiewohl es den Schluss von jener auf diese zuließ. Der begriffliche Apparat war fast ausgereift; jetzt musste er nur noch differenzierend genutzt werden.

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Vgl. PrOVGE 9, 353 (370 f.). Ähnlich Hinnerk Wißmann, Generalklauseln. Verwaltungsbefugnisse zwischen Gesetzmäßigkeit und offenen Normen, 2008, S. 76. 43 Vgl. Art 30 Abs. 2 BadPStGB mit der klaren gesetzgeberischen Vorgabe verhältnismäßigen Agierens; hierzu der Commissionsbericht von Walli, abgedruckt in: Ludwig Stempf, Das Polizeistrafgesetzbuch für das Großherzogthum Baden, Mannheim 1865, S. 85. 44 Unklar insoweit Pieroth/Schlink/Kniesel (Fußn. 38), § 1 Rn. 12: „Der Schluß von der Aufgabe auf die Befugnis, von Otto Mayer als die Folgerungsweise des Polizeistaats apostrophiert, wandelt sich zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit“. Es handelt sich m. E. um zwei getrennte Phänomene: erstens die Frage nach einem Titel für das Handeln („Ob“ des Eingriffs), zweitens um die Frage nach der inhaltlichen Feinjustierung des Handelns („Wie“ des Eingriffs). Das PrOVG formuliert die Notwendigkeit einer gesetzlichen Grundlage für belastendes Polizeihandeln 1896 klar, damit aber auch klarstellend, als allgemeinen Grundsatz: „Die Polizei darf nicht Alles fordern, was sie nicht durch das Gesetz gehindert ist, zu fordern, sondern sie darf nur fordern, was das Gesetz ihr zu fordern gestattet, also, soweit sie ihre Forderung nicht auf eine allgemeine Bestimmung, wie den § 10 II 17 A.L.R., stützen kann, nur das, zu dessen Leistung eine besondere öffentlichrechtliche Pflicht nach dem Gesetz besteht“ (Entscheidung v. 6. 1. 1896, veröffentlicht in: Mitteilungen aus der Rspr. der Verwaltungsgerichte, hrsg. v. J. Bochmann, Jg. 1, S. 396, hier zit. n. Gerhard Anschütz, Die Rechtsprechung des Preußischen Oberverwaltungsgerichts im Jahre 1896, in: VerwArch 1897 [5], 390 [406]). 45 PrOVGE 13, 426 (428). 46 PrOVGE 13, 426 (427). 42

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V. Status quo Dogmatik, Gesetzgeber und Rechtsprechung in der Bundesrepublik unterscheiden übereinstimmend und unhinterfragt zwischen Aufgaben (als inhaltlichen Handlungsvorgaben für Hoheitsträger),47 Zuständigkeiten (als Handlungskorridoren für bestimmte Hoheitsträger in Abgrenzung von anderen Hoheitsträgern) und Befugnissen (als Eingriffstiteln, Handlungsermächtigungen). Dabei hat die Unterscheidung – wie bereits mehrfach angeklungen ist – zwei Aspekte, einen begrifflichen und einen inhaltlichen. Nicht nur sind Aufgabe, Zuständigkeit und Befugnis konzeptionell zu trennen, sie sind auch in dem Sinne abstrakt, dass die Zuweisung der Aufgabe oder die Zuweisung der Zuständigkeit48 nicht zugleich die Zuweisung der Befugnis beinhaltet. In Anlehnung an die zivilistische Unterscheidung von schuldrechtlichem und dinglichem Geschäft im deutschen Bürgerlichen Recht könnte man daher vom Trennungsprinzip und vom Abstraktionsprinzip sprechen.49 In der Sache sind diese Grundsätze unumstritten. Speziell die polizeirechtliche Unterscheidung von Aufgaben und Befugnissen wird in den meisten Lehrbüchern des gegenwärtigen Polizei- und Ordnungsrechts nicht nur als Errungenschaft, sondern auch als verfassungsrechtliche Notwendigkeit dargestellt.50 Andererseits ist freimütig einzuräumen, dass die Unterscheidung „wenig praktische Relevanz“ hat.51 Dies mag man der Tatsache zuschreiben, dass die Gesetzgeber in Bund und Ländern der Unterscheidung durch je getrennte Normierung von Aufgaben und Befugnissen ihre Reverenz erweisen;52 die praktische Irrelevanz wäre dann möglicherweise gerade Beweis des überragenden Erfolgs der Unterscheidung. 47

Näher zur Funktion von Aufgaben und Befugnissen sogleich im Text. Ernst Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, 1. Bd., 10. Aufl. 1973, § 12 2 e cc, S. 244: „Die Kompetenznorm ist bei Mangel der Eingriffsnorm ohne Belang.“ 49 Othmar Jauernig, Trennungsprinzip und Abstraktionsprinzip, JuS 1994, 721 ff. 50 Erhard Denninger, in: Hans Lisken/Erhard Denninger (Hg.), Handbuch des Polizeirechts, 4. Aufl. 2007, E Rn. 67: „elementare rechtsstaatliche Notwendigkeit“; Wolf-Rüdiger Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, 7. Aufl. 2011, Rn. 36: „allgemein anerkannte[r] rechtsstaatliche[r] Grundsatz“; Christoph Gusy, Polizei- und Ordnungsrecht, 7. Aufl. 2009, Rn. 12: „in zahlreichen Bestimmungen des Grundgesetzes angelegt“; Friedrich Schoch, in: Eberhard Schmidt-Aßmann/Friedrich Schoch, Besonderes Verwaltungsrecht, 14. Aufl., 2. Kap Rn. 33: „Schluss von der ,Aufgabe‘ auf die ,Befugnis‘ ist im Rechtsstaat unzulässig“; Matthias Jestaedt, Grundbegriffe des Verwaltungsorganisationsrechts, in: Hoffmann-Riem/ Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hg.), GVwR I, 2. Aufl. 2012, § 14 Rn. 53: „verfassungsrechtliche Abschichtungstrias von Aufgabe-Kompetenz-Befugnis“; Franz-Ludwig Knemeyer, Polizei- und Ordnungsrecht, 11. Aufl. 2007, Rn. 76: „rechtsstaatliche Überlegungen“; Carsten Schucht, Generalklausel und Standardmaßnahme, 2010, S. 69: „anerkannter Mindeststandard bei der rechtstaatlichen Erfüllung von Gefahrenabwehraufgaben“. 51 So für das baden-württembergische PolG Würtenberger/Heckmann (Fußn. 15), Rn. 161. 52 So Würtenberger/Heckmann (Fußn. 15), „da die Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung sowohl in § 1 I PolG als auch in den §§ 3 und 26 ff. PolG genannt bzw. vorausgesetzt wird.“; die Unterscheidung wird durch die auf dem MEPolG basierenden Landesgesetze ausnahmslos durchgeführt; vgl. näher Volkmar Götz, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, 14. Aufl. 2008, § 7 Rn. 1 ff. 48

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Andererseits mag die Tatsache, dass auch ein unrechtsstaatliches Regime wie die DDR in ihren Gesetzen eine Trennung von Aufgaben und Befugnissen vorsah,53 nahe legen, dass es sich um eine Traditionslast handelt, die ohne Verluste an Freiheitlichkeit aufgegeben werden könnte. Und die These, dass Aufgabe und Befugnis auch in ein- und derselben Norm verankert werden können,54 verbunden mit der Vermutung, dass keine ausdrückliche Einräumung einer „Befugnis“ erforderlich ist,55 wirft die Frage auf, was von der Unterscheidung (außer vielleicht einer leeren Förmlichkeit) bleibt? Es dürften die Funktionen der Aufgaben- und der Befugnisnormen (1.) und die Begründungsanforderungen an die jeweiligen Normtypen (2.) sein, von denen die Antwort abhängt (3.). 1. Funktionen der Aufgabennormen und der Befugnisnormen a) Funktionen der Aufgabennormen Die Funktionen der Aufgabennormen sind detailliert von Franz-Ludwig Knemeyer beschrieben worden. Er identifiziert – eine raumeröffnende und zugleich raumbegrenzende Funktion: Die Polizei soll nur auf der Basis und nur im Rahmen einer Aufgabenzuweisung handeln dürfen56 – insoweit könnte man von „Vorbehalt“ und „Vorrang der gesetzlichen Aufgabennorm“ sprechen; – eine pflichtenbegründende Funktion: Aufgabennormen begründen Handlungspflichten (was freilich nicht zu seiner Annahme zwingt, dass der Polizei kein Entschließungsermessen mehr zukäme;57 vielmehr wird für die Polizei die Begründungslast bei Berührung ihres Aufgabenbereichs zugunsten des Einschreitens 53 Franz-Ludwig Knemeyer, Rechtsgrundlagen polizeilichen Handelns – Grundlinien einer Polizeigesetzgebung in den neuen Bundesländern, LKV 1991, 321 (323), für das Gesetz über die Aufgaben und Befugnisse der Deutschen Volkspolizei v. 11. 6. 1968, GBl. DDR I 232. 54 So der Sache nach zutreffend Wolf-Rüdiger Schenke (Fußn. 50), Rn. 37 unter Hinweis auf § 14 PreußPVG; § 3 I HambSOG, § 168 SchlHVwG (letzteres erscheint wegen des Titels des Unterabschnitts, des amtlichen Paragraphentitels und der §§ 173 ff. SchlHVwG als zweifelhaft). 55 Hierzu sogleich im Text sub 2 b). 56 Franz-Ludwig Knemeyer, Funktionen der Aufgabenzuweisungsnormen in Abgrenzung zu den Befugnisnormen, DÖV 1978, 11 f.; Pieroth/Schlink/Kniesel (Fußn. 38), § 2 Rn. 45 f., 55; ähnlich Wißmann (Fußn. 42), S. 216; Wolfgang Heckenberger, Aufgaben und Befugnisse der Vollzugspolizei in England und Deutschland, Ein Vergleich der Polizeirechtssysteme, 1997, S. 62. – Mir scheint zweifelhaft, ob es bei Vorliegen einer Zuständigkeitsnorm einer Aufgabennorm bedarf („Vorbehalt der Aufgabennorm“?); die Frage wird dadurch entschärft, dass ein Rückschluss von der Zuständigkeit auf die Aufgabe für zulässig gehalten wird, vgl. bspw. Jestaedt (Fußn. 50), § 14 Rn. 53; ähnlich Knemeyer (Fußn. 50), Rn. 78; anders wohl Schlink (Fußn. 29), S. 108 f., mit der Forderung nach einer relativ strengen gesetzgeberischen Aufgabenbestimmung. Unstreitig ist der „Vorrang der Aufgabennorm“. 57 So aber ausdrücklich Knemeyer (Fußn. 56), DÖV 1978, 11 (13).

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nur umgekehrt – der Schluss von der generellen Aufgabe auf die Einschreitenspflicht im Einzelfall wäre aber ein ähnlicher Fehlschluss wie der von der Aufgabe auf die Befugnis); – eine handlungsleitende/ermessenssteuernde Funktion: Aufgabennormen steuern das Auswahlermessen der Polizei, das „Wie“ des Verwaltungshandelns;58 die Wahl von Raum, Zeit(-punkt oder -dauer), Mittel des Handelns, Adressat etc. muss der Erfüllung des mit der Aufgabe gesetzten Ziels zuträglich sein (oder bedarf der Begründung); – eine anspruchsbegründende Funktion: Aufgabennormen dienen der Begründung subjektiver Rechte, sie können mit anderen Worten „Schutzansprüche“ des Einzelnen begründen59 (womit nicht gesagt ist, welche Anforderungen hierfür im Einzelnen an die Aufgabennormen zu stellen sind); – eine korrigierende Funktion bei unvorhergesehenen Entwicklungen, insofern die Aufgabennorm Maßstab für die Tauglichkeit von Befugnisnormen (Mittelbestimmungen) ist60 und damit zur Ausscheidung von untauglichen Befugnisnormen sowie zur Heranziehung tauglicher Befugnisnormen soll dienen können (wobei kritisch angemerkt werden muss, dass ein hierbei anzutreffender direkter Rückschluss auf Mittel, d. h. Befugnisnormen, außerhalb des jeweiligen Fachgesetzes und damit ein Rückgriff auf das allgemeine Polizei- und Ordnungsrecht nicht unproblematisch ist61 – er würde wiederum einen Schluss vom Zweck auf die Mittel bedeuten62); – eine Signal- und Appellfunktion an den Gesetzgeber, die auf Überprüfung seines gesetzgeberischen Programms sowohl hinsichtlich der Befugnisnormen (Mittel) als auch hinsichtlich der Aufgabennorm selbst (Zwecke) gerichtet ist.63 Rechtshierarchisch könnte man auch von der Funktion sprechen, Zielvorgaben höherer Rechtsschichten (insbesondere Schutzpflichten aus Grundrechten und Staatszielbestimmungen des Bundes- und Landesverfassungsrechts) einfachrechtlich zu konkretisieren und zu operationalisieren. Aufgabennormen sind mit anderen Worten in besonderem Maße Scharnierstellen zwischen den Rechtsebenen.

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Knemeyer (Fußn. 56), DÖV 1978, 11 (15 f.). Knemeyer (Fußn. 56), DÖV 1978, 11 (14 f.), der für die Aufgabenzuweisung „Abwehr von Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung” sogleich eine individualschützende Tendenz entnimmt. 60 Knemeyer (Fußn. 56), DÖV 1978, 11 (16). 61 In diese Richtung aber offenbar Knemeyer (Fußn. 56), DÖV 1978, 11 (16 r. Sp. oben) unter Hinweis auf BVerwG, DÖV 1974, 207 ff. 62 Vgl. die verkürzende Formulierung bei Knemeyer (Fußn. 61): „Da das WHG keine ausreichenden Mittel zur Verfügung stellt, um diesem umfassenden Schutzzweck wirklich gerecht zu werden, mußte im konkreten Fall auf das allgemeine Sicherheitsrecht zurückgegriffen werden.“ 63 Knemeyer (Fußn. 56), DÖV 1978, 11 (16 f.). 59

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b) Funktionen der Befugnisnormen Eine Befugnisnorm beseitigt „die Schranke der polizeilichem Handeln entgegenstehenden individuellen Rechte … und besagt generell, was die Polizei im konkreten Einzelfall zu tun berechtigt ist.“64 Man kann diese dem Vorbehalt des Gesetzes geschuldete verfassungsrechtliche Funktion mit Kay Waechter65 für das einfache Recht zweifach auffächern: Befugnisnormen dienen als (verwaltungsrechtliche) Ermächtigungsnormen wie auch als strafrechtliche und zivilrechtliche Rechtfertigungsgründe. Sie geben und begrenzen damit die Mittel, die der Polizei bei Ihrer Aufgabenerfüllung zur Verfügung stehen. Insofern scheint es, als stellten sie einen Flaschenhals dar, durch den sich polizeiliches Handeln zwängen müsse. Zu Recht wird freilich in diesem Zusammenhang daran erinnert, dass die Polizei ihren Aufgaben auch ohne Eingriffe in Rechte der Bürger nachgehen kann66 und dass das „Denken von Befugnisnormen her“ die Realität beträchtlich verkürzt.67 Zugleich sollen sie als Schutznormen fungieren, die Dritten einen Anspruch auf behördliches Einschreiten vermitteln.68 Dies überzeugt nicht, weil die drittschützende Wirkung weniger mit der ermächtigenden Stoßrichtung der Befugnisnormen als mit der verpflichtenden Stoßrichtung der Aufgabennormen zu tun hat.69 2. Begründungsanforderungen an Aufgabennormen und Befugnisnormen a) Aufgabennormen Der polizeirechtliche Normalfall einer Aufgabennorm ist die ausdrückliche Zuweisung von Aufgaben (d. h. inhaltlichen Handlungsvorgaben) an die jeweiligen Verwaltungseinheiten im Wege einer Aufgabengeneralklausel.70 Andere Gesetze stellen die Behördenaufgaben auch an den Beginn des Gesetzes, beschreiben sie aber konkret (durch Zuweisung zahlreicher Einzelaufgaben71). Auch neuere verwaltungsrechtliche Kodifikationen jenseits des Polizeirechts unterscheiden häufig ausdrücklich zwischen Aufgaben und Befugnissen. 64

Knemeyer (Fußn. 53), LKV 1991, 321 (324). Kay Waechter, Polizei- und Ordnungsrecht (Landesrecht Niedersachsen), 2000, Rn. 490. 66 Knemeyer (Fußn. 53), LKV 1991, 321 (325). 67 Waechter (Fußn. 65), Rn. 491: „Häufig werden die Erfolgsaussichten polizeilichen Handelns vorwiegend von der Qualität und Quantität der zur Verfügung stehenden Befugnisnormen abhängig gemacht. Dies ist eine zu stark vereinfachende Betrachtung. Wirksam ist in der Gefahrenabwehr z. B. auch schlicht die Präsenz der Polizei und die Mitwirkungsbereitschaft der Bevölkerung sowie die soziale Kontrolle. […] Das Denken von Befugnisnormen her verkürzt daher die Realität beträchtlich.“ 68 Waechter (Fußn. 65), Rn. 490. 69 So im Ergebnis wohl auch Knemeyer, bei Fußn. 59. 70 Z.B. §§ 1, 2 PolG BW; § 1 HSOG, § 1 Abs. 2 BNDG etc. 71 Wie §§ 1 ff. BPolG. 65

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Da das deutsche Recht indes sinn-, nicht formelorientiert ist, Ausdrücklichkeitsanforderungen mit anderen Worten Ausnahmen darstellen, bedarf es (selbstverständlich) keiner expliziten Aufgabenzuweisung. Daher kann im Wege der Auslegung – z. B. durch Induktion – eine „materiale Grundentscheidung“ des jeweiligen Fachgesetzes, durch sie der Schutzzweck des Gesetzes und damit mittelbar die Aufgabe der Behörden erschlossen werden.72 Insbesondere ergeben sich – und dies ist der umweltrechtliche Normallfall – aus den vorangestellten Gesetzeszweckbestimmungen zugleich Aufgaben, weil die dort niedergelegten Gesetzeszwecke zugleich Handlungsvorgaben für die jeweiligen Behörden oder jedenfalls Auslegungsleitlinien für die anderweitig im Gesetz normierten Aufgabennormen darstellen.73 Dabei dürfte im besonderen Gefahrenabwehrrecht die rechtsstaatliche Problematik und damit die Bedeutung von Aufgabennormen von vornherein geringer sein als im allgemeinen Polizeirecht, weil einer unbegrenzten Behördentätigkeit schon die Existenz der übrigen Gefahrenabwehrbehörden, die Spezialisierung der Fachbehörden und die engeren Zuständigkeitsnormen entgegenwirken. Schließlich ist nach allgemeiner Ansicht ein Schluss von der Befugnis auf die Kompetenz und von ihr auf die Aufgabe grundsätzlich möglich.74 b) Befugnisnormen Auch Befugnisnormen müssen nicht explizit als solche gekennzeichnet werden.75 Sie können sogar mit den Aufgabennormen in ein- und derselben Vorschrift zusammentreffen,76 also verschmelzen. Eine obligatorische Trennung der Normtexte wäre dem deutschen Recht (zumindest der preußischen Tradition – § 14 PVG77) fremd. Es bedarf also in jedem Fall der Auslegung; Leitfrage hierbei ist, ob der Gesetzgeber mit der entsprechenden Norm nicht nur ein Ziel vorgeben, sondern als Mittel auch bestimmte Eingriffe in die Rechte Privater freigeben wollte, bzw. (in Abwesenheit erkennbarer gesetzgeberischer Regelungsabsichten) ob sich aus anderen Gesichtspunkten ein dahingehendes Verständnis der Norm vernünftigerweise erschließen lässt.

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So implizit Knemeyer (Fußn. 56), DÖV 1978, 11 (16 r. Sp. oben). Vgl. den Hinweis bei Katharina Schober, Der Zweck im Verwaltungsrecht, 2007, S. 104, auf die gesetzgeberische Begründung zu § 1 AtG: „Richtschnur … für die Ausführung durch die Verwaltungsbehörden“. Näher zur Funktion von „Leitvorschriften“ S. 66 ff. (allgemein), S. 102 ff. (im gegenwärtigen Umweltrecht) – mit insgesamt skeptischer Einschätzung des Leistungspotentials der Leitvorschriften (S. 148 f.. 236 ff.). 74 Jestaedt (Fußn. 50), § 14 Rn. 53; ähnlich Knemeyer (Fußn. 50), Rn. 78. 75 A.A. evt. Dieter Kugelmann, Polizei- und Ordnungsrecht, 2. Aufl. 2012, Kap. 5 Rn. 5: „Der Schluss von einer Aufgabe auf eine nicht ausdrücklich eingeräumte Befugnis ist unzulässig.“ 76 Schenke (Fußn. 50). 77 Die Aufgaben- und Befugnisnorm in einem war: Schucht (Fußn. 50), S. 50. 73

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3. Funktionen und Berechtigung der Unterscheidung Warum also sollen Aufgaben- und Befugnisnormen trotz potentieller Verschmelzung nicht nur begrifflich, sondern auch inhaltlich unterschieden und „semipermeabel“ voneinander getrennt werden? Zunächst ist die Unterscheidung Ausdruck einer normativen Vermutung dafür, dass der Staat seine Aufgaben ohne Eingriffe in die Rechte Privater erfüllt: „Die Trennung zwischen Aufgaben und Befugnissen geht davon aus, daß die Polizei ihre Aufgabe zunächst ohne Eingriffe in die Rechtssphäre des Bürgers zu erfüllen hat.“78 Der Eingriff in Rechte wird als – rechtfertigungsbedürftige – Ausnahme begriffen, und diese Rechtfertigung muss der Parlamentsgesetzgeber erbringen. Nicht zu Unrecht wird hierbei auf das grundlegende rechtsstaatliche Verteilungsprinzip verwiesen.79 Das damit umrissene Zwei-Stufen-Modell hat also eine konkrete Pflicht des Gesetzgebers zur Folge, über Eingriffe in private Rechte bewusst nachzudenken und zu entscheiden; es ist damit zugleich ein Zwei-Phasen-Modell. Mithin handelt es sich, bei aller Skepsis gegenüber derartigen Pflichten im Übrigen,80 (auch) um eine Verfahrensanforderung an den Gesetzgeber. Sie hat den tieferen Sinn, ihn vor einem konsequentialistischen Kurzschluss zu bewahren, nämlich ohne Prüfung der Implikationen (konkret vor allem: der Freiheitskosten, bei dieser Gelegenheit aber auch anderer Gegengesichtspunkte) die Verfolgung einer staatlichen Aufgabe anzuordnen. Der Rechtsanwender darf diese Verfahrensanforderung nicht dadurch konterkarieren, dass er eine Aufgabenentscheidung des Gesetzgebers zu einer Befugnisentscheidung umdeutet; mit Walter Jellinek ist aber daran festzuhalten, dass Erstadressat der Unterscheidung von Aufgabe und Befugnis der Gesetzgeber, nicht der Rechtsanwender ist. Wo das Verbot des Schlusses von der Aufgabe auf die Befugnis zur Sprache kommt, wird die verfassungsrechtliche Notwendigkeit einhellig bejaht;81 überwiegend wird das Rechtsstaatsprinzip für ihre Begründung mobilisiert.82 Überzeugend 78

Knemeyer (Fußn. 53), LKV 1991, 321 (325). Jestaedt (Fußn. 50), § 14 Rn. 52 unter Hinweis auf die „Teleologie des Verfassungsstaates“ und Carl Schmitt, Verfassungslehre, 1. Aufl. 1928, S. 126. 80 Statt aller Philipp Dann, Verfassungsgerichtliche Kontrolle gesetzgeberischer Rationalität, Der Staat 2010 (49), 630 ff. 81 Dass – auch in der Rspr. des BVerfG – die Praxis uneinheitlich ist, steht auf einem anderen Blatt; hierzu im Text sub 4. 82 Vgl. oben Fußn. 50; ferner BVerwG, NJW 1991, 1770 (1771): „entstammt klassischem rechtsstaatlichem Gedankengut“. Ein textlicher Anknüpfungspunkt könnte auch Art 30 HS 1 GG mit seiner ausdrücklichen Nebeneinanderstellung der „Ausübung der staatlichen Befugnisse“ und der „Erfüllung der staatlichen Aufgaben“ darstellen, die aber auch mit Blick auf die Entstehungsgeschichte nicht als Festschreibung der Unterscheidung zu verstehen sein dürfte (vgl. Christian Hillgruber, in: Dolzer (Hg.), Bonner Kommentar, 126. Akt., Dez. 2006, Art 30 Rn. 146 ff., insbes. Rn. 148). – Ob die Unterscheidung mit der Verankerung im Rechtsstaatsprinzip auch von Art 79 Abs. 3 GG geschützt ist, erscheint fraglich. 79

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erscheint der Rekurs auf das Rechtsstaats- und auf das Demokratieprinzip als Hauptquellen des allgemeinen Grundsatzes vom Vorbehalt des Gesetzes sowie auf die grundrechtlichen Gesetzesvorbehalte; das ebenfalls angeführte allgemeine verfassungsrechtliche Bestimmtheitsgebot83 würde möglicherweise etwas höhere Anforderungen in der Kenntlichmachung der gesetzgeberischen Entscheidung nach außen – dem Bürger gegenüber – stellen. Das ist bei dem hier vorgeschlagenen Verständnis der Unterscheidung von Aufgaben und Befugnissen weniger naheliegend, weil durch sie nicht in erster Linie die Privaten, sondern der Gesetzgeber bzw. die Verwaltung bestimmte Signale erhalten sollen. Das Gesagte legt ferner nahe, dass die Bejahung einer verfassungsunmittelbaren Befugnis84 die Unterscheidung um einen Gutteil ihres Sinns bringt, weil der rationalitätsfördernde parlamentarische Prozess gerade nicht in Gang gesetzt wird (und die Annahme einer bewussten Entscheidung des Verfassunggebers über die konkreten Zweck-Mittel-Fragen doch eher weltfremd erscheint). 4. Gefährdungen Je größer in der Politik der Zielerreichungsdruck wird, desto mehr und lästiger stellt sich ihr die Unterscheidung von Aufgaben und Befugnissen in den Weg. Deshalb ist sie permanent gefährdet. a) Das Beispiel der Rechtsprechung zu hoheitlichem Informationshandeln Diese Gefahr hatte sich bereits in der Abhörentscheidung des Bundesverfassungsgerichts realisiert;85 in der bundesverwaltungsgerichtlichen und bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zu staatlichem Informationshandeln86 tritt sie sehr klar zutage. Das Bundesverwaltungsgericht ging von der Notwendigkeit einer Befugnisnorm aus, erschloss sie aber aus der verfassungsrechtlichen Aufgabenstellung der

83 Gusy (Fußn. 50), Rn. 13: „Nach dem Grundgesetz ist der Schluss von den Aufgaben auf die Befugnisse einer Behörde unzulässig. Dies folgt bereits aus dem – im Vorbehalt des Gesetzes angelegten – Bestimmtheitsgebot. Es erfordert, dass alle ,wesentlichen‘ Regelungen im Gesetz getroffen werden. Das schließt insbesondere die wenigstens umrisshafte Regelung der Eingriffsvoraussetzungen und der Eingriffsmittel ein. Aus den bloßen Behördenaufgaben lassen sich diese nicht hinreichend herleiten.“ 84 Wie in der Rspr. des BVerwG und BVerfG zum staatlichen Informationshandeln, zu ihr sogleich sub 4. 85 BVerfGE 30, 1 (20): „Es kann nicht Sinn der Verfassung sein, zwar den verfassungsmäßigen obersten Organen im Staat eine Aufgabe zu stellen und für diesen Zweck ein besonderes Amt vorzusehen, aber den verfassungsmäßigen Organen und dem Amt die Mittel vorzuenthalten, die zur Erfüllung ihres Verfassungsauftrags nötig sind.“; Schlink (Fußn. 29), S. 87, sieht hierin den Ausdruck einer „allgemeine[n] Tendenz des Bundesverfassungsgerichts zur Anerkennung des Schlusses von der Aufgabe auf die Befugnis.“ 86 Vgl. die konzise Synopse bei Würtenberger/Heckmann (Fußn. 15), Rn. 165 ff.

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Bundesregierung.87 Während das Gericht das generelle Verbot des Schlusses von der Aufgabe auf die Befugnis bekräftigt, signalisiert es eine Lockerung für den Fall faktischer Grundrechtseingriffe: „In solchen Fällen steht das Rechtsstaatsprinzip mit den aus ihm abzuleitenden Anforderungen an die Bestimmtheit der Ermächtigungsgrundlage einem Schluß von der jeweiligen, vom Staat im Einklang mit der Rechtsordnung wahrgenommenen Aufgabe auf die Zulässigkeit entsprechender Individualrechtsbeschränkungen, die mit der Aufgabenwahrnehmung zwangsläufig oder typischerweise verbunden sind, nicht von vornherein entgegen. Das ergibt sich zum einen aus dem jeder Staatsaufgabe innewohnenden Postulat einer wirksamen Aufgabenwahrnehmung und zum anderen aus der Vielgestaltigkeit der Eingriffslagen und -wirkungen, die gerade aus solchem „informalen“ und deshalb nicht immer im Sinne eines bestimmten Rechtsinstrumentariums ausformbaren Staatshandeln resultieren können.“88

Den konsequentialistischen Fehlschluss von der Aufgabe auf die Befugnis hat das Gericht in seiner Argumentation mit „dem jeder Staatsaufgabe innewohnenden Postulat einer wirksamen Aufgabenwahrnehmung“ in dankenswerter Weise deutlich gemacht (so undeutlich auch bleibt, welchen normativen Status ein „Postulat“ hat). Dabei kann nicht einmal die verfassungsrechtliche Verstärkung des politischen Zielerreichungsdrucks durch grundrechtliche oder aus Staatszielbestimmungen herrührende Schutzpflichten89 von der Notwendigkeit einer parlamentarischen Entscheidung über die zulässigen Mittel, d. h. einer gesetzlichen Eingriffsgrundlage, entbinden. Während das Bundesverwaltungsgericht die prinzipielle Unzulässigkeit des Schlusses von der Aufgabe auf die Befugnis auch für den Fall staatlichen Informationshandelns offenbar aufrechterhält („steht… nicht von vornherein entgegen“), begründet das Bundesverfassungsgericht umgekehrt eine Vermutung für die Gewährung von Mitteln durch die Zuweisung der Aufgabe für öffentliches Informationshandeln: „Können Aufgaben der Regierung oder der Verwaltung mittels öffentlicher Informationen wahrgenommen werden, liegt in der Aufgabenzuweisung grundsätzlich auch eine Ermächtigung zum Informationshandeln.“90

Würde das Bundesverfassungsgericht diese Rechtsprechungslinie weiterverfolgen oder gar ausweiten, gäbe es damit dem jeweiligen politischen Zielerreichungs-

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BVerwGE 82, 76 (79): „Eine ausdrückliche Rechtsgrundlage für die in Rede stehenden Grundrechtsbegriffe der Bekl. fehlt. Sie werden jedoch durch die verfassungsrechtliche Aufgabenstellung der Bundesregierung und deren Befugnisse zur Information und Aufklärung der Öffentlichkeit hinreichend gerechtfertigt.“ 88 BVerwG, NJW 1991, 1770 (1771). 89 Zum Problemkreis Rainer Wahl/Johannes Masing, Schutz durch Eingriff, JZ 1990, 553 ff. 90 BVerfGE 105, 252 (268); hiergegen zusammenfassend Jestaedt (Fußn. 50), § 14 Rn. 53 m.w.N.

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druck nach.91 Der Rechtsstaat ist demgegenüber gerade dadurch definiert, dass er sich im Interesse der Wahrung von Grundrechten und anderen rechtsstaatlichen Sicherungen die Zielerreichung vielfach und kategorisch versagt. Er ist nicht die Staatsform der Machbarkeit, sondern der Achtsamkeit. b) Europäisierung? Es könnte scheinen, als bedrohe auch die Europäisierung die Unterscheidung von Aufgaben und Befugnissen im deutschen Recht. Zwar ist die Unionsrechtsordnung stark final geprägt, wie Art 235 EWGV bzw. Art 308 EG (jetzt Art 352 AEUV) sowie der Umgang des EuGH mit dem Primärrecht immer wieder gezeigt haben. Insofern verwundert es nicht, dass das Bundesverfassungsgericht in der Maastricht-Entscheidung an den Grundsatz der begrenzten Einzelermächtigung erinnert und darauf hingewiesen hat, er verbiete den Schluss von der Aufgabe auf die Befugnis.92 Es handelt sich hierbei aber um eine uneigentliche Verwendung der Formel, weil es nicht um Eingriffe in Rechte Privater, sondern einen staatsorganisationsrechtlichen Sachverhalt geht. Für die Sphäre der Grundrechtsträger bietet Art 52 Abs. 1 S. 1 GRCh mit der Forderung nach einer Eingriffsgrundlage („gesetzlich vorgesehen sein“) einen gewissen Schutz; auch dürfte die Kategorie der „Befugnis“ und die Notwendigkeit einer Rechtsgrundlage gemeineuropäische Tradition und Teil der gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten darstellen. Die Unterscheidung zwischen Aufgabe und Befugnis liegt dem Unionsrecht aber doch insoweit fern, als die Kategorie der „Aufgabe“ anderen mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen – so der englischen – fremd ist.93 VI. Fazit Die im 19. Jahrhundert herangereifte Unterscheidung von Aufgaben und Befugnissen hat eine begriffliche und eine inhaltliche Dimension: die Differenzierung zwischen zwei Normfunktionen (der Pflichtenzuweisung und der Mittelgewährung) und 91

Deutlich BVerfGE 105, 252 (271): „Die Zielerreichung könnte verfehlt werden, wenn die Informationstätigkeit der Bundesregierung sich auf alles andere zur Krisenbewältigung Wichtige beziehen, nicht aber einen Hinweis auf die Gefährlichkeit bestimmter Umstände enthalten dürfte.“ – Auch in anderen Kontexten scheint eine gewisse Bereitschaft des BVerfG zu bestehen, von einer Aufgabe auf Befugnisse oder Kompetenzen zu schließen, vgl. z. B. (aus staatsorganisationsrechtlichem Kontext) BVerfGE 127, 165 (199) vor (b). 92 BVerfGE 89, 155 (192). 93 Heckenberger (Fußn. 56), S. 61: „Im Gegensatz zum deutschen Polizeirecht gibt es im englischen Polizeirecht bis heute keine positive-gesetzliche Regelung, die den polizeilichen Aufgabenbereich definieren oder auch nur teilweise umschreiben würde.“; S. 62: „Der Aufgabenbereich der englischen Polizei ist daher in einem Zusammenspiel zwischen den auf dem Common Law beruhenden Grundsätzen und den in den Befugnisnormen enthaltenen Zweckbestimmungen zu definieren, wobei das englische Polizeirecht keine streng dogmatische Unterscheidung zwischen der Eröffnung des Aufgabenbereichs und der eigentlichen Befugnisnorm trifft.“

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die Postulierung ihrer Unabhängigkeit voneinander. Aus Letzterer folgt das Verbot eines Schlusses von der Aufgabe auf die Befugnis. Sinn dieses Verbots ist, dass im Überschwang der Verfolgung des (legitimen) Ziels die Gegengesichtspunkte, nämlich die Rechte des Hauptbetroffenen, insbesondere aber die Rechte Dritter, nicht marginalisiert, sondern berücksichtigt, d. h. überhaupt wahrgenommen und dann bewusst abgewogen werden. Dieser Gedanke richtet sich nicht nur an den Rechtsanwender, für den das Unterscheidungsgebot und das Schlussverbot in der Tat Auslegungshilfen sind,94 sondern kraft geltenden Verfassungsrechts auch und vor allem an den Gesetzgeber.95 Denn auch er ist nicht gefeit davor, dem konsequentialistischen Fehlschluss zu erliegen, und auch darin läge – verdeckt, aber umso gravierender – die Folgerungsweise des Polizeistaates.

94 Auch wenn, entgegen Walter Jellinek (Fußn. 23), S. 143, der Schluss vom Zweck aufs Mittel damit gerade kein zulässiges Auslegungsmittel ist. 95 Insoweit richtig Jellinek (Fußn. 23), S. 143, wenn er sagt, dass nicht der Rechtsanwender zu tadeln sei, sondern „höchstens das Gesetz, das es verabsäumt hat, die Grenzen zwischen Pflicht und Nicht-Pflicht klar zu umreißen“.

Resilienz: Demokratietheoretische Überlegungen zu einem neuen Sicherheitskonzept1 Von Gisela Riescher, Freiburg In der Bedeutung von Resilienz, aus dem Lateinischen vom Verb resiliere: abprallen, nicht anhaften, zurückspringen, oder dem englischen Substantiv resilience: Spannkraft, Widerstandsfähigkeit, Elastizität liegt nach Thomas Würtenberger ein fruchtbarer Ansatz zur Lösung der Sicherheitsproblematiken moderner Gesellschaften. Denn „die gesellschaftliche Resilienz fragt danach, wie das gesellschaftliche und politische System Störungen und Erschütterungen flexibel, innovativ und gegebenenfalls selbstlernend bewältigen kann. Resilienz im Bereich der Sicherheit bedeutet eine besondere Form der Robustheit des sozialen Systems, nämlich seine Fähigkeit, nach Erschütterungen möglichst rasch wieder in einen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen oder politischen Normalzustand zurückzukehren“.2 Dies verweist politisch und gesellschaftlich auf ein integratives Konzept zur Prävention vor und zur Reaktion bei Krisen, Katastrophen und Großschadensereignissen, wie sie die Menschheit seit jeher immer wieder heimsuchen. Die Übernahme der Resilienzidee von der Psychologie, den Technik- und Umweltwissenschaften in die Geistes- und Sozialwissenschaften nach den Terroranschlägen des 11. September, den verheerenden Naturkatastrophen der letzten Jahre (Hurrikan Katrina 2005, Erdbeben und Tsunami in Fukoshima 2011) und dem Attentat in Norwegen im Juli 2011 verweisen darauf, dass man auf der Suche ist, wie extreme Unsicherheit und Bedrohung aus der Mitte der Gesellschaft heraus bewältigt werden kann. Während der Einsatz von zunehmender Sicherheitsgesetzgebung schnell in Konflikt mit freiheitlichen Lebensformen geraten kann und deshalb nicht selten großer Kritik begegnet3, scheint die Idee der Resilienz die politischen Spannungsfelder von Freiheit und Sicherheit miteinander versöhnen zu können. Denn sie setzt präventiv wie reaktiv auf die Stärken einer offenen Gesellschaft, auf ihre politischen Werte und auf ihre Selbstheilungskräfte4. Auch wenn der Begriff Resilienz in der Politikwissen1

Für wertvolle Anregungen danke ich Lukas Becht, Helen Göhring und Kerstin Rönsch. Würtenberger, Resilienz, FS Schenke, 2011, 561 (563). 3 Vgl. Riescher, Demokratische Freiheit und die Sicherheit des Leviathan, in: dies. (Hrsg.), Sicherheit und Freiheit statt Terror und Angst. Perspektiven einer demokratischen Sicherheit, 2010, S. 11 – 24. 4 Hierzu Gander/Perron/Poscher/Riescher/Würtenberger (Hrsg.), Resilienz in der offenen Gesellschaft, 2012. 2

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schaft neu ist, so ist doch das damit verbundene Konzept dem Fach und insbesondere der Politischen Theorie nicht fremd. Es an ausgewählten Schnittstellen, insbesondere in ihren demokratietheoretischen Ansätzen aufzuspüren, ist die Aufgabe des folgenden Artikels. Es wird sich zeigen lassen, dass die Idee der Resilienz in weiten Teilen komplementär ist mit dem Bürgerbild der sog. „Input-orientierten“ Demokratietheorien und ihren kommunikativen und partizipativen Formen der politischen Teilhabe. Politische Systeme, die diese demokratischen Ideen in ihre Politik integrieren können, erweisen sich Katastrophen gegenüber – und dies wird nachfolgend das Beispiel Norwegen zeigen – als resilient. I. Magere und starke Demokratien: Demokratietheoretische Ansätze Demokratietheoretische Ansätze zur Beschreibung politischer Systeme zeichnen sich durch die Unterscheidung aus, entweder der Steuerungskapazität, der Effizienz und der Ergebnisorientierung mehr legitimatorische Bedeutung zuzumessen oder aber der bürgerschaftlichen Unterstützung, den Kommunikations- und Partizipationsmöglichkeiten. Fritz Scharf hat diese Unterscheidung in seiner Konstanzer Antrittsvorlesung systematisiert, so dass man seither erstere als Output-orientierte Demokratietheorien bezeichnet und letztere als Input-orientierte.5 Dieser Unterscheidung liegen systemtheoretische Konzepte von Easton, Almond und Parson zugrunde, die das politische System in einem Kreismodell (policy cycle) konzipieren, in dem – vereinfacht dargestellt – von den Bürgern Inputs in Form von Forderungen, Interessen und Unterstützungen an die politischen Institutionen gehen.6 Diese werden dort verarbeitet und kommen als Output, als verbindliche Entscheidungen, wieder an die Gesellschaft zurück. Input-orientierte Demokratietheorien bemessen folglich die Demokratiequalität eines politischen Systems vor allem aus der Sicht der Input-Perspektive: der Möglichkeiten und Formen der Meinungsbildung, der Transparenz, der artikulierten Interessen, der vorhandenen Kommunikationsstrukturen und der Möglichkeit wie der Intensität der politischen Beteiligung. Selbstregierung, Selbstverwaltung und „Government by the people“7 sind die wichtigen Prämissen der Demokratiemessung. Effektivität und Effizienz des Regierens wird dagegen – anders als in Output-orientierten Demokatietheorien – nicht per se als positives Demokratiemerkmal gesehen und eher kritisch geprüft. Gilt doch der Effizienz des Entscheidens nicht selten allzu große Mitwirkung eher als Verzögerungs- oder Verwässerungselement des Policymakingprozesses. Die Legitimität und das genuin Demokratische politischer Systeme speist sich in Input-orientierten Demokratietheorien aus der bürgerschaftlichen Partizipation. Ist sie nicht hinreichend vorhanden, verliert das Prinzip 5

Scharpf, Demokratietheorie zwischen Utopie und Anpassung, 1970. Ausführlich dargestellt in Riescher/Obrecht/Haas, Theorien der Vergleichenden Regierungslehre, 2011, S. 87 ff. (mit Abb. 5.1). 7 Abraham Lincoln definierte in seiner Gettysburg Rede von 1863 Demokratie als „government of the people, by the people and for the people“. 6

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der Demokratie – die Souveränität des Volkes – seine Basis und seine Wirksamkeit. Die liberale Form der Demokratie, die das Repräsentationsprinzip und die OutputEffizienz des Regierungshandelns in den Mittelpunkt stellt, ist, so die Kritik Input-orientierter Theorieansätze, auf dem besten Weg ihre demokratische Legitimationsbasis zu verlieren. Benjamin Barber bezeichnet diese liberale, Output-orientierte Demokratie als „magere Demokratie“. Für sie stehen Werte wie Individualismus, Freiheit als Selbstbestimmung, das Menschenbild des homo oeconomicus, Gewinnstreben, fehlende Gemeinschaftsorientierung, Repräsentations- statt Partizipationsbeziehungen und die Politik einer paternalistischen Verwaltung. Die Bezeichnung „mager“ hat in unserem Kontext – wie noch zu zeigen sein wird – Konsequenzen für die Widerstandsfähigkeit, für die Resilienz dieser Demokratien: auch sie erscheint in der Definition Benjamin Barbers als „mager“: „Was wir mager genannt haben, verschafft uns weder die angenehmen Seiten der Partizipation, noch die Einbindung in eine Gemeinschaft von Bürgern, weder die Autonomie und die Selbstbestimmung, noch die bereichernde Gegenseitigkeit geteilter öffentlicher Güter. Ihre Blindheit gegenüber der wechselseitigen, jedem politischen Leben zugrundeliegenden Abhängigkeit der Menschen macht aus der mageren demokratischen Politik bestenfalls eine Politik der statischen Interessen, nie eine Politik der Veränderung. Magere Demokratie mag für eine Politik des Aushandelns und Tauschens taugen, nicht jedoch für eine erfinderische und schöpferische Politik; für eine Politik, die von Männern und Frauen das Schlimmste annimmt (um sie vor sich selbst zu schützen), nicht aber für eine Politik, die deren hoffnungsvolles Potential berücksichtigt (um ihnen zu helfen, besser zu werden).“8

Starke Demokratien dagegen zeichnen sich für Benjamin Barber durch ein Bürgerkonzept aus, das seit der griechischen Antike als das Modell einer guten Polis gilt9. Aristoteles schreibt im dritten Buch der Politik, es sei die Tugend des Bürgers, gut zu regieren und gut regiert werden zu können: „So ist denn auch bei den Bürgern, mögen sie auch verschieden sein, die Erhaltung der Gemeinschaft ihr gemeinsames Werk, und diese Gemeinschaft ist eben die Staatsverfassung.“10 An diese aristotelische Grundlegung des bürgerschaftlichen Partizipationsbegriffes als Tugend und als Pflicht 8

Barber, Starke Demokratie. Über die Teilhabe am Politischen, 1994, S. 62 f. „Starke Demokratie ist eine entschieden moderne Form partizipatorischer Demokratie. Sie beruht auf dem Gedanken einer sich selbst regierenden Gemeinschaft von Bürgern, die weniger durch einheitliche Interessen vereinigt sind als durch staatsbürgerliche Erziehung, und die eher aufgrund ihrer staatsbürgerlichen Einstellungen und partizipatorischen Institutionen als durch ihren Altruismus und ihre Gutmütigkeit die Fähigkeit erworben haben, einen gemeinsamen Zweck zu verfolgen und nach dem Gegenseitigkeitsprinzip zu handeln. […] Sie stellt die Politik als eine bestimmte Art dar, sein Leben zu führen – nämlich jene, die menschliche Wesen mit unterschiedlichen, wiewohl formbaren Charakteren und mit konkurrierenden, aber sich berührenden Interessen gemeinschaftlich entwickeln können, nicht nur um ihres gegenseitigen Nutzens willen, sondern auch zum Nutzen ihres gemeinschaftlichen Miteinanders.“ (Ebd. 99 und 101) 10 Aristoteles, Politik, übersetzt von Olof Gigon, mit einer Einführung und Literaturhinweisen von Hans-Joachim Gehrke, 2006, S. 84 (III 1276 b 26). 9

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der Gleichen und Freien in der Polis schließt Hannah Arendts Bestimmung des Politischen als Handeln an: „Nur ein Privatleben führen heißt in erster Linie, in einem Zustand leben, in dem man bestimmter, wesentlich menschlicher Dinge beraubt ist.“11 Das heißt, so fährt sie andernorts fort, dass sich dem Menschen, wenn er öffentlich handelt, „eine bestimmte Dimension menschlicher Existenz erschließt, die ihm sonst verschlossen bleibt und die irgendwie zum vollgültigen ,Glück‘ gehört.“12 Der normative Bürgerdiskurs, der auf dem Menschenbild des zoon politikon und des homo politicus aufbaut, findet sich, um nur einige Vertreter zu nennen, in den politischen Theorien von Alexis de Tocqueville, den Federalist Papers, den amerikanischen Kommunitaristen, den deliberativen Theorien von Jürgen Habermas oder jüngst auch bei Colin Crouch, der mit dem Ende der bürgerschaftlichen Partizipation das postdemokratische Zeitalter beschwört13 (Postdemokratie). Gemeinsam ist ihnen, dass sie, nun auf den policy cycle bezogen, die Input-Legitimation des politischen Systems präferieren. In Benjamin Barbers Definition der „starken Demokratie“ bedeutet dies eine eindeutige Präferenz von verschiedenen Formen der Bürgerbeteiligung bis hin zur direkten Demokratie. Deutlich wird dabei die Dialektik von politischer Partizipation und politischem Interesse, von Information und politischem Wissen, von politischer Kommunikation und der „Lust“ an bürgerschaftlicher Beteiligung: „Die starkdemokratische Lösung für die politische Ausgangsbestimmung entsteht aus einer sich selbst zuarbeitenden Dialektik aktiver Bürgerbeteiligung und ununterbrochener Schaffung einer Gemeinschaft, in der Freiheit und Gleichheit gefördert und politisches Leben aufrecht erhalten werden. Gemeinschaft erwächst aus Bürgerbeteiligung und ermöglicht zugleich Partizipation. Nehmen Individuen ihre Aufgaben als Bürger wahr, dann werden sie dazu erzogen, öffentlich als Bürger zu denken, so wie die Bürgerschaft die staatsbürgerliche Tätigkeit mit dem erforderlichen Sinn für Öffentlichkeit und Gerechtigkeit erfüllt. […] Liberale und repräsentative Formen der Demokratie machen die Politik zu einer Sache von Experten und Spezialisten, die auch keine spezielle Befähigung geltend machen können als eben die, dass sie mit Politik befaßt sind und einander in einem Rahmen begegnen, der sie zum Handeln und zur Suche nach gemeinsamen Lebenswegen auffordert. Starke Demokratie ist eine Politik von Amateuren, die alle dazu aufgerufen sind, anderen Menschen ohne Vermittlung sachverständiger Gutachter entgegenzutreten. Dass Bürgerbeteiligung alle einbezieht – jeder Bürger ist sein eigener Politiker – ist von zentraler Bedeutung.“14

Unmittelbar nach den Anschlägen des 11. September 2001 nutzte Benjamin Barber sein Konzept der starken Demokratie als Mittel zur Verteidigung der demokratischen Werte gegen Terrorismus, Unsicherheit und Angst15. Während er in der Re11 Arendt, Vita Activa oder vom tätigen Leben, 2/1981, S. 57. Vgl. hierzu und zum Folgenden auch: Riescher, Kommunitaristische Begründungen demokratischer Partizipationsformen, in: Riescher/Rosenzweig (Hrsg.), Partizipation und Staatlichkeit, 2012 (i. E.). 12 Hannah Arendt im Interview mit Adalbert Reif. In: Arendt, Macht und Gewalt, 4/1981, S. 105 – 133, hier S. 109. 13 Crouch, Postdemokratie, 2008. 14 Barber (Fußn. 8), S. 148 f. 15 Vgl. Riescher, Der Staat 2006, S. 27 – 44.

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aktion der Bush-Administration mit der Kriegserklärung gegen den Terror, der Kontroll- und Überwachungsgesetzgebung und den Freiheitsbegrenzungen alle Anzeichen der Reaktionslogik einer mageren Demokratie erblickte, rief er zur Stärkung der freiheitlich-demokratischen Werte und vor allem zur Einbeziehung der Bürger auf. Denn – so die Konsequenz aus seiner starkdemokratischen Theorie – aktive, partizipative und mündige Staatsbürger, die sich für kommunale Selbstverwaltung und das demokratische Gemeinwesen engagieren, treten für ihre demokratischen Ideale ein. Ihnen sind die Werte westlicher Demokratien, gegen die die Terroristen des 11. September kämpften, wert sie zu verteidigen: Freiheit und Sicherheit, Gleichheit und politische Beteiligung, freie Meinungsäußerung, Transparenz und Mitbestimmung. Aktive Bürger, so Barbers Argumentation, lassen sich nicht durch Terror verängstigen oder aus Angst instrumentalisieren. Seine Forderung zur Errichtung einer (weltweiten) „präventiven Demokratie“ als Reaktion auf die Anschläge16 beinhaltet implizit ein demokratietheoretisches Modell von politischer und gesellschaftlicher Resilienz, das sich für die Politikwissenschaft weiterentwickeln lässt. Lukas Becht hat im Anschluss an Barbers starke Demokratie hierfür den Begriff „starkdemokratische Sicherheit“ geprägt.17 Was bedeutet ein solches Konzept starkdemokratischer Sicherheit für die Frage der Resilienz? II. Resilienz durch „starkdemokratische Sicherheit“ Fasst man mit Würtenberger u. a. Resilienz in der Sicherheitsforschung als Form der Robustheit in Politik und Gesellschaft auf, um nach Angriffen, Störungen oder Großschadensereignissen möglichst schnell auf Verletzung und Zerstörungen zu reagieren, den Schaden zu minimieren und politisch und wirtschaftlich handlungsfähig zu bleiben, so nutzt die Resilienzforschung zur Beschreibung dieses Prozessablaufes – ähnlich wie die Politikwissenschaft – ein Phasenmodell. Dieser auf Charlie Edwards zurückgehende sog. Social Resilience Cycle enthält vier Phasen: mitigation, preparedness, response und recovery.18 Diese Trennung der einzelnen Phasen dient der Analyse, faktisch sind die Übergänge ebenso fließend wie der Start des Modells mit „mitigation“ und mit „recovery“ als Endphase. Dennoch lohnt es sich zur Beschreibung der Resilienzabläufe, dieser Trennung zunächst zu folgen. Mitigation (lindern, mildern) meint „the general process of strengthening a communities capabilities so that it has the resilience to cope better with any future disas16

Barber, Imperium der Angst. Die USA und die Neuordnung der Welt, 2003, S. 32. Becht, Demokratische Sicherheit. Theoretische Positionen im Anschluss an Barber, Etzioni und Sartori, in: Riescher (Fußn. 3), S. 177 – 201; hier S. 189: „,Starkdemokratische Sicherheit‘ ist die langfristige Abwesenheit von Furcht als der größten Gefahr für die nationale und internationale Gemeinschaft und die demokratische Kultur der Partizipation“. 18 Edwards, Resilient Nation, 2009, S. 20. Übernommen wird der Resilienz-Zyklus in etwas veränderter Form vom CSS der ETH Zürich: vgl. Resilienz: Konzept zur Krisen- und Katastrophenbewältigung, CSS Analysen zur Sicherheitspolitik Nr. 60 September 2009, S. 1 – 3. 17

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ter“.19 Edwards und auch die CSS Analysen nennen als Befähigungen und Fähigkeiten sog. „weiche Faktoren“ wie Vertrauen und Kooperation, die vor allem auf kommunaler und regionaler Ebene zum Tragen kommen20. Überträgt man diese Kriterien sozialer Resilienz auf die Input-Strukturen des Policy Cycle, so kann man die Stärkung der Gemeinschaft in Motivation und der Bereitstellung von politischen Partizipationsformen sehen. In Benjamin Barbers Worten: „Bürgerschaftliches Engagement errichtet Mauern der Aktivität um die Angst. Damit lassen sich Terrorakte nicht verhindern, wohl aber die psychischen Kosten vermindern, die der Terrorismus fordert.“21 Mitigation beschreibt damit ebenso wie preparedness eine vorbereitende Auseinandersetzung mit möglichen Katastophen: „Preparedness involves anticipating emergencies and creating a response capability by analysing probable threats.“22 Edwards formuliert ähnlich wie Barber Ansätze eines bürgerschaftlichen Konzepts mit Formen der politischen Beteiligung, die, wiederum wie in partizipatorischen Demokratietheorien, mit politischer Erziehung in den Schulen und in der kommunalen Selbstverwaltung beginnt. Barber fordert von den Vereinigten Staaten von Amerika, nicht mit verschärfter Sicherheitsgesetzgebung auf Terror zu reagieren und Freiheitsrechte einzuschränken. Die Schwächung, die das Land durch die Einschränkung offener Lebensformen erfährt, gleiche einer Zielerreichung der Angreifer und lasse eine ängstliche und passive Bevölkerung zurück. Er rät vorbeugend die eigenen demokratischen Werte zu exportieren. Nicht Präventionskriege, sondern die präventive Demokratie bildet die adäquate Vorbereitungs- bzw. Verhinderungsstrategie für den internationalen Terrorismus. Es brauche allerdings Zeit, Demokratien dort zu entwickeln, wo Völker in demokratischen Verfahren ungeübt sind, Zeit „für die Errichtung bürgerschaftlicher Fundamente, die einen demokratischen Überbau tragen können“ und um die Gesellschaft „durch Erziehung und Bildung auf die Rolle mündiger Bürger vorzubereiten […] und Tugenden herauszubilden, die eine wesentliche Voraussetzung für das Bestehen demokratischer Bewährungsproben sind.“23 Response ist die Phase der Reaktionen, die auf ein Schadensereignis folgen: „The focus here is on saving lives, minimising damage to property and disruption the community.“24 Für Benjamin Barber und andere Input-orientierte Demokratietheoretiker kommt es in dieser Phase außer auf Rettungsmaßnahmen besonders darauf an, das Überleben der Demokratie und ihrer Werte zu sichern. Der Appell geht an die staatlichen Sicherheitsbehörden, durch drastische Einschränkungen demokratischer Freiheitsrechte nicht jene Werte zu zerstören, um derentwillen der Kampf gegen den Terror geführt wird. Nach dem 11. September führte diese Diskussion in den USA neben 19

Edwards (Fußn. 18), S. 19. CSS Analysen (Fußn. 18), S. 2. 21 Barber (Fußn. 16), S. 242. 22 Edwards (Fußn. 18), S. 20. 23 Barber (Fußn. 16), S. 193. 24 Edwards (Fußn. 18), S. 20. 20

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Barber vor allem Richard Rorty.25 Richard Rorty befürchtete, dass nach den Terroranschlägen des 11. September 2001 eine Kaskade von Gesetzen die Folge sein könnte, die die Bürgerrechte untergrabe und schließlich dazu führe, „dass die Demokratie zerstört wird, um sie zu retten“26. In zahlreichen Artikeln in amerikanischen aber auch europäischen Zeitungen warnt er vor der Gefahr, „dass die Demokratie den ethischen Boden unter den Füßen zu verlieren droht“27. Er äußerte die Befürchtung, unter dem Zeichen der Terrorbekämpfung würden Bürgerrechte und Pressefreiheit immer weiter eingeschränkt, um die demokratische Republik durch einen nationalen Sicherheitsstaat zu ersetzen – mit fatalen Folgen, denn Sicherheitsmaßnahmen reichten nicht aus, um Terroranschläge zu verhindern. Es sind, so Rorty, die Werte der Demokratie und es sind die Bürgerinnen und Bürger, die diese Werte gegen ihre Feinde zu verteidigen wissen, die im Kampf gegen den Terror bestehen.28 Recovery im Resilienz-Phasenmodell beschreibt schließlich die Zeit der Wiederherstellung, des Aufbaus und der langfristigen Erholung nach dem Ereignis (rebuilding and restoring a community). Langfristig werden in dieser Phase auch die Verbesserung der Resilienz, eine Optimierung der Funktionsweise einzelner Resilienzphasen und die dauerhafte Herausbildung einer resilienten Gesellschaft angestrebt. Demokratietheoretisch gewendet heißt dies, bürgerschaftliche Teilhabe am Politischen zuzulassen und zu fördern, sodass das Vertrauen in die eigenen Stärken dominiert. Wenn man mit Barber davon ausgeht, dass „das einzige, was die Vereinigten Staaten (und nicht nur sie, sondern alle Staaten der Welt) vor Anarchie, Terrorismus und Gewalt zu schützen vermag, die Demokratie selbst ist“29, dann gilt es in dieser Phase alles zu tun, um eine „magere“ Demokratie durch eine „starke“ Demokratie zu ersetzen, die „starkdemokratische Sicherheit“ gegen ein „Imperium der Angst“ aufbauen und garantieren kann30. „Mauern der Aktivität“ durch bürgerschaftliches Engagement zu errichten ist damit nach Barber die Hauptaufgabe dieser Resilienzphase und des gesamten Resilienz-Zyklus. Analysiert man Barbers sicherlich gelegentlich plakative Begrifflichkeiten mit partizipationstheoretischen Zugängen und verortet man sie im politischen Systemmodell, so geht es ihm, wie anderen Partizipationstheoretikern auch, um eine intensive und dauerhafte Stärkung der Input-Seite des Policycycles. Nicht effizienter Out25 Zum Folgenden Riescher, Freiheit und Sicherheit. Demokratietheorie im Zeichen des Terrors, in: Maurer/Schultze/Stammen (Hrsg.), Kulturhermeneutik und kritische Rationalität, 2006, S. 647 – 656. 26 Rorty, NZZ 8. März 2004. 27 Ebd. 28 Rorty, The Nation, October 21, 2002, S. 11 – 14. 29 Barber (Fußn. 16), S. 60. 30 Zu seinem Titelbegriff „Imperium der Angst“ erklärt Barber (Fußn. 16), S. 246: „Das Imperium der Angst ist ein Reich ohne Bürger, ein Habitat von Zuschauern, Untertanen und Opfern, die ihre Passivität als Hilflosigkeit erleben, die sich in Angst umsetzt. Bürgerschaftliches Engagement errichtet Mauern der Aktivität um die Angst. […] Um Angst zu überwinden muss man den Sprung aus der lähmenden Unsicherheit heraus wagen.“

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put in Form von verstärkter Sicherheitsgesetzgebung, Exklusion von Bevölkerungsgruppen, Überwachungsmethoden und Einschränkungen von bürgerlichen Freiheitsrechten machen in dieser Sichtweise eine Gesellschaft resilient. Dies bringt allenfalls ein „Habitat von Zuschauern“ hervor, die ängstlich in die Zukunft blicken. Die Stärkung der Partizipationsmöglichkeiten dagegen bringt Bürgerinnen und Bürger hervor, die nicht grenzenloser Toleranz anhängen, sondern für ihre demokratischen Werte eintreten und sie gegen Angriffe verteidigen. Das Input-theoretische Resilienzmodell speist sich somit im Grunde genommen aus den bürgerschaftlichen Demokratieidealen, wie sie seit der griechischen Antike den aktiven Polisbürger ausmachen: es geht um die inklusive Beteiligung aller an den öffentlichen Angelegenheiten, die Verteidigung freiheitlich-demokratischer Werte als fundamentale politische Werte, um Formen der Selbstorganisation und Selbstverwaltung anstatt paternalistischer Fürsorge, um transparente Prozesse der Willensbildung, eine offene Risikokommunikation, die dem deliberativen Modell folgt31 und über die Herstellung von Öffentlichkeit Kontrollfunktionen wahrnimmt. Wendet man den Blick von der Demokratietheorie in die politische Praxis und fragt nach politischen Systemen, die als Modelldemokratien für eine resiliente Politik und Gesellschaft fungieren könnten, so kann sich aktuell der Blick auf Norwegen richten. Hier beginnt im Frühjahr 2012 der Prozess gegen den Attentäter von Stockholm und Utoya. Und es scheint, als sei Norwegen auf dem besten Wege, in der recovery-Phase des social resilience cycle angekommen zu sein und die Verarbeitung des schrecklichen Ereignisses mit mehr partizipativer Demokratie aufzunehmen. III. Demokratietheorie und politische Praxis: Erweist sich Norwegen als resilient? Die Rede des norwegischen Königs Harald V. zur Eröffnung der 156. Session des norwegischen Parlaments (Storting) am 3. Oktober 2011 stand ganz im Zeichen des Terroranschlages vom 22. Juli dieses Jahres. Anders Behring Breivik, ein rechtsradikaler Norweger, hatte am 22. Juli 2011 zunächst im Regierungsviertel von Oslo mit einer Autobombe acht Menschen getötet. Anschließend erschoss er, als Polizist verkleidet, auf der Insel Utoya 69 überwiegend jugendliche Teilnehmer eines sozialdemokratischen Ferienlagers. Hass auf Ausländer und eine ihm zu ausländerfreundliche sozialistische Gesellschaft gab er unmittelbar nach seiner Festnahme als Motive an. Als König Harald V. im Herbst des Jahres die Parlamentssession eröffnete, waren nicht – wie man vermuten könnte – Ankündigungen von Regierungsvorhaben zur Sicherheitsgesetzgebung die ersten und wichtigsten Tagesordnungspunkte, sondern es war das Bekenntnis zu einer offenen und resilienten Gesellschaft: 31 Habermas, Fundamentalismus und Terror, in: Philosophie in Zeiten des Terrors, eingeleitet und kommentiert v. Borradori, 2003, S. 49 – 69.

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„The terrorist attacks on 22. July targeted Utoya and the government offices in Oslo, but it was the whole nation that was attacked. The Norwegian responded by rallying to the cause of democracy. Out of our shock and grief emerged a collective determination to maintain solidarity, openness and public participation. During the most critical hours and days Norway has experienced since the Second World War, its people took responsibility for defending our values, and showed the way forward. This has strengthened our democracy. […] The government will seek to find a balance between the need for adequate security and preparedness and the collective desire to maintain the close relationship between the Norwegian people and the key actors in our society. The government’s overall objective is to respect the will of the people, who want Norwegian society to become more open, participatory and democratic. This means that the government must demonstrate the same wisdom, humility and respect as the Norwegian people have done.“32

Dass dies keine Sonntagsrede war, sondern das Lebensgefühl und die Demokratieprinzipien Norwegens ausdrückt, zeigen die Einschätzungen der Journalisten, die über die Anschläge berichteten. Kein Krieg gegen den Terror oder der Ruf nach einer Verstärkung der Sicherheitsgesetzgebung bestimmten im Sommer 2011 die Forderungen in Oslo. Das Bekenntnis zu einer freiheitlich verfassten Politik in einer offenen Gesellschaft, die sich über Partizipation, Kommunikation und Konsensverfahren organisiert und die diese Werte unmittelbar nach dem Attentat in den Mittelpunkt ihres Handelns stellt, rief in der Medienberichterstattung Bewunderung aber auch Erstaunen hervor. Weder Angst noch Hass, Vergeltung oder Rache bestimmte die Reaktion, sondern – so übereinstimmend in den Medien – der Wunsch nach mehr Humanität, Offenheit und Demokratie.33 Politik und Gesellschaft in Norwegen gelten als egalitär, konsensorientiert, transparent und kommunikativ, die Politik und das politische Personal als volksnah und „down to the earth“. Dies sind weniger Eigenschaften, die die Verfassung vorgibt34, sondern die durch die politische Kultur des Landes bestimmt werden. Die Gesetzgebungsprozesse, obgleich im Verfassungstext repräsentativ durch die beiden Kammern des Parlamentes geführt, werden in der politischen Praxis angereichert durch bottom up-Prozesse, durch Deliberation, offene Diskurse und konsensorientierte Beteiligungsverfahren. So haben – obgleich in der Verfassung nicht formuliert (vgl. Art. 76 – 79) – auch Privatpersonen, Kommunalverwaltungen und Interessensverbände in der Praxis das Recht, Gesetzesvorschläge zu unterbreiten, die dann von Parteien und Abgeordneten aufgenommen werden. Zudem werden Gesetzesinitiativen bereits in der vorparlamentarischen Phase, ähnlich dem schweizerischen Vernehmlassungsverfahren, ausgewählten Interessensorganisationen, Gebietskörper32 The Speech from the Throne by his Majesty the king on occasion of the Opening of the 156th session of the Storting, 3 October 2011. http://www.regjeringen.no/en/dep/smk/docu ments/The-Speech-from-the-Throne/Jens-Stoltenbergs-second-Government-1710/the-speechfrom-the-throne-by-his-maje-2.html?id=657041. 33 Auch Ministerpräsident Jens Stoltenberg sprach unmittelbar nach dem Terrorakt von mehr Offenheit und Demokratie. „Ich bewahre den Glauben an eine offene Demokratie und Gesellschaft“, sagte König Harald in seiner Rede an die Nation. 34 Norwegische Verfassung, http://www.verfassungen.eu/n/norwegen14e.htm.

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schaften oder anderen Betroffenen zur Stellungnahme vorgelegt.35 Das skandinavische Modell der Ombudsmänner zur ergänzenden bürgerschaftlichen Kontrolle von Politik und Verwaltung sorgt für Volksnähe und eine hohe politische Akzeptanz. Die hohe Akzeptanz der politischen Institutionen und des bürgernahen Königshauses verweisen ebenso auf eine politische Kultur der Inklusion. Selbst der Kommunalpolitik wird im Zentralstaat Norwegen große politische und politisch-symbolische Bedeutung zugemessen. Denn obgleich das Land weder föderativ noch in einer dezentralen kommunalen Selbstverwaltung organisiert ist, geht von den Kommunen im Bewusstsein der Bevölkerung bürgerschaftliche Partizipation und lokale Macht aus. Stein Ringen, Professor für Soziologie und Sozialpolitik an der Universität Oxford, verweist darauf, dass diese Faktoren Norwegen in vergleichenden Demokratiemessungen in Spitzenpositionen rangieren lassen: „In international comparative studies, the Norwegian system is consistently at the top of the range, both in democratic quality and the efficency of governance“.36 Stein Ringen beschreibt die norwegische Gesellschaft heute „as a cohesive society of strong families and schools, weak social conflicts, high quality of life, and a content and optimistic population. […] By European standards crime is low, the law lenient, and the prison population small. Governance is honest and benevolent, democratic institutions retain high legitimacy, and voter participation is comparatively high.“37 Ein knappes Jahr nach den grausamen Attentaten von Oslo und Utoya scheint Norwegen diese politisch-sozialen Werte nicht verloren zu haben und Demokratie, Offenheit und Humanität nicht preisgeben zu wollen: Während vor dem Prozessbeginn am 16. April 2012 die Zurechnungsfähigkeit Anders Behring Breiviks geprüft wird und er vor dem Haftrichter für sich in martialischen Reden die sofortige Freilassung fordert, reagieren Überlebende und Angehörige der Opfer mit lautem Gelächter. Ihn auszulachen, so einer der Überlebenden, sei eine gute Art, mit seinen Argumenten umzugehen.38 Blickt man von Norwegen aus noch einmal zurück auf die Ideen und Ideale, die die Menschen mit dem politischen Modell der Demokratie seit jeher verbinden, auf die sie hofften und für die sie kämpften, dann gehören die Partizipationsrechte zu den vorrangigen Merkmalen demokratischer Politik. Demokratietheorien geben seit Aristoteles’ Politik immer wieder alte und neue Antworten darauf, wie über Partizipation jener Bürgergeist entsteht, der die politische Freiheit sichert. Auch wenn Formen und Umfang demokratischer Beteiligungsmöglichkeiten kontrovers diskutiert werden, so gelten sie doch unumstritten als eine wesentliche Legitimationsbasis jeder demokratischen Herrschaft. Input-orientierte Demokratietheorien, die der bürger35 Vgl. hierzu und zum Folgenden Groß/Rothholz, Das politische System Norwegens, in: Ismayr (Hrsg.), Die politischen Systeme Westeuropas, 4. Aufl. 2009, S. 151 – 193. 36 Ringen, Taiwan Journal of Democracy, Vol. 6, No. 2, 2010, 43 (43 f.). 37 Ebd., S. 45. 38 Magnus Haakonsen, der Breiviks Angriff auf das Sommerlager der regierenden Arbeiterpartei auf der Insel Utoya überlebte. http://www.stern.de/panorama/haftpruefungstermin-inoslo-behring-breivik-scheitert-mit-forderung-nach-entlassung-1782963.html.

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schaftlichen Partizipation einen vorrangigen Stellenwert in der qualitativen Bewertung von Demokratie zumessen, bieten sich damit als nahezu „natürliche“Anschlusstheorien für die Resilienzkonzepte der Sicherheitsforschung an. Mehr als Output-orientierte, von effizienten Politikergebnissen abhängige Theorien vermögen sie es, den Konzepten gesellschaftlicher Resilienz zur Durchsetzung zu verhelfen. Denn bürgerschaftliche Partizipation, offene Kommunikationsformen und transparente Politikprozesse schaffen Akzeptanz und das Vertrauen in Institutionen und Maßnahmen, die eine Bürgergesellschaft in Krisensituationen und Katastrophen mutig, aktiv und resilient machen. Das Konzept der „starkdemokratischen Sicherheit“ schließlich verweist darauf, wie eine demokratische Gesellschaft Resilienz in ihr Modell der partizipatorischen Demokratie integrieren kann. Nimmt man dies als Aufgabe der Politikwissenschaft in der Sicherheitsforschung, so eröffnet sich aus demokratietheoretischer Perspektive ein integratives Forschungsfeld, dem die von Thomas Würtenberger erwarteten fruchtbaren Ergebnisse für eine neue Sicherheitsarchitektur nicht verschlossen bleiben werden.

Konstitutionalisierung: Vorbild für die Europäisierung des Sicherheitsrechts? Von Ralf P. Schenke, Würzburg Als ein wichtiger Forschungsschwerpunkt des Jubilars hat sich in den vergangenen Jahren mehr und mehr das Sicherheitsrecht herauskristallisiert. Seit Beginn seines wissenschaftlichen Wirkens hat dieses eine stürmische Entwicklung genommen, die Thomas Würtenberger gleichermaßen vorangetrieben wie kritisch begleitet hat1. Bestimmende Kräfte der Neuordnung waren sowohl neue Gefährdungslagen, technische Innovationen2, hierdurch bedingte Veränderungen im Sicherheits- und Rechtsbewusstsein3, aber auch die Megatrends der deutschen Rechtsentwicklung, die durch die Begriffe der Konstitutionalisierung4 und Europäisierung5 der Rechtsordnung bezeichnet werden. Anno 2012 erscheint der Prozess der Konstitutionalisierung weitgehend abgeschlossen. Karlsruhe hat eine imponierende und weithin in sich geschlossene Dogmatik des Sicherheitsverfassungsrechts geschaffen, in die sich neue Fragestellungen ohne größeren Überraschungswert einfügen lassen6. Der Prozess der Europäisierung ist hingegen noch vergleichsweise offen. Erstmals in das Bewusstsein auch einer breiteren Öffentlichkeit ist die Europäisierung des Sicherheitsrechts vor rund 20 Jahren im Kontext der Debatte um Europol getreten. Die Notwendigkeit einer Verstärkung der polizeilichen Zusammenarbeit in Eu1

Zuletzt Würtenberger, Entwicklungslinien des Sicherheitsverfassungsrechts, in: Ruffert (Hg.), Festschrift M. Schröder, 2012, 285 ff. 2 Würtenberger (Fußn. 1), 287. 3 Vgl. Würtenberger, Zeitgeist und Recht, 2. Aufl., 1991. 4 Vgl. nur Zippelius/Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 32. Aufl., 2008, § 17 Rdnr. 20; Schuppert/Bumke, Die Konstitutionalisierung der Rechtsordnung, 2000; Knauff, Konstitutionalisierung im inner- und überstaatlichen Recht, ZaöRV 68 (2008), 453 ff.; Würtenberger, Konvergenzen oder Dominanz nationaler Rechtstraditionen in Deutschland und Frankreich?, Frankreich-Jahrbuch 2001, 151 (154). 5 Vgl. Würtenberger/Tannenberger, Gesellschaftliche Voraussetzungen und Folgen der Technisierung von Sicherheit, in: Winzer/u. a. (Hg.), Sicherheitsforschung, 2010, 221 (229 ff.); Würtenberger/Heckmann, Polizeirecht in Baden-Württemberg, 6. Aufl., 2005, Rdnr. 47 ff.; instruktiv zuletzt Kugelmann, Polizei- und Ordnungsrecht, 2. Aufl., 2012, Kap. 4, Rdnr. 1 ff. 6 Siehe hierzu etwa Britz, Europäisierung des grundrechtlichen Datenschutzes?, EuGRZ 2009, 1 (12).

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ropa und der Aufbau gemeinsamer Institutionen waren im Wesentlichen unumstritten. Argwohn erregte hingegen, dass mit der Schaffung einer supranationalen Einrichtung die Grundrechts- und damit nicht zuletzt die Rechtsschutzstandards des deutschen Verfassungsrechts durch einen zunächst schwächeren europäischen Grundrechtsstandard abgelöst wurden7. Die ambivalente Haltung zu Europol macht deutlich, dass bei der Europäisierung des Sicherheitsrechts verschiedene Dimensionen unterschieden werden müssen. Europäisierung kann sich einmal auf die verstärkte Zusammenarbeit der nationalen Polizei- und Sicherheitsbehörden, den Aufbau einer europäischen Polizei, aber auch auf die Vergemeinschaftung höherrangiger Prüfungs- und Kontrollmaßstäbe beziehen, an denen sich die Polizeiarbeit sowohl im nationalen wie im supranationalen Kontext messen lassen muss. Allein um den letztgenannten Aspekt wird es im Folgenden gehen. Dabei soll die Thematik unter einem bislang wenig beachteten Aspekt betrachtet werden. Leitende Fragestellung ist, welche Lehren sich aus der Konstitutionalisierung des Sicherheitsrechts für dessen Europäisierung ziehen lassen. Dabei wird zweierlei deutlich werden: Die Konstitutionalisierung des Sicherheitsrechts ist keine reine Erfolgsgeschichte. Vielmehr muss sie sich ungeachtet wichtiger Errungenschaften auch Kritik gefallen lassen, die es verbietet, die verfassungsrechtliche Überformung des deutschen Sicherheitsrechts als Blaupause für dessen Europäisierung zu verstehen. Um diese These zu entfalten, sollen nach einer weiteren Eingrenzung des Untersuchungsgegenstandes (dazu I.) zunächst Herausforderungen, Maßstäbe und Leitlinien der Sicherheitspolitik skizziert werden (dazu II.). Im dritten und vierten Teil ist der Frage nachzugehen, welche Antworten auf diese Herausforderungen durch die Konstitutionalisierung (dazu III.) und die Europäisierung des Sicherheitsrechts gegeben worden sind (dazu IV.). Im fünften und abschließenden Teil sollen im Lichte der gewonnenen Erkenntnisse Schlaglichter auf mögliche Perspektiven der Europäisierung des Sicherheitsverfassungsrechts geworfen werden (dazu V.). I. Das Referenzgebiet heimlicher Informationseingriffe Der hier bestehende Rahmen zwingt dazu, die Untersuchung auf einen Referenzbereich zu verengen. Hierfür ausgewählt wurde der Schutz vor der heimlichen Informationserhebung durch die Polizei, zu dem in den vergangenen Jahren zahlreiche Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts wie des EGMR ergangen sind. Beispiele hierfür sind etwa der sogenannte Große Lauschangriff8 oder die Überwachung des Telefon- und E-Mail-Verkehrs9. 7

Vgl. etwa Schenke, Rechtsschutz gegen Europol, in: Hilgendorf/Eckert (Hg.), FG Knemeyer, 2012, 365 ff.; Nestler, Der Mandatsbereich von Europol im Lichte grenzüberschreitender Betäubungskriminalität, GA 2010, 645 ff. 8 BVerfGE 109, 279 ff.

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Aus der Perspektive des deutschen Verfassungsrechts sind neben Art. 13 und Art. 10 GG vor allem das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung sowie das neue Computergrundrecht in den Blick zu nehmen, die auf Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG beruhen10. Die europarechtlichen Analysen werden sich aus verschiedenen Gründen auf Art. 8 EMRK beschränken. Zum einen ist Art. 8 EMRK ein Prüfungs- und Kontrollmaßstab, der gleichermaßen die nationalen Sicherheitsbehörden wie über Art. 6 Abs. 4 EUV auch die europäischen Sicherheitsbehörden als allgemeine Grundsätze des Unionsrechts bindet11. Zum anderen stand Art. 8 EMRK Pate für Art. 7 GRC (Achtung des Privat- und Familienlebens) sowie für Art. 8 GRC (Datenschutz), die fast wörtlich mit Art. 8 EMRK übereinstimmen bzw. die zu ihm ergangene Rechtsprechung kodifiziert haben12. Soweit die Charta Rechte enthält, die den durch Art. 8 EMRK garantierten Rechten entsprechen, haben diese nach Art. 52 Abs. 3 GRC die gleiche Bedeutung und Tragweite. Zuletzt würde die EMRK nach dem in Art. 6 Abs. 2 EUV vorgesehenen Beitritt der Europäischen Union weiter an Bedeutung gewinnen und von einer bloßen Rechterkenntniszu einer unmittelbaren Rechtsquelle des Unionsrechts heraufgestuft13. II. Sicherheitspolitische Herausforderungen Der Versuch, Maßstäbe guter Sicherheitspolitik zu benennen, kann schnell in ein rechtspolitisches Glaubensbekenntnis umschlagen. Um dies zu vermeiden, wird der sicherheitspolitische Diskurs im Folgenden auf einer Ebene zweiter Ordnung betrachtet14. Aus der Perspektive lassen sich sicherheitspolitische Ziele identifizieren, deren prinzipielle Berechtigung allgemein anerkannt ist. Wie diese im Konfliktfall zu gewichten sind, ist hingegen mit guten Gründen Gegenstand der rechtspolitischen Debatte. Die mitunter leidenschaftlich geführte Auseinandersetzung um die richtige Sicherheitspolitik weist aber immer zugleich eine verfassungs- wie europarechtliche Dimension auf. Denn bindende Vorgaben des Grundgesetzes, des Unionsrechts und der EMRK schränken die Spielräume für eine Sicherheitspolitik ein, die allein demokratisch verantwortet ist15.

9 EGMR, Urt. v. 02. 08. 1984, 8691/79, EuGRZ 1985, 17, Rdnr. 62 ff. – James Malone/UK; Urt. v. 03. 04. 2007, 62617/00, EuGRZ 2007, 415, Rdnr. 39 ff. – Copland/UK. 10 BVerfGE 65, 1 (41 ff.); 120, 274 (302 ff.). 11 Streinz, Die Rechtsprechung des EuGH zum Datenschutz, DuD 2011, 602 (604). 12 Präsidium des Europäischen Konvents, Erläuterungen zur Charta der Grundrechte (2007/C303/02), Abl. C 303/17 v. 14. 12. 2007, 20; Marauhn/Meljnik, in: Grote/Marauhn (Hg.), EMRK/GG, 2006, Kap. 16, Rdnr. 9. 13 Streinz, Europarecht, 9. Aufl., 2012, Rdnr. 762. 14 Zur Beobachtung zweiter Ordnung nur Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, S. 151 f., 766 f.; einführend Becker/Reinhardt-Becker, Systemtheorie, 2001, S. 67 ff. 15 Vgl. Thiel, Die „Entgrenzung“ der Gefahrenabwehr, 2011, S. 184.

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1. Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit Die erste Anforderung an die staatliche Sicherheitspolitik ist trivial. Ihre Aufgabe ist es, die öffentliche Sicherheit zu gewährleisten. Auch wenn man dem Staat mit neueren Stimmen in der Literatur kein Monopol auf die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit zusprechen will16, besteht doch weitgehend Einigkeit, dass es sich bei der Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit um eine zentrale Staatsaufgabe handelt, die in rechts- und ideengeschichtlicher Perspektive vielfach sogar als eigentlicher Legitimationsgrund des Staates angesehen worden ist17. Um seine sicherheitspolitischen Ziele zu erreichen, bedarf der Staat adäquater Instrumente. Welche dies sind, ist von der aktuellen sicherheitspolitischen Gefährdungslage abhängig18. In der Geschichte der Bundesrepublik hat diese mehrfach gewechselt. War es Ende der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts die Bedrohung durch den radikalen Linksterrorismus19, rückte Ende der 80er Jahre mehr und mehr die sogenannte organisierte Kriminalität20 in den Fokus der rechtspolitischen Debatte. Spätestens seit den Anschlägen vom 11. September 2001 steht die Sicherheitspolitik unter dem Vorzeichen der terroristischen Bedrohung durch islamische Fundamentalisten21. Die Einschätzungen der sicherheitspolitischen Bedrohungslage mögen sehr unterschiedlich sein. Weitgehend unumstritten ist indes, dass sich die Sicherheitskräfte nicht damit begnügen können, akut drohende Gefahren abzuwehren. Vielmehr obliegt es ihnen auch, Vorsorge – und damit insbesondere Informationsvorsorge – zu betreiben, um gegen Gefährdungen bereits einschreiten zu können, bevor die Schwelle zur unmittelbar drohenden Gefahr überschritten ist22. Ob und inwieweit dies Eingriffe in Freiheitsrechte zu legitimieren vermag, ist damit freilich noch nicht beantwortet.

16 Vgl. nur Stober, Staatliches Gewaltmonopol und privates Sicherheitsgewerbe, NJW 1997, 889 (892 f.); Möstl, Die staatliche Garantie für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, 2002, S. 290 ff.; kritisch Rixen, Vom Polizeirecht über das Gewerberecht zurück zum Policeyrecht?, DVBl. 2007, 221 (228 ff.). 17 Würtenberger/Tannenberger, Gesellschaftliche Voraussetzungen und Folgen der Technisierung von Sicherheit, in: Winzer/u. a. (Hg.), Sicherheitsforschung, 2010, 221; Würtenberger/Heckmann, Polizeirecht in Baden-Württemberg, 6. Aufl., 2005, Rdnr. 1; Hobbes, Leviathan, oder der kirchliche und bürgerliche Staat, 1794, 17. Abschnitt, S. 161. 18 Hierzu instruktiv Thiel, Die „Entgrenzung“ der Gefahrenabwehr, 2011, S. 6 ff. 19 Zöller, Terrorismusstrafrecht, 2009, S. 35 ff. 20 Petri, Geschichte der Polizei in Deutschland, in: Lisken/Denninger (Hg.), Handbuch des Polizeirechts, 5. Aufl., 2012, A Rdnr. 119. 21 Vgl. nur Würtenberger, Das Polizei- und Ordnungsrecht vor den Herausforderungen des Terrorismus, in: Masing/Jouanjan (Hg.), Terrorismusbekämpfung, Menschenrechtsschutz und Föderation, 2008, 27 ff.; Zöller, Terrorismusstrafrecht, 2009, S. 45 ff. 22 Vgl. nur Würtenberger, Resilienz, in: Baumeister/u. a. (Hg.), FS Schenke, 2011, 561.

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2. Schutz der Freiheitsrechte Die Staatsaufgabe der Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit rechtfertigt nicht den Einsatz beliebiger Mittel. Auch dem Störer, der die öffentliche Sicherheit gefährdet, stehen unveräußerliche Rechte zu, die ihren letzten Grund in der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG, Art. 1 GRC) haben. Eingriffe in seine Grund- und Menschenrechte haben sich daher auf das zu beschränken, was zur Gefahrenabwehr notwendig und angemessen ist. Kontrovers diskutiert wird die Legitimität von Eingriffen in die Privatsphäre im Vorfeld konkreter Gefahren. Die Bedenken, die hiergegen geäußert werden23, sind ebenso nachvollziehbar, wie die Stimmen, die den Schutz der Privatsphäre im Vorfeld der Gefahrenabwehr relativieren wollen24. Für diese Position spricht, dass ein Verzicht auf Vorfeldmaßnahmen die Friedensfunktion des Staates gefährden kann und seine Bürger Risiken aussetzt, die nicht mehr beherrschbar sind, wenn sie sich verdichtet haben. Kehrseite einer umfassenden staatlichen Informationsvorsorge ist ein nicht unerheblicher grundrechtlicher „Kollateralschaden“. Wenn der Staat in die grundrechtlich geschützte Privat- und Freiheitssphäre bereits im Vorfeld konkreter Gefahren eindringt, nimmt er bewusst in Kauf, in erheblichem Umfang auch Informationen über solche Personen zu erheben, die durch ihr Verhalten keinerlei Anlass für eine Überwachung geboten haben. 3. Demokratische Legitimation Die vorstehenden skizzenartigen Überlegungen dürften deutlich gemacht haben, dass es bei der staatlichen Sicherheitspolitik immer nur um trade-offs zwischen isoliert für sich betrachtet legitimen, aber miteinander konkurrierenden Belangen gehen kann. Welchem Belang der Vorrang zukommt und wie im Einzelnen zu gewichten ist, bedarf deshalb in besonderem Maße demokratischer Legitimation25. Umsetzen lässt sich dies, indem polizeiliche Maßnahmen nur auf Grundlage eines hinreichend bestimmten parlamentarischen Gesetzes zulässig sind. Insofern haben die grundrechtlichen Gesetzesvorbehalte nicht nur eine rechtsstaatliche, sondern auch eine demokratische Legitimationsfunktion26.

23 Vgl. etwa Denninger/Poscher, Die Polizei im Verfassungsgefüge, in: Lisken/Denninger (Hg.), Handbuch des Polizeirechts, 5. Aufl., 2012, B Rdnr. 130. 24 Vgl. Aulehner, Polizeiliche Gefahren- und Informationsvorsorge, 1998, S. 545 ff. 25 Vgl. zum Ausgleich von Freiheit und Sicherheit als genuine Aufgabe des Gesetzgebers nur Thiel, Die „Entgrenzung“ der Gefahrenabwehr, 2011, S. 182 ff.; ferner SächsVerfGH, LKV 1996, 273 (280). 26 Vgl. Würtenberger/Schenke, Der Schutz von Amts- und Berufsgeheimnissen im Polizeirecht, JZ 1998, 548 (549 f.).

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4. Lernfähigkeit In der gegenwärtigen Diskussion vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit findet ein vierter Prüfstein der staatlichen Sicherheitspolitik, der in anderen Politikbereichen dagegen aus guten Gründen als besonders wichtig angesehen wird27: Die Lernfähigkeit des Rechts28. Auf sich rasch wandelnde sicherheitspolitische Gefährdungslagen wird das Sicherheitsrecht nur dann adäquate Antworten geben können, wenn es in seinen Strukturen auf Lern- und Anpassungsfähigkeit angelegt ist. Lernfähigkeit bedeutet, sich zügig auf neue Gefährdungen einzustellen und in einem Prozess von trial and error nach neuen, den sicherheitspolitischen Herausforderungen angepassten Lösungen suchen zu können. Ein Garant für dieses Konzept ist bereits das Demokratieprinzip29. Da in der Demokratie Herrschaft immer nur Herrschaft auf Zeit bedeutet, muss sich die Mehrheitsposition jeweils aufs Neue auf den Prüfstein stellen lassen und mit anderen konkurrierenden Meinungen in einen Wettstreit um die besseren Argumente eintreten. Weitergehend bedeutet Anpassungsfähigkeit aber auch, das Sicherheitsrecht so zu konstruieren, dass sicherheitsrelevantes Wissen generiert und aus Fehlern gelernt werden kann30. III. Konstitutionalisierung Wie verhält sich das Grundgesetz zu den vorstehend skizzierten Überlegungen? Um diese Frage zu beantworten, könnte in Anlehnung an das berühmte Zitat von Chief Justice Charles Evans Hughes „We are under a Constitution, but the Constitution is what the judges say it is“31 unmittelbar auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts rekurriert werden. Den Blick auf das Grundgesetz allein auf die Perspektive des Bundesverfassungsgerichts zu beschränken, würde freilich verken27 Vgl. Luhmann, Ausdifferenzierung des Rechts, 1999, S. 136 f.; Ladeur, Die rechtswissenschaftliche Methodendiskussion und die Bewältigung des sozialen Wandels, RabelsZ 64 (2000), 60 (68); Schulze-Fielitz, Freiheit der Wissenschaft, in: Benda/u. a. (Hg.), Handbuch des Verfassungsrechts2, 1994, § 17 Rdnr. 45; Appel, Staatliche Zukunfts- und Entwicklungsvorsorge, 2005, S. 136; Albers, Die Institutionalisierung von Ethikkommissionen, in: Ruch (Hg.), Recht und neue Technologien, 2004, 99 (113). 28 Gewisse Parallelen lassen sich insoweit freilich zu dem von Thomas Würtenberger in den deutschen Sicherheitsdiskurs eingeführten Begriff der Resilienz ausmachen (Würtenberger, Fußn. 22, S. 561 ff.), unter dem die Fähigkeit zur sicherheitspolitischen Krisenbewältigung von Staat und Gesellschaft diskutiert wird. Berührungspunkte weisen beide Diskurse insofern auf, als ein lernfähiges Sicherheitsrecht eine notwendige, aber keineswegs eine hinreichende Voraussetzung für die Sicherheitsarchitektur einer resilienten Gesellschaft ist. 29 Vgl. auch Zippelius/Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 32. Aufl., 2008, § 10 Rdnr. 5 ff. 30 Hoffmann-Riem, Ermöglichung von Flexibilität und Innovationsoffenheit im Verwaltungsrecht, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann (Hg.), Innovation und Flexibilität des Verwaltungshandelns, 1994, 9 (64). 31 Hughes, Addresses and Papers of Charles Evans Hughes, Governor of New York, 1906 – 1908, 1908, S. 139.

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nen, dass das Gericht mehrfach vor zentralen Weichenstellungen stand und die dabei eingeschlagenen Wege keinesfalls alternativlos waren. Verstanden und kritisch reflektiert werden können diese nur, wenn das verfassungsrechtliche Rad zunächst zurückgedreht und der Spielraum ausgeleuchtet wird, der dem Sicherheitsrecht allein durch den Verfassungstext und die Regeln seiner Interpretation32 vorgegeben ist. 1. Das Gedankenexperiment einer verfassungsrechtlichen Stunde null a) Effektivität der Gefahrenabwehr Ein explizites Bekenntnis zur Effektivität der Gefahrenabwehr sucht man im Text des Grundgesetzes vergeblich. Ausdrücklich thematisiert wird die Gefahrenabwehr allein unter kompetenzrechtlichen Aspekten, indem das Grundgesetz dem Bund die Gesetzgebungs- und Verwaltungskompetenz für Sonderbereiche der Gefahrenabwehr zuweist (u. a. Art. 73 Nr. 5, 9a, 10 lit. b., 14 sowie Art. 74 Abs. 1 Nr. 24, 87 Abs. 1 S. 2 GG). Im Übrigen bleibt es bei den allgemeinen Kompetenzverteilungsregeln der Art. 30, 72 GG, sodass die Gesetzgebungs- und Verwaltungskompetenzen jenseits der Sonderzuweisungen den Ländern zustehen. Aus der Zuweisung an die Länderebene darf indes keinesfalls geschlossen werden, es handele sich um eine Aufgabe minderen Ranges. Die Kompetenzzuweisung an die Länder bedeutet nicht mehr, aber auch nicht weniger, als dass sich der Verfassungsgeber für den dezentralen Modus der Aufgabenerfüllung entschieden hat. Inhaltliche Vorgaben lassen sich in erster Linie Art. 1 Abs. 1 S. 2 sowie Art. 2 Abs. 2 GG entnehmen. Der staatliche Schutzauftrag für die Menschenwürde weist insofern auch eine polizeirechtliche Relevanz auf, als er den Staat zu einem Eingreifen verpflichtet, wenn die Menschenwürde durch Dritte gefährdet ist. Auch der Wortlaut des Art. 2 Abs. 2 GG („Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit“) legt die Deutung nahe, das staatsgerichtete Abwehrrecht um eine Schutzpflicht des Staates zu ergänzen, vor Gefährdungen zu schützen, die von dritter Seite ausgehen. Dass es sich dabei um eine zentrale und wichtige Aufgabe handelt, unterstreicht der systematische Zusammenhang zur Garantie der Menschenwürde. b) Schutz der Privatsphäre Gewährleistungen, die die Privatsphäre explizit vor staatlicher Informationserhebung schützen, finden sich im Verfassungstext nur an zwei Stellen33. Art. 10 GG garantiert die Unversehrtheit des Post-, Brief- und Fernmeldegeheimnisses. Daneben steht Art. 13 GG, dessen Garantie der Unversehrtheit der Wohnung nach der Verfas32

Vgl. nur Zippelius/Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 32. Aufl., 2008, § 7 Rdnr. 2 ff. Zu dem nach dem Wortlaut fragmentarischen Schutz der Privatsphäre im Grundrechtekatalog des Grundgesetzes Marauhn/Meljnik, in: Grote/Marauhn (Hg.), EMRK/GG, 2006, Kap. 16, Rdnr. 7. 33

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sungsänderung von 1994 auch explizit neuere Gefährdungslagen wie die optische und akustische Überwachung thematisiert. Die hohe Relevanz, die das Grundgesetz den Grundrechten zumisst, verdeutlicht die systematische Stellung des Grundrechtsabschnitts, den die Väter und Mütter des Grundgesetzes mit Bedacht und in bewusstem Kontrast zur Weimarer Reichsverfassung an die Spitze des Grundgesetzes gestellt haben. c) Demokratische Legitimation Das Gebot demokratischer Legitimation des Sicherheitsrechts verwirklicht das Grundgesetz durch die grundrechtlichen Gesetzesvorbehalte. Art. 10 und Art. 13 GG unterliegen jeweils qualifizierten Gesetzesvorbehalten. Damit sind Eingriffe nur auf Grundlage formeller Gesetze und unter Beachtung der Modalitäten zulässig, die bereits der Verfassungsgeber vorgesehen hat und die durch den einfachen Gesetzgeber näher konkretisiert worden sind. In Anbetracht der grundgesetzlichen Gewaltenteilung bedeutet der Vorbehalt des Gesetzes im Polizeirecht in erster Linie Vorbehalt des Landesgesetzes. Damit erlaubt es das Grundgesetz, das spannungsreiche Verhältnis von Freiheit und Sicherheit34 je nach der landespolitischen Prioritätensetzung unterschiedlich auszutarieren. d) Föderalisierung und Lernfähigkeit des Rechts Die föderale Sicherheitsordnung des Grundgesetzes weist auch den Vorzug größerer Lernfähigkeit als ein zentralistischer Ansatz auf35. Soweit die Sicherheitspolitik nicht auf der Bundesebene entschieden wird, eröffnet sich den Landesgesetzgebern ein Experimentierfeld, um neue sicherheitspolitische Konzepte in einem Prozess von trial and error zu testen, weiterzuentwickeln und gegebenenfalls wieder zu verwerfen. Mit der dezentralen Aufgabenerledigung verbindet sich zugleich ein Wettbewerbselement. Im Bereich des Sicherheitsrechts wird dieser über die beiden Parameter der größtmöglichen Effektivität der Gefahrenabwehr unter größtmöglicher Schonung der Freiheitssphäre der Bürger ausgetragen. Wettbewerb darf dabei nicht mit Verdrängungswettbewerb gleichgesetzt werden. Gleichwohl trägt es wesentlich zur Rationalität der sicherheitspolitischen Debatte bei, wenn über Alterna34 Zuletzt Isensee, Freiheit und innere Sicherheit, in: Schwarz (Hg.), 10 Jahre 11. September, 2012, 9 ff. 35 Vgl. etwa Würtenberger, Modernisierung des Polizeirechts als Paradigma für die Entwicklung des Rechtsstaats, in: Heckmann (Hg.), GS Kopp, 2007, 428 (439); skeptischer hingegen Möstl, Die staatliche Garantie für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, 2002, S. 475. Die Föderalisierung hat freilich auch eine Kehr- bzw. Schattenseite. Sicherheitspolitische Gefährdungslagen machen kaum vor Landesgrenzen halt. So sind die sogenannte organisierte Kriminalität, erst recht aber die islamistische Terrorgefahr grenzüberschreitende Phänomene, was eine kompetenzteilige und kooperative Aufgabenwahrnehmung erfordert (Möstl, a.a.O., S. 469, 480 ff.).

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tiven nicht nur spekuliert werden muss, sondern diese in anderen Bundesländern auch tatsächlich erprobt werden können36. 2. Grundlinien der Dogmatik des geltenden Sicherheitsverfassungsrechts Zusammenfassend bietet das Grundgesetz der Politik einen adäquaten Rechtsrahmen, um unter Beachtung rechtsstaatlicher Sicherungen auf neue sicherheitspolitische Gefährdungslagen zu reagieren. Was die Verfassung ausmacht, erschöpft sich freilich nicht im Verfassungstext, der unter Beachtung der Regeln der juristischen Methodenlehre auszulegen ist. „Realistisch“ betrachtet ist die Verfassung vielmehr zu wesentlichen Teilen ein Produkt der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, das den Verfassungstext mit Prinzipien überformt und durch eine elaborierte Dogmatik konkretisiert hat37. Wie das Sicherheitsrecht polizeilicher Informationseingriffe konstitutionalisiert worden ist, soll in einem ersten Zugriff zunächst schlagwortartig skizziert (dazu a)) und in einem zweiten Schritt kritisch gewürdigt werden (dazu b)). a) Bausteine des Sicherheitsverfassungsrechts Wenn man nicht auf einzelne Entscheidungen, sondern aus einer Vogelperspektive auf die sicherheitsrechtliche Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts blickt, ist eine Grundtendenz unverkennbar: Das Bundesverfassungsgericht hat sich in seiner bisherigen Judikatur vor allem als Wächter und Hüter der Grundrechte profiliert. Die dogmatischen Weichenstellungen auf diesem Weg waren die Garantie eines umfassenden Grundrechtsschutzes vor Informationseingriffen, die Entwicklung freiheitsschonender Konkordanzmuster für sicherheitspolitisch notwendige Informationseingriffe einschließlich der Stärkung der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG. aa) Umfassender Grundrechtsschutz gegenüber Informationseingriffen Den zumindest dem Wortlaut nach fragmentarischen Schutz des Grundgesetzes vor polizeilichen Informationseingriffen hat das Bundesverfassungsgericht zu einem umfassenden Grundrechtsschutz ausgebaut. Dogmatischer Hebel hierfür war das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, das im Volkszählungsurteil aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG abgeleitet wurde38 und dessen Bedeutung für das Sicherheitsrecht schnell erkannt worden ist. Damit ist der Schutz vor polizeilicher Informationserhebung, der in Art. 10 GG an bestimmte Kommunikati36

Vgl. auch W.-R. Schenke, Föderalismus als Form der Gewaltenteilung, JuS 1989, 698 (700). 37 Vgl. Würtenberger, Auslegung von Verfassungsrecht - realistisch betrachtet, in: Bohnert/ u. a. (Hg.), Festschrift Hollerbach, 2001, 223 (224 ff.). 38 BVerfGE 65, 1 (41 ff.).

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onsmedien bzw. in Art. 13 GG an die Wohnung gebunden ist, um eine Gewährleistung ergänzt worden, die allein an den Personenbezug eines Datums anknüpft39. Ob das Grundrecht auf Schutz der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme tatsächlich notwendig war, um weitere Lücken zu schließen, ist hingegen auch vom Jubilar mit guten Gründen bezweifelt worden40. bb) Konkordanzmuster im Konflikt zwischen Freiheit und Sicherheit Zum Ausgleich zwischen Freiheit und Sicherheit sind in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts verschiedene dogmatische Figuren entwickelt worden, die jedenfalls dem Grunde nach bereits im Volkszählungsurteil angelegt sind und von dort auf die Dogmatik der spezialgesetzlichen Gewährleistungen der Art. 10 und Art. 13 GG übertragen worden sind41. (1) Verhältnismäßigkeit In erster Linie wird der Ausgleich zwischen den staatlichen Sicherheitsinteressen und der Garantie der Freiheit vor staatlicher Informationserhebung durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz austariert. Das dreigliedrige Prüfprogramm von Geeignetheit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne stellt sicher, dass Informationseingriffe auf das notwendige Maß begrenzt werden. Eingriffe in seine Privatsphäre muss sich der Bürger nur gefallen lassen, wenn dem ein adäquater Zugewinn an Sicherheit gegenübersteht. Die Bewertung, was geeignet, erforderlich und angemessen ist, liegt zunächst in den Händen des Gesetzgebers und der Sicherheitsorgane. Auch wenn sich das Bundesverfassungsgericht verbal zu einem legislativen Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum bekennt, wird dieser in praxi doch in nicht wenigen Fällen ignoriert. So hat sich das Bundesverfassungsgericht beispielsweise in der zweiten G10-Entscheidung für die Umwidmung von Daten auf das Konzept des hypothetischen Ersatzeingriffs festgelegt. Demnach ist eine Verwendung von Daten für andere Zwecke als die der ursprünglichen Erhebung nur zulässig, sofern 39

Dabei spielt es im Grundsatz keine Rolle, ob das Datum auch Interessen anderer oder der Allgemeinheit berührt. Vielmehr kann sich auch derjenige auf die informationelle Selbstbestimmung berufen, der seine Freiheit missbraucht, um Rechte und Rechtsgüter seiner Mitbürger zu gefährden. Was auf den ersten Blick paradox anmutet, erweist sich bei näherer Hinsicht aber als stimmig und folgerichtig. Zum einen ist eine Differenzierung nach Schutzwürdigkeit auch den spezialgesetzlichen Gewährleistungen des Art. 10 GG und Art. 13 GG fremd. Zum anderen verbindet sich mit der grundrechtlichen Gewährleistung kein absoluter Schutz, sondern lediglich eine Rechtfertigungslast für staatliches Handeln. Zuletzt muss sich der Versuch, bereits auf der Schutzbereichsebene nach der Schutzwürdigkeit eines personenbezogenen Datums zu differenzieren, schon deshalb verbieten, weil vor Aufklärung eines Sachverhaltes überhaupt nicht feststeht, ob sich der Verdacht einer Störung der öffentlichen Sicherheit tatsächlich bestätigt. 40 Würtenberger (Fußn. 1), 297 f. 41 Zur Konvergenz der Grundrechtsdogmatik bei heimlichen Informationseingriffen Schenke, in: Stern/Becker (Hg.), Grundrechte-Kommentar, 2009, Art. 10 Rdnr. 15.

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die Daten auch für den Sekundärzweck hätten erhoben werden können42. Bezeichnend ist insofern eine Passage aus der 2. Rasterfahndungsentscheidung des Bundesverfassungsgerichts, wonach „die Balance zwischen Freiheit und Sicherheit vom Gesetzgeber neu justiert, die Gewichte … jedoch von ihm nicht grundlegend verschoben“ werden dürfen43. (2) Normenklarheit Ebenfalls im Volkszählungsurteil angelegt ist eine bereichsspezifische Konkretisierung des Gesetzesvorbehalts. Eingriffe in die informationelle Selbstbestimmung bzw. die speziellen Gewährleistungen des Art. 13 und Art. 10 GG müssen auf einer normenklaren und bereichsspezifischen Regelung beruhen44. Damit sind die Anforderungen an die Bestimmtheit sicherheitsrechtlicher Normen deutlich erhöht worden. (3) Grundrechtsschutz durch Organisation und Verfahren Konsequent im Sicherheitsrecht umgesetzt hat das Bundesverfassungsgericht ferner das im Volkszählungsurteil aufgenommene Konzept eines Grundrechtsschutzes durch Organisation und Verfahren45. Die Sinnhaftigkeit dieses Konzepts zeigt sich vor allem bei verdeckten Grundrechtseingriffen. Da der Betroffene mangels Kenntnis nicht selbst seine Rechte wahrnehmen kann, bedarf es über die Nominierung materieller Eingriffsschwellen hinaus besonderer verfahrens- und organisationsrechtlicher Sicherungen, um den Eingriff auf das notwendige Maß zu begrenzen und Missbräuchen vorzubeugen. Zu diesen Sicherungen zählen etwa Behördenleitervorbehalte, Richtervorbehalte, Befristungen, Löschungs- und Benachrichtigungspflichten46 nicht zuletzt aber auch die in der 1996 ergangenen und vielbeachteten Entscheidung des Sächsischen Verfassungsgerichtshofs erhobene Forderung nach einer Evaluation neuer Sicherheitsgesetze47. (4) Kernbereichsschutz Ein vergleichsweise neuer Baustein in der Dogmatik des Sicherheitsverfassungsrechts ist das Konzept des Kernbereichsschutzes48. Mit ihm markiert das Bundesverfassungsgericht bestimmte Bereiche, in denen sich der Einzelne unter keinem denkbaren Umstand Eingriffe in seine Privatsphäre gefallen lassen muss. Erstmalig entwickelt worden ist das Konzept in der Entscheidung zum Großen Lauschangriff. Von 42

BVerfGE 110, 33 (73 f.); 100, 313 (389 f.); 109, 279 (375 ff.). BVerfGE 115, 320 (360). 44 BVerfGE 65, 1 (44); 120, 274 (315 ff.); 118, 168 (186 ff.); 113, 348 (375); 100, 313 (359 f., 372). 45 Vgl. etwa BVerfGE 65, 1 (44, 58 ff.). 46 Vgl. etwa BVerfGE 120, 274 (331 ff.); 109, 279 (357 ff.). 47 Vgl. SächsVerfGH, LKV 1996, 273 (288). 48 BVerfGE 109, 279 (311 ff., 314 ff.); 113, 348 (390 f.); 120, 274 (335 ff.). 43

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dort ist es auch auf Art. 10 GG sowie auf das neue Computergrundrecht auf Schutz der Integrität informationstechnischer Systeme übertragen worden. Soweit eine polizeiliche Maßnahme den Kernbereich berührt, ist diese unzulässig und damit dem politischen Diskurs entzogen. (5) Stärkung des Rechtsschutzes Deutliche Akzente hat die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nicht zuletzt zur Sicherung des gerichtlichen Rechtsschutzes gesetzt. Hier steht die Verfassungsrechtsdogmatik bei heimlichen Informationseingriffen vor einem Dilemma. Um die Rechtsschutzgarantie einzulösen, müsste die Maßnahme sinnwidrig offengelegt werden. Gelöst wird der Konflikt, indem der Betroffene nach Abschluss der Maßnahme in Kenntnis gesetzt wird, um ihm zumindest nachträglich eine gerichtliche Kontrolle zu ermöglichen49. Allerdings kann bzw. hat die Unterrichtung zu unterbleiben, wenn damit andere hochrangige Rechte und Rechtsgüter gefährdet würden. Um dieses Rechtsschutzdefizit zu kompensieren, kann gegen Normen, die zu heimlichen Überwachungsmaßnahmen ermächtigen, unter Umgehung des Grundsatzes der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde auch unmittelbar Rechtssatzverfassungsbeschwerde erhoben werden50. b) Bewertung Wenn man sich auf das Ziel größtmöglichen Freiheitsschutzes beschränkt, ist an der Karlsruher Judikatur wenig zu bemängeln. Unter anderen Aspekten wird man hinter das geltende Sicherheitsverfassungsrecht hingegen auch Fragezeichen setzen müssen. aa) Schutz der Privatsphäre Unstreitig gebührt dem Gericht das große Verdienst, die Grundentscheidung des Grundgesetzes für die Staatsfreiheit der Privatsphäre ungeachtet der neuen sicherheitspolitischen Bedrohungen in ihrem Kern verteidigt zu haben51. Zu den Errungenschaften der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung gehört insbesondere der lückenlose Grundrechtsschutz, der dem Staat bei jeder Erhebung personenbezogener Daten eine Rechtfertigungslast auferlegt. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Verbund mit den zusätzlichen verfahrens- und organisationsrechtlichen Sicherungen bietet eine vergleichsweise hohe Gewähr dafür, die Erhebung personenbezogener Daten auf das wirklich Notwendige zu beschränken. Entgegen immer wieder geäußerter Kritik war es verfassungsrechtlich gut vertretbar, die polizeiliche Ein49

BVerfGE 109, 279 (363 ff.); 100, 313 (361). Vgl. etwa BVerfGE 100, 313 (354 ff.); 120, 274 (299); 67, 157 (169 f.). 51 Zu der Diskussion nach dem 11. September 2001 und der Befürchtung, (vermeintliche) Sicherheit gegen Freiheit einzutauschen nur Hoffmann-Riem, Freiheit und Sicherheit im Angesicht terroristischer Anschläge, ZRP 2002, 497 (499 ff.). 50

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griffsschwelle in den Vorfeldbereich zu verlagern52. Angesichts der neuen Gefährdungslagen kann sich der Staat hierfür auf seine grundrechtliche Schutzpflicht für Leben und Gesundheit der Bürger berufen. Dafür, dass der Anspruch der Grundrechte auch in einem veränderten sicherheitspolitischen Umfeld keinesfalls Preis gegeben worden ist, bietet die Rechtsprechung reiches Anschauungsmaterial53. bb) Demokratische Defizite Unter demokratischen Aspekten fällt die Bilanz der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung hingegen zwiespältig aus: Einerseits ist durch den lückenlosen Grundrechtsschutz das demokratische Legitimationsniveau der polizeilichen Informationserhebung spürbar angehoben worden. Durch den Vorbehalt des Gesetzes, den das Bundesverfassungsgericht zum Vorbehalt normenklarer und bereichsspezifischer Regelungen ausgebaut hat54, ist sichergestellt, dass jeder polizeiliche Informationseingriff durch ein Gesetz legitimiert werden muss, in dem die Befugnisse zur Datenerhebung sowie das verfahrens- und organisationsrechtliche Schutzkonzept durch den parlamentarischen Gesetzgeber vorgezeichnet sind. Diesem Machtzuwachs der Legislative steht freilich ein bedeutender Verlust an tatsächlicher parlamentarischer Gestaltungsmacht entgegen: In nicht wenigen Fällen reduziert sich die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers darauf, die Maßnahme unter den Kautelen zuzulassen, die Karlsruhe unter Rückgriff auf den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit oder den Kernbereichsschutz vorgegeben hat. Damit droht die Sicherheitsgesetzgebung zum „parlamentslosen Parlamentsgesetz“55 zu denaturieren. Diese ist zwar der Form nach Gesetz, aber ihrem Inhalt nach nicht mehr Ausfluss einer demokratisch zu verantwortenden Balance zwischen Freiheit und Sicherheit, sondern darauf beschränkt, das auszubuchstabieren, was in Karlsruhe vorgedacht worden ist56. Vom Bundesverfassungsgericht zugebilligt wird dem Gesetzgeber allein ein gewisser Spielraum und eine Prärogative im Hinblick auf die Beurteilung und Bewertung neuer Situationen, nicht hingegen eine grundlegende Verschiebung der Balance zwischen Freiheit und Sicherheit57.

52 Vgl. nur Möstl, Die staatliche Garantie für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, 2002, S. 262 ff. 53 Vgl. nur die Nw. in Fußn. 48. 54 Vgl. oben Fußn. 44. 55 Vgl. zum „Gesetz als Wille ohne Vorstellung“ Quaritsch, Das parlamentslose Parlamentsgesetz, 1961, S. 41 sowie zurückhaltender S. 71 f. 56 Kritisch auch Würtenberger (Fußn. 1), 295. 57 BVerfGE 115, 320 (360); siehe auch Papier, Das Bundesverfassungsgericht und die innere Sicherheit, in: Schwarz (Hg.), 10 Jahre 11. September, 2012, 27 (37).

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cc) Schwächung der föderalen Sicherheitsordnung und der Lernfähigkeit des Sicherheitsrechts Die hiermit verbundenen Einbußen an demokratischer Legitimation der Sicherheitspolitik haben noch eine andere Schattenseite. Ausgehöhlt und missachtet wird zugleich die Entscheidung des Grundgesetzes für eine föderale Sicherheitsordnung. Infolge der Karlsruher Rechtsprechung weisen die Polizeigesetze der Länder eine weitgehende Gleichförmigkeit auf58. Damit wird die Chance vergeben, unterschiedliche sicherheitspolitische Konzepte einem Praxistest zu unterziehen. Schaden genommen durch die Konstitutionalisierung hat aber auch die Lernfähigkeit des Sicherheitsrechts. Hierzu trägt entscheidend die unmittelbare Eröffnung der Rechtssatzverfassungsbeschwerde gegen heimliche Überwachungsmaßnahmen bei, deren Zulässigkeit allein an die ausreichende Darlegung der Möglichkeit einer Verletzung eigener Grundrechte geknüpft ist59. Damit verkehrt sich das übliche Verhältnis von Fachgerichts- und Verfassungsgerichtsbarkeit geradezu in sein Gegenteil: Die Verfassungsbeschwerde steht nicht am Ende, sondern am Anfang des Rechtsweges. Karlsruhe hat keine Gelegenheit, sich mit der Sichtweise und den Argumenten der Fachgerichtsbarkeit auseinanderzusetzen. Schlimmer noch urteilt das Bundesverfassungsgericht zu einem Zeitpunkt, in dem praktisch keine nennenswerten Erfahrungen zur Effektivität und Effizienz der zu überprüfenden Normen vorliegen60. c) Zwischenfazit Ungeachtet seiner Errungenschaften muss sich das Bundesverfassungsgericht im Sicherheitsrecht wohl noch deutlicher als in anderen Rechtsgebieten die Frage gefallen lassen, ob es von einem Hüter der Verfassung nicht zu einem Lenker der Politik geworden ist61. Die kritischen Stimmen in der Rechtswissenschaft, die insoweit Vorbehalte anmelden62, stehen indes in einem auffälligen Kontrast zu der breiten gesamtgesellschaftlichen Zustimmung, die die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gerade im Datenschutzrecht findet.

58 Dem mag man vordergründig entgegenhalten, dass diese das Ergebnis einer Selbstkoordination der Bundesländer sind. Motor dieser Selbstkoordination sind aber letztlich die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts, die sich auch die Landesverfassungsgerichtsbarkeit bei der Auslegung der Grundrechte der Landesverfassung zu eigen macht (vgl. etwa SächsVerfGH, LKV 1996, 273, 279 ff.). 59 Vgl. oben Fußn. 50. 60 Ebenso im vagen bleiben die befürchteten tatsächlichen Auswirkungen, etwa die vom BVerfG wiederholt postulierte Einschüchterungsthese (BVerfGE 120, 274, 324; 115, 320, 354; 115, 166, 188; 113, 348, 382 f.; 113, 29, 46; grundlegend BVerfGE 65, 1, 354 f.; hierzu kritisch Würtenberger (Fußn. 1), 299. 61 Siehe nur Würtenberger, Zur Legitimität des Verfassungsrichterrechts, in: Guggenberger/Würtenberger (Hg.), Hüter der Verfassung oder Lenker der Politik?, 1998, 57 (69). 62 Zuletzt Würtenberger (Fußn. 1), 285 ff.

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Eine plausible Erklärung hierfür ist in den ideengeschichtlichen Arbeiten des Jubilars zu finden. Die Justiz und in besonderer Weise das Bundesverfassungsgericht genießen in Deutschland eine hohe Akzeptanz, die die der politischen Institutionen weit übertrifft63. Zudem artikuliert die sicherheitspolitische Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine weit verbreitete Furcht vor dem Überwachungsstaat, die in Europa nirgendwo sonst so real wie in Deutschland geworden ist. Zuletzt mag die hohe Akzeptanz der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung auch in einer nicht unproblematischen Überhöhung der Verfassung als Element letzter Sinnstiftung ihren Grund haben. Hier drängt sich mitunter der Eindruck auf, für den „Verfassungspatrioten“64 sei das Grundgesetz zum Ersatz für die schwindende Bindungskraft religiöser Überlieferungen und weltanschaulicher Deutungsmuster geworden. IV. Europäisierung des Sicherheitsrechts Die Europäisierung des Sicherheitsrechts weist verschiedene Dimensionen auf. Im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen steht die Europäisierung der Kontrollmaßstäbe polizeilichen Handelns am Maßstab der Garantie der Privatheit nach Art. 8 EMRK. Wie oben bereits angedeutet, kommt dieser Norm im Gesamtgefüge des europäischen Grundrechtsschutzes eine Schlüsselstellung zu. Diese verdankt sie nicht nur der Bindung der Konventionsstaaten. Darüber hinaus kam und kommt Art. 8 EMRK im Verhältnis zu den europäischen Institutionen eine lückenschließende Funktion zu, weil sich die Union seit dem Vertrag von Maastricht (Art. F Abs. 2 EUV a.F.) zur Achtung der Grundrechte verpflichtet hat, wie sie in der EMRK gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben65.

63 Dieser ist Ausdruck eines deutschen Sonderwegs zu Rechtsstaat und Demokratie, der sich deutlich von den historischen Erfahrungen anderer westeuropäischer Staaten unterscheidet (Vgl. etwa Würtenberger, Konvergenzen oder Dominanz nationaler Rechtstraditionen in Deutschland und Frankreich?, Frankreich-Jahrbuch 2001, 151, 153 f., 157). Der demokratischen Rückständigkeit im 19. Jahrhundert stand in Deutschland ein vergleichsweise gut ausgebauter Rechtsstaat gegenüber (Würtenberger, Modernisierung des Polizeirechts als Paradigma für die Entwicklung des Rechtsstaats, in: Heckmann (Hg.), GS Kopp, 2007, 428, 430). Von diesem Grundvertrauen in die Rechtsstaatlichkeit profitiert auch heute noch das Bundesverfassungsgericht, wenn es rechtsstaatliche Rationalität gegen den demokratisch legitimierten Mehrheitswillen in Stellung bringt. 64 Vgl. Habermas, Faktizität und Geltung, 1998, S. 642 f. 65 Die Frage, welche materiellen und vor allem welche prozessualen Konsequenzen hiermit verbunden sind, gehört seit jeher zu den Grundfragen im System des europäischen Grundrechtsschutzes (vgl. nur Gerards, Die Europäische Menschenrechtskonvention im Konstitutionalisierungsprozess einer gemeineuropäischen Grundrechtsordnung, 2007, S. 177 ff.). Neu zu beantworten ist diese, wenn die Europäische Union ihren beabsichtigten und in Art. 6 Abs. 2 EUV bereits vorgezeichneten Beitritt zur EMRK erklären wird. Damit bestünde vor dem EGMR eine Klagemöglichkeit, in deren Rahmen auch Entscheidungen des EuGH auf den Prüfstein des EGMR gestellt werden könnten.

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Die Analyse des Art. 8 EMRK wird sich in drei Schritten vollziehen. Der erste Schritt wiederholt das Gedankenexperiment des vorherigen Abschnitts, Art. 8 EMRK allein unter Beachtung der Regeln der juristischen Methodenlehre auszuleuchten. Im Anschluss sind die Grundlinien der Dogmatik des Art. 8 EMRK zu skizzieren, die im dritten Teilabschnitt vergleichend bewertet werden sollen. 1. Der Schutz der Privatheit durch Art. 8 EMRK Nach Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jede Person das Recht auf Achtung ihres Privatund Familienlebens, ihrer Wohnung und ihrer Korrespondenz. Wortlaut und Systematik sprechen eher gegen einen umfassenden Schutz vor polizeilicher Informationserhebung. Vielmehr ist Garantie der Privatheit einerseits örtlich auf die Wohnung, anderseits auf die Korrespondenz, d. h. auf die briefliche oder sonst postalisch vermittelte Kommunikation, sowie mit dem Privat- und Familienleben auf einen gegenständlich begrenzten Bereich der Sozialbeziehungen beschränkt. Art. 8 Abs. 1 EMRK steht nach Art. 8 Abs. 2 EMRK unter einem qualifizierten Gesetzesvorbehalt. Eingriffe sind nur zulässig, soweit sie ihre Rechtsgrundlage in einem Gesetz finden, das die in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Zwecke verfolgt. Der Wortlaut lässt offen, ob es sich um ein förmliches Gesetz handeln muss oder als Rechtsgrundlage auch untergesetzliche Normen oder Richterrecht in Betracht kommen. Qualifiziert ist der Gesetzesvorbehalt, weil Eingriffe nicht zu beliebigen, sondern allein zu den acht in Art. 8 Abs. 2 EMRK enumerativ aufgeführten Zwecken zulässig sind. Von diesen weisen mit der nationalen und öffentlichen Sicherheit, der Aufrechterhaltung der Ordnung, der Verhütung von Straftaten, dem Schutz der Gesundheit und dem Schutz der Rechte und Freiheiten anderer allein sechs einen Bezug zu den klassischen polizeilichen Aufgaben der Gefahrenabwehr und Gefahrenvorsorge auf. Als Schranken-Schranken sieht Art. 8 Abs. 2 EMRK allein die Notwendigkeit des Eingriffs vor. Im Vergleich zur deutschen Dogmatik des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes beschränkt sich das Prüfprogramm auf die zweite Stufe, d. h. die Frage, ob das angestrebte Ziel nicht möglicherweise auch mit einem weniger intensiven Eingriff erreicht werden kann. 2. Grundlinien der Dogmatik des Art. 8 EMRK Zur Vereinbarkeit heimlicher Informationseingriffe mit Art. 8 EMRK liegen mittlerweile eine Reihe von Entscheidungen des EGMR vor66. Dabei sind zwei Tendenzen unverkennbar: Zum einen neigt der Gerichtshof dazu, den Schutzbereich des Art. 8 EMRK weit zu interpretieren. Zum anderen wurden die Eingriffsmöglichkeiten durch eine richterliche Konkretisierung der Schranken-Schranken begrenzt.

66

Vgl. die Nw. Fußn. 67 – 69.

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a) Ausweitung des Schutzbereichs Nach der Rechtsprechung des EGMR beschränkt sich der Schutzbereich des Art. 8 EMRK nicht auf die Korrespondenz im engeren Sinne. Vielmehr schließt er auch den Telefonverkehr ein67, obwohl dieser nicht unmittelbar von dem Wortlaut umfasst ist (engl.: correspondence, frz.: correspondance). Weitere Entscheidungen, die zur Überwachung von Pagern68 und des E-Mail-Verkehrs69 ergangen sind, lassen nur den Schluss zu, dass der Schutzbereich entwicklungsoffen und technikneutral sämtliche Formen der Fernkommunikation einschließt70. Auch in räumlicher Hinsicht ist der Schutz der Privatsphäre ausgedehnt worden. Beispielsweise vermittelt Art. 8 EMRK Schutz vor heimlichen Tonaufzeichnungen, die in Polizei-, Gefängnis- oder Besuchszellen angefertigt werden71. Unter dem Begriff der Wohnung wird nicht nur der Ort verstanden, in dem das Privat- und Familienleben stattfindet72. Darüber hinaus erstreckt sich dieser auf Büros73 ebenso wie auf die gewerblichen Räume einer juristischen Person74. b) Schranken-Regime Parallel zur Ausweitung des Schutzbereiches ist das Schrankenregime der EMRK fortentwickelt worden. Gesetze, die zu heimlichen Abhörmaßnahmen ermächtigen, müssen eine besondere Qualität aufweisen. Der EGMR verlangt, dass sie rechtsstaatlichen Anforderungen genügen, für die betroffenen Personen zugänglich und vorhersehbar sind und ausreichende Garantien gegen Missbrauch und Willkür enthalten75. Dies gebietet, den Umfang des den Behörden eingeräumten Ermessens und die Art seiner Anwendung gesetzlich klar zu regeln76.

67

Vgl. etwa EGMR, Urt. v. 06. 09. 1978, 5029/71, EuGRZ 1979, 278, Rdnr. 41 – Klass u. a.; Urt. v. 25. 03. 1998, 13/1997/797/1000, StV 1998, 683, Rdnr. 50 – Kopp/Schweiz; Urt. v. 02. 08. 1984, 8691/79, EuGRZ 1985, 17, Rdnr. 64 – James Malone/UK; Urt. v. 24. 04. 1990, 7/ 1989/167/223 und 4/1989/164/220, ÖJZ 1990, 564, Rdnr. 26 – Kruslin und Huvig/Frankreich; Urt. v. 25. 06. 1997, 20605/92, Rdnr. 44 – Halford/UK; Urt. v. 29. 06. 2006, 54934/00, NJW 2007, 1433, Rdnr. 77 – Weber u. Saravia/D; s.a. EGMR, Urt. v. 16. 12. 1992, 72/1991/324/394, NJW 1993, 718, Rdnr. 29 ff. – Niemietz/D. 68 EGMR, Urt. v. 22. 10. 2002, 47114/99, Rdnr. 16 ff. – Taylor-Sabori/UK. 69 EGMR, Urt. v. 03. 04. 2007, 62617/00, EuGRZ 2007, 415, Rdnr. 41 – Copland/UK. 70 Schenke, in: Stern/Becker (Hg.), Grundrechte-Kommentar, 2009, Art. 10 Rdnr. 109. 71 EGMR, Urt. v. 25. 09. 2001, 44787/98, ÖJZ 2002, 911, Rdnr. 59 f. – P.G. u. J.H.; Urt. v. 20. 12. 2005, 71611/01, Rdnr. 29 – Wisse/F. 72 So EGMR, Urt. v. 03. 07. 2007, 32015/02, NVwZ 2008, 1215 – Gaida/Deutschland. 73 EGMR, Urt. v. 16. 12. 1992, 72/1991/324/394, NJW 1993, 718, Rdnr. 29 – Niemietz/D. 74 EGMR, Urt. v. 30. 03. 1989, 10461/83, Rdnr. 50 f. – Chappel/UK. 75 EGMR, Urt. v. 10. 02. 2009, 25198/02, NJW 2010, 2111, Rdnr. 37 ff. – Iordachi u. a./ Moldau; Urt. v. 29. 06. 2006, 54934/00, NJW 2007, 1433, Rdnr. 84 – Weber u. Saravia/D. 76 EGMR, Urt. v. 31. 05. 2005, 59842/00, Rdnr. 120 – Vetter/Frankreich.

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Bei Abhörmaßnahmen muss normiert werden, gegen wen die Abhörmaßnahmen gerichtet sein können, unter welchen Voraussetzungen, zum Schutz welcher Rechtsgüter, mit welchen Mitteln und nach welchem Verfahren sie ergriffen werden können. Beispielsweise hat es der Gerichtshof als Verletzung des Art. 8 EMRK gewertet, wenn im Gesetz keine Regelungen über Personen getroffen sind, die zufällig als Gesprächspartner der überwachten Personen abgehört werden77. Deutliche Akzente hat der EGMR ferner beim Grundrechtsschutz durch Organisation und Verfahren gesetzt. Die notwendigen organisatorischen und verfahrensrechtlichen Sicherungen zielen auf einen Schutz gegen willkürliche Eingriffe. Wer die Abhörmaßnahmen genehmigt, muss unabhängig sein, was eine gerichtliche oder jedenfalls sonst unabhängige Kontrolle voraussetzt. Ferner sind das Verfahren der Kontrollen78, die Höchstdauer der Maßnahme, Aufbewahrungsfristen, die Vertraulichkeit und die Vernichtung im Einzelnen zu regeln79. Aus deutscher Sicht ist auffällig, dass die richterliche Kontrolle der Interessenabwägung zwischen dem staatlichen Sicherheitsinteresse und der Integrität der Privatheit nur schwach akzentuiert ist. Eine absolute Tabuzone markiert wohl allein der Verkehr zwischen dem Beschuldigten und seinem Verteidiger80. Dass sich zu den materiellen Anforderungen im Übrigen nur wenige Aussagen finden, hat Methode. Auch im Bereich des Art. 8 EMRK bestätigt sich damit der Grundansatz des EGMR, den Konventionsstaaten umso eher einen materiell-rechtlichen Entscheidungsspielraum zuzubilligen, je eher der Schutz durch verfahrens- und organisationsrechtliche Regelungen sichergestellt ist81. 3. Vergleichendes Zwischenfazit Wenn man die Rechtsprechung des EGMR an den oben benannten Prüfsteinen der Sicherheitspolitik misst82, werden im Vergleich zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Gemeinsamkeiten, aber auch charakteristische Unterschiede deutlich.

77

dau. 78

EGMR, Urt. v. 10. 02. 2009, 25198/02, NJW 2010, 2111, Rdnr. 50 – Iordachi u. a./Mol-

EGMR, Urt. v. 26. 04. 2007, 71525/01, NJW 2011, 1333, Rdnr. 70 – Dumitru Popescu/ Rumänien; Urt. v. 26. 04. 2007, 71525/01, Rdnr. 70 ff. – Dumitru Popescu/Rumänien; Urt. v. 10. 02. 2009, 25198/02, NJW 2010, 2111, Rdnr. 49 – Iordachi u. a./Moldau. 79 EGMR, Urt. v. 10. 02. 2009, 25198/02, NJW 2010, 2111, Rdnr. 45, 48 – Iordachi u. a./ Moldau. 80 EGMR, Urt. v. 25. 03. 1998, 13/1997/797/1000, StV 1998, 683, Rdnr. 73 – Kopp/ Schweiz; Urt. v. 10. 02. 2009, 25198/02, NJW 2010, 2111, Rdnr. 50 – Iordachi u. a./Moldau. 81 Ehlers, Die Europäische Menschenrechtskonvention, in: ders. (Hg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 2. Aufl., 2009, § 2 Rdnr. 99. 82 Vgl. oben II.

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a) Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit Ähnlich wie Karlsruhe misst der EGMR der Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit einen hohen Stellenwert bei. Die Zulässigkeit von Datenerhebungen im Vorfeldbereich ist nie ernsthaft bestritten worden. Dementsprechend sind in der Entscheidung Weber zum deutschen G10 auch keine Einwände gegen die prinzipielle Berechtigung der sogenannten strategischen Überwachung der Telekommunikation erhoben worden, die die Befugnis zur Datenerhebung nicht an den Verdacht einer konkreten Gefahr geknüpft hat83. Zudem billigt der EGMR bei der Wahl der Mittel zum Erreichen des berechtigten Ziels des Schutzes der nationalen Sicherheit einen „ziemlich weiten Beurteilungsspielraum“ zu84. b) Schutz der Freiheitsrechte Wie das Bundesverfassungsgericht hat sich auch der EGMR als Hüter der Freiheitsrechte profiliert. Voraussetzung hierfür war eine dynamische Auslegung der Konvention85, die den Schutzbereich des Art. 8 EMRK an neue technische Entwicklungen angepasst hat. Auf Ebene der Schranken-Schranken greift der EGMR mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sowie organisations- und verfahrensrechtlichen Sicherungen auf Schutzkonzepte zurück, die auch aus der deutschen Diskussion vertraut sind, allerdings deutlich anders akzentuiert werden. Weitgehend vergleichbar sind allein die Anforderungen, die vom EGMR an die „Qualität des jeweiligen Gesetzes“86 gestellt werden und sich jedenfalls im Ergebnis mit der Forderung des Bundesverfassungsgerichts nach einer normenklaren und bereichsspezifischen Regelung87 decken. Demgegenüber bleibt die Straßburger Kontrolle der Verhältnismäßigkeit eher blass. Hier tritt an die Stelle einer materiellen Abwägungs- eine bloße Verfahrenskontrolle, die deutlich hinter den Anforderungen zurückbleibt, die sich aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ergeben88. c) Demokratische Legitimation Der Verzicht auf eine eigenständige Bewertung der Angemessenheit hat offenkundig Auswirkungen auf das Niveau der demokratischen Legitimation der Sicherheitspolitik. Im Vergleich zur Rechtslage in Deutschland eröffnen sich den Parlamen83

EGMR, Urt. v. 29. 06. 2006, 54934/00, NJW 2007, 1433, Rdnr. 97 ff. – Weber u. Saravia/

84

EGMR, Urt. v. 29. 06. 2006, 54934/00, NJW 2007, 1433, Rdnr. 106 – Weber u. Saravia/

D. D. 85

Ehlers (Fußn. 81), § 2 Rdnr. 31. EGMR, Urt. v. 29. 06. 2006, 54934/00, NJW 2007, 1433, Rdnr. 84 – Weber u. Saravia/D. 87 Vgl. oben Fußn. 44. 88 Exemplarisch hierzu die Rechtsprechung des BVerfG zur Forderung nach dem hypothetischen Ersatzeingriff (Fußn. 42) und dem Schutz des Kernbereichs (Fußn. 48). 86

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ten größere sicherheitspolitische Gestaltungsspielräume, weil über die Abwägung zwischen Freiheit und Sicherheit vorbehaltlich der notwendigen organisationsund verfahrensrechtlichen Sicherungen ohne Rücksicht auf vermeintlich feststehende Vorgaben der EMRK entschieden werden kann. Abweichend vom deutschen Vorbehalt des Gesetzes bietet die EMRK hingegen keinen Schutz vor einer Selbstentmachtung des Parlaments. Aus deutscher Sicht mag man zwar zunächst geneigt sein, den Gesetzesvorbehalt im Sinne einer „konventionsrechtlichen Wesentlichkeitslehre“89 zu interpretieren, da der EGMR hohe Anforderungen an die Zugänglichkeit des Gesetzes und die Vorhersehbarkeit des Eingriffs stellt. Bei der Eingriffsgrundlage muss es sich aber nicht zwingend um ein parlamentarisches Gesetz handeln. Vielmehr kommt als Rechtsgrundlage insbesondere auch Richter- und Gewohnheitsrecht90 in Betracht, soll ein sonst unausweichlicher Bruch mit der Tradition des Common Law91 vermieden werden. d) Lernfähigkeit des Rechts Was unter dem Aspekt des Freiheitsschutzes und der demokratischen Legitimation als defizitär erscheinen mag, kommt auf der anderen Seite der Lern- und Anpassungsfähigkeit des Sicherheitsrechts zugute. Im Unterschied etwa zur Caroline von Monaco-Entscheidung des EGMR, die dem nationalen Recht nur einen relativ schmalen Korridor zum Ausgleich des Spannungsverhältnisses von Pressefreiheit und dem Schutz der Privatsphäre vorgegeben hat92, besteht im Sicherheitsrecht ein weiter Spielraum, um die staatlichen Sicherheitsinteressen mit dem Schutz der Privatheit auszutarieren. Dieser kann genutzt werden, um unterschiedliche Konzepte zu erproben, aber auch dazu, um schnell auf neue, sich wandelnde Sicherheitsanforderungen zu reagieren. V. Perspektiven Die vorstehenden Analysen haben eines deutlich gemacht: Ungeachtet von Konvergenztendenzen bestehen im Grundrechtsstandard zum Schutz der Privatheit nicht unerhebliche Unterschiede zwischen dem GG und der EMRK. Aus Sicht des deutschen Verfassungsrechts ist auf Ebene der EMRK die Verhältnismäßigkeitsprüfung nur schwach akzentuiert, sofern durch organisations- und verfahrensrechtliche Sicherungen „angemessene Vorkehrungen gegen einen Missbrauch“ vorgesehen sind. Augenfällig ist ferner, dass die EMRK keine Wesentlich89

Rieckhoff, Der Vorbehalt des Gesetzes im Europarecht, 2007, S. 148. EGMR, Urt. v. 02. 08. 1984, 8691/79, EuGRZ 1985, 17, Rdnr. 66 – James Malone/UK; Marauhn/Meljnik in: Grote/Marauhn (Hg.), EMRK/GG, 2006, Kap. 16, Rdnr. 79. 91 Ehlers (Fußn. 81), § 2 Rdnr. 63; ausführlich hierzu Weiß, Das Gesetz im Sinne der Europäischen Menschenrechtskonvention, 1996, S. 79 f. 92 EGMR, Urt. v. 24. 06. 2004, 59320/00, NJW 2004, 2647, Rdnr. 56 ff. – Caroline von Monaco; hierzu Zippelius/Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 32. Aufl., 2008, § 16 Rdnr. 41. 90

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keitslehre kennt. Eingriffe in Art. 8 EMRK müssen zwar vergleichbar der Forderung nach einer normenklaren und bereichsspezifischen Regelung auf einer für die Betroffenen zugänglichen und vorhersehbaren Rechtsgrundlage beruhen. Bei dieser muss es sich aber nicht notwendigerweise um ein Parlamentsgesetz, sondern kann es sich auch um eine untergesetzliche Norm oder Richterrecht handeln. Für die Europarechtswissenschaft stellt sich die Frage, wie mit diesen Unterschieden umzugehen ist. 1. Grundrechtskonforme Weiterentwicklung der EMRK Aus Sicht der deutschen Verfassungstheorie mag es attraktiv erscheinen, den europäischen Grundrechtsstandard in Richtung des Grundgesetzes weiterzuentwickeln93. Hier auf Ebene der EMRK anzusetzen, würde die deutsche Grundrechtsdogmatik nicht nur innerhalb der Europäischen Union, sondern in allen Mitgliedstaaten des Europarates verbindlich machen. Für eine solche Fortentwicklung wäre indes ein nicht unerheblicher Preis zu zahlen. Mit einer Harmonisierung der Kontrollmaßstäbe ist unweigerlich auch eine Vereinheitlichung des Sicherheitsrechts verbunden94. Die Analyse der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat indes gezeigt, dass die Konstitutionalisierung nicht frei von „Risiken und Nebenwirkungen“ ist. Die gegen eine verfassungsrechtliche Überformung erhobenen Einwände würden noch einmal ganz erheblich an Gewicht gewinnen, wenn sich diese auf Ebene der EMRK fortsetzen würde. Einem gemeineuropäischen Polizeirecht, das auf Richterrecht fundiert ist, fehlt es an der notwendigen demokratischen Legitimation. Darüber hinaus wäre es auch kaum in der Lage, dem Postulat hinreichender Lern- und Anpassungsfähigkeit des Sicherheitsrechts Rechnung zu tragen. Die Art und Weise, wie das Spannungsfeld von Sicherheit und Freiheit ausbalanciert wird, ist eng mit der nationalen Rechtskultur verwoben. Dies mögen zwei Beispiele verdeutlichen: Während es in England auf Unverständnis stößt, deutsche Streifenpolizisten standardmäßig mit Schusswaffen auszurüsten, würde in Deutschland eine flächendeckende Videoüberwachung des öffentlichen Raumes, wie sie in England seit Langem praktiziert wird95, an datenschutzrechtlichen Vorbehalten scheitern. Gleichwohl hat Deutschland enorm von den englischen Erfahrungen profitiert, die Anstoß waren, das Konzept unter Beach93

Zumindest tendenziell Britz, Europäisierung des grundrechtlichen Datenschutzes?, EuGRZ 2009, 1 (11) für einen Export nationaler Datenschutzgrundrechtsdogmatik auf Ebene des europäischen Datenschutzgrundrechts. 94 Hierzu im strafprozessualen Kontext wegweisend nur Esser, Auf dem Weg zu einem europäischen Strafverfahrensrecht, 2002, S. 817 ff. 95 Ausführlich Ochsenfeld-Repp, Dauerhafte Videoüberwachung allgemein zugänglicher öffentlicher Stadträume zur (Straßen-)Kriminalitätskontrolle in England und der Bundesrepublik Deutschland, 2007, S. 64 f.; s. a. Würtenberger/Tannenberger, Gesellschaftliche Voraussetzungen und Folgen der Technisierung von Sicherheit, in: Winzer/u. a. (Hg.), Sicherheitsforschung, 2010, 221 (224).

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tung nationaler Datenschutzstandards und der eigenen Sicherheitsphilosophie nach Deutschland zu importieren. Derartige Lernprozesse würden blockiert, wenn Sicherheitspolitik zukünftig in Straßburg gemacht würde. 2. Bereichsspezifische Differenzierung Auf dem Weg zu einem kohärenten Grund- und Menschenrechtsschutz96 muss sich eine weitere materielle Aufladung der EMRK daher als Sackgasse erweisen. Not tut stattdessen eine bereichsspezifische Ausdifferenzierung. Dabei kann der EMRK im Sicherheitsrecht allein die Aufgabe zukommen, einen rechtsstaatlichen Mindeststandard zu garantieren. Wenn darüber hinausgegangen werden soll, muss innerhalb der Europäischen Union auf Ebene der Grundrechtecharta angesetzt werden. Eine richterrechtliche Fortentwicklung des Sicherheitsverfassungsrechts ist auch hier nur in kleinen Schritten möglich. Diese hätte aber im Vergleich zur EMRK den Vorzug, innerhalb der Europäischen Union auf einen weitaus größeren verfassungspolitischen Konsens aufbauen zu können, als dieser innerhalb der demokratisch und rechtsstaatlich sehr heterogenen Gemeinschaft des Europarates möglich ist. 3. Schlussbemerkung Die Konstitutionalisierung des europäischen Sicherheitsrechts steht noch am Anfang. Hier ermahnt der von Thomas Würtenberger so glänzend herausgearbeitete Zusammenhang von Rechtsbewusstsein und Rechtsordnung97 aus deutscher Sicht zu Bescheidenheit. Das deutsche Sicherheitsverfassungsrecht basiert auf historischen Erfahrungen, die in weiten Teilen Europas nicht geteilt werden und damit auch nicht reproduzierbar sind. Die Schwächung der demokratischen Legitimation und die Unitarisierung der Sicherheitsgesetzgebung durch eine ausufernde Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts mögen in Deutschland Akzeptanz finden. Im europäischen Maßstab ist dieses Modell nicht anschlussfähig, weil die Polizeirechtskultur anderer Mitgliedstaaten des Europarats auf abweichenden historischen Erfahrungen und einer jeweils eigenen Balance von Rechtsstaat und Demokratie beruht98. Insofern kann das deutsche Sicherheitsverfassungsrecht auch kein Vorbild für einen weiteren Ausbau des Grundrechtsstandards der EMRK sein. Vielmehr ist in umkehrter Richtung zu fragen, ob das deutsche Verfassungsrecht nicht von einer stärkeren Prozeduralisierung des Grundrechtsschutzes nach dem Vorbild des EGMR profitieren könnte. Gewinner einer solchen Akzentverschiebung wären im Sicherheitsrecht gleichermaßen das Demokratie- wie das Bundestaatsprinzip. 96

Zippelius/Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 32. Aufl., 2008, § 7 Rdnr. 47. Würtenberger, Zeitgeist und Recht, 2. Aufl., 1991, S. 89 ff. 98 Vgl. auch Würtenberger, Modernisierung des Polizeirechts als Paradigma für die Entwicklung des Rechtsstaats, in: Heckmann (Hg.), GS Kopp, 2007, 428 (438 f.). 97

Das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit – Hat der 11. September 2001 das deutsche Verfassungsrecht verändert? Von Andreas Voßkuhle, Karlsruhe/Freiburg I. Einführung Das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit ist eines der großen wissenschaftlichen Lebensthemen von Thomas Würtenberger.1 Als renommiertem Polizeirechtler2 war ihm die Schwierigkeit, beide Ziele in einen angemessenen rechtstaatlichen Ausgleich zu bringen, aber nicht erst seit den Ereignissen um den 11. September 2001 bewusst. Während es im Polizeirecht regelmäßig um Maßnahmen zur Abwehr abstrakter oder konkreter Gefahren geht, können wir insbesondere seit dem 11. September 2001 beobachten, dass die Sicherheitsbehörden mit ihrem Handeln zunehmend im Sinne einer Gefahrenvorsorge bereits die Entstehung von Gefahren zu verhindern suchen. Die Rede ist von einem „Neuen Sicherheitsbegriff“, der die Gesetzgeber in Bund und Ländern, teilweise von der Europäischen Union verpflichtet,3 zur 1 Vgl. nur Würtenberger, Innere Sicherheit im demokratischen Rechtsstaat, in: Arbeitsgemeinschaft Ländlicher Raum im Regierungsbezirk Tübingen (Hg.), Innere Sicherheit im ländlichen Raum, 1994, S. 4 ff.; ders., Freiheit und Sicherheit – Die Grenzen der Persönlichkeitsentfaltung, in: Rill (Hg.), Grundrechte – Grundpflichten: Eine untrennbare Verbindung, 2001, S. 15 ff.; ders., Das Polizei- und Sicherheitsrecht vor den Herausforderungen des Terrorismus, in: Masing/Jouanjan (Hg.), Terrorismusbekämpfung, Menschenrechtsschutz und Föderation, 2008, S. 27 ff.; ders., Die Idee der Freiheit und ihre Sicherung bei Montesquieu, in: Klein (Hg.), Gewaltenteilung und Menschenrechte, 2. Aufl. 2010, S. 17 ff.; ders./Tanneberger, Gesellschaftliche Voraussetzungen und Folgen der Technisierung von Sicherheit, in: Wintzer u. a. (Hg.), Sicherheitsforschung – Chancen und Perspektiven, 2010, S. 221 ff.; ders., Sicherheitsarchitektur im Wandel, in: Kugelmann (Hg.), Polizei unter dem Grundgesetz, 2010, S. 73 ff.; ders./Tanneberger, Sicherheitsarchitektur als interdisziplinäres Forschungsfeld, in: Riescher (Hg.), Sicherheit und Freiheit statt Terror und Angst, 2010, S. 97 ff.; ders., Zur Vereinheitlichung des Sicherheitsrechts in Europa, in: Zoche/Kaufmann/Haverkamp (Hg.), Zivile Sicherheit, 2011, S. 247 ff.; ders., Sicherheitsrecht im deutsch-französischen Vergleich, in: Fehling/Grewlich (Hg.), Struktur und Wandel des Verwaltungsrechts, 2011, S. 133 ff.; ders., Resilienz, in: FS Schenke, 2011, S. 561 ff. 2 Verwiesen sei hier lediglich auf das Standardwerk Würtenberger/Heckmann, Polizeirecht in Baden-Württemberg, 6. Aufl. 2005, sowie ferner etwa auf Würtenberger, Modernisierung des Polizeirechts als Paradigma für die Entwicklung des Rechtsstaates, in: GS Kopp, 2007, S. 427 ff.; ders., Entwicklungslinien eines transnationalen informationellen Polizeirechts, in: FS Steiner, 2009, S. 948 ff. 3 Vgl. dazu Würtenberger, Zur Vereinheitlichung des Sicherheitsrechts in Europa (Fußn. 1) S. 251 ff. Zur vertieften Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden auf europäischer Ebene

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Veränderung der „Sicherheitsarchitektur“, d. h. des Aufbaus, der Zuständigkeiten und der Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden, aber auch erweiterter Eingriffsbefugnisse veranlasst hat.4 Was bedeutet diese Entwicklung für die Gewährleistungen des Grundgesetzes? Dieser Frage möchte ich in drei Schritten näher nachgehen. In einem ersten Schritt soll das Spannungsverhältnis von Freiheit und Sicherheit kurz staatstheoretisch beleuchtet werden (II.). Auf dieser Grundlage werde ich danach in einem zweiten Schritt versuchen, die Entwicklung des modernen Rechtsstaats hin zum Präventionsstaat aufzuzeigen (III.), bevor ich in einem dritten Schritt diesen Paradigmenwechsel am Beispiel einiger Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts näher beleuchte (IV.) und einige konkrete Schlussfolgerungen anstelle (V.). II. Sicherheit und Freiheit als Legitimationsgrundlagen des Staates Aus staatstheoretischer Sicht lässt sich über die Begriffe von Sicherheit und Freiheit sowie deren Verhältnis zueinander die Entstehung des modernen Staates rekonstruieren. Dabei markiert das Bedürfnis nach Gewährleistung von Sicherheit zeitlich betrachtet den Anfang dieser Entwicklung.5 1. Staatszweck Sicherheit als Ursprung moderner Staatlichkeit Mitte des 17. Jahrhunderts formulierte der Staatstheoretiker und politische Philosoph Thomas Hobbes unter dem Eindruck des englischen Bürgerkrieges, einem geradezu klassischen Fall des „Ausnahmezustandes“6, die Idee eines Gesellschaftsvertrages zwischen den Bürgern und dem Staat. Dies bedeutete, dass die Menschen allein dem Staat das Monopol rechtmäßiger Gewaltausübung übertrugen, der dafür in Gestalt des (damals absolutistischen und autoritären) Souveräns Friede nach innen und nach außen versprach. Aus diesem Versprechen von Sicherheit nach innen und außen durch den Staat bezog dieser seine (einzige) innere Legitimationskraft. Nur in dem Maße, in dem der Staat in der Lage war, seinen Bürgern Sicherheit ders., Entwicklungslinien eines transnationalen informationellen Polizeirechts (Fußn. 2), S. 951 ff. 4 Gusy, Vom neuen Sicherheitsbegriff zur neuen Sicherheitsarchitektur, VerwArch 101 (2010), 309 ff., der u. a. auf die Herausforderungen für die europäische (Verfassungs-) Rechtsentwicklung hinweist, die mit der verstärkten unionalen Rechtsetzung im Bereich der inneren Sicherheit einhergehen (S. 329 f.). Vgl. Volkmann, Polizeirecht als Sozialtechnologie, NVwZ 2009, 216 (216). Zur Resilienz als (einer) neuen „Leitidee der Sicherheitsarchitektur“: Würtenberger, Resilienz (Fußn. 1), S. 562 ff. 5 Vgl. auch Huster/Rudolph, Vom Rechtsstaat zum Präventionsstaat?, in: dies. (Hg.), Vom Rechtsstaat zum Präventionsstaat, 2008, S. 9 (11 f.). 6 Im Sinne der Lehre Carl Schmitts, vgl. Schmitt, Politische Theologie, 2. Ausg. 1934, S. 11: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“

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und Schutz zu geben, war der Bürger auch zu Gehorsam verpflichtet.7 Auf der anderen Seite gefährdete der Staat seine Legitimität, sobald er sein Sicherheitsversprechen nicht (mehr) einlösen konnte.8 Sicherheit wird auf diese Weise zur Kernaufgabe des modernen Staates,9 eine Argumentation, die in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bis heute Verwendung findet.10 2. Konzept der Freiheit als Errungenschaft der Aufklärung Zwar anerkannte auch John Locke, der „große Theoretiker des rechtsstaatlichen Normalzustandes“11, dass der Staat als Inhaber des Gewaltmonopols für die Sicherheit seiner Bürger zu sorgen sowie ihr Leben, ihre Freiheit und ihr Eigentum zu beschützen hat. Gleichzeitig jedoch misstraute er der zügellosen politischen Macht des Staates. Um Machtmissbrauch durch den absoluten Souverän zu verhindern, beschränkte er dessen Herrschaft – ganz im Sinne der aufklärerischen Forderung nach persönlicher Freiheit12 und nicht zuletzt aufgrund eines positiveren Menschenbildes – zugunsten individueller Freiheiten der Bürger.13 Die Garantie der Sicherheit durch den Staat bei Hobbes wird bei Locke zur gleichzeitigen Bedrohung, so dass sich das Bedürfnis nach Freiheit nunmehr auch auf die Sicherheit vor dem Staat richtet. Dabei ersetzt jedoch die Freiheitsphilosophie Lockes nicht die Sicherheitsphilosophie von Hobbes. Vielmehr baut sie auf ihr auf und entwickelt sie weiter, indem sie einen weiteren Legitimationsgrund des Staates,

7 Vgl. Hobbes, Leviathan (erschienen 1651), übers. v. W. Euchner, 1966, Teil II, S. 131 ff. (17. Kap.) und S. 171 (21. Kap.). 8 So Hoffmann-Riem, Sicherheit braucht Freiheit, in: Kritische Justiz (Hg.), Verfassungsrecht und gesellschaftliche Realität, 2009, S. 54 (56); vgl. auch Hoffmann-Riem, Freiheit und Sicherheit im Angesicht terroristischer Anschläge, in: Müller/Schneider (Hg.), Die Europäische Union im Kampf gegen den Terrorismus: Sicherheit vs. Freiheit, 2006, S. 33 (33); in diesem Sinne auch Di Fabio, Sicherheit und Freiheit, NJW 2008, 421 (422); Huster/Rudolph (Fußn. 5), S. 9 (11 f.). 9 Grimm, Die Freiheit sichern! Ohne starke Bürgerrechte bleibt Sicherheit wertlos, in: Zypries (Hg.), Die Renaissance der Rechtspolitik, 2008, S. 25 (26). 10 Vgl. BVerfGE 46, 24 (56 f.); 49, 24 (56 f.): „Die Sicherheit des Staates als verfasster Friedens- und Ordnungsmacht und die von ihm zu gewährleistende Sicherheit seiner Bevölkerung sind Verfassungswerte, die mit anderen in gleichem Rang stehen und unverzichtbar sind, weil die Institution Staat von ihnen die eigentliche und letzte Rechtfertigung herleitet“; etwas verkürzt – ohne Hinweis auf die Legitimität staatlichen Handelns – die jüngere Rechtsprechung, vgl. BVerfGE 115, 320 (346); 120, 274 (319). 11 So Huster/Rudolph (Fußn. 5), S. 20. 12 Und nicht zu vergessen: solidarischer Gleichheit. 13 Locke, Two Treatises of Government, 1689 anonym veröffentlicht (II § 123: Zusammenschluss der Menschen zum gegenseitigen Schutz ihres Lebens, ihrer Freiheit und ständiger Gefahr; II § 6: Gleichheit; II §§ 107, 143: Gewaltenteilung).

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den der Gewährleistung von persönlicher Freiheit, auf den vorgefundenen Legitimationsgrund der Gewährleistung von Sicherheit legt.14 Diese Verbindung von Sicherheit und Freiheit leitet den Wandel vom absolutistischen Obrigkeitsstaat zum Rechtsstaat ein.15 In einem Rechtsstaat sieht sich bis heute jedes staatliche Handeln sowohl in formeller16 als auch in materieller17 Hinsicht dem Recht unterworfen. Auf diese Weise fand eine eindeutige Bestimmung des (prekären) Verhältnisses von Sicherheit und Freiheit im Sinne des rechtsstaatlichen Verteilungsprinzips18 statt: Jede staatliche Freiheitsbeschränkung war nur zulässig, wenn und soweit sie zum Schutz dieser Freiheit vor Übergriffen Dritter, also zur Gewährleistung von Sicherheit, erforderlich war.19 3. Freiheit und Sicherheit als zwei Seiten derselben Medaille Auch wenn die Aufgaben des demokratischen Rechtsstaates heute weiter zugenommen haben,20 so bedarf doch jede Form staatlicher Herrschaft weiterhin der Legitimation.21 Bis heute wird hierfür im Grundsatz an der legitimierenden Kraft von Sicherheit und Freiheit festgehalten.22 Dabei ist offensichtlich, dass Freiheit und Sicherheit als Grundbedingungen des freiheitlichen Verfassungsstaates in einer ambivalenten und spannungsgeladenen Beziehung zueinander stehen. Denn so sehr die 14 So Calliess, Die Europäisierung der Staatsaufgabe Sicherheit unter den Rahmenbedingungen des freiheitlichen Rechtsstaats, in: Müller/Schneider (Hg.) (Fußn. 8), S. 83 (99 f.); vgl. auch Hoffmann-Riem, Sicherheit braucht Freiheit (Fußn. 8), S. 56; Frankenberg, Staatstechnik – Perspektiven auf Sicherheit und Ausnahmezustand, 2010, S. 27 ff. Von Josef Isensee stammt in diesem Zusammenhang die Formulierung: „Locke sieht weiter als Hobbes, weil er auf seinen Schultern steht“, vgl. Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983, S. 7. 15 Der sich im weiteren Verlauf allmählich noch mit der Idee der Demokratie verbündete, so Hoffmann-Riem, Sicherheit braucht Freiheit (Fußn. 8), S. 56. 16 Im Sinne einer Bindung an das von der Repräsentation der Gesellschaft beschlossene Gesetz. 17 Im Sinne einer Bindung an die bürgerlichen Freiheitsrechte. 18 Dazu – angelehnt an Schmitt, Verfassungslehre, 8. Aufl. 1993, S. 126 – Volkmann, Sicherheit und Risiko als Probleme des Rechtsstaats, JZ 2004, 696 (698), wonach man den frühen Rechtsstaat insoweit zutreffend als Ausdruck eines allgemeinen „Verteilungsprinzips“ beschrieben hat, nach dem die Zuständigkeit des Staates prinzipiell begrenzt, die individuelle Freiheit dagegen prinzipiell unbegrenzt ist. 19 So Huster/Rudolph (Fußn. 5), S. 13. 20 Mit der weiteren Zunahme der Staatsaufgaben (seit Mitte des 19. Jahrhunderts, Stichwort: Sozialstaat) ist der so konstituierte, Freiheit und Sicherheit im Sinne der Rechtssicherheit zum Ausgleich bringende Rechtsstaat allerdings längst Geschichte, so Volkmann (Fußn. 18), S. 698. 21 Würtenberger, Die Legitimität staatlicher Herrschaft, 1972, S. 17. 22 Vgl. auch Schulze-Fielitz, Innere Sicherheit: Terrorismusbekämpfung auf Kosten der Freiheit?, in: Adolf-Arndt-Kreis (Hg.), Sicherheit durch Recht in Zeiten der Globalisierung, 2003, S. 25 (25).

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beiden Werte aufeinander verweisen, so wenig befinden sie sich doch von vornherein in Harmonie. Freiheit ist eine Quelle von Unsicherheit, und Sicherheit kann die Freiheit einschnüren.23 Allerdings zeigt die Gegenüberstellung von Freiheit und Sicherheit auch, dass diese Zielwerte keine Gegensätze und unversöhnlichen Widersprüche sind. Ein freiheitlicher Verfassungsstaat darf niemals ein Interesse daran haben, die Freiheit gegen die Sicherheit bzw. umgekehrt die Sicherheit gegen die Freiheit auszuspielen. Freiheit ohne Sicherheit endet in ständiger Angst. Sicherheit ohne Freiheit mündet in ständige Unterdrückung.24 Der – einzige – Ausweg aus diesem Dilemma ist die wechselseitige Optimierung zur Herstellung eines – jeweils – angemessenen Ausgleichs.25 Diese Aufgabe, die Sphären von Sicherheit und Freiheit einander immer wieder neu zuzuordnen, weist der gewaltenteilige demokratische Rechtsstaat zuallererst der rationalitätsbegründenden Kraft parlamentarischer und exekutiver Rechtsetzung zu.26 III. Der Paradigmenwechsel im staatlichen Sicherheitsrecht: von der Gefahrenabwehr zur Verhinderung von Risiken Nicht erst seit den terroristischen Anschlägen vom 11. September 2001 sowie nachfolgenden weiteren Anschlägen und missglückten Anschlagsversuchen in zahl23

So Grimm (Fußn. 9), S. 25. So Grimm (Fußn. 9), S. 25; vgl. auch Di Fabio (Fußn. 8), S. 422: „Keiner hat Anspruch auf absolute Sicherheit, so wie es keine absolute Freiheit gibt. Wer einen dieser Pole absolut setzt, zerstört unweigerlich den anderen“; vgl. auch unter Einbeziehung der solidarischen Gleichheit als weiteren Zielwert Hoffmann-Riem, Sicherheit braucht Freiheit (Fußn. 8), S. 56: „Wird einer (der Zielwerte) absolut gesetzt, verkümmern die anderen.“ Ferner Masing, Die Ambivalenz von Freiheit und Sicherheit, JZ 2011, 753 (753, 758), zur Unzulässigkeit der Schlussfolgerung, eine Abwägung zwischen den beiden Aspekten könne vor diesem Hintergrund nicht stattfinden. Vgl. aber auch Frankenberg (Fußn. 14), S. 243 ff., der in der Behauptung prinzipieller Gleichrangigkeit von Freiheit und Sicherheit einen „rhetorischen Spurwechsel von Freiheit zu Sicherheit“ erblickt, welcher der rechtlich kaum mehr zu bändigenden „Maßlosigkeit der Sicherheit“ den Weg bereite. 25 Vgl. Hoffmann-Riem, Sicherheit braucht Freiheit (Fußn. 8), S. 57: „wechselseitige Optimierung durch Balancierung“; Grimm (Fußn. 9), S. 25: „Alles kommt daher auf einen angemessenen Ausgleich an“. Ähnlich auch Di Fabio (Fußn. 8), S. 422: „[Freiheit und Sicherheit] stehen in einem Komplementärverhältnis: Sie setzen sich wechselseitig voraus und stärken einander, wenn beide angemessen zur Entfaltung gelangen.“ 26 Angelehnt an Hoffmann-Riem, Freiheit und Sicherheit im Angesicht terroristischer Anschläge (Fußn. 8), S. 37; vgl. auch Würtenberger/Heckmann (Fußn. 2), Rn. 38. Hintergrund der Gesetzesmediatisierung von Sicherheit und Freiheit ist die Erkenntnis, dass Sicherheit und Freiheit als solche – in einem umfassenden staatstheoretischen Sinne – nicht vorkommen, sie bilden nur den Hintergrund konkreter Kompetenzzuweisungen und Grundrechtsverbürgungen, so Grimm (Fußn. 9), S. 26; vgl. auch Volkmann (Fußn. 18), S. 697: „Rechtsstaat als zweckrationales Gebilde, …, mit den Mitteln von Recht und Gesetz“. 24

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reichen anderen Staaten sieht sich das zu allen Zeiten prekäre und fragile Beziehungsgeflecht von Freiheit und Sicherheit einer besonderen Bewährungsprobe ausgesetzt.27 1. Prävention in der Risikogesellschaft Wenn ich behaupte, dass diese Veränderungen bereits vor den aktuellen terroristischen Bedrohungen eingesetzt haben, dann liegt dies daran, dass spätestens seit den 80er-Jahren des vorigen Jahrhunderts die Prävention als Schlüsselbegriff der Risikovorsorge Eingang in das Sicherheitsrecht gefunden hat.28 Vorreiter hierfür waren das Umwelt-, Technik-, Gentechnik- und Arzneimittelrecht. Rechtsgebiete also, in denen die Verwendung neuer Techniken, namentlich der Nuklear-, der Informationsund der Gentechnik, aber auch der Einsatz neuer chemischer Stoffe, Risiken erzeugt, die die Gefahren der ersten Industrialisierungsphase in mehrfacher Hinsicht übertreffen. Es handelt sich hierbei um Gefahren, die sich häufig der sinnlichen Wahrnehmung entziehen, nach dem Stand der Technik nicht vorhersehbar sind oder die ihre schädlichen Wirkungen erst zeitlich verzögert, in Summierung zahlreicher an sich harmloser Kleinstbeiträge oder räumlich entgrenzt vom Ort der Verursachung zeigen.29 Zwar gehörte Prävention immer schon zum Aufgabenkreis staatlicher Sicherheit. Allerdings führte die neue Dimension möglicher Schadensverläufe dazu, dass sich – unter dem Schlagwort der „Risikogesellschaft“30 und vermittelt durch das umweltrechtliche Vorsorgeprinzip in Deutschland – eine Umstellung der Staatstätigkeit von einer (eher statischen) Zustandswahrung hin zu einer (stärker dynamischen) Zukunftsplanung vollzog.31 Ziel dieser neuen Sicherheitsstrategie war und ist es, 27 Vgl. Gusy (Fußn. 4), S. 331: „Die meisten tatsächlich eingeführten Kontrollbefugnisse waren bereits vor dem Jahr 2001 diskutiert worden […]. [Sie] wurden also nicht als spezifische Reaktionen auf den Terrorismus konzipiert, sondern eher als solche Reaktionen beschlossen. Dementsprechend sind sie vielfach […] auch zur Abwehr anderer schwerer Straftaten bestimmt.“ Vgl. auch M. Möllers/v. Ooyen, Bundespolizeien, Bundesregierung und neue Sicherheitsarchitektur, in: dies. (Hg.), Neue Sicherheit. Jahrbuch Öffentliche Sicherheit, Sonderband 6.2, 2011, S. 141 ff., sowie Würtenberger, Freiheit und Sicherheit – Die Grenzen der Persönlichkeitsentfaltung (Fußn. 1), S. 15 (23, 25), am Beispiel der Videoüberwachung und der Schleierfahndung. 28 Allgemein dazu Grimm, Verfassungsrechtliche Anmerkungen zum Thema Prävention, in: ders. (Hg.), Die Zukunft der Verfassung, 2. Aufl. 1994, S. 197 ff.; Würtenberger/Heckmann (Fußn. 2), Rn. 33 ff. 29 Vgl. Grimm, Die Zukunft der Verfassung, in: ders. (Hg.) (Fußn. 28), S. 399 (417). Aus heutiger Sicht möchte ich auch den durch menschliche Aktivität in Gang gesetzten Klimawandel zu diesen Risiken zählen. 30 Maßgeblich geprägt wurde dieser Begriff vom deutschen Soziologen Ulrich Beck, vgl. Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, 1986, S. 10. Gusy (Fußn. 4), S. 311, schlägt denn auch vor, die Neudefinition des Sicherheitsbegriffs – als Abwesenheit von Risiken –, als „politische Antwort auf die Thesen der ,Risikogesellschaft’ zu qualifizieren“. 31 Volkmann (Fußn. 4), S. 216, spricht von einem „Regulierungskonzept, innerhalb dessen eine zu definierende Lage strategisch und antizipativ bearbeitet wird“.

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nicht erst manifeste Gefahren zu beseitigen, sondern diese bereits im Vorfeld zu verhindern. Weil die Zahl potentieller Gefahrenquellen jedoch stets ungleich größer ist als die der akuten Gefahren, wächst das staatliche Informationsbedürfnis außerordentlich an.32 2. Neuartige Bedrohungen durch Terrorismus und globale kriminelle Netzwerke Im Unterschied zur industriellen Risikogesellschaft geht bei den neuartigen Herausforderungen durch den internationalen Terrorismus die Bedrohung der Sicherheit nicht von der Störungsanfälligkeit und Gefahrgeneigtheit komplexer technologischer Systeme aus.33 Die neuartige terroristische Bedrohung resultiert aus einem weltweiten Netzwerk extrem flexibler, dezentral und professionell organisierter Gruppen, die mit gewaltsamen Mitteln das Sicherheitsversprechen des Staates durch Erzeugung gesellschaftlicher Verunsicherung zu unterminieren versuchen. Mit Blick auf die Gefährdungslage teilt der weltumspannende Terrorismus neuer Prägung jedoch viele Eigenschaften technischer Großrisiken. Es handelt sich bei ihm um eine (asymmetrische34) Bedrohung, die weder personell noch lokal eindeutig identifizierbar ist, die Schadensdimensionen bisher unbekannten Ausmaßes erreicht, der nicht nur repressiv, sondern vor allem auch präventiv begegnet werden kann und die schließlich einen diffusen, systemischen Charakter aufweist.35

32 Grimm (Fußn. 29), S. 420; vgl. auch Gusy (Fußn. 4), S. 312: „Ein Staat, der alle Risiken ausschließen soll, muss alles wissen […].“ 33 Vgl. dazu Schulze-Fielitz, Risikosteuerung von Hochrisikoanlagen als Verfassungsproblem, DÖV 2011, 785 ff. Zugleich bildet die Verwundbarkeit dieser „kritischen Infrastruktur“ durch den (internationalen) Terrorismus eine seiner wichtigsten Herausforderungen für die Sicherheitsbehörden, vgl. Würtenberger, Resilienz (Fußn. 1), S.561 f., 569 ff.; sowie die Beiträge in Kloepfer (Hg.), Schutz kritischer Infrastrukturen, 2010. 34 Dazu Giessmann, Die Donquichotterie der Bekämpfung von Terror mit militärischen Mitteln, in: Müller/Schneider (Hg.) (Fußn. 8), S. 180 (190 ff.). 35 Ausführlich Huster/Rudolph (Fußn. 5), S. 14 ff., 19; Schneckener, Warum lässt sich Terrorismus nicht „besiegen“?, in: Huster/Rudolph (Hg.) (Fußn. 5), S. 25 ff.; Hoffmann-Riem, Sicherheit braucht Freiheit (Fußn. 8), S. 54 ff.; insbesondere mit Blick auf die grenzüberschreitenden Gefahren Di Fabio (Fußn. 8), S. 421 f.; zur strukturellen Vergleichbarkeit der Bedrohungen großtechnischer Risiken und modernen Terrors vgl. bereits Beck (Fußn. 30), S. 10, der unter dem unmittelbaren Eindruck der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl die (radioaktive) Gefahr in einer Weise analysiert, die der Beschreibung der Bedrohung durch den neuartigen Terrorismus – unter anderen Vorzeichen – verblüffend ähnelt: „Die Rede von (industrieller) Risikogesellschaft … hat einen bitteren Beigeschmack von Wahrheit erhalten. Vieles, das im Schreiben noch argumentativ erkämpft wurde – die Nichtwahrnehmbarkeit der Gefahren, ihre Wissensabhängigkeit, ihre Übernationalität, die „ökologische Enteignung“, der Umschlag von Normalität in Absurdität usw. – liest sich nach Tschernobyl wie eine platte Beschreibung der Gegenwart.“

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3. Ausweitung der Kriminalprävention durch Vorverlagerung staatlichen Handelns und Absenkung staatlicher Eingriffshürden Die diffusen Gefahren und das außerordentliche Schadenspotential des neuartigen Terrorismus haben der Entwicklung des modernen Rechtsstaats zu einem Präventionsstaat einen weiteren erheblichen Schub verliehen und dazu geführt, dass das – für im weitesten Sinne umweltrechtliche Risikolagen konzipierte – Vorsorgeprinzip jedenfalls in Deutschland zunehmend in das Recht der inneren Sicherheit und damit auch in das besondere Sicherheitsrecht zur Bekämpfung der Kriminalität „hinüberschwappt“.36 Vor diesem Hintergrund richtet sich das staatliche Bestreben darauf, die Sicherheitsrisiken prospektiv zu bekämpfen, sie frühzeitig zu erkennen und schon im Keim zu ersticken.37 In Abkehr von der im traditionellen Sicherheitsrecht gefundenen und an den rechtsstaatlichen Konturen des Verhältnismäßigkeitsprinzips verankerten Balance zwischen Sicherheit und Freiheit findet eine zunehmende Ausweitung von Ermittlungen in das Vorfeld des Verdachts und damit in das Vor-Vorfeld der Gefahr statt.38 Nachdem Prävention und Risikovorsorge zunächst auf die Generierung von Wissen angelegt sind, werden die Sicherheitsbehörden versuchen, möglichst frühzeitig in Erfahrung zu bringen,39 wann und wo terroristische Anschläge geplant werden oder wo ein gesellschaftliches Milieu existiert, dessen Angehörige zu derartigen Aktivitäten neigen könnten.40 Das Ziel ist, möglichst schon vor dem Täter am Tatort zu sein.41 Damit rückt die Suche nach Verdachtsmomenten und die Aufspürung und 36 Calliess (Fußn. 14), S. 97; allgemein Albrecht, Der Weg in die Sicherheitsgesellschaft, 2010; Volkmann (Fußn. 18), S. 700 f.; Denninger, Vom Rechtsstaat zum Präventionsstaat?, in: Adolf-Arndt-Kreis (Hg.) (Fußn. 22), S. 9 (14 f.) m. w. N., weist darauf hin, dass sich der „Abschied vom klassischen Polizeirecht“ bereits vor mehr als 12 Jahren (also 1991) vollzogen habe. „Sicherheit“ bedeute nunmehr die Zusage einer prinzipiell unbegrenzten, nie endenden staatlichen Aktivität zum Schutze des Bürgers vor sozialen, technik- und umweltbedingten oder auch kriminellen Risiken und Gefahren, s. auch ebd., S. 17 mit Fußn. 22. Noch früher setzt Schulze-Fielitz (Fußn. 22), S. 27, den Megatrend hin zum Präventionsstaat an. Vgl. auch Masing (Fußn. 24), S. 757, der im Wirtschaftsverwaltungsrecht ein zweites Vorbild für die Einführung neuartiger „Sozialpflichten“ sieht. 37 Grimm (Fußn. 9), S. 27; vgl. auch Huster/Rudolph (Fußn. 5), S. 16. 38 Hoffmann-Riem, Freiheit und Sicherheit im Angesicht terroristischer Anschläge (Fußn. 8), S. 37 f., 39; vgl. auch Huster/Rudolph (Fußn. 5), S. 12; anschaulich zu den (unbestimmten) Konturen proaktiven Polizeihandelns auch Denninger (Fußn. 36), S. 16. Eingriffe in bürgerliche Freiheiten werden vor diesem Hintergrund immer häufiger zur bloßen Verdachtsgewinnung vorgenommen, vgl. Hoffmann-Riem, Sicherheit braucht Freiheit (Fußn. 8), S. 58; in diesem Sinne auch Volkmann (Fußn. 18), S. 701; ders. (Fußn. 4), S. 217 f.; SchulzeFielitz (Fußn. 22), S. 28. 39 Nach Grimm (Fußn. 9), S. 27, entwickelt der Präventionsstaat einen „nahezu unbegrenzten Informationshunger“, der freilich nur heimlich gestillt werden könne. 40 Huster/Rudolph (Fußn. 5), S. 9 (18). 41 So Hirsch, Auf dem Weg in den Überwachungsstaat?, in: Huster/Rudolph (Hg.) (Fußn. 5), S. 168.

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Austrocknung von Gefahrenquellen in den Vordergrund.42 Wissen wird vor diesem Hintergrund zur Währung von Sicherheit, der Erwerb von Wissen und die Entwicklung geeigneter Formen des Wissensmanagements werden damit zum Schlüssel der Prävention.43 Hinzu kommt, dass die Gewinnung von Informationen und deren systematische Verarbeitung durch den rasanten technologischen Fortschritt im Bereich des Datenerwerbs und der Datenverarbeitung begünstigt werden.44 Erst die Digitalisierung ermöglicht den staatlichen Sicherheitsbehörden den Aufbau einer „überwachungsgeneigten“ Infrastruktur, die das Aufklärungspotential heimlicher Abhörmaßnahmen sogar dort erheblich ausgeweitet hat, wo die Rechtsgrundlagen grundsätzlich gleich geblieben sind.45 4. Auswirkungen auf die rechtsstaatliche Freiheits- und Sicherheitsarchitektur Dass der Staat neue Möglichkeiten nutzt und auf neue Gefährdungslagen auch mit neuen Instrumenten reagiert, ist sicherlich vielfach sinnvoll und notwendig.46 Dennoch ist der skizzierte Paradigmenwechsel im Sicherheitsrecht rechtsstaatlich nicht ohne Brisanz, denn er verändert den bisherigen Ausgleich von Freiheit und Sicherheit.47 Weil die Zahl potentieller Gefahrenquellen stets ungleich größer ist als die der akuten Gefahren, neigt die Prävention dazu, grundsätzlich jeden Bürger als potentielles Sicherheitsrisiko zu betrachten und zum Objekt staatlicher Überwachung und 42 Grimm (Fußn. 9), S. 27. Zu solchen „Vorfeldaktivitäten“ zählen exemplarisch der sog. große Lauschangriff (dazu BVerfGE 109, 279), der Einsatz von V-Leuten und verdeckten Ermittlern (dazu BVerfGE 57, 250), Videoüberwachung (dazu BVerfGK 10, 330), Rasterfahndung (dazu BVerfGE 115, 320), Online-Durchsuchung (dazu BVerfGE 120, 274) und die Vorratsdatenspeicherung (dazu BVerfGE 125, 260). 43 Zur Macht von Nichtwissen über die gesellschaftlichen Befindlichkeiten und seine Auswirkungen auf sicherheitsrechtliches Handeln Hoffmann-Riem, Sicherheit braucht Freiheit (Fußn. 8), S. 54 f. 44 Vgl. Albrecht (Fußn. 36), in seinem Vorwort: „Der Computer hat das System der Karteikarten ersetzt.“ 45 Hoffmann-Riem, Freiheit und Sicherheit im Angesicht terroristischer Anschläge (Fußn. 8), S. 35; vgl. auch Huster/Rudolph, (Fußn. 5), S. 16. 46 Ähnlich auch Di Fabio (Fußn. 8), S. 422, wonach effektive polizeiliche Maßnahmen nicht per se eine Bedrohung für die Freiheit der Bürger sind, sondern ebenso schlichte Notwendigkeit einer freiheitlichen Gesellschaft sein können; vgl. auch Schulze-Fielitz (Fußn. 22), S. 27 f. (für vernünftige und nicht per se verfassungswidrige einzelne Aktivitäten). A. A. Frankenberg (Fußn. 14), S. 231 ff., insbesondere S. 247 ff., für den mit der Abkehr von den Maximen des klassischen Polizeirechts (insbesondere der Gefahrenschwelle und des Grundsatzes der Störerverantwortlichkeit) zwingend eine sich dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und anderen rechtsstaatlichen Sicherungen entziehende Entgrenzung zum „hyperpräventiven Sonderpolizeirecht“ einhergeht. 47 Hoffmann-Riem, Freiheit und Sicherheit im Angesicht terroristischer Anschläge (Fußn. 8), S. 35; vgl. auch Grimm (Fußn. 9), S. 27: „Der Preis fällt eben bei der Freiheit an.“

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Kontrolle zu machen.48 Jede Freiheitsbetätigung kann potentiell Anknüpfungspunkt einer staatlichen Maßnahme werden.49 Für den Bürger wird es dadurch immer schwieriger, den Staat durch gewissermaßen äußerlich50 rechtstreues Verhalten auf Distanz zu halten. Jeder kann ohne vorangegangenes Tun jederzeit Objekt staatlicher Observation werden, unter Umständen mit höchst nachteiligen Folgen für sein privates Umfeld und seine berufliche Tätigkeit.51 Zu Ende gedacht kann dies im Verhältnis Bürger-Staat in eine generelle Beweislastumkehr münden, in der das Risiko die Normalität bestimmt; die Nichtgefährlichkeit wird zur Ausnahme, die der Bürger beweisen muss.52 5. Der rechtsstaatliche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Instrument zur Justierung von Freiheit und Sicherheit Wie kann es nun dem demokratischen Verfassungsstaat gelingen, Sicherheit auf eine Weise zu erzeugen, ohne dass die Freiheit dabei schleichend erodiert?53 Nicht nur die Tatsache, dass der Begriff des (gesetzlosen) „Ausnahmezustandes“ und seine leichtfertige Annahme in Deutschland historisch belastet sind, spricht aus meiner Sicht dagegen, die neue terroristische Bedrohung als eine ausnahmezustandsähnliche Situation wahrzunehmen.54 Freiheit lässt sich nicht „opfern“, um mehr Si48

Huster/Rudolph (Fußn. 5), S. 17. Dies beschwört geradezu die bedrückende Vision des Spielberg-Films „Minority Report“ herauf, in dem der Staat sogar erkennen kann, wer demnächst ein Verbrechen begehen wird, und ihn schon allein deshalb festnehmen und verurteilen kann; darauf weist Volkmann (Fußn. 18), S. 702 f., hin; Calliess (Fußn. 14), S. 99, greift dies ebenfalls auf. 49 So Volkmann (Fußn. 18), S. 701, unter Hinweis auf Lepsius, VVDStRL 63 (2004), 264 (307 f.): „Als eigentliches Risiko erscheint dann im Kern gerade jene Freiheit, auf die der liberale Rechtsstaat einst bezogen war.“ 50 So auch Volkmann, Der alltägliche Ausnahmezustand oder: Not kennt viele Gebote, Merkur 62 (2008), 369 (375). 51 So schon Grimm (Fußn. 28), S. 197 (198); Schulze-Fielitz (Fußn. 22), S. 28; vgl. auch Grimm (Fußn. 9), S. 28; Hoffmann-Riem, Sicherheit braucht Freiheit (Fußn. 8), S. 58; vgl. auch Calliess (Fußn. 14), S. 98, der in diesem Zusammenhang darauf hinweist, dass in der Tendenz jeder zum potentiellen Störer wird, wenn das Polizeirecht – abgestützt durch die sog. „broken-windows-Theorie“– die Funktion eines „social engineering“ übernimmt. 52 Vgl. – unter Bezugnahme auf Heribert Prantl – Denninger (Fußn. 36), S. 18, 19 f.; im Folgenden auch Calliess (Fußn. 14), S. 98; vgl. auch Volkmann (Fußn. 18), S. 702. Masing (Fußn. 24), S. 757, weist zutreffend darauf hin, dass staatliche Registrierung legalen Verhaltens jenseits des „Mainstreams“ als „bedenkliche Freiheitswahrnehmung“ nicht nur die Autonomie des Einzelnen, sondern auch die Freiheitlichkeit der gesamten politischen Ordnung gefährdet. 53 Nach Denninger (Fußn. 36), S. 14, schließen sich die an Freiheit und Autonomie des Einzelnen orientierte Funktionslogik des liberalen Rechtsstaats und die an Sicherheit und Effizienz orientierte Logik des Sicherheits- und Präventionsstaates einander tendenziell aus. 54 Vor diesem Hintergrund verbietet sich – auf der Grundlage des Grundgesetzes – auch jede Diskussion über ein spezielles Feindstrafrecht, ein Sonderrecht für diejenigen, die sich außerhalb der Rechtsgemeinschaft setzen wollen; so aber Depenheuer, Selbstbehauptung des

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cherheit zu erlangen,55 wie auch umgekehrt Freiheit nicht ohne Sicherheit denkbar ist. Das klassische Instrument der Zuordnung kollidierender Verfassungswerte,56 das sich der Sache nach in allen rechtsstaatlichen Ordnungen findet, ist das Prinzip des schonendsten Ausgleichs bzw. das Prinzip der Verhältnismäßigkeit. Danach sind staatliche Eingriffe in die Freiheit der Bürger nur zulässig, wenn und soweit sie zur Abwehr von Gefahren geeignet, erforderlich und angemessen sind.57 Pauschale Antworten dergestalt, im Zweifel der Sicherheit oder der Freiheit Vorrang einzuräumen, verbieten sich vor diesem Hintergrund.58 Der angemessene Ausgleich zwischen Freiheit und Sicherheit hängt von Einschätzungen der Lage und Beurteilungen der Mittel ebenso ab wie von der Gewichtung der konkurrierenden Rechtsgüter. Die Beantwortung dieser Fragen obliegt in einer Demokratie zunächst einmal der Politik.59 Rechtsstaates, 2007; Jakobs, Bürgerstrafrecht und Feindstrafrecht, in: HRRS, Nr. 3 (2004), 88. In direkter Reaktion auf Depenheuer: Stolleis, Angst essen Seele auf, Merkur 61 (2007), 1145 ff.; als entschiedene Gegner „zivilisatorisch ausgedünnter Sonderrechtszonen“ zeigen sich auch Di Fabio, Sicherheit und Freiheit, NJW 2008, 421 (423); Volkmann (Fußn. 50), S. 377 ff.: „Damit aber zieht von den Rändern wieder etwas Romantisch-Irrationales in das Recht ein […].“; Frankenberg (Fußn. 14), S. 156 ff.; Gusy (Fußn. 4), S. 312 ff., 315 ff.; Di Fabio, Westen muss Westen bleiben, Die Welt vom 12. November 2007, spricht spöttischdistanziert von einer „intellektuellen Lust am antizipierten Ausnahmezustand“, die kein guter Ratgeber ist. Ablehnend zur „Feinderklärung“ im Rahmen des „Kriegs gegen den Terrorismus“ auch Masing (Fußn. 24), S. 754 f. 55 In diesem Sinne auch Stolleis (Fußn. 50), S. 1145; vgl. auch Huster/Rudolph (Fußn. 5), S. 19 f.; Volkmann (Fußn. 50), S. 377 f. 56 Der Vorstellung von Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983, hat das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich eine Absage erteilt, indem es die vom Staat zu gewährleistende Sicherheit seiner Bevölkerung als „Verfassungswert“ und gerade nicht als – im Einzelfall einklagbares und letztlich im Wege der Verfassungsbeschwerde geltend zu machendes – Grundrecht bezeichnet hat, vgl. BVerfGE 46, 24 (56 f.); 49, 24 (56 f.), zuletzt auch BVerfGE 115, 320 (346); 120, 274 (319); kritisch auch Denninger (Fußn. 36), S. 9 (13, 19), für den „Sicherheit“ nicht Grundrecht, sondern Staatsaufgabe ist. 57 Vgl. u. a. Huster/Rudolph (Fußn. 5), S. 18; allgemein Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, Rn. 317 ff.; nach Di Fabio (Fußn. 8), S. 424, zeigt sich bei Anwendung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit die rationalisierende Kraft des Rechtsstaates; aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts beispielsweise BVerfGE 100, 313 (392); 113, 348 (386). 58 Vgl. auch Gusy (Fußn. 4), S. 328, der mit der Rede von einer „Neuen Sicherheitsarchitektur“ eine Gefahr für die Eigenschaft des Rechts als „Ordnung der Differenzierung“ verbunden sieht. 59 So Grimm (Fußn. 9), S. 25 f.; vgl. auch Würtenberger, Das Polizei- und Sicherheitsrecht vor den Herausforderungen des Terrorismus (Fußn. 1), S. 47; Möstl, Das Bundesverfassungsgericht und das Polizeirecht, DVBl. 2010, 808 (811). Der Staat bzw. die Rationalität des politischen Systems ist in diesem Zusammenhang geneigt, auf die Situationen des Nichtwissens mit einer „rastlosen Suche nach der verlorenen Sicherheit mittels Maßnahmen und Strategien zu reagieren, die Kontrolle oder Sicherheit eher vorgaukeln als gewährleisten und das allgemeine Unsicherheits- und Bedrohungsgefühl schüren“, so – unter Verweis auf Ulrich Beck (vgl. Fußn. 30) – Hoffmann-Riem, Sicherheit braucht Freiheit (Fußn. 8), S. 55; allgemein zur Frage der rechtsstaatlichen Schwierigkeiten der Terrorismusbekämpfungsgesetze und mit

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Wollen Regierung und Parlament im Interesse der Sicherheit Freiheiten beschränken, müssen sie auch darlegen, dass der Eingriff in die Freiheit durch einen hinreichenden Gewinn an Sicherheit aufgewogen wird. Dabei kann es nicht um den Gewinn irgendeiner Sicherheit gehen, sondern einer, die Voraussetzungen dafür schafft, dass die Menschen in Freiheit leben können.60 Es ist ferner zu berücksichtigen, dass (zu) diffuse Eingriffsermächtigungen häufig durch eine erhebliche Streubreite und kaum beherrschbare Folgeketten gekennzeichnet sind.61 Eine positive verfassungsrechtliche Beantwortung der Angemessenheitsfrage fällt umso leichter, je bestimmter das Ziel einer Sicherheitsmaßnahme formuliert ist und je präziser und transparenter die Politik die Gewichte der betroffenen verfassungsrechtlichen Rechtsgüter ermittelt, die in die beiden Waagschalen für die Abwägung fallen.62 Sollten die materiellen Maßstäbe nicht ausreichend präzisierbar sein, bieten in der Regel organisatorische und verfahrensrechtliche Maßnahmen hinreichende Kompensationsmöglichkeiten.63 Aber wie sehen diese genau aus? IV. Die Neuausrichtung des Sicherheitsrechts vor dem Bundesverfassungsgericht Keine abschließende Beantwortung dieser Frage, aber vielleicht einen gewissen Aufschluss über die damit berührte Problemdimension könnten drei exemplarische Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts aus den Jahren 2006, 2008 und 2010 geben, die hier deshalb einer näheren Analyse unterzogen werden sollen. Gegenstand waren Sicherheitsgesetze, die teilweise in Reaktion auf die Ereignisse des 11. September 2001 ergingen und untereinander inhaltliche Parallelen aufwiesen: Die angegriffenen Gesetze ermächtigten jeweils zu behördlichen Ermittlungspraktiken mit Mitteln der modernen Datenverarbeitung, die im Vorfeld oder gar im Vor-Vorfeld einer Gefahr ansetzten und für die Betroffenen nicht wahrnehmbar waren. Allen drei Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts ist gemeinsam, dass sie die Ermittlungsmethoden im Bereich der Gefahrenprävention nicht generell zu einem Tabu erklärten. Das Bundesverfassungsgericht reagierte vielmehr mit einer Fortschreibung und Präzisierung der grundrechtlichen Schutzbereiche und mit einer Entfaltung materieller sowie verfahrenssichernder – letztlich aus dem Prinzip Verständnis für das politische System Denninger (Fußn. 36), S. 21: „Die Schwierigkeiten haben ihren Grund in der Inkompatibilität der beiden Funktionslogiken. Die Imperative der Prävention sprengen die Umzäunungen rechtsstaatlicher Begriffe.“ 60 So Hoffmann-Riem, Sicherheit braucht Freiheit (Fußn. 8), S. 62. 61 Hoffmann-Riem, Sicherheit braucht Freiheit (Fußn. 8), S. 58; zur Präzisierung von Eingriffsvoraussetzungen auch Schulze-Fielitz (Fußn. 22), S. 35. 62 Vgl. Grimm (Fußn. 9), S. 29 f.; nach Hoffmann-Riem, Sicherheit braucht Freiheit (Fußn. 8), S. 61, muss das Gesetz die rechtsstaatlichen Grenzen von Eingriffen hinreichend bestimmt markieren und darf den Bereich freier persönlicher Entfaltung nicht durch diffuse Ermächtigungen erodieren. 63 Vgl. auch Schulze-Fielitz (Fußn. 22), S. 35 ff.

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der Verhältnismäßigkeit entwickelter – Vorgaben an den Gesetzgeber zur Effektivierung des Schutzes der Freiheitsrechte der Bürger auch und gerade im Angesicht neuer Bedrohungen. 1. Inkurs: Absolute Grenzen Zuvor soll der Blick aber noch auf eine andere Entscheidung geworfen werden, die zeigt, dass auch im Präventionsstaat die klassische Gefahrenabwehr durchaus noch eine Rolle spielt: die Entscheidung zum Luftsicherheitsgesetz, das eine Ermächtigung der Streitkräfte vorsah, Luftfahrzeuge, die als Tatwaffe gegen das Leben von Menschen eingesetzt werden sollen, durch unmittelbare Einwirkung mit Waffengewalt abzuschießen.64 Von den aufgeworfenen rechtlichen Problemen sind in diesem Zusammenhang weniger die kompetenzrechtlichen Fragen als die Auslegung von Art. 2 Abs. 2 S. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG relevant. Mit der Menschenwürde unvereinbar sei – so das Bundesverfassungsgericht – jede Behandlung des Menschen durch die öffentliche Gewalt, die dessen Subjektqualität grundsätzlich in Frage stelle, indem sie die Achtung des Wertes vermissen lasse, die jedem Menschen um seiner selbst willen zukomme. Nach Ansicht des Gerichts würde der Staat durch ein solches Handeln die Passagiere und die Besatzung des Flugzeugs „als bloße Objekte seiner Rettungsaktion zum Schutze anderer“ behandeln. Indem ihre Tötung als Mittel zur Rettung anderer benutzt werde, würden Passagiere und Besatzung „verdinglicht und entrechtet“. Über ihr Leben werde von Staats wegen einseitig verfügt, so dass ihnen der Wert abgesprochen werde, der dem Menschen um seiner selbst willen zukomme.65 Ferner sei zu beachten, dass nach Einschätzung des Gerichts ein solcher Abschussbefehl durch die tatsächlichen Umstände im Regelfall auf bloßer Verdachtsbasis getroffen werden müsse. Durch komplizierte Kommunikationswege, extremen Zeitdruck und die Möglichkeit, dass sich die Lage an Bord innerhalb von Minuten, ja Sekunden ändern könne, gäbe es Unwägbarkeiten hinsichtlich der Tatsachenbasis. Daraus folge die im Gefahrenabwehrrecht nie ganz auszuschaltende Gefahr vorschneller Entscheidungen. In Anbetracht solcher Unwägbarkeiten sei es „schlechter64

BVerfGE 115, 118; vgl. dazu Starck, JZ 2006, 417 ff.; Winkler, Verfassungsmäßigkeit des Luftsicherheitsgesetzes, NVwZ 2006, 536 ff.; Hecker, Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Luftsicherheitsgesetz, KJ 2006, 179 ff. 65 BVerfGE 115, 118 (154); zustimmend Lepsius, Das Luftsicherheitsgesetz und das Grundgesetz, in: FS Hirsch, 2006, S. 47 (58 ff.); W.-R. Schenke, Die Verfassungswidrigkeit des § 14 III LuftSiG, NJW 2006, 736 (738); Albrecht, KritV 2006, 295 (296 ff.); v. Bernstorff, Pflichtenkollision und Menschenwürdegarantie, Der Staat 47 (2008), 21 (34 ff.). A. A. Zippelius/Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 32. Aufl. 2008, § 21 Rn. 59; Würtenberger, Sicherheitsarchitektur im Wandel (Fußn. 1), S. 81 f.; Franz, Der Bundeswehreinsatz im Innern und die Tötung Unschuldiger im Kreuzfeuer von Menschenwürde und Recht auf Leben, Der Staat 45 (2006), 501 (510 ff., insbes. 513 ff.); Hillgruber, Der Staat des Grundgesetzes – nur bedingt abwehrbereit?, JZ 2007, 209 (216 ff.), die auf die Pflicht des Staates, die Würde der Anschlagsopfer zu schützen, rekurrieren und eine Abwägung zwischen Abwehr- und Schutzpflichtendimension der Menschenwürdegarantie für möglich und geboten halten.

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dings unvorstellbar“, so das Gericht, unter der Geltung des Art. 1 Abs. 1 GG unschuldige Menschen, die sich im Flugzeug in einer für sie hoffnungslosen Lage befinden, auf der Grundlage einer gesetzlichen Ermächtigung vorsätzlich zu töten.66 Der Zweck „Sicherheit“ heiligt eben nicht alle Mittel; es existieren auch bei großen konkreten Bedrohungen letzte feste Grenzen.67 2. Präventive polizeiliche Rasterfahndung Im April 2006 hatte sich das Bundesverfassungsgericht mit der „präventiven polizeilichen Rasterfahndung“ zu befassen.68 Bei der Rasterfahndung lassen sich die Sicherheitsbehörden von anderen öffentlichen oder privaten Stellen personenbezogene Daten übermitteln, um einen automatisierten Abgleich, die sogenannte Rasterung, mit anderen Daten vorzunehmen. Die Rasterfahndung ist keine Entwicklung der Zeit nach dem 11. September 2001; erfolgreich angewandt wurde sie vielmehr bereits bei der Bekämpfung des RAF-Terrorismus. In der Zeit vor dem 11. September 2001 kam sie – jedenfalls was die Bundesebene betrifft – allerdings viele Jahre nicht mehr zur Anwendung und erlebte erst dann ihre Renaissance, als nach den Anschlägen vom 11. September bekannt wurde, dass die Attentäter zuvor in Deutschland gelebt hatten; bundesweit ging man sodann mit Hilfe der Rasterfahndung auf die Suche nach weiteren „Schläfern“. Das Bundesverfassungsgericht hielt die aus dem Jahr 1990 stammenden nordrhein-westfälischen Regelungen zur Rasterfahndung zwar im Grundsatz für verfassungsgemäß, beanstandete aber im Einzelnen die durch die Fachgerichte bestätigte extensive Auslegung und Anwendung der Vorschriften. Zwei Aspekte der Entscheidung sind dabei besonders hervorzuheben: In einem ersten Schritt befasste sich das Bundesverfassungsgericht sehr ausführlich mit der Frage, wie intensiv die Rasterfahndung das betroffene Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung tangiert. Nachdem eine gewichtige und damit in besonderer Weise rechtfertigungsbedürftige Eingriffswirkung festgestellt worden war, legte 66 BVerfGE 115, 118 (154 ff.), zustimmend Hecker (Fußn. 64), S. 189, für den die „Zuspitzung und Verallgemeinerung von extremen Entscheidungssituationen bei gleichzeitig starker Vereinfachung der Komplexität realer Entscheidungssituationen“ ein „wesentliches Merkmal der neuen Präventionslogik“ darstellt. A. A. M. Baldus, Gefahrenabwehr in Ausnahmelagen, NVwZ 2006, 532 (534 f.); Franz (Fußn. 65), S. 514 f. Kritisch zur angedeuteten strafrechtlichen Rechtfertigung im Wege des übergesetzlichen Notstandes (BVerfGE 115, 118 [157]) Würtenberger, Das Polizei- und Sicherheitsrecht vor den Herausforderungen des Terrorismus (Fußn. 1), S. 43 f. 67 Zustimmend M. Möstl (Fußn. 59), S. 808. Vgl. ferner Masing (Fußn. 24), S. 755 mit Blick auf die Folter. 68 BVerfGE 115, 320; vgl. dazu Kirchberg, Zur Zukunft der Rasterfahndung, CR 2007, 10 ff.; Schewe, Das Ende der präventiven Rasterfahndung zur Terrorismusbekämpfung?, NVwZ 2007, 174 ff.

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das Gericht in einem zweiten Schritt fest, in welchen Fällen eine Rasterfahndung verfassungsrechtlich erlaubt sei. Die erhebliche Eingriffswirkung sah das Bundesverfassungsgericht durch folgende Gesichtspunkte begründet, die hier nur stichwortartig wiedergegeben werden können: Erstens werde die Eingriffswirkung verstärkt durch die große „Streubreite“ der potentiell auf die Daten jedes Bürgers gerichteten Maßnahme. Zweitens würden bei der Erlangung der Informationen regelmäßig Vertraulichkeitserwartungen verletzt. Drittens erlaube die Verknüpfung der unterschiedlichen Informationen „persönlichkeitsbezogene“ Einblicke, wenn Daten zu einem Persönlichkeitsbild zusammengefügt werden könnten. Für das erhebliche Eingriffsgewicht der Rasterfahndung spreche zudem – viertens – der Umstand, dass die Übermittlung und Verwendung der Daten für den Betroffenen das Risiko begründe, Gegenstand weiterer staatlicher Ermittlungsmaßnahmen zu werden. Das Bekanntwerden der Ermittlungsmaßnahmen könne – fünftens – für den Betroffenen eine stigmatisierende Wirkung haben, die mittelbar das Risiko erhöhe, im Alltag oder im Berufsleben diskriminiert zu werden. Schließlich seien die Ermittlungsmaßnahmen – sechstens – heimlich und wendeten sich – siebtens – gegen Nichtstörer.69 Aus diesen sieben Punkten folgte eine besondere Rechtfertigungsbedürftigkeit einer solchen Freiheitseinschränkung. Durch die Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes schob das Bundesverfassungsgericht der von den Fachgerichten im Ausgangsverfahren zugelassenen Ausweitung der Rasterfahndung in den Bereich des Vorfeldes einer Gefahr einen Riegel vor. Zwar könne eine Rasterfahndung zum Schutz hochrangiger Verfassungsgüter grundsätzlich auch verhältnismäßig im engeren Sinne sein. Dies setze allerdings voraus, dass zumindest der Nachweis einer hinreichend konkreten Gefahr für die genannten Rechtsgüter erbracht werde. Die Verfassung verlange, dass der Gesetzgeber eine „angemessene Balance zwischen Freiheit und Sicherheit“ herstelle.70 Auch wenn die danach verfassungsrechtlich geforderte konkrete Gefahr eine Dauergefahr sein könne, so genüge zur Annahme einer solchen Gefahr jedenfalls nicht die seit dem 11. September 2001 bestehende allgemeine Bedrohungslage. Notwendig seien vielmehr konkrete tatsächliche Anhaltspunkte zum Beispiel für die Vorbereitung terroristischer Anschläge.71

69 BVerfGE 115, 320 (347 ff.). A. A. die Richterin Haas, BVerfGE 115, 320 (371 ff.); ihr zustimmend Hillgruber (Fußn. 65), S. 212 f.; ferner Würtenberger, Das Polizei- und Sicherheitsrecht vor den Herausforderungen des Terrorismus (Fußn. 1), S. 45 f. 70 BVerfGE 115, 320 (358). 71 BVerfGE 115, 320 (357 ff.). Das Gericht hat die Nutzung des Mittels „Rasterfahndung“ damit erheblich beschränkt: „Vorfeldaufklärung, Verdachtsgewinnung und […] Verunsicherung möglicher Täter“ kann sie nicht mehr leisten, vgl. Volkmann (Fußn. 4), S. 220.

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3. Online-Durchsuchungen Diese Rechtsprechungslinie führte das Bundesverfassungsgericht zwei Jahre später im Februar 2008 in einer Entscheidung zu einem Thema fort, das zur Zeit unter dem Stichwort „Staatstrojaner“ wieder große mediale Aufmerksamkeit erlebt: Es handelte sich um die – insbesondere mit dem Ziel einer effektiven Terrorismusbekämpfung erfolgte – Ermächtigung einer Verfassungsschutzbehörde zu OnlineDurchsuchungen.72 Die Online-Durchsuchung lässt sich als heimliche Infiltration eines Rechners beschreiben. Sie kann etwa mittels eines „Trojaners“ erfolgen, also eines sich tarnenden Programms, das gezielt auf einen Rechner eingeschleust wird und je nach eingesetzter Software die für den Betroffenen unsichtbare, vollständige Überwachung und Fernsteuerung des infiltrierten Computers ermöglicht.73 Die angegriffenen Regelungen ermächtigten unter anderem schon dann zu einer Online-Durchsuchung, wenn auf diese Weise Erkenntnisse über verfassungsschutzrelevante Bestrebungen oder Tätigkeiten oder die zur Erlangung solcher Erkenntnisse erforderlichen Quellen gewonnen werden konnten. Das Bundesverfassungsgericht sah in den angegriffenen Regelungen zur OnlineDurchsuchung eine potentiell erhebliche Gefahr für die Freiheitsbetätigung der Bürger. Angesichts der Bedeutung der Nutzung von Computern für die Persönlichkeitsentfaltung erkannte das Gericht ein besonderes Schutzbedürfnis der Computer-Nutzer an. Weil der bisherige Bestand an grundrechtlichen Freiheitsgewährleistungen aus Sicht des Gerichts der Gefährdungslage im Fall der Online-Durchsuchung nicht gerecht wurde, leitete es aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht ein in der Kommentarliteratur sogenanntes „Computer-Grundrecht“ ab: Das Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme.74 72 BVerfGE 120, 274; vgl. dazu Kutscha, Mehr Schutz von Computerdaten durch ein neues Grundrecht?, NJW 2008, 1042 ff.; Petri, Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Online-Durchsuchung, DuD 2008, 443 ff.; Roßnagel/Schnabel, Das Grundrecht auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme und sein Einfluss auf das Privatrecht, NJW 2008, 3534 ff.; Erd, Bundesverfassungsgericht versus Politik, KJ 2008, 118 ff.; Heckmann, Staatliche Schutz- und Förderpflichten zur Gewährleistung von ITSicherheit – Erste Folgerungen aus dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur „OnlineDurchsuchung“, in: FS Käfer, 2009, S. 129 ff.; Luch, Das neue „IT-Grundrecht“, MMR 2011, 75 ff. 73 Vgl. vertiefend Hansen/Pfitzmann, Techniken der Online-Durchsuchung: Gebrauch, Missbrauch, Empfehlungen, in: Roggan (Hg.), Online-Durchsuchungen, 2008, S. 131 ff.; Gudermann, Online-Durchsuchung im Lichte des Verfassungsrechts, 2010, S. 19 ff. 74 BVerfGE 120, 274 (302 ff.). Insbesondere die Anerkennung dieser neuen Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts stieß auf ein geteiltes Echo. Kritisch: Britz, Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme, DÖV 2008, 411 (413); Eifert, Informationelle Selbstbestimmung im Internet – Das BVerfG und die Online-Durchsuchungen, NVwZ 2008, 521 (522); Volkmann, Anmerkung zum Urteil des BVerfG – Online-Durchsuchung, DVBl. 2008, 590 (592); Lepsius, Das Computer-Grundrecht: Herleitung – Funktion – Überzeugungskraft, in: Roggan (Fußn. 73), S. 21 (28 ff.); Gudermann (Fußn. 73), S. 169 ff.

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Im Kern seiner Entscheidung stellte das Bundesverfassungsgericht die Freiheitsgefährdungen dar, die einer Online-Durchsuchung eigen sind, und wog diese im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung mit den Sicherheitsinteressen der Allgemeinheit ab. Wiederum begründete das Gericht ausführlich, warum es in der OnlineDurchsuchung einen Grundrechtseingriff von hoher Intensität erkannte:75 Erstens eröffne die Durchsuchung die Möglichkeit einer Ausforschung der Persönlichkeit des Betroffenen, wenn der Computer nach den gegenwärtigen Nutzungsgepflogenheiten typischerweise zum Speichern auch persönlicher Daten von gesteigerter Sensibilität genutzt werde. Zweitens weise ein solcher Eingriff eine besondere „Streubreite“ auf, weil auch die Kommunikation des Ausgeforschten mit unbeteiligten Dritten erfasst werde. Unbeobachtete Fernkommunikation liege im Allgemeinwohl und diese Kommunikation sei gefährdet, wenn die Furcht vor Überwachung eine unbefangene Kommunikation der Bürger verhindere. Drittens ermögliche eine heimliche technische Infiltration eine längerfristige Überwachung, bei der etwa auch flüchtige oder nur temporär gespeicherte Daten sowie die gesamte Internetkommunikation gespeichert werden könnten. Viertens erhöhe die Heimlichkeit der Maßnahme die Eingriffsintensität und es bestünden – fünftens – infolge des Zugriffs Gefahren für die Integrität des Zugriffsrechners. Noch deutlicher als in der Entscheidung zur Rasterfahndung knüpfte das Bundesverfassungsgericht angesichts dieser hohen Eingriffsintensität die Verhältnismäßigkeit einer Online-Durchsuchung an eine Reihe von Bedingungen. Der Grundrechtseingriff, der in dem heimlichen Zugriff auf ein informationstechnisches System liege, sei im Rahmen einer präventiven Zielsetzung nur dann angemessen, wenn eine konkrete Gefahr für ein überragend wichtiges Rechtsgut bestehe.76 Relativ diffuse Anhaltspunkte für mögliche Gefahren genügten dafür nicht. Zudem müsse das Gesetz, das zu einem derartigen Eingriff ermächtige, den Grundrechtsschutz für den Betroffenen durch geeignete Verfahrensvorkehrungen sichern: Anlass, Zweck und Grenzen der Online-Durchsuchung müssten gesetzlich klar geregelt sein,77 die Durchsuchung müsse in jedem Einzelfall durch einen Richter angeordnet werden78 und es bedürfe gesetzlicher Vorkehrungen, um Eingriffe in den unantastbaren Kernbereich privater Lebensgestaltung zu vermeiden.79

Zustimmend dagegen Th. Böckenförde, Auf dem Weg zur elektronischen Privatsphäre, JZ 2008, 925 (927 f.). 75 BVerfGE 120, 274 (322 ff.). 76 BVerfGE 120, 274 (327 ff.). Kritisch zu den im Urteil genannten Voraussetzungen für die Annahme einer solchen Gefahrenlage Darnstädt, Karlsruher Gefahr, DVBl. 2011, 263 ff. 77 BVerfGE 120, 274 (315 ff.). 78 BVerfGE 120, 274 (331 ff.). 79 BVerfGE 120, 274 (335 ff.). Hierzu vertiefend Warntjen, Der Kernbereichsschutz nach dem Online-Durchsuchungsurteil, in: Roggan (Fußn. 73), 57 ff.

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4. Vorratsdatenspeicherung Eine weitere Leitentscheidung in diesem Themenkomplex bildet das Urteil zur Vorratsdatenspeicherung vom März 2010. Darin befasste sich das Bundesverfassungsgericht mit der Verfassungsmäßigkeit der anlasslosen Speicherung von Telekommunikationsverkehrsdaten.80 Die der Entscheidung zugrunde liegenden Verfassungsbeschwerden richteten sich insbesondere gegen Vorschriften des Telekommunikationsgesetzes, die auf die sechsmonatige Speicherung der Telekommunikationsverkehrsdaten aller öffentlich zugänglichen Telekommunikationsdienste abzielten. Diese Daten geben Auskunft über die an der Telekommunikation beteiligten Anschlüsse sowie über Zeit und Ort der Telekommunikation. Das Bundesverfassungsgericht bejahte eine Verletzung der in Art. 10 Abs. 1 GG verankerten Telekommunikationsfreiheit und erklärte die entsprechenden Rechtsvorschriften für nichtig. Wie bereits in den beiden schon vorgestellten Entscheidungen beruht das Urteil auf zwei Säulen: Zunächst betonte das Gericht die besondere Eingriffsintensität der Grundrechtsbeeinträchtigung, um sodann aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz einen ganzen „Strauß“ von Anforderungen abzuleiten, denen eine – grundsätzlich für möglich erachtete – Vorratsdatenspeicherung entsprechen müsse. Die Senatsmehrheit begründete die besondere Eingriffsintensität mit ähnlichen Argumenten wie in den Entscheidungen zur Rasterfahndung und zur Online-Durchsuchung: Maßgeblich seien insoweit, erstens die „Streubreite“ der Maßnahme, wenn über ein halbes Jahr praktisch sämtliche Telekommunikationsverkehrsdaten aller Bürger ohne Anknüpfung an ein zurechenbar vorwerfbares Verhalten erfasst würden. Zweitens beziehe sich diese jedermann betreffende Speicherung auf ein im täglichen Miteinander elementares und für die Teilnahme am sozialen Leben in der modernen Welt unverzichtbares „Alltagshandeln“. Drittens bestehe für den Bürger gegenüber dieser flächendeckenden Erfassung keine „reguläre Ausweichmöglichkeit“. Viertens ließen sich mit dem Wissen um Teilnehmer, Zeitpunkt und Ort der Kommunikation tiefe Einblicke in das soziale Umfeld und die individuellen Aktivitäten eines jeden Bürgers gewinnen. Dies lasse Rückschlüsse zu, die bis in die Intimsphäre hineinreichen könnten. Fünftens sei die Datenspeicherung geeignet, beim Bürger ein „diffus bedrohliches Gefühl des Beobachtetseins“ und ständigen Überwachtseins hervorzurufen, das eine unbefangene Wahrnehmung der Grundrechte in vielen Bereichen beeinträchtigen könne. Da die Erhebung und der Rückgriff auf die Daten für den Bürger nicht spürbar oder ersichtlich seien, wisse der Einzelne nur, dass die Behörden vieles,

80 BVerfGE 125, 260; vgl. dazu Hornung/Schnabel, Verfassungsrechtlich nicht schlechthin verboten – Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts in Sachen Vorratsdatenspeicherung –, DVBl. 2010, 824 ff.; Ohler, Grundrechtliche Grenzen der anlasslosen Speicherung von Telekommunikationsverkehrsdaten, JZ 2010, 626 ff.; Albers/Reinhardt, Vorratsdatenspeicherung im Mehrebenensystem, ZJS 2010, 767 ff., sowie umfassend Szuba, Vorratsdatenspeicherung, 2011.

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auch Höchstpersönliches über ihn wissen könnten, nicht aber, was welche staatliche Behörde über ihn tatsächlich wisse.81 Trotz dieser Eingriffsschwere hielt das Gericht eine anlasslose Vorratsdatenspeicherung ausnahmsweise für verfassungsrechtlich zulässig.82 Dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz entnahm es allerdings wiederum spezifische Bedingungen, denen eine verfassungsgemäße Vorratsdatenspeicherung genügen müsse: Wie schon im Fall der Online-Durchsuchung sei Voraussetzung für die Verwendung der Daten eine auf tatsächlichen Anhaltspunkten beruhende konkrete Gefahr für überragend wichtige Rechtsgüter.83 Zudem seien Verfahrensregelungen erforderlich, die Aufbewahrung, Übermittlung und Verwendung der Daten, wirksame Sanktionen bei Rechtsverletzungen und die Gewährung effektiven Rechtsschutzes betreffen.84 V. Folgerungen und Ausblick Aus den vorgestellten Entscheidungen wird deutlich: Sowohl hinsichtlich der absoluten Grenzen als auch bezüglich der Ausweitung der Gefahrenvorsorge hat sich das deutsche Verfassungsrecht nicht grundlegend verändert. Das Bundesverfassungsgericht hält weiter fest am Bekenntnis des Grundgesetzes zum Wert und zur Würde jedes einzelnen Menschen, die es verbietet, den Menschen generell zum bloßen Objekt staatlichen Handelns zu machen. Bei der Ausweitung des staatlichen Ermittlungshandelns ins Gefahrenvorfeld ist das Bundesverfassungsgericht nicht der Versuchung erlegen, den Sicherheitsbehörden angesichts des vielfach beschworenen, aus der terroristischen Bedrohung hergeleiteten Ausnahmezustands85 freie Hand zu lassen: Eine ständige, gleichsam routinemäßige Überwachung weiter Bevölkerungskreise durch einen Präventionsstaat 81 BVerfGE 125, 260 (318 ff.). A. A. die Richter Schluckebier und Eichberger, BVerfGE 125, 260 (365 ff. bzw. 380 f.). Kritisch zur Gleichstellung von Online-Durchsuchung einerseits und Rasterfahndung sowie Vorratsdatenspeicherung andererseits Möstl (Fußn. 59), S. 809. 82 BVerfGE 125, 260 (321 ff.). Damit präzisierte das BVerfG zugleich frühere Ausführungen in BVerfGE 65, 1 (46); 100, 313 (360). 83 BVerfGE 125, 260 (327 ff.); kritisch Möstl (Fußn. 59), S. 809 ff., der eine differenziertere Bestimmung der Eingriffsschwelle(n) anmahnt. 84 BVerfGE 125, 260 (325 ff.); zustimmend Möstl (Fußn. 59), S. 814: „Auf hinreichende Transparenz verdeckter Ermittlungsmaßnahmen und hinreichenden Rechtsschutz gegen sie gedrungen zu haben, ist eine der unbestreitbaren Errungenschaften […]“. Ablehnend zur verfassungsrechtlichen Ableitung des Richtervorbehalts Wolff, Vorratsdatenspeicherung – Der Gesetzgeber gefangen zwischen Europarecht und Verfassung?, NVwZ 2010, 751 (752). Zweifel an der mit ihm erhofften disziplinierenden Wirkung meldet Volkmann (Fußn. 4), S. 221, an. 85 Vgl. die Nw. in Fußn. 54 sowie Gusy (Fußn. 4), S. 318: „Die Unanwendbarkeit des Konfliktrechts auf terroristische Angriffe führt zur Anwendbarkeit des innerstaatlichen Rechts für den Normalzustand, also für die Bundesrepublik zur Anwendbarkeit des Grundgesetzes und der auf seiner Grundlage erlassenen Gesetze.“

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Andreas Voßkuhle

ist mit der rechtsstaatlichen Konzeption des Grundgesetzes nicht vereinbar. Es ist Teil der „verfassungsrechtlichen Identität der Bundesrepublik Deutschland“, dass die Freiheitswahrnehmung der Bürger nicht total erfasst und registriert werden darf.86 Zwar anerkannte das Bundesverfassungsgericht im Prinzip die Legitimität des Handelns der Sicherheitsbehörden. Es schränkte die Möglichkeiten zur Gefahrenvorsorge aber in erheblicher Weise zum Schutz der Freiheitsrechte der Bürger ein, indem es die Kriterien zur Bemessung der Intensität von Grundrechtseingriffen in den Schutzbereich verschiedener Grundrechte (wie des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, des neu geschaffenen Computergrundrechts oder der Telekommunikationsfreiheit) präzisierte. Obwohl unterschiedliche Grundrechtsgewährleistungen betroffen waren, hat das Gericht dabei einige immer wiederkehrende Maßstäbe entwickelt: Für den Grad des Grundrechtseingriffs ist danach die „Streubreite“ der Maßnahme von Bedeutung, ebenso wie die Tatsache, ob die Maßnahme ohne Anlass erfolgt. Auch die „Heimlichkeit“ erhöht die Eingriffsintensität, ebenso die Möglichkeit von Rückschlüssen auf die Lebensgestaltung des Betroffenen. Dabei betont das Gericht: Nicht erst die jeweils konkret erfahrene Beschränkung, sondern schon ein allgemeiner Verlust an „Freiheitsgefühl“ durch ein Gefühl des Überwachtseins beeinträchtigt sowohl die individuellen Entfaltungschancen des Einzelnen als auch das Gemeinwohl, „weil die Selbstbestimmung eine elementare Funktionsbedingung eines auf Handlungs- und Mitwirkungsfähigkeit seiner Bürger gegründeten freiheitlichen demokratischen Gemeinwesens ist“. Auf der Rechtfertigungsseite bediente sich das Gericht unter grundsätzlicher Anerkennung des „Verfassungswertes Sicherheit“ des klassischen Instruments der Zuordnung kollidierender Verfassungswerte: Des Prinzips der Verhältnismäßigkeit, aus dem es einen umfangreichen Katalog rechtsstaatlicher Sicherungen ableitete87 und das sich als hinreichend leistungsfähig erwies, um auf die jeweiligen Szenarien mit materiellen oder prozeduralen Sicherungen zu reagieren. Abschließend möchte ich daher festhalten: Die Geschehnisse des 11. September 2001 haben das deutsche Verfassungsrecht nicht grundlegend verändert. Sie haben aber einmal mehr das Bewusstsein dafür geschärft, dass die angemessene Zuordnung von Freiheit und Sicherheit ein schwieriges Unterfangen bleibt. Angeblich einfache Lösungen verdienen deshalb unser Misstrauen, auch wenn gerade in einer komplexen Welt das Bedürfnis nach Orientierung und klaren Strategien steigt. Ein Bonmot nach Albert Einstein weist hier weiter den richtigen Weg: Alles sollte so einfach wie möglich sein, aber nicht einfacher!

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BVerfGE 125, 260 (324). Vgl. Masing (Fußn. 24), S. 757: „Vorsorge muss punktuell, begrenzt, transparent und gerichtlich kontrollierbar bleiben.“ 87

VIII. Verwaltungsrecht, Planungsrecht, Hochschulrecht

Die Geltungsdauer von Planfeststellungsbeschlüssen und Plangenehmigungen Von Dirk Ehlers, Münster Zu den vielen Rechtsgebieten, mit denen sich Thomas Würtenberger befasst hat, gehört auch das Planungsrecht. So hat er insbesondere seine 1979 veröffentlichte Habilitationsschrift „Staatsrechtliche Probleme politischer Planung“ diesem Thema gewidmet.1 Das kommt nicht von ungefähr, galt doch die Planung ab Mitte der sechziger Jahre bis etwa gegen Ende der siebziger Jahre als das entscheidende Instrument zur Gestaltung des modernen Gemeinwesens.2 Propagiert wurde eine umfassende staatliche Aufgaben- und Ressourcenplanung im Sinne einer Staats- und Gesellschaftsplanung.3 Aufgabe des Planungsrechts sollte es sein, diesen Prozess einzuhegen, das heißt, ihm Richtung und Maß zu geben. Mittlerweile ist die Planungseuphorie längst einer Planungsernüchterung gewichen4, gelegentlich kann sogar der Eindruck einer Planungsverdrossenheit aufkommen. Dies spiegelt sich auch im Schrifttum wider. Habilitationsschriften zum Planungsrecht finden sich kaum noch.5 Stattdessen bleibt das Planungsrecht den Praktikern, den Gerichten, der Kommentarliteratur sowie einem überschaubaren Kreis von Spezialisten vorbehalten, die sich hierzu in Form von Abhandlungen äußern. Doch kann keine Rede davon sein, dass die Pla1 Vgl. auch die Habilitationsschriften von Blümel, Die Planfeststellung – Zweiter Teil: Die Planfeststellung im geltenden Recht – Habilitationsschrift von 1967, 1994; Brünner, Politische Planung im parlamentarischen Regierungssystem, 1978; Graf Vitzthum, Parlament und Planung, 1978; Wahl, Rechtsfragen der Landesplanung und Landesentwicklung, Bde. I und II, 1978; ferner die Untersuchung von M. Schröder, Planung auf staatlicher Ebene, 1974. 2 Vgl. den oft zitierten Ausspruch von J. H. Kaiser, wonach Planung „der große Zug unserer Zeit“ ist (in: ders. [Hg.], Planung, Bd. I, 1965, Vorwort, S. 7). Ferner die weiteren von Kaiser herausgegebenen Bände Planung, Bd. II-VI, 1966 – 1972. 3 Vgl. die Nachw. bei Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 1980, S. 700; Hoppe, in: Isensee/Kirchhof (Hg.), HdbSt, Bd. III, 1988, § 71 Rn. 2. Vgl. auch Naschold/Väth (Hg.), Politische Planungssysteme, 1973; Mayntz/Scharpf (Hg.), Planungsorganisation, 1973; Ossenbühl, Welche normativen Anforderungen stellt der Verfassungsgrundsatz des demokratischen Rechtsstaates an die planende staatliche Tätigkeit, dargestellt am Beispiel der Entwicklungsplanung?, Gutachten B zum 50. Deutschen Juristentag, 1974. 4 Hoppe (Fußn. 3), § 71 Rn. 2. Zum Stand des Planungsrechts vgl. auch dens., Grundfragen des Planungsrechts, 1998; Erbguth/Oebbecke/Rengeling/Schulte (Hg.), Planung, FS Hoppe, 2000. 5 Vgl. aber auch Durner, Konflikte räumlicher Planungen, 2005; Martínez Soria, Das Recht der Europäischen Raumordnung, 2012.

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nung und damit das Planungsrecht ihre Bedeutung verloren haben. Jedes zweckrationale, eine Abwägung unterschiedlicher Belange erfordernde Handeln beruht jedenfalls dann, wenn es um die Bewältigung vielschichtiger Problemstellungen geht, auf einer Planung: das heißt, dem vorausschauenden Setzen von Zielen und gedanklichen Vorwegnehmen der zu ihrer Verwirklichung erforderlichen Verhaltensweisen.6 Dies gilt auch und gerade für das Handeln des Staates. Eine besondere Form für den Erlass staatlicher Pläne gibt es nicht. Pläne können in Form von Parlamentsgesetzen, Verordnungen, Satzungen, Verwaltungsakten, Verwaltungsvorschriften oder auch nur verwaltungsinternen einzelbezogenen Regelungen für verbindlich erklärt werden.7 Über Fachpläne wird in der Regel durch Planfeststellungsbeschlüsse (§ 74 Abs. 1 VwVfG) oder (in einfacher gelagerten Fällen) durch Plangenehmigungen (§ 74 Abs. 6 VwVfG) entschieden, das heißt in Gestalt von Verwaltungsakten. Gegenstand der folgenden Ausführungen soll ein in Rechtsprechung und Literatur eher am Rande behandeltes Thema sein: nämlich die Geltungsdauer von Planfeststellungsbeschlüssen und Plangenehmigungen.8 Eingegangen wird auf die Geltungsdauer von Planfeststellungsbeschlüssen nach § 75 Abs. 4 VwVfG in Verbindung mit § 74 Abs. 6 S. 2 VwVfG (I.), dem Gesetz zur Beschleunigung von Planungsverfahren für Infrastrukturvorhaben (II.) sowie dem Energiewirtschaftsgesetz (III.). Ferner soll das Augenmerk auf die Geltungsdauer von Planfeststellungsbeschlüssen und Plangenehmigungen im Falle von Abschnittsbildungen (IV.) sowie die Möglichkeiten einer Verlängerung der Geltungsdauer von Planfeststellungen und Plangenehmigungen (V.) gelenkt werden. I. Geltungsdauer von Planfeststellungsbeschlüssen und Plangenehmigungen nach § 75 Abs. 4 VwVfG in Verbindung mit § 74 Abs. 6 S. 2 VwVfG Planfestgestellte oder plangenehmigte Vorhaben lassen sich nicht immer zeitnah verwirklichen.9 So kann eine zunächst gesicherte Finanzierung weggefallen sein, da zwischen der Einreichung des Plans, der Feststellung oder Genehmigung und dem Eintritt der Bestandskraft (etwa nach langjährigen Gerichtsprozessen) nicht selten ein großer Zeitraum liegt. Auch ist es möglich, dass sich aus anderen, nicht vorher6

Zippelius/Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 32. Aufl. 2008, § 46 Rn. 74. Vgl. Ehlers, Verwaltung und Verwaltungsrecht im demokratischen und sozialen Rechtsstaat, in: Erichsen/Ehlers (Hg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 14. Aufl. 2010, § 1 Rn. 66. 8 Vgl. aber Schütz, Die Verlängerung von Planfeststellungsbeschlüssen – hic sunt leones, UPR 2002, 172 ff.; Stoermer, Die Geltungsdauer von Planfeststellungsbeschlüssen, NZV 2002, 303 ff.; Hermanns, Die Wirksamkeit von Planfeststellungsbeschlüssen als Maßstab ihrer Geltungsdauer, DÖV 2003, 714 ff.; Wickel, Die Änderungen im Planfeststellungsverfahren durch das Gesetz zur Beschleunigung von Planungsverfahren für Infrastrukturvorhaben, UPR 2007, 201 ff. 9 Vgl. statt vieler Hermanns (Fußn. 8), 714. 7

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sehbaren Gründen die Verhältnisse geändert haben und hierauf reagiert werden soll oder muss. Dies hat sich in jüngster Zeit etwa im Falle des Neubaus des Stuttgarter Bahnhofs gezeigt. Schließlich kann der Träger des Vorhabens viele Dispositionen (etwa Ankauf von Grundstücken, Erlangung von Verfügungsberechtigungen, Ausschreibungen oder Auftragsvergaben) erst nach Feststellung oder Genehmigung des Plans treffen. Daher muss ihm Zeit für die Ausführung eingeräumt werden. Andererseits ist es den Planbetroffenen auch im Hinblick auf ihre durch Art. 14 Abs. 1 GG geschützten Rechtspositionen nicht zuzumuten, auf unbegrenzte Zeit im Unklaren darüber gelassen zu werden, ob der Plan verwirklicht wird, insbesondere weil sein Erlass nachteiligen Einfluss auf die Nutzung und Verwertung der Grundstücke haben kann.10 Eine Planung auf Vorrat wird deshalb für unzulässig erachtet.11 Die gegenläufigen Interessen werden in § 75 Abs. 4 VwVfG sowie der Verweisungsnorm des § 74 Abs. 6 S. 2 VwVfG in der Weise zum Ausgleich gebracht, dass ein Plan ipsa lege außer Kraft tritt, wenn mit der Durchführung nicht innerhalb von fünf Jahren nach Eintritt der Unanfechtbarkeit begonnen worden ist.12 1. Unanfechtbarkeit des Plans Nach Sinn und Zweck des § 75 Abs. 4 VwVfG soll die vorgesehene Fünfjahresfrist erst zu laufen beginnen, wenn sich der Träger des Vorhabens rechtlich sicher sein kann, den Plan realisieren zu dürfen. Unanfechtbarkeit bedeutet deshalb nicht nur, dass der Verwaltungsakt nicht mehr angegriffen werden kann, sondern zugleich, dass alle gegebenenfalls eingelegten ordentlichen Rechtsbehelfe rechtskräftig abgewiesen worden sind, so dass Ansprüche auf Unterlassung des Vorhabens, auf Beseitigung oder Änderung der Anlagen oder auf Unterlassung ihrer Benutzung ausgeschlossen sind (§ 75 Abs. 2 S. 1 VwVfG). Unerheblich ist, ob der Planfeststellungsbeschluss respektive die Plangenehmigung sofort vollziehbar war oder nicht.13 Eine Nichtzustellung des Beschlusses14 oder der Genehmigung sowie eine fehlerhafte Be-

10 Vgl. Bonk/Neumann, in: Stelkens/Bonk/Sachs (Hg.), Verwaltungsverfahrensgesetz, 7. Aufl. 2008, § 75 Rn. 94. 11 Vgl. auch BVerwGE 84, 123 (128); NVwZ 1993, 980 (983); Dürr, in: Knack/Henneke (Hg.), Verwaltungsverfahrensgesetz, 9. Aufl. 2010, § 75 Rn. 107; Kopp/Ramsauer, Verwaltungsverfahrensgesetz, 12. Aufl. 2011, § 75 Rn. 34; Wickel, in: Fehling/Kastner (Hg.), Verwaltungsrecht, Handkommentar, 2. Aufl. 2010, § 75 VwVfG, Rn. 96. 12 Vergleichend lässt sich darauf hinweisen, dass Baugenehmigungen und Teilbaugenehmigungen i. d. R. erlöschen, wenn innerhalb von drei Jahren nach Erteilung der Genehmigung mit der Ausführung des Bauvorhabens nicht begonnen oder die Bauausführung ein Jahr unterbrochen worden ist (§ 73 Abs. 1 MBO). Auch der Bauvorbescheid gilt i. d. R. drei Jahre (§ 75 S. 2 MBO). 13 Vgl. Hermanns (Fußn. 8), 716. 14 Vgl. Bonk/Neumann (Fußn. 10), § 75 Rn. 95.

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kanntgabe an einzelne Betroffene15 bleiben hierbei außer Betracht, weil ansonsten überhaupt kein eindeutiger Zeitpunkt bestimmt werden könnte. 2. Beginn der Durchführung des Plans Die Fristbestimmung des § 75 Abs. 4 VwVfG bezieht sich auf den Beginn der Durchführung des Plans. Was hierunter zu verstehen ist, wird in verschiedenen Fachplanungsgesetzen legaldefiniert.16 Als Beginn der Durchführung des Plans gilt danach jede erstmals nach außen17 erkennbare Tätigkeit von mehr als nur geringfügiger Bedeutung zur plangemäßen Verwirklichung des Vorhabens. Diese Definitionen werden auch dem Sinngehalt des § 75 Abs. 4 VwVfG gerecht und lassen sich daher für diese Vorschrift heranziehen. Bloße Vorbereitungshandlungen (wie zum Beispiel die Bereitstellung der finanziellen Mittel, die Ausschreibung von Bauarbeiten oder der Abschluss von Werkverträgen ohne Festlegung des Beginns der Arbeiten) reichen daher ebenso wenig aus wie rein symbolische Maßnahmen. Mit der Durchführung wird aber zum Beispiel durch den Erwerb von Grundstücken zur Durchführung des Plans, durch das Ausheben einer Baugrube oder das Abbrechen von Gebäuden begonnen.18 Wurden die Arbeiten unterbrochen, wird teilweise angenommen, dass eine neue Frist zu laufen beginnt.19 Hiervon ist jedoch in § 75 Abs. 4 VwVfG jedoch nicht die Rede. In den Fachplanungsgesetzen wird vielfach ausdrücklich bestimmt, dass eine spätere Unterbrechung der Verwirklichung des Vorhabens den Beginn der Durchführung des Plans nicht berührt.20 Nichts anderes gilt für § 75 Abs. 4 VwVfG. Somit kommt es im Falle von Unterbrechungen gem. § 77 VwVfG darauf an, ob das Vorhaben endgültig aufgegeben worden ist. Trifft dieses zu, ist der zugrunde liegende Planfeststellungsbeschluss oder die Plangenehmigung21 aufzuheben. Die endgültige Aufgabe bezieht sich nicht nur auf den Willen des Vorhabenträgers. Sie kann sich auch aus objektiven Umständen ergeben.22 Die Fristbe15 Kügel, in: Obermayer (Hg.), Kommentar zum Verwaltungsverfahrensgesetz, 3. Auf. 1999, § 75 Rn. 112; Kopp/Ramsauer (Fußn. 11), § 75 Rn. 35; Wickel (Fußn. 11), § 75 Rn. 97. 16 Vgl. §§ 18c Nr. 4 Hs. 1 AEG; 17c Nr. 4 Hs. 1 FStrG; 14c Nr. 4 Hs. 1 WaStrG; 2b Nr. 4 Hs. 1 MBPlG; 43c Nr. 4 Hs. 1 EnWG; § 9 Abs. 5 S. 2 LuftVG. 17 A. A. OVG RP, DÖV 1985, 367 (368 f.). 18 Vgl. zu diesen Beispielen und zum Meinungsstand Schütz (Fußn. 8), 173 f.; Stoermer (Fußn. 8), 306 f.; Hermanns (Fußn. 8), 716 ff. 19 Vgl. Kukk, Zur Fortwirkung nicht durchgeführter Planfeststellungsbeschlüsse für Bundesfernstraßen, NuR 2000, 492 (494); Kügel (Fußn. 15), § 75 Rn. 115; Kopp/Ramsauer (Fußn. 11), § 75 Rn. 36. A. A. OVG RP, DÖV 1985, 367 (369); Schütz (Fußn. 8) 174; Stoermer (Fußn. 8), 308 f. 20 Vgl. Halbsatz 2 der in Fußn. 16 genannten Vorschriften; ferner § 9 Abs. 5 S. 3 LuftVG. 21 Für eine entsprechende Anwendbarkeit auch Kopp/Ramsauer (Fußn. 11), § 77 Rn. 2; a. A. Bonk/Neumann (Fußn. 10), § 74 Rn. 248. 22 Vgl. statt vieler Bonk/Neumann (Fußn. 10), § 77 Rn. 6; Kopp/Ramsauer (Fußn. 11), § 77 Rn. 3a.

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stimmung des § 75 Abs. 4 VwVfG kann als Indiz herangezogen werden, ob ein Vorhaben nur vorübergehend unterbrochen oder endgültig aufgegeben worden ist.23 Die endgültige Aufgabe kann sich auch auf einen Teil des Vorhabens beziehen (zum Beispiel Verzicht auf den ursprünglich vorgesehenen vierspurigen Ausbau einer Straße und stattdessen nur Bau von zwei Spuren24). Analoge Anwendung findet § 77 VwVfG, wenn die Verwirklichung des Vorhabens vor Beginn der Durchführung aufgegeben wird, ohne dass die Frist des § 75 Abs. 4 VwVfG abgelaufen ist.25 3. Außerkrafttreten des Plans Ein unanfechtbar gewordener Plan tritt bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen automatisch mit Ablauf der Fünfjahresfrist des § 75 Abs. 4 VwVfG außer Kraft. Gleiches gilt für eine Aufhebung nach § 77 VwVfG sowie die Rücknahme oder den Widerruf des Verwaltungsaktes. Hierbei muss auch die Einwirkung des Europäischen Unionsrechts beachtet werden.26 Ferner können Pläne funktionslos werden, wenn die tatsächliche Entwicklung die Verwirklichung auf unabsehbare Zeit ausschließt und ein schutzwürdiges Vertrauen auf den Fortbestand nicht mehr gegeben ist.27 II. Geltungsdauer von Planfeststellungsbeschlüssen nach dem Gesetz zur Beschleunigung von Planungsverfahren für Infrastrukturvorhaben Nach dem Gesetz zur Beschleunigung von Planungsverfahren für Infrastrukturvorhaben vom 9. Dezember 2006 (IPBeschlG)28 ist durch Einführung von Vorschriften in das Allgemeine Eisenbahngesetz (§ 18c Nr. 1 AEG), das Bundesfernstraßengesetz (§ 17c Nr. 1 FStrG), das Bundeswasserstraßengesetz (§ 14c Nr. 1 WaStrG), das Luftverkehrsgesetz (§ 9 Abs. 5 S. 1 LuftVG), das Magnetschwebebahnplanungsgesetz (§ 2b Nr. 1 MBPlG) und das Energiewirtschaftsgesetz (§ 43c Nr. 1 EnWG) die Geltungsdauer von Planfeststellungsbeschlüssen und Plangenehmigungen für Verkehrsinfrastrukturvorhaben von fünf auf zehn Jahre verlängert worden.29 Der Gesetzgeber verfolgt mit den Änderungen das Ziel, das Fachplanungsrecht zu vereinheit23

So zutreffend Wickel (Fußn. 11), § 75 Rn. 100. Vgl. zu diesem Beispiel BVerwGE 84, 123 ff. 25 Vgl. BVerwG, DVBl 1986, 1007; NVwZ 2005, 327 (328); Hermanns (Fußn. 8), 718; a. A. Wickel (Fußn. 11), § 77 Rn. 6 f. 26 Vgl. zur Durchbrechung der Bestandskraft von Verwaltungsakten zum Zwecke der Berücksichtigung neu erlassenen Unionsrechts EuGH Slg. 2010 I-131, Rn. 46 ff. – Stadt Papenburg / Bundesrepublik Deutschland; Ehlers/Schröder, Der Widerruf von Verwaltungsakten (Teil II), JURA 2010, 824 ff. 27 Vgl. zu den Bebauungsplänen BVerwGE 54, 5 (9); 67, 334 (336); 108, 71 (76), zu den Planfeststellungsbeschlüssen BVerwGE 99, 166 (169). 28 BGBl I 2006, S. 2833. 29 Vgl. Art. 1 Nr. 2, 2 Nr. 3, 3 Nr. 4, 5 Nr. 5, 6 Nr. 1, 7 Nr. 6 IPBeschlG. 24

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lichen sowie Planung und Bau von Verkehrsinfrastrukturen zu vereinfachen und zu beschleunigen. Defizite in der Effizienz von Planungsentscheidungen sollen beseitigt werden, um der verkehrs- und standortpolitischen Rolle der Bundesrepublik als Transitland im europäischen Binnenmarkt gerecht zu werden. Zugleich kam es dem Gesetzgeber darauf an, Instrumente bereitzustellen, um den Rückstau von bereits planfestgestellten Vorhaben abzubauen. Eine lediglich fünfjährige Geltungsdauer habe – unzweckmäßigerweise30 – zur Folge gehabt, dass in der Praxis häufig mit Einzelmaßnahmen begonnen worden sei, um den „Verfall“ von Baurecht und den Aufwand einer Verlängerung zu vermeiden.31 Für die vor dem 17. Dezember 2006 erlassenen und noch nicht außer Kraft getretenen Planfeststellungsbeschlüsse und Plangenehmigungen enthält das Gesetz zur Beschleunigung von Planungsverfahren für bestimmte Infrastrukturvorhaben Übergangsregelungen32, welche die verlängerte zehnjährige Geltungsdauer anordnen.33 In der Literatur ist zum Teil bezweifelt worden, dass die verlängerte Geltungsdauer der genannten Planfeststellungsbeschlüsse (oder Plangenehmigungen) mit Art. 14 Abs. 1 GG vereinbar ist.34 Hierbei nimmt man allerdings die vorgesehene zusätzliche Möglichkeit einer Verlängerungsdauer von fünf Jahren35 mit in den Blick. Im Folgenden soll zunächst nur zur Zehnjahresfrist selbst Stellung genommen werden. Diesbezügliche – nicht der Beschleunigung, sondern der Planverwirklichung dienende – Regelungen stellen Inhalts- und Schrankenbestimmungen im Sinne des Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG dar. Diese müssen einerseits an der Institutsgarantie des Art. 14 Abs. 1 S. 1 GG, andererseits an der Sozialbindungsklausel des Art. 14 Abs. 2 GG gemessen werden und verhältnismäßig sein. Hierbei kommt es auf eine Abwägung zwischen dem Gewicht der zur Rechtfertigung der Inhalts- und Schrankenbestimmungen angeführten Gründe und der Intensität der Belastung (verlängerte Geltungsdauer von Planfeststellungsbeschlüssen und Plangenehmigungen für die Planbetroffenen) an, wobei dem Gesetzgeber ein begrenzter Gestaltungsspielraum zuzugestehen ist. Für eine verlängerte Geltungsdauer sprechen die Langwierigkeit von Planfeststellungen und Plangenehmigungen, der erhebliche Verwaltungs- und Kostenaufwand, die Unanfechtbarkeit und das öffentliche Interesse an einer Realisierung von Verkehrs30

BR-Drucks 343/11, S. 245. Vgl. BT-Drucks 16/54, S. 25 ff. (insbes. 26). 32 Vgl. dazu die Ausf. zu III. 33 Art. 1 Nr. 5, 2 Nr. 8, 3 Nr. 9, 6 Nr. 5 IPBeschlG (§ 39 Abs. 2 AEG; 24 Abs. 2 FStrG; 56 Abs. 6 WaStrG; 12 Abs. 2 MBPlG). 34 Vgl. vor allem Kopp/Ramsauer (Fußn. 11), § 75 Rn. 34a. Krit. auch Teßner, Entwurf eines Verfahrensbeschleunigungsgesetzes: Beschleunigung durch Abbau von Verwaltungskontrolle und Verfahrensrechten?, ZUR 2006, 469 (474); Wickel (Fußn. 8), 205; Bonk/Neumann (Fußn. 10), § 75 Rn. 94 mit Fußn. 180; a. A. Kuder, Finanzmittelknappheit im Bundesfernstraßenbau, negative Konsequenzen für bestandskräftige Planfeststellungsbeschlüsse – Ein Vorschlag zur Änderung des FStrG, in: Grupp (Hg.), Straßenplanung in Europa, 2001, S. 75 (85 ff.); Schütz (Fußn. 8), 177. Vgl. auch Hermes, in: Britz/Hellermann/Hermes (Hg.), EnWG, 2. Aufl. 2010, § 43 c Rn. 7 (wohl verfassungsrechtlich unbedenklich). 35 Vgl. dazu die Ausf. zu V. 31

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infrastrukturvorhaben, dagegen der lange „Unsicherheits- und Schwebezustand“36, der den planbetroffenen Eigentümern zugemutet wird. Bedenkt man, dass eine als endgültige Aufgabe zu wertende Untätigkeit des Vorhabenträgers schon vor Beginn der Durchführung des Plans und vor Ablauf der Geltungsdauer des Verwaltungsaktes zu einer Aufhebung des Planfeststellungsbeschlusses und der Plangenehmigung nach der (auf Fachplanungen im Falle des Fehlens von Sonderregelungen anwendbaren) Bestimmung des § 77 VwVfG führen kann beziehungsweise muss37, lässt sich eine Verletzung des Art. 14 Abs. 1 GG nicht feststellen. III. Geltungsdauer von Planfeststellungsbeschlüssen nach dem Energiewirtschaftsgesetz Mit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Beschleunigung von Planungsverfahren für Infrastrukturvorhaben vom 9. Dezember 2006 und der dadurch in das Energiewirtschaftsgesetz eingefügten Bestimmung des § 43c ist auch die Frist für den Beginn der Durchführung von energiewirtschaftlichen Plänen von fünf auf zehn Jahre verlängert worden. Die Zehnjahresfrist gilt auch für Planfeststellungs- und Plangenehmigungsverfahren, die zum 17. Dezember 2006 noch nicht abgeschlossen waren.38 Während durch das Gesetz zur Beschleunigung von Planungsverfahren für Infrastrukturvorhaben Übergangsvorschriften in das Allgemeine Eisenbahngesetz (§ 39 Abs. 2), Bundesfernstraßengesetz (§ 24 Abs. 2), Bundeswasserstraßengesetz (§ 56 Abs. 6) und Magnetschwebebahnplanungsgesetz (§ 12 Abs. 2) aufgenommen wurden, welche die um fünf Jahre verlängerte Geltungsdauer von Plänen auf die vor dem 17. Dezember 2006 erlassenen und noch nicht außer Kraft getretenen Planfeststellungsbeschlüsse und Plangenehmigungen erstreckten, fehlte eine entsprechende Übergangsregelung für das Energiewirtschaftsgesetz (und Luftverkehrsgesetz). Dies warf die Frage auf, ob die Übergangsvorschriften der §§ 39 Abs. 2 AEG, 24 Abs. 2 FStrG, 56 Abs. 6 WaStrG und 12 Abs. 2 MBPlG analog auf Planfeststellungen und Plangenehmigungen nach dem Energiewirtschaftsgesetz angewendet werden konnten. Da die vollziehende Gewalt und Rechtsprechung nach Art. 20 Abs. 3 GG nicht nur an das Gesetz, sondern auch an das Recht gebunden sind und dies eine Rechtsfortbildung zulässt39, dürfte selbst eine Analogiebildung mit belastender Wirkung für den Bürger, von Sonderfällen besonders gravierender Grundrechtseingriffe abgesehen,40 nicht schlechthin unzulässig sein.41 Dies gilt auch für Inhalts- und Schranken36

Kopp/Ramsauer (Fußn. 11), § 75 Rn. 34a. Vgl. die Ausführungen zu I. 2. mit Fußn. 25. 38 § 118 Abs. 8 EnWG i. d. F. v. 17. 12. 2006. 39 BVerfGE 25, 167 (183); 34, 269 (287); 82, 6 (12); Sachs, in: ders. (Hg.), GG, 6. Aufl. 2011, Art. 20 Rn. 120. 40 Zu Art. 103 Abs. 2 GG vgl. BVerfGE 71, 108 (115); 92, 1 (12); zu Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG: BVerfGE 29, 183 (195 f.); 83, 24 (32); 116, 69 (83). 37

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bestimmungen im Sinne des Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG42 sowie – entgegen vielfach vertretener Auffassung43 – für Ermächtigungsgrundlagen, derer die Verwaltung für den Erlass eines in den Rechtskreis des Bürgers eingreifenden Verwaltungsaktes bedarf. Aus dem Umstand, dass der Gesetzgeber nach dem Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes staatliche Handlungen in grundlegenden Bereichen durch förmliches Gesetz legitimieren und alle wesentlichen Entscheidungen selbst treffen muss44 sowie den sich aus dem Rechtsstaatsprinzip ergebenden Bestimmtheitsanforderungen45 folgt aber, dass Analogiebasis und Analogieziel für den Bürger erkennbar und voraussehbar gewesen sein müssen.46 Bei Zugrundelegung dieser Prämissen war eine analoge Anwendbarkeit der §§ 39 Abs. 2 AEG, 24 Abs. 2 FStrG, 56 Abs. 6 WaStrG, 12 Abs. 2 MBPlG zu bejahen. Einerseits lag eine planwidrige Regelungslücke vor, weil das Fehlen einer Übergangsvorschrift für die Geltungsdauer von Planfeststellungsbeschlüssen und Plangenehmigungen im Energiewirtschaftsgesetz auf einem Versehen des Gesetzgebers beruhte, wie dieser später ausdrücklich selbst eingeräumt hat47. Andererseits weicht die Interessenlage in den genannten Infrastrukturbereichen nicht voneinander ab. Auch stellt die Erstreckung des Regelungsgehalts des § 43c Nr. 1 EnWG auf Altfälle nicht die Schaffung eines gänzlich neuen (dem Gesetzesvorbehalt unterliegenen) Eingriffstatbestandes dar. Vielmehr geht es nur um die Verlängerung einer bereits eingeführten Geltungsfrist für Planfeststellungsbeschlüsse und Plangenehmigungen, die noch nicht außer Kraft getreten waren. Vorausgesetzt wird bei alledem, dass die Übergangsregelungen der §§ 39 Abs. 2 AEG, 24 Abs. 2 FStrG, 56 Abs. 6 WaStrG, 12 Abs. 2 MBPlG selbst mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Da sie in der Vergangenheit ins Werk gesetzte, noch nicht abgeschlossene Vorgänge betreffen, haben sie den Charakter einer unechten Rückwirkung beziehungsweise tatbestandlichen Rückanknüpfung. Derartige Regelungen sind grundsätzlich zulässig, wenn sie von Gemeinwohlerwägungen getragen wer41

Vgl. auch BVerfGE 98 (59 f.); 108, 150 (160); 116, 69 (83); Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, 11. Aufl. 2011, Art. 20 Rn. 43. Zur Analogieproblematik im Steuerrecht vgl. auch Schenke, Kritik der steuerrechtlichen Methodenlehre, StuW 2008, 206 (214 f.), einerseits und Tipke, Zur Kritik der steuerrechtlichen Methodenlehre durch Ralf. P. Schenke – Eine Kritik der Kritik, StuW 2008, 377 (381 ff.), andererseits. 42 Zu einer privatrechtlichen Inhalts- und Schrankenbestimmung vgl. BVerfGE 82, 6 (11 ff.). 43 BVerfG-K, NJW 1996, 3146; Müller/Christensen, Juristische Methodik, Bd. I, 10. Aufl. 2010, Rn. 371; Papier, Eigentumsgarantie und Geldentwertung, AöR 98 (1973), 528 (562 f.); Konzak, Analogie im Verwaltungsrecht, NVwZ 1997, 872 f.; Ruffert, Die Erledigung von Verwaltungsakten „auf andere Weise“, BayVBl 2003, 33 (36). 44 Vgl. z. B. BVerfGE 40, 237 (249); 95, 267 (307); 108, 282 (311). 45 Vgl. BVerfGE 49, 168 (181); 80, 103 (107 f.). 46 So auch Gern, Analogie im Verwaltungsrecht, DÖV 1985, 558 (563); Alleweldt, Bundesverfassungsgericht und Fachgerichtsbarkeit, 2006, S. 300 f.; Beaucamp, Zum Analogieverbot im Öffentlichen Recht, AöR 134 (2009), 83 (101 f.). 47 Vgl. BR-Drs. 343/11, S. 244.

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den.48 Anderes gilt, wenn das Vertrauen in den Fortbestand einer gesetzlichen Regelung schützenswert und schutzwürdiger ist.49 Unabhängig davon, ob man Gesetze mit unechter Rückwirkung respektive tatbestandlicher Rückanknüpfung im Falle eines vermögensrechtlichen Gehalts an der Bestimmung des Art. 14 Abs. 1 GG50 oder am Rechtsstaatprinzip51 misst, können die von der Verlängerung der Geltungsdauer von Planfeststellungsbeschlüssen oder Plangenehmigungen betroffenen Eigentümer gegenüber den genannten Verlängerungsbestimmungen sich nicht auf überwiegenden Vertrauensschutz berufen. Zum einen betreffen die Vorschriften nur Pläne, die noch nicht außer Kraft getreten sind, so dass es an einer Betätigung des Vertrauens fehlt. Zum anderen kann, wenn die Zehnjahresfrist verfassungskonform ist52, für die Übergangsregelung nichts anderes gelten. Mit Gesetz vom 26. Juli 201153, geändert durch Gesetz vom 28. Juli 201154, hat der Gesetzgeber durch Einfügung eines Satzes 2 in § 118 Abs. 4 beziehungsweise Abs. 3 EnWG (nach der Änderung vom 28. Juli 2011) auch eine Übergangsregelung für die Geltungsdauer von Planfeststellungsbeschlüssen und Plangenehmigungen in das Energiewirtschaftsgesetz aufgenommen. Danach gilt § 43c EnWG (und damit auch die in Nr. 1 vorgesehene Zehnjahresfrist) auch für Planfeststellungsbeschlüsse und Plangenehmigungen, die vor dem 17. Dezember 2006 erlassen worden sind, soweit der Plan noch nicht außer Kraft getreten ist. Als maßgeblicher Zeitpunkt für das Außerkrafttreten kommt nur der 17. Dezember 2006 in Betracht, weil sonst die Vorschrift kaum Bedeutung hätte. Dies bedeutet, dass beispielsweise für Pläne, die im Jahre 2005 unanfechtbar geworden sind, die Zehnjahresfrist im Jahre 2015 abläuft. Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit der Regelung bestehen nicht. Nimmt man mit der hier vertretenen Meinung an, dass die §§ 39 Abs. 2 AEG, 24 Abs. 2 FStrG, 56 Abs. 5 WaStrG, 12 Abs. 2 MBPlG auf energiewirtschaftliche Planfeststellungsbeschlüsse und Plangenehmigungen analoge Anwendung gefunden haben, stellt § 118 Abs. 3 S. 2 EnWG nur klar, was ohnehin gilt. Lehnt man eine analoge Anwendung ab, kann zwar eine echte Rückwirkung gegeben sein (weil beispielsweise bei Geltung einer Fünfjahresfrist unanfechtbare Planfeststellungsbeschlüsse oder Plangenehmigungen aus dem Jahre 2005 im Jahre 2010 und damit vor Erlass des § 118 Abs. 3 S. 2 EnWG außer Kraft getreten sind), doch sind echte Rückwirkungen ausnahmsweise unter anderem dann zulässig, wenn das Recht unklar und verworren 48 Sachs (Fußn. 39), Art. 20 Rn. 136 f., Schulze-Fielitz, in: Dreier (Hg.), GG, Bd. II, 2. Aufl. 2006, Art. 20 Rn. 166. 49 Vgl. Jarass (Fußn. 41), Art. 20 Rn. 73 ff. 50 So BVerfGE 75, 78 (104 f.); 76, 220 (244 f.); 95, 64 (82); 101, 239 (257). 51 Allgemein dazu Fußn. 48. 52 Vgl. die Ausführungen zu II. 53 Vgl. Art. 1 Nr. 63 a) des Gesetzes zur Neuregelung energiewirtschaftlicher Vorschriften vom 26. Juli 2011 zur Änderung des § 118 Abs. 4 EnWG (BGBl I 2011, S. 1554, 1591). 54 Nach Maßgabe des Art. 2 Nr. 10 des Gesetzes über Maßnahmen zur Beschleunigung des Netzausbaus Elektrizitätsnetze vom 28. Juli 2011 (BGBl I 2011, S. 1690, 1700), nunmehr § 118 Abs. 3 EnWG.

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war55 oder die Betroffenen mit der Rückwirkung rechnen mussten56. Zumindest die zuletzt genannte Voraussetzung ist hier gegeben. IV. Geltungsdauer von Planfeststellungsbeschlüssen und Plangenehmigungen im Falle von Abschnittsbildungen Das Planungsrecht ist zwar auf eine einheitliche Gesamtplanung eines Vorhabens ausgerichtet57, doch ist wegen der großflächigen Dimension vieler Vorhaben (etwa von Verkehrswegen oder Leitungen) eine abschnittsweise Aufteilung der Planung auf einzelne Teilstrecken je nach Vorhaben sachgerecht oder sogar geboten, damit die Planung praktikabel und effektiv gehandhabt werden kann58. Dies dient auch der sachangemessenen Abschichtung der gesamtplanerischen Abwägung.59 Typischerweise ist eine Abschnittsbildung zum Beispiel bei Vorhaben von länderübergreifender oder grenzüberschreitender Bedeutung angezeigt.60 Eine Abschnittsbildung kommt des Weiteren nicht nur für Planfeststellungsbeschlüsse, sondern (in eher seltenen Fällen) auch für Plangenehmigungen in Betracht. Da die Planfeststellung oder Plangenehmigung eines Abschnitts aber dem Grundsatz umfassender Problembewältigung gerecht werden muss61 und ein Planabschnitt seine Rechtfertigung aus den Zielsetzungen des Gesamtvorhabens bezieht62, ist sicherzustellen, dass den nachfolgenden Abschnitten nicht von vornherein unüberwindbare Hindernisse entgegenstehen.63 Zugleich soll eine willkürliche Parzellierung der Abschnitte, welche die Rechtsschutzmöglichkeiten der Anwohner erschweren könnte, vermieden werden.64 Daher wird angenommen, dass die Entscheidung über das erste Teilstück 55

Vgl. zu dieser Fallkonstellation BVerfGE 88, 384 (404); 98, 17 (39). Vgl. BVerfGE 88, 384 (404); 95, 64 (87); 103, 392 (404). 57 Gerhardt, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner (Hg.), VwGO, 22. Lief. 2011, § 114, Rn. 47. 58 Vgl. BVerwG, NVwZ-RR 1989, 241; NVwZ 2001, 673 (677 f.); Kühling/Herrmann, Fachplanungsrecht, 2. Aufl. 2000, Rn. 256 ff; Steinberg/Berg/Wickel, Fachplanung, 3. Aufl. 2000, S. 193 ff.; Ziekow, in: ders. (Hg.), Praxis des Fachplanungsrechts, 2004, Rn. 711 ff. 59 BVerwGE 62, 342 (346 ff.). 60 In solchen Fällen stellt sich de lege ferenda die Frage, ob auch dann, wenn an sich die Länder zuständig sind, eine Übertragung der Zuständigkeit auf eine Bundesbehörde angezeigt ist. Zur Zuständigkeit der Bundesnetzagentur für Planfeststellungsverfahren betreffend den Ausbau der Energieübertragungsnetze zur Verwirklichung der sog. Energiewende vgl. § 2 Abs. 2 Netzausbaubeschleunigungsgesetz Übertragungsnetz (NABEG, BGBl I 2011, S. 1690). 61 Vgl. statt vieler Bonk/Neumann (Fußn. 10), § 73 Rn. 23. 62 Kopp/Ramsauer (Fußn. 11), § 72 Rn. 31. 63 BVerwGE 104, 236 (242 ff.); NVwZ 2000, 560; 2002, 1103 (1109); 2005, 803 (806). 64 Vgl. zum Rechtsschutz BVerwG NVwZ 2001, 800 f.; Blümel, Planung und Verwaltungsgerichtsbarkeit, in: Stüer (Hg.), Verfahrensbeschleunigung, Bd. 1, 1997, S. 17. 56

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einer Planung zugleich ein vorläufiges positives Gesamturteil im Wege einer vorgezogenen Gesamtabwägung über alle Abschnitte enthält.65 Dies könnte zur Folge haben, dass die Unanfechtbarkeit im Sinne des § 75 Abs. 4 VwVfG nicht für jeden einzelnen Planungsabschnitt gilt, sondern auf die Gesamtplanung bezogen werden muss: Die für den Fristbeginn maßgebliche Unanfechtbarkeit tritt also erst mit Ablauf der Anfechtungsfrist für den letzten Planungsabschnitt ein. Indessen ist in § 75 Abs. 4 VwVfG von einer Gesamtplanung nicht die Rede. Wenn von einer Frist für die Durchführung des Plans gesprochen wird, ist damit die rechtlich selbständige Planfeststellung oder Plangenehmigung, also der jeweilige Verwaltungsakt, gemeint.66 Eine Verschiebung des Fristbeginns bis zur Unanfechtbarkeit der letzten Planentscheidung würde sowohl dem Sinn von Verwaltungsakten im Allgemeinen als auch demjenigen von Abschnittsbildungen im Besonderen zuwiderlaufen. Zum einen sind Verwaltungsakte gerade darauf angelegt, alsbald in Bestandskraft zu erwachsen und verbindlich zu regeln, was rechtens ist. Zum anderen könnte bei Eintritt der Unanfechtbarkeit erst mit der letzten Planungsstufe genauso gut auf eine Abschichtung verzichtet werden. Auch würde den Trägern des Planungsvorhabens und den Planbetroffenen eine unzumutbar lange Zeit der Rechtsunsicherheit aufgebürdet. In der Praxis enthalten Planfeststellungsbeschlüsse oder Plangenehmigungen über Abschnitte des Vorhabens in ihrem verfügenden Teil häufig die Regelung, dass mit dem Bau erst begonnen werden darf, wenn die direkt anschließenden Bauabschnitte ebenfalls planfestgestellt (genehmigt) sind. Dies trifft, soweit ersichtlich, jedenfalls regelmäßig auf Energieleitungen zu. Eine solche Verzahnung erscheint auch sinnvoll, weil es sowohl dem öffentlichen Interesse als auch dem Interesse des Vorhabenträgers und Planbetroffenen entspricht, dass nicht bereits mit der Verwirklichung eines Planabschnitts begonnen wird, solange anschließende Abschnitte noch nicht festgestellt oder genehmigt sind. Im Falle eines späteren Scheiterns könnten ansonsten bereits verwirklichte Teilabschnitte des Vorhabens zurückbleiben, die Vorhabenträger und Planbetroffene belasten, ohne einen Nutzen zu stiften. Darf mit dem Bau erst nach Feststellung oder Genehmigung des angrenzenden Abschnitts begonnen werden, bedeutet dies, dass dem Planfeststellungsbeschluss oder der Plangenehmigung erst zu diesem Zeitpunkt innere Wirksamkeit zukommt. Dann aber kann die in § 75 Abs. 4 VwVfG gesetzte Frist auch erst ab diesem Zeitpunkt zu laufen beginnen. Ausdrücklich stellt die Vorschrift zwar nur auf den Eintritt der Unanfechtbarkeit ab. Doch werden Fristsetzung und Durchführung des Plans miteinander verknüpft. Ausgegangen wird also von dem Fall, dass sofort nach Unanfechtbarkeit mit der Verwirklichung des Plans begonnen werden kann. Trifft dies nach dem Regelungsgehalt des Planfeststellungsbeschlusses oder der Plangenehmigung nicht zu, 65 Vgl. BVerwGE 62, 342 (354); 72, 282 (288 f.); 98, 339 (366); NVwZ 1993, 887 (889); 2001, 800; ZUR 2008, 257; Kühling/Herrmann (Fußn. 58), Rn. 258; Stüer/Probstfeld, Die Planfeststellung, 2003, Rn. 94; Stüer, Handbuch des Bau- und Fachplanungsrechts, 4. Aufl. 2009, Rn. 4288. 66 Vgl. Stoermer (Fußn. 8), 307.

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weil das Vorhaben erst später in die Tat umgesetzt werden darf, muss dies dazu führen, dass sich der Beginn der gesetzten Frist verschiebt. Ansonsten könnte der Fall eintreten, dass von einem festgestellten oder genehmigten Plan trotz Bestandskraft niemals Gebrauch gemacht werden durfte, weil die Planverfahren miteinander verbunden sind und in der Zwischenzeit die Frist für die Durchführung eines Planabschnitts wegen der fehlenden Feststellung oder Genehmigung des folgenden Abschnitts (oder der folgenden Abschnitte) abgelaufen ist, ohne dass der Träger des Vorhabens dies beeinflussen konnte. Wird dem Träger des Vorhabens eine Frist gesetzt, muss er auch die rechtliche Möglichkeit haben, innerhalb des zugebilligten Zeitraumes tätig zu werden. Für die Planbetroffenen ändert sich – ebenso wie für die Träger des Vorhabens – insofern nichts, als die Geltungsdauer der Planfeststellung (Plangenehmigung) unverändert bleibt.67 V. Verlängerung der Geltungsdauer von Planfeststellungsbeschlüssen und Plangenehmigungen Eine Verlängerung der Geltungsdauer von Planfeststellungsbeschlüssen oder Plangenehmigungen ist in § 75 Abs. 4 VwVfG nicht vorgesehen und daher nicht statthaft.68 Aus den Fachplanungsgesetzen kann sich jedoch anderes ergeben.69 So treten nach den durch das Gesetz zur Beschleunigung von Planungsverfahren für Infrastrukturvorhaben geänderten Fachgesetzen Pläne nicht außer Kraft, wenn sie auf Antrag des Trägers des Vorhabens von der Behörde um höchstens fünf Jahre verlängert wurden.70 Die Verlängerung steht im Ermessen der Behörde.71 Eine Verlängerung setzt zunächst voraus, dass das Vorhaben nicht bereits aufgegeben worden ist (§ 77 VwVfG), eine Planänderung (§ 76 VwVfG) nicht angestrebt wird und das Vorhaben innerhalb der verlängerten Frist durchgeführt werden kann.72 Vor der Entscheidung ist gemäß der fachgesetzlichen Bestimmungen eine „auf den Antrag begrenzte“ Anhörung nach den für die Planfeststellung oder für die Plangenehmigung vorgeschriebenen Verfahren durchzuführen.73 Dies bedeutet zunächst, dass der Inhalt 67 Vergleichend kann darauf hingewiesen werden, dass auch die Rücknahme einer Klage gegen einen Verwaltungsakt zwar zu dessen rückwirkender Bestandskraft führt, Fristen aber erst ab dem Zeitpunkt der Rücknahme zu laufen beginnen. Vgl. BGH, MDR 2004, 1349. 68 Vgl. Wickel (Fußn. 11), § 75 Rn. 98; Dürr (Fußn. 11) § 75 Rn. 108. 69 Vgl. z. B. Art. 75 Abs. 4 BayVwVfG. 70 Vgl. §§ 18c Nr. 1 AEG; 17c Nr. 1 FStrG; 14c Nr. 1 WaStrG; 9 Abs. 5 S. 1 LuftVG; 2b Nr. 1 MBPlG; 43c Nr. 1 EnWG. 71 Hermanns (Fußn. 8), 719. Nach Schütz (Fußn. 8), 175, handelt es sich um eine Entscheidung mit planerischem Charakter. Solche Entscheidungen beruhen indessen auf einer Ermessensausübung. 72 Vgl. auch Hermanns (Fußn. 8), 719. 73 Vgl. Nr. 2 der in Fußn. 70 zit. Vorschriften oder Bestimmungen. Nicht erwähnt wird die Anhörung dagegen in § 9 Abs. 5 LuftVG.

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des bestandskräftigen Feststellungsbeschlusses oder der Plangenehmigung nicht mehr überprüft werden darf.74 Sodann bezieht sich der Verlängerungsantrag nur auf die Gründe, die für die Erlaubnis sprechen, mit der Durchführung des Plans später zu beginnen. Dies bedeutet zugleich, dass spätere Änderungen der Rechts- oder Sachlage (nach Unanfechtbarkeit der Planungsentscheidung) keine Berücksichtigung mehr finden sollen.75 In jedem Falle ist aber der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beachten, das heißt zwischen der Intensität der Belastung für die Planbetroffenen und den für die Verlängerung sprechenden Gründen abzuwägen. In der Regel sind zehn Jahre für den Beginn der Durchführung eines Plans ausreichend, so dass eine Verlängerung der Frist nur in Ausnahmefällen als verfassungskonform angesehen werden kann. Die Anhörung richtet sich nach § 73 VwVfG in Verbindung mit den sondergesetzlichen Bestimmungen der Fachgesetze76, setzt also grundsätzlich einen Erörterungstermin voraus77, während für Plangenehmigungen eine Erörterung in der Regel78 entbehrlich ist.

74

Vgl. auch BT-Drucks. 16/54, S. 34. Vgl. demgegenüber (vor Inkrafttreten der hier genannten Gesetze) OVG RP, DÖV 1985, 367 (368); Schütz (Fußn. 8) 176; Stoermer (Fußn. 8), 310. 76 Vgl. §§ 18a AEG; 17a FStrG; 14a WaStrG; 2 MBPlG; 43a EnWG. 77 Vgl. aber auch die §§ 18a Nr. 5 S. 1 AEG, 17a Nr. 5 S. 1 FStrG, 14a Nr. 5 S. 1 WaStrG; 2 Nr. 5 S. 1 MBPlG; 43a Nr. 5 S. 1 EnWG, wonach die Anhörungsbehörde auf eine Erörterung verzichten kann. 78 Vgl. aber auch § 17b Abs. 1 Nr. 5 FStrG. 75

Die Verfasste Studierendenschaft – eine unendliche Geschichte Von Max-Emanuel Geis, Erlangen I. Der Anlass: Die Gesetzesnovelle in Baden-Württemberg Eine der Hauptforderungen der neuen grün-roten Landesregierung in BadenWürttemberg neben der Abschaffung von Studierendenbeiträgen war die Wiedereinführung der Verfassten Studierendenschaft1. Schon ein halbes Jahr zuvor hatte auch die FDP-Fraktion einen – freilich deutlich kürzeren – Antrag mit diesem Ziel eingebracht2. Nun sind mit diesem Begriff eine Vielzahl von historischen und politischen Konnotationen verbunden3. Gerade der Jubilar dürfte in den Anfängen seiner Karriere als Professor in Augsburg noch mit den Nachwehen einer bewegten Zeit konfrontiert gewesen sein, ebenso wie der Autor, der als damaliger Student ebenda noch Vertreter des Marxistisch-leninistischen Studentenbundes (MSB) Spartakus in der Mensa bestaunen konnte. Genau genommen handelt es sich jedoch um ein Thema, das nicht erst – wie man meinen könnte – ein gutes halbes Jahrhundert alt ist, sondern letztlich bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht und in dem sich die jeweilige Zeitgeschichte widerspiegelt, von der Suche nach dem Nationalstaat über die Verteidigung der Grundrechte im Vormärz bis hin zu den legendären Studentenunruhen der späten sechziger und siebziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, mit denen sich der deutsche Staat doch merklich veränderte. II. Zur jüngeren Historie der Verfassten Studentenschaft Ursprünglich waren die Studentenschaften – der neuere Terminus „Studierendenschaft“ entspricht der Political Correctness – nach dem Ersten Weltkrieg als Selbsthilfeorganisationen gegründet worden, um die politischen und materiellen Belange

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Koalitionsvereinbarung zur 15. Legislaturperiode. LT-Drs. 15/1600. 3 Vgl. statt vieler Roellecke, Geschichte des Deutschen Hochschulwesens, in: Flämig u. a. (Hg.) Handbuch des Wissenschaftsrechts, 2. Aufl. 1996, Bd. 1, § 1; Thieme, Deutsches Hochschulrecht, 3. Aufl. 2004, 25. Kap., S. 681 ff.; Leuze, in: Hailbronner/Geis (Hg.), Hochschulrecht in Bund und Ländern, § 41 HRG (Stand 1999), passim; Wahlers, Die verfasste Studentenschaft als rechtliches und hochschulpolitisches Problem, NVwZ 1985, 804. 2

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der Studenten vertreten zu können4 – diese Zielrichtung teilen sie übrigens mit den im 19. Jahrhundert gegründeten Burschenschaften, die ursprünglich ebenfalls im Zeichen der Freiheit gegründet worden waren5 – aber auch, um nach dem verlorenen Krieg am kulturellen und wirtschaftlichen Aufbau Deutschlands mitzuwirken6. Erst in der Demokratisierungswelle der späten 60er und der 70er Jahre des vergangenen Jahrhunderts7 erfuhr der Begriff seine dezidiert politische Aufladung – und wurde zugleich von den als rückwärtsgewandten und als anti-demokratisch angesehenen Burschenschaften abgegrenzt. Die Verfasste Studierendenschaft in der hier verfolgten Gestalt wurde zu einem der am heftigsten umkämpften Begriffe jener Zeit8. Sie ist Frucht der zunehmenden Politisierung der Studentenschaft als Reaktion auf die späte, als „erstarrt“ geltende Adenauer-Ära und die Zeit der „ersten“ Großen Koalition 1966 – 1969. Infolgedessen zeigte diese Erscheinung eine starke Konvergenz zur damaligen APO und suchte, eine Plattform für allgemeinpolitische Stellungnahmen zu bieten, die auch extensiv wahrgenommen wurde9. Letztlich wurde diese Forderung durch die „drittelparitätische“ Beteiligung der Studierenden in der neuen Gruppenuniversität kanalisiert; im damaligen, 1976 in Kraft getretenen Hochschulrahmengesetz war die Verfasste Studentenschaft allerdings – dem Charakter eines Rahmengesetzes nach Art. 75 GG a.F. entsprechend – auf Intervention des Bundesrates, der den Vermittlungsausschuss angerufen hatte10, nur noch als KannBestimmung enthalten (§ 41 Abs. 1 HRG). Genau genommen war diese mit immer kehrender Verve erhobene Forderung eine Art Stellvertreterkrieg zwischen dem schwarzen und dem roten Lager. Im Laufe der Zeit wurde die Verfasste Studentenschaft in den meisten Ländern eingeführt; in den Ländern der „Südschiene“ wurde sie hingegen in der Zeit nach den Studentenunruhen abgeschafft: in Bayern 1973, in Baden-Württemberg 197711. Als altes sozialdemokratisches „Herzblutpostulat“ 4 Roellecke (Fußn. 3); Thieme (Fußn. 3), Rn. 934; Leuze, in: Hailbronner/Geis (Fußn. 3), Rn. 2; Peters/Schulte, Art. 2 Abs. 1 GG und das begrenzte Mandat verfasster Studentenschaften, WissR 36 (2003), 325 (327); Wahlers, Die verfasste Studentenschaft als rechtliches und hochschulpolitisches Problem, NVwZ 1985, 804. 5 Insbesondere aus dem Geist der Freiheitskriege gegen die Napoleonische Hegemonie. Vgl. auch Thieme (Fußn. 3), Rn. 933. 6 So ausdrücklich die „Verordnung über die Bildung von Studentenschaften an den preußischen Hochschulen“ v. 18. 9. 1920, in: Zentralblatt für die preuß. Unterrichtsverwaltung 1921, 8. 7 Vgl. statt vieler Geis, WissR 2007, Beiheft 18, 9. Vgl. auch unten Fußn. 21. 8 Exemplarisch zur damaligen Kontroverse Rupp/Geck, Die Stellung der Studenten in der Universität, VVDStRL 28 (1969), 113 ff./143 ff. 9 Z. B. im Fall Benno Ohnesorg. 10 Zum langwierigen Gesetzgebungsverfahren Dallinger, in: ders./Bode/Dellian (Hg.), Hochschulrahmengesetz, Rn. 1; Leuze, in: Hailbronner/Geis (Hg.), Hochschulrecht in Bund und Ländern, Bd. 1, § 41 HRG (Stand 1999); Dokumentation bei Freund, in: Hailbronner/Geis (Hg.), Hochschulrecht in Bund und Ländern, Bd. 2, Teil 5 (Stand 1999), 14 ff. 11 Art. 61 BayHSchG 1973 (GVBl. 679); § 139 Abs. 1 b.-w. Gesetz über die Universitäten vom 22. 11. 1977 (GBl., 473).

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hatte die damalige Bundesbildungsministerin Bulmahn einen letzten Anlauf unternommen, die Verfassten Studierendenschaften durch das 6. HRGÄndG 200212 in § 41 Abs. 1 Satz 1 HRG n.F. doch noch als verbindliches Bundesrecht vor- und festzuschreiben und dabei in § 41 Abs. 1 Satz 3 HRG auch ein allgemeinpolitisches Mandat einzuschmuggeln – bekanntlich scheiterte dieses Lieblingsvorhaben der Ministerin wiederum an den Ländern, diesmal aber mit einem deutlich krachenderen Ergebnis, da das BVerfG mit seinem Normenkontrollurteil vom 26. 01. 200513 das gesamte 6. HRGÄndG mangels Gesetzgebungskompetenz des Bundes nach Art. 72 Abs. 2 GG für nichtig erklärte. Freilich war das Gericht damit in der komfortablen Lage, weder ein abschließendes Urteil über die Zulässigkeit verfasster Studierendenschaften noch über das allgemeinpolitische Mandat fällen zu müssen. Vielmehr blieb es bei § 41 HRG a.F., der allerdings wie das ganze Gesetz wegen der Föderalismusreform weitgehend im juristischen Niemandsland verschwand. Unter diesem Gesichtspunkt mutet es schon fast sentimental, ja anachronistisch an, wenn dieses Projekt nach dem Marsch durch die Instanzen im Zeitalter der ökonomisierten Hochschule doch noch einmal in Angriff genommen wird. III. Verfassungsrechtliche Vorgaben Die Verfasste Studierendenschaft ist regelmäßig als Gliedkörperschaft der Hochschule konstituiert und bildet als solche eine Zwangskörperschaft. Die rechtliche Zulässigkeit von öffentlich-rechtlichen Zwangskörperschaften im Allgemeinen14 und der Verfassten Studierendenschaft15 im Besonderen war vor und während der Zeit der Studentenunruhen noch lebhaft bestritten16, ist aber als solche im Grundsatz seit langem anerkannt. Bekanntlich wird sie zwar als Einschränkung des durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützten Rechts, von der Mitgliedschaft in einem Zwangsverband verschont zu bleiben, betrachtet, regelmäßig aber als durch die sachgerechte „Wahrnehmung legitimer öffentlicher Aufgaben“ als gerechtfertigt angesehen.17 Le12

BT-Drs. 14, 602. BVerfGE 111, 226 ff. 14 BVerfGE 10, 89 (102 ff.) – Erftverband; 10, 354 (361 f.) – Bayerische Ärzteversorgung; 11, 105 (126) – Familienausgleichskasse; 12, 319 (323) – Versorgungsanstalt der Arztberufe in BW; 15, 235 (239) – IHK; 38, 281 (297 f.) – Arbeitnehmerkammer; BVerwGE 27, 228 (230) – Versorgungsanstalt der Bezirksschornsteinfeger; 32, 308 (311 f.) – studentische Krankenversorgung; 39, 100 (102 ff.) – Landesärztekammer; 39, 110 (115) – Landeszahnärztekammer; 107, 169 (172 f.) – IHK II. Aus der Lit. stellv. für viele Ziekow, Vereinigungsfreiheit, in: Merten/Papier (Hg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. IV, 2012, § 107 Rn. 24 m.w.N. 15 BVerwGE 34, 69; 59, 231 (233); OVG Berlin NVwZ-RR 2004, 348; Sachsen-Anhalt, B. v. 6. 6. 2006, juris. Wohlers, Die verfaßte Studentenschaft als rechtliches und hochschulpolitisches Problem, NVwZ 1985, 804 ff. 16 H. H. Rupp, Die Stellung der Studenten in der Universität, VVDStRL 27 (1969), S. 113 ff. (116) m. weit. Nachw.; vgl. auch noch VG Sigmaringen NJW 1975, 1912. 17 BVerwGE 59, 231 (236 f.); Peters/Schulte, WissR 36 (2003), 329. 13

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gitime öffentliche Aufgaben sind nach dem Bundesverfassungsgericht solche, „an deren Erfüllung ein gesteigertes Interesses der Gemeinschaft besteht, die aber so geartet sind, dass sie weder im Wege privater Initiative wahrgenommen werden können, noch zu den im engeren Sinn staatlichen Aufgaben gerechnet werden können.“ Daran gemessen stellt sich die ketzerische Frage, worin eigentlich der Mehrwert der Studierendenschaft gegenüber privatrechtlichen Verbänden liegen kann. Die Zulässigkeit ergibt sich – speziell im deutschen Rechtskreis – wohl eher aus traditionellen Erwägungen hinsichtlich einer liebgewordenen Zwangskörperschaft. IV. Zur Reichweite des sog. „hochschulpolitischen Mandats“ Eine längst geschlagene Schlacht dürfte auch die Frage nach der Reichweite des Mandats einer Verfassten Studierendenschaft darstellen. Nach ganz h.M. ist ein „allgemeinpolitisches Mandat“, d. h. die Möglichkeit zu allen möglichen politischen Themen (wie etwa aktuell dem Afghanistaneinsatz der Bundeswehr, dem Vorgehen der USA im Irak, der Behandlung von Julia Timoschenko in der Ukraine oder der Einhaltung der Menschenrechte in China samt Kritik am Imperialismus, Kapitalismus oder Extremismus jeder Art) Stellung zu nehmen, unzulässig18. Darunter fällt auch die Unterstützung von durch Dritte geäußerten Meinungen und Forderungen sowie der Beitritt der Studierendenschaft zu Organisationen, die ihrerseits ein allgemeinpolitisches Mandat beanspruchen und entsprechende Aktivitäten entfalten; dies gilt gleichermaßen für eine institutionelle Mitarbeit, Geld- oder Sachzuwendungen19. Stattdessen muss der Bezug zu den Verbandsaufgaben stets deutlich bleiben. Von daher besteht zwar Einigkeit, dass das Mandat einer Verfassten Studierendenschaft auf hochschulpolitische Aufgaben beschränkt ist. Dem schließt sich wohl (oder übel) auch der vorliegende Gesetzesentwurf an, allerdings nicht im Normtext des § 65, der notabene nur von einem „politischen Mandat“ spricht; nur in der Begründung wird das allgemeinpolitische Mandat abgelehnt und ein hochschulpolitisches (fast penetrant) betont20. Doch gibt es bezüglich deren Reichweite zwei deutlich divergierende und eine dritte, um Ausgewogenheit bemühte Richtung. Die restriktive, vor allem von der konservativen Seite des Schrifttums und der Rechtsprechung vertretene Ansicht beschränkt das hochschulpolitische Mandat auf die spezifischen studentischen 18

BVerwGE 34, 69 (73); 59, 231 (238 f.); 12.5.1999 – 6 C 14.98 ungeklärt durch BVerfG NVwZ 1998, 1286 (Kammerbeschluss). VerfG NRW DVBl. 2000, 699 ff.; OVG Münster DVBl. 1995, 433; OVG Bremen, NVwZ 1999, 211 ff.; OVG Berlin NVwZ-RR 2001, 99 ff., sowie das ganz überw. Schrifttum. A.A. etwa Ridder/Ladeur, Das sog. Politische Mandat von Universität und Studentenschaft, 2. Aufl. 1976, 11; Keller, Hochschulreform und Hochschulrevolte, Diss. Marburg, 2000, 220. 19 HessVGH NVwZ-RR 1991; OVG Bremen NVwZ 1999, 211 f.; OVG Berlin NVwZ 2004, 348 ff.; Reich, HRG, 8. Aufl. 2003, § 41 Rn. 5; Horst, in: Leuze/Epping (Hg.), HG NRW, Stand 2001, § 72 Rn. 26. 20 LT-Drs. 15/1600, S. 24, 33, 34.

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Belange, insb. die Verbesserung der Lehr- und Studiersituation21. Im Gegenzug hat das weite Verständnis seine Wurzeln in der „Demokratieeuphorie“ der Ära Brandt („Demokratisierung der Gesellschaft“ auf allen Ebenen, eben auch der der Hochschule22), und wird daher konsequenterweise v. a. von roten und rot-grünen Regierungen und eben auch von der neuen grün-roten Koalitionsmehrheit in Baden-Württemberg verfochten23. Es bezieht neben der Lehre auch ein Beteiligungsrecht im Bereich der Forschung mit ein und möchte neben der allgemeinen Erziehung zur Demokratie die Gesichtspunkte der Folgenverantwortung gegenüber Gesellschaft und Umwelt ausdrücklich in den Diskurs aufnehmen24. So heißt es wörtlich im Gesetzesentwurf: „Die Studierendenschaft kann zur Erfüllung ihrer Aufgaben auch zu solchen Fragen Stellung beziehen, die sich mit der gesellschaftlichen Aufgabenstellung der Hochschule (nb. im Singular, der Verfasser), ihrem Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung und der Abschätzung ihrer Folgen für die Gesellschaft und die Natur beschäftigen.“25 Genau genommen ist alles das, womit sich eine Hochschule inhaltlich befasst (und das ist wegen der verfassungsrechtlich garantierten Wissenschaftsfreiheit prinzipiell unbegrenzt), eine „hochschulpolitische Angelegenheit“. Damit kann und soll – im Sinne einer „Brückenschlagtheorie“26 – der Weg zur Diskussion etwa zur friedlichen Nutzung der Kernenergie, zu „Stuttgart 21“, ebenso wie zur Umweltverschmutzung und Klimaerwärmung geschaffen werden. Es liegt auf der Hand, dass der „wissenschaftspolitische Bezug“ solchermaßen zu einer Blankettformel mutiert, die es gestattet, ohne genaue Abgrenzbarkeit nahezu beliebig auf alle möglichen Themen zuzugreifen; der hochschulpolitische Bezug deckt den allgemeinpolitischen Bezug fast völlig ab27. Diese Beliebigkeit stellt die Legitimation des Zwangsverbandes aber eindeutig in Frage. Nun hatte das Bundesverfassungsgericht in seiner Leitentscheidung vom 1. 3. 1978 die Reflexion über Folgenverantwortung bei verfassungskonformer 21

Redeker, DVBl. 1980, 569/571 – Urteilsanmerkung. Entsprechend dem Schlagwort „Bildung für alle“ (exemplarisch die Regierungserklärung von Willy Brandt vom 28. 10. 1969 sowie Dahrendorf, Bildung ist Bürgerrecht, 1968, 9 ff.). Dazu statt vieler Geis, Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum „Recht auf Bildung“ in den Jahren 1972 – 1977, WissR 2007 Beiheft 18, 9 (20 f.). 23 Einer der wichtigsten Protagonisten dieser Richtung ist Denninger, Das politische Mandat der Studentenschaft, Kritische Justiz 1994, 1 ff. 24 So zeigt Stock, Folgenreflexion in Hochschulen und Studentenschaften: Ein Grundsatzurteil des VerfGH NRW über Wissenstransfer, Folgenverantwortung und „politisches Mandat“, NWVBl. 2000, 325 ff., dass die gleichen Schlachten bereits 1996/97 in NordrheinWestfalen geschlagen wurden. 25 bwLT-Drs.15/1600, S. 24 f., S. 34. 26 Zur sog. „Brückenschlagtheorie“ BVerwG 6 C 10.98, NVwZ 2000, 323; OVG NRW, U. v. 24.6.1994 – 25 A 637.94 – juris; OVG NRW NVwZ-RR 2001, 102; OVG Berlin NVwZRR 2004, 348 ff.; Peters/Schulte, WissR 36 (2003), 325 (337). 27 Wie hier Thieme (Fußn. 3), Rn. 951. Ein typisches Beispiel einer solchen „begriffsvertauschenden“ Argumentation findet sich bei Becker, in: Denninger (Hg.), § 41 Rn. 21, dem es gelingt, ohne Probleme den Bezug zu Auschwitz und der Vietnam-Resolution des Konvents der FU Berlin von 1968 herzustellen. Vgl. auch Denninger, Das politische Mandat der Studentenschaft, KJ 1994, 1 ff. 22

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Auslegung als mit dem Grundgesetz für vereinbar erklärt28. Indes bezog sich die Entscheidung auf die Herausarbeitung immanenter Schranken für die Wissenschaftsfreiheit nach Art. 5 Abs. 3 GG des einzelnen Wissenschaftlers. Aus einer immanenten Grundrechtsschranke kann jedoch nicht ohne weiteres eine zulässige Aufgabe eines Zwangsverbandes hergeleitet werden, der in der Regel zu einem bestimmten Zweck begründet wird. Einen dritten, vermittelnden Weg hat der VGH Kassel beschritten. Da die Äußerung im Rahmen einer öffentlich-rechtlichen Zwangskörperschaft jedenfalls nicht vom Grundrecht der Meinungsäußerungsfreiheit gedeckt ist29 – es fehlt insofern an der grundrechtstypischen Gefährdungslage eines Individuums – unterliegen die Äußerungen einem Mäßigungsgebot, das diffamierende, einseitig dominierende und überzogene Kritik verbietet sowie die Pluralität der Studierendenschaft und die Chancengleichheit unter verschiedenen Gruppierungen zu achten hat30. Diese Entscheidung verdient Zustimmung, weil sie deutlich macht, dass die Rechtsmacht eines öffentlich-rechtlichen Zwangsverbandes und die für seine Mitglieder begründbaren Pflichten eben auch nur um den Preis der Anerkennung und Beachtung der öffentlich-rechtlichen Bindungen dieser speziellen Form mittelbarer Staatsverwaltung zu haben sind31. V. Die Austrittsklausel Einen bislang neuen Weg ist das Hochschulgesetz des Landes Sachsen-Anhalt gegangen: es sieht in § 65 vor, dass der/die Studierende nach einer Mindestzeit von einem Semester32 seinen/ihren Austritt erklären kann. Dies folgt letztlich einem Modell, das in mehreren Kantonen der Schweiz vertreten ist33 (wo die Studierenden allerdings nicht unmittelbar in die Selbstverwaltung der Hochschulen eingebunden sind) und wird auch von der Rechtsprechung ausdrücklich gebilligt34 ; ist nämlich eine uneingeschränkte Zwangsmitgliedschaft sogar unter dem Gesichtspunkt des Art. 2 Abs. 1 GG zulässige Grundrechtsbegrenzung, dann müsste eine eingeschränkte Zwangsmitgliedschaft mit Austrittsrecht erst recht a maiore ad minus35 zulässig sein. Indes könnte man im Sinne der Erforderlichkeit fragen, ob der Sinn und Zweck einer „Studentenschaft“ nur dadurch erreicht werden kann, dass möglichst alle Betroffenen auch mit an der Entscheidung beteiligt sind, also einerseits als Ap28

BVerfGE 47, 327 (370, 376). BVerwGE 59, 231 (239). 30 HessVGH, B. v. 19.7.2004 – 8 TG 107/04, WissR 37 (2004), 359 (362). 31 Thieme (Fußn. 3), Rn. 964. 32 Ursprünglich von einem Jahr, LT-DRS 4/1149, v. 13. 11. 2003, S. 115 f. 33 Vgl. exemplarisch Art. 31 Abs. 1 Satz 2 des Universitätsgesetzes Bern v. 5. 9. 1996 (BSG 101.1) und § 23 Abs. 1 Satz 2 des Universitätsgesetzes Luzern v. 17. 1. 2000 (Kantonsblatt Nr. 3 v. 22. 1. 2000). 34 OVG Sachsen-Anhalt, B. v. 6. 6. 2006, 3 M 65/06 – juris. 35 Zum a-maiore-ad-minus-Schluss vgl. die Verweise bei Engisch/Würtenberger, Einführung in das juristische Denken, 9. Aufl. 1997, S. 197 Rn. 48. 29

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pell an die Solidarität aller fungiert, andererseits dem abgabenrechtlichen Prinzip der gleichen Lastenverteilung36 folgt. Ähnliche Überlegungen finden sich etwa im Recht der Kommunalabgaben, wo ein Austritt „aus der Gemeinde“ ohne Wegzug auch nicht möglich ist. Im Gegensatz zur Verfassten Studierendenschaft ist freilich die Zwangskörperschaft Gemeinde als zentrales Element des Staatsaufbaus in Art. 28 Abs. 2 GG selbst vorgesehen. Auch ist die ausnahmslose Einbeziehung aller Bürger infolge der zwingend zu erbringenden, ganz anders dimensionierten Leistungen, vor allem im Bereich der Daseinsvorsorge, auch rein faktisch notwendig. Auch der Gesichtspunkt der Solidarität darf nicht überstrapaziert werden: Ein unverzichtbares Minimum wird schließlich durch die Mindestdauer der Mitgliedschaft erreicht. Im Ergebnis dürfte die Sachsen-Anhaltinische Lösung daher unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten unproblematisch sein. Ob sie die optimale ist, bleibt dahingestellt; insbesondere stellt sich hier die Frage möglicher Trittbrettfahrer-Effekte37, die aber auch aus anderen Rechtsgebieten wie dem kollektiven Arbeitsrecht bekannt ist. Freilich hat das OVG Sachsen-Anhalt ein interessantes Junktim zwischen der Reichweite des hochschulpolitischen Mandats hergestellt: Eine uneingeschränkte Zwangsmitgliedschaft ist danach nur zulässig, wenn sich die Aufgabe der Verfassten Studierendenschaft auf studentische Belange im engeren Sinne bezieht; kann bzw. soll sie sich dagegen im Sinne der Brückenschlagtheorie auf ein „weites“ hochschulpolitisches Mandat erstrecken, ist sie wegen der inhaltlichen Unbestimmtheit nur verhältnismäßig i. e.S., wenn gleichzeitig ein Austrittsrecht aus dem Zwangsverband vorgesehen ist38. Auch diese Entscheidung verdient Zustimmung, weil sie verhindert, dass eine breite Mehrheit durch eine vergleichsweise kleine Minderheit dominiert werden kann. Das Argument, dass es ja die Studierenden in der Hand haben, durch wen sie repräsentiert werden wollen, übersieht, dass die verschiedenen Studiengänge unterschiedlich viel Raum für eine politische Betätigung der Studierenden lassen. So ist es eine nicht zu bestreitende Tatsache, dass die Einführung der deutlich lernintensiveren Bachelor- und Master-Studiengänge im Zeichen der sich auch insoweit als Rohrkrepierer erweisenden Bologna-Reform den Anreiz zu Tätigkeiten, die über die Aneignung reinen Fachwissens hinausgehen, deutlich verringert haben. VI. Terminologisch-Systematisches Schließlich sei noch auf eine weitere Fehlentwicklung hingewiesen, die sich allerdings in fast allen Landesrechten findet, die die Verfassten Studierendenschaften 36 Vgl. Sachs, Gleichheitssatz in Teilrechtsordnungen, in: Isensee/Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. I, § 127, Rn. 9 ff. m.weit. Nachw. in Fußn. 32. 37 Der Begriff entstammt der Lehre von den kollektiven Gütern; vgl. Arnold, Theorie der Kollektivgüter, 1992, 100. 38 OVG Sachsen-Anhalt, B. v. 6.6.2006 – 3M 65/06, Rn. 7. Ebenso Reich, Die verfasste Studentenschaft, WissR 1996, S. 161 (176).

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eingeführt haben, nämlich die Bezeichnung als Studenten- bzw. (gendermäßig korrekt) als Studierendenparlament. Da sich der Begriff des Parlaments geschichtlich eindeutig als Bezeichnung für ein legislatives Organ des Volkes – also als Synonym für die Erste Gewalt – herausgebildet hat39, ist es nicht sachgerecht, ihn für jenes Organ im Text eines formellen Gesetzes (Art. 3 § 2, § 3 Abs. 1, passim) und in seiner Begründung den Begriff eines Studentenparlaments zu verwenden. Auch diese Begriffsverwendung entstammt der Demokratisierungswelle der 70er Jahre und steht ideologisch im weitesten Fall für jedwede Möglichkeit, in allfälligen Entscheidungsprozessen mitzureden. Sie findet sich sogar prominent in damaligen Kommentaren40. Damit wird suggeriert, dass es sich bei dem Kollektivorgan um ein originäres Organ der Legislative, bei der Stellung der gewählten Studierenden um ein freies Mandat, bei ihrer Tätigkeit um ein von Indemnität geschütztes Amt handelt41. Der gleiche Effekt wird durch zahlreiche Bezugnahmen auf das Recht der „echten“ Gesetzgebungsorgane (z. B. die Figur des „Alterspräsidenten“, die bei der durchweg jüngeren Studierendenschaft aber eher unfreiwillig komisch erscheint) erzielt. Tatsächlich stellen aber solche Kollektivorgane stets einen Teil der Exekutive42 dar, wie insbesondere auch der Gemeinderat43 oder der Senat von Hochschulen44. Die ebenfalls gelegentlich zu lesende, aber irrige Bezeichnung des Gemeinderats als „Gemeindeparlament“ bestätigt diesen Befund nur. Dass es sich indes nicht nur um einen einmaligen terminologischen „Ausrutscher“ handelt, zeigt der aktuelle Gesetzesentwurf in BadenWürttemberg mit seiner Verwendung der Bezeichnung „legislatives Kollegialorgan“ in ausdrücklicher Gegenüberstellung zum „exekutiven Organ“45. Die Unreflektiertheit der im genannten Gesetzentwurf verwendeten Terminologie tritt schließlich darin zutage, wenn es wörtlich heißt, dass „an kleineren Hochschulen (…) bestimmt werden kann, dass das exekutive Organ als eine Art Ausschuss Teil des legislativen Organs“46 sein kann. In diese Formulierung ist ein gravierender Verstoß gegen den Grundsatz der Gewaltenteilung schon verbal eingebaut. Es verfehlt aber wohl den Sinn des Gesetzes, wenn zwar die politische und demokratische Bildung der Studierenden durch die Einbeziehung in eine Verfasste Studierendenschaft stimuliert wer-

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Brenner, Das Prinzip Parlamentarismus, in: Isensee/Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, 3. Aufl. 2005, § 44 Rn. 30, 45; vgl. auch Benda, in: ders./Vogel/Maihofer, Handbuch des Verfassungsrechts, 2. Aufl. 1994, § 17 Rn. 39. Auch das BVerfG versteht Parlament und Legislative als Erste Gewalt als Synonyme; prägnant dazu BVerfGE 68, 1 (87). 40 Becker, in: Denninger (Hg.), Hochschulrahmengesetz, 1984, § 41 Rn. 1, 7. 41 Becker (Fußn. 40), Rn. 7. 42 Ebenso Thieme (Fußn. 3), Rn. 957, unter Bezug auf OVG Berlin NVwZ-RR 2002, 841 f. 43 Geis, Kommunalrecht, 2. Aufl. 2011, § 11 Rn. 11; Vogelgesang/Lübking/Ulbrich, Kommunale Selbstverwaltung, 3. Aufl. 2005, Rn. 134. 44 Missverständlich Herberger, in: Haug (Hg.), Das Hochschulrecht in Baden-Württemberg, 2. Aufl. 2009. 45 LT-Drs. 15/1600, S. 35 (zu Absatz 3 Sätze 2 und 3). 46 LT-Drs. 15/1600, S. 35 (zu Absatz 3 Satz 6).

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den soll47, wichtige Trennlinien unseres parlamentarischen Systems aber in leichtfertiger Weise nivelliert werden. Gänzlich geschichtsblind und völlig unpassend ist schließlich, für die fakultative Gestaltung der Binnenorganisation der Verfassten Studierendenschaft in der Begründung ein „Parlamentsmodell“ und ein „Rätemodell“ gegenüberzustellen48, hat sich doch das (vormals von der USPD nach sowjetischem Muster favorisierte) Rätemodell sowohl in der frühen Weimarer Republik als auch in der Ersten Bayerischen Republik von 1919 gänzlich ad absurdum geführt49. Der überraschende Rekurs auf diese Organisationsform dürfte wegen der damit verbundenen nicht unblutigen Konnotationen für die Entwicklung eines demokratischen Bewusstseins eher kontraproduktiv sein. Vor allem aber ist ein Rätemodell (das nach gängiger Ansicht mit einem imperativem Mandat einhergeht) nach der immer noch, wenngleich im Verborgenen blühenden, geltenden Regelung des § 41 Abs. 4 i.V.m. § 37 Abs. 2 HRG definitiv unzulässig. Sofern allerdings von einem imperativen Mandat Abstand genommen werden soll, ist die gewählte Terminologie im höchsten Maße verwirrend. VII. Fazit Die Wiedereinführung der Verfassten Studierendenschaft in Baden-Württemberg ist zweifellos von einem guten Vorsatz getragen und insofern bestimmt mit der Landesverfassung und dem Grundgesetz vereinbar. Anlass für grundstürzende Debatten – wie einst – bietet er kaum, auch wenn man konstatieren muss, dass die Verfasste Studierendenschaft heutzutage eine eher anachronistische Erscheinung ist. Allerdings weist der Gesetzentwurf größere Ungenauigkeiten und Unstimmigkeiten auf, die in dieser Form den Verwaltungsvollzug belasten werden; insbesondere werden die Hochschulleitungen eine „wirksame Rechtsaufsicht“50 bei der Wahrnehmung des hochschulpolitischen Mandats wahrnehmen müssen. Insofern werden sich die alten Probleme der 70er und 80er Jahre wiederholen – beste Aussichten für eine „unendliche Geschichte“51.

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LT-Drs. 15/1600, S. 24, sub I 2. LT-Drs. 15/1600, S. 35 (zu Absatz 2). 49 Dazu Kotulla, Deutsche Verfassungsgeschichte, 2008, Rn. 2250 f.; Kroeschell, Rechtsgeschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert, 1992, S. 40; Gmür/Roth, Grundriss der deutschen Rechtsgeschichte, 13. Aufl. 2011, Rn. 445. 50 Das Erfordernis einer „wirksamen Rechtsaufsicht“ gegenüber Selbstverwaltungskörperschaften zur Wahrung der demokratischen Legitimationskette betont BVerwGE 135, 286 ff. (Ls. 4); dazu Geis, in: Merten/Papier (Hg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. IV, § 100 Rn. 36. 51 Immerhin führte die Anhörung im Bad.-Württemb. Landtag am 25. 5. 2012 zu einer umfassenden Durchsicht des Entwurfs, ohne jedoch an den grundsätzlichen Einwänden viel zu ändern. 48

Städtische Kulturarbeit – eine Pflichtaufgabe auch unter den Bedingungen leerer Kassen? Von Johannes Hellermann, Bielefeld* I. Einleitung Auch wenn der Kulturpolitik jüngst polemisch vorgehalten worden ist, daß von allem zu viel und überall das Gleiche hervorgebracht werde1; darüber, daß städtische Kulturarbeit wichtig und förderungswürdig ist, besteht wohl weitgehende Einigkeit. Zugleich läßt sich kaum bestreiten, daß die Städte – bei allen Unterschieden im einzelnen – allgemein unter Finanzknappheit leiden; die Haushaltsnotlage zahlreicher Kommunen in Nordrhein-Westfalen2, das insofern zu den besonders betroffenen Bundesländern zählt, belegt das. Beide Feststellungen stehen in der kommunalen Lebenswirklichkeit in einer unerfreulichen Spannungslage. Kommunale Kulturpolitiker klagen darüber, daß in Zeiten knapper Kassen gerade die Kulturarbeit hinter anderen, insbesondere hinter pflichtigen kommunalen Aufgaben zurücktreten muß und auf der Strecke bleibt. Zuschußkürzungen, Pläne zur Zusammenlegung oder Schließung von Stadttheatern und Opernhäusern bestätigen diese Befürchtung. Solchen Maßnahmen und Planungen wird mitunter die These entgegengehalten, die Kulturtätigkeit und die Kulturförderung seien eine Pflichtaufgabe der Städte, die auch bei knapper Kassenlage wahrgenommen und folglich auch finanziert * Der vorliegende Beitrag, der durch ein vom Verf. erstelltes Rechtsgutachten angeregt worden ist, ist Thomas Würtenberger als einem Autor gewidmet, der sich immer wieder kulturellen Aspekten des Verfassungslebens, gelegentlich aber auch Fragen der Kommunalfinanzen gewidmet hat. 1 Vgl. Haselbach/Klein/Knüsel/Opitz, Der Kulturinfarkt: Von Allem zu viel und überall das Gleiche. Eine Polemik über Kulturpolitik, Kulturstaat, Kultursubvention, 2012. 2 Der Haushaltsstatus der Kommunen in Nordrhein-Westfalen zum 31. Dezember 2011 ergab folgende Zahlen: 11 Kommunen mit sog. echtem Haushaltsausgleich (§ 75 Abs. 2 S. 2 GO NRW), 123 Kommunen mit sog. fiktivem Haushaltsausgleich (vgl. § 75 Abs. 2 S. 3 GO NRW), 119 Kommunen mit genehmigter Verringerung der allgemeinen Rücklage zum Zweck des Haushaltsausgleichs (vgl. § 75 Abs. 4 GO NRW), 33 Kommunen mit genehmigungsfähigem Haushaltssicherungskonzept (vgl. § 76 Abs. 2 S. 3 GO NRW) und 144 Kommunen mit nicht genehmigungsfähigem Haushaltssicherungskonzept, davon 42 mit drohender Überschuldung (vgl. http://www.mik.nrw.de/fileadmin/user_upload/Redakteure/Dokumente/Themen_und_Aufgaben/Kommunales/kommunale_finanzen/111231hskgrafiken.pdf, abgerufen am 19. Juni 2012).

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werden müsse. Der Tragfähigkeit dieser These soll im folgenden nachgegangen werden. Dies geschieht auf zwei Ebenen, zunächst mit Blick auf die rechtliche Qualität der Aufgabe der kommunalen Kulturarbeit (II.) und sodann mit Blick auf die Finanzierungsspielräume für die Wahrnehmung dieser Aufgabe in Situationen der Haushaltsnot (III.), um am Ende die Überlegungen in einer kurzen Schlußbemerkung (IV.) zusammenzuführen. II. Kulturarbeit als kommunale Aufgabe 1. Kulturarbeit als Selbstverwaltungsaufgabe Örtlich radizierte, städtische Kulturarbeit ist fraglos eine verfassungsrechtlich garantierte Selbstverwaltungsaufgabe3. Sie zählt zu den von Art. 28 Abs. 2 S. 1 GG erfaßten Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft. Darunter fallen nach der bekannten Definition des Bundesverfassungsgerichts im grundlegenden RastedeBeschluß „diejenigen Bedürfnisse, die in der örtlichen Gemeinschaft wurzeln oder auf sie einen spezifischen Bezug haben, die also den Gemeindebürgern gerade als solchen gemeinsam sind, indem sie das Zusammenleben und -wohnen der Menschen in der (politischen) Gemeinde betreffen.“4 Beide in dieser Definition angesprochenen Begründungsansätze können die Einbeziehung der städtischen Kulturarbeit rechtfertigen. Sie kann zum einen, etwa in Gestalt der Pflege heimischer Denkmale oder der Förderung des kulturellen Heimaterbes, in der jeweiligen örtlichen Gemeinschaft der Gemeinde wurzeln5. Zum anderen hat sie regelmäßig einen besonderen Bezug auf die örtliche Gemeinschaft, auf das Zusammenleben der Menschen in der Gemeinde. Dies hat die vom Deutschen Bundestag eingesetzte Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ in ihrem 2007 vorgelegten Schlußbericht treffend zum Ausdruck gebracht: „Es gibt kaum einen anderen Bereich der Kommunalverwaltung, der einen solchen Bezug zum jeweiligen örtlichen Lebenszusammenhang hat wie die kommunale Kulturverwaltung. Die gemeindliche Öffentlichkeit kann als eine ,kulturelle Öffentlichkeit‘ auch angesichts der Vielfalt und Widersprüchlichkeit der Lebensweisen dazu beitragen, einen Interessenzusammenhang herzustellen und eine kommunale und regionale Identität zu fördern.“6

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Vgl. etwa Scheytt, Kommunales Kulturrecht, 2005, Rn. 99 ff.; Tettinger/Schwarz, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Bd. 2, 6. Aufl. 2010, Art. 28 Rn. 208; Schönenbroicher, in: Heusch/Schönenbroicher, Die Landesverfassung Nordrhein-Westfalen. Kommentar, 2010, Art. 78 Rn. 24; Hellermann, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, 15. Edition, Stand: 1. Juli 2012, Art. 28 Rn. 41.3; Sommermann, VVDStRL 65 (2006), 7 (35); Steiner, § 86. Kultur, in: Isensee/Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 4, 3. Aufl. 2006, Rn. 21. Dezidiert in diesem Sinne etwa Häberle, Kulturpolitik in der Stadt – ein Verfassungsauftrag, 1979, S. 23. 4 BVerfGE 79, 127 (151 f.). 5 Pappermann, DVBl. 1980, 701 (702). 6 BT-Drs. 16/7000, S. 56.

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2. Kulturarbeit als kommunale Pflichtaufgabe? Mit der Feststellung, daß die Städte eigenverantwortlich Kulturarbeit leisten dürfen, ist freilich für das anstehende Problem noch nicht viel gewonnen. Denn dieses Recht wird als solches nicht eigentlich in Frage gestellt. Vielmehr wird die Wahrnehmung dieses Rechts durch unzureichende Finanzmittel gefährdet. Dies hat schon in früheren Jahren die Frage aufgeworfen, ob es sich bei der Kulturarbeit nicht um eine Selbstverwaltungsaufgabe handelt, die die Städte wahrnehmen müssen und die deshalb auch finanziell zureichend ausgestattet werden muß. Gerade mit Blick auf die Finanzierungsebene ist verschiedentlich der Pflichtcharakter der Aufgabe kommunaler Kulturarbeit vertreten worden7; prominent hat etwa die schon erwähnte Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ formuliert: „Kultur ist … generell eine pflichtige Selbstverwaltungsaufgabe.“8 a) Kulturarbeit als gesetzliche Pflichtaufgabe der Städte Auf einfachgesetzliche Regelungen läßt sich diese These allerdings nur in sehr begrenztem Umfang stützen. Spezialgesetzliche Regelungen begründen nur auf wenigen Feldern kommunale Pflichtaufgaben9. Sie finden sich namentlich auf den Feldern der Weiterbildung10, des Archivwesens11 oder der Denkmalpflege12. Eine allgemeine, umfassende gesetzliche Verpflichtung der Kommunen zu Kulturförderung und Kulturtätigkeit kennt das einfache Gesetzesrecht regelmäßig nicht. Eine Ausnahme bildet, jedenfalls dem ersten Anschein nach, das Kulturraumgesetz des Landes Sachsen (SächsKRG), das in § 2 Abs. 1 SächsKRG bestimmt: „Im Freistaat Sachsen ist die Kulturpflege eine Pflichtaufgabe der Gemeinden und Landkreise.“ An diese Proklamation einer kommunalen Pflichtaufgabe werden jedoch keine wesentlichen rechtlichen Folgen geknüpft; der eigentliche Regelungsgehalt des Gesetzes liegt in der Begründung von Kulturräumen, die (mit Ausnahme der sog. urbanen Kulturräume nach § 1 Abs. 4 SächsKRG) überörtliche Zweckverbände sind, und in der Ausgestaltung der Förderung von kulturellen Einrichtungen und Maßnahmen über diese Kulturräume. In den anderen Ländern findet sich die einzige gesetzliche Regelung, die die kommunale Kulturarbeit tatbestandlich umfassender und allgemein anspricht und auf die mitunter als einfachgesetzliche Grundlage einer Verpflichtung der Kommunen zur Kulturarbeit 7

Zu dieser Motivlage vgl. etwa Pappermann, DVBl. 1980, 701 (705). BT-Drs. 16/7000, S. 90. 9 So auch BT-Drs. 16/7000, S. 87. 10 Vgl. z. B. § 10 Abs. 1 Weiterbildungsgesetz NRW. 11 Vgl. z. B. §§ 1 Nr. 2, 10 Abs. 1 Archivgesetz NRW; § 7 LArchivG BW. 12 Vgl. z. B. §§ 1 Abs. 2, 22 Abs. 1 S. 1 Denkmalschutzgesetz NRW; § 1 Abs. 2 DSchG BW. 8

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verwiesen wird13, in den kommunalrechtlichen Vorschriften über die Schaffung von u. a. auch kulturellen Einrichtungen der Gemeinden (z. B. § 8 Abs. 1 GO NRW, § 10 Abs. 2 S. 1 Gemo BW). Diese Bestimmungen lassen den Kommunen freilich einen weiten Gestaltungsspielraum14 ; die Entscheidung, welche Einrichtungen im Einzelfall zu schaffen sind, bleibt der freien Entscheidung der Gemeinde im Rahmen ihres Selbstverwaltungsrechts überlassen15. Sie sind deshalb im Ergebnis keine hinreichend tragfähige Grundlage für die Annahme einer gesetzlich begründeten kommunalen Pflichtaufgabe16. b) Kulturarbeit als verfassungsunmittelbare Pflichtaufgabe? Mitunter wird freilich angenommen, daß „die Kulturarbeit sich ohne spezialgesetzliche Regelung … zur Selbstverwaltungspflichtaufgabe entwickelt“ habe17. Dann müßte sich der Pflichtcharakter kommunaler Kulturarbeit – in Ermangelung einfachgesetzlicher Rechtsgrundlagen – unmittelbar aus der Verfassung ableiten lassen. aa) Die Selbstverwaltungsgarantie als Grundlage kommunaler Pflichtaufgaben? Ein erster Anknüpfungspunkt soll hierfür die Garantie der kommunalen Selbstverwaltung in Art. 28 Abs. 2 S. 1 GG (und den korrespondierenden landesverfassungsrechtlichen Bestimmungen) sein. In diesem Sinne hat schon früher vor allem Pappermann angenommen, freiwillige kommunale Aufgaben könnten sich, gestützt auf die communis opinio der Gemeindebürger, zu pflichtigen Aufgaben entwickeln, und so habe sich – ebenso wie die Wasserversorgung, Abwasserbeseitigung und Straßenbenennung – auch die Kulturarbeit ohne spezialgesetzliche Regelung zur Selbstverwaltungs-Pflichtaufgabe entwickelt18.

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Vgl. etwa Pappermann, DVBl. 1980, 701 (705 f.). Ehlers, DVBl. 2009, 1456 (1457); Schoch, DVBl. 2009, 1533 (1537 f.). 15 OVG Münster, NVwZ 1987, 518; Wansleben, in: Held u. a., Kommunalverfassungsrecht Nordrhein-Westfalen, § 8 GO Erl. 1; Rehn/Cronauge, Gemeindeordnung Nordrhein-Westfalen. Kommentar, § 8 Erl. 1. 16 Vgl. OVG Münster, NJW 1976, 820 (821) mit Blick auf öffentliche Einrichtungen i.S.v. § 8 Abs. 1 GO NRW: „Es ist nach Gemeinderecht des Landes NRW keine Pflichtaufgabe der Gemeinde … derartige Einrichtungen zu schaffen … oder aufrechtzuerhalten.“ 17 Pappermann, DVBl. 1980, 701 (707). Vgl. auch ders., § 77. Sonstige Kulturpflege. A. Förderung von Wissenschaft, Bildung und Kultur, in: Püttner (Hg.), Handbuch der kommunalen Wissenschaft und Praxis, Bd. 4, 2. Aufl. 1983, S. 281 (286); Zuhorn, Kulturpflege, in: Peters (Hg.), Handbuch der kommunalen Wissenschaft und Praxis, Bd. 2, 1957, S. 165 (168); Häberle (Fußn. 3), S. 23 f.; Blank, Städte- und Gemeinderat 1980, 47 (48); Hoffmann/Kramer, § 76. Kulturpolitik und Kunstpflege, in: Püttner (Hg.), Handbuch der kommunalen Wissenschaft und Praxis, Bd. 4, 2. Aufl. 1983, S. 220 (233); Scheytt (Fußn. 3), Rn. 131. 18 Vgl. Pappermann, DVBl. 1980, 701 (705 ff.). 14

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Ganz entsprechend ist in der Debatte der letzten Jahre um die Privatisierung kommunaler Leistungen in der Literatur vereinzelt angenommen worden, die Kommunen müßten auf Grund der Selbstverwaltungsgarantie bestimmte Leistungen aufrechterhalten, also selbst anbieten und dürften diese deshalb nicht (materiell) privatisieren19. Zuletzt hat auch das Bundesverwaltungsgericht in seinem vielbeachteten Urteil vom 27. Mai 200920 zur Übergabe der Ausrichtung eines traditionellen Weihnachtsmarktes an einen Privaten angenommen, aus Art. 28 Abs. 2 GG ergebe „sich auch eine Bindung der Gemeinden hinsichtlich der Aufrechterhaltung dieses Bestandes und damit die grundsätzliche Pflicht der gemeindlichen Wahrung und Sicherung ihres eigenen Aufgabenbestandes, wenn dieser in den Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft wurzelt.“ Es stehe „nicht im freien Ermessen einer Gemeinde, ,freie Selbstverwaltungsangelegenheiten‘ zu übernehmen oder sich auch jeder Zeit wieder dieser Aufgaben zu entledigen. Gehören Aufgaben zu den Angelegenheiten des örtlichen Wirkungskreises, so darf sich die Gemeinde im Interesse einer wirksamen Wahrnehmung dieses örtlichen Wirkungskreises, der ausschließlich der Gemeinde, letztlich zum Wohle der Gemeindeangehörigen, anvertraut ist, nicht ihrer gemeinwohlorientierten Handlungsspielräume begeben. Der Gemeinde steht es damit nicht grundsätzlich zu, sich ohne Weiteres der Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft zu entledigen.“ Die Gemeinde müsse sich „grundsätzlich zumindest Einwirkungs- und Steuerungsmöglichkeiten vorbehalten, wenn sie die Angelegenheiten des örtlichen Wirkungskreises anderen übertragen will.“ Dies wird besonders betont für „öffentliche Einrichtungen mit kulturellem, sozialem und traditionsbildendem Hintergrund …, die schon lange Zeit in der bisherigen kommunalen Alleinverantwortung lagen. Je länger die kommunale Verantwortung für derart geprägte öffentliche Einrichtungen dauerte, umso mehr ist die Gemeinde zu einer wirksamen Wahrnehmung dieser Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft verpflichtet. … Aus dem Gebot der Sicherung und Wahrung des Aufgabenbestandes der Gemeinden ergibt sich, dass eine vollständige Übertragung von Aufgaben besonderer sozialer, kultureller und traditioneller Prägung … an Dritte nicht zulässig ist.“ Zusammenfassend – so stellt das Bundesverwaltungsgericht fest – folgt „aus Art. 28 Abs. 2 S. 1 GG auch eine Pflicht der Gemeinde zur grundsätzlichen Sicherung und Wahrung des Aufgabenbestandes, der zu den Angelegenheiten des örtlichen Wirkungskreises gehört.“ Eine tiefergehende Begründung für diesen Pflichtcharakter des Art. 28 Abs. 2 GG, die das Bundesverwaltungsgericht schuldig geblieben ist, kann wohl am ehesten bei der den Kommunen zugewiesenen „Eigenverantwortung“ ansetzen, wenn diese pointiert im Sinne von „Verantwortung“ verstanden wird21. Daran ist zwar richtig, daß die den Kommunen garantierte Selbstverwaltung keine Freiheit zur Beliebigkeit ist, wie das für die grundrechtliche Freiheit anzu19 Tomerius/Breitkreuz, DVBl. 2003, 422; vgl. auch Krölls, GewArch 1995, 129 (142); Kämmerer, JZ 1996, 1042 (1047). 20 Vgl. zum Folgenden BVerwG, NVwZ 2009, 1305 (1306 ff.). 21 Vgl. dazu Tomerius/Breitkreuz, DVBl. 2003, 426 (427 ff.).

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nehmen ist; vielmehr handelt es sich um eine den Kommunen als Hoheitsträgern übertragene Kompetenz, die – wie alle Hoheitsgewalt – pflichtgebunden wahrzunehmen ist22. Das dem Selbstverwaltungsrecht innewohnende Pflichtmoment ist jedoch durch Art. 28 Abs. 2 S. 1 GG grundsätzlich den Kommunen selbst zur Konkretisierung und Verwirklichung aufgegeben. Nicht das Pflicht-, sondern das Autonomiemoment macht den Kern der den Gemeinden in Art. 28 Abs. 2 S. 1 GG garantierten Eigenverantwortlichkeit aus23. Sie verbrieft den Kommunen das Recht, für die Aufgabenbewältigung nach eigenem Ermessen sachliche und zeitliche Prioritäten festzulegen; die darin begründete autonome Gestaltungsmacht erstreckt sich bei den sog. freiwilligen Selbstverwaltungsaufgaben auf das „Ob“, „Wie“ und „Wann“24. Damit verträgt sich im Ausgangspunkt die Annahme einer verfassungsunmittelbar begründeten Pflicht zur Wahrnehmung bestimmter Selbstverwaltungsaufgaben nicht. Gerade und erst in der autonomen Entscheidung darüber, welche Aufgaben ihres Wirkungskreises die einzelne Kommune aufgreifen will, kann sich die spezifische politisch-demokratische Funktion, die das Bundesverfassungsgericht der kommunalen Selbstverwaltung nachdrücklich zugeschrieben hat25, realisieren. Von außen geltend zu machende und durchzusetzende Bindungen der Kommune in ihrer Eigenverantwortlichkeit können nicht verfassungsunmittelbar aus der Selbstverwaltungsgarantie selbst abgeleitet werden, sondern müssen einfachgesetzlich konkretisiert sein26. Für die Sicherung der den Kommunen garantierten Autonomie in der Wahrnehmung ihrer Angelegenheiten, ähnlich wie für die Sicherung grundrechtlicher Freiheit durch den Vorbehalt des Gesetzes, ist die Erforderlichkeit der gesetzlichen Konkretisierung rechtlicher Pflichten von ausschlaggebender Bedeutung, denn erst hierdurch wird für die Kommunen in rechtsstaatlich befriedigender Weise klargestellt, wozu sie rechtlich verpflichtet sind und was in ihrer eigenen Entscheidungshoheit liegt. Eine Einebnung des Unterschieds zwischen gesetzlich bestimmten pflichtigen und freien Selbstverwaltungsaufgaben, wie das Bundesverwaltungsgericht sie vorgenommen hat27, ist deshalb aus Gründen der Sicherung der kommunalen Autonomie nicht angängig. Die Annahme, Art. 28 Abs. 2 GG könne eine verfassungsunmittelbare, rechtlich bindende Verpflichtung der Kommune zur Wahrnehmung von – dem Gesetz nach freiwilligen – Selbstver-

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Ehlers, DVBl. 2009, 1456; Winkler, JZ 2009, 1169 (1170). Schoch, DVBl. 2009, 1533 (1534), sieht deshalb durch das Bundesverwaltungsgericht den normativen Gehalt des Art. 28 Abs. 2 GG geradezu auf den Kopf gestellt. 24 Vgl. etwa Nierhaus, in: Sachs (Hg.), GG, 6. Aufl. 2012, Art. 28 Rn. 52. 25 BVerfGE 79, 127 (147 ff, 153). 26 BVerfGE 79, 127 (143) spricht ausdrücklich von der „Ausgestaltung und Formung“ der Selbstverwaltungsgarantie durch den Gesetzgeber. Hierauf verweist zu Recht ausdrücklich Schoch, DVBl. 2009, 1533 (1535, 1536). 27 So zu Recht krit. Ehlers, DVBl. 2009, 1456 (1457). 23

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waltungsaufgaben begründen, ist deshalb im verfassungsrechtlichen Schrifttum mit Recht zurückgewiesen worden28. Die von der Selbstverwaltungsgarantie tatbestandlich erfaßte kommunale Kulturarbeit ist deshalb im Rahmen des Art. 28 Abs. 2 GG rechtlich nicht als eine Pflichtaufgabe, sondern als eine freiwillige Selbstverwaltungsaufgabe anzusehen29. bb) Sonstige Verfassungsbestimmungen In anderen Sachzusammenhängen, z. B. in Bezug auf die Wasser- und Stromversorgung30, ist eine Verpflichtung von Kommunen zur Wahrnehmung bestimmter Selbstverwaltungsaufgaben auch aus anderen Verfassungsbestimmungen als Art. 28 Abs. 2 GG gefolgert worden. Das erscheint grundsätzlich möglich31 und führt zu der Frage, ob sonstige Verfassungsbestimmungen auch die Verpflichtung zu kommunaler Kulturarbeit zu begründen vermögen. Zur Herleitung einer solchen verfassungsrechtlichen Verpflichtung ist u. a. auf die grundrechtlichen Verbürgungen des Grundgesetzes verwiesen worden, namentlich auf die Kunstfreiheit (Art. 5 Abs. 3 GG), die freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) sowie die im Gleichheitssatz (Art. 3 GG) verbürgte Chancengleichheit32. Soweit diese Grundrechtsbestimmungen, insbesondere der Gleichheitssatz, allein sog. derivative Teilhabeansprüche, also Ansprüche auf gleichheitsgemäße Teilhabe an kommunal gewährten Leistungen begründen33, lassen sie freilich die Freiheit der zuständigen Hoheitsträger, ob und in welchem Umfang sie kulturelle Leistungen erbringen, unberührt und sind zur Begründung einer Verfassungspflicht zur Kulturtätigkeit unzureichend. Die hierfür erforderliche Annahme originärer Grundrechtsansprüche auf staatliche bzw. kommunale Leistungen, seien es eigene kommunale Kulturaktivitäten, seien es Unterstützungsleistungen für private Kulturschaffende, setzt ein leistungsstaatliches Grundrechtsverständnis voraus34. In diesem Sinne hat das Bundesverfassungsgericht mit Blick auf die hier vor allem interessierende Kunstfreiheitsgarantie zwar in einzelnen 28

Vgl. zur Kritik an der Entscheidung des BVerwG etwa Ehlers, DVBl. 2009, 1456; Schoch, DVBl. 2009, 1533; Winkler, JZ 2009, 1169; Müller, Der Gemeindehaushalt 2010, 268 (271 f.); Schönenbroicher (Fußn. 3), Art. 78 Rn. 24. 29 Vgl. etwa Steiner, VVDStRL 42 (1984), 7 (24); Schönenbroicher (Fußn. 3), Art. 78 Rn. 24; Schmidt-Aßmann/Röhl, Kommunalrecht, in: Schmidt-Aßmann/Schoch (Hg.), Besonderes Verwaltungsrecht, 14. Aufl. 2008, 1. Kap. Rn. 35. 30 Vgl. BVerwGE 106, 64 (77); HessVGH, RdE 1993, 143 (14); Masing, DV 36 (2003), 1 (7); Kersten, VVDStRL 69 (2010), 288 (320); Ehricke, IR 2008, 248 (254). 31 Kahl/Weißenberger, Jura 2009, 194 (199); Schoch, DVBl. 2009, 1533 (1537). 32 Vgl. – freilich recht zurückhaltend – Pappermann, DVBl. 1980, 701 (706); vgl. auch Häberle (Fußn. 3), S. 26. 33 Vgl. etwa Mann, in: Löwer/Tettinger, Kommentar zur Verfassung des Landes NordrheinWestfalen, 2002, Art. 18 Rn. 13; Günther, in: Heusch/Schönenbroicher, Die Landesverfassung Nordrhein-Westfalen. Kommentar, 2010, Art. 18 Rn. 4. 34 So zu Recht Häberle (Fußn. 3), S. 26.

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Entscheidungen formuliert, die Verfassungsbestimmung habe nicht nur die negative Bedeutung, vor Eingriffen der öffentlichen Gewalt in den künstlerischen Bereich zu schützen; als objektive Wertentscheidung für die Freiheit der Kunst stelle sie dem modernen Staat, der sich im Sinne einer Staatszielbestimmung auch als Kulturstaat versteht, zugleich die Aufgabe, ein freiheitliches Kunstleben zu erhalten und zu fördern35. Aus dieser – ohnehin nicht allgemein auf die Kultur, sondern enger allein auf die Kunstfreiheit zu beziehenden – Aussage hat das Bundesverfassungsgericht freilich keine ersichtlichen dogmatischen Konsequenzen gezogen, vielmehr betont, daß die dargestellte verfassungsrechtliche Grundsatzentscheidung nicht vorschreibe, in welchem Umfang und in welcher Form der Staat seiner Förderungspflicht nachzukommen habe36. Insbesondere hat es jede Konkretisierung und erst recht Subjektivierung von daraus abzuleitenden Rechten, also die Annahme von Ansprüchen auf Kunstförderung vermieden37. Angesichts dieser berechtigten Zurückhaltung bei der Ableitung konkreter Rechtsfolgen auch für den engeren Bereich der Kunstförderung stellt Art. 5 Abs. 3 GG keine tragfähige Grundlage für die Herleitung einer verfassungsrechtlichen Verpflichtung zu kommunaler Kulturarbeit dar. Eine Staatszielbestimmung, die die Kulturtätigkeit oder -förderung durch den Staat bzw. die Kommunen unmittelbar zum Gegenstand hätte, kennt das Grundgesetz nicht; Vorschläge zur Einführung einer Kulturstaatsklausel38 sind erfolglos geblieben. Unter den vorhandenen Staatszielbestimmungen wird gelegentlich – vorsichtig – das Sozialstaatsprinzip zur Begründung einer Verfassungspflicht der Kommunen zur Kulturtätigkeit und -förderung ins Feld geführt39, ohne sich freilich letztlich als tragfähig zu erweisen. Entgegen steht nicht allein die inhaltliche Weite und Unbestimmtheit dieses Prinzips, die ungeachtet seiner rechtlichen Verbindlichkeit die Ableitung konkreter Einzelfolgerungen kaum zuläßt40. Es darf heute auch als weithin anerkannt gelten, daß hoheitliche Kunst- (und sonstige Kultur-) förderung weder mit Blick auf die Kulturschaffenden noch mit Blick auf die Kulturrezipienten im Kern sozialstaatlich begründet ist; sie ist – abgesehen vielleicht von begleitenden unterstützenden Maßnahmen zugunsten sozial schwächerer Bevölkerungsschichten – nicht an sozialen Bedürftigkeits-, sondern an kulturpolitischen Kategorien orientiert41. 35

BVerfGE 36, 321 (331); vgl. auch BVerfGE 81, 108 (116); BVerfG, NJW 2005, 2843. BVerfGE 81, 108 (116). 37 Vgl. BVerfG, NJW 2005, 2843; vgl. auch BVerwG, NJW 1980, 718: kein Anspruch auf Theatersubventionen. 38 Vgl. Sachverständigenkommission Staatszielbestimmungen/Gesetzgebungsaufträge, Der Bundesminister des Inneren/Der Bundesminister der Justiz (Hg.), Staatszielbestimmungen Gesetzgebungsaufträge. Bericht der Sachverständigenkommission, 1983, Rn. 169; Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“, Zwischenbericht, BT-Drs. 15/5560, S. 2 und 12, sowie Schlußbericht, BT-Drs. 15/7000, S. 68. 39 Pappermann, DVBl. 1980, 701 (706). 40 Vgl. nur Sachs, in: ders. (Hg.), GG, 6. Aufl. 2011, Art. 20 Rn. 46 ff. 41 Huster, VVDStRL 65 (2006), 51 (59); vgl. auch Steiner (Fußn. 3), Rn. 5 ff. 36

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In vielen Ländern, so auch in Baden-Württemberg (Art. 3c Abs. 1 LV BW) und in Nordrhein-Westfalen (Art. 18 Abs. 1 LV NRW), erklärt allerdings die Landesverfassung die Kulturpflege und -förderung zu einer Aufgabe u. a. auch der Kommunen. Das ist kein unverbindlicher Programmsatz, sondern verbindliches Verfassungsrecht, das eine Staatszielbestimmung statuiert, die von den Kommunen verlangt, innerhalb ihres Kompetenzbereichs nach Möglichkeit auf die Erreichung des vorgegebenen Ziels hinzuwirken42. Die Bindungskraft dieser Vorgabe muß jedoch begrenzt bleiben, denn sie überläßt es den Gemeinden selbst, welche Kultursparten sie pflegen und mit welchem personellen, organisatorischen und finanziellen Aufwand sie dies jeweils tun43. Ein Verstoß wird allenfalls dann anzunehmen sein, wenn eine Gemeinde bei einem bestehenden dringenden Bedürfnis nach kommunaler Kulturförderung und -pflege ganz untätig bleibt oder völlig verfehlt agiert, und erscheint deshalb allenfalls in extremen Ausnahmefällen vorstellbar. 3. Zwischenfazit Kulturarbeit, die ein verfassungsgeschütztes Recht der Kommunen ist, ist nicht nur eine in der Sache bedeutende, im politischen Sinne eine Pflichtaufgabe der Städte. Sie ist auch rechtlich nicht in das freie Belieben der Kommunen gestellt. Es sind – abgesehen von einzelnen spezialgesetzlichen Regelungen von Pflichtaufgaben – namentlich die kommunalrechtlichen Verpflichtungen zur Schaffung kultureller Einrichtungen sowie die landesverfassungsrechtlichen Kulturförderklauseln, denen die Städte Rechnung tragen müssen bei ihren Entscheidungen über das „Ob“ und „Wie“ ihrer kulturellen Aktivitäten. Diese Vorgaben binden – wenn auch in sehr begrenzt bleibender Intensität – die Kommunen in der Wahrnehmung ihrer Selbstverwaltungsaufgabe; sie machen diese aber nicht zu einer pflichtigen Selbstverwaltungsaufgabe. Es ist denn auch bezeichnend, daß auch jene Stimmen, die die kommunale Kulturarbeit als eine pflichtige Selbstverwaltungsaufgabe kennzeichnen, bei genauerer Betrachtung keine verfassungsunmittelbare Rechtspflicht im strengen Sinne postulieren. Sie beanspruchen von vornherein nicht, die Kulturarbeit im Sinne der hergebrachten Unterscheidung von verschiedenen Typen kommunaler Aufgaben den pflichtigen Selbstverwaltungsaufgaben zuzuordnen, sondern wollen diese Unterscheidung insgesamt nicht mehr aufrechterhalten und überwinden44. Und sie gestehen ausdrücklich die Besonderheit der als pflichtig deklarierten Aufgabe der Kulturarbeit gegenüber den gesetzlich auferlegten Pflichtaufgaben zu. Ganz in diesem Sinne hat auch die Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“ ihr Diktum, daß Kultur generell eine pflichtige Selbstverwaltungsaufgabe der Kommunen sei, relativiert durch die Bemerkung, der Kulturauftrag der Kommunen sei ein kulturpolitisch zu konkretisierender Kulturgestaltungsauftrag; konkret entschieden die Gemeindeorgane nach weitgehend freiem 42

Mann (Fußn. 33), Art. 18 Rn. 5; Günther (Fußn. 33), Art. 18 Rn. 1. Steiner (Fußn. 3), Rn. 22. 44 Vgl. etwa Pappermann (Fußn. 17), S. 285. 43

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Ermessen, und es bedürfe eines fortlaufenden Gestaltungsprozesses unter Einbeziehung der Bürger und der kulturellen Öffentlichkeit45. Die städtische Kulturarbeit ist damit zwar – wie alles staatliche Handeln – nicht frei von rechtlichen Bindungen, aber eben doch der eigenverantwortlichen Wahrnehmung durch die jeweilige Kommune überantwortet und damit richtigerweise nicht als eine kommunale Pflichtaufgabe im Rechtssinne zu qualifizieren46. III. Finanzierung städtischer Kulturarbeit unter dem Zwang zu Haushaltsausgleich und Haushaltskonsolidierung Dieser Zwischenbefund zur rechtlichen Qualität der Aufgabe der städtischen Kulturarbeit führt zu der weiteren Frage, welche Spielräume zu ihrer Finanzierung bestehen, wenn eine Kommune sich in einer Situation der Haushaltsnot befindet. Als eine solche Notlage soll hier die Situation verstanden werden, in der eine Kommune nicht mehr zu dem Haushaltsausgleich, der – mit erheblichen Unterschieden im einzelnen – in allen Ländern kommunalhaushaltsrechtlich vorgeschrieben ist47 (vgl. §§ 75 Abs. 2 GO NRW, 80 Abs. 2 und 3 GO BW), in der Lage und zur Haushaltskonsolidierung mit dem Ziel der Wiedererlangung des Haushaltsausgleichs verpflichtet ist. 1. Der prinzipielle Unterschied: Pflicht zur Finanzierung pflichtiger Aufgaben Der Blick auf die kommunalen Finanzierungs- und Handlungsspielräume in dieser Situation muß zunächst einen prinzipiellen Unterschied zwischen pflichtigen und freiwilligen Aufgaben zur Kenntnis nehmen. Die Wahrnehmung der pflichtigen Aufgaben muß finanziert werden. Dies ist zwar nicht unbestritten. Es wird die These vertreten, die Pflicht zum Haushaltsausgleich gehe „allen anderen Pflichten vor, weil auf die Dauer keine Pflicht mehr erfüllt werden kann, wenn der Haushaltsausgleich nicht gelingt. Wirklich überforderte Gemeinden müssen also von Rechts wegen gesetzliche Vorgaben für ihre Aufgabenerfüllung nicht beachten.“48 Dieser Annahme wird freilich überzeugend entgegengehalten, daß es nicht im Beurteilungsspielraum oder Ermessen einer 45

Schlußbericht der Enquete-Kommission „Kultur in Deutschland“, BT-Drs. 16/7000, S. 90; ähnlich auch Häberle (Fußn. 3), S. 24 f. 46 I. Erg. ablehnend zur Ableitung des Pflichtcharakters aus Bundesverfassungsrecht etwa Steiner (Fußn. 3), Rn. 22. 47 Vgl. Faber, Haushaltsausgleich und Haushaltsicherungskonzept, in: Henneke/Pünder/ Waldhof (Hg.), Recht der Kommunalfinanzen, 2006, § 34 Rn. 8 ff. 48 Oebbecke, Der Gemeindehaushalt 2009, 241; vgl. bereits ders., DV 29 (1996), 323 (331 f.); sowie Meier/Greiner, VerwArch 97 (2006), 293 (313 ff.), die insoweit u. U. eine rechtfertigende Pflichtenkollision annehmen.

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einzelnen Kommune liegen könne, wann und unter welchen Voraussetzungen sie von Rechtsnormen zur Herstellung des Haushaltsausgleichs abweichen darf49. Es gilt ein Primat der Aufgabenzuweisung. Die Finanzierungsproblematik muß im Rahmen der rechtlichen Regeln für die Haushaltskonsolidierung und der Kommunalaufsicht bewältigt werden. Eine entsprechende Verpflichtung zur Aufgabenwahrnehmung und folglich auch zur Finanzierung ungeachtet einer bestehenden Haushaltsnotlage besteht bei den sog. freiwilligen Aufgaben der Kommunen nicht. Hier – so scheint es jedenfalls zunächst – verkehrt sich das Verhältnis von Aufgabe und Finanzierung: Die freiwilligen Aufgaben können nur nach Maßgabe verfügbarer Haushaltsmittel aufgegriffen werden. 2. Finanzierungsspielräume bei freiwilligen Aufgaben – am Beispiel Nordrhein-Westfalens Damit bleibt zu fragen, welchen Spielraum die kommunalhaushaltsrechtlichen Vorgaben zur Haushaltskonsolidierung den Kommunen in der Haushaltsnotlage auch für die Finanzierung freiwilliger, damit auch kultureller Aufgaben lassen. Dieser Frage sei hier angesichts der Unterschiedlichkeit der kommunalhaushaltsrechtlichen Regelungen exemplarisch am – wie eingangs gesehen: virulenten – Beispiel Nordrhein-Westfalens nachgegangen. a) Spielräume im Rahmen eines genehmigungsfähigen Haushaltssicherungskonzepts Eine kommunale Haushaltsnotlage, die besonderen haushaltsrechtlichen Regeln unterworfen wird, definiert § 76 Abs. 1 GO NRW. Unter den dort näher ausgeführten Voraussetzungen muß eine Gemeinde ein Haushaltssicherungskonzept aufstellen. Dieses Haushaltssicherungskonzept dient nach § 76 Abs. 2 S. 1 GO NRW dem Ziel, im Rahmen einer geordneten Haushaltswirtschaft die künftige, dauernde Leistungsfähigkeit der Gemeinde zu erreichen. Dies konkretisierend verlangt § 76 Abs. 2 S. 3 GO NRW in der seit dem 4. Juni 2011 geltenden Fassung für ein genehmigungsfähiges Haushaltssicherungskonzept, daß aus ihm hervorgeht, daß spätestens im zehnten auf das Haushaltsjahr folgenden Jahr der Haushaltsausgleich nach § 75 Abs. 2 GO NRW wieder erreicht wird. Über diese Zielvorgabe hinaus gibt es in inhaltlicher Hinsicht keine weiteren gesetzlichen Vorgaben. Vielmehr läßt das Gesetz insofern der betroffenen Kommune Gestaltungsspielraum zur Bewälti49 Faber (Fußn. 47), § 34 Rn. 66. Vgl. auch OVG Münster, NWVBl. 2010, 34 (34), mit dem Hinweis, daß die Zumutbarkeit des haushaltsrechtlich Gebotenen zur Haushaltskonsolidierung sich u. a. „nach den jeweiligen rechtlichen Vorgaben für das in Rede stehende Tun oder Unterlassen“ bestimme.

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gung des Einzelfalls. Entsprechend den unterschiedlichen Gründen für die Nichterreichung des Haushaltsausgleichs50 sind auch die Maßnahmen zur erfolgreichen Haushaltskonsolidierung von den jeweiligen konkreten Bedingungen abhängig51. Dabei kommen unterschiedliche Strategien zur Haushaltskonsolidierung in Betracht; im Kern aber geht es immer um Einnahmesteigerung und (bzw. oder) Ausgabenminderung; dabei gilt der Verzicht auf frei gewählte Aufgaben häufig als nächstliegende, wenn nicht sogar einzige Möglichkeit zum Haushaltsausgleich52. Mit Blick auf die hier interessierende Ausgabenminderung zur Haushaltskonsolidierung scheint daher nun ausschlaggebend zu werden, daß die kommunale Kulturarbeit nicht zu den unbedingt zu erfüllenden Pflichtaufgaben, sondern zu den unter dem Vorbehalt verfügbarer Haushaltsmittel stehenden freiwilligen Aufgaben zu zählen ist. Jedoch wäre es verfehlt anzunehmen, im Rahmen eines Haushaltssicherungskonzepts wären die gesetzlichen Pflichtaufgaben sakrosankt. Vielmehr kann es bei den gesetzlichen Pflichtaufgaben in der Art und Weise der Durchführung erhebliche Einsparpotentiale geben. Dies relativiert die Bedeutung des Bemühens um die Qualifikation der kommunalen Kulturarbeit als pflichtige Selbstverwaltungsaufgabe mit Blick auf die Finanzierung doch deutlich; solange daran festgehalten wird, daß es sich um eine kommunalpolitisch konkretisierungsfähige und -bedürftige Aufgabe handele, würde sich wenig ändern. So oder so sind die konkreten, einzelnen kulturellen Aktivitäten im Rahmen des von der Kommune aufzustellenden Haushaltssicherungskonzepts auf den Prüfstand zu stellen. Auch mit Blick auf freiwillige Selbstverwaltungsaufgaben wiederum besteht die haushaltsrechtliche Pflicht der Kommune, alles zur Erreichung des Ziels der Wiedererlangung des Haushaltsausgleichs zu unternehmen, nach nordrhein-westfälischem Recht nicht einschränkungslos. Wie das Oberverwaltungsgericht Münster überzeugend dargelegt hat, bezieht sie sich vielmehr auf den „nächstmöglichen“ Zeitpunkt, und damit „ist nicht der rein technische Zeitpunkt gemeint, der unter Ausnutzung aller denkbaren Einsparungen und Einnahmeerhöhungen erreichbar wäre, sondern der Zeitpunkt, der unter Berücksichtigung der vielfältigen und auch häufig gegenläufigen Pflichten einer Gemeinde erreichbar ist, mithin der zumutbarerweise nächstmögliche Zeitpunkt“53. Wenn dabei die Zumutbarkeit zunächst durch rechtliche Vorgaben für die Aufgabenwahrnehmung bestimmt werden soll, sind davon auch rechtliche Vorgaben erfaßt, die keine pflichtige Selbstverwaltungsaufgabe begründen, aber bei der Wahrnehmung freiwilliger Selbstverwaltungsaufgaben zu beachten sind. Die Zumutbarkeit ist deshalb auch unter Beach50

Faber (Fußn. 47), § 34 Rn. 16. Vgl. Schwarting, Der kommunale Haushalt, 4. Aufl. 2010, Rn. 508: „Ein ,Patentrezept‘ für eine erfolgreiche Haushaltskonsolidierung gibt es nicht. Welche Maßnahmen zielführend sein können, ist nicht zuletzt von der örtlichen Ausgangssituation abhängig.“ 52 VerfGH RP, DVBl. 2012, 432 (433). 53 OVG Münster, NWVBl. 2010, 34 (34). 51

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tung der verfassungsrechtlichen Verpflichtung der Kommunen zur Kulturpflege und Kulturförderung gemäß Art. 18 Abs. 1 LV NRW zu bestimmen; wo dringender Bedarf besteht, muß deshalb auch in der Situation der Haushaltsnotlage ein Mindestmaß an kommunaler Kulturbetätigung und -förderung möglich sein54. Im Übrigen soll auch über rechtliche Vorgaben hinaus ein kommunaler Handlungsspielraum zu berücksichtigen sein. Daher kann auch die Beibehaltung freiwilliger Selbstverwaltungsaufgaben in der Haushaltsnotlage angängig sein55. In der Tat wäre auch in der Situation einer Haushaltsnotlage eine Aufgabe aller freiwilligen Leistungen nicht nur völlig unrealistisch56; der Zwang zu einem völligen Verzicht würde auch mit der Garantie kommunaler Selbstverwaltung in Konflikt geraten57. Der anzuerkennende Handlungsspielraum ist allerdings vom Oberverwaltungsgericht Münster unter den Vorbehalt des Haushaltsgrundsatzes der Sparsamkeit und Wirtschaftlichkeit gestellt und vom Ausmaß des Haushaltsdefizits abhängig gemacht worden58. Diese abstrakte Umschreibung des Spielraums zur Finanzierung freiwilliger Selbstverwaltungsaufgaben im Rahmen eines Haushaltssicherungskonzepts ist in der Sache schwerlich zu beanstanden; weitergehende Finanzierungsspielräume lassen sich im Hinblick auf das zu wahrende Ziel der Haushaltskonsolidierung kaum fordern. Das Problem dürfte eher in der Konkretisierung dieser abstrakten, inhaltlich relativ offenen Anforderungen an ein genehmigungsfähiges Haushaltssicherungskonzept liegen. Sie sind insofern zunächst kommunalfreundlich, als sie der einzelnen Kommune die Gestaltung des Konzepts in eigener Verantwortung überlassen und damit auch gewisse Einschätzungs- und Entscheidungsspielräume in der Aufrechterhaltung freiwilliger Aufgabenwahrnehmungen gewähren; in diesem Sinne ist die Einführung von Haushaltssicherungskonzepten als eine Politik der gesteuerten Selbstverantwortung der Kommune charakterisiert worden59. Zugleich aber schlägt sich diese Unbestimmtheit der gesetzlichen Voraussetzungen nieder in der Ungewißheit, ob die Kommune in ihrem Haushaltssicherungskonzept wirklich die im Rahmen des Zumutbaren nächstmögliche Haushaltskonsolidierung anstrebt oder ob nicht weitergehende Ausgabenreduktionen etwa im Bereich freiwilliger, insbesondere kultureller kommunaler Leistungen im Interesse eines früheren 54

Günther (Fußn. 33), Art. 18 Rn. 5. Vgl. auch Ministerium für Inneres und Kommunales des Landes Nordrhein-Westfalen, Maßnahmen und Verfahren zur Haushaltssicherung, Leitfaden vom 6. März 2009, S. 34: „Bei allen freiwilligen Leistungen, die die Gemeinde erbringt, hat sie im Einzelnen zu prüfen, ob sie aufgegeben werden können. Soweit freiwillige Leistungen nicht völlig aufgegeben werden können, sind Möglichkeiten zur Reduzierung des Aufwandes zu prüfen.“ 56 Diemert, Das Haushaltssicherungskonzept, 2005, S. 180. 57 Schwarting (Fußn. 51), Rn. 519. 58 OVG Münster, NWVBl. 2010, 34 (34). 59 Held, Steuerung kommunaler Aufgabenerfüllung durch Haushaltssicherungskonzepte und staatliche Genehmigungsvorbehalte bei Umlageerhebungen, in: Henneke (Hg.), Steuerung der kommunalen Aufgabenerfüllung durch Finanz- und Haushaltsrecht, 1996, S. 63 (75). 55

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Haushaltsausgleichs möglich sind und von der Aufsichtsbehörde eingefordert werden. b) Spielräume in der vorläufigen Haushaltsführung Wird in der Situation des § 76 Abs. 1 GO NRW einer Kommune die Genehmigung ihres Haushaltssicherungskonzepts versagt, kann die Haushaltssatzung nicht bekanntgemacht werden, und es tritt die Situation der sog. vorläufigen Haushaltsführung gemäß § 82 GO NRW ein. Diese Bestimmung hat zwar eine andere Konstellation, nämlich die der um eine begrenzte Zeit verzögerten Beschlußfassung über die Haushaltssatzung im Blick. Da sich jedoch – auch aus § 82 Abs. 3 GO NRW – nichts Abweichendes ergibt, bleibt es bei ihrer Anwendbarkeit auch in der Situation des nicht genehmigten Haushaltssicherungskonzepts60. Dies gilt selbst dann, wenn eine Gemeinde über mehrere Jahre ohne genehmigungsfähiges Haushaltssicherungskonzept und ohne Haushaltssatzung leben muß. Für die weiterhin zulässigen Ausgaben ist dann zunächst § 82 Abs. 1 Nr. 1 GO NRW maßgeblich. Für die kommunale Kulturarbeit wenig hilfreich ist, daß dieser Aufwendungen und Auszahlungen privilegiert, für die eine insbesondere durch Rechtsnormen begründete rechtliche Verpflichtung besteht, d. h. namentlich die Finanzierung aller Pflichtaufgaben und Pflichtaufgaben zur Erfüllung nach Weisung61. Abgesehen von den wenigen spezialgesetzlich verpflichtend ausgestalteten Aufgaben kultureller Art sind die Städte zur Kulturarbeit nicht im Sinne von § 82 Abs. 1 Nr. 1 GO NRW rechtlich verpflichtet. Das würde selbst dann gelten, wenn man mit der oben kritisch erörterten Ansicht in der örtlichen Kulturarbeit eine pflichtige, freilich der autonomen Konkretisierung durch die Kommune überlassene Selbstverwaltungsaufgabe sehen wollte. Denn einschränkend wird – überzeugend – angenommen, daß in Fällen, in denen der Kommune zwar eine ausdrückliche Verpflichtung zum Tätigwerden auferlegt, ihr aber ein weites Auswahlermessen gelassen ist, keine gesetzliche Verpflichtung in diesem Sinne vorliegen soll; als rechtlich verpflichtend vorgegeben sollen nur solche Ausgaben gelten, deren Höhe sich bereits aus der gesetzlichen Grundlage ergibt62. Allerdings läßt § 82 Abs. 1 Nr. 1 GO NRW darüber hinaus auch Ausgaben zu, zu denen auf Grund (vor der etatlosen Zeit geschlossener) vertraglicher Bindungen eine rechtliche Verpflichtung besteht, sowie solche, bei denen es sich um unaufschiebbare Ausgaben für die Weiterführung notwendiger Aufgaben handelt; diese letztere Alternative erfaßt gerade auch jene Fälle, in denen keine rechtliche Verpflichtung besteht63, und damit potentiell auch den Bereich freiwilliger, insbesondere auch kultureller Selbstverwaltungsaufgaben. Durch diese beiden Tatbestandsalternativen des § 82 Abs. 1 60

OVG Münster, NWVBl. 2010, 30 (30). Klieve, in: Held u. a., Kommunalverfassungsrecht Nordrhein-Westfalen, § 82 GO Erl. 2.2. 62 Diemert (Fußn. 56), S. 427 f. 63 Klieve (Fußn. 61), § 82 GO Erl. 2.1. 61

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Nr. 1 GO NRW ist im Ergebnis der bereits zu Beginn des Haushaltsjahres bzw. der etatlosen Zeit gegebene Status quo kultureller Aktivitäten einigermaßen geschützt. Weitergehende Einschränkungen, die auf eine Rückführung des Status quo an freiwilliger Aufgabenwahrnehmung, auch im kulturellen Bereich, abzielten, sollen § 82 Abs. 1 Nr. 1 GO NRW, der allein dem Schutz des Budgetrechts des Rats, nicht aber dem Zweck der Haushaltskonsolidierung dient, auch in der besonderen Situation des erforderlichen, aber nicht genehmigungsfähigen Haushaltssicherungskonzepts grundsätzlich nicht zu entnehmen sein64. Auch der in dieser Situation besonders zu beachtende Haushaltsgrundsatz der Sparsamkeit der Haushaltsführung führt kaum zu weitergehenden Einschränkungen. Er fordert zwar grundsätzlich besondere Konsolidierungsanstrengungen, läßt aber wegen des programmatischen Inhalts dieses Haushaltsgrundsatzes den betroffenen Kommunen doch einen weitgehenden Entscheidungsspielraum65. Insgesamt behalten die Kommunen danach in der Fortführung bereits etablierter kultureller Aktivitäten einen hinreichenden Spielraum; § 82 GO NRW erlaubt ihnen die Weiterfinanzierung solcher Aktivitäten, die rechtlich verpflichtend sind oder bei denen es sich um die gebotene Weiterführung bereits durch frühere Haushaltssatzung legitimierter und bereits begonnener Aufgabenwahrnehmungen handelt. Hingegen ist die Aufnahme neuer kultureller Aktivitäten durch die Kommune unter dem Nothaushaltsrecht so gut wie ausgeschlossen. Das ist für den Normalfall einer kurzfristigen vorläufigen Haushaltsführung einleuchtend und hinnehmbar; der Situation von Gemeinden, die sich über einen längeren Zeitraum – unter Umständen mehrere Jahre – in der vorläufigen Haushaltsführung bewegen, wird dieser Rahmen bei strikter Durchsetzung allerdings u. U. nicht gerecht66.

IV. Schlußbemerkung Vor dem Hintergrund der haushaltsrechtlichen Vorgaben für kommunale Haushaltsnotlagen erweist sich der Versuch, die kommunale Kulturarbeit zur pflichtigen Selbstverwaltungsaufgabe zu erklären, als nicht zielführend. Solange die inhaltliche Konkretisierung der behaupteten Pflichtaufgabe der eigenverantwortlichen Ausgestaltung durch die jeweilige Kommune überlassen bleiben soll, führt diese Qualifikation weder unter den Bedingungen des Haushaltssicherungskonzepts noch nach den Regeln der vorläufigen Haushaltsführung im sog. Nothaushalt zu einer finanziellen Absicherung kommunaler Kulturarbeit. Eine derartige Privilegierung erfahren nur solche gemeindlichen Aufgaben, zu deren Wahrnehmung die Kommunen gesetzlich mit konkreten Vorgaben in die Pflicht genommen werden; die fi64

OVG Münster, NWVBl. 2010, 30 (31). OVG Münster, NWVBl. 2010, 30 (32); vgl. auch Knirsch, VR 2010, 40 (41). 66 Vgl. in diesem Sinne auch Ministerium für Inneres und Kommunales des Landes Nordrhein-Westfalen, Maßnahmen und Verfahren zur Haushaltssicherung, Leitfaden vom 6. März 2009, S. 37. 65

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nanzielle Privilegierung ist ohne die inhaltliche Bindung nicht zu haben. Solche inhaltlich konkretisierte, gesetzliche Pflichtaufgaben bestehen auf dem Kultursektor nur vereinzelt. Eine allgemeine Verpflichtung der Kommunen zur Kulturarbeit, die inhaltlich konkretisiert und der eigenverantwortlichen Ausgestaltung entzogen wäre, behauptet niemand und will auch wohl niemand; sie wäre vor Art. 28 Abs. 2 GG auch schwerlich zu rechtfertigen. Kommunale Kulturtätigkeit und -förderung ist und bleibt eine freiwillige Selbstverwaltungsaufgabe, deren eigenverantwortliche Wahrnehmung freilich landesverfassungsrechtlichen und kommunalrechtlichen Vorgaben Rechnung zu tragen hat. Die Sicherung der finanziellen Grundlagen für zumindest ein Mindestmaß an kommunaler Kulturarbeit auch in kommunaler Haushaltsnotlage ist deshalb der kommunalhaushaltsrechtlichen Regelung aufgegeben. Die Regelungen über die vorläufige Haushaltsführung erweisen sich insoweit als in doppelter Hinsicht dysfunktional: Sie sind einerseits, weil sie ihrem Zweck nach auf Sicherung der Budgethoheit des Rats zielen, jedoch auf die Situation einer längerfristigen Haushaltsnotlage nicht zugeschnitten und nicht auf Haushaltskonsolidierung ausgerichtet sind, mit Blick auf das Konsolidierungsziel unbefriedigend. Andererseits sind sie aber auch mit Blick auf die Finanzierung insbesondere der nicht rechtlich bindend vorgegebenen Aufgaben unbefriedigend, weil sie allein darauf setzen, die bereits durch rechtliche Bindungen verfestigten und die bereits aufgenommenen Aufgabenwahrnehmungen grundsätzlich weiterhin zuzulassen, und damit auch Kommunen, die über lange Jahre unter diesem Regime wirtschaften, keinerlei neue Entwicklungen ermöglichen. Weitergehende, nennenswerte Spielräume zur Sicherung von Kulturarbeit für Kommunen mit notleidendem Haushalt sind im System des geltenden Kommunalhaushaltsrechts nur zu gewinnen, soweit diesen mit Hilfe des Instruments des Haushaltssicherungskonzepts der Erlaß von Haushaltssatzungen ermöglicht wird. Gerade auch aus dem Blickwinkel der Finanzierung freiwilliger, namentlich auch kultureller Aktivitäten der Kommunen ist deshalb die am 4. Juni 2011 in Kraft getretene Novelle der nordrhein-westfälischen Gemeindeordnung, die durch Verlängerung des Konsolidierungszeitraums tendenziell einer größeren Zahl von Gemeinden den Zugang hierzu eröffnet hat, zu begrüßen. Im Rahmen des Instruments des Haushaltssicherungskonzepts ist sachgerecht die Frage zu verhandeln, welche Spielräume Kommunen in Haushaltsnot für die Finanzierung von freiwilligen Selbstverwaltungsaufgaben, namentlich auch von Kulturaktivitäten zuzugestehen sind. Hier ist es möglich, finanzielle Spielräume unter Wahrung inhaltlicher Autonomie zu gewähren. Dabei sind allerdings verfassungsrechtlich garantierte eigenverantwortliche Aufgabenwahrnehmung einerseits und gebotene Haushaltskonsolidierung andererseits in Ausgleich zu bringen. Insofern wirft die bisherige Regelung (zumindest im nordrhein-westfälischen Landesrecht) die Frage auf, ob es möglich und vertretbar ist, den Kommunen in verläßlicherer, berechenbarerer Weise begrenzte Finanzierungsspielräume für freiwillige, insbesondere auch kulturelle Aufgaben zu sichern. Jedenfalls aber ist in diesem Rahmen jenes äußerste Mindestmaß an Finanzmitteln zuzugestehen, dessen die Kommunen be-

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dürfen, um zwingende Forderungen ihrer verfassungsrechtlichen Pflicht zur Kulturförderung und Kulturpflege zu erfüllen.

Tarifverträge für das Hochschulpersonal Zum Verhältnis von Koalitionsfreiheit, Wissenschaftsfreiheit und staatlichem Organisationsrecht Von Manfred Löwisch, Freiburg im Breisgau* I. Das Konfliktfeld Auch die Beschäftigten im Hochschulbereich sind Träger der Koalitionsfreiheit des Art. 9 Abs. 3 GG. Soweit sie nicht, wie zumeist die Professoren und zum Teil die wissenschaftlichen Mitarbeiter, Beamte sind, kommt den von ihnen gebildeten Koalitionen das Recht zu, für sie Tarifverträge mit der Arbeitgeberseite abzuschließen und zur Durchsetzung der von ihnen dazu gestellten Forderungen Arbeitskämpfe zu führen. Der Koalitionsfreiheit gegenüber steht die Wissenschaftsfreiheit des Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG. Sie ist Grundrecht der an der Hochschule tätigen Forscher und Lehrer, kommt aber auch den Hochschulen selbst zu. Sie gewährt diesen Autonomie gegenüber dem Staat, beschränkt als Teil der Werteordnung des Grundgesetzes aber auch die Ausübung anderer Grundrechte und damit die Ausübung der Koalitionsfreiheit.1 Der Wissenschaftsfreiheit zur Seite steht die Studierfreiheit der Lernenden, sei es nun, dass man sie ebenfalls aus Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG oder aber aus der Berufsfreiheit des Art. 12 Abs. 1 GG ableitet.2 Soweit die staatlichen Hochschulen betroffen sind, tritt neben Koalitionsfreiheit und Wissenschaftsfreiheit das Organisationsrecht des Staates für seine Einrichtungen. Dieses gestaltet einerseits die Autonomie von Forschern, Lehrern und Hochschulen wie auch die Studierfreiheit aus.3 Andererseits regelt es Amtsaufgaben und Rechtsverhältnisse des in seinem Dienst stehenden Hochschulpersonals. Auch diese Regelungen können auf die Koalitionsfreiheit, insbesondere die Tarifautonomie, stoßen. *

Unter Mitwirkung von wiss. Mitarbeiterin Maren Jantz. Allgemein zur Konkordanz der Grundrechte: Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, 20. Aufl. 1999, Rn. 71 f., 317 ff. 2 Hierzu etwa Kempen, in: Hartmer/Detmer, Hochschulrecht, 2. Aufl. 2011, S. 7, Rn. 19; Eiselstein, in: Haug, Das Hochschulrecht in Baden-Württemberg, 2. Aufl. 2009, Rn. 65 m.w.N. in Fußn. 56. 3 Vgl. das Hochschulurteil des BVerfG, BVerfGE 35, 79 ff.; dazu ausführlich Herberger, in: Haug, aaO, Rn. 126 ff. 1

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Sichtbar geworden ist das Spannungsverhältnis zwischen Koalitionsfreiheit, Wissenschaftsfreiheit und staatlichem Organisationsrecht vor allem an der Frage der Befristung der Arbeitsverhältnisse des wissenschaftlichen Personals. Seinen Niederschlag hat es in den Bestimmungen erst des Befristungsrechts des Hochschulrahmengesetzes und jetzt des Wissenschaftszeitvertragsgesetzes (WissZeitVG) gefunden und ist Gegenstand der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 24. 4. 1996 gewesen, auf die zugleich einzugehen ist. Virulent ist das Spannungsverhältnis aber auch in anderen Fragen der Begründung und Beendigung von Arbeitsverhältnissen an der Hochschule Tätiger. Zu denken ist an Tarifverträge, welche das Recht zur Kündigung über die durch das gesetzliche Kündigungsrecht gezogenen Grenzen hinaus beschränken. Ebenso kann man sich tarifliche Einstellungsregelungen vorstellen. So könnten Abschlussverbote festgelegt, etwa die Anstellung von wissenschaftlichen Mitarbeitern durch die Hochschullehrer selbst untersagt werden. Auch eine über das gesetzliche Maß hinausgehende Beteiligung des Personalrats lässt sich denken. Weiter können inhaltliche Regelungen des Arbeitsverhältnisses zu Spannungen zwischen Koalitionsfreiheit einerseits und Wissenschaftsfreiheit und staatlichem Organisationsrecht andererseits führen. In Betracht kommen Regelungen der Dauer der Arbeitszeit, an Regelungen über den Umfang der Lehrverpflichtung, an die Beschränkung von Nacht- und Wochenendarbeit, an Regelungen über den Arbeitsort, insbesondere über die Residenzpflicht, und an Regelungen der Arbeitsgestaltung, etwa in Form der Reservierung von Zeit für eigene Forschung oder in Form des Rechts, die Mitwirkung an bestimmten Tätigkeiten, etwa Forschungen zur Kernenergie oder Militärforschung, zu verweigern. II. Grundsätze der Konfliktlösung 1. Koalitionsfreiheit und Wissenschaftsfreiheit Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 24. 4. 19964 geht davon aus, dass dem Gesetzgeber die Regelung von Fragen, die Gegenstand von Tarifverträgen sein können, nicht von vornherein entzogen ist, weil Art. 9 Abs. 3 GG den Tarifvertragsparteien in diesem Bereich zwar ein Normsetzungsrecht, aber kein Normsetzungsmonopol verleiht. Entsprechend komme eine staatliche Regelung in dem Bereich, der auch Tarifverträgen offen steht, jedenfalls dann in Betracht, wenn der Gesetzgeber sich, erstens, auf Grundrechte Dritter oder andere mit Verfassungsrang ausgestattete Rechte stützen kann und, zweitens, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahrt. Bei der anzustellenden Verhältnismäßigkeitsprüfung komme es wesentlich auf den Gegenstand der gesetzlichen Regelung an, weil die Wirkkraft des Grundrechts in dem Maße zunehme, in dem eine Materie aus Sachgründen am besten von den Tarifvertragsparteien geregelt werden könne. Das treffe „vor allem für die 4

1 BvR 712/86, BVerfGE 94, 268.

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Festsetzung der Löhne und der anderen materiellen Arbeitsbedingungen“ zu, weil die Tarifvertragsparteien dort nach der dem Art. 9 Abs. 3 GG zugrunde liegenden Vorstellungen des Verfassungsgebers die gegenseitigen Interessen angemessener zum Ausgleich bringen könnten als der Staat. Für andere Arbeitsbedingungen sei der Grundrechtsschutz des Art. 9 Abs. 3 GG nicht gleich intensiv, so dass eine Einschränkung verhältnismäßig sein könne. Dies gelte insbesondere dann, wenn nicht in eine schon bestehende tarifliche Regelung eingegriffen werde. Beide Voraussetzungen hat das Bundesverfassungsgericht bei den Befristungsregelungen des Hochschulrahmengesetzes als gegeben angesehen. Der Gesetzgeber habe sich bei diesen Regelungen auf Art. 5 Abs. 3 GG und seine daraus folgende Verpflichtung stützen können, die Pflege der freien Wissenschaft und ihre Vermittlung an die nachfolgende Generation durch Bereitstellung von personellen, finanziellen und organisatorischen Mitteln zu ermöglichen und zu fördern. Die Befristungsregelungen seien auch verhältnismäßig, und zwar auch insofern, als sie abweichende tarifliche Regelungen sperrten. Der Eingriff in die Koalitionsfreiheit wiege hier vor allem deswegen nicht besonders schwer, weil die Regelung keine Tarifnorm außer Kraft gesetzt habe. Deshalb komme dem durch die erweiterte Befristungsmöglichkeit erreichte Nutzen für die Hochschulen und Forschungseinrichtungen höheres Gewicht zu. Diese vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Maßstäbe beanspruchen auch über die Befristungsregelungen, damals des Hochschulrahmengesetzes und jetzt des WissZeitVG, hinaus Geltung. Denn sie geben allgemeine Maßstäbe für die Lösung des Konflikts zwischen Koalitionsfreiheit und Wissenschaftsfreiheit: Jede Beschränkung der Koalitionsfreiheit und damit auch jede Beschränkung tariflicher Regelungen bedarf auch im Bereich des Hochschulrechts der verfassungsrechtlichen Grundlage. Zugleich muss sie verhältnismäßig sein. Was den ersten Punkt anlangt, bietet für Regelungen, welche der Sicherung der Wissenschaftsfreiheit dienen, Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG diese Grundlage. Gleichermaßen bietet für Maßnahmen zugunsten der Studierfreiheit Art. 5 Abs. 3 oder Art. 12 Abs. 1 GG die Basis. Die Prüfung der Verhältnismäßigkeit hat, wie sonst auch, nach den Maßstäben Geeignetheit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne zu erfolgen. Dabei ist wiederum wesentlich, welche Materie aus Sachgründen am besten von den Tarifvertragsparteien geregelt werden kann und bei welcher der Pflege der freien Wissenschaft und der Sicherung der Studierfähigkeit die größere Bedeutung zukommt. 2. Koalitionsfreiheit und staatliches Organisationsrecht Staatliche Regelungen der Amtsaufgaben und der Rechtsverhältnisse des Hochschulpersonals gründen in der demokratisch legitimierten Ausübung von Staatsgewalt und damit letztlich im Demokratieprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG. Organisato-

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rische und personelle Maßnahmen, die schwerpunktmäßig die Erledigung von Amtsaufgaben betreffen, können deshalb der parlamentarischen Verantwortlichkeit nicht entzogen werden. Dieser vom Bundesverfassungsgericht gegenüber den Befugnissen von Personalräten zur Geltung gebrachte Grundsatz,5 muss auch im Verhältnis von Koalitionsfreiheit und Tarifautonomie einerseits und staatlichem Organisationsrecht andererseits beachtet werden. Der Staat darf sich auch nicht im Wege von Tarifverträgen, mögen diese erkämpft sein oder nicht, seiner Entscheidungskompetenz für organisatorische und personelle Maßnahmen begeben, die schwerpunktmäßig die Erledigung von Amtsaufgaben betreffen. Dass die verantwortlichen Amtsträger nicht in eine Lage gebracht werden dürfen, in der sie Maßnahmen, die für die zeitgerechte Erstellung der Bedingungen einer ordnungsgemäßen Erfüllung des Amtsauftrags notwendig sind, nur um den Preis von Zugeständnissen durchsetzen können, die sie nicht oder nur mit Einschränkung für sachgerecht halten und die sie sonst nicht einzuwilligen bereit wären,6 gilt gegenüber den Gewerkschaften in gleicher Weise wie gegenüber Personalräten. Ceteris paribus gilt auch dabei das Konzept der Verhältnismäßigkeit: Eine organisatorische und personelle Maßnahme berührt unvermeidlich auch die Interessen der Beschäftigten, welche von deren Koalitionen vertreten werden. Deshalb muss der Koalitionsfreiheit soweit wie möglich, und gemessen am Gewicht der wahrzunehmenden Amtsaufgabe vertretbar, Rechnung getragen werden. 3. Freiwillige Absprachen? Dass die Arbeitsverhältnisse von Hochschullehrern und wissenschaftlichen Mitarbeitern regelmäßig zum Land bestehen, legt die Überlegung nahe, zwischen Gewerkschaften und Hochschulen schuldrechtliche Absprachen zu treffen, die zwar keine Normwirkung für die Arbeitsverhältnisse entfalten, aber die Hochschule schuldrechtlich zu bestimmten Verhaltensweisen gegenüber ihren Hochschullehrern und wissenschaftlichen Mitarbeitern verpflichten. Etwa wäre es denkbar, dass Gewerkschaft und Hochschule Vereinbarungen über die Lehrverpflichtung wissenschaftlicher Mitarbeiter oder über deren Recht zu eigener wissenschaftlicher Tätigkeit treffen. Derartige Vereinbarungen wären unzulässig und damit nach § 134 BGB nichtig, soweit sie die gesetzlichen Vorgaben der Landeshochschulgesetze missachten. Die im Interesse der Wissenschaftsfreiheit getroffenen zwingenden gesetzlichen Bestimmungen können auch auf diese Weise nicht mit Hilfe der Koalitionsfreiheit beiseite geschoben werden. Der Konflikt zwischen Koalitionsfreiheit einerseits und Wissenschaftsfreiheit, Studierfreiheit und Organisationsrecht des Staates andererseits lässt sich nicht mit dem Argument leugnen, dass es in der Entscheidung der Länder und der Hochschulen liege, ob sie sich auf für Wissenschaftsfreiheit, Studier5 6

BVerfG 24. 5. 1995, 2 BvF 1/92, BVerfGE 93, 37, Rn. 148. BVerfG aaO, Rn. 151.

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freiheit und Organisationsrecht des Staates relevante tarifliche Regelungen einlassen oder nicht. Diese Überlegung vernachlässigt, dass angesichts der Dynamik, welche Tarifverhandlungen entfalten können, keine Gewähr dafür besteht, dass die Länder als Arbeitgeber unangemessene Tarifverträge und die Hochschulen unangemessene schuldrechtliche Vereinbarungen ablehnen. Insbesondere kann nicht ausgeschlossen werden, dass unter dem Druck von Arbeitskampfmaßnahmen oder im Zusammenhang mit Verhandlungen über andere arbeitsrechtliche Gegenstände auch solche wissenschaftsrelevanten Fragen zur Disposition gestellt werden. Aus eben diesem Grund hat das Bundesverfassungsgericht die die öffentlichen Arbeitgeber erfassende Tarifsperre der Befristungsregelungen im Hochschulbereich als verfassungsrechtlich gerechtfertigt angesehen.7 III. Entscheidungen über die Begründung und Beendigung von Arbeitsverhältnissen 1. Befristungsregelungen Dass die Befristungsregelungen jetzt des WissZeitVG der Koalitionsfreiheit standhalten, ist durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 24. April 1996 im Grundsatz geklärt. Zwei Punkte sind aber hervorzuheben: Anders als die §§ 57a ff. Hochschulrahmengesetz erstreckt § 1 Abs. 1 WissZeitVG den Anwendungsbereich der Befristungsregelungen auf das gesamte wissenschaftliche und künstlerische Personal. Das trägt der veränderten Kompetenz für die Personalstruktur der Hochschulen Rechnung: Nachdem die Rahmenkompetenz des Bundes für das Hochschulrecht (früher Art. 75 Abs. 1 Nr. 1 GG) entfallen ist, liegt deren Regelung in der Kompetenz der Länder.8 Das „Zusammenspiel“ der Kompetenz des Bundes für das Arbeitsrecht (Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG) und der Länderkompetenzen für das Hochschulrecht9 ergibt, dass der Bund zwar bestimmen kann, dass besondere Befristungsregelungen nur für wissenschaftliche Tätigkeiten gelten, dass es aber bei den Ländern liegt zu bestimmen, für welche wissenschaftliche Tätigkeiten sie von diesen besonderen Befristungsbestimmungen Gebrauch machen. Insbesondere muss es ihnen freistehen, auch solche wissenschaftlich tätige Personen dem wissenschaftlichen Personal zuzurechnen, deren Arbeitsverhältnis nicht auf weitere wissenschaftliche Qualifizierung angelegt ist, sondern sich auf Dienstleistung in Forschung und Lehre oder Weiterbildung beschränkt.10

7

BVerfG 24. 4. 1996 aaO unter C II 2 a der Gründe. Löwisch, Föderalismusreform: Neue Gestaltungsspielräume der Länder mit Auswirkungen auf das Arbeitsrecht, FS Otto, 2008, 317 (321). 9 Vgl. BVerfG 27. 7. 2004, 2 BvF 2/02 Rn. 113, BVerfGE 111, 226. 10 Löwisch, NZA 2007, 479; a.M. insbesondere Preis, § 1 WissZeitVG Rn. 9 ff. 8

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Das Bundesarbeitsgericht hat sich dieser Konsequenz im Bezug auf die Lehrkräfte mit besonderen Aufgaben in einem Urteil vom 1. 6. 2011 verweigert.11 Es steht auf dem Standpunkt, das WissZeitVG habe seinen personellen Anwendungsbereich eigenständig und abschließend geregelt. Ob und inwieweit die Länder Lehrkräfte für besondere Aufgaben dem wissenschaftlichen Personal zurechneten, hält es für belanglos. Damit unterläuft es die Länderkompetenz für das Hochschulrecht. Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner, die ursprüngliche Regelung der Juniorprofessur betreffenden, Entscheidung vom 27. 7. 200412 zur damaligen Verfassungslage ausgeführt, dass dem Bundesgesetzgeber nicht das Recht zustehe, unter Nutzung der Kompetenzvorschrift des Art. 75 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 GG mit Regelungen zum öffentlichen Dienstrecht der Hochschulen eine grundlegende Veränderung der Personalstruktur der Hochschulen vorzunehmen und damit „die Restriktionen des Art. 75 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1a GG zu unterlaufen“. Dieses Verbot eines Unterlaufens muss sinngemäß auch für das Verhältnis von Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG zu der nunmehr alleinigen Länderkompetenz für die Hochschulen gelten. Auch die Regelung der Befristung von Beschäftigungsverhältnissen im Hochschulbereich trägt hochschulrechtlichen Charakter. Dem wird nur eine Interpretation des WissZeitVG gerecht, welche den Ländern die Befugnis überlässt zu bestimmen, welche mit Forschung und Lehre befassten Arbeitnehmer den Befristungsregelungen unterstehen sollen. Auch wenn man dem Bundesarbeitsgericht in seiner Kompetenzvorstellung folgt, muss ihm widersprochen werden, soweit es die Lehrkräfte für besondere Aufgaben nicht dem Begriff des wissenschaftlichen Personals im Sinne von § 1 Abs. 1 Satz 1 WissZeitVG zurechnen will. Seine Annahme, es bedürfe keiner die Innovation von Forschung und Lehre sichernden Fluktuation der Lektoren, wenn diese rein sprachvermittelnd, also ohne eigenverantwortliches Einbringen eigener, neuer Erkenntnisse, tätig werden, ist falsch. Ein aktualitätsbezogener Sprachunterricht an den Hochschulen ist auf Dauer nur möglich, wenn ein, den Nachzug aus den jeweiligen Ländern ermöglichender, Wechsel der den Sprachunterricht erteilenden Lehrkräfte gewährleistet ist. Das Ziel, auf diese Weise einen aktualitätsbezogenen Sprachunterricht an den Hochschulen zu sichern, ist aber, wie das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich sagt, „gemessen an Art. 5 Abs. 3 GG legitim“; es handelt sich um „ein Qualitätsmerkmal, das Hochschulen für ihren Unterricht verlangen dürfen“.13 Voraussetzung ist nur, dass die Hochschule tatsächlich ein System verfolgt, dass zur Sicherung des Aktualitätsbezugs geeignet ist. Die befristete Beschäftigung von Lektoren über Jahrzehnte hinweg lässt sich so nicht rechtfertigen.14 Dass ihre Tätigkeit an Hochschulen wissenschaftliche Lehre in diesem Sinne darstellt, entspricht im Übrigen auch dem Selbstverständnis der Lektoren. Sie sehen sich 11 BAG vom 1. 6. 2011, 7 AZR 827/09, NZA 2011, 1280 gegen die Vorinstanz LAG BadenWürttemberg 16. 7. 2009, 10 Sa 2/09, ZTR 2010, 95. 12 Wie Fußn. 9. 13 BVerfG 24. 4. 1996 aaO unter C II 2 f. 14 Löwisch/Wertheimer, in: Hartmer/Detmer (Fußn. 2), S. 489, Rn. 232.

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in der Verantwortung für „wissenschaftlich reflektierte Lehrveranstaltungen die mit Elementen der Didaktik, Landeskunde und der Sprachpraxis verzahnt sind“ und mit denen sie „einen unverzichtbaren Beitrag zur Internationalisierung der Wissenschaft“ leisten.15 Man muss auch bedenken, dass die Auffassung des Bundesarbeitsgerichts alsbald zu Ausweichstrategien verleitet, welche den Schutzinteressen der Lehrkräfte für besondere Aufgaben zuwiderlaufen. Insoweit ist insbesondere auf die Möglichkeit der sachgrundlosen zweijährigen Befristung nach § 14 Abs. 2 TzBfG hinzuweisen. Sie wird heute schon teilweise gebraucht16 und kann nach der neuesten Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts unter Wahrung einer Karenzzeit von drei Jahren künftig auch wiederholt gebraucht werden.17 § 1 Abs. 1 Sätze 3 und 4 WissZeitVG geben den Tarifvertragsparteien die Befugnis, für bestimmte Fachrichtungen und Forschungsbereiche von der in § 2 Abs. 1 WissZeitVG vorgesehenen Befristungsdauer abzuweichen und die Anzahl der zulässigen Verlängerungen festzulegen. Das begegnet Bedenken. Fachrichtungen und Forschungsbereiche zu bestimmen, in denen ein anderes Bedürfnis für Befristungsregelungen besteht als sie in § 2 WissZeitVG vorgesehen sind, ist eine genuine hochschulrechtliche Frage. Sie fällt schon kompetenzrechtlich gesehen nicht mehr in die Zuständigkeit des Bundes, sondern in die alleinige Zuständigkeit der Länder für das Hochschulrecht. Zudem griffe eine entsprechende tarifliche Regelung in die Wissenschaftsfreiheit der Hochschulen ein. Entsprechende tarifliche Regelungen bestehen freilich bislang nicht. 2. Kündigungsregelungen Kündigungsbeschränkungen durch Tarifvertrag sind in zwei Richtungen denkbar. Bestimmt werden könnte, dass ordentliche Kündigungen nach einer bestimmten Dauer des Arbeitsverhältnisses ausgeschlossen sein sollen, wie das etwa in § 34 Absatz 2 des Tarifvertrags für den öffentlichen Dienst der Länder vorgesehen ist. In Betracht kommt aber auch, dass die Kündigung von der Zustimmung der Tarif schließenden Gewerkschaft abhängig gemacht wird.18 Eine Erweiterung der Rechte des Personalrats bei Kündigungen kommt hingegen wegen des bislang abschließenden Charakters der Landespersonalvertretungsgesetze19 nicht in Betracht. Kündigungsbeschränkungen, welche an die Dauer des Arbeitsverhältnisses geknüpft sind, begegnen grundsätzlich keinen Bedenken. Dem Bedürfnis der Hoch15 Vgl. Thiede, Lektor/innen: Lohnsklaven der Wissenschaft, http://www.gew-bw.de/Lektorinnen_Lohnsklaven_der_Wissenschaft.html (zuletzt abgerufen: 12. 01. 2012). 16 Vgl. zur entsprechenden Praxis am Uni-Zentrum Würzburg den Bericht der Mainpost vom 10. 7. 2010 S. 9. 17 BAG vom 6. 4. 2011, 7 AZR 616/09, EzA § 14 TzBfG Nr. 77. 18 Allgemein hierzu BAG 24. 2. 2011, 2 AZR 830/09, DB 2011, 1399 für einen Sanierungstarifvertrag. 19 Dazu Löwisch, aaO, FS Otto, 2008, 317 (323 ff.).

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schulen, Qualität und Flexibilität zu wahren, kann durch ihr Recht, Arbeitsverhältnisse der wissenschaftlichen Mitarbeiter und, soweit die Drittmittelforschung betroffen ist, auch des nicht-wissenschaftlichen Personals zu befristen, genügend Rechnung getragen werden. Soweit ausnahmsweise wegen wissenschaftsrelevanter Konflikte eine Auflösung unbefristeter Arbeitsverhältnisse notwendig ist, bleibt das unabdingbare Recht der Kündigung aus wichtigem Grund nach § 626 BGB. Die Ausübung eines an sich gegebenen Kündigungsrechts von der Zustimmung der Gewerkschaft abhängig zu machen, ist mit der Wissenschaftsfreiheit freilich nicht vereinbar. Das Bundesverfassungsgericht hat für den Bereich der privaten Wirtschaft ausgesprochen, dass sich die in § 102 BetrVG vorgesehene Mitwirkung des Betriebsrats auf ein Anhörungsrecht beschränken muss, soweit Tendenzträger im Sinne des § 118 BetrVG aus tendenzbedingten Gründen gekündigt werden soll.20 Der dahinter stehende Gedanke, dass Kündigungen von Einflüssen institutionalisierter Arbeitnehmervertretungen freigehalten werden müssen, soweit tendenzbegründete Entscheidungen in Frage stehen, gilt jedenfalls im Bereich der Wissenschaft in gleicher Weise wie gegenüber dem Betriebsrat auch gegenüber Gewerkschaften. Insoweit muss sich die Wissenschaftsfreiheit gegenüber der Koalitionsfreiheit durchsetzen. 3. Einstellung Nicht hinnehmbar wäre eine tarifliche Regelung, welche die in den Landeshochschulgesetzen vorgesehene Möglichkeit, dass ein Wissenschaftler selbst Arbeitsverträge mit wissenschaftlichen Mitarbeitern begründet,21 ausschlösse oder einschränkte. Es ist schon fraglich, ob eine solche Regelung überhaupt unter die Tarifmacht fällt oder es sich nur um eine schuldrechtliche Regelung im Sinne des oben unter II. 3. Erörterten handelt. Jedenfalls griffe eine solche Regelung in die Wissenschaftsfreiheit der Hochschullehrer ein, ohne dass dies gerechtfertigt wäre. Zudem missachtete sie den zwingenden Charakter derartiger gesetzlicher Bestimmungen. Diese sollen dazu beitragen, die notwendigen Ressourcen für Forschung und Lehre an den Hochschulen zu sichern, und stehen damit im Dienst der Wissenschaftsfreiheit der Hochschulen selbst. Das Interesse der Koalitionen, den Wissenschaftlern ausnahmslos den Staat als Vertragspartner zu verschaffen, muss demgegenüber zurücktreten. IV. Regelung des Inhalts des Arbeitsverhältnisses 1. Dauer der Arbeitszeit und Lehrverpflichtung Die Dauer der Arbeitszeit gehört wie das Arbeitsentgelt zu den zentralen Gegenständen des Tarifwesens. Deshalb müssen sich tarifliche Regelungen der Dauer der

20 21

BVerfG 6. 11. 1979, 1 BvR 81/76, EzA § 118 BetrVG Nr. 23. Vgl. etwa § 41 Absatz 3 Satz 3 Landeshochschulgesetz Baden-Württemberg.

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Arbeitszeit, insbesondere auch Arbeitszeitverkürzungen, gegenüber Bedürfnissen der Hochschulen grundsätzlich durchsetzen. In einer die tarifliche Arbeitszeitverkürzung für angestellte Hochschullehrer betreffenden Entscheidung vom 17. 10. 200722 ist das Bundesarbeitsgericht aber davon ausgegangen, dass auch der Umfang der Lehrverpflichtung tariflich regelbar ist. Das stößt auf die Lehrverpflichtungsverordnungen, deren Regelungen zwingend gemeint sind, weil sich nach ihnen die in den Kapazitätsverordnungen geregelte Aufnahmepflicht der Hochschulen in den Numerus-clausus-Fächern richtet.23 Der insofern bestehende Konflikt zwischen der Koalitionsfreiheit einerseits und der Studierfreiheit andererseits muss zugunsten der Letzteren gelöst werden. Die Lehrverpflichtungsverordnungen dienen im Sinne der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 24. April 199624 der Verwirklichung eines grundrechtlich geschützten Werts. Sie wahren auch den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Verhindert wird nur eine erst potentielle Regelung der Konkretisierung des Direktionsrechts. Auf der anderen Seite geht es um die Gewährleistung der Studierfreiheit von Studenten insbesondere der Numerus-clausus-Fächer. 2. Beschränkung von Nacht- und Sonntagsarbeit Um den Bedürfnissen der Hochschulen Rechnung zu tragen, sieht § 14 Abs. 2 Nr. 2 Arbeitszeitgesetz vor, dass bei Forschung und Lehre von den allgemeinen gesetzlichen Arbeitszeitregelungen abgewichen werden kann, wenn dem Arbeitgeber andere Vorkehrungen nicht zugemutet werden können. Darin kommt zum Ausdruck, dass die allgemeinen gesetzlichen Arbeitszeitregelungen nicht ausreichen, um den für die Forschung notwendigen Freiraum in arbeitszeitrechtlicher Hinsicht zu gewährleisten. Dementsprechend wird man tarifliche Regelungen, welche die Nutzung dieser Ausnahme ausschließen oder gar die nach den allgemeinen Bestimmungen zulässige Nacht- und Sonntagsarbeit weiter beschränken wollen, als mit der Wissenschaftsfreiheit unvereinbar ansehen müssen. In der Abwägung kann die Wissenschaftsfreiheit den Vorrang beanspruchen, weil es sich nicht um den Kern der materiellen Arbeitsbedingungen handelt, sondern lediglich um die nähere Ausgestaltung der Arbeit. 3. Residenzpflicht Die Landeshochschulgesetze legen in unterschiedlicher Form eine Residenzpflicht für Hochschullehrer fest. So bestimmt etwa § 45 Abs. 8 Landeshochschulge22

4 AZR 778/06, ZTR 2008, 597 = AP Nr. 4 zu § 15 BAT-O, Rn. 45 f. Hierzu im Einzelnen Löwisch/Baeck, Tarifliche Regelung der Lehrverpflichtung des wissenschaftlichen Personals an staatlichen Hochschulen, WissR 2009, 222, 224 f. 24 Wie Fußn. 4. 23

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setz Baden-Württemberg, dass Hochschullehrer ihre Wohnung so zu nehmen haben, dass sie ihre dienstlichen Aufgaben, insbesondere in Lehre, Forschung und Weiterbildung, Studienberatung und Fachbetreuung sowie in Gremien der Selbstverwaltung ordnungsgemäß wahrnehmen können. Auch sind sie verpflichtet, während der Vorlesungszeit an den Hochschulen anwesend zu sein, damit die ordnungsgemäße Erfüllung der Lehrverpflichtung sowie der Prüfungs- und Beratungsaufgaben und anderer Dienstaufgaben gewährleistet ist. Vorgesehen ist auch, dass hauptberuflich tätige Mitglieder der Hochschulen mit Lehrverpflichtungen ihren Erholungsurlaub und Heilkuren während der vorlesungsfreien Zeit zu nehmen haben.25 Tarifliche Regelungen, die solche Bestimmungen aufzuheben oder zu beschränken suchen, etwa bestimmen, dass eine Anwesenheit während der Vorlesungszeit nur für kurze Zeit, etwa einen Tag erforderlich ist und dass der Erholungsurlaub teilweise auch in der Vorlesungszeit genommen werden kann, lassen sich mit diesen Regeln nicht vereinbaren. Denn diese sind zwingend gemeint: Die Landeshochschulgesetze wollen sicherstellen, dass die Studenten eine vollwertige und betreute Ausbildung an den Hochschulen erhalten. In der Abwägung mit der Koalitionsfreiheit kommt diesen von der Studierfreiheit getragenen Bestimmungen wiederum der Vorrang zu. Eine unverhältnismäßige Einschränkung der Koalitionsfreiheit liegt in ihnen nicht. 4. Arbeitsgestaltung Insbesondere wissenschaftliche Mitarbeiter haben ein legitimes Interesse daran, genügend Zeit für eigene Forschung zu haben. Die Landeshochschulgesetze tragen dem Bedürfnis teilweise durch eine entsprechende Sollbestimmung Rechnung. So bestimmt § 52 Abs. 2 Satz 2 Landeshochschulgesetz Baden-Württemberg, dass akademischen Mitarbeitern im Rahmen ihrer Dienstaufgaben ausreichend Gelegenheit zu eigener vertiefter wissenschaftlicher Arbeit gegeben werden soll. Es lässt sich vorstellen, dass tarifvertraglich ein weitergehendes Recht zu eigener wissenschaftlicher Arbeit eingeräumt, etwa bestimmt werden soll, dass ein bestimmter Anteil der Arbeitszeit hierfür zur Verfügung steht. Auch solche Regelungen wird man nicht als zulässig ansehen können. Dass sich die Hochschulgesetze auf Sollbestimmungen beschränken, hat seinen Grund darin, dass den Vorgesetzten der akademischen Mitarbeiter die Verantwortung darüber zukommen soll, inwieweit solche eigene vertiefte wissenschaftliche Arbeit zu Lasten der eigentlichen Dienstaufgaben in Forschung und Lehre gehen darf. Diese Verantwortung darf tarifvertraglich nicht unterlaufen werden. In der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichtes ist anerkannt, dass der Arbeitnehmer bestimmte Arbeiten aus Gewissensgründen verweigern darf. Das gilt auch im Hochschulbereich. So kann ein wissenschaftlicher Mitarbeiter aus Gewissensgründen die Mitwirkung im Bereich der Militärforschung oder auch im Bereich 25

Etwa § 45 Abs. 3 LHG Baden-Württemberg.

Tarifverträge für das Hochschulpersonal

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der Kernenergieforschung verweigern. Freilich erschöpft sich in solchen Fällen nach der Rechtsprechung die Verpflichtung des Arbeitgebers darin, dem Arbeitnehmer soweit als möglich einen anderen Arbeitsplatz zuzuweisen. Besteht keine derartige Möglichkeit, kann das Arbeitsverhältnis personenbedingt aufgelöst werden.26 Tarifliche Regelungen, welche derartige Leistungsverweigerungsrechte aus Gewissensgründen konkretisieren, sind denkbar. Sie stoßen auch solange nicht auf die Wissenschaftsfreiheit der Hochschule, wie dieser das Recht bleibt, das Arbeitsverhältnis aufzulösen, wenn keine andere Beschäftigungsmöglichkeit besteht. Auch dieses Recht auszuschließen, würde freilich die Wissenschaftsfreiheit der Hochschule zu weit zurückdrängen. Das rechte Maß haben insoweit die in § 40 des Tarifvertrags für den öffentlichen Dienst der Länder enthaltenen Sonderregelungen für Beschäftigte an Hochschulen und Forschungsreinrichtungen gefunden. Sie bestimmen in ihrer Nr. 2 unter 3., dass der Arbeitgeber bei der Wahrnehmung des Direktionsrechts die Grundrechte der Wissenschaftsfreiheit und der Kunstfreiheit sowie das Grundrecht der Gewissensfreiheit zu beachten hat. Für Konfliktsfälle ist durch die Betriebsparteien, also Arbeitgeber und Personalrat, ein Ombudsmann oder eine Schlichtungskommission zu bestimmen, welche Empfehlungen für die Konfliktlösung aussprechen kann. Erst danach können die aus dem Arbeitsvertrag folgenden Rechte des Arbeitgebers Platz greifen.

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BAG 24. 5. 1989, 2 AZR 285/88, EzA § 611 Direktionsrecht Nr. 3.

Von der gerätebezogenen Rundfunkgebühr zum geräteunabhängigen Rundfunkbeitrag Zum Wechsel im Finanzierungssystem des öffentlich-rechtlichen Rundfunks Von Manfred Rehbinder, Zürich Im Konflikt um die Finanzierung der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten in Deutschland zwischen der Bundesrepublik und der Europäischen Kommission, welch letztere davon ausging, dass die damalige deutsche Rundfunkgebühr eine unerlaubte Beihilfe nach den Art. 86, 87 EG-Vertrag (jetzt: Art. 106, 107 AEUV) darstelle, kam es im Dezember 2006 zum sog. Beihilfekompromiss, auf dessen Grundlage durch Entscheid vom 24. April 2007 das EU-Verfahren eingestellt wurde. Die im Beihilfekompromiss versprochenen Änderungen des deutschen Rundfunkrechts wurden im 12. Rundfunkänderungsstaatsvertrag (RÄStV) umgesetzt1. Diese Vorgänge liessen die Kontroversen über die Rundfunkgebühr wiederaufleben, die sich an den geschätzten 20 % Schwarzhörern bzw. -sehern, an der Festsetzung der Höhe der Gebühr und an vielen Fragen ihrer Einziehung, an den Ausnahmen von der Gebührenpflicht usw. entzündeten. Die letzte grössere Änderung des Gebührenrechts war im Jahre 2007 erfolgt, als im Rahmen des 8. RÄStV die Gebührenpflicht internetfähiger PCs als „neuartige Rundfunkempfangsgeräte“ eingeführt wurde. Auch diese Neuerung stiess auf Kritik, da angesichts der technischen Konvergenz aller Kommunikationsgeräte zur Multimedialität (neuste Erscheinungsform: das Hybridfernsehen) eine Erstreckung der Rundfunkgebührenpflicht auf alle multifunktionellen Endgeräte zweifelhaft ist, weil bei diesen nicht von einer Vermutung der tatsächlichen Nutzung ihrer Funktionen ausgegangen werden kann. Nunmehr liegt den Bundesländern ein 15. RÄStV von 2010 und in dessen Rahmen ein (neuer) Rundfunkbeitragsstaatsvertrag vor, der den (alten) Staatsvertrag über die Regelung des Rundfunkgebührenwesens (RGebStV) von 1968 ersetzen soll. Gelingt die hierin vorgesehene Reform, so bedeutet das für die Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks eine grundlegende Neugestaltung.

1 Dazu Wagner, Abkehr von der geräteabhängigen Rundfunkgebühr, 2011, S. 237; Jahn, Drei-Stufen-Test und plurale Rundfunkaufsicht, 2011, S. 21 – 31, jeweils mit Nachweisen.

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I. Der Streit um die Rechtsnatur des Entgelts für den Rundfunkempfang Die geschichtliche Entwicklung der Rundfunkgebühr von ihren Anfängen im Fernmeldewesen (heute: Telekommunikation) bis zum jetzigen Trend einer Konvergenz der Medien ist kürzlich wieder in einer Abhandlung von Groepl in der FS Wadle2 eingehend geschildert worden. Sie macht deutlich, warum bisher stets eine Anknüpfung an die Empfangsgeräte erfolgte. Als nach Aufhebung besatzungsrechtlicher Rundfunkverbote nach dem 2. Weltkrieg der Rundfunk mit dem Hauptziel seiner Dezentralisierung wieder zugelassen wurde, da man ihn als Instrument einer ReEducation nutzen wollte, wurde die Deutsche Post auf die technische Seite beschränkt und das Funkprogramm in die Kompetenz der Bundesländer gelegt. Die Ansprüche auf Rundfunkgebühren standen den Landesrundfunkanstalten zu; die Post war nur als Einzugsbehörde zuständig3. Da der Gesetzgeber bis zum Ende der sechziger Jahre keine rechtliche Qualifikation der Gebühr vornahm und das BVerfG die Frage ausdrücklich offen liess4, standen sich im Nachkriegsdeutschland zwei Meinungen gegenüber.5 Nach herrschender Auffassung war die Rundfunkgebühr eine Konzessionsgebühr für die Verleihung des Rechts zur Benutzung einer Funkempfangsanlage (nämlich eines Radio- oder Fernsehgeräts). Das Gebührenwesen lag demzufolge in der Gesetzgebungskompetenz des Bundes. Nach der Gegenmeinung war die Rundfunkgebühr eine Anstaltsnutzungsgebühr als Gegenleistung für das Recht zum fortlaufenden Empfang des Rundfunkprogrammes. Das Gebührenwesen lag demzufolge in der Gesetzgebungskompetenz der Länder. Als das Bundesverwaltungsgericht am 15. März 1968 entschied, die Rundfunkgebühr sei eine landesrechtlich festzulegende Abgabe zur Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks6, schlossen die Bundesländer am 31. Okt. 1968 den Staatsvertrag über die Regelung des Rundfunkgebührenwesens. Damit war die wichtige Frage der Zuständigkeit der Länder entschieden und der fernmelderechtliche Charakter als Konzessionsabgabe verneint. Der Charakter als Programmnutzungsgebühr wurde hingegen weiterhin kontrovers beurteilt. Die Meinungen reichten von Steuer (Gemeinlast)7, über Anstaltsnutzungsgebühr8 und Bei-

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Groepl, FS Wadle, 2008, S. 317 – 335. Groepl (Fussn. 2), S. 327 f. mit weiteren Nachweisen. 4 BVerfGE 12, 205 (240), das 7. Rundfunkurteil betreffend das Gebührenwesen. 5 s. dazu Herrmann, Zur Zuständigkeit für die Regelung der Rundfunkgebühren, UFITA 50 (1967), S. 147 – 170, ferner Groepl (Fussn. 2). S. 329 mit weiteren Nachweisen. 6 BVerwGE 29, 214. 7 Sachs/Sieckmann, GG, 5. Aufl., 2009, vor Art. 104a Rn. 115; Reuters, Die Rundfunkgebühr auf dem Prüfstand der Finanzverfassung, 2009, S. 175; Hümmerich/Beucher, AfP 1989, 708 (714); Schmidt, Die Rundfunkgebühr in der dualen Rundfunkordnung, 1989, S. 59 f.; Gersdorf/Brosius-Gersdorf, Rechtsfragen des Teilnehmerentgeltsystems nach bayerischem Rundfunkrecht, 1997, S. 72. 3

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trag9 bis zur Annahme einer Mischform (Anstaltsnutzungsgebühr mit Beitragscharakter).10 Die Kennzeichnung als Nutzungsgebühr in ihrer reinen Form kommt allerdings nach herrschender Terminologie nicht in Frage, da eine Gebühr als Entgelt für eine tatsächlich bezogene Sonderleistung definiert wird, während die gerätebezogene Rundfunkgebühr ja auch geschuldet ist, wenn die Möglichkeit zum Empfang des Rundfunkprogramms gar nicht genutzt wird. Werden öffentliche Abgaben „aber nicht für tatsächliche, sondern für die potenzielle Inanspruchnahme einer staatlichen Einrichtung oder Leistung erhoben“, spricht man von Beiträgen.11 Auch wenn man bei den Besitzern der Rundfunkempfangsgeräte unterstellt, sie würden ihre Geräte auch tatsächlich nutzen, ist die Anknüpfung der öffentlich-rechtlichen Abgabepflicht am Besitz der Geräte und damit an die Empfangsmöglichkeit und nicht an die tatsächliche Nutzung eher dem rechtstechnischen Begriff des Beitrages zuzuordnen. Diese Zuordnung wird in dem Augenblick eindeutig, wenn man zur geräteunabhängigen Abgabepflicht übergeht, die in Zukunft an den Wohnungsbesitz oder an den Geschäftssitz anknüpfen wird. II. Offene Fragen eines geräteunabhängigen Rundfunkbeitrags Der im Rahmen des 15. RÄStV entwickelte Rundfunkbeitragsstaatsvertrag von 2008 hat mit seinen rechtspolitischen Entscheiden erhebliche Teile der Reformdiskussion über die Rundfunkfinanzierung hinfällig werden lassen, so die gründlichen Arbeiten von Fiebig, Gerätebezogene Rundfunkgebührenpflicht und Medienkonvergenz, 2008, und Eva-Ellen Wagner, Abkehr von der geräteabhängigen Rundfunkgebühr, 2011, sowie die beiden Gutachten von Paul Kirchhof, Die Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, 2010, und Bull, Datenschutzrechtliche Fragen im Zusammenhang mit der Einführung eines Rundfunkbeitrags, 2010. Der gegenwärtig relevante Diskussionsstand ergibt sich jetzt aus dem Beitrag von Hermann Eichler in der FS für Eberle, 2011 und dessen Auseinandersetzung mit Degenhart, Verfassungsrechtliche Zweifelsfragen des Rundfunkbeitragsstaatsvertrags, ZUM 2011, 193 –

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Herrmann, Die Rundfunkanstalt, AöR 90 (1965), 286 (325 f.); Maunz, in: Zehner, Der Streit vor dem Bundesverfassungsgericht, Bd. I (1964), S. 289 f.; Uffhausen, Die Benutzungsgebühr, 1970, S. 122 ff. 9 Herrmann/Lausen, Rundfunkrecht, 2. Aufl., 2004, S. 791 f.; Fechner, Medienrecht, 10. A., 2009, S. 281; Kirchhof, Die Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, 2010, S. 46; Eberle, AfP 1995, 559 (560); Wagner, Abkehr von der geräteabhängigen Rundfunkgebühr, 2011, S. 28 – 30. 10 Ipsen, Rundfunkgebühr, 2. Aufl., 1958, S. 60 f.; Hesse, Rundfunkrecht, 3. Aufl., 2003, Rn. 132; Libertus, in Hahn/Vesting, Beck’scher Kommentar zum Rundfunkrecht, 2. Aufl., 2008, § 13 RStV, Rn. 14. 11 s. Zippelius/Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 31. Aufl. 2005, § 50 II 2b, S. 472 f.

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200, sowie Bosman, Paradigmenwechsel in der Rundfunkfinanzierung, K&R 2012, 5 – 11. 1. Unwiderlegbare Vermutung der Rundfunkteilnahme Der gravierendste Einwand gegen den neu geregelten Rundfunkbeitrag ist das Argument, durch die Anknüpfung der Beitragspflicht an die Wohnung oder die Betriebsstätte anstelle der Empfangsgeräte werde dem Beitragsschuldner der Einwand genommen, er besitze kein Empfangsgerät und könne daher kein Rundfunkteilnehmer sein. Ein Beitrag aber erfordere anders als die Zwecksteuer eine Gegenleistung, die der Beitragsschuldner für seine Leistung erhält. Dieses Prinzip der Gegenseitigkeit werde verletzt, wenn von einer unwiderlegbaren Vermutung der Nutzung des Rundfunkangebots ausgegangen werde.12 Dem ist jedoch entgegenzuhalten, dass die Gegenleistung für den Rundfunkbeitrag nicht erst im tatsächlichen Rundfunkempfang besteht, sondern bereits in der Schaffung der Empfangsmöglichkeit. Es wird vermutet, dass von der Empfangsmöglichkeit in Wohnungen und Betriebsstätten auch tatsächlich Gebrauch gemacht wird. Die Empfangsmöglichkeit stellt für den Bürger in einer Mediengesellschaft bereits einen Vorteil und damit eine Gegenleistung dar wie der Anschluss seiner Wohnung oder seiner Betriebsstätte an Wasser und Licht. Dieser Vorteil entfällt nur dann, wenn nachgewiesen werden kann, dass ein Empfang objektiv unmöglich ist, was wegen der instrumentellen Vielfalt gegenwärtiger Verbreitungswege von Rundfunkprogrammen kaum vorkommen sollte. Der Gesetzgeber kann also nach P. Kirchhof13 „von der Vermutung ausgehen, dass die Inländer in Deutschland regelmässig einen Vorteil aus dem Rundfunkangebot ziehen, weil die Nutzbarkeit dieses Angebots den Handlungsraum ihrer Meinungs- und Informationsfreiheit, ihrer allgemeinen Handlungsfreiheit, bei beruflicher Nutzung auch ihrer Berufsfreiheit deutlich erweitert und sie dieses Angebot in der Regel nutzen.“ Für den (angesichts der vielfältigen Verbreitungsmöglichkeiten von Rundfunk) unwahrscheinlichen Fall objektiver Unmöglichkeit der Nutzung hat Eichler zu Recht auf die Härtefallklausel in § 4 Abs. 6 RBStV verwiesen, die die Rundfunkanstalten zur Befreiung von der Beitragspflicht verpflichtet14. 2. Mehrfachgebührenpflicht in Wohnungen Die jetzige Gebührenbefreiung für Zweitgeräte stellt faktisch die Anknüpfung der Abgabepflicht an die Wohnung dar, da es hier nicht auf die Anzahl der Empfangsgeräte eines Abgabepflichtigen ankommt. Wohl aber gibt es innerhalb derselben Wohnung die Mehrfachgebührenpflicht, z. B. für Wohngemeinschaften oder Familienmitglieder mit eigenem Einkommen und eigenen Geräten. Hier kommt es häufig zu Auseinandersetzungen, da für die Voraussetzungen einer Mehrfachgebühren12

s. Degenhart, ZUM 2011, 193 (196). Kirchhof (Fussn. 9), 2010, S. 57. 14 Eichler, FS Eberle, 2011, S. 75.

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pflicht die Rundfunkanstalten beweispflichtig sind, ohne ein Recht auf Betreten der betreffenden Wohnung zu haben. Man ist also auf die freiwilligen Angaben der Abgabenschuldner angewiesen. Der neue Grundsatz: Eine Wohnung, ein Beitrag beseitigt auch hier ein „strukturelles Erhebungsdefizit“. Die (geschätzte) Anzahl von „Schwarzhörern“ (gegen 20 %) ist also höher, als offiziell zugegeben wird, ein Verstoß gegen das verfassungsrechtliche Gebot der Belastungsgleichheit liegt hier nahe.15 3. Beitragspflicht für Betriebsstätten und für betrieblich genutzte Kraftfahrzeuge Die nichtprivate Nutzung des Programmangebots soll durch einen Betriebsstättenbeitrag abgegolten werden, der nach der Mitarbeiterzahl gestaffelt ist, sodass auch hier die Anzahl der Empfangsgeräte nicht kontrolliert zu werden braucht. Das Gebot der Lastengleichheit stand dabei den Forderungen der Handwerkskammern entgegen, kleine Handwerksbetriebe von der Beitragspflicht völlig auszunehmen.16 Es mag zwar zutreffen, dass Rundfunkprogramme auch in der „heutigen Arbeitswelt“ weniger häufig genutzt werden als im Privatbereich, und es ist sicher, dass die Mitarbeiter eines Betriebes keine soziale Gruppe bilden, die sich zum gemeinsamen Empfang von Rundfunkprogrammen versammelt hat.17 Das Grundgesetz verpflichtet aber den Gesetzgeber, für einen funktionierenden Rundfunk zu sorgen, und dies berechtigt ihn, zu diesem Zwecke Abgaben zu erheben, die er in zulässiger Weise, da es sich ja um ein Massenphänomen handelt, typisieren darf.18 Der unternehmerische Vorteil der Nutzung von Rundfunkempfangsmöglichkeiten während der Arbeitsvorgänge besteht nicht so sehr in der Vergrösserung des „betrieblichen Wissens“, das „in der Regel aus meist kostenpflichtigen Datenbanken bezogen wird“19, sondern besteht, wie die Arbeitspsychologie bestätigt, in einer Erhöhung der Arbeitsleistung für den Fall des Rundfunkempfangs nicht nur in den Arbeitspausen, sondern vor allem während des gesamten Betriebsgeschehens durch die allgegenwärtige Backgroundmusic. In Betriebsstätten mit Publikumsverkehr (Kaufhäuser, Arztpraxen) führt die Nutzung von Rundfunkprogrammen auch unmittelbar zur Steigerung des wirtschaftlichen Erfolgs. Das gesetzgeberische Gestaltungsermessen bei der Typisierung findet jedoch am verfassungsrechtlichen Gleichheitssatz seine Grenze, wenn es zum Systembruch führt.20 Einen solchen sieht Degenhart in der vorgesehenen Beitragspflicht für be15

Degenhart (Fussn. 12), S. 195 mit weiteren Nachweisen. Eichler (Fussn. 14), S. 77. 17 So begründet Degenhart (Fussn. 12), S. 196, seine verfassungsrechtlichen Zweifel an der Rechtmässigkeit des Betriebsstättenbeitrags. 18 Dazu Degenhart (Fussn. 12), 196 f. mit Nachweisen zur zulässigen Typisierung im Steuerrecht. 19 Degenhart (Fussn. 12), S. 196. 20 s. Englisch, in: Stern/Becker, Grundrechtekommentar, 2010, Art. 3 Rn. 33, 133, 146 ff. mit weiteren Nachweisen. 16

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triebsgenutzte Kraftfahrzeuge (§ 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 RÄStV); denn systemwidrig handle es sich hier „um nichts anderes als den bisherigen gerätebezogenen Beitrag.“21 Zu Recht verweist demgegenüber Eichler22 auf die amtliche Begründung zu § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 des 15. RÄStV, nach der Anknüpfungspunkt für die Beitragspflicht für Kraftfahrzeuge nicht das Bereithalten eines Empfangsgeräts ist, „sondern vielmehr (wie bei der Wohnung und der Betriebsstätte) das Existieren einer Raumeinheit, in der üblicherweise eine Rundfunknutzung stattfindet (typisierende Betrachtungsweise).“ Es wird also die abgabepflichtige Betriebsstätte ausgedehnt auf die gewerblich genutzen Kraftfahrzeuge, in denen während ihrer Nutzung ausserhalb der Betriebsstätte typischerweise Radios genutzt werden. Eichler führt als Extrembeispiel die Autovermieter an, deren Fahrzeugflotte in die 10.000 reicht.23 Die Mieter solcher Fahrzeuge mögen diese privat oder gewerblich nutzen, aber sie tun dies ausserhalb ihrer Wohnung oder Betriebsstätte. Dass sie die Empfangsmöglichkeit ausserhalb ihrer Wohnung oder Betriebsstätte erhalten, sollte die zusätzliche Belastung der Fahrzeuge mit einer Abgabe rechtfertigen. Diese wird beim Vermieter erhoben, da dieser den Vorteil der Empfangsmöglichkeit gewerblich nutzt; eine aus Gründen der Einziehungspraxis einleuchtende Typisierung. 4. Die geräteunabhängige Rundfunkabgabe als Beitrag Fragt man nach der rechtlichen Einordnung der geräteunabhängigen Rundfunkabgabe in das System der öffentlich-rechtlichen Abgaben, was über deren finanzverfassungsrechtliche Zulässigkeit entscheidet, so wird man in den öffentlichen Diskussionen über den Systemwechsel am häufigsten von „Steuer“ reden hören. Würde es sich hier tatsächlich um eine Steuer im abgabenrechtlichen Sinne handeln, dann würde der in Aussicht genommene Systemwechsel zur geräteunabhängigen Abgabe eine Grundgesetzänderung erfordern. Denn eine zwecks Finanzierung eines funktionierenden Rundfunks vom Staat erhobene Rundfunkzwecksteuer würde dem parlamentarischen Budgetrecht unterfallen und dieses würde mit der grundgesetzlich garantierten Staatsfreiheit des Rundfunks unvereinbar sein.24 Das Finanzverfassungsrecht unterscheidet jedoch Steuern und sonstige nichtsteuerliche Abgaben. „Steuern sind einmalige oder laufende Geldleistungen, die keine Gegenleistung für eine besondere Leistung des Staates darstellen, zur Erzielung von Einnahmen für den allgemeinen Finanzbedarf des Staates dienen und allen auferlegt werden, auf die der gesetzliche Tatbestand zutrifft.“25 Die geräteunabhängige Rundfunkabgabe dient allein der Finanzierung der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten und der Landesmedienanstalten, dient also nicht dem allgemeinen Finanz21

Degenhart (Fussn. 12), S. 198. Eichler (Fussn. 14), S. 76. 23 Eichler (Fussn. 14), S. 76. 24 Wagner (Fussn. 1), S. 232 f. 25 Zippelius/Würtenberger (Fussn. 11), § 50 II 1a, S. 469. 22

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bedarf. Die Rundfunkabgabe kann also keine Steuer sein. Zwar gibt es auch die sog. Zwecksteuer. Doch müssen die hierdurch erhobenen Mittel in den Staatshaushalt als zweckgebunden einfliessen, während die Rundfunkabgabe den Anstalten direkt zur Verfügung stehen soll.26 Auf jeden Fall aber ist die Rundfunkabgabe erklärtermaßen als Entgelt für eine vermögenswerte Sonderleistung gedacht. Diese besteht in der Empfangsmöglichkeit von Rundfunkprogrammen. Die Zurverfügungstellung der Empfangsmöglichkeit gehört in der heutigen Mediengesellschaft im Umfang der sog. Grundversorgung27 zur staatlichen Daseinsvorsorge. Der Rundfunk nimmt damit eine öffentliche Aufgabe wahr, die wegen des Verfassungsgebots der Staatsfreiheit in Art. 5 GG28 keine Staatsaufgabe ist. Für deren Wahrnehmung darf er ein angemessenes Entgelt verlangen. Entgeltpflichten für besondere Leistungen der öffentlichen Hand kommen als nichtsteuerliche Abgaben vor allem in drei Erscheinungsformen vor, nämlich als Gebühren, als Beiträge und als Sonderabgaben.29 Während der Gesetzgeber bei Steuern, die dem allgemeinen Finanzbedarf des Staates für dessen Aufgabenerfüllung dienen, bei der Festsetzung der die Steuerpflicht auslösenden Tatbestände einen weiten Spielraum hat (sog. Steuerfindungsrecht)30, bedürfen nichtsteuerrechtliche Abgaben einer besonderen sachlichen Rechtfertigung. Sie dürfen also zum Schutze der Finanzkraft, die in erster Linie durch Steuern abschöpfbar sein soll und für die die Kompetenzregelung in Art. 105 GG, die Verteilungsregeln in Art. 106 f. GG und die Regeln über die Verwaltungszuständigkeiten in Art. 108 GG gelten, nicht beliebig sein.31 Die zur Zeit noch erhobene geräteabhängige Rundfunkabgabe ist eine Gebühr; denn sie dient dem Ausgleich für die Inanspruchnahme einer besonderen Leistung, nämlich dem tatsächlichen Rundfunkempfang, der bei dem Besitz eines Empfangsgerätes vermutet wird. Wird dagegen das Entgelt nicht für die tatsächliche, sondern für die potenzielle Inanspruchnahme einer Leistung erhoben, wie z. B. bei den Erschliessungsabgaben für Gas, Wasser, Licht oder die Strassenbaubeiträge, die von den Strassenanlegern erhoben werden, dann spricht man von einem Beitrag.32 Demgegenüber bezeichnet man es als Sonderabgabe, wenn wie bei der Steuer keine unmittelbare Gegenleistung erbracht wird und anders als bei der Steuer die Abgabe 26 Allerdings ist die Rechtslage bei der Abgrenzung von Steuer und sonstiger Abgabe anhand der Zuweisung der Einnahmen aus Zwecksteuern unklar, vgl. Wagner (Fussn. 1), S. 191 f. 27 Über die Grundversorgung als Auftrag der öffentlich-rechtlichen Anstalten: Zippelius/ Würtenberger (Fussn. 11), § 26 II 3c, S. 245; Hermann/Lausen (Fussn. 9) § 10 Rn. 146 – 150, S. 322 – 324. 28 s. BVerfGE 80, 124 (133). 29 s. dazu näher Kirchhof, Nichtsteuerliche Abgaben, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts Bd. V, 3. A. 2007, § 119. Diese Aufzählung ist nicht abschliessend (BVerfGE 108, 186 (215)). So gibt es z. B. auch Ausgleichsabgaben wie die arbeitsrechtliche Schwerbehindertenabgabe, vgl. Zippelius/Würtenberger (Fussn. 11), § 50 II 2c, S. 473. 30 Zippelius/Würtenberger (Fussn. 11), § 50 II 1a, S. 469. 31 BVerfGE 108, 1 (17). 32 BVerfG, NVwZ 2004, 1477 (1479 f.).

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nicht von der Gesamtheit der Steuerbürger, sondern nur von einer Gruppe zwecks Finanzierung besonderer Aufgaben erhoben wird, für die die finanzielle Verantwortung die Gruppe trägt, z. B. die Abgabe zwecks Holzabsatzförderung: BVerfGE 123, 132, 141 f.33 Die geräteunabhängige Rundfunkabgabe wird nicht von einer von der Allgemeinheit der Steuerbürger abgehobenen Sondergruppe von Abgabepflichtigen erhoben und soll nur diesen dienen, sondern Schuldner ist jeder Inhaber einer Wohnung oder Betriebsstätte. Die Vermutung der Nutzungsmöglichkeit des Rundfunkprogramms kann widerlegt werden, wenn der Betreffende beweist, dass die Möglichkeit des Rundfunkempfangs an den betreffenden Orten objektiv ausgeschlossen ist, selbst wenn er ein Empfangsgerät in diesen Räumlichkeiten vorhält (z. B. der Rundfunkempfang ist technisch per se ausgeschlossen oder die Räumlichkeiten sind für längere Zeit nicht von Menschen als Wohnung oder Betriebsstätte genutzt).34 Die geräteunabhängige Rundfunkabgabe ist mithin nicht als Sonderabgabe, sondern als Beitrag zu qualifizieren. Als Beitrag unterliegt sie zwar ähnlichen beschränkenden Regeln, wie sie für Gebührenmassstäbe und Gebührensätze entwickelt wurden.35 Der Vorteil einer Beitragsregelung gegenüber der bisherigen Gebührenregelung liegt aber in der veränderten Anknüpfung der Abgabenpflicht. Bereits eine oberflächliche Gesetzesfolgenabschätzung ergibt, dass die Zahl der Schwarzhörer /-seher und die Aufwendungen bei der Einziehung der Abgaben deutlich zurückgehen werden, da die teurere Suche nach Schwarzhörern und -sehern entfällt und die Kosten für das Eintreiben der Rundfunkbeiträge durch den neuen Abrechnungsmodus zurückgehen werden.36 Einen Versuch ist diese Rechtsänderung daher auf jeden Fall Wert. Die zu erwartenden Mehreinnahmen könnten zum Verzicht auf die mit dem Konzept der Grundversorgung nicht zu vereinbarenden Werbesendungen verwendet werden. (Abgeschlossen im Juni 2012).

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Zippelius/Würtenberger (Fussn 11), § 50 II 2c, S. 473 mit weiteren Nachweisen. Wagner (Fussn. 1), S. 252. 35 s. BVerfGE 97, 332 (345); Zippelius/Würtenberger (Fussn. 11), §50 II 2a, S. 472. Die Details der Beitragsbestimmung können hier nicht behandelt werden, doch bestehen gegenüber den vorgesehenen Regelungen keine rechtlichen Bedenken. Die Forderung von Degenhart (Fussn.12), S. 199 nach näherer Abklärung der Anzahl der Abgabetatbestände würde im Ergebnis nicht zu hinreichend sicheren Endurteilen über die finanziellen Auswirkungen des gesamten Systemwechsels mit seinen Details führen können, sollen Zeit und Kosten solcher Untersuchungen im Rahmen bleiben. Zu den Prognosespielräumen des Gesetzgebers s. BVerfGE 106, 62 (151). 36 Für die Schweiz, in der an einer vergleichbaren Reform gearbeitet wird, wird von einem erheblichen Sparpotenzial ausgegangen, s. die Verbraucherzeitschrift SALDO 2011, Nr. 17 (Oktober), S. 13. 34

Die maßgebliche Sach- und Rechtslage bei einer Entscheidung der Widerspruchsbehörde Von Wolf-Rüdiger Schenke, Mannheim I. Zeit und Rechtsschutz Nur wenige Lehrer des öffentlichen Rechts können auf ein wissenschaftliches Werk von solcher Spannweite verweisen wie Thomas Würtenberger. Seine wissenschaftlichen Arbeiten haben nicht nur das Staats- und Verwaltungsrecht zum Gegenstand, sondern befassen sich gleichermaßen mit dem Verwaltungsprozessrecht, der Verfassungsgeschichte, der Rechtsphilosophie und der Rechtsvergleichung. Auf all diesen Sektoren hat der Jubilar Bedeutendes geleistet. Ein Thema, das ihn – wie auch den Autor dieses Beitrags – besonders faszinierte und das deshalb zum Gegenstand dieses Beitrags gemacht werden soll, betraf das Verhältnis von Recht und Zeit. Mit ihm beschäftigte sich Thomas Würtenberger nicht nur in seiner tiefgründigen Monografie „Zeitgeist und Recht“1, sondern gleichermaßen in Verbindung mit Teilbereichen des Rechts, in denen sich die Zeitproblematik mit ihren verschiedenen Facetten stellt. Das gilt insbesondere auch für das Verwaltungsprozessrecht, das Gegenstand eines von Thomas Würtenberger verfassten Lehrbuchs ist2. Zu den viel diskutierten verwaltungsprozessualen Problemen gehört hier die Frage nach dem maßgeblichen Zeitpunkt für die gerichtliche Beurteilung von Verwaltungsakten im Rahmen von Anfechtungsklagen. Die Stellungnahmen, die zu dieser Thematik in der Rechtsprechung wie auch im rechtswissenschaftlichen Schrifttum abgegeben wurden, sind mittlerweile Legion. Dabei zeichnet sich inzwischen eine einheitliche Linie ab. Prozessrechtlich maßgeblich ist danach, ob der Verwaltungsakt im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht rechtswidrig ist und den Kläger in seinen Rechten verletzt3. 1 Würtenberger, Zeitgeist und Recht, 2. Aufl. 1991; s. zur Zeitproblematik auch Schenke, Verfassung und Zeit – von der „entzeiteten“ zur zeitgeprägten Verfassung, AöR Bd. 103 (1978), 566 ff. 2 Würtenberger, Verwaltungsprozessrecht, 3. Aufl. 2011, Rdnr. 613 f. 3 s. hierzu näher Schenke, NVwZ 1986, 522 ff.; ders., Verwaltungsprozessrecht, 13. Aufl. 2012, Rdnr. 782 ff. sowie Kopp/Schenke, Verwaltungsgerichtsordnung, 18. Aufl. 2012, § 113, Rdnr. 35 ff.; Ehlers, in: Ehlers/Schoch, Rechtsschutz im Öffentlichen Recht, 2009, § 22, Rdnr. 88; Emmenegger, in: Fehling/Kastner, Verwaltungsrecht, Kommentar, 2. Aufl. 2010, § 113, Rdnr. 15 ff.; Geis, in: Sodan/Ziekow, 3. Aufl. 2010, § 68, Rdnr. 199;

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Ob der Verwaltungsakt zu diesem Zeitpunkt rechtswidrig ist, richtet sich nach dem materiellen Recht. An diesem Befund ändern auch terminologische Ungenauigkeiten, wie sie bei der diesbezüglichen Diskussion vielfach anzutreffen sind4, im Ergebnis nichts. Soweit eine nach Abschluss des Verwaltungsverfahrens – also meist nach Abschluss des Widerspruchsverfahrens – eintretende Veränderung der Sach- und Rechtslage zur Rechtswidrigkeit eines bei Abschluss des Verwaltungsverfahrens noch rechtmäßigen Verwaltungsakts führt und den Kläger in seinen Rechten verletzt, ist dies im Rahmen der Anfechtungsklage zu berücksichtigen. Konsequenterweise ist dann der Verwaltungsakt von dem Moment an aufzuheben, von dem an eine behördliche Verpflichtung zu seiner Aufhebung bestand und er damit rechtswidrig wurde5. Allerdings sind die Fälle, in denen ein rechtmäßig ergangener Verwaltungsakt wegen einer späteren Veränderung der Sach- oder Rechtslage rechtswidrig wird, selten6. Noch seltener ist der umgekehrte Fall, dass ein rechtswidrig erlassener Verwaltungsakt wegen einer nach Abschluss des Verwaltungsverfahrens eintretenden Veränderung der Sach- oder Rechtslage rechtmäßig wird. Da ein Verwaltungsakt immer dann rechtswidrig ist, wenn er entweder rechtswidrig erlassen wurde oder seine Aufrechterhaltung (wegen einer Pflicht zur Aufhebung) später rechtswidrig wird, berührt eine nach Abschluss des Verwaltungsverfahrens eintretende Änderung der Sachoder Rechtslage (sofern ihr nicht durch eine gesetzliche Regelung Rückwirkung beigemessen wird) die schon vorher gegebene Rechtswidrigkeit nicht7. Denkbar ist hier allenfalls, dass der mit der Anfechtungsklage verfolgte Anspruch auf behördliche Rücknahme (Beseitigung) des Verwaltungsakts auf Grund einer späteren VerändeMager, Der maßgebliche Zeitpunkt für die gerichtliche Beurteilung von Verwaltungsakten, 1994, S. 61 ff.; ebenso mit der gebotenen (sonst allerdings bei ihm gelegentlich zu vermissenden) terminologischen Klarheit BVerwGE 97, 79, 81 f. = BVerwG, NJW 1995, 3067, 3068. Einen von der heute h. M. abweichenden Standpunkt nimmt allerdings insoweit Thomas Würtenberger (Fußn. 2), Rdnr. 613 f. mit beachtlichen Argumenten ein. Nach ihm ist bei der prozessualen Beurteilung der Rechtswidrigkeit eines Verwaltungsakts i. S. des § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO grundsätzlich auf den Zeitpunkt des Abschlusses des Verwaltungsverfahrens abzustellen. Das soll im Regelfall selbst dann gelten, wenn – wie dies bei sogenannten Dauerverwaltungsakten meist zutrifft – ein rechtmäßig erlassener Verwaltungsakt auf Grund einer nach Abschluss des Verwaltungsverfahrens eingetretenen Veränderung der Sach- oder Rechtslage rechtswidrig geworden ist, d. h. eine Verpflichtung der Verwaltung besteht, den Verwaltungsakt aufzuheben. Diese Verpflichtung soll nur mittels einer Verpflichtungsklage durchsetzbar sein. Er begründet dies damit, dass bei einer im Rahmen einer Anfechtungsklage erfolgenden Berücksichtigung einer erst nach Abschluss des Verwaltungsverfahrens eintretenden Veränderung der Sach- oder Rechtslage das Verwaltungsverfahren umgangen würde, dessen es für die Aufhebung des rechtswidrig gewordenen Verwaltungsakts durch die Verwaltung bedürfe (Würtenberger [Fußn. 2], Rdnr. 613 f.). 4 Charakteristisch hierfür z. B. Lemke, JA 1999, 240 ff. und Hufen, Verwaltungsprozessrecht, 8. Aufl. 2011, § 24, Rdnr. 7; dazu krit. Schenke, JA 1999, 580 ff. 5 s. zum Rechtswidrig werden eines Verwaltungsakts näher Schenke, DVBl. 1988, 433, 434 ff. 6 s. dazu mit Beispielen näher Kopp/Schenke (Fußn. 3), Rdnr. 42 ff. 7 Näher Kopp/Schenke (Fußn. 3), § 113, Rdnr. 47 ff.

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rung der Sach- oder Rechtslage ausgeschlossen wird und sich eine gerichtliche Aufhebung deshalb verbietet (dazu unten II. 2. e) cc)). An der Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts änderte dieser Ausschluss des Rücknahmeanspruchs freilich nichts. Die Beurteilung der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts in dem nach § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO dafür maßgeblichen Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung stimmt damit oftmals mit der Beurteilung im Zeitpunkt des Abschlusses des Verwaltungsverfahrens überein. Diese Koinzidenz ändert jedoch – was vielfach verkannt wird8 – nichts daran, dass es im Rahmen der Anfechtungsklage stets auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder (wenn eine solche fehlt) auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichts ankommt. Die Frage, auf welchen Zeitpunkt die Widerspruchsbehörde bei der Beurteilung abzustellen hat, ob ein im Wege des Widerspruchs angegriffener Verwaltungsakt rechtmäßig ist, wird sowohl in der Rechtsprechung wie auch im Schrifttum vergleichsweise wenig erörtert, ja geradezu stiefmütterlich behandelt. Soweit man auf sie überhaupt eingeht, wird unisono angenommen, dass die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheids zugrunde zu legen sei. Davon dürfte auch der Jubilar ausgehen, obwohl er sich zu dieser Thematik nicht ausdrücklich äußert. Da er bei Erörterung des maßgeblichen Zeitpunkts bei der Anfechtungsklage darauf abhebt9, dass Gegenstand einer Anfechtungsklage gem. § 79 Abs. 1 Nr. 1 VwGO der Verwaltungsakt in der Gestalt sei, die er durch den Widerspruchsbescheid gefunden habe, liegt es zumindest nahe, bei der Entscheidung über einen Widerspruch gleichfalls die Rechts- und Sachlage im Zeitpunkt des Widerspruchsbescheids als maßgeblich anzusehen. II. Der maßgebliche Zeitpunkt für die Entscheidung über den Widerspruch Angesichts so viel Einigkeit drängt sich die Frage auf, ob es sich überhaupt lohnt, auf diese scheinbar unproblematische Thematik nochmals einzugehen. 1. Verschiedene Ansatzpunkte zur Konkretisierung des maßgeblichen Zeitpunkts Bei näherer Hinsicht zeigt sich allerdings, dass sich hinter der Formulierung, maßgebend sei die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt des Ergehens des Widerspruchsbescheids durchaus unterschiedliche Auffassungen verbergen10. Das gilt jedenfalls 8

So z. B. bei Hufen (Fußn. 4), § 24, Rdnr. 7 ff. Würtenberger (Fußn. 2), Rdnr. 613. 10 Das wird allerdings häufig übersehen, so etwa von BVerwG, DÖV 2007, 302 f., das nicht erkennt, dass sich hinter der Formel, „maßgeblich ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt des Ergehens der Widerspruchsentscheidung“ durchaus unterschiedliche Rechtsauffassungen verbergen und die von ihm behauptete „allgemeine Ansicht im Schrifttum“ 9

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für den Anfechtungswiderspruch, mit dem der Widerspruchsführer die Aufhebung eines ihn belastenden Verwaltungsakts erstrebt. Vielfach wird hier in Anlehnung an eine frühe Entscheidung des BVerwG11 angenommen12, maßgeblich für den Erfolg eines Widerspruchs sei, dass im Zeitpunkt des Widerspruchsbescheids die Voraussetzungen für die Vornahme des angefochtenen Verwaltungsakts nicht mehr vorlägen. Demgegenüber stellen andere darauf ab13, ob der von der Ausgangsbehörde erlassene Verwaltungsakt im Moment des Widerspruchsbescheids noch rechtmäßig und (bei Ermessensverwaltungsakten) zweckmäßig ist und halten bei Bejahung dieser Frage eine Veränderung der Sach- oder Rechtslage, auf Grund derer der Verwaltungsakt nicht mehr ergehen dürfte, für irrelevant. Das gelte nur dann nicht, wenn der Verwaltungsakt im Moment der Widerspruchsentscheidung rechtswidrig oder (bei Ermessensverwaltungsakten) nach Auffassung der Widerspruchsbehörde unzweckmäßig sei. Hier komme statt der sonst grundsätzlich gebotenen Aufhebung des Verwaltungsakts auch dessen (zumindest teilweise) Aufrechterhaltung in Betracht, wenn die Widerspruchsbehörde ihn sofort wieder erlassen dürfte oder gar müsste. Die beiden Ansatzpunkte, die zur Konkretisierung des maßgeblichen Entscheidungszeitpunkts herangezogen werden, können zwar häufig zum selben Ergebnis führen, müssen dies aber nicht. Deutlich wird dies im Fall einer rechtmäßig erlassegerade nicht besteht. So wird in der Kommentierung von Kopp/Schenke (Fußn. 3), 14. Aufl. § 68, Rdnr. 15, auf die das BVerwG in diesem Zusammenhang u. a. verweist, in Verbindung mit dem Anfechtungswiderspruch eine von der bundesverwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung durchaus abweichende Ansicht vertreten. 11 BVerwGE 2, 55, 62; ebenso wohl BVerwG, DÖV 2007, 302, das sich auf BVerwGE 2, 55, 62 beruft, allerdings die Einschränkung enthält, dass dies nur grundsätzlich gelte, soweit sich aus dem materiellen Recht nichts Abweichendes ergebe. Wie später noch zeigen sein wird, schließt aber § 68 VwGO die Aufhebung im Moment der Widerspruchsentscheidung rechtmäßiger und zweckmäßiger Verwaltungsakte generell aus (s. unten II. 2. aa)). 12 Hufen (Fußn. 4), § 7, Rdnr. 3; ebenso grundsätzlich Bosch/Schmidt/Vondung, Praktische Einführung in das verwaltungsgerichtliche Verfahren, 9. Aufl. 2012, Rdnr. 724; Dolde/Porsch, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, § 68, Rdnr. 45 f.; Kastner, in: Fehling/Kastner, Verwaltungsrecht, Handkommentar, 2. Aufl. 2010, § 73 VwGO, Rdnr. 21; Kothe, in: Redeker/v. Oertzen, Verwaltungsgerichtsordnung, 15. Auf. 2010, § 73, Rdnr. 15; Lorenz, Verwaltungsprozessrecht, 2000, § 19, Rdnr. 57; Rennert, in: Eyermann, Verwaltungsgerichtsordnung, 13. Aufl. 2010, § 68, Rdnr. 14; R. Schmidt, Verwaltungsprozessrecht, 14. Aufl. 2011, Rdnr. 1111; Schoch, in: Ehlers/Schoch, Rechtsschutz im Öffentlichen Recht, 2009, § 20, Rdnr. 64; BVerwG, DÖV 2007, 302; wohl auch Pietzner/Ronellenfitsch, Das Assessorexamen im Öffentlichen Recht, 12. Aufl. 2010, § 38, Rdnr. 31, die allerdings als Beleg für ihre Ansicht in Fußn. 67 auf die nicht übereinstimmenden Auffassungen von BVerwG, DÖV 2007, 302 und Schenke (Fußn. 3), Rdnr. 684 verweisen. 13 Kopp/Schenke (Fußn. 3), § 68, Rdnr. 15; Schenke (Fußn. 3) Rdnr. 684 (wo in Fußn. 50 Hufen [Fn.4], § 7, Rdnr. 3 fälschlich dieser Auffassung zugeordnet wird); ebenso Mager, Der maßgebliche Zeitpunkt für die Beurteilung der Rechtswidrigkeit von Verwaltungsakten, 1994, 153; Piendl, Eine Studie zur maßgebenden Sach- und Rechtslage beim Rechtsschutz gegen Verwaltungsakte, 1992, S. 197; Hüttenbrink, in: Posser/Wolf, Verwaltungsgerichtsordnung, 2008, § 68, Rdnr. 3; Geis, in: Sodan/Ziekow, Verwaltungsgerichtsordnung, 3. Aufl. 2011, § 68, Rdnr. 196 ff.; ähnlich Funke-Kaiser, in: Bader/Funke-Kaiser/Albedyll, VwGO, 5. Aufl. 2011, § 68, Rdnr. 7.

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nen Baugenehmigung, die in die Rechtsstellung des Nachbarn eingreift. Wird die Genehmigung durch einen Nachbarwiderspruch angegriffen und ändert sich vor dem Widerspruchsbescheid die Rechtslage durch einen neu erlassenen Bebauungsplan dergestalt, dass die Baugenehmigung jetzt nicht mehr neu erlassen werden dürfte, müsste der Widerspruch Erfolg haben, wenn man darauf abstellte, ob die Baugenehmigung nunmehr noch in rechtmäßiger Weise erlassen werden dürfte14. Hebt man dagegen darauf ab, ob die Baugenehmigung im Zeitpunkt des Widerspruchsbescheids rechtswidrig und deshalb aufzuheben ist, ist der Widerspruch unbegründet. Die Baugenehmigung war hier nämlich nicht nur im Zeitpunkt ihres Erlasses rechtmäßig, sondern blieb es auch in der Folgezeit, weil ihre Aufrechterhaltung rechtlich nicht zu beanstanden war. Der später erlassene Bebauungsplan verpflichtete die Baurechtsbehörde nämlich nicht zur Aufhebung der Baugenehmigung und begründete damit auch nicht deren nachträgliche Rechtswidrigkeit (s. dazu auch unten II. 2. b)). Der genannte Beispielsfall macht deutlich, dass die Frage, ob auf Grund einer späteren Veränderung der Sach- und Rechtslage eine Verpflichtung zur Aufhebung eines rechtmäßig erlassenen Verwaltungsakts besteht, sowohl rechtstheoretisch wie auch rechtsdogmatisch strikt von der Frage zu trennen ist, ob der Verwaltungsakt aufgrund dieser Veränderung noch neu erlassen werden könnte15. Das zeigt insbesondere auch ein Blick auf die vom Gesetzgeber in § 49 Abs. 2 Nrn. 3 und 4 VwVfG getroffenen Regelungen, die – vorbehaltlich von Spezialvorschriften – nicht nur die einen Nachbarn betreffende Baugenehmigung zum Gegenstand haben, sondern grundsätzlich alle Verwaltungsakte mit Drittwirkung (s. aber auch § 50 VwVfG). Eine Veränderung der dem Verwaltungsakt zugrunde liegenden Sach- oder Rechtslage verpflichtet die Behörde danach nicht zum (im Übrigen ohnehin nur mit Wirkung ex nunc auszusprechenden) Widerruf des Verwaltungsakts, sondern stellt den Widerruf in das Ermessen der Behörde, und zwar auch dies nur dann, wenn die in § 49 Abs. 2 Nrn. 3 und 4 VwVfG genannten zusätzlichen Voraussetzungen vorliegen. Selbst bei einseitig belastenden Verwaltungsakten steht deren Widerruf wegen einer späteren Veränderung der Sach- oder Rechtslage gem. § 49 Abs. 1 VwVfG grundsätzlich nur im Ermessen der Behörde. Sein Unterbleiben führt deshalb nicht zur Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts. Die aufgezeigte Problematik stellt sich in Verbindung mit einem Verpflichtungswiderspruch gem. § 68 Abs. 2 VwGO nicht. Hier besteht Einigkeit, dass die Widerspruchsbehörde einem Widerspruch dann stattzugeben hat, wenn der beantragte Verwaltungsakt zwar zunächst rechtmäßig versagt wurde, im Zeitpunkt des Widerspruchsbescheids aber nunmehr wegen einer Veränderung der Sach- oder Rechtslage ein Anspruch auf Erlass des Verwaltungsakts besteht. Dann wird nämlich mit dem Entstehen des Anspruchs auf Erlass des Verwaltungsakts zugleich dessen Versagung rechtswidrig, so dass die Versagung (zumindest konkludent) aufzuheben ist. Es spielt deshalb für den Erfolg des Widerspruchs keine Rolle, ob man darauf abstellt, ob die 14 15

So in der Tat denn auch Hufen (Fußn. 4), § 7, Rdnr. 3. s. hierzu näher Schenke, DVBl. 1989, 433, 436.

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Versagung im Zeitpunkt der Entscheidung der Widerspruchsbehörde rechtswidrig war, oder ob man darauf abhebt, ob zu diesem Zeitpunkt ein Anspruch des Widerspruchsführers auf Erlass des Verwaltungsakts bestand. Die vorher aufgezeigten Unterschiede zwischen einem Anfechtungs- und einem Verpflichtungswiderspruch lassen es ratsam erscheinen, die Frage nach dem maßgeblichen Zeitpunkt bezüglich des Widerspruchsbescheids für Anfechtungs- und Verpflichtungswiderspruch getrennt zu erörtern. Im Vordergrund der Untersuchung hat dabei der Anfechtungswiderspruch zu stehen, in Verbindung mit dem sich die oben aufgezeigte, zu verschiedenen Ergebnissen führende Kontroverse stellt. 2. Die maßgebliche Sach- und Rechtslage bei der Entscheidung über einen Anfechtungswiderspruch a) Der Standpunkt der Rechtsprechung und des ihm folgenden rechtswissenschaftlichen Schrifttums Die Ansicht16, nach der es für den Erfolg eines Widerspruchs entscheidend darauf ankommen soll, ob der mit einem Widerspruch angefochtene Verwaltungsakt durch die Widerspruchsbehörde im Zeitpunkt des Widerspruchsbescheids erlassen werden könnte, beruft sich meist auf eine Grundsatzentscheidung des BVerwG vom 6. 4. 1955, in der das BVerwG17 ausführte: Die Beschwerde- (jetzt Widerspruchs-)behörden „müssen klarstellen, ob der Verwaltungsakt auch noch zurzeit ihrer Entscheidung unter der Geltung des neuen Rechts ergehen dürfte. Andernfalls müssen sie ihn aufheben“. Dies folge „aus dem Aufbau der Verwaltung und dem Grundsatz der reformatorischen Wirkung eines im Verwaltungswege zu erledigenden Rechtsmittels“. Zur Begründung dieser Auffassung weisen das BVerwG und das ihm folgende rechtswissenschaftliche Schrifttum ergänzend darauf hin18, dass das Ausgangsverfahren mit dem Widerspruchsverfahren eine verfahrensmäßige Einheit bilde und erst mit dem Widerspruchsverfahren abgeschlossen werde. Deshalb gebe erst der Widerspruchsbescheid dem Ausgangsverwaltungsakt seinen endgültigen, für den Verwaltungsprozess maßgeblichen Inhalt (§ 79 Abs. 1 Nr. 1 VwGO). Das gelte insbesondere auch für Drittwidersprüche, die „insgesamt davon gekennzeichnet [seien], daß ein Begünstigter die ihm eingeräumte Rechtsposition in vollem Umfang erst mit der Unanfechtbarkeit der Entscheidung erlangt“19.

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Hufen (Fußn. 4), § 7, Rdnr. 3. BVerwGE 2, 55, 62. 18 BVerwG, DÖV 2007, 302; Hufen (Fußn. 4), § 7 Rdnr. 3 unter Hinweis auf Pietzner/ Ronellenfitsch (Fußn. 12), § 38, Rdnr. 31 ff. 19 Hufen (Fußn. 4), § 7, Rdnr. 3. 17

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b) Die vorrangig gebotene Überprüfung der Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts Bei näherer Prüfung erweckt diese Ansicht freilich erhebliche Bedenken. Sie ist weder mit einer grammatischen Interpretation der §§ 68 ff. VwGO noch mit der Teleologie des Widerspruchsverfahrens vereinbar. Das wird schon am Wortlaut des § 68 Abs. 1 VwGO deutlich. Danach sind vor Erhebung der Anfechtungsklage Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit des Verwaltungsakts in einem Vorverfahren nachzuprüfen. Es geht hiernach also (jedenfalls primär) nicht um eine vom vorhergehenden Verwaltungsakt unabhängige neue Entscheidung über den Erlass eines Verwaltungsakts, sondern um eine Prüfung des vorhergehenden Verwaltungsakts der Ausgangsbehörde auf dessen Rechtmäßigkeit sowie bei einem Ermessensverwaltungsakt zusätzlich auf dessen Zweckmäßigkeit. Nur dies wird der in den §§ 68 ff. VwGO wie auch in den § 79 f. VwVfG normierten Kontrollfunktion des Widerspruchsverfahrens und dessen hierdurch begründeter Teleologie gerecht. Demzufolge hat ein eingelegter Widerspruch jedenfalls immer dann Erfolg, wenn der angegriffene Verwaltungsakt rechtswidrig ist. Dabei kann sich dessen Rechtswidrigkeit sowohl daraus ergeben, dass er rechtswidrig erlassen worden, war wie auch daraus, dass er wegen einer nach seinem Erlass, aber vor dem Ergehen des Widerspruchsbescheids eingetretenen Veränderung der Sach- oder Rechtslage aufzuheben war, d. h. nachträglich rechtswidrig wurde (s. unten 2. e) aa)). Der Umstand, dass der angefochtene Verwaltungsakt im Zeitpunkt des Widerspruchsbescheids nicht mehr erlassen werden dürfte, führte hingegen nur dann zur Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts, wenn daraus zugleich geschlossen werden könnte, dass er aufzuheben ist. Das kann zwar der Fall sein20. Es muss aber keineswegs immer zutreffen, wie bereits das genannte Beispiel der durch einen Nachbarwiderspruch angefochtenen Baugenehmigung zeigt und wie es gem. § 49 Abs. 2 Nrn. 3 und 4 VwVfG (und entsprechender verwaltungsverfahrensrechtlicher Regelungen der Länder) – vorbehaltlich von Spezialregelungen – für alle Verwaltungsakte mit Drittwirkung gilt, deren Erlass nicht in das Ermessen der Behörde gestellt ist. § 50 VwVfG schließt die Anwendung des § 49 Abs. 2 VwVfG bei rechtlich gebundenen Verwaltungsakten nicht aus, da durch die Aufhebung eines solchen rechtmäßig erlassenem Verwaltungsakts einem Widerspruch nicht abgeholfen wird. Das folgt daraus, dass die Widerspruchsbehörde bei rechtlich gebundenen Verwaltungsakten gem. § 68 VwGO auf eine Rechtmäßigkeitskontrolle beschränkt ist. Auch wenn man § 49 Abs. 2 VwVfG aber hier ebenfalls wegen 50 VwVfG als ausgeschlossen ansähe, ergäbe sich jedenfalls aus § 49 Abs. 1 VwVfG, dass der Widerruf eines Verwaltungsakts mit Drittwirkung selbst dann, wenn dieser auf Grund einer späteren Veränderung der Sach- oder Rechtslage nunmehr nicht mehr vorgenommen werden dürfte, in das Ermessen der Verwaltung gestellt ist. Das Unterlassen des Widerrufs 20

So auch in dem der Entscheidung BVerwGE 2, 55 ff. zugrunde liegenden Fall.

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machte damit einen rechtmäßig erlassenen Verwaltungsakt grundsätzlich nicht nachträglich rechtswidrig. Dasselbe gilt für nur belastende rechtmäßige Verwaltungsakte. Selbst wenn bei bestimmten Fallkonstellationen die fehlende Befugnis zum Neuerlass eines belastenden Verwaltungsakts mit der Verpflichtung einhergeht21, einen vorher in rechtmäßiger Weise erlassenen Verwaltungsakt zurückzunehmen, ist für den Erfolg des Widerspruchs bei rechtlich gebundenen Verwaltungsakten aber jedenfalls immer die Verpflichtung zur behördlichen Aufhebung des Verwaltungsakts und dessen daraus resultierende Rechtswidrigkeit maßgebend, nicht hingegen eine nunmehr fehlende Befugnis der Verwaltung zum Neuerlass eines solchen Verwaltungsakts. Deutlich wird dies bei Verwaltungsakten mit Dauerwirkung wie z. B. einer polizeilichen Beschlagnahme zur Gefahrenabwehr. Da Verwaltungsakte mit Dauerwirkung dadurch gekennzeichnet sind, dass bei ihnen an Stelle einer Vielzahl einzelner (zeitlich eng begrenzter) befehlender Verwaltungsakte ein diese bündelnder Gesamtverwaltungsakt ergeht, wird bei ihnen die Frage, ob jener auf Grund einer Veränderung der Sach- oder Rechtslage neu erlassen werden dürfte, zwar in der Regel genauso zu beantworten sein wie die Frage, ob die Veränderung die Verwaltung zur Rücknahme des Verwaltungsakts verpflichtet. Entscheidend ist und bleibt aber auch hier bei einem Anfechtungswiderspruch – ebenso wie bei einer Anfechtungsklage22 –, ob der Betroffene einen Rechtsanspruch auf behördliche Aufhebung des Verwaltungsakts besitzt, dem rechtslogisch immer eine Verpflichtung zur Rücknahme des Verwaltungsakts entspricht. Stellte man trotz des oben Gesagten stets darauf ab, ob durch die Widerspruchsbehörde ein Verwaltungsakt mit demselben Inhalt erlassen werden könnte wie der angefochtene Verwaltungsakt, so würde bei dessen Recht- und Zweckmäßigkeit – mit dem vorher Ausgeführten eng zusammenhängend – über eine Frage befunden, die gar nicht Gegenstand des Widerspruchsverfahrens ist, da sie für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts ohne Relevanz wäre. An ihrer Beantwortung hat der Widerspruchsführer im Regelfall auch gar kein Interesse. Für eine solche allgemeine Ausdehnung der Prüfungsbefugnis der Widerspruchsbehörde, die nicht mehr durch deren Rechtsschutzfunktion gedeckt ist, dürfte es dem Bundesgesetzgeber überdies sogar an der Gesetzgebungskompetenz fehlen. Über die schon geäußerten Bedenken hinausreichend ließe es sich bei Zugrundelegung der Gegenauffassung schließlich nicht rechtfertigen, dass der angefochtene Verwaltungsakt auch mit Wirkung für die Vergangenheit, also ex tunc, aufzuheben ist. Die rückwirkende Aufhebung setzte nämlich voraus, dass der Verwaltungsakt rechtswidrig erlassen oder jedenfalls später (vor dem Widerspruchsbescheid) rechtswidrig wurde. Eine solche Prüfung fände aber nach der hier abgelehnten Auffassung gar nicht statt, weil sich danach der Erfolg des Widerspruchs stets danach bemessen soll, ob der Verwaltungs21

Das traf in dem vom BVerwGE 2, 55 ff. entschiedenen Fall zu. Zu dieser als einem prozessualen Rechtsbehelf zur Durchsetzung materiell-rechtlicher Ansprüche auf behördliche Aufhebung (Rücknahme) eines den Kläger verletzenden Verwaltungsakts s. Schenke (Fußn. 3), Rdnr. 178 sowie Baumeister, in: Festschrift für Schenke, 2011, S. 601 ff. 22

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akt im Zeitpunkt des Widerspruchsbescheids rechtmäßig erlassen werden kann. Deshalb könnte die Widerspruchsbehörde den angefochtenen Verwaltungsakt nur mit Wirkung ex nunc aufheben23. Damit ließen sich aber die Belastungen, die sich aus dem (Fort-)Bestehen des Verwaltungsakts in der Vergangenheit ergeben können, nicht beseitigen und bliebe der mittels eines Anfechtungswiderspruchs gewährte Rechtsschutz hinter dem einer Anfechtungsklage zurück. Die gerichtliche Aufhebung im Rahmen einer Anfechtungsklage wirkt nämlich nach einhelliger Auffassung auf den Zeitpunkt zurück, zu dem der Verwaltungsakt rechtswidrig erlassen worden oder ggf. nachträglich rechtswidrig geworden ist24. Würde man für den Anfechtungswiderspruch etwas anderes annehmen als für die Anfechtungsklage, wäre dies mit der Entlastungsfunktion, die dem Widerspruchsverfahren im Verhältnis zum Gerichtsverfahren zuzukommen hat, unvereinbar. Praktisch bedeutsam wird das Erfordernis, den mit einem Widerspruch angegriffenen Verwaltungsakt rückwirkend aufzuheben, etwa bei einer der Gefahrenabwehr dienenden rechtswidrigen Beschlagnahme einer Sache. Solange die Beschlagnahme (wenn auch rechtswidrig) fortbesteht, können von dem Betroffenen die Kosten der polizeilichen Verwahrung verlangt werden. Nur durch die rückwirkende Aufhebung kann er sich überdies wirksam dagegen wehren, dass ihm die bei einer zwangsweisen Durchsetzung der Beschlagnahme entstandenen Kosten der Verwaltungsvollstreckung auferlegt werden25. Der Hinweis des BVerwG26 auf den „Aufbau der Verwaltung und den Grundsatz der reformatorischen Wirkung eines im Verwaltungswege zu ermittelnden Rechtmittels“ vermag seine Auffassung demgegenüber nicht zu rechtfertigen. Der Aufbau der Verwaltung (der in Verbindung mit dem Widerspruchsverfahren ohnehin ganz unterschiedlich ausgestaltet sein kann), lässt keinen Schluss darauf zu, anhand welcher Gesichtspunkte die Widerspruchsbehörde über einen Widerspruch zu entscheiden hat. Jedenfalls vermag er nicht die insoweit eindeutigen Regelungen der §§ 68 ff. VwGO zu überspielen, die zwingend zunächst eine Prüfung der Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts durch die Widerspruchsbehörde verlangen. Nicht weiterführend ist es schließlich, den reformatorischen Charakter des Widerspruchsverfahrens zu bemühen, denn diesem wird es auch dann gerecht, wenn die Widerspruchsbehörde bei der – im Einklang mit den §§ 68 ff. VwGO – zuvor gebotenen Prüfung der Rechtmäßigkeit und (bei behördlichem Ermessen) der Zweckmäßigkeit des Verwaltungsakts diese verneint und erst im Anschluss 23

Würde der Verwaltungsakt aufgehoben, ohne seine Rechtswidrigkeit in der Vergangenheit zu prüfen, stünde die Widerspruchsentscheidung in den Fällen, in welchen der erlassene Verwaltungsakt in der Vergangenheit rechtswidrig war, in eklatantem Widerspruch zum materiellen Recht und verletzte damit das Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung. 24 Vgl. statt vieler Kopp/Schenke (Fußn. 3), § 113, Rdnr. 8 mit weit. Nachw. 25 Dazu, dass sich der Betroffene ohne die rückwirkende Aufhebung des vollstreckten Verwaltungsakts gegen die Auferlegung von Vollstreckungskosten nicht wirksam zur Wehr setzen kann, s. Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, 7. Aufl. 2011, Rdnr. 573. 26 BVerwGE 2, 55, 62.

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daran darüber befindet, ob sie ihn möglicherweise dennoch nach Maßgabe des materiellen Rechts aufrechtzuerhalten oder eventuell durch einen anderen Verwaltungsakt zu ersetzen hat (s. dazu näher unten unter II. 2. d) und e)). Der Versuch27, eine originäre Entscheidungsbefugnis der Widerspruchsbehörde daraus abzuleiten, dass das Ausgangsverfahren mit dem Widerspruchsverfahren eine Einheit bildet und deshalb der Verwaltungsakt seine für den Verwaltungsprozess nach § 79 Abs. 1 Nr. 1 VwGO maßgebliche Gestalt erst mit dem Widerspruchsbescheid erhält, ist gleichfalls zum Scheitern verurteilt. Mit § 79 Abs. 1 Nr. 1 VwGO bringt der Gesetzgeber lediglich zum Ausdruck, dass bei einer Änderung des Ausgangsverwaltungsakts durch den Widerspruchsbescheid Gegenstand der Anfechtungsklage nur der Verwaltungsakt in seiner durch den Widerspruchsbescheid veränderten Gestalt ist. Sowohl der Wortlaut des § 79 Abs. 1 Nr. 1 VwGO wie auch dessen systematische Stellung und Teleologie zeigen, dass hier zur Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen der Verwaltungsakt durch den Widerspruchsbescheid zu ändern ist, nicht Stellung genommen wird. Die Beantwortung dieser Frage richtet sich vielmehr ausschließlich nach den §§ 68 ff. VwGO und §§ 79 f. VwVfG. Diese Vorschriften bestimmen denn auch, welche Gestalt ein angegriffener Verwaltungsakt nach Abschluss des Vorverfahrens annimmt. Die Schwäche der Gegenauffassung wird schließlich daran deutlich, dass sich ihre Anhänger meist zu Ausnahmen von ihrem Ansatz genötigt sehen28. Diese Ausnahmen sind aber mit ihren Prämissen schwerlich in Einklang zu bringen. Sie lassen sich hingegen mühelos erklären, wenn man – im Einklang mit der hier vertretenen Auffassung – den Erfolg eines Widerspruchs danach bemisst, ob der angefochtene Verwaltungsakt rechtswidrig (bzw. bei Ermessensverwaltungsakten unzweckmäßig) ist. Daraus ergibt sich zwanglos, dass ein Nachbarwiderspruch gegen eine rechtmäßig erlassene Baugenehmigung, auf die der Antragsteller einen Anspruch hatte, selbst dann keinen Erfolg haben kann, wenn die Baugenehmigung im Zeitpunkt des Widerspruchsbescheids auf Grund einer neu erlassenen nachbarschützenden Bestimmung nicht mehr hätte ergehen dürfen. Der Verwaltungsakt war und blieb hier auch nach der Veränderung der Rechtslage rechtmäßig. Zur Begründung dieses Ergebnisses bedarf es keines Rückgriffs auf Art. 14 GG, auf den das BVerwG29 abhebt. Entgegen der Auffassung des BVerwG30 und der ihm folgenden Stimmen im rechtswissenschaftlichen Schrifttum ergibt sich die Erfolglosigkeit des Widerspruchs im Beispielsfall auch nicht etwa daraus, dass bei der Entscheidung der Wi27

So z. B. BVerwG, DÖV 2007, 302 und Hufen (Fußn. 4), § 7, Rdnr. 3. BVerwG, DÖV 2007, 302; Dolde/Porsch (Fußn. 12), § 68, Rdnr. 46; Kastner (Fußn. 12), § 73 VwGO, Rdnr. 21; Rennert, in: Eyermann (Fußn. 12), § 68, Rdnr. 14; anders aber Hufen (Fußn. 4), § 7, Rdnr. 3. 29 BVerwG, NJW 1970, 263; NJW 1979, 995 f. 30 BVerwG, DÖV 2007, 302; Dolde/Porsch (Fußn. 12), § 68, Rdnr. 46; Kastner (Fußn. 12), § 73 VwGO, Rdnr. 21; Rennert, in: Eyermann (Fußn. 12), § 68, Rdnr. 14; anders aber Hufen (Fußn. 4), § 7, Rdnr. 3. 28

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derspruchsbehörde – abweichend von dem sonst für einen Widerspruchsbescheid geltenden Grundsatz – auf den Moment des Erlasses des Verwaltungsakts abzuheben ist. Vielmehr ist für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit des nachzuprüfenden Verwaltungsakts hier wie auch sonst immer der Zeitpunkt des Widerspruchsbescheids maßgeblich. Deshalb folgt aus der auch noch bei Erlass des Widerspruchsbescheids bestehenden Rechtmäßigkeit der Baugenehmigung, dass der Widerspruch des Nachbarn keinen Erfolg haben kann. Dasselbe gilt auch für einen anderen Beispielsfall, der als (angebliche) Ausnahme von der Maßgeblichkeit der Rechtslage im Moment des Widerspruchsbescheids angeführte wird31. Dabei geht es darum, dass aufgrund einer (wirksamen) kommunalen Abgabensatzung ein später durch einen Widerspruch angegriffener Abgabenbescheid erlassen wird und während des Widerspruchsverfahrens die bisherige Abgabensatzung durch eine neue, inhaltlich abweichende Satzung ersetzt wird. Hier bleibe die alte Satzung wegen des Grundsatzes der Einmaligkeit der Beitragserhebung für die unter ihrer Geltung erlassenen Abgabenbescheide maßgebend. Deshalb sei die Rechtmäßigkeit des angegriffenen Abgabenbescheids anhand der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt seines Ergehens und nicht anhand der Rechtslage im Zeitpunkt des Widerspruchsbescheids zu bestimmen. Dem ist zwar im Ergebnis zuzustimmen, die dafür gegebene Begründung überzeugt jedoch nicht. Auch in diesem Fall ist nämlich die Rechtmäßigkeit des Abgabenbescheids im Einklang mit § 68 Abs. 1 VwGO nach der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt des Widerspruchsbescheids zu beurteilen. Da aber der Abgabenbescheid rechtmäßig erlassen wurde und auch die spätere Veränderung der Rechtslage keine Verpflichtung zu seiner Aufhebung oder Änderung begründete, war der Abgabenbescheid im Moment der Widerspruchsentscheidung nach wie vor rechtmäßig. Dass die Rechtmäßigkeit des Abgabenbescheids im Zeitpunkt des Ergehens des Widerspruchsbescheids genauso zu beurteilen ist wie im Zeitpunkt des Erlasses des Ausgangsbescheids, ändert deshalb ebenfalls nichts an der sich aus § 68 Abs. 1 VwGO ergebenden Maßgeblichkeit der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt des Widerspruchsbescheids. Es gilt insoweit Entsprechendes wie bei einer Anfechtungsklage. Auch dort ergibt sich aus dem Umstand, dass die Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts im Zeitpunkt des Abschlusses des Verwaltungsverfahrens oftmals genauso zu beurteilen ist wie im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht, entgegen einer gelegentlich vertretenen Ansicht32 nicht, dass maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit im Rahmen der Anfechtungsklage nicht die letzte mündliche Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht, sondern der Abschluss des Verwaltungsverfahrens ist. Für die von der Gegenauffassung behaupteten Differenzierungen in Bezug auf den für die gerichtliche Entscheidung über die Anfechtungsklage maßgeblichen Zeitpunkt bietet § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO keinerlei Anhalts31 Kastner (Fußn. 12), § 73, Rdnr. 21; Pietzner/Ronellenfitsch (Fußn. 12), § 38, Rdnr. 32; BVerwGE 75, 356, 359. 32 Hufen (Fußn. 4), § 24, Rdnr. 8 ff.; krit. hierzu Schenke (Fußn. 3), Rdnr. 797.

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punkte. Ebenso lässt § 68 Abs. 1 VwGO keinen Raum für eine unterschiedliche Bestimmung des maßgeblichen Zeitpunkts. c) Die Konsequenzen der Prüfung des Ausgangsverwaltungsakts für die nachfolgende Widerspruchsentscheidung Stellt die Widerspruchsbehörde bei der Prüfung eines Anfechtungswiderspruchs fest, dass der angegriffene Verwaltungsakt rechtmäßig und (bei Ermessensverwaltungsakten) zweckmäßig ist, bleibt der angegriffene Verwaltungsakt bestehen und ist der Widerspruch unbegründet. Auf die Frage, ob der Verwaltungsakt im Zeitpunkt der Widerspruchsentscheidung noch hätte erlassen werden dürfen, kommt es bei rechtlich voll gebundenen Verwaltungsakten nicht mehr an (s. unten II. 2. d)). Anderes gilt hingegen dann, wenn der Verwaltungsakt rechtswidrig oder bei Ermessensverwaltungsakten (nach Ansicht der Widerspruchsbehörde) unzweckmäßig ist. In Konsequenz des mit der Einlegung des Widerspruchs verbundenen Devolutiveffekts kommt hier – wie unter II. 2. d) bis e) noch im Einzelnen zu zeigen sein wird – nicht nur die Aufhebung des Verwaltungsakts, sondern auch dessen Aufrechterhaltung oder dessen Ersetzung durch einen anderen Verwaltungsakt in Betracht. Maßgeblich für die zu treffende Entscheidung ist in diesem Fall in der Tat, welche Handlungsbefugnisse der Widerspruchsbehörde nach dem materiellen Recht zustehen. d) Die Widerspruchsentscheidung bei Rechtmäßigkeit des Ausgangsverwaltungsakts Ergibt die Prüfung der Rechtmäßigkeit und (bei Ermessensverwaltungsakten) der Zweckmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts, dass dieser unter beiden Gesichtspunkten nicht zu beanstanden ist, ist der Widerspruch unbegründet. Der Verwaltungsakt bleibt deshalb bestehen, und dem Widerspruchsführer sind die Kosten des Vorverfahrens nach Maßgabe des § 80 Abs. 1 VwVfG aufzuerlegen. Besonderheiten ergeben sich allerdings, wenn ein Ermessensverwaltungsakt zwar rechtmäßig erlassen wurde, aber wegen einer vor Ergehen des Widerspruchsbescheids eingetretenen Veränderung der Sach- und Rechtslage nunmehr nicht mehr vorgenommen werden dürfte. Erfolgte beispielsweise die rechtmäßige Entlassung eines Bundesbeamten auf Probe wegen einer auf Gesundheitsgründen beruhenden dauernden Dienstunfähigkeit gem. § 34 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 und S. 2 BBG (bzw. eines Landesbeamten gem. § 23 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 und S. 2 BeamtStG), ändert sich zwar an der Rechtmäßigkeit der Entlassung grundsätzlich selbst dann nichts, wenn aufgrund einer erst nach der Entlassung neu entwickelten medizinischen Therapie eine baldige Heilung des Beamten wahrscheinlich oder sogar schon eingetreten ist. Zu berücksichtigen ist jedoch, dass die Entlassung eines aus gesundheitlichen Gründen dienstunfähigen Beamten nach § 34 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 BBG (wie auch

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nach § 23 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 und S. 2 BeamtStG) im Ermessen der Behörde stand. Dementsprechend hat die Widerspruchsbehörde auch über die Zweckmäßigkeit der Entlassung zu befinden. Bei der ihr hier abverlangten Ermessensentscheidung stellt die zu erwartende oder bereits eingetretene Heilung des Beamten einen wichtigen Ermessensfaktor dar. Dieser wird hier in Verbindung mit der nachwirkenden Fürsorgepflicht des früheren Dienstherrn sogar häufig zu einer Ermessensschrumpfung auf Null führen. In deren Konsequenz ist die Entlassung des Beamten durch die Widerspruchsbehörde aufzuheben. In diesem Fall wird der zunächst rechtmäßige Verwaltungsakt nachträglich rechtswidrig. Die Entscheidung der Widerspruchsbehörde bemisst sich damit nach denselben Grundsätzen, die auch sonst für rechtswidrige Verwaltungsakte gelten. Das gerade Ausgeführte lässt sich dergestalt verallgemeinern, dass bei einem rechtmäßig erlassenen Verwaltungsakt die Widerspruchsbehörde bei ihren Ermessenserwägungen dem Umstand besondere Bedeutung beizumessen hat, dass der Verwaltungsakt wegen einer Veränderung der Sach- oder Rechtslage nunmehr nicht mehr neu ergehen dürfte. Aus diesem Grund wird sich ihr Ermessensspielraum oftmals reduzieren, und es kann sich daraus ihre Verpflichtung ergeben, den Verwaltungsakt zurückzunehmen, was zugleich zur Rechtswidrigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts führt. Allerdings braucht dies keineswegs immer der Fall zu sein. Zu beachten ist nämlich, dass eine allgemeine Bejahung einer behördlichen Pflicht, den von ihr rechtmäßig erlassenen Verwaltungsakts aufzuheben, unter dem Gleichheitsaspekt Bedenken hervorruft. In ihrem Gefolge kann es nämlich zu einer sachlich nicht zu rechtfertigenden Privilegierung des Widerspruchsführers gegenüber anderen Personen kommen, bei denen im Zeitpunkt des Ergehens des Ausgangsverwaltungsaktes die gleichen Voraussetzungen für ein behördliches Verhalten vorlagen wie bei dem Widerspruchsführer. Unabhängig davon, ob ein rechtmäßig erlassener Verwaltungsakt wegen einer späteren Veränderung der Sach- oder Rechtslage unzweckmäßig oder nach dem vorher Ausgeführten u. U. sogar rechtswidrig wird, richtet sich die Vorgehensweise der Widerspruchsbehörde bei einer von dieser bejahten Unzweckmäßigkeit eines angegriffenen Ermessensverwaltungsakts im Übrigen grundsätzlich nach denselben Regeln wie bei Rechtswidrigkeit des Ausgangsverwaltungsakts (s. unten e)). e) Die Widerspruchsentscheidung bei einem rechtswidrigen Verwaltungsakt aa) Die Rechtswidrigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts wegen einer späteren Veränderung der Sach- oder Rechtslage Wurde ein rechtlich gebundener Verwaltungsakt rechtswidrig erlassen oder wird er (bzw. seine Aufrechterhaltung) wegen einer späteren Veränderung der Sach- oder Rechtslage rechtswidrig, ist er grundsätzlich aufzuheben. Zu beachten ist dabei aber, dass eine nach Erlass des Ausgangsbescheids eintretende Veränderung der Sach-

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oder Rechtslage nur selten dazu führt, dass ein rechtmäßig erlassener Verwaltungsakt aufgehoben werden muss und damit von diesem Moment an rechtswidrig wird. Meist handelt es sich dabei um Verwaltungsakte mit Dauerwirkung33. Ein Beispiel für einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung, bei dem eine nach Erlass des Verwaltungsakts eingetretene Veränderung der Sach- und/oder Rechtslage zur Rechtswidrigkeit (der Aufrechterhaltung) des Verwaltungsakts führt, bietet eine der Gefahrenabwehr dienende polizeiliche Beschlagnahme. Wenn die Ausgangsbehörde eine solche rechtmäßig vornahm, weil sie auf Grund konkreter Anhaltspunkte davon ausgehen musste, dass tatsächlich eine – die Beschlagnahme rechtfertigende – Gefahr bestand, stellt sich aber vor Ergehen des Widerspruchsbescheids im Hinblick auf neue Erkenntnisse heraus, dass tatsächlich gar kein Schaden droht, so ist die Ausgangsbehörde zur Aufhebung des Verwaltungsakts verpflichtet. Unterlässt sie dies, ist der Verwaltungsakt vom Zeitpunkt der neuen Erkenntnisse an nachträglich rechtswidrig geworden. Dem Widerspruch ist daher (zumindest teilweise, s. unten cc) abzuhelfen. Die funktionell-rechtlichen Bedenken, aus denen heraus Würtenberger34 eine erst nach Abschluss des Verwaltungsverfahrens eintretende Veränderung der Sach- oder Rechtslage im Rahmen einer Anfechtungsklage für unbeachtlich hält und den Betroffenen zur Geltendmachung solcher Einwendungen auf ein neues Verwaltungsverfahren und bei dessen Erfolglosigkeit auf eine anschließende Verpflichtungsklage verweist, greifen bei einer Veränderung der Sach- oder Rechtslage während des anhängigen Widerspruchsverfahrens nicht. Hier droht bei deren Berücksichtigung keine Umgehung des Verwaltungsverfahrens. bb) Der Inhalt des Widerspruchsbescheids bei Rechtswidrigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts Kann der anfänglich oder später (ganz oder teilweise) materiell rechtswidrige Verwaltungsakt durch die Widerspruchsbehörde nicht mehr erlassen werden, hat sie diesen grundsätzlich (ganz oder teilweise) aufzuheben und über die Erstattung von Kosten des Widerspruchsführers nach Maßgabe des § 80 VwVfG bzw. entsprechender landesverwaltungsverfahrensrechtlicher Bestimmungen zu entscheiden. Ist an Stelle des rechtswidrigen Verwaltungsakts aufgrund der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt des Widerspruchsbescheids ein anderer Verwaltungsakt zu erlassen, so hat die Widerspruchsbehörde in Konsequenz des mit der Einlegung des Widerspruchs verbundenen Devolutiveffekts den Verwaltungsakt nunmehr selbst zu erlassen, bei Ermessensverwaltungsakten kann sie ihn erlassen. Richtet sich der Widerspruch beispielsweise gegen eine wegen Unverhältnismäßigkeit rechtswidrige bau-

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s. hierzu mit zahlreichen Beispielen Kopp/Schenke (Fußn. 3), § 113, Rdnr. 43 ff. Würtenberger (Fußn. 2), Rdnr. 614.

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rechtliche Beseitigungsanordnung, so kann die Widerspruchsbehörde mit deren Aufhebung zugleich eine weniger belastende Nutzungsuntersagung aussprechen35. Der Widerspruchsbescheid kann trotz Rechtswidrigkeit des Ausgangsverwaltungsakts aber auch zu einer Schlechterstellung des Widerspruchsführers führen, falls dies materiell-rechtlich indiziert ist. Das Verbot der reformatio in peius gilt nach herrschender, auch vom Jubilar36 geteilter Auffassung für das Widerspruchsverfahren grundsätzlich nicht. Hat sich die Sach- und Rechtslage nach Ergehen des Ausgangsverwaltungsakts zu Ungunsten des Widerspruchsführers verändert, kann der Widerspruchsbescheid sogar eine Belastung des Widerspruchsführers beinhalten, welche die Ausgangsbehörde zum Zeitpunkt des ursprünglichen Erlasses des Verwaltungsakts gar nicht vorzunehmen befugt gewesen wäre. Ein solcher Fall liegt z. B. dann vor, wenn die Widerspruchsbehörde aufgrund einer Veränderung der Sach- oder Rechtslage nunmehr einen dem Immissionsschutz dienenden belastenden Verwaltungsakt erlässt, der den Widerspruchsführer weit stärker beschwert als der von ihm angefochtene, dem gleichen Ziel dienende rechtswidrige ursprüngliche Verwaltungsakt, und die Ausgangsbehörde den neuen Verwaltungsakt früher gar nicht hätte erlassen dürfen. Zu beachten ist allerdings, dass bei Verwaltungsakten, die an ein in der Vergangenheit liegendes Ereignis anknüpfen und die insoweit durch einen besonderen Zeitbezug gekennzeichnet sind, nur die frühere Rechtslage maßgeblich ist. Rechtliche Veränderungen während des Widerspruchsverfahrens sind in einem solchen Fall bedeutungslos. So spielt es etwa bei einem gemeindlichen Gebührenbescheid, der wegen unrichtiger Berechnung des Wasserverbrauchs mit Erfolg teilangefochten wird, für die Entscheidung der Widerspruchsbehörde keine Rolle, dass nach einer späteren Änderung der Gebührensatzung ab deren Inkrafttreten höhere Wassergebühren zu zahlen sind. Maßgeblich für die Gebührenberechnung bezüglich der früheren Wasserbenutzung ist ausschließlich der seinerzeitige Inhalt der Gebührensatzung. cc) Ausnahmsweise keine Aufhebung des rechtswidrigen Ausgangsverwaltungsakts Bei bestimmten Fallkonstellationen ist die Widerspruchsbehörde aber im Hinblick auf den mit der Einlegung des Widerspruchs verbundenen Devolutiveffekt trotz Rechtswidrigkeit des Ausgangsverwaltungsakts an dessen Aufhebung gehindert. Diese Fälle sind dadurch gekennzeichnet, dass die Widerspruchsbehörde bei unterstellter Aufhebung des angegriffenen Verwaltungsakts diesen (von seinem zeitlichen Geltungsanspruch zunächst einmal abgesehen) mit demselben Inhalt sofort wieder zu erlassen hätte oder ihn jedenfalls zu erlassen befugt wäre und von dieser

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Schoch (Fußn. 12), § 20, Rdnr. 45. Würtenberger (Fußn. 2), Rdnr. 369 ff.

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Befugnis Gebrauch machen würde37. Hier wäre es wenig sinnvoll und verfahrensökonomisch verfehlt, wenn die Widerspruchsbehörde den Verwaltungsakt zunächst aufheben und ihn dann alsbald wieder mit demselben Inhalt neu erlassen würde. Sie hat den ursprünglichen Verwaltungsakt deshalb von dem Zeitpunkt an, in dem ihre Verpflichtung bzw. Befugnis zum Neuerlass des Verwaltungsakts begründet wurde, bestehen zu lassen. Dafür spricht auch der im Rechtsstaatsprinzip wurzelnde, aus Treu und Glauben abzuleitende Grundsatz „dolo agit, qui petit, quod statim redditurus est“38. Aus eben diesem Grund scheidet in den Fällen, in welchen die Verwaltung bei Aufhebung eines rechtswidrigen Verwaltungsakts zum Erlass desselben Verwaltungsakts verpflichtet wäre, vielfach sogar die gerichtliche Aufhebung des rechtswidrigen Verwaltungsakts aus39. Dann kann es aber erst recht keine Bedenken hervorrufen, wenn die auf Grund des Devolutiveffekts entscheidungsbefugte Widerspruchsbehörde den Verwaltungsakt aufrechterhält. Deshalb scheidet beispielsweise die Aufhebung einer rechtswidrig erlassenen Baugenehmigung, durch die zunächst Nachbarrechte verletzt wurden, trotz eines eingelegten Nachbarwiderspruchs dann aus, wenn das genehmigte Bauvorhaben auf Grund eines während des Widerspruchsverfahrens erlassenen Bebauungsplans materiell rechtmäßig wird40. Hat der Betroffene ein Interesse an der Aufhebung des bis zur Veränderung der Sach- oder Rechtslage nach wie vor rechtswidrigen Verwaltungsakts, muss die Widerspruchsbehörde diesen aber für den Zeitraum seiner Rechtswidrigkeit aufheben und dem Widerspruch insoweit teilweise stattgeben. Das Interesse an der (zeitlich begrenzten) Aufhebung des Verwaltungsakts kann sich daraus ergeben, dass dessen Fortbestand für den Betroffenen nachteilige Konsequenzen hat. Das ist – wie schon erwähnt – insbesondere dann der Fall, wenn der Verwaltungsakt bereits vor der Veränderung der Sach- und Rechtslage vollstreckt wurde41. Dem Umstand, dass der Verwaltungsakt nach wie vor zeitweise rechtswidrig war und deshalb teilweise aufgehoben werden musste, hat die Widerspruchsbehörde im Rahmen ihrer Kostenentscheidung Rechnung zu tragen. Bedeutsam werden kann das eben Gesagte z. B. bei Erschließungsbeitragsbescheiden, die auf einer verfahrensfehlerhaften und deshalb nichtigen Beitragssatzung beruhen. Wird diese Satzung unter Heilung des ihr anhaftenden Fehlers nunmehr mit Wirkung ex nunc neu erlassen, so ändert sich an der Rechtswidrigkeit des Erschließungsbeitrags jedenfalls bis zum Inkrafttreten der neuen Satzung nichts. Deshalb 37

Jedenfalls insoweit gilt anderes als bei einer gerichtlichen Entscheidung über die Aufhebung des Verwaltungsakts, denn hier scheiterte die Aufhebung nicht daran, dass die Verwaltung wegen eines ihr eingeräumten Ermessensspielraums befugt wäre, den Verwaltungsakt neu zu erlassen und von dieser Befugnis möglicherweise Gebrauch machen würde. 38 s. hierzu auch Schenke, DÖV 1986, 305 ff. 39 Näher Kopp/Schenke (Fußn. 3), Rdnr. 50 f. 40 Vgl. BVerwG, NVwZ-RR 1996, 628; NVwZ 1998, 1179. 41 Zur hier bestehenden Notwendigkeit der Aufhebung des Verwaltungsakts s. Kopp/ Schenke (Fußn. 3), § 113, Rdnr. 102; vgl. auch BVerfG, NVwZ 1999, 290, 292; BVerwG, NVwZ 2009, 122.

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muss die Widerspruchsbehörde den Erschließungsbeitragsbescheid für die Zeit bis zum Inkrafttreten der neuen Satzung aufheben, wenn der Betroffene an dieser (partiellen) Aufhebung ein rechtliches Interesse besitzt. Dieses Interesse kann sich z. B. daraus ergeben, dass für den Betroffenen wegen einer Nichtbegleichung der schon vor Inkrafttreten der neuen Satzung fälligen Beitragsschuld Verzugszinsen oder Vollstreckungskosten entstanden. Der Versuch des BVerwG42, dem Vollstreckungsschuldner in einem solchen Fall zu helfen, indem es die Fälligkeit der Beitragsschuld in sinngemäßer Anwendung des § 135 Abs. 1 BauGB erst von dem Moment des Erlasses der neuen rechtswirksamen Satzung an eintreten lässt, überzeugt nicht. Denn § 135 Abs. 1 BauGB knüpft nur an die Bekanntgabe des rechtswirksamen (wenn auch möglicherweise rechtswidrigen) Beitragsbescheids an. Die genannten Probleme stellen sich nicht, wenn die Satzung, die an die Stelle der früheren nichtigen Beitragssatzung tritt, in zulässiger Weise rückwirkend erlassen wurde. Dann werden auch die auf der Basis der früheren nichtigen Satzung zunächst rechtswidrig erlassenen Beitragsbescheide rückwirkend rechtmäßig. Ein gegen sie eingelegter Widerspruch hat deshalb keinen Erfolg. Der Widerspruchsführer kann nach Erlass der neuen Satzung einen gegen den Erschließungsbeitragsbescheid eingelegten Widerspruch für erledigt erklären und damit die Kostennachteile vermeiden, die sich aus der Rechtsänderung ergeben. Die Aufhebung eines materiell rechtswidrig erlassenen Verwaltungsakts scheidet nicht nur dann aus, wenn dieser auf Grund einer im Moment des Widerspruchsbescheids veränderten Sach- oder Rechtslage durch die Widerspruchsbehörde neu hätte erlassen werden müssen oder jedenfalls erlassen worden wäre. Dasselbe hat auch dann zu gelten, wenn die materielle Fehlerhaftigkeit eines Ermessensverwaltungsakts aus einem Ermessensfehler resultiert, die Widerspruchsbehörde aber befugt ist, den Verwaltungsakt mit demselben Inhalt in ermessensfehlerfreier Weise zu erlassen und sie von diesem Ermessen in dieser Richtung Gebrauch macht. Ebenso verbietet sich die Aufhebung des Verwaltungsakts auch dort, wo dieser nur formell rechtswidrig ist. Soweit die Verfahrensfehlerhaftigkeit eines solchen Verwaltungsakts nicht ohnehin bereits nach § 45 VwVfG (bzw. entsprechenden landesverwaltungsverfahrensrechtlichen Bestimmungen) geheilt ist oder § 46 VwVfG Anwendung findet43, folgt die Unaufhebbarkeit eines rechtlich gebundenen Verwaltungsakts in der Regel jedenfalls daraus, dass die Widerspruchsbehörde bei unterstellter Aufhebung des Verwaltungsakts verpflichtet gewesen wäre, den Verwaltungsakt alsbald in formell rechtmäßiger Weise mit demselben Inhalt zu erlassen, den der angegriffene Verwaltungsakt hatte. Das gilt jedenfalls dann, wenn sich die materielle Rechtslage nach Eintritt der Rechtswidrigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts nicht geändert hat. 42

So in Verbindung mit einer Anfechtungsklage gegen einen nachträglich „geheilten“ Beitragsbescheid BVerwG 64, 218, 221; BVerwG, NVwZ 1991, 360; krit. hierzu Kopp/ Schenke (Fußn. 3), § 113, Rdnr. 50. 43 s. zu dieser Vorschrift und ihrer Bedeutung näher schon Schenke, DÖV 1986, 305 ff.

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3. Der Verpflichtungswiderspruch Ein Widerspruch hat hier selbst dann Erfolg, wenn die beantragte Begünstigung zwar zunächst rechtmäßig versagt wurde, weil kein Anspruch auf die Vornahme des begünstigenden Verwaltungsakts bestand, vor Erlass des Widerspruchsbescheids jedoch ein solcher Anspruch wegen einer Veränderung der Sach- oder Rechtslage begründet wurde. Maßgeblich hierfür ist, dass der Erfolg eines Verpflichtungswiderspruchs ausschließlich davon abhängt, ob im Zeitpunkt des Widerspruchsbescheids ein Rechtsanspruch auf die Begünstigung besteht. Wenn dies der Fall ist, wird damit die Versagung rechtswidrig und ist dem Widerspruch stattzugeben, was zugleich die Aufhebung des versagenden Bescheids impliziert. III. Resümee Ist ein Verwaltungsakt rechtmäßig und (bei Ermessensverwaltungsakten) zweckmäßig, ist der Widerspruch entgegen einer in der Rechtsprechung und im rechtswissenschaftlichen Schrifttum vielfach vertretenen Auffassung selbst dann unbegründet, wenn ein Verwaltungsakt mit diesem Inhalt aufgrund einer Veränderung der Sach- oder Rechtslage durch die Widerspruchsbehörde nicht mehr erlassen werden dürfte. Ist der angegriffene Verwaltungsakt rechtswidrig oder unzweckmäßig, hat sie ihn dagegen grundsätzlich aufzuheben und aufgrund des Devolutiveffekts gegebenenfalls durch einen anderen Verwaltungsakt zu ersetzen. Hätte allerdings die Widerspruchsbehörde den rechtswidrigen Verwaltungsakt auf Grund der im Moment der Widerspruchsentscheidung bestehenden Sach- und Rechtslage zu erlassen, scheidet eine Aufhebung des Verwaltungsakts trotz Rechtswidrigkeit aus; der Verwaltungsakt ist dann aufrechtzuerhalten. Dasselbe gilt dann, wenn die Widerspruchsbehörde auf Grund eines ihr eingeräumten Ermessens befugt wäre, den Verwaltungsakt neu zu erlassen und von dieser Befugnis Gebrauch machen würde. Eine Aufhebung des Verwaltungsakts ist selbst dann zu unterlassen, wenn sich die Verpflichtung oder Befugnis der Widerspruchsbehörde erst auf Grund einer nach Ergehen des angegriffenen Verwaltungsakts eingetretenen Veränderung der Sach- oder Rechtslage ergibt. In diesem Fall ändert sich aber an der Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts vor Eintritt der Veränderung nichts. Hat der Widerspruchsführer ein Interesse an der Aufhebung des Verwaltungsakts für die Zeit vor Eintritt der Veränderung, weil sich aus dem diesbezüglichen Fortbestand des Verwaltungsakts für ihn Nachteile ergeben würden, ist der Verwaltungsakt insoweit aufzuheben.

Die Rechtsprechung des EuGH zur Relevanz von Fehlern im Verwaltungsverfahren Zugleich eine Anmerkung zur Entscheidung des EuGH vom 25. 10. 2011 in der Rechtssache C-110/10 P, Solvay SA/Kommission Von Jürgen Schwarze, Freiburg* I. Einführung Die Sicherung eines fairen Verfahrens gehört zu den Grundelementen jeder rechtsstaatlich geprägten Rechtsordnung. Auch im Zeichen der europäischen Integration und im Lichte der Europäisierung der nationalen Rechtsordnungen kommt diesem Postulat eine besondere Bedeutung zu.1 Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat in diesem Kontext jüngst ein Urteil gefällt, das die Verfahrensrechte der Betroffenen erneut unterstreicht.2 Dieses Urteil soll hier zum Anlass genommen werden, zur Relevanz von Verfahrensfehlern im europäischen Verwaltungsverfahrens- und Verwaltungsprozessrecht Stellung zu nehmen. Damit wird ein Thema aufgegriffen, das zu den „Klassikern“ des Verwaltungsrechts gehört und zu dem sich auch der Jubilar jüngst erneut geäußert hat.3 Es liegt daher nicht fern, einen Ausschnitt aus diesem umfassenden, auch kürzlich im Kreise der deutschen Staatsrechtslehrer diskutierten Fragenkreis4 zum Gegenstand einer ehrenden Betrachtung für Thomas Würtenberger zu machen. Ausgehend von einem Beispiel aus der neuesten Rechtsprechung des Gerichtshofs (II.) soll es in den folgenden Ausführungen darum gehen, diese Entscheidung in den Kontext der Relevanz von Fehlern im europäischen Verwaltungsverfahren ein*

Bei der Vorbereitung dieses Beitrags bin ich Herrn Konrad Vossen zu besonderem Dank verpflichtet. Rechtsprechung und Literatur sind bis Februar 2012 berücksichtigt. 1 Schwarze, Strenge richterliche Verfahrenskontrolle bei weitem administrativem Ermessen – Anmerkungen zur Entscheidungspraxis der Gemeinschaftsgerichte auf dem Gebiet des europäischen Wirtschaftsrechts, in: FS Köck, 2009, 321 (322). 2 EuGH, Urt. v. 25. 10. 2011, Rs. C-110/10 P, Solvay SA/Kommission, noch nicht in der amtl. Slg. 3 Würtenberger, Verwaltungsprozessrecht, 3. Aufl. 2011, S. 149 ff. 4 Vgl. VVDStRL 70 (2011), Der Schutzauftrag des Rechts, Referate und Diskussionen auf der Tagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer in Berlin vom 29.9. bis 2. 10. 2010, 2011, Dritter Beratungsgegenstand: Eigenwert des Verfahrens im Verwaltungsrecht, S. 227 ff.

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zufügen. Dabei werden auch jüngste einschlägige Vertragsänderungen und teilweise gegenläufige Tendenzen in der Rechtsprechung in den Blick genommen (III.). Auf dieser Grundlage erfolgt eine abschließende Bewertung der jüngsten Rechtsentwicklung auf diesem Gebiet (IV.). II. Die Entscheidung in der Rechtssache Solvay SA 1. Sachverhalt Das hier herausgegriffene Beispiel aus der Rechtsprechung betraf das belgische Unternehmen Solvay SA, einen der führenden Hersteller von künstlichem Soda. Als solches partizipierte es an illegalen Absprachen mit anderen Herstellern, welche bis zum Ende des 19. Jahrhunderts zurückreichen. Die Kommission stellte in einem Wettbewerbsverfahren nach den Art. 81 und 82 EGV5 als Folge dieser Absprachen eine Einflussbereichsaufteilung sowie eine Abschottung der nationalen Märkte mit erheblichen Preisunterschieden fest.6 Die entsprechenden Untersagungsentscheidungen wurden jedoch von Solvay SA mit Erfolg wegen Mängeln im Verwaltungsverfahren vor dem Gericht (EuG) angefochten, da der Klägerin die Einsicht in verschiedene Akten der Kommission versagt worden war. Gegen die daraufhin von der Kommission am 13. 12. 2000 neu erlassenen Entscheidungen erhob Solvay SA abermals Klage vor dem EuG, welche jedoch mit Urteil vom 17. 12. 2009 abgewiesen wurde.7 Der Gerichtshof hatte nunmehr über das gegen dieses erstinstanzliche Urteil seitens der Klägerin eingelegte Rechtsmittel zu entscheiden. 2. Rechtliche Würdigung durch den Gerichtshof Der Gerichtshof stellte zunächst heraus, dass die Erheblichkeit eines Verfahrensfehlers sich danach bemesse, ob durch den Verfahrensfehler die Verteidigungsrechte bzw. Verteidigungsmöglichkeiten des Betroffenen eingeschränkt worden sind.8 Er formulierte, dass „die Verletzung des Rechts auf Akteneinsicht im Verfahren vor dem Erlass einer Entscheidung […] grundsätzlich deren Nichtigerklärung nach sich ziehen [kann], wenn die Verteidigungsrechte beeinträchtigt worden sind.“9

Die Beweisführung hinsichtlich einer Beeinträchtigung der Verteidigungsrechte durch derartige Verfahrensfehler wird der Klägerin dabei durch den Gerichtshof erheblich erleichtert: 5

Heute Art. 101, 102 AEUV. EuGH, Solvay SA/Kommission (Fußn. 2), Rn. 2 ff. 7 EuG, Rs. T-57/01, Solvay SA/Kommission, Slg. 2009, II-4621. 8 Vgl. Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, 2. Aufl. 2005, S. 1369. 9 EuGH, Solvay SA/Kommission (Fußn. 2), Rn. 50. 6

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„Wird die Akteneinsicht und insbesondere die Einsicht in entlastende Unterlagen im Stadium des Gerichtsverfahrens gewährt, so braucht das betroffene Unternehmen nicht zu beweisen, dass die Entscheidung der Kommission, wenn es Einsicht in die nicht übermittelten Unterlagen gehabt hätte, anders ausgefallen wäre, sondern nur, dass die fraglichen Unterlagen seiner Verteidigung hätten dienlich sein können.“10

Damit wird der Klägerin die Beweislast hinsichtlich einer etwaigen Fehlerrelevanz weitgehend abgenommen. Dies entspricht einer wohl gefestigten Rechtsprechung des Gerichtshofs bei einer Verletzung des Rechts auf Akteneinsicht.11 Die abermalige Hervorhebung dieses Grundsatzes durch den Gerichtshof unterstreicht jedoch nicht nur das besondere Gewicht von Verfahrensgarantien für den effektiven Rechtsschutz im europäischen Verwaltungsverfahren.12 Dieses Urteil verdient vielmehr auch bei einer Gesamtwürdigung der neueren Rechtsprechung des Gerichtshofes positiv hervorgehoben zu werden. III. Die Bedeutung von Verfahrensfehlern im Unionsrecht 1. Die Bedeutung des Verfahrens im europäischen Verwaltungsrecht Die richterliche Kontrolle administrativer Entscheidungen im europäischen Wirtschaftsverwaltungsrecht bewegt sich in einem Spannungsfeld gegenläufiger Anforderungen.13 Einerseits soll beim Vollzug der Rechtsvorschriften auf diesem Gebiet ein möglichst hohes Maß an Rechtssicherheit und Rechtsklarheit erreicht werden, damit sich Bürger und Unternehmen bei ihren Planungs- und Investitionsentscheidungen verlässlich an den entsprechenden normativen Vorgaben orientieren können. Andererseits ist das europäische Wirtschaftsrecht in hohem Maße durch komplexe Sachverhalte und schwierige Prognoseentscheidungen geprägt, die eine Entscheidungsfreiheit der Verwaltung erfordern. Den verantwortlichen Behörden ist mithin ein notwendiger Freiraum zuzugestehen, um den sich schnell ändernden politischen wie wirtschaftlichen Vorraussetzungen und den tatsächlichen Verhältnissen im Einzelfall gerecht zu werden.14 Dies geschieht im Regelfall durch die Einräumung eines 10

EuGH, Solvay SA/Kommission (Fußn. 2), Rn. 52. Vgl. EuGH verb. Rs. C-204/00 P u. a., Aalborg Portland A/S u. a./Kommission, Slg. 2004, I-123, Rn. 131; Rs. C-199/99 P, Corus UK/Kommission, Slg. 2003, I-11177, Rn. 128; verb. Rs. C-238/99 P u. a., Limburgse Vinyl Maatschappij NV u. a./Kommission, Slg. 2002, I-8375, Rn. 318; Rs. C-51/92 P, Hercules Chemicals NV/Kommission, Slg. 1999, I4235, Rn. 74 ff. 12 Hierzu insgesamt Schwarze (Hg.), Verfahren und Rechtsschutz im europäischen Wirtschaftsrecht, 2010. 13 Vgl. zum Folgenden insgesamt Schwarze (Fußn. 1), 321 ff. sowie ders., Der funktionale Zusammenhang von Verwaltungsverfahrensrecht und verwaltungsgerichtlichem Rechtsschutz, 1973. 14 Schwarze (Fußn. 1), 321 (324). 11

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erweiterten Ermessensspielraums, wobei im Unionsrecht dabei anders als im deutschen Recht bekanntlich nicht zwischen Beurteilungsspielräumen auf der Tatbestandsseite der Norm und Ermessen auf der Rechtsfolgenseite unterschieden wird.15 Die eingeschränkte Prüfungskompetenz der Unionsgerichte in Bezug auf diese administrativen Ermessensentscheidungen16 lässt einen funktionalen Zusammenhang zwischen Verwaltungsverfahrensrecht und gerichtlichem Rechtsschutz erkennen.17 Ein solcher Zusammenhang besteht insofern, als gerade bei komplexen Entscheidungen aufgrund der größeren Sachnähe der Verwaltungsorgane eine Kontrolle der materiellen Richtigkeit der Entscheidung durch die Unionsgerichte nur schwer erreichbar scheint und deshalb notwendigerweise administrative Freiräume anzuerkennen sind. Im Falle einer solchen eingeschränkten Gerichtskontrolle müssen aber ausreichende kompensierende Sicherungsgarantien vorhanden sein. Dazu rechnet insbesondere die strenge Beachtung und Kontrolle der Verwaltungsverfahren.18 Nach Ansicht des Gerichtshofs verlangt daher der Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes als ausgleichendes Gegengewicht zur Beschränkung der inhaltlichen Prüfdichte eine strenge gerichtliche Kontrolle der Einhaltung der Verfahrensanforderungen: „Soweit jedoch die Organe der Gemeinschaft über einen solchen Beurteilungsspielraum verfügen, kommt eine umso größere Bedeutung der Beachtung der Garantien zu, die die Gemeinschaftsrechtsordnung in Verwaltungsverfahren gewährt.“19

Der Rechtsschutz des Unionsbürgers wird so in entscheidendem Maße mit Hilfe des Verwaltungsverfahrensrechts verwirklicht.20 2. Änderungen durch den Vertrag von Lissabon Diese herausragende Bedeutung des Verwaltungsverfahrens wurde vom Gerichtshof bereits frühzeitig durch die Herausarbeitung allgemeiner Rechtsgrundsätze auf diesem Gebiet anerkannt.21

15 Hierzu Everling, in: Schwarze (Hg.), Der Europäische Gerichtshof als Verfassungsgericht und Rechtsschutzinstanz, 1983, S. 137 ff.; ferner ders., Richterliche Rechtsfortbildung in der europäischen Gemeinschaft, JZ 2000, 217 ff. 16 Siehe Everling (Fußn. 15). 17 Dazu Schwarze, Der funktionale Zusammenhang von Verwaltungsverfahrensrecht und verwaltungsgerichtlichem Rechtsschutz, 1973. 18 Schwarze (Fußn. 1), 321 (327). 19 EuGH, Rs. C-269/90, Hauptzollamt München-Mitte/TU München, Slg. 1991, 5469, Rn. 14. 20 Schwarze (Fußn. 8), S. 1376 f. 21 Vgl. Schwarze (Fußn. 8), S. 1146 ff.

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Sie hat aber auch in mannigfaltiger Weise Eingang in das geschriebene Unionsrecht gefunden. Auch anlässlich jüngster Änderungen des Unionsrechts wurde dieser Grundsatz – insbesondere durch den Vertrag von Lissabon – erneut unterstrichen.22 a) Die Regelungen der Charta der Grundrechte der Europäischen Union Das Bestreben, das europäische Verwaltungsverfahrensrecht zu stärken und so die Bedeutung einer rechtsstaatlichen Unionsverwaltung zu bekräftigen, hat auch die rechtspolitische Entwicklung maßgeblich geprägt.23 Aus der gemäß Art. 6 Abs. 1 EUV nunmehr rechtsverbindlichen Europäischen Grundrechtecharta sind in Bezug auf das europäische Verwaltungsverfahrensrecht vor allem zwei Garantien bedeutsam, nämlich das in Art. 41 GRCh verbürgte Recht auf eine gute Verwaltung sowie das Recht auf Zugang zu Dokumenten der Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union und damit insbesondere zu solchen des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission aus Art. 42 GRCh.24 aa) Das Recht auf eine gute Verwaltung, Art. 41 GRCh Das Grundrecht auf eine gute Verwaltung greift die bereits zuvor in der Rechtsprechung der EU-Gerichte entwickelten rechtsstaatlichen Grundsätze für das Verwaltungsverfahren wie beispielsweise das „Recht auf eine ordnungsgemäße Verwaltung“25 sowie auf „gute Verwaltungsführung“26 auf. Letztlich ist Art. 41 GRCh damit auch vor dem Hintergrund der bereits durch den Gerichtshof entwickelten Grundsätze der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung oder des Vertrauensschutzes27 zu sehen. Der personelle Schutzbereich des Art. 41 GRCh ist offen gefasst und beschränkt sich nicht auf Unionsbürger, sondern weitet die Grundrechtsträgerschaft auch auf Drittstaatsangehörige sowie juristische Personen aus.28

22

Vgl. zu den Änderungen im europäischen Verwaltungsrecht insgesamt Schwarze, Die Neuerungen auf dem Gebiet des Europäischen Verwaltungsrechts durch den Vertrag von Lissabon, in: FS Wahl, 2011, 837 ff. 23 Vgl. Ruffert, in: Calliess/Ruffert (Hg.), EUV/AEUV, 4. Aufl. 2011, Art. 41 GRCh Rn. 1. 24 Siehe zum Folgenden bereits Schwarze (Fußn. 22), 837 (844 ff.). 25 EuG, Rs. T-334/07, Denka International BV, Slg. 2009, II-4205, Rn. 164; EuGH, Rs. C170/02 P, Schlüsselvertrag J.S. Moser, Slg. 2003, I-9889, Rn. 29; EuGH, Rs. 179/82, Lucchini, Slg. 1983, 3083, Rn. 27. 26 EuGH, Rs. 55/70, Reinarz/Kommission, Slg. 1970, 379, Rn. 18; EuGH, Rs. 56 u. 58/64, Consten und Grundig/Kommission, Slg. 1966, 322 (395 f.). 27 Siehe hierzu Schwarze (Fußn. 8), S. LVI ff. und 219 ff. bzw. S. LXXVII und 843 ff. 28 Rengeling/Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, 2004, Rn. 1093.

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Der wesentliche sachliche Schutzbereich ist in Art. 41 Abs. 1 GRCh normiert, wonach für jeden Betroffenen eine unparteiische, gerecht und fristgemäß handelnde, funktionsfähige sowie effektive Verwaltung gewährleistet werden soll. Wiederum greift diese Formulierung auf bereits in der Rechtsprechung herausgebildete Grundsätze zurück, die sich dort konkretisiert finden. So gehört etwa zu einer unparteiischen Untersuchung, dass alle relevanten Gesichtspunkte des Einzelfalls geprüft werden.29 Nach dem Grundsatz des fristgemäßen Handelns ist eine übermäßige Verfahrensdauer zu vermeiden. Zudem soll sichergestellt werden, dass jede Verfahrensmaßnahme innerhalb einer gegenüber der vorhergehenden Maßnahme angemessenen Frist erfolgt, wobei die Angemessenheit der Frist einzelfallabhängig zu bestimmen ist.30 Art. 41 Abs. 2 GRCh enthält ergänzend eine nicht abschließende Aufzählung bestimmter besonders relevanter Verfahrensrechte, nämlich der Rechte auf Anhörung, auf Aktenzugang sowie auf Entscheidungsbegründung. Auch diese Verfahrensrechte sind auf gefestigte Rechtsprechungslinien des Gerichtshofs zurückzuführen. So gehört das Recht auf Anhörung zu den grundlegenden Rechtsgrundsätzen, die bereits früh von der Rechtsprechung anerkannt wurden.31 Das Anhörungsrecht dient in besonderem Maße der Verteidigung des Einzelnen im verwaltungsgerichtlichen Prozess wie auch bereits im vorgängigen Verwaltungsverfahren.32 Auch das nunmehr in Art. 41 Abs. 2 lit. b) GRCh niedergelegte Akteneinsichtsrecht ist seit langem als allgemeiner Rechtsgrundsatz anerkannt.33 Nunmehr nimmt der Gerichtshof bei Anwendung dieses Grundsatzes – so auch in der hier beleuchteten Rechtssache Solvay SA/Kommission – explizit auf Art. 41 Abs. 2 lit. b) GRCh Bezug.34 Dieses Recht betrifft jedoch, anders als das Recht auf Zugang zu Dokumenten gemäß Art. 42 GRCh nur solche Dokumente, die den Grundrechtsträger selbst berühren. Bei einem berechtigten Interesse zur Wahrung der Vertraulichkeit sowie zum Schutz des Berufs- und Geschäftsgeheimnisses ist dieses Recht einschränkbar, wobei es jeweils einer Abwägung im Einzelfall bedarf, ob insoweit Einschränkungen berechtigt sind.35 29

EuG, Rs. T-54/99, max.mobil/Kommission, Slg. 2002, II-313, Rn. 48 ff. Voet van Vormizeele, in: Schwarze (Hg.), EU-Kommentar, 2. Aufl. 2009, Art. 41 GRC Rn. 6; GA Jacobs, Schlussanträge in der Rs. C-270/99, Z/Europäisches Parlament, Slg. 2001, I-9197, Rn. 40. 31 Voet van Vormizeele (Fußn. 30), Art. 41 GRC Rn. 8. 32 EuGH, Rs. C-399/06 P und C-403/06 P, Hassan und Ayadi/Rat und Kommission, Slg. 2009, I-11393, Rn. 83 ff. 33 EuGH, Rs. 53/85, Akzo Chemie BV u. a./Kommission, Slg. 1986, 1965, Rn. 28; EuG, Rs. T-48/05, Franchet u. a./Kommission, Slg. 2008, II-1585, Rn. 257. 34 EuGH, Solvay SA/Kommission (Fußn. 2), Rn. 48. 35 EuGH, verb. Rs. C-204/00 u. a., Aalborg Portland A/S u. a./Kommission, Slg. 2004, I123, Rn. 68 ff. 30

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Zuletzt enthält Art. 41 Abs. 2 GRCh unter lit. c) eine Begründungspflicht von Verwaltungsentscheidungen. Diese Gewährleistung findet ihr vertragliches Äquivalent in Art. 296 UAbs. 2 AEUV. Im dritten Absatz ist ein Recht auf Schadensersatz bei Amtspflichtverletzungen normiert, welche sich mit dem Anspruch der außervertraglichen Haftung der Union für ihre Organe und Bediensteten gemäß dem früheren Art. 288 Abs. 2 EGV (heute Art. 340 Abs. 2 AEUV) deckt. Absatz 4 wiederholt das bereits in Art. 24 UAbs. 4 EUV verankerte Recht, sich in einer der Sprachen der Verträge an die Organe der Union zu wenden und eine Antwort in derselben Sprache zu erhalten, geht aber insofern über dieses hinaus, als es „jede Person“ und nicht nur „Unionsbürger“ berechtigt.36 bb) Das Recht auf Zugang zu Dokumenten, Art. 42 GRCh Gemäß Art. 42 GRCh ist allen Unionsbürgern sowie jeder natürlichen oder juristischen Person mit Wohnsitz oder satzungsmäßigem Sitz in einem Mitgliedstaat das Recht auf Zugang zu den Dokumenten der Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Union garantiert, gleich in welcher Form diese vorliegen. Dieses Grundrecht ist somit inhaltsgleich mit Art. 15 Abs. 3 EUV, einer Regelung, die sich bereits seit dem Vertrag von Amsterdam im Primärrecht findet. Grundlage hierfür sind das Demokratie- sowie das in Art. 1 Abs. 2 EUV verankerte Transparenzprinzip.37 Im Gegensatz zum Recht auf eine gute Verwaltung lässt sich in der Rechtsprechung des EuGH hier jedoch kein entsprechender aus den gemeinsamen verfassungsrechtlichen Traditionen der Mitgliedstaaten herausgebildeter allgemeiner Rechtsgrundsatz nachweisen, wie Generalanwalt Léger betont hat.38 Nach dem Gesetzesvorbehalt des Art. 15 Abs. 3 UAbs. 2 AEUV ist dieses weite Zugangsrecht jedoch einschränkbar. Das Europäische Parlament und der Rat können hiernach im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren durch Verordnung die allgemeinen Grundsätze des Dokumentenzugangs sowie Einschränkungen aufgrund privater oder öffentlicher Interessen bestimmen. Auf dieser Grundlage sind die absoluten und relativen Rechte auf Verweigerung des Zugang zu Dokumenten der VO (EG) Nr. 1049/200139 entstanden.40 36

Voet van Vormizeele (Fußn. 30), Art. 41 GRC Rn. 13. Voet van Vormizeele (Fußn. 30), Art. 42 GRC Rn. 1. 38 GA Léger, Schlussanträge in der Rs. C-41/00 P, Intercorp Im- und Export/Kommission, Slg. 2003, I-2125, Rn. 80. 39 VO (EG) Nr. 1049/2001 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 30. 5. 2001 über den Zugang der Öffentlichkeit zu Dokumenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission, ABl. 2001 Nr. L 145, S. 43 ff. 40 Siehe hierzu zuletzt EuGH, Urt. v. 21. 7. 2011, Rs. C-506/08, Schweden/MyTravel und Kommission, noch nicht in der amtl. Slg., mit Besprechung Kellerbauer, EuZW 2012, 22 ff. 37

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b) Stärkung der Verfahrensrechte im Kartellverfahren In neuerer Zeit lässt sich ein verstärktes Bewusstsein für die Relevanz der Verfahrensrechte auf Seiten der Kommission feststellen. So hat sie jüngst ein Maßnahmepaket im Bereich der Kartellverfahren angenommen, das darauf zielt, die Zusammenarbeit mit den Parteien und die Mechanismen zur Wahrung deren Verfahrensrechte zu stärken.41 Das Paket umfasst unter anderem eine Revision des Mandats des Anhörungsbeauftragen,42 das auf die „effektive Wahrung der Verfahrensrechte in Kommissionsverfahren […] insbesondere bezüglich des Anspruchs auf rechtliches Gehör“ zielt.43 Auch die geltenden Verfahrensregeln für die Einreichung wirtschaftlichen Beweismaterials sind durch das Maßnahmepaket fortentwickelt worden. Eine Änderung der Kartellrechtsverordnung VO (EG) Nr. 1/200344 selbst scheint hingegen zumindest in nächster Zeit nicht angestrebt zu werden. 3. Verfahrensfehler in der Rechtsprechung des Gerichtshofs Diese herausragende Bedeutung des Verfahrensrechts für die Verwirklichung eines effektiven Rechtsschutzes im europäischen Verwaltungsrecht spiegelt sich auch in der Rechtsprechung des Gerichtshofs wider.45 a) Fehlerrelevanz Dies zeigt sich insbesondere in der Rechtsprechung, welche der Gerichtshof, zunächst ausgehend von allgemeinen Rechtsgrundsätzen, zur Relevanz von Verfahrensfehlern im Verwaltungsverfahren entwickelt hat.46 Denn der Wert, den eine Rechtsordnung dem Verwaltungsverfahren beimisst, hängt in besonderem Maße von den Folgen von Verfahrensfehlern und der Möglichkeit ihrer auch gesonderten gerichtlichen Geltendmachung ab.47 Während Verstöße gegen das materielle Recht als solche zur Aufhebbarkeit der Verwaltungsentscheidung führen, wird dies bei Verstößen gegen das Verfahrensrecht nicht ohne Weiteres angenommen. Ohne zwingen41

Europäische Kommission, Pressemitteilung vom 17. 10. 2011, IP/11/1201. Siehe hierzu den Beschluss des Präsidenten der Europäischen Kommission vom 13. 10. 2011 über Funktion und Mandat des Anhörungsbeauftragten in bestimmten Wettbewerbsverfahren (2011/695/EU), ABl. 2011 Nr. L 275, S. 29 ff. Zu den Aufgaben des Anhörungsbeauftragten siehe im Einzelnen Art. 4 Abs. 2 Beschluss 2011/695/EU. 43 Vgl. Erwägungsgrund (1) Beschluss 2011/695/EU. 44 VO (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16. 12. 2002 zur Durchführung der in den Artikeln 81 und 82 des Vertrags niedergelegten Wettbewerbsregeln, ABl. 2003 Nr. L 1, S. 1 ff. 45 Siehe hierzu auch Schwarze (Fußn. 8), S. 1146 ff. 46 Vgl. hierzu Wahl, Das Verhältnis von Verwaltungsverfahren und Verwaltungsprozessrecht in europäischer Sicht, DVBl. 2003, 1285 (1288 ff.). 47 Fehling, Eigenwert des Verfahrens im Verwaltungsrecht, in: VVDStRL 70 (2011), Der Schutzauftrag des Rechts, 2011, 278 (289); Wahl (Fußn. 46), 1285 (1287). 42

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de rechtliche Sanktionen müssen die bereits im Verwaltungsverfahren eingebauten und dementsprechend vorverlagerten Sicherungen aber letztlich wirkungslos bleiben. Außerdem vermag nur ein effizienter Verfahrensschutz im funktionalen Zusammenhang von Verwaltungsverfahrensrecht und Verwaltungsgerichtsbarkeit eine Einschränkung der verwaltungsgerichtlichen Kontrolldichte auszugleichen.48 Für das Unionsrecht kommt insoweit schon beim einschlägigen Klagegrund in Art. 263 Abs. 2 AEUV zum Ausdruck, dass die Verletzung einer wesentlichen Formvorschrift zur Aufhebung des erlassenen Akts führen soll. So verwundert es nicht, wenn in der Rechtsprechung verschiedene Einschränkungen der Rügefähigkeit von Verfahrensfehlern entwickelt worden sind, die den Bedürfnissen der Prozessökonomie im Verfahren vor dem Gerichtshof und der Funktionsfähigkeit der Verwaltung entsprechen.49 Dabei bleibt allerdings eine herausragende Rolle des Verwaltungsverfahrens für die Wahrung der Verteidigungsrechte des Betroffenen anerkannt.50 Denn entsprechend dem Ziel, dem Einzelnen einen umfassenden Rechtsschutz auch durch die Gestaltung des Verwaltungsverfahrens zu sichern, ist für den Gerichtshof entscheidend, ob durch den Verfahrensfehler die Verteidigungsrechte bzw. Verteidigungsmöglichkeiten des Betroffenen eingeschränkt worden sind.51 Diesen Grundsatz hat der Gerichtshof auch in der hier analysierten Rechtssache Solvay SA/Kommission nunmehr erneut bestätigt.52 Eine Beeinträchtigung von Verteidigungsrechten des Betroffenen kann hierbei insbesondere dann entfallen, wenn keine andere Entscheidung der Verwaltung in der Sache hätte getroffen werden können. Das Verfahren ist mithin – ungeachtet des ihm zukommenden Eigenwerts – von der Rechtsprechung nicht vollkommen isoliert vom materiellen Ergebnis, sondern auch in seiner dienenden Funktion betrachtet worden.53 Denn Eigenwert bedeutet nicht Selbstzweck.54 Trotz Betonung der herausragenden Bedeutung eines ordnungsgemäßen Verfahrens hat die Rechtsprechung daher schon früher das einschränkende Kriterium der Ergebnis- oder Fehlerrelevanz als „Filterkriterium“ entdeckt, wenn auch nicht durchgängig berücksichtigt: „Es ist festzustellen, dass, auch wenn man unterstellt, dass die angefochtene Entscheidung die beiden behaupteten Formfehler aufweist, ein Kläger dann kein berechtigtes Interesse an der Aufhebung einer Entscheidung wegen Formmangels hat, wenn die Verwaltung keinen Ermessensspielraum besitzt und handeln muss, wie sie es getan hat. In einem solchen Fall 48

Schwarze (Fußn. 17), S. 67. Schwarze (Fußn. 8), S. 1368. 50 Fehling (Fußn. 47), 278 (307). 51 Vgl. Schwarze (Fußn. 8), S. 1369. 52 EuGH, Solvay SA/Kommission (Fußn. 2), Rn. 50. 53 Hierzu ausführlich: VVDStRL 70 (2011) (Fußn. 4), S. 227 ff. 54 Fehling (Fußn. 47), 278 (281); s. auch zugespitzt Wahl (Fußn. 46), 1285 (1292): „Keine Rechtsordnung der Welt hält jeden und alle Verfahrensfehler für beachtlich. […]. Ein (kleines) Stück dienende Funktion wird Verfahrensvorschriften in jeder Rechtsordnung zuerkannt.“ 49

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könnte nämlich die Aufhebung der angefochtenen Entscheidung nur zum Erlass einer neuen Entscheidung führen, die inhaltlich mit der angefochtenen Entscheidung identisch ist.“55

Eine wichtige Grenze für die Aufhebung einer Verwaltungsentscheidung bilden mithin verfahrensökonomische Gründe. Die Verwaltung soll nicht noch einmal ein Verfahren durchführen müssen, bei dem von vornherein feststeht, dass das Ergebnis auch bei rechtmäßiger Prozedur mit dem vorherigen – fehlerhaften – identisch sein würde.56 Die Behandlung von Verfahrensfehlern bewegt sich mithin auf einem Feld widerstreitender Zielvorstellungen, die durch eine differenzierte Fehlerfolgenbestimmung zu einem Ausgleich gebracht werden sollen.57 Die Anknüpfung an den möglichen Einfluss auf das Ergebnis des Verfahrens entspricht dabei bei rechtsvergleichender Betrachtung solchen ausländischen Rechtsordnungen, welche die Aufhebung eines Verwaltungsaktes ebenfalls nicht billigen, der in gleicher Weise wieder erlassen werden müsste.58 Auch in Deutschland bleibt die Ergebniskausalität eines Verfahrensverstoßes ein zentrales Kriterium für die Aufhebbarkeit im Verwaltungsprozess.59 b) Fehlerrelevanz und Beweislast Die Tragweite dieses Kriteriums lässt sich allerdings erst vollständig ermessen, wenn dabei die Darlegungs- und objektive Beweislast mit berücksichtigt wird. Wird sie dem Betroffenen zugewiesen, befindet er sich in einer ausgesprochen schwierigen Lage. Denn dann muss er hypothetische Entscheidungsprozesse innerhalb der Verwaltung nachzeichnen. Ein positiver Nachweis einer hypothetisch divergierenden Entscheidung und damit eines feststellbaren Einflusses eines Verfahrensfehlers auf eine bestimmte Verwaltungsentscheidung wird dem außenstehenden Betroffenen dabei kaum einmal gelingen. Dies gilt umso mehr für einen Bereich wie den des europäischen Wirtschaftsrechts, welcher in besonderem Maße durch weite Ermessens- und Prognoseentscheidungen geprägt ist. Hier kann ein bestimmtes Ergebnis nicht allein aus konditional formulierten Normen abgeleitet werden. Vielmehr soll dem Einzelnen auf diesem Gebiet angesichts der weitmaschigen normativen Vor-

55

EuGH, Rs. 117/81, Geist/Kommission, Slg. 1983, 2191, Rn. 7. Schwarze (Fußn. 8), S. 1372; s. auch Pietzcker, Wie weit trägt der Verfahrensgedanke?, in: FS Scheuing, 2011, 374 (377): „ […] man [kann] wohl doch annehmen, dass es auch bei Anerkennung eines wie immer gemeinten „Eigenwerts des Verfahrens“ sinnvoll und angemessen ist, bestimmte Sachentscheidungen nicht wegen eines ersichtlich nicht relevant („kausal“) gewordenen Verfahrensfehlers aufzuheben […]“. 57 Ladenburger, Verfahrensfehlerfolgen im französischen und deutschen Verwaltungsrecht, S. 290; vgl. auch Wahl (Fußn. 46), 1285 (1288). 58 Vgl. Schwarze (Fußn. 8), Länderberichte S. 1201 ff.; Pietzcker (Fußn. 56), 374 (377 f.); umfassend rechtsvergleichend auch Fehling (Fußn. 47), 278 (292 ff.); s. auch Wahl (Fußn. 46), 1285 (1292): „In allen Rechtsordnungen gibt es auch einen Raum für die Überlegung, dass ein Verfahrensfehler, für den eine Kausalität für das Ergebnis überhaupt nicht sichtbar ist, keine Bedeutung haben soll.“ 59 Würtenberger (Fußn. 3), S. 150. 56

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gaben jedenfalls die Chance einer Einflussnahme auf die spätere Entscheidung in Form von Anhörungs- und sonstigen Beteiligungsrechten eingeräumt werden.60 Es stellt sich deshalb die Aufgabe, einen Ausgleich zwischen den Bedürfnissen der Prozessökonomie, der Funktionsfähigkeit wie der Flexibilität der Verwaltung und den Verteidigungsrechten des Betroffenen herzustellen. Zu den Verteidigungsrechten gehört insbesondere das Recht auf rechtliches Gehör. c) Insbesondere: das Recht auf rechtliches Gehör Es zählt zu den grundlegenden gemeineuropäischen Rechtsgrundsätzen und wurde insbesondere unter dem Einfluss des britischen Rechts im Wege wertender Rechtsvergleichung von der Rechtsprechung des EuGH als tragender Verwaltungsrechtsgrundsatz anerkannt.61 Die insbesondere im angelsächsischen Recht als zentrale prozedurale Garantie eingestufte Regel62 „audi alteram partem“ wurde nunmehr auch in Art. 41 Abs. 2 GRCh explizit niedergelegt und hierdurch in ihrer wachsenden Bedeutung für das Recht der EU unterstrichen.63 Gerade dieses Recht garantiert in besonderer Weise die Effektivität der Verteidigung des Einzelnen im verwaltungsgerichtlichen Prozess wie auch im vorgängigen Verwaltungsverfahren und wurde vom Gerichtshof wiederholt in seiner Bedeutung bekräftigt.64 Dennoch kommt auch in diesem Rahmen dem Kriterium der Fehlerrelevanz in der europäischen Rechtsprechung eine Filterfunktion zu. Besonderes Augenmerk ruht hier auf der Handhabung der Darlegungs- und Beweislast durch den Gerichtshof. Insoweit judiziert der Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung, dass die Wirkung eines Verstoßes gegen das Recht auf Anhörung im Rahmen des Verwaltungsverfahrens nur dann zur Nichtigkeit der Verwaltungsentscheidung führt, wenn das Verfahren ohne diesen Verstoß zu einem anderen Ergebnis hätte führen können.65 Mit anderen Worten ist hiernach nur dann eine Verletzung wesentlicher Formvorschriften anzunehmen, wenn dadurch das Ergebnis der Entscheidung hätte beeinflusst werden können und deshalb die Verteidigungsrechte des Betroffenen beeinträchtigt werden.66 Zusammenfassend bleibt mithin festzustellen, dass der Gerichtshof in diesem Bereich die Verfahrensrechte der Beteiligten immer dann schützt, wenn sie durch den Verstoß in einer Weise um ihre Wirkung gebracht werden, dass dadurch auch nur 60

Schwarze (Fußn. 1), 321 (340). Insbesondere EuGH Rs. 17/74, Transocean Marine Paint Association/Kommission, Slg. 1974, 1063, Rn. 15 im Anschluss an die Schlußanträge des Generalanwalts Warner, Slg. 1974, 1090 f. 62 Ruffert (Fußn. 23), Art. 41 GRCh, Rn. 13. 63 Vgl. auch Schwarze (Fußn. 8), S. 1275. 64 Schwarze (Fußn. 8), S. 1276. 65 Vgl. nur beispielhaft EuGH, Rs. C-288/96, Deutschland/Kommission, Slg. 2000, I-8237, Rn. 101 mit weiteren Nachweisen. 66 Oppermann, Europarecht, 5. Aufl. 2011, § 13 Rn. 47 mit Nachweisen aus der Rechtsprechung. 61

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möglicherweise ein günstigeres Ergebnis hätte erzielt werden können.67 Die Beweislast für hypothetische, der Kenntnis des Betroffenen entzogene Entscheidungsprozesse innerhalb der Verwaltung wird diesem hiermit in erheblichem Maße – wenn auch nicht gänzlich – abgenommen. Ein solcher Ansatz entkleidet das Verwaltungsverfahrensrecht zwar nicht gänzlich einer auf das Ergebnis bezogenen dienenden Funktion; er gewährleistet aber eine dem funktionalen Zusammenhang von Verwaltungsverfahrensrecht und Verwaltungsgerichtsbarkeit gerecht werdende gerichtliche Kontrolle. d) Nochmals: die Entscheidung Solvay SA/Kommission In diese Rechtsprechung fügt sich das Urteil in der Rechtssache Solvay SA/Kommission unter erneuter Betonung der Verfahrensrechte – hier des Rechts auf Akteneinsicht – der betroffenen Unternehmen ein. Der Gerichtshof geht hier sogar noch einen Schritt weiter und befreit – wie erwähnt – das Unternehmen von der Nachweispflicht, dass die Verwaltungsentscheidung ohne den Verfahrensverstoß (Gewährung der Akteneinsicht) anders ausgefallen wäre. Vielmehr braucht das betroffene Unternehmen nur darzutun, dass die vorenthaltenen Unterlagen „seiner Verteidigung hätten dienlich sein können.“68 Die Beweislast des betroffenen Unternehmens wird damit zwar in das früher dargelegte Schema eingefügt, letztlich aber allein auf die Sphäre des Unternehmens beschränkt. Diesem obliegt es nunmehr lediglich, die Nützlichkeit eines vorenthaltenen Dokuments für seine Verteidigungsstrategie darzutun. Die Entscheidung des Gerichtshofs in der Rechtssache Solvay SA/Kommission bringt auf diese Weise zwar keine großen Neuerungen im Kontext der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Fehlern im Verwaltungsverfahren. Vielmehr kann sie auf eine – für diesen Teilbereich (Akteneinsicht) – gefestigte Rechtsprechung zurückgeführt werden.69 Gleichwohl könnte sie in einer zwar insgesamt positiv zu beurteilenden, aber teilweise nicht kohärenten Rechtsprechungsentwicklung zukünftig maßstabbildend sein. 4. Die Entscheidung in der Rechtssache Siemens AG/Kommission Das Gesamtbild der Rechtsprechung erscheint nämlich insbesondere unter Berücksichtigung einer neueren Entscheidung des Gerichts in der Rechtssache Siemens/Kommission70 zumindest eingetrübt.71 67

So schon Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, 1. Aufl. 1988, Band II, S. 1376. s. schon oben, EuGH, Solvay SA/Kommission (Fußn. 2), Rn. 52. 69 Vgl. EuGH Rs. C-199/99 P, Corus UK/Kommission, Slg. 2003, I-11177, Rn. 128; verb. Rs. C-238/99 P u. a., Limburgse Vinyl Maatschappij NV u. a./Kommission, Slg. 2002, I-8375, Rn. 318; verb. Rs. C-204/00 P u. a., Aalborg Portland A/S u. a./Kommission, Slg. 2004, S. I123, Rn. 13. 70 EuG, Urt. v. 3. 3. 2011, Rs. T-110/07, Siemens AG/Kommission, noch nicht in der amtl. Slg. 68

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a) Sachverhalt Der Entscheidung des Gerichts lag unter den hier relevanten verfahrensmäßigen Aspekten folgender Sachverhalt zugrunde: Bereits am Vorabend der Beschlussfassung des Kollegiums der Kommissionsmitglieder über die Verhängung einer Geldbuße wegen Kartellrechtsverstöße gegen die Klägerin war in einigen Medien berichtet worden, dass gegen die am vermeintlichen Kartell beteiligten Unternehmen eine exorbitant hohe Geldbuße verhängt werde, wobei die Beträge der gegen die einzelnen Unternehmen festgesetzten Geldbußen genau angegeben worden waren. Den Akten war zu entnehmen, dass vor Erlass der später angefochtenen Entscheidung wesentliche Bestandteile des dem letztlich entscheidenden Kollegium der Kommission vorgelegen Vorschlags an eine Presseagentur weitergegeben worden waren.72 b) Rechtliche Würdigung durch das Gericht In dieser Entscheidung musste das Gericht, neben weiteren komplexen Rechtsfragen den erwähnten offensichtlichen Verfahrensverstoß näher würdigen. Hierzu hielt das EuG zunächst fest: „Nach ständiger Rechtsprechung kann eine Unregelmäßigkeit dieser Art zur Nichtigerklärung der fraglichen Entscheidung führen, wenn erwiesen ist, dass ohne sie die Entscheidung inhaltlich anders ausgefallen wäre […]. Im vorliegenden Fall hat Siemens einen solchen Beweis allerdings nicht erbracht.“73

Die vorzeitige – wenn auch nur inoffizielle – Veröffentlichung einer Gremiumsentscheidung könnte demnach nur bei einer vom Kläger nachzuweisenden Vorabbindung der Entscheidungsträger zur Aufhebung dieser Entscheidung führen, wenn also „das Kollegium der Kommissionsmitglieder als Ganzes oder einige Kommissionsmitglieder sich insoweit unter Zwang gefühlt oder gemeint hätten, von den Bestandteilen des Entscheidungsvorschlags, die bereits an die Presse weitergegeben worden waren, nicht abweichen zu können.“74

Erneut rückt das Gericht somit das Kriterium der Fehlerrelevanz ins Zentrum seiner rechtlichen Erwägungen. Allerdings weist es an dieser Stelle dem Betroffenen nicht nur die Beweislast für eine möglicherweise andere Entscheidung zu. Vielmehr wird diesem sogar der Nachweis aufgebürdet, dass die Entscheidung ohne den Verfahrensverstoß sicher anders ausgefallen wäre. Eine Divergenz zur Rechtsprechung in Bezug auf sonstige Verfahrensrechte, insbesondere zum Recht auf rechtliches 71

Die Siemens AG hat gegen die Entscheidung des Gerichts am 19. 5. 2011 Rechtsmittel eingelegt, ABl. 2011 Nr. C 226, S. 13. Das Rechtsmittelverfahren ist zurzeit vor dem EuGH unter der Rs. C-239/11 P anhängig. 72 EuG, Siemens AG/Kommission (Fußn. 70), Rn. 401. 73 EuG, Siemens AG/Kommission (Fußn. 70), Rn. 402. 74 EuG, Siemens AG/Kommission (Fußn. 70), Rn. 402.

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Gehör, tritt dabei klar hervor. In das Gesamtbild der dargelegten begrüßenswerten Rechtsprechung, welche den Verteidigungsrechten des Betroffenen im Verwaltungsverfahren gerade im Hinblick auf die erheblichen Ermessensspielräume der europäischen Verwaltung im Wirtschaftsrecht eine wachsende Bedeutung zumisst, fügen sich diese Aussagen nur schwer ein. Von der Rechtsprechung wird der in der vorzeitigen Veröffentlichung liegende erhebliche Verfahrensverstoß nicht ausreichend sanktioniert. Die Beweislast wird hier nicht angemessen verteilt. Wie kann die Klägerin tatsächlich den Beweis erbringen, dass die Entscheidung ohne den Fehler anders ausgefallen wäre? Die Zuweisung einer (nicht erfüllbaren) Beweisanforderung erscheint nicht als adäquater Ansatz. Vielmehr stellt sich in einem solchen Fall insbesondere die Frage nach dem (fehlenden) edukatorischen Effekt, der von einer Gerichtsentscheidung ausgeht, die der Verwaltung einen Verfahrensfehler zu leicht durchgehen lässt. IV. Resümee Der kursorische Überblick über die Entwicklung des Unionsrechts und der europäischen Rechtsprechung zeigt, dass die Unionsorgane insbesondere im Bereich des europäischen Wirtschaftsrechts den Verfahrensrechten des Betroffenen eine wichtige Funktion bei der Verwirklichung eines effektiven Rechtsschutzes zuschreiben. Die praktische Wirksamkeit dieser Maxime hängt jedoch in großem Maße von ihrer Handhabung durch die Rechtsprechung im Einzelfall ab, welche sich vor allem in der Möglichkeit der gerichtlichen Geltendmachung von Verfahrensfehlern widerspiegelt. Hierbei sind die Bedürfnisse der Verfahrensökonomie und der Funktionsfähigkeit der Verwaltung einerseits sowie der Verteidigungsrechte der betroffenen Einzelnen und Unternehmen andererseits in einem Fehlerfolgenregime zu einem angemessenen Ausgleich zu bringen. Eines der vom Gerichtshof in diesem Kontext verwendeten Abwägungskriterien, welches sich auch in den Rechtsordnungen der Mitgliedsstaaten wieder findet,75 ist das der Ergebnisrelevanz eines Verfahrensfehlers. Die praktischen Folgen dieses Kriteriums sind jedoch ihrerseits in erheblichem Maße von der Zuweisung der Darlegungs- und objektiven Beweislast abhängig. Hierbei nimmt der Gerichtshof im Sinne einer rechtsschutzfreundlichen Handhabung dem Betroffenen diese Beweislast in ständiger Rechtsprechung zumindest weitgehend ab, indem er ihm nur den Nachweis einer möglicherweise abweichenden hypothetischen Entscheidung der Unionsverwaltung abverlangt. Teilweise – und hierfür ist die Entscheidung Solvay SA/Kommission ein hervorhebenswertes Beispiel – beschränkt er sie sogar ganz auf Umstände, die aus der Sphäre des betroffenen Einzelnen und Unternehmens entstammen bzw. auf sie bezogen sind. Vor diesem Hintergrund einer Aufwertung des Verfahrensgedankens erscheint eine Entscheidung wie die des EuG im Fall Siemens/Kommission als Rückschritt.

75 Für Deutschland und Frankreich vgl. Ladenburger (Fußn. 57), S. 153 ff.; insgesamt rechtsvergleichend auch Fehling (Fußn. 47), 278 (292 ff.).

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Bei der weiteren Ausformung seiner Rechtsprechung, zu der auch das Rechtsmittelverfahren im Siemens-Fall Anlass bieten könnte, sollte der Gerichtshof vielmehr der in der Entscheidung Solvay SA/Kommission vorgezeichneten Linie folgen und den Betroffenen die Beweislast für verwaltungsinterne Vorgänge und Entscheidungsprozesse abnehmen. Eine solche Lösung entspricht nicht nur einer sachlich angemessenen Verteilung der Verantwortungsbereiche von Behörde und Einzelnen, sondern ergibt sich vor allem auch daraus, dass dem Einzelnen regelmäßig ein sonst notwendiger Einblick in die internen Verwaltungsabläufe verwehrt ist.76 Dann wäre die Entscheidung Solvay SA/Kommission ein weiterer Schritt in einer Rechtsentwicklung, die zur Herstellung eines angemessenen Gleichgewichts zwischen Leistungsfähigkeit der Verwaltung und effektiver Verfahrens- und Rechtsschutzsicherung den betroffenen Einzelnen und Unternehmen zu mehr Rechten in der Auseinandersetzung mit den Behörden verhelfen könnte.77

76 Dieser Gedanke findet sich auch in der Rechtsprechung des BVerwG, BVerwGE 70, 143, 147 ff. wieder: „[W]enn der Betroffene die Beweislast dafür tragen müsste, dass Fehler, die im Behördenbereich passiert sind und deren Auswirkungen er in der Regel gar nicht abschätzen kann, das Entscheidungsergebnis beeinflusst haben […] [wäre] der Rechtsschutz in einer Weise [eingeschränkt], die mit dem Rechtsstaatsprinzip und der Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes nicht vereinbar ist.“ 77 Grundsätzlich übereinstimmend Mühle/Weitbrecht, EuZW 2011, 416 (422), die etwa bei allen Fortschritten zur rechtsstaatlichen Durchdringung des materiellen Kartellrechts die Fortschritte beim Verfahrens- und Sanktionsrecht auch bei der gerichtlichen Kontrolldichte für eher unbefriedigend halten.

Strategische Steuerung in staatlichen Mittelbehörden Von Julian Würtenberger, Herrenberg „Planung ist keine Erfindung der jüngsten Zeit, sondern eine zentrale Kategorie menschlichen Handelns“1. Mit diesem grundlegenden Satz leitet Thomas Würtenberger seine Habilitationsschrift ein. Die Beschäftigung mit dem Thema der politischen Planung im modernen Verfassungsstaat zieht sich bis in die neueste Zeit durch das wissenschaftliche Werk von Thomas Würtenberger2. Die Planungseuphorie der 70er Jahre hat zu mancher Ernüchterung geführt, weil sie zu viel Rationalität versprach3. Gefolgt ist die Einführung neuer Steuerungsmodelle im Rahmen des New Public Management in den 90er Jahren. Aber auch der betriebswirtschaftlich dominierte Managerialismus hat sich nur sehr beschränkt bewährt, denn Wohlfahrt und öffentliches Interesse sind darin als zentrale Kategorien staatlichen Handelns zu kurz gekommen4. Das Konzept einer „wirkungsorientierten Verwaltungsführung“ kommt dem Ziel näher, im Leistungsauftrag an die staatliche Verwaltung auch mittelfristig wirkende politische Ziele und deren Evaluierung abzubilden5. Eine politikfeldübergreifende strategische Steuerung hat sich bislang sowohl in Regierungszentralen als auch in Verwaltungsbehörden nur sehr sporadisch durchsetzen können. Dieser Beitrag geht der Frage nach, warum eine strategische Steuerung für die Staatsverwaltung notwendig ist und welche Funktionen sie erfüllt, wie strategische Steuerung die Rollen einer Mittelbehörde unterstützen kann und wie am Beispiel der Nachhaltigkeitsstrategie für den Regierungsbezirk Freiburg in einer Mittelbehörde strategische Steuerung praktisch umgesetzt wurde.

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Th. Würtenberger, Staatsrechtliche Probleme politischer Planung, 1979, S. 18. Zuletzt Th. Würtenberger, Die Planungsidee in der verfassungsstaatlichen Entwicklung, in: FS Wahl, 2011, S. 261 ff. 3 Th. Würtenberger (Fußn. 2), S. 276. 4 König, DÖV 2001, S. 617 (620). 5 Schedler in: Pulitano (Hg.), New Public Management. Terminoligie – Terminologie – Terminologia, 2000, S. 33 ff; Lienhard, dms 2008, S. 183 (188). 2

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I. Vom planenden zum steuernden Staat – zur Notwendigkeit und Funktion strategischer Steuerung 1. Planung als wesentliches Element des modernen Staats Die politische, soziale und ökonomische Realität unseres Gemeinwesens macht – im „Zug der modernen Zeit“ – staatliches Planen unerlässlich. Thomas Würtenberger führt diesen Befund zuvörderst auf einen anthropologischen Ansatz zurück. Für ein am Menschen orientiertes Staatswesen ist politische Planung6 eine wichtige Komponente staatlicher Wirksamkeit7. Der Mensch erwartet vom Staat planende Vorsorge und Fürsorge. Denn in der arbeitsteiligen Gesellschaft verliert das Individuum die Fähigkeit zur eigenverantwortlichen Existenzsicherung. Durch politische Planung gewinnt die als unsicher empfundene Zukunft des einzelnen festere Konturen8. Politische Planung macht deutlich, mit welchen Zielen und Mitteln sie künftige Lebensbedingungen und -grundlagen gestalten will. Gerade bei Zukunftsängsten des Menschen um seine soziale Sicherung im Alter oder im Krankheitsfall, um Schutz vor Kriminalität oder um die Lebensbedingungen künftiger Generationen bedarf es der „gewährleistenden“ Rolle des Staates9. So erfolgt ein Paradigmenwechsel der individuellen Freiheitsgarantie: Es geht nicht mehr vorwiegend um die Verteidigung der Freiheit gegen den (planenden) Staat, sondern gleichermaßen um die Gewinnung von Freiheitsräumen durch den (planenden) Staat10. „Aktive Politik“ setzt Planung voraus11. Vorausschauende Planung tritt an die Stelle von Krisenmanagement12. Planende Steuerung reagiert nicht auf den Status quo, sondern gestaltet Zukunft: Keine Anpassungsplanung, sondern Entwicklungsplanung13. Sie setzt im Gewährleistungsstaat14 subsidiär15 überall dort ein, wo indi-

6 Zwischen Verwaltungsplanung und politischer Planung wird im Weiteren begrifflich nicht unterschieden. Im Bereich der Planung lassen sich die Beziehungen zwischen Politik und Verwaltung nur schwer trennen; vgl. hierzu Thieme, Verwaltungslehre, 3. Aufl. 1977, Rz. 972, 978 f; „Ein, wenn nicht das wesentliche Merkmal öffentlicher Verwaltungen liegt in der demokratisch legitimierten politischen Steuerung“, so Bogumil/Jann, Verwaltung und Verwaltungswissenschaft in Deutschland, 2. Aufl. 2009, S. 295. 7 Th. Würtenberger (Fußn. 1), S. 21. 8 Th. Würtenberger (Fußn. 1), S. 22. 9 Th. Würtenberger, NJW 1986, S. 2281 (2283); ders., Artikel „Legitimation und Legitimität“, in: Ergänzbares Lexikon des Rechts, 2/310, 1985, S. 1 (3 f.). 10 Hierzu mit Beispielen Th. Würtenberger, Die staatsrechtlichen Probleme politischer Planung im Wandel der letzten 10 Jahre, in: Planen wie bisher? – Veröffentlichungen des Instituts für Planungswesen der TU Braunschweig, 1980, S. 1 (8 ff.). 11 Mayntz, Über Governance, 2009, S. 30. 12 Management des Wandels statt Management der Krise: Th. Würtenberger, Wege zu einem Verwaltungsmanagement in Deutschland, in: Bullinger (Hg.), Von der bürokratischen Verwaltung zum Verwaltungsmanagement, 1993, S. 43 ff (49 f.). 13 Thieme, (Fußn. 6), Rz. 967; skeptisch Püttner, Verwaltungslehre, 4. Aufl. 2007, S. 260.

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viduelle oder kollektive Selbstregulierung nicht funktioniert. Im Sinne einer Verantwortungsgemeinschaft und dualen Handlungsverantwortung sind am Planungsprozess auch zivilgesellschaftliche Gruppierungen zu beteiligen und im Rahmen von Verwaltungspartnerschaften in die Planumsetzung einzubeziehen16. Staatliche Planung muss den technischen Fortschritt bändigen und Vorsorge gegen den knapper werdenden Ressourcenrahmen leisten. Wenn der Staatsapparat nicht auf der Höhe des technischen Fortschrittes ist, dann kann der Staat bald auch seine ordnungstiftende Funktion nicht mehr erfüllen. In Gefahr sind nicht nur menschliche Gesundheit, Natur und Umweltressourcen, sondern auch der soziale Zusammenhalt und die kulturellen Werte einer Gesellschaft. Nur langfristige staatliche Planung vermag die negativen Wirkungen von technischem Fortschritt einzugrenzen17. Politische Nachhaltigkeitsstrategien gehören daher zu ihrem Pflichtprogramm. Planung schützt vor unrealistischen Erwartungen an die Möglichkeiten des Staates. Sie wird geradezu zum Schutzwall vor übertriebenen Interessenteneinflüssen18. Das setzt allerdings ein hohes Maß an Transparenz der Planung bei der Zielbildung und beim Ressourceneinsatz voraus, denn nur dann wird sie hinsichtlich ihrer Grenzziehungen auch auf politische Akzeptanz in der Öffentlichkeit stoßen. Schließlich dient politische Planung einer optimalen finanziellen Ressourcenallokation, die der Endlichkeit der Mittel Rechnung trägt und den bestmöglichen Nutzen bei der Erreichung der gesetzten Ziele stiftet. Dabei gilt es auch, der Wirtschaft die nötigen Impulse durch richtige Rahmensetzungen und Investitionen in Bildung, Forschung und Infrastruktur zu geben. So werden Bedingungen für Arbeit und Wohlstand der Individuen, aber auch für auskömmliche Staatseinnahmen geschaffen19. 2. Entwicklung von Planungs- und Steuerungsinstrumenten Als neue Wissenschaftsdisziplin entstand seit Ende der 60er Jahre das Verwaltungsmanagement. Dies war vor allem den neuen Aufgaben der Verwaltung in den Bereichen der Planung, Gestaltung und Vorsorge geschuldet. Leitziele des neuen Verwaltungsmanagements waren u. a. eine Früherkennung des Wandels von 14

Zu den Facetten des Gewährleistungsstaates Franzius, Der Gewährleistungsstaat, in: VerwArch 2008 (99), S. 351 ff.; Schedler/Proeller, New Public Management, 4. Aufl. 2009, S. 31 ff. 15 Th. Würtenberger, The Principle of Subsidiarity as a Constitutional Principle, in: Jahrbuch zur Staats- und Verwaltungswissenschaft 1994, S. 65 (81 f.). 16 Pitschas, DÖV 2004, S. 231 (231 f., 237 f.); speziell für die Nachhaltigkeitsplanung hat der Staat eine koordinierende und moderierende Rolle mit dem Ziel des Konsens und der Akzeptanz: Rehbinder, NVwZ 2002, S. 657 (665). 17 Th. Würtenberger (Fußn. 1), S. 27 f. 18 Th. Würtenberger (Fußn. 1), S. 26. 19 Th. Würtenberger (Fußn. 1), S. 28 f.

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gesellschaftlichen Bedürfnissen, eine bessere Verknüpfung von Ziel- und Ressourcenplanung und eine Verbesserung des Informationssystems20. Ende der 60er Jahre setzte auch in Deutschland eine wahre Planungseuphorie ein, die sich an Beispielen in Frankreich („planification“, „commissariat général du plan“) und in den USA („Planning-Programming-Budgeting-System“) orientieren konnte. Die mittelfristige Finanzplanung oder die Einführung der Nutzen-KostenUntersuchungen in die Haushaltsgesetze waren einige deutsche Antworten auf neue Planungshoffnungen21. Praktische Planungsmodelle wie Computer-Simulationen22 stießen schnell an ihre Grenzen, denn die mathematische Abbildung sozialer Wirklichkeit gelang nur unbefriedigend. Die Monetarisierung des Nutzens einer Verwaltungsleistung z. B. in den Bereichen von Bildung, Polizei, sozialer Sicherheit, Verteidigung oder Justiz erwies sich als methodisch schwierig23. Mit dem „Neuen Öffentlichen Management“ zog die öffentliche Betriebswirtschaftslehre in die Verwaltung ein. Die Finanzierungskrise der westlichen Wohlfahrtsstaaten beschleunigte die Entwicklung auch in Deutschland. Zielbild war der „schlanke Staat“. Seit Mitte der 90er Jahre haben nahezu alle Verwaltungen in Deutschland adaptierte betriebswirtschaftliche Instrumente wie z. B. Leitbilder, Aufgabenkritik, Globalbudgets, Kosten-Leistungsrechnung, Controlling, Total Quality Management, Leistungsanreize eingeführt24. Kritiker sprechen von einer Ökonomisierung von Staat und Verwaltung und einem Managerialismus der öffentlichen Geldwirtschaft. Mit der „Flexibilisierungsdividende“ der Verwaltung lässt sich die Verschuldung des Wohlfahrtsstaates nicht abtragen25. Die auf die Verwaltung adaptierten betriebswirtschaftlichen Instrumente werden den spezifischen Unterschieden in der Leitung von öffentlichen Organisationen, öffentlichen Verwaltungen, öffentlichen Unternehmen und deren politisch-administrativen Steuerung nur unzureichend gerecht; deren Umwelt von Bürgern und privaten Haushalten, von Gesellschaft und Wirtschaft kommt zu kurz26.

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Th. Würtenberger, (Fußn. 12), S. 44 f. Thieme (Fußn. 6), Rz 373 ff. 22 Beispielhaft J. Würtenberger, VOP 1983, S. 248 (250). 23 Ähnlich Hilgers, dms 2009, S. 433 (444): „Ein Großteil öffentlicher Leistungserstellung erfolgt in nicht-monetärer Dimension.“ 24 König (Fußn. 4), S. 624. 25 König (Fußn. 4), S. 618, 624. 26 König (Fußn. 4), S. 620; beispielhaft der aktuelle Stand des Projekts NSI des Landes Baden-Württemberg in LT-DS 15/1634; der Rechnungshof Baden-Württemberg konstatiert in seiner beratenden Äußerung von 2007: „Die Instrumente der Neuen Steuerung sind zwar weitgehend eingeführt, sie haben aber, abgesehen von Haushaltsmanagementsystem und Anlagenbuchhaltung, bisher kaum positive Wirkungen in Bezug auf die Effektivität und Effizienz der Landesverwaltung entfaltet.“ (LT-DS 14/1084, S. 9). 21

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Die Ergebnisorientierung der neuen Steuerungsinstrumente manifestiert sich in Produktdefinitionen und Produktkatalogen27. Für die Binnenrationalisierung der öffentlichen Verwaltung ist dies sinnvoll, und es entspricht auch den rechtlichen Anforderungen an eine sparsame Haushaltsführung. Die Konzentration auf eine OutputOrientierung und auf Rationalisierungspotenziale z. B. durch Benchmarking verengt aber den Staats- und Verwaltungsauftrag unzulässig28. Um es auf einen kurzen Nenner zu bringen29 : Es ist nicht zweckmäßig, immer mehr Verwaltungsakte schneller und kostengünstiger zu erlassen, wenn die eigentlichen Ziele der politischen Entscheidungsträger völlig andere gesellschaftliche Wirkungen adressieren. Als Gegenstück zum Public Management kann das Konzept der (Progressive) Governance gelten. Hier werden auch die Umweltbeziehungen der Verwaltung fokussiert, also die Verbindungslinien zu Bürger und Zivilgesellschaft, zu Unternehmen und Marktwirtschaft30. Governance-Konzepte gewinnen im Gewährleistungsstaat, der im Sinne dualer Handlungsverantwortung die Brücke zu den gesellschaftlichen Gruppierungen schlägt, an Relevanz. Eine weitere Entwicklungsrichtung sind Instrumente des Qualitätsmanagements31. Deren schematische Anwendung führte aber zu erheblicher Kritik: Vom „Age of inspection“ und von der „Audit Society“ ist die Rede. Festschreibung, Vereinfachung, Vergangenheitsorientierung, Schematismus, Fehllenkung, Steuerungsillusion, Rationalitätsillusion, Vollständigkeitsillusion, Sicherheitsillusion, Anreizund Motivationsillusion sind Stichworte der Kritik an den standardisierten Qualitätssicherungsverfahren32. Neuerdings werden weitere Managementkonzepte für staatliches Handeln diskutiert: „Collaborative Sense Making“, „Design-Denken“ und „Public Organization Profiling“33. Diese legen Wert auf die Vermittlung von Werten, Grundsätzen und Zielen einer Organisation und fördern Eigenschaften wie Empathie, integratives Denken, Experimentierfreude und Optimismus. Verwaltung soll ihre zukunftsgerichtete, gestalterische Kraft besser entfalten lernen, im Sinne einer strategischen Organisationsentwicklung. Sie ist geprägt von der Interaktion der Verwaltung mit der Bürgergesellschaft. Es soll ein Qualitätskreislauf in Gang gebracht werden. In diesem Kreislauf sollen nicht Qualitätsstandards („Government by numbers“), sondern Qualitätsprofile zugrunde liegen34. Diese Profile verdichten sich zu einer „Marke“ der Verwaltung („Branding“). 27

Zum Produktbegriff Schedler/Proeller (Fußn. 14), S. 141 ff. Schedler/Proeller (Fußn. 14), S. 182, 292 f. geben in ihrem Standardwerk zum New Public Management der Thematik der Wirkungsbeurteilung nur wenig Raum. 29 Prägnant Berens/Mosiek/Röhrig/Gerhardt, BFuP 2004, S. 323 (326). 30 König (Fußn. 4), S. 621 f. 31 Schedler/Proeller (Fußn. 14), S. 77 ff. 32 Hill, DÖV 2008, S. 789 (790 f.). 33 Hill (Fußn. 32), S. 794 ff. 34 Hill (Fußn. 32), S. 796. 28

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Die strategische Steuerung ist in Deutschland sowohl in der wissenschaftlichen Literatur als auch in der Praxis im internationalen Vergleich deutlich unterrepräsentiert35. Eine übergeordnete strategische Steuerung, die von einzelnen Aufgaben und Organisationseinheiten abstrahierend auf eine generelle (strategische) Projektebene abzielt, kann bisher kaum vorgefunden werden36. Sucht man nach Ursachen für die Unterentwicklung strategischer Steuerung in Deutschland, dann stößt man auf erhebliche Ängste der Akteure an der Spitze von Politik und Verwaltungen37. Dabei ist als erstes die Transparenzangst zu nennen: Man befürchtet eine stärkere Kontrolltätigkeit von Medien, Bürgern, Parlament und Opposition, weil Ziele und Zielerreichungen transparent werden. Steuerung darf allenfalls im Schutz der „black box“ abgeschotteter innerer Zirkel erfolgen38. Als zweites ist die Angst vor dem Aufwand strategischer Steuerung zu nennen, vor allem wenn es um Untersuchungen zur Wirkungsanalyse geht. Als drittes wird befürchtet, dass die Führungskräfte39 strategisches Denken in der Organisation nicht ausreichend fordern und fördern und die eingeführten Transparenzinstrumente damit ins Leere laufen. Schließlich verdrängt die Konzentration auf das Tagesgeschäft die Beschäftigung mit strategischen Fragen: „Das Befristete verdrängt das Unbefristete.“40 3. Charakteristik einer strategischen Steuerung Politische Planung mündet in einzelne Strategien41. Der Begriff der Strategie hat eine Vielzahl von Facetten. Hier wird Strategie als Synonym für eine Planung im Sinne einer Ziel-Mittel-Umwelt-Kalkulation42 verstanden. Ziel-Mittel-Umwelt-Kalkulationen bezeichnen auf gewünschte Zustände (Ziele) gerichtete, systematisierende und berechnende Denkoperationen (Kalkulationen) für zielführende Handlungsmöglichkeiten (Mittel), mit Blick auf den situationsübergreifend relevanten Kontext (Umwelt)43. Die Strategie ist geeignet, die verschiedenen Entscheidungsträger einer 35

Kroll/Küchler-Stahn, dms 2009, S. 475 (487). Hilgers (Fußn. 23), S. 445. 37 Empirisch hierzu: Schilling/Ruckh/Rübcke, Strategische Steuerung in Regierungszentralen deutscher Bundesländer, 2009, S. 9. 38 So hält eine Regierung ihre Umfragen zur Akzeptanz und Weiterentwicklung der Regierungspolitik auch gegenüber dem Parlament und der Öffentlichkeit „als interne Planungsgrundlagen“ unter Verschluss; instruktiv hierzu die Stellungnahme des Staatsministeriums Baden-Württemberg in LT-DS 13/1809. 39 Zur Problematik der Juristendominanz in der Verwaltung bei der Einführung von Steuerungsinstrumenten: Th. Würtenberger (Fußn. 12), S. 49. 40 So Schilling/Ruckh/Rübcke (Fußn. 37), S. 19. 41 Zur Abgrenzung von Planung und Strategie: Tils, Politische Strategieanalyse. Konzeptionelle Grundlagen und Anwendung in der Umwelt- und Nachhaltigkeitspolitik, 2005, S. 29 f. 42 Tils (Fußn. 41), S. 25 ff., 103; Raschke/Tils, Politik braucht Strategie, Taktik hat sie genug, 2011, S. 56 f., 253. 43 Raschke/Tils (Fußn. 42), S. 56 f., 253. 36

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Organisation anzuleiten, ihre Handlungen mit diesem Verständnis in Einklang zu bringen. Eine Strategie setzt den Orientierungsrahmen, gibt aber keine konkreten Handlungsanweisungen44. Strategische Steuerung fokussiert auf „ein langfristiges, an Zielen orientiertes Denken und Handeln“. Mit strategischer Steuerung soll es der öffentlichen Verwaltung gelingen, aktuelle und zukünftige Herausforderungen und deren Implikationen zu erkennen, sich eine Vorstellung darüber zu machen, wie mit welchen Zielen, Strategien und Partnern diesen Herausforderungen effizient und effektiv zu begegnen ist, und das Denken und Handeln der Verwaltung darauf auszurichten45. Betrachtet man den Policy-Making-Prozess, dann findet strategische Steuerung nicht über den Leistungsoutput der Verwaltung statt, sondern über die Wirkungen auf die Betroffenen (Impact) und die Auswirkungen auf das Gesamtsystem (Outcome)46. Denn der Output alleine bewältigt die strategische Zielerreichung nicht. Das Verhältnis von Output zu Input bestimmt die Effizienz, nicht aber die Effektivität. Effektiv ist eine Policy erst dann, wenn die Individuen die erwünschten Verhaltensänderungen zeigen oder die intendierten Effekte bei ihnen ankommen, und wenn das Gesamtsystem verbessert wird, d. h. auch keine unerwünschten Nebenwirkungen auftreten. Eine Steuerung ist dann strategisch zu nennen, wenn sie weit überwiegend die Mesoebene (Impacts) und die Makroebene (Outcomes) adressiert. Sie ist abzugrenzen von der Output-Steuerung über Produkte, welche auf der Mikroebene anzusiedeln ist47 und auch als operative Steuerung48 beschrieben werden kann. Die Output-Steuerung über Produkte ist im Hinblick auf gesellschaftlichen Wandel und neue Herausforderungen als zu kleinteilig und inkrementell einzustufen49. Denn nicht das einzelne Verwaltungsprodukt steht im Fokus der strategischen Steuerung, sondern die „Performance“ eines ressortübergreifenden Verwaltungshandelns. In der Strategischen Steuerung besteht der Prozess des „Performance Management“ aus fünf Schritten50:

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BMI, Bertelsmannstiftung (Hg.), Studie Strategische Steuerung für den Staat, 2007, S. 8. BMI, Bertelsmannstiftung (Fußn. 44), S. 7; Hill in: Pröhl/Olk/Riedel (Hg.), Kommunikationswege in der öffentlichen Verwaltung, 2004, S. 88 ff (91). 46 Jann/Wegrich in: Schubert/Bandelow (Hg.), Lehrbuch der Politikfeldanalyse, 2003, S. 80; Berens/Mosiek/Röhrig/Gerhardt (Fußn. 29), S. 330 f. 47 Hilgers (Fußn. 23), S. 437. 48 Berens/Mosiek/Röhrig/Gerhardt (Fußn. 29), S. 329 f.; Bogumil/Jann (Fußn. 6), S. 339. 49 Hilgers (Fußn. 23), S. 445. 50 In Anlehnung an die Systematisierung von Pollitt: Hilgers (Fußn. 23), S. 438. 45

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– Zielbildung51 und Auswahl der strategischen Mittel52 – Identifikation von Akteuren, Zuweisung von Verantwortlichkeiten und Bildung strategischer Bündnisse53 – Erfolgsorientierung der Strategieanwendung: (quantitative und/oder qualitative) Messung und Bestimmung von Output, Impact und Outcome (Performance Measurement)54 – Evaluierung55 und Strategieweiterentwicklung (i.S. des Policy Cycle)56 – Strategische Kommunikation57: Externe Rechenschaftslegung gegenüber der politischen Öffentlichkeit („Beobachter58“). Die Achillesferse des Performance Management ist vor allem die Messung von Impact und Outcome. Sie müssen durch eine sukzessive Entwicklung von Kennzahlen bzw. Indikatoren strukturiert werden59. Als Phänomen ist zu beobachten, dass die meisten Systeme der „neuen Steuerung“ dominant in der Output-Messung sind, aber die Outcome-Informationen vernachlässigen60. In aller Regel fehlt es dabei nicht an Daten, sondern an Funktionen von Wirkungsbeziehungen61. Die Interpretation und Wertung, oder anders ausgedrückt, die Transformation von Information in Erkenntnis ist die zu bewältigende Herausforderung. Die Kenntnis von Wirkungsbeziehungen ist allerdings eine Basisvoraussetzung jeglicher politischer Planung. Denn ohne hinreichende Kenntnis der Wirkungsbeziehungen sind eine konsistente Formulierung von politischen Programmen und die Ableitung von Maßnahmen schlechterdings nicht möglich. Daher müssen vor der Formulierung von Zielen und der Festlegung von Strategien zumindest die wesentlichen Wirkungszusammenhänge bekannt sein. Dagegen ist nicht erforderlich, vor der Zielfestlegung bereits die Indikatoren für die Performanzmessung zu kennen62. 51

Inwieweit besser der Begriff „Zweckformulierung“ zu verwenden ist, soll hier dahingestellt bleiben. Zur Diskussion: Deckert, Steuerung von Verwaltungen über Ziele, 2006, S. 24 ff., 99 f.; Tils (Fußn. 41), S. 106. 52 Tils (Fußn. 41), S. 26 f., 108 f. 53 Tils (Fußn. 41), S. 27, 122 ff; Raschke/Tils (Fußn. 42), S. 73 ff., 78 ff. 54 Tils (Fußn. 41), S. 27; Zum „Performance Measurement“: Deckert (Fußn. 51), S. 29 ff.; zum „Nachhaltigkeitscontrolling“: Schaltegger/Haller/Müller/Klewitz/Harms, Nachhaltigkeitsmanagement in der öffentlichen Verwaltung, 2009, S. 75 f. 55 Deckert (Fußn. 51), S. 31 ff. 56 Tils (Fußn. 41), S. 34; zum Policy-Cycle: Jann/Wegrich (Fußn. 46), S. 81 f. 57 Tils (Fußn. 41), S. 125 ff. 58 Raschke/Tils (Fußn. 42), S. 70 f., 101 f. 59 Hilgers (Fußn. 23), S. 436. 60 Kroll/Küchler-Stahn (Fußn. 35), S. 482. 61 Ein beachtlicher Wurf ist im Endbericht des Institut für Stadtforschung und Strukturpolitik „Entwicklung von Performanzindikatoren für die Evaluierung von Förderprogrammen in den finanzpolitisch relevanten Politikfeldern“, 2009, gelungen. 62 Institut für Stadtforschung und Strukturpolitik (Fußn. 61), S. 51, 61 f.

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4. Funktionen strategischer Steuerung Strategische Steuerung hat einerseits wichtige interne Effekte auf die Verwaltung und ihre Mitarbeiter, aber auch wichtige externe Effekte im Zusammenspiel mit Stakeholdern und der politischen Öffentlichkeit insgesamt. Zehn Funktionen strategischer Steuerung sind zu unterscheiden63 : a) Orientierung64 In arbeitsteiligen Organisationen entsteht das Phänomen der „selektiven Aufmerksamkeit“, das Denken in Zuständigkeitsrastern65. Strategische Ziele geben den Verwaltungsmitarbeitern einen „Kompass“ an die Hand. Sie geben Antworten auf die Fragen: Wo wollen wir hin? Unter welchen Bedingungen sind wir als Organisation erfolgreich? Welche „Konzernziele“ gibt es, die außerhalb der eigenen Zuständigkeit zu beachten sind? Gibt es aus den „Konzernzielen“ zusätzliche Anforderungen an die eigene Arbeit oder stehen diese sogar im Widerspruch zu ihr? Strategische Ziele können Komplexität reduzieren, weil sie auf einem höheren Abstraktionsniveau ansetzen und auf das Ausschlaggebende, den „springenden Punkt“66 kommen. Sie können in Verwaltungsleitbilder einfließen („Mission Statements“)67. b) Motivation68 Strategische Steuerung fördert Organisationskultur und erzielt einen intrinsischen Motivationsschub bei den Beschäftigten69. Sie gibt Antworten auf zentrale Fragen: Wofür wollen wir uns engagieren? Was ist der (übergeordnete) Sinn unserer Arbeit? Welches sind unsere Erfolgsfaktoren? Worauf können wir stolz sein? Welches ist unsere „Corporate Identity“? Gefördert wird die persönliche Identifikation aller Beteiligten mit der Gemeinwohlaufgabe der Verwaltung. Persönliches Interesse und Hingabe (Commitment) werden angeregt.

63 In Anlehnung an: Krems, Ziel (Zweck), im Online-Verwaltungslexikon www.olev.de, abgerufen am 29. 06. 2012; Reinermann, Neues Politik- und Verwaltungsmanagement. Leitbild und theoretische Grundlagen, 2000, S. 25 ff; Brauchler/Henrich, Steigerung der Effizienz durch Zielsteuerung? Präsentation beim 15. Ministerialkongress 2010, S. 9. 64 Zum Begriff der Strategischen Orientierung: Tils, (Fußn. 41), S. 30. 65 Wahl, in: Frech/Weber (Hg.), Handbuch Kommunalpolitik, 2009, S. 61 (78). 66 Instruktiv dazu Raschke/Tils (Fußn. 42), S. 66 ff. 67 Schaltegger/Haller/Müller/Klewitz/Harms (Fußn. 54), S. 113 f. 68 Zur Vertiefung der Motivationsfunktion: Deckert, (Fußn. 51), S. 202 ff. 69 Berens/Mosiek/Röhrig/Gerhardt (Fußn. 29), S. 326; Schaltegger/Haller/Müller/Klewitz/ Harms, (Fußn. 54), S. 29 f.

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c) Koordination Strategische Ziele ermuntern die Mitarbeiter zu einer ganzheitlichen Betrachtungsweise ihrer Aufgaben. Sie erkennen Interdependenzen und erfahren, mit wem sie gemeinsam an den gleichen Zielen arbeiten können („positive“ Koordination70). Sie erfahren, dass sie sich mit anderen abstimmen müssen, um alle Ziele angemessen zu verwirklichen und anstehende Zielkonflikte zu lösen. So kann den negativen Folgen der Segmentierung des Behördenaufbaus und den „Fachbruderschaften“71 entgegengewirkt werden. Das horizontal vernetzte Arbeiten in interdisziplinären Projektstrukturen und -teams wird gefördert. d) Flexibilität Durch strategische Steuerung erhöht sich die Reagibilität der Verwaltung. Eine Steuerung durch Qualitätsziele ermöglicht es, schneller und flexibler die Produktion von Verwaltungsleistungen veränderten Randbedingungen anzupassen. Situationsgerechtes Handeln wird verbessert. e) Innovation Strategische Steuerung beschleunigt Innovation, weil sie bei funktionierendem Policy-Cycle eine selbstlernende Organisation schafft72. Die Energie der Verwaltungsmitarbeiter wird auf den Innovationsprozess, den die strategische Steuerung auslöst, konzentriert. Die Verwaltung wertet das Performance Measurement laufend aus und zieht die nötigen Konsequenzen für eine Nachsteuerung der strategischen Ziele. Die „Intrapreneurship“73 wird gefördert, d. h. Verwaltungsmitarbeiter übernehmen mehr Eigenverantwortung und können die Auftragserledigung durch Produkt- und Prozessinnovation aktiver mitgestalten. f) Qualität Qualität verwirklicht sich in Dienstleistungstugenden der Verwaltung: Sie soll „schnell, preisgünstig, verständlich, transparent, praktikabel, berechenbar, hilfreich,

70 Zum Begriff Bogumil/Jann (Fußn. 6), S. 144; Thieme (Fußn. 6), Rz. 980; Koordination als strategische Aufgabe der Regierungszentralen: Schilling/Ruckh/Rübcke, (Fußn. 37), S. 23 f. 71 Bogumil/Jann (Fußn. 6), S. 146; König (Fußn. 4), S. 620. 72 Deckert, (Fußn. 51), 35 ff.; Schaltegger/Haller/Müller/Klewitz/Harms (Fußn. 54), S. 30. 73 Zum „Verwaltungsintrapreneur“: Göbel, Der Verwaltungsintrapreneur. Zur Legitimationsfunktion eines Managementleitbildes, in: Zeitschrift für Personalforschung 2003, S. 110 ff.

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förderlich, richtig und natürlich nach wie vor auch rechtmäßig“ handeln74. Dies sind allerdings überwiegend Sekundärtugenden. Strategische Ziele geben dem Qualitätsversprechen darüber hinaus inhaltliche Konturen und ein tatsächliches Wert(e)verständnis. Der individuelle und gesellschaftliche Mehrwert des Verwaltungshandelns wird dadurch nachvollziehbar75. g) Transparenz76 Durch strategische Steuerung vermittelt die Verwaltung nach innen und außen ein strukturiertes, durch Ziele, Maßnahmen und Wirkungsindikatoren nachvollziehbares Leistungsprofil. Es wird deutlich, dass die Leistung der Verwaltung nicht aus der Summation von Einzelhandlungen besteht, sondern dass ihr Handeln einer Vision, einem inhaltlichen Leitbild folgt. Einzelaktivitäten der Verwaltung können so oftmals in die Strategie subsumiert und damit in ihrer Sinnhaftigkeit untermauert werden. Auch besteht die Hoffnung, dass sich Bürger bei mehr Transparenz eher am politischen Willensbildungsprozess und an Lösungskonzepten über die Grenzen der Staatsverwaltung hinaus beteiligen. h) Kommunikation Strategische Ziele erleichtern die Kommunikation77 gegenüber den Verwaltungsadressaten durch die Bildung von politischen Botschaften78. Sie müssen Gegenstand der alltäglichen Presse- und Öffentlichkeitsarbeit von Behörden sein, weil sie den gesamtgesellschaftlichen Wert einer einzelnen Verwaltungsmaßnahme besser erfassbar machen. Die Verwirklichung von Good Governance-Konzepten setzt voraus, dass sich die Verwaltung dem Dialog mit Stakeholdern stellt und die Strategie und die aus ihr abgeleiteten Projekte mit ihnen abstimmt. Public Relations müssen zum Public Networking79 weiterentwickelt werden. i) Marketing Strategische Steuerung mit Performance Measurement ist Basis für ein Verwaltungsmarketing. Marketing wendet sich dem „Customer Focus“ zu: Wofür stehen wir unseren Kunden und Partnern gegenüber? Wie vermitteln wir unsere Arbeit 74 Schütz, Qualität und Qualitätsmanagement in der öffentlichen Verwaltung, FES-Analyse Verwaltungspolitik, 2002, S. 4 f. 75 Schütz (Fußn. 74), S. 6; „Governance als Wertekonzept“: König (Fußn. 4), S. 622 f. 76 BMI, Bertelsmannstiftung (Fußn. 44), S. 30. 77 Tils (Fußn. 41), S. 125 ff; zur Strategiekommunikation der Regierungszentralen: Schilling/Ruckh/Rübcke, (Fußn. 37), S. 25 f.; zur Kommunikation von Nachhaltigkeitsstrategien: Schaltegger/Haller/Müller/Klewitz/Harms (Fußn. 54), S. 32 ff. 78 Zur „Botschaft“ im Rahmen der Kommunikationssteuerung: Raschke/Tils (Fußn. 42), S. 209 f. 79 Hill (Fußn. 45), S. 93 ff.

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und Erfolge? Wie können wir Unterstützung von Privaten und Organisationen für unser Handeln gewinnen80? Wie können wir unsere Arbeit als „Marke“ positiv belegen („Branding“)? Wenn die Strategieevaluation mit Leistungsindikatoren positive Resultate liefert, kann Unterstützung gesellschaftlicher Gruppen für die nächsten Schritte der Strategieumsetzung erreicht werden (Gedanke der „responsiven Demokratie“81). Mehr Loyalität und Identifikation der Bürger mit Politik und Verwaltung können die Folge sein82. j) Legitimation83 Strategisches Management zielt darauf ab, den Erfolg der Verwaltung zu sichern84. Gesellschaftliche Wirkungen im Sinne eines Mehrwertes zu erzielen, ist die Kernaufgabe der öffentlichen Verwaltung. Soll das Verwaltungshandeln auch zukünftig breite Legitimation und Akzeptanz85 finden, muss die Verwaltung Rechenschaft über die Performance ihres Handelns ablegen86. Sie bezieht ihre Legitimationsbasis aus der Akzeptanz von strategischen Zielen und erreichten Wirkungen87. Strategische Steuerung kann Vertrauen und Zutrauen der Bürger zum politisch-administrativen System fördern88. Sie kann auch zum Kristallisationspunkt eines organisierten strategischen Dialogs zwischen Verwaltung und Öffentlichkeit werden89. II. Strategische Steuerung im Kontext der Rollen einer Mittelbehörde Strategische politikfeldübergreifende Steuerung hat in den Ländern zunächst ihren Platz in den Staats- und Senatskanzleien. Die Strategiedimensionen reichen von der Analyse langfristiger Entwicklungen und strategischer Planung über die res80 „Wenn der planende Staat … demokratisch planen will, muss er das in hohem Maße in Übereinstimmung mit den organisierten Interessen und nicht gegen sie tun.“, so Thieme (Fußn. 6), Rz. 979. 81 Die wichtige Rückkopplungsfunktion in der Verwaltungsplanung beschreibt Th. Würtenberger, NJW 1991, S. 257 (261); ders., Recht und Legitimation im modernen Staat, in: Politik und Kultur 1985, S. 51 (59). 82 Schilling/Ruckh/Rübcke, (Fußn. 37), S. 51. 83 Grundlegend Schedler/Proeller (Fußn. 14), S. 8 ff. 84 BMI, Bertelsmannstiftung (Fußn. 44), S. 9. 85 Zur Akzeptanz auf Grund von Rationalität: Th. Würtenberger (Fußn. 81), S. 64; grundlegend zur Akzeptanz von Verwaltungshandeln: Th. Würtenberger (Fußn. 81), S. 257 ff.; ders., Die Akzeptanz von Verwaltungsentscheidungen, 1996. 86 Kroll/Küchler-Stahn (Fußn. 35), S. 488; Deckert (Fußn. 51), 206 ff.; Hill (Fußn. 45), S. 90. 87 Berens/Mosiek/Röhrig/Gerhardt (Fußn. 29), S. 333; Fürst in: Benz/Dose (Hg.) Governance – Regieren in komplexen Regelsystemen, 2. Aufl. 2010, S. 62. 88 Hilgers (Fußn. 23), S. 437 f. 89 Grundlegend hierzu: Gohl in: Bertelsmann-Stiftung (Hg.), Organisierte Dialoge als Strategie, 2010.

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sortübergreifende Koordination bis hin zu Kommunikation und Dialog sowie Erfolgsanalyse90. Zweifellos haben aber ebenso Behörden unterhalb der Staats- und Senatskanzleien Planungsaufgaben, auch mit strategischer Relevanz, wahrzunehmen91. Wenn man sich die Funktionen staatlicher Mittelbehörden (Regierungspräsidien, Bezirksregierungen) vergegenwärtigt, sind diese für strategische Steuerungsaufgaben geradezu prädestiniert: „Das Regierungspräsidium … ist Mitte und Bündelung im Hinblick auf die staatliche Gesamtverantwortung, auf die Landespolitik“92. Sie haben bei der Implementation von Strategien und Programmen sowie bei ihrer Evaluation und Nachsteuerung eine wichtige Rolle93. 1. Die Mittlerfunktion94 der Mittelinstanz Schon dem Wortsinn nach steht die Mittelinstanz in der Mitte zwischen Landesregierung und unterer Verwaltungsebene in den Kommunen. Das Regierungspräsidium vertritt die Politik der Landesregierung in der Fläche und hilft ihr bei der politischen Leitung des Landes. Diese Stellvertreterfunktion der Landespolitik wird in dem Bezeichnungsbestandteil „Regierungs…“ deutlich95. Im Sinne des Gegenstromprinzips verstehen sich die Regierungspräsidenten aber auch als Sachwalter („Anwälte“) des jeweiligen Regierungsbezirks. Sie üben vertikale Koordinierung aus96. Die Regierungspräsidien sind die richtige Ebene, strategische Ziele der Landesregierung an die Basis zu vermitteln und in konkretes Verwaltungshandeln umzusetzen. Die Staatskanzleien alleine können das ohne eigenen Verwaltungsunterbau nicht leisten. Ihnen fehlt bei ressortübergreifenden Strategien trotz Richtlinienkompetenz des Ministerpräsidenten die hinreichende Unterstützung der dem Ressortprinzip huldigenden Fachressorts. Im Gegenzug können die Regierungspräsidien der Landesregierung aus den jeweiligen Regierungsbezirken wichtige Informationen des Performance Measurement für eine Evaluation und Nachsteuerung des strategischen Managements liefern97.

90

Schilling/Ruckh/Rübcke (Fußn. 37), S. 13 ff. Thieme (Fußn. 6), Rz. 1002. 92 Wahl (Fußn. 65), S. 63. 93 Bogumil/Jann (Fußn. 6), S. 173 ff. 94 Wahl (Fußn. 65), S. 69; Barth, Der institutionelle Trialismus auf der administrativen Mittelinstanz: Das Spannungsverhältnis zwischen Regierungspräsidium Stuttgart, Verband Region Stuttgart und den Landkreisen, 2004, S. 84. 95 Bogumil, ZG 2007, S. 246 (249). 96 Den Begriff der Koordinierung verwenden Bogumil/Jann (Fußn. 6), S. 100. 97 Barth (Fußn. 94), S. 84. 91

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2. Die Bündelungsfunktion der Mittelinstanz Wie bei einer Sanduhr laufen in der Mittelinstanz nahezu alle Fachbereiche der Landesverwaltung zusammen98. Die fachübergreifende Bündelung in den Regierungspräsidien ist ein Gegengewicht gegen die sonst dominierende fachspezifische Spezialisierung und Separierung. Bündelung bedeutet die Aufarbeitung eines Problems aus den unterschiedlichen Blickwinkeln unter Einbeziehung der verschiedenen Fachrichtungen. Sie bedeutet das Einbringen vielfältigster Sachkenntnis, Koordinierung, aber auch Suche nach einem Kompromiss99. Die Regierungspräsidien verkörpern durch die horizontale Zusammenfassung der Aufgaben in einer Behörde den Anspruch der Einheit der Verwaltung, der vergleichbar sonst nur noch am Kabinettstisch der Landesregierung verwirklicht wird. Sie sind damit ein wirksames Gegengewicht gegen die horizontale Ausdifferenzierung der Fachressorts und die vertikalen Verflechtungen der „Fachbruderschaften“100. Die Regierungspräsidien sind in der Lage, die politische Gesamtverantwortung gegenüber fachlichen Teilverantwortungen stärker zu akzentuieren101. Gegenüber den Verwaltungsadressaten erfüllen die Regierungspräsidien die Anforderungen einer Aufgabenintegration im Sinne der „one stopp agency“102. Auch die Qualität der Entscheidungen wird höher103. Die Bündelungsrolle der Regierungspräsidien birgt beste Voraussetzungen für eine strategische Steuerung. Gerade bei fächerübergreifenden Zielsetzungen können die Einzelbeiträge der Fachabteilungen definiert, aufeinander abgestimmt und bei Kollisionssituationen abgewogene Lösungen gesucht werden. Strategische Ziele sind auch ein wichtiges Vehikel, „Konzernziele“ in der Behörde zu verankern. Denn auch in den Regierungspräsidien verleitet die innere Organisation in Fachabteilungen zur „selektiven Aufmerksamkeit104“ und zu einem in vertikalen Kommunikationsstrukturen (zwischen Fachressort und fachlicher Einheit vor Ort) verhafteten Denken und Handeln105. Hier kommt es darauf an, dass die Behördenleitung mit ihrem Stab (Koordinierungsstelle) und über die Führung in verschiedenen Führungsrunden die fachübergreifenden Ziele transparent macht und koordinierendes Sichabstimmen innerhalb der Behörde einfordert106.

98

Bogumil (Fußn. 95), S. 250. Hämmerle, Die Gemeinde 1997, S. 423 (424). 100 Siehe Fußn. 71. 101 Barth (Fußn. 94), S. 80. 102 Wahl (Fußn. 65), S. 66 f. 103 Remmert in: Frech/Weber/Wehling (Hg.), Handbuch Landespolitik, 2011, S. 190 (209). 104 Wahl (Fußn. 65), S. 78. 105 Wahl (Fußn. 65), S. 79; „Bürogemeinschaft statt Bündelungsbehörde“: Helbing, Alternative Möglichkeiten der Neuordnung von Mittelbehörden, 1998, S. 53. 106 Zu den Schwierigkeiten der Koordination anschaulich Püttner (Fußn. 13), S. 98, 102 ff. 99

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3. Die Regionalfunktion107 der Mittelinstanz In großen Flächenländern gibt es landsmannschaftliche und strukturelle Unterschiede in den verschiedenen Landesteilen. Ein Verwaltungsaufbau mit einer staatlichen Mittelinstanz anerkennt den relativen Eigenwert bestimmter Räume108. Ermöglicht wird eine stärkere Identifikation der Verwaltung mit dem Verwaltungsbezirk und seinen Einwohnern109. Die regionale Ebene hat für eine strategische Steuerung eine zunehmende Relevanz, die über die klassischen Formen der Regionalplanung hinausreicht. So gewinnt der regionale Standortwettbewerb in Europa an Bedeutung. Es sind z. B. Strategien gefragt, wie hochqualifizierte Arbeitskräfte an eine Region gebunden werden können („Wettbewerb um Köpfe“). Das Konzept einer „Regional Governance“110 verspricht Lösungen: Regionale Strategische Steuerung zwingt regionale Handlungsakteure, über Stärken und Schwächen, Chancen und Risiken einer Region nachzudenken sowie Richtungen und Prioritäten der Entwicklung zu definieren. Praktisches Beispiel für eine „Regional Governance“ ist die Strategie für die Trinationale Metropolregion Oberrhein 2020111, an der auch die Regierungspräsidien Freiburg und Karlsruhe beteiligt sind. Die Mittelinstanz ermöglicht eine auf regionale Gegebenheiten abgestimmte strategische Steuerung. So können auch landesweite Ziele auf die regionale Situation heruntergebrochen und Maßnahmen im Dialog mit der regionalen Öffentlichkeit maßgeschneidert werden. 4. Die Staatsfunktion der Mittelinstanz Die Regierungspräsidien als zentrale staatliche Verwaltungseinheiten sind der verlängerte ausführende Arm der Ministerien112. Durch die Verwaltungsstrukturreform 2005 hat in Baden-Württemberg eine umfassende Kommunalisierung der unteren Verwaltungsebene stattgefunden. Zwar sind die Landratsämter staatliche Behörden nach § 15 Abs. 1 Nr. 1 LVerwGBW. Aber nur noch im höheren Dienst gibt es Bedienstete des Landes. Und der Landrat als Leiter des Landratsamtes ist wegen seiner Wahl durch den Kreistag den Kreisinteressen näher als den Zielen der Politik der EU, des Bundes und des Landes. Daher kann man die Regierungspräsidien als „letzte Bastion“ der Landespolitik in der Fläche bezeichnen, die unabhän107

Wahl (Fußn. 65), S. 75 ff. Wahl (Fußn. 65), S. 63 f. 109 Barth (Fußn. 94), S. 80. 110 Zum Konzept: Fürst (Fußn. 87), S. 49 ff. 111 J. Würtenberger in: Badische Heimat 2011, S. 261 ff.; die Strategie im Wortlaut: www. rmtmo.eu/?file=tl_files/RMT-TMO/RMT-TMO-Strategie-2020-DE.pdf; zur Governance des Oberrheins insbesondere S. 20 ff. 112 Wahl (Fußn. 65), S. 74; Barth (Fußn. 94), S. 79. 108

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gig von kommunalen Interessen agiert113. Nicht für jede Verwaltungsentscheidung ist die Nähe zur örtlichen Politik und ihren Interessenfeldern eine günstige Voraussetzung114. Die Um- und Durchsetzung strategischer Ziele im Steuerungsprozess braucht „Leadership115“, die sämtliche strategischen Steuerungsbereiche durchzieht. Daraus folgt, dass die Regierungspräsidien für eine wirksame Umsetzung strategischer politischer Ziele des Landes eine wichtige Rolle spielen. Sie stehen in ungebrochener Loyalität zum Land. Ohne sie würde es den Zielen und Strategien der Landespolitik an einer erfolgreichen Durchdringung an die Basis in der Fläche fehlen. 5. Die Vollzugsgewährleistungsfunktion116 der Mittelinstanz Vollzugsaufgaben sollen nicht von den Ministerien wahrgenommen werden, weil sie diese von ihren originären konzeptionellen und leitenden Arbeiten abhalten würden117. Die Regierungspräsidien führen die Fachaufsicht über die untere Verwaltungsebene (§§ 20, 21 LVerwGBW). Hinzu kommt die Kommunalaufsicht mit ihren kontrollierenden und beratenden Elementen. Die Recht- und Zweckmäßigkeit sowie die Einheitlichkeit des Verwaltungshandelns werden durch die Aufsichtsfunktionen gewährleistet. Bei der Umsetzung strategischer Ziele stehen den Regierungspräsidien alle wichtigen Instrumente von der Zielvereinbarung, Beratung bis zur fachaufsichtlichen Weisung zur Verfügung. III. Beispiel: Nachhaltigkeitsstrategie des Regierungspräsidiums Freiburg Das Nachhaltigkeitsprinzip ist in Art. 2 EGV (in der Fassung des Vertrages von Amsterdam) kodifiziert. Sowohl die Bundesregierung118 als auch die baden-württembergische Landesregierung119 haben in den letzten Jahren Nachhaltigkeitsstrategien entwickelt. Es darf aber nicht übersehen werden, dass auch die den Regierungen nachgeordnete öffentliche Verwaltung eine bedeutende Rolle für die Ausgestaltung und Beförderung einer nachhaltigen Entwicklung spielt120. Jede Verwaltungseinrichtung kann, unabhängig von ihrem Gestaltungsauftrag und ihrer inhaltlichen Ausrich113

Das Landratsamt als dem Land „fremde“ Behörde: Wißmann, DÖV 2004, S. 197 (199). Wahl (Fußn. 65), S. 64, 73. 115 Zu Leadership und Organisationssteuerung: Raschke/Tils (Fußn. 42), S. 200 ff. 116 Barth (Fußn. 94), S. 81 ff. 117 Helbing (Fußn. 105), S. 11. 118 www.bundesregierung.de/Content/DE/StatischeSeiten/Breg/Nachhaltigkeit/1-NationaleN-Strategie/2006 – 07 – 27-die-nationale-nachhaltigkeitsstrategie.html. 119 www2.um.baden-wuerttemberg.de/servlet/is/32798/NHS_Ziele.pdf. 120 Schaltegger/Haller/Müller/Klewitz/Harms (Fußn. 54), S. 1. 114

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tung, durch ihre Aktivitäten zu einer nachhaltigen Entwicklung beitragen121. Nachhaltigkeitsmanagement umfasst für die öffentliche Verwaltung alle systematischen, koordinierten und zielorientierten Aktivitäten, die die nachhaltige Entwicklung der Gesellschaft fördern122. Um nicht in die Komplexitätsfalle von Entwicklungsplanungen zu geraten, empfiehlt es sich, hinsichtlich der Nachhaltigkeitsziele und -projekte Handlungsschwerpunkte zu bilden, entwicklungsoffen zu bleiben und auf eine eher weiche Koordinierung zu setzen123. Für das Regierungspräsidium Freiburg drängte sich Ende 2007 auf, das Feld der nachhaltigen Entwicklung zum Anwendungsfall strategischer Steuerung in der Mittelbehörde zu machen. Das Regierungspräsidium Freiburg hat daher im Jahr 2008 für seinen Regierungsbezirk eine Nachhaltigkeitsstrategie erarbeitet124. Die Strategie gliedert sich in die fünf Zielbereiche Wirtschaft und Wissenschaft, Natur und Umwelt, Kultur und Heimat, Bildung und Soziales, ausgeglichene und stabile öffentliche Finanzwirtschaft. Unter Vorgabe der fünf Zielbereiche wurde in einem iterativen Prozess unter Leitung der Koordinierungsstelle des Regierungspräsidiums zusammengetragen und abgestimmt, welche Ziele und Strategien die einzelnen Arbeitseinheiten der Behörde beitragen können. Die Nachhaltigkeitsstrategie wurde in Führungsrunden unter Einschluss der mittleren Führungsebene („große Referatsleiterrunde“) diskutiert und verabschiedet. Auf der Basis des Nachhaltigkeitspapiers wurde das Leitbild des Regierungspräsidiums überarbeitet und unter Beteiligung der Personalvertretung und der Referate neu verabschiedet125. Unter der Kapitelüberschrift „Nachhaltige Entwicklung im Land und in unserer Region“ wurden zehn strategische Nachhaltigkeitsziele im Leitbild festgelegt. Zur Umsetzung der Strategie wurden u. a. jährliche Schwerpunktthemen ausgewählt: Flächensparen (2008), Baukultur Schwarzwald (2009), Bildungspartnerschaften Schule/Wirtschaft (2010), Ausbau der erneuerbaren Energien (2011/2012). Darauf aufbauend wurde in einem iterativen Prozess von der Stabsstelle für Controlling analysiert, welche Indikatoren für die Entwicklung in den einzelnen Zielbereichen geeignet sind. Auch hier waren wiederum mehrere Abstimmungsrunden zwischen der Leitungsebene und den Arbeitseinheiten vorgesehen. Am Ende standen in einem ersten Schritt fast 40 Indikatoren, die im Rahmen eines Monitoring verfolgt werden sollen. Im Ersten Statusbericht hat das Regierungspräsidium Freiburg im

121

Schaltegger/Haller/Müller/Klewitz/Harms (Fußn. 54), S. 4. Schaltegger/Haller/Müller/Klewitz/Harms (Fußn. 54), S. 7. 123 Rehbinder (Fußn. 16), S. 663. 124 www.rp.baden-wuerttemberg.de/servlet/PB/menu/1315215/index.html; der Verfasser dankt besonders Dr. Johannes Dreier, Manfred Hettich, Benedikt Paulowitsch, Manuel Winterhalter-Stocker und Helge Wirth für ihre Beiträge zum Gelingen des Projekts. 125 www.rp.baden-wuerttemberg.de/servlet/PB/menu/1029294/index.html. 122

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März 2012 eine Bilanz über die Indikatoren und Kennzahlen sowie ihre Interpretation gezogen und diese veröffentlicht126. Die Anforderungen einer „Regional Governance“ erfüllt die Nachhaltigkeitsstrategie für den Regierungsbezirk Freiburg nur ansatzweise, da Elemente der Einbeziehung gesellschaftlicher Akteure noch auszubauen sind. Bei Teilstrategien wie z. B. Trinationale Metropolregion Oberrhein127, Bildungspartnerschaften Schule/Wirtschaft128, erneuerbare Energien129 oder Baukultur Schwarzwald130 ist dies allerdings durchaus geschehen. IV. Ausblick Es müssen Instrumente weiterentwickelt werden, die mit vertretbarem Aufwand sowohl zu einer größeren Wirkungstransparenz als auch zu einer schlüssigeren Steuerungsphilosophie führen131. Internationale Erfahrungen zeigen, dass eine vermehrt strategische Steuerung der öffentlichen Verwaltung ein sehr langwieriger und aufwändiger Veränderungsprozess ist. Verschiedene Staaten stehen selbst nach zehn Jahren noch mitten im Umsetzungsprozess132. Fleiß, Geduld und Ausdauer prägen den Prozess einer erfolgreichen Umsetzung strategischer Steuerung. Strategische Steuerung stellt sicherlich kein Allheilmittel dar. Doch erscheint ein strategisch qualifiziertes „muddling through“ immer noch besser als der vorherrschende Inkrementalismus133. Die Bedeutung strategischer Steuerung in Verwaltungsbehörden wird weiter zunehmen. Eine Nachhaltigkeitsstrategie bietet sich als Anwendungsfall strategischer Steuerung an. Instruktionen und Handlungskonzepte für die Umsetzung von behördlichen Nachhaltigkeitsstrategien liegen vor134. Bei den staatlichen Mittelbehörden ist strategische Steuerung schon vom Rollenverständnis her bestens angesiedelt und kann ihre Funktionen optimal erfüllen. Mittelfristige Bestrebungen, die Mittelinstanz in Baden-Württemberg abzuschaffen, würden die Strategiefähigkeit der Landesverwaltung und die erfolgreiche Umsetzung von Landespolitik entscheidend schwächen. Es ist nicht ersichtlich, auf welcher 126 Pressemitteilung: www.rp.baden-wuerttemberg.de/servlet/PB/menu/1337064/index.html Statusbericht: www.rp.baden-wuerttemberg.de/servlet/PB/show/1337020/rpf-nachhaltigkeit-sta tusbericht21032012.pdf. 127 Siehe Fußn. 111. 128 www.rp.baden-wuerttemberg.de/servlet/PB/menu/1327218/index.html. 129 www.rp.baden-wuerttemberg.de/servlet/PB/menu/1338404/index.html. 130 www.rp.baden-wuerttemberg.de/servlet/PB/show/1319845/rpf-publikation-baukulturschwarzwald.pdf. 131 Berens/Mosiek/Röhrig/Gerhardt (Fußn. 29), S. 324. 132 BMI/Bertelsmannstiftung (Fußn. 44), S. 30 f. 133 Tils (Fußn. 41), S. 40. 134 Tils (Fußn. 41), S. 213 ff. am Beispiel der Nachhaltigkeitsstrategie des Bundes; Schaltegger/Haller/Müller/Klewitz/Harms (Fußn. 54), S. 45 ff. mit Faktenblättern zu Methoden des Nachhaltigkeitsmanagements in der öffentlichen Verwaltung.

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(neuen) Verwaltungsebene die unter II. geschilderten Funktionen der Mittelinstanz gleichwertig wahrgenommen werden könnten.

Schriftenverzeichnis Prof. Dr. Thomas Würtenberger I. Selbständige Schriften 1. Monographien 1. Die Legitimität staatlicher Herrschaft. Eine staatsrechtlich-politische Begriffsgeschichte. Schriften zur Verfassungsgeschichte. Band 20. Duncker & Humblot, Berlin 1973, 329 S. 2. Staatsrechtliche Probleme politischer Planung. Schriften zum Öffentlichen Recht, Band 360. Duncker & Humblot, Berlin 1979, 445 S. 3. Zeitgeist und Recht. J.C.B. Mohr, Tübingen 1987, 232 S. – 2. Aufl. J.C.B. Mohr, Tübingen, 1991, 244 S. 4. Die Akzeptanz von Verwaltungsentscheidungen, Nomos, Baden-Baden, 1996.

2. Lehrbücher 1.

Probleme der VwGO. Rengaw-Sammlung. Ergänzungsreihe zu den Juristischen Arbeitsblättern. J. Schweitzer-Verlag, Berlin 1971, 112 S. – Zweite erweiterte Auflage. J. Schweitzer-Verlag, Berlin 1976, 178 S.

2.

Polizei- und Ordnungsrecht. Rengaw-Sammlung. Ergänzungsreihe zu den Juristischen Arbeitsblättern. J. Schweitzer-Verlag, Berlin 1974, 132 S.

3.

Verwaltungsgerichtsbarkeit Prüfe Dein Wissen, Bd. 24, Beck-Verlag, München 1990, 379 S. – 2. Aufl. 1995, 391 S.

4.

Würtenberger/Heckmann/Riggert, Polizeirecht in Baden-Württemberg, C. F. Müller, Karlsruhe 1993, 308 S. – 2. Aufl. 1994, 333 S. – 3. Aufl. 1997, 343 S. – 4. Aufl. 1999, 360 S. – 5. Aufl. 2002, 433 S.

5.

Verwaltungsprozessrecht, Beck, München 1998, 377 S. – 2. Aufl., Beck, München, 2006, 309 S.; – 3. Aufl., Beck, München, 2011, 362 S.

6.

Achterberg/Püttner/Würtenberger (Hg.), Besonderes Verwaltungsrecht, Bd. I, C.F. Müller, Heidelberg, 2. Aufl. 2000, 1323 S.

7.

Achterberg/Püttner/Würtenberger (Hg.), Besondere Verwaltungsrecht, Bd. II, C.F. Müller, Heidelberg, 2. Aufl. 2000, 1186 S.

8.

Zippelius/Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, Beck, München, 31. Aufl. 2005, 563 S. – 32. Aufl. 2008, 658 S.

9.

Würtenberger/Heckmann, Polizeirecht in Baden-Württemberg, C.F. Müller, Heidelberg, 6. Aufl. 2005, 458 S.

10. Verwaltungsprozessrecht. Prüfe dein Wissen, Bd. 24, Beck, München, 3. Aufl. 2008, 406 S.

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Schriftenverzeichnis Prof. Dr. Thomas Würtenberger

3. Herausgeber/Mitherausgeber 1.

Würtenberger (Hg.), Risikosportarten. Reihe Recht und Sport, Bd. 14, C.F. Müller, Karlsruhe 1991, 45 S.

2.

Würtenberger/Hatanaka (Hg.), The Rule-of-Law State (Rechtsstaat) – a comparative aspect, Koyo, Kyoto, 1994, 277 S. (in japanischer Sprache).

3.

Würtenberger (Hg.), Abhandlungen zur Rechtssoziologie von Manfred Rehbinder, Duncker & Humblot, Berlin 1995, 268 S.

4.

Würtenberger/Otto (Hg.), Karl Engisch, Einführung in das juristische Denken, Kohlhammer, Stuttgart u. a., 9. Auflage 1997, 279 S.; Chinesische Übersetzung, Peking 2004, 286 S. (Übersetzer Prof. Dr. Zheng). – 10. Aufl. 2005, 282 S. – 11. Aufl. 2010, 356 S.

5.

Guggenberger/Würtenberger (Hg.), Hüter der Verfassung oder Lenker der Politik? Das Bundesverfassungsgericht im Widerstreit, Nomos, Baden-Baden, 1998, 320 S.

6.

Jurt /Krumeich/ Würtenberger (Hg.), Der Wandel von Rechtsbewußtsein und Recht in Frankreich und Deutschland, Berlin-Verlag, Berlin, 1999, 268 S.

7.

Gose/Würtenberger (Hg.), Zur Ideen- und Rezeptionsgeschichte des Preußischen Allgemeinen Landrechts, Frommann-Holzboog, Stuttgart, 1999, 184 S.

8.

Morgos/Würtenberger (Hg.), Special Issue of the Ukrainian-European International and Comparative Law Journal: Regionalisation and Dezentralisation, Vol. 2, Number 2, Winter 2001, 226 S. – Ergänzte Neuauflage in ukrainischer Sprache, März 2005.

9.

Würtenberger/Tscheulin/Usunier/Jeannerod/Davoine (Hg.), Wahrnehmungs- und Betätigungsformen des Vertrauens im deutsch-französischen Vergleich, Berlin Verlag Arno Spitz, 2002, 328 S.

10. Becker/Hilty/Stöckli/Würtenberger (Hg.), Recht im Wandel seines sozialen und technologischen Umfelds, Festschrift für M. Rehbinder, Verlage Beck und Stämpfli, 2002, 872 S. 11. Würtenberger (Hg.), Rechtsreform in Deutschland und Korea im Vergleich, Duncker & Humblot, Berlin, 2006, 253 S. 12. Gander/Perron/Poscher/Riescher/Würtenberger (Hg.), Resilienz in der offenen Gesellschaft, Nomos, Baden-Baden, 2012, 347 S. 13. Würtenberger/Gusy/Lange (Hg.), Innere Sicherheit im europäischen Vergleich, Sicherheitsdenken, Sicherheitskonzepte und Sicherheitsarchitektur im Wandel, LIT-Verlag, Berlin 2012, 346 S.

II. Aufsätze, Kommentierungen, Lexikonartikel 1.

Der Beitrag der Topik zur Rechtsfindung, in: MDR 1969, S. 626 – 631.

2.

Methodik der Fallbearbeitung/Lösung eines Strafrechtsfalles („Der bedrängte Gerichtsvollzieher“) in Zusammenarbeit mit Th. Würtenberger, in: JuS 1969, S. 129 – 135.

3.

(mit Manfred Löwisch) Vertragsstrafe und Betriebsstrafe im Arbeitsrecht, in: JuS 1970, S. 261 – 267.

4.

Zur Interpretation von Art. 4, 9 und 140 GG i.V.m. Art. 137 WRV, in: ZevKR 1973, S. 67 – 79.

5.

Methodik der Fallbearbeitung/Lösung eines Verwaltungsrechtsfalles („Die Giftmüllfässer“), in: JuS 1974, S. 320 – 325.

6.

Planung und Realisierung von Grundrechten, Bern 1976 (als Manuskript gedruckt / 29 Seiten).

Schriftenverzeichnis Prof. Dr. Thomas Würtenberger

1241

7.

Artikel „Legitimität“, in: Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte, hrsg. von A. Erler und E. Kaufmann, Sp. 1681 – 1686.

8.

Bürokratie und politische Führung, in: Th. Leuenberger und K.-H. Ruffmann (Hg.), Bürokratie – Motor oder Bremse der Entwicklung? Bern u. a. 1977, S. 99 – 116.

9.

Artikel „Hermann Kantorowicz“, in: Neue Deutsche Biographie Bd. 11 (1977), S. 127 – 128.

10.

Verwaltungsführung im demokratischen Staat, in: BayVBl. 1978, S. 565 – 571.

11.

Der öffentliche Dienst im Staat der Gegenwart, in: VOP 1979, S. 48 – 49.

12.

Kommentierung von Art. 45 c GG, in: Bonner Kommentar, 40. Lieferung (Juni 1979), 73 S.

13.

Neubearbeitung bzw. Überarbeitung der zehn kommunalrechtlichen Artikel für die 2. Aufl. von „Der moderne Staat“, hrsg. von den Fachredaktionen des Bibliographischen Instituts, bearbeitet von R. Bartlsperger u. a., Meyers Lexikonverlag, 1979, S. 102 – 121.

14.

Die Verbändeproblematik aus europarechtlicher und integrationstheoretischer Sicht, in: K. M. Meessen (Hg.), Verbände und europäische Integration (1980), S. 29 – 43.

15.

Artikel „Gewaltenteilung“, in: Evangelisches Soziallexikon, 7. Aufl. 1980, Sp. 523 – 525.

16.

Artikel „Legitimation, Legitimität“, in: Evangelisches Soziallexikon, 7. Aufl. 1980, Sp. 814 – 816.

17.

Artikel „Widerstandsrecht, Widerstandspflicht“ (I, II, IV), in: Evangelisches Soziallexikon, 7. Aufl. 1980, Sp. 1440, 1441, 1444 und 1446.

18.

Urteilsanmerkung zu einem Normenkontrollbeschluß des BayVGH, BayVBl. 1980, S. 662 – 663.

19.

Die Normenerlaßklage als funktionsgerechte Fortbildung verwaltungsprozessualen Rechtsschutzes, in: AöR 1980, S. 370 – 399.

20.

Die staatsrechtlichen Probleme politischer Planung im Wandel der letzten zehn Jahre, in: Planen wie bisher? – Veröffentlichungen des Seminars für Planungswesen der TU Braunschweig, 1980, S. 1 – 18.

21.

Methodik der Fallbearbeitung/Lösung eines Verwaltungsrechtsfalles („Der abgeschleppte Pkw“) – unter Mitwirkung von H. Görs, in: JuS 1981, S. 596 – 603.

22.

Zukunftsperspektiven öffentlicher Planung, in: Die Fortbildung 1981, S. 42 – 47.

23.

Für den jungen Juristen: Juristische Zwischenprüfung 1979, Aufgabe 8, in: BayVBl. 1981, S. 285, 317 – 320, 347 – 349.

24.

Artikel „Legitimität, Legalität“, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 3, hrsg. von O. Brunner u. a., 1982, S. 677 – 740.

25.

Der Rechtsschutz von Gemeinden gegen Energiefreileitungen, in: BayVBl. 1982, S. 673 – 679.

26.

„Hermann Kantorowicz“, in: Badische Biographien, Neue Folge, Band I (1982), S. 184 – 195.

27.

Zurückbehaltungsrechte und Schadensersatzansprüche beim Abschleppen verbotswidrig parkender Kraftfahrzeuge, in: Deutsches Autorecht 1983, S. 155 – 161.

28.

Erstattung von Polizeikosten, in: NVwZ 1983, S. 192 – 199.

29.

Artikel „Hausrecht“, in: Ergänzbares Lexikon des Rechts, 9/920, 1983, 10 S.

1242

Schriftenverzeichnis Prof. Dr. Thomas Würtenberger

30.

Zurückbehaltungsrechte und Schadensersatzansprüche beim Abschleppen verbotswidrig parkender Kraftfahrzeuge, in: Deutsche Akademie für Verkehrswissenschaft (Hg.), 21. Deutscher Verkehrsgerichtstag 1983, S. 291 – 306.

31.

Artikel „Verwaltungsvollstreckung“, in: Ergänzbares Lexikon des Rechts, 9/2020, 1984, 5 S.

32.

Artikel „Vollstreckungsbehörden“, in: Ergänzbares Lexikon des Rechts, 9/2070, 1984, 3 S.

33.

Artikel „Verwaltungszwangsverfahren (mit Zwangsmitteln)“, in: Ergänzbares Lexikon des Rechts, 9/2050, 1984, 16 S.

34.

Artikel „Beitreibungsverfahren“, in: Ergänzbares Lexikon des Rechts, 9/420, 1984, 7 S.

35.

Artikel „Verwaltungsstrafe (Ordnungsmaßnahmen)“, in: Ergänzbares Lexikon des Rechts, 9/1980, 1984, 9 S.

36.

Legitimität und Gesetz, in: Freiheit und Verantwortung im Verfassungsstaat. Festgabe zum 10-jährigen Jubiläum der Gesellschaft für Rechtspolitik, hrsg. von B. Rüthers und K. Stern, 1984, S. 533 – 550.

37.

Artikel „Pluralismus“, in: Ergänzbares Lexikon des Rechts, 5/550, 1985, 5 S.

38.

Artikel „Staatszielbestimmungen, Verfassungsaufträge“, in: Ergänzbares Lexikon des Rechts, 5/720, 1985, 8 S.

39.

Energieversorgung und gemeindliche Entwicklungsplanung, in: Wirtschaft und Verwaltung, 1985, S. 188 – 210.

40.

Recht und Legitimation im modernen Staat, in: Politik und Kultur, 1985, S. 51 – 67.

41.

Die politischen Theorien, in: J. Ziechmann (Hg.), Panorama der fridericianischen Zeit, 1985, S. 39 – 52.

42.

Die Planung im kameralistischen Staat, in: J. Ziechmann (Hg.), Panorama der fridericianischen Zeit, 1985, S. 455 – 459.

43.

Die Medaillen, in: J. Ziechmann (Hg.), Panorama der fridericianischen Zeit, 1985, S. 317 – 318.

44.

Artikel „Legitimation und Legitimität“, in: Ergänzbares Lexikon des Rechts, 2/310, 1985, 5 S.

45.

Artikel „Legalität und Moralität“, in: Ergänzbares Lexikon des Rechts, 2/300, 1985, 3 S.

46.

Die Zeitgebühr, in: Verwaltungsblätter für Baden-Württemberg, 1986, S. 41 – 45 (zusammen mit U. Rommelfanger).

47.

Legitimationsmuster von Herrschaft im Laufe der Geschichte, in: JuS 1986, S. 344 – 349.

48.

Religionsmündigkeit, in: Rechtsstaat. Kirche. Sinnverantwortung (Festschrift für Klaus Obermayer), 1986, S. 113 – 122.

49.

Schwankungen und Wandlungen im Rechtsbewußtsein der Bevölkerung, in: NJW 1986, S. 2281 – 2287.

50.

Legalität und Legitimität staatlicher Gewaltausübung, in: Polizei-Führungsakademie (Hg.), Polizei im demokratischen Verfassungsstaat – soziale Konflikte und Arbeitskampf, 1986, S. 47 – 64.

51.

Akzeptanz von Recht und Rechtsfortbildung, in: Eisenmann/Rill (Hg.), Jurist und Staatsbewußtsein, 1987, S. 79 – 103.

Schriftenverzeichnis Prof. Dr. Thomas Würtenberger

1243

52.

Artikel Legalität, Legitimität, in: Staatslexikon, hrsg. von der Görres-Gesellschaft, 7. Aufl., Bd. 3 (1987), Sp. 873 – 878.

53.

Massenpetitionen als Ausdruck politischer Diskrepanzen zwischen Repräsentanten und Repräsentierten, in: Zeitschrift für Parlamentsfragen, 1987, S. 383 – 394.

54.

Schwankungen und Wandlungen im Rechtsbewußtsein der Bevölkerung, in: R. Jakob/M. Rehbinder (Hg.), Beiträge zur Rechtspsychologie (1987), S. 197 – 214.

55.

Gesetz, Rechtsbewußtsein und Schutz des ungeborenen Kindes, in: Schriftenreihe der Juristen-Vereinigung Lebensrecht, Nr. 5 (1988), S. 31 – 52.

56.

Equality, in: U. Karpen (Hg.), The Constitution of the Federal Republic of Germany (1988), S. 67 – 90.

57.

Artikel Organ, in: Staatslexikon, hrsg. von der Görres-Gesellschaft, 7. Aufl., Bd. 4 (1988), Sp. 195 – 198.

58.

Artikel Autonomie, in: Ergänzbares Lexikon des Rechts, 2/40 (1988), S. 1 – 6.

59.

An der Schwelle zum Verfassungsstaat, in: Aufklärung, Jahrgang 3, H. 2 (1988), S. 53 – 88.

60.

Zur Legitimation der Staatsgewalt in der politischen Theorie des Johannes Althusius, in: Dahm/Krawietz/Wyduckel (Hg.), Politische Theorie des Johannes Althusius (1988), S. 557 – 576.

61.

Konrad Hesse 70 Jahre alt, in: Freiburger Universitätsblätter H. 103 (März 1989), S. 12 f.

62.

Wandlungen in den privaten und öffentlichen Verantwortungssphären, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Bd. 14 (1989), S. 308 – 323.

63.

Zu den Wurzeln des Grundgesetzes: Verfassungsdiskussionen im ausgehenden 18. Jahrhundert, in: Politische Studien, Sonderheft 1/1989, S. 7 – 21.

64.

Zur Legitimation der Staatsgewalt in der politischen Theorie von Benjamin Constant, in: Annales Benjamin Constant, No 10, 1989, S. 65 – 74.

65.

Vorwort, in: Würtenberger (Hrsg.), Risikosportarten (1991), S. V.

66.

Risiken des Sports – polizei- und ordnungsrechtliche Fragen, in: Würtenberger (Hrsg.), Risikosportarten (1991), S. 31 – 43.

67.

Akzeptanz durch Verwaltungsverfahren, in: NJW 1991, S. 257 – 263.

68.

Zeitgeist und Recht – die Verantwortung der Parteien, in: Eisenmann/Rill (Hg.), Rechtsbewußtsein und Staatsverständnis der Parteien (1991), S. 12 – 34.

69.

Rechtsbewußtsein und verfassungsrechtlicher Handlungsspielraum des Gesetzgebers in Deutschland, in: Konrad-Adenauer-Stiftung (Hg.), Schutz des ungeborenen Kindes (1991), S. 42 – 55.

70.

Statement, in: Politische Studien, Sonderheft 1/1991, S. 60 f.

71.

In Zusammenarbeit mit R. Riggert: Der lärmgeplagte Nachbar, in: JuS 1991, S. 838 – 842.

72.

Das Rechtsstaatsprinzip in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes, in: Ritsumeikan Law Review 1991, S. 47 – 60.

73.

Artikel „Rechtssicherheit“, in: Ergänzbares Lexikon des Rechts, 2/480, 1991, 4 S.

74.

Art. 146 GG: Muß unser Grundgesetz einer Volksabstimmung unterworfen werden?, in: Politische Studien, Sonderheft 2/1991, S. 24 – 29.

75.

Art. 146 GG n.F.: Kontinuität oder Diskontinuität im Verfassungsrecht?, in: K. Stern (Hg.), Deutsche Wiedervereinigung, Bd. I (1991), S. 95 – 109.

1244

Schriftenverzeichnis Prof. Dr. Thomas Würtenberger

76.

L’article 146 nouvelle version de la loi fondamentale: continuité ou discontinuité du droit constitutionnel?, in: Revue francaise de Droit constitutionnel 8 (1991), S. 597 – 613.

77.

Polizei- und Ordnungsrecht, in: Achterberg/Püttner (Hg.), Besonderes Verwaltungsrecht, Bd. II 1992, S. 329 – 481.

78.

Rechtsprechung und sich wandelndes Rechtsbewußtsein, in: Hoppe/Krawietz/Schulte (Hg.), Rechtsprechungslehre, 1992, S. 545 – 558.

79.

Igualdad, in: Karpen (Hg.), La Constitución de la República Federal de Alemania, 1992, S. 67 – 91.

80.

Parlamentarische Demokratie und sozialer Rechtsstaat: Die Vorgaben des Grundgesetzes für die politischen Institutionen, in: Alexander Fritsch (Hg.), Warum versagt unsere Politik?, 1992, S. 46 – 58.

81.

Konfliktlösung durch Akzeptanz-Management, in: Zilleßen/Dienel/Strubelt (Hg.), Die Modernisierung der Demokratie, 1993, S. 72 – 86.

82.

Innere Sicherheit muß das Ziel der Gesetzgebung sein, in: Zeitschrift zur politischen Bildung 1993, S. 10 – 14.

83.

Beständigkeit im Wandel: Unser Rechtsstaat und der Zeitgeist, in: Politische Studien, Sonderheft 5/1993, S. 13 – 21.

84.

Wege zu einem Verwaltungsmanagement in Deutschland, in: M. Bullinger (Hg.), Von der bürokratischen Verwaltung zum Verwaltungsmanagement, 1993, S. 43 – 51.

85.

Reinhold Zippelius zum 65. Geburtstag, in: AöR 118 (1993), S. 324 – 326.

86.

Konfliktschlichtung im Erörterungstermin, in: K. Kroeschell (Hg.), Recht und Verfahren, 1993, S. 183 – 193 (japanische Übersetzung in dem gleichzeitig in Japan erschienenen Sammelband).

87.

Entwurf einer Empfehlung zur Verbesserung der Akzeptanz von Verwaltungsentscheidungen, in: Verwaltungsreform in Baden-Württemberg, Anlagenband zum Ersten Bericht der Regierungskommission Verwaltungsreform, hrsg. vom Staatsministerium Baden-Württemberg, 1993, Anl. 8, S. 1 – 41.

88.

Staatsverfassung an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, in: Beiheft 10 zu „Der Staat“, 1993, S. 85 – 108.

89.

Die deutschen Reparationen nach dem Zweiten Weltkrieg (jap. Übersetzung von Prof. Deguchi und Prof. Torii), in: Liberty and Justice, Bd. 44 (1993), S. 29 – 38.

90.

Anmerkung zum Urteil des BGH vom 21. 1. 1993, Az. III ZR 189/91, in: JZ 1993, 1003 – 1005.

91.

Wiedervereinigung und Verfassungskonsens, in: JZ 1993, 745 – 750.

92.

Das Subsidiaritätsprinzip als Verfassungsprinzip, in: Staatswissenschaften und Staatspraxis 4 (1993), S. 621 – 645.

93.

Einführung, in: Landeszentrale für politische Bildung Thüringen (Hg.), Verfassung des Freistaats Thüringen und Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (1994), S. 5 – 31.

94.

Umweltbewußtsein und Umweltrecht in Industriestaaten (jap. Fassung), in: Ishibe/ Matsumoto/Kodama (Hg.), Vom nationalen zum transnationalen Recht, Tokyo 1994, S. 342 – 358.

95.

Weltanschauliche und ethische Erziehung aus verfassungsrechtlicher Sicht, in: Politische Studien H. 335 (1994), S. 13 – 28.

Schriftenverzeichnis Prof. Dr. Thomas Würtenberger

1245

96.

Ökonomische Grenzen der Rechtspflege im Rechtsstaat, in: Justizministerium BadenWürttemberg (Hg.), Ist unser Rechtsstaat noch bezahlbar? (1994), S. 33 – 64.

97.

Das Rechtsstaatsprinzip in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes, in: Würtenberger/Hatanaka (wie Nr. 12), S. 45 – 122 (in japanischer Sprache).

98.

Zeitgeist und Rechtsbewußtsein, in: Pädagogische Arbeitsstelle für Erwachsenenbildung in Baden-Württemberg (Hg.), Arbeitshilfen für die Erwachsenenbildung, H. 29 (1994), S. 126 – 136.

99.

The Principle of Subsidiarity as a Constitutional Principle, in: Jahrbuch zur Staats- und Verwaltungswissenschaft, Bd. 7 (1994), S. 65 – 90.

100. Innere Sicherheit im demokratischen Rechtsstaat, in: Arbeitsgemeinschaft Ländlicher Raum im Regierungsbezirk Tübingen, H. 22: Innere Sicherheit im ländlichen Raum (1994), S. 4 – 15. 101. Verfassungsrechtliche Streitigkeiten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Festschrift für Ernst Benda (1995), S. 443 – 456. 102. Vorwort, in: Abhandlungen zur Rechtssoziologie von Manfred Rehbinder, hrsg. von Thomas Würtenberger (1995), S. 7 – 9. 103. Einführung, in: Landeszentrale für politische Bildung Thüringen (Hg.), Verfassung des Freistaats Thüringen und Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 2. Aufl. (1995), S. 5 – 31. 104. Die Sozialpflichtigkeit des Eigentums – Entwicklungen dargestellt am Beispiel des Natur- und Umweltschutzes, in: Hubertus Löffler (Hg.), Die Bedeutung des Eigentums in unserer Gesellschaft (1995), S. 169 – 200. 105. Die Verfassunggebung in den neuen Bundesländern (jap. Übersetzung von Prof. N. Kokubon), Zeitschrift für Staats- und Verwaltungsrecht, Tokyo 1995, S. 114 – 129. 106. Rechtspluralismus oder Rechtsetatismus?, in: Ernst-Joachim Lampe (Hg.), Rechtsgleichheit und Rechtspluralismus, 1995, S. 92 – 107. 107. Schlußwort, in: Ernst-Joachim Lampe (Hg.), Rechtsgleichheit und Rechtspluralismus, 1995, S. 324 – 327. 108. Der pluralistische Staat ist kein völlig wertneutraler Staat, in: Westfalen-Blatt vom 3. Juni 1995, Beilage Werte und Wandel, S. 7 – 10. 109. Die deutschen Reparationen nach dem Zweiten Weltkrieg, Ritsumeikan Law Review, März 1995, S. 91 – 103. 110. Die Verfassungsgebung in den neuen Bundesländern, in: Detlef Merten/Waldemar Schreckenberger (Hg.), Kodifikation gestern und heute, 1995, S. 115 – 130. 111. Aceptación a través del procedimiento administrativo, in: Documentación Administravia 235 – 236 (1993), S. 313 – 333. 112. Die Wechselbeziehungen zwischen Rechtsbewußtsein im Umweltschutz und Umweltrecht in Industriestaaten, in: Kroeschell/Cordes (Hg.), Vom nationalen zum transnationalen Recht 1995, S. 239 – 250. 113. Die Verfassung der DDR zwischen Revolution und Beitritt, in: Isensee/Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VIII 1995, S. 101 – 130. 114. Die rechtliche Bewältigung von Altlasten, in: Umweltrecht und Ethik, Evangelische Akademie Bad Boll, 1995, S. 66 – 76. 115. Kommentierung von Art. 45 c GG, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, 74. Lieferung vom Nov. 1995, 102 S.

1246

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116. Las reformas del Estado en Alemania desde 1989, in: Sobernes/Valadés/Concha (Hg.), La reforma del Estado. Estudios comparados, 1996, S. 431 – 463. 117. Zur Legitimität des Grundgesetzes in historischer Perspektive, in : Winfried Brugger (Hg.), Legitimation des Grundgesetzes aus Sicht von Rechtsphilosophie und Gesellschaftstheorie 1996, S. 21 – 46. 118. Egalité, in: Ulrich Karpen (Hg.), La Constitution de la République Fédérale d’Allemagne, 1996, S. 71 – 92. 119. Repräsentative und plebiszitäre Elemente in der deutschen Verfassungsgeschichte in: Günther Rüther (Hg.), Repräsentative oder plebiszitäre Demokratie – eine Alternative?, 1996, S. 95 – 177. 120. „Unter dem Kreuz“ lernen, in: Merten/Schmidt/Stettner (Hg.), Der Verwaltungsstaat im Wandel, FS für Franz Knöpfle, 1996, S. 397 – 411. 121. Verfassungsentwicklungen in Frankreich und Deutschland in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Aufklärung 9/1 (1996), S. 75 – 99. 122. (Gemeinsam mit Andreas Beck), Grundzüge der Thüringer Verfassung, in: Karl Schmitt (Hg.), Thüringen. Eine politische Landeskunde, 1996, S. 85 – 106. 123. Ansätze und Zielsetzungen einer Verfassungsgeschichte des Grundgesetzes, in: Joachim Burmeister (Hg.), Verfassungsstaatlichkeit, FS für Klaus Stern, 1997, S. 127 – 139. 124. Weltanschauliche und ethische Erziehung aus verfassungsrechtlicher Sicht, in: Stefanie Rehm (Hg.), Staat und Weltanschauung, 1997, S. 219 – 239. – Weiterer Abdruck in: Erziehung und Bildung. Verspielen wir unsere Zukunftschancen?, hrsg. von Kroker/Dechamps, 1998, S. 13 – 33. 125. Zur Legitimation des Föderalismus, in: Konsens und Konsoziation in der politischen Theorie des frühen Föderalismus, Beiheft 16 zu Rechtstheorie, hrsg. von Duso/Krawietz/Wyduckel, 1997, S. 355 – 368. 126. Die Geschichte juristischer Bibliotheken als Teil einer Rechts- und Wissenschaftsgeschichte, in: Festschrift für Martin Kriele, hrsg. von Ziemske/Langheid/Wilms/Haverkate, 1997, S. 1103 – 1116. 127. L’histoire des bibliothèques des juristes comme élément d’une histoire du droit et du savoir, in: Sources, Travaux historiques No 41 – 42, Usages des bibliothèques, 1995, S. 89 – 101. 128. (Gemeinsam mit Ursula Seelhorst), Zum Wohnsitz als Voraussetzung des aktiven und passiven Wahlrechts, in: Thüringer Verwaltungsblätter, 1998, 49 – 52. 129. (Gemeinsam mit Gernot Sydow und Susanne Graf), Gutachtliche Stellungnahme für die Enquete-Kommission „Rechtliche und materielle Sicherstellung der Ausübung des Landtagsabgeordnetenmandats“; Landtag von Sachsen-Anhalt, Drs. 2/4631 vom 18. 2. 1998, S. 16 – 23 sowie Anlage 1 (27 S.). 130. Der Konstitutionalismus des Vormärz als Verfassungsbewegung, in: Der Staat 37 (1998), 165 – 188. 131. Zu den Voraussetzungen des freiheitlichen, säkularen Staates, in: Brugger/Huster (Hg.), Der Streit um das Kreuz in der Schule, 1998, S. 277 – 295. 132. Allemagne, in: Pantélis/Koutsoubinas (Hg.), Les régimes électoraux des pays de l’union européene, 1998, S. 21 – 49. 133. Zur Legitimität des Verfassungsrichterrechts, in: Guggenberger/Würtenberger (Hg.), Hüter der Verfassung oder Lenker der Politik? Das Bundesverfassungsgericht im Widerstreit, 1998, S. 57 – 80.

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134. Artikel Recht, in: Lexikon der Bioethik, 1998, S. 153 – 161. 135. Rechts- und Verfassungsbewußtsein in Frankreich und in Deutschland, in: Le Forum franco-allemand, numero special mais/juin 1998, S. 147 – 150. 136. Akzeptanz als Leitlinie des Verwaltungsermessens, in: Pichler (Hg.), Rechtsakzeptanz und Handlungsorientierung, 1998, S. 287 – 291. 137. Gemeinschaftsrecht als Akzeptanz-Neuland, in: Pichler (Hg.), Rechtsakzeptanz und Handlungsorientierung, 1998, S. 307 – 312. 138. (Gemeinsam mit Anna-Miria Mühlke), Paulskirche und Grundgesetz, in: Rill (Hg.), 1848. Epochenjahr für Demokratie und Rechtsstaat in Deutschland, 1998, S. 291 – 310. 139. Zeitgeist-Metaphorik und Recht in Frankreich und in Deutschland im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert, in: Jurt/Krumeich/Würtenberger (Hg.), Wandel von Recht und Rechtsbewußtsein in Frankreich und Deutschland, 1999, S. 91 – 106. 140. Der Schutz von Eigentum und Freiheit im ausgehenden 18. Jahrhundert, in: Gose/Würtenberger (Hg.), Zur Ideen- und Rezeptionsgeschichte des Preußischen Allgemeinen Landrechts, 1999, S. 55 – 73. 141. (gemeinsam mit Walter Gose) Vorwort, in: Gose/Würtenberger (Hg.), Zur Ideen- und Rezeptionsgeschichte des Preußischen Allgemeinen Landrechts, 1999, S. 7 – 8. 142. Zehn Thesen zur Reform von Ausbildung, Bildung und Forschung, in: Ritsumeikan Law Review, März 1999, 79 – 87. 143. (Gemeinsam mit Ralf P. Schenke) Der Schutz von Amts- und Berufsgeheimnissen im Recht der polizeilichen Informationserhebung, JZ 1999, 548 – 554. 144. Rechtliche Optimierungsgebote oder Rahmensetzungen für das Verwaltungshandeln?, in: VVDStRL 58 (1999), S. 139 – 176. 145. Umweltschutz und Grundrechtsdogmatik (jap. Fassung), in: Matsumoto (Hg.), Umweltschutz und Recht, 1999, S. 3 – 28. 146. 50 Jahre Grundgesetz, in: Anstösse! Zeitschrift der Jungen Union Südbaden 10 (1999), Nr. 2, S. 4 – 15. 147. (gemeinsam mit Ralf P. Schenke) Das parlamentarische Petitionswesen im demokratischen Rechtsstaat, in: Bockhofer (Hg.), Mit Petitionen Politik verändern, 1999, S. 97 – 107. 148. Massenpetitionen zielen auf politische Kontrolle, in: Bockhofer (Hg.), Mit Petitionen Politik verändern, 1999, S. 169 – 177. 149. (gemeinsam mit Gernot Sydow) Die Universität Freiburg nach 1945: Bildungsideal und Grundordnung, in: Freiburger Universitätsblätter, Heft 145, September 1999, S. 45 – 56. 150. Der kommunale Finanzausgleich – politisch entschieden oder verfassungsrechtlich determiniert?, in: Isensee/Lecheler (Hg.), Freiheit und Eigentum, FS für Walter Leisner, 1999, S. 973 – 987. 151. La voie des nouveaux Länder vers des constitutions démocratiques, in: Arsac/Chabot/Pollard (Hg.), État de Droit, droits fondamentaux et diversité culturelle, Paris/Montréal, 1999, S. 47 – 61. 152. Einführung, in: Landeszentrale für politische Bildung Thüringen (Hg.), Verfassung des Freistaats Thüringen und Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (3. Aufl. 1999), S. 5 – 35. 153. Zu den Wurzeln des Rechtsstaates in Deutschland, in: Rill (Hg.), Fünfzig Jahre freiheitlichdemokratischer Rechtsstaat, 1999, S. 15 – 35.

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154. Die Akzeptanz von Gesetzen, in: Soziale Integration, Sonderheft 39 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 1999, S. 380 – 397. 155. (gemeinsam mit Michael Fehling) Zur Verfassungswidrigkeit des Curricularnormwertes für das Fach Rechtswissenschaft, JZ 2000, S. 173 – 179. 156. Umweltschutz und Grundrechtsdogmatik, in: Leipold (Hg.), Umweltschutz und Recht in Deutschland und Japan, Freiburger Rechts- und Staatswissenschaftliche Abhandlungen Bd. 65, 2000, S. 3 – 18. 157. Grußwort, in: Konrad Hesse. Akademische Feier zum 80. Geburtstag, dokumentiert von Peter Häberle und Alexander Hollerbach, C.F. Müller, 2000, S. 21 – 23. 158. Zivilcourage gegen Zeitgeist, in: Meiche/Geiger (Hg.), Anstiftung zur Zivilcourage, 2000, S. 54 – 66. 159. Polizei- und Ordnungsrecht, in: Achterberg/Püttner/Würtenberger (Hg.), Besonderes Verwaltungsrecht Bd. II, 2. Aufl. 2000, S. 381 – 534. 160. Von der Verantwortung des Juristen für das Recht, in: Politik und Verantwortung, Festgabe für W. Jäger, 2000, S. 446 – 452. 161. Auslegung von Verfassungsrecht – realistisch betrachtet, in: Verfassung – Philosophie – Kirche, Festschrift für Alexander Hollerbach zum 70. Geburtstag, 2001, S. 223 – 241. 162. (gemeinsam mit Gernot Sydow) Versailles und das Völkerrecht, in: Gerd Krumeich (Hg.), Versailles 1919: Ziele – Wirkung – Wahrnehmung, 2001, S. 35 – 52. 163. Auf dem Weg zu lokaler und regionaler Autonomie in Europa, in: Festschrift für Hartmut Maurer, 2001, S. 1053 – 1066. 164. Freiheit und Sicherheit – Die Grenzen der Persönlichkeitsentfaltung, in: Bernd Rill (Hg.), Grundrechte – Grundpflichten: Eine untrennbare Verbindung, 2001, S. 15 – 26. 165. Preußens Bedeutung für die Entwicklung des Rechtsstaates in Deutschland, in: Politische Studien, Heft 377, 2001, S. 39 – 50. 166. Entwicklungstendenzen des Parlamentarismus in Europa (ukrainisch), in: Verkovna Rada (Hg.), Parlamentarismus in der Ukraine: Theorie und Praxis, Kiew 2001, S. 45 – 55. 167. L’État de droit avant l’„État de droit“, in: O. Jouanjan (Hg.), Figures de l’État de droit, Strasbourg 2001, S. 79 – 100. 168. Einführung, in: Landeszentrale für politische Bildung Thüringen (Hg.), Verfassung des Freistaates Thüringen und Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland (5. Aufl. 2001), S. 5 – 36. 169. Die Akzeptanz von Gerichtsentscheidungen, in: Hof/Schulte (Hg.), Wirkungsforschung zum Recht III, 2001, S. 201 – 210. 170. Historische Grundlagen und Entwicklungstendenzen der Organisationsprinzipien des europäischen parlamentarischen Systems, in: Kasimatis (Hg.), 150 Jahre Griechisches Parlament, 2000, S. 63 – 83. 171. Artikel Legalität, Legitimität, in: Evangelisches Soziallexikon, 2001, Sp. 945 – 947. 172. Artikel Gewaltenteilung, in: Evangelisches Soziallexikon, 2001, Sp. 607 – 609. 173. (gemeinsam mit Gernot Sydow) Die nachträgliche Anordnung der Sicherungsverwahrung, NVwZ 2001, 1201 – 1208. 174. Konvergenzen oder Dominanz nationaler Rechtstraditionen in Deutschland und Frankreich?, in: Frankreich-Jahrbuch 2001, S. 151 – 170.

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175. History and Legitimation of the Decentralised State, in: Morgos/Würtenberger (Hg.), Ukrainian – Eurpean International and Comparative Law Journal, Vol 2, Nr. 2, Winter 2001, S. 9 – 15; 2. Aufl. 2005, S. 13 – 20 (in ukrainisch), wieder abgedruckt in: M. Puchtinsky (Hg.), Probleme der Umwandlung der territorialen Staatsorganisation, Kiew 2005, S. 488 – 498 (in ukrainisch). 176. Regional Policy in the European Union, in: Morgos/Würtenberger (Hg.), Ukrainian – European International and Comparative Law Journal, Vol 2, Nr. 2, Winter 2001, S. 89 – 90; erweiterte Fassung in urkainisch in der 2. Aufl. 2005, S. 91 – 94, wieder abgedruckt in: M. Puchtinsky (Hg.), Probleme der Umwandlung der territorialen Staatsorganisation, Kiew 2005, S. 498 – 503 (in ukrainisch). 177. Staat und Glück: Die politische Dimension des Wohlfahrtsstaates, in: M. Rehbinder/M. Usteri (Hg.), Glück als Ziel der Rechtspolitik, 2002, S. 233 – 243. 178. Artikel Gleichheit in: Lexikon der Christlichen Demokratie in Deutschland, 2002, S. 555 – 556. 179. Artikel Rechtspolitik, in: Lexikon der Christlichen Demokratie in Deutschland, 2002, S. 627 – 629. 180. Die rechtsprechende Gewalt – ökonomisch betrachtet, in: Eberle/Ibler/Lorenz (Hg.), Der Wandel des Staates vor den Herausforderungen der Gegenwart. Festschrift für Winfried Brohm, 2002, S. 631 – 644. 181. (gemeinsam mit Dominique Jeannerod) Vertrauen in den Gesetzgeber in Frankreich und in Deutschland, in: Würtenberger/Tscheulin/Usunier/Jeannerod/Davoine (Hg), Wahrnehmungs- und Betätigungsformen des Vertrauens im deutsch-französischen Vergleich, 2002, S. 153 – 170. 182. Die Verfassung als Gegenstand politischer Symbolik im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert, in: Becker/Hilty/Stöckli/Würtenberger (Hg.), Recht im Wandel seines sozialen und technologischen Umfeldes, Festschrift für Manfred Rehbinder, 2002, S. 617 – 632. 183. Subsidiarität als verfassungsrechtliches Auslegungsprinzip, in: Blickle/Hüglin/Wyduckel (Hg.), Subsidiarität als rechtliches und politisches Ordnungsprinzip, 2002, S. 199 – 212. 184. L’autonomie locale et régionale, principe directeur du droit constitutionnel en Europe, in: Amato/Braibant/Venizelos (Hg.), The Constitutional Revision in today’s Europe, 2002, S. 157 – 171; wieder abgedruckt in: Anuario iberico-americano de Justicia Constitucional, 9 (2005), S. 607 – 619. 185. Wandel des Rechts in der Informationsgesellschaft, in: Leipold (Hg.), Rechtsfragen des Internet und der Informationsgesellschaft, 2002, S. 3 – 19. 186. (gemeinsam mit Ralf P. Schenke) Der Schutz von Vertrauensverhältnissen im Polizeirecht der Länder, in: J. Wolter / W.-R. Schenke (Hg.), Zeugnisverweigerungsrechte bei (verdeckten) Ermittlungsmaßnahmen, 2002, S. 303 – 323. 187. Interpretación del derecho constitucional (desde una perspectiva realista), in: Anuario iberoamericano de justicia constitucional, 2002, S. 601 – 620 sowie in: Eduardo Ferrer MacGregor (Hg.), Interpretación constitucional, Mexico 2005, Bd. II, S. 1369 – 1390. 188. Wandel des Rechts in der Informationsgesellschaft (jap.), in: H. Matsumoto/Satoshi Nishitani/Kenichi Moriya (Hg.), Internet und Informationsgesellschaft und Recht (jap.), Tokyo 2002, S. 3 – 28. 189. L’autonomie locale et régionale, principe directeur du droit constitutionnel en Europe, Revue belge de droit constitutionnel, 2002, S. 499 – 511.

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190. (gemeinsam mit Gernot Sydow) Administration électronique et protection de la vie privée en Allemagne, in: L’administration électronique au service des citoyens, Actes du colloque organisé à Paris les 21 et 22 janvier 2002 par le Conseil d’Etat et l’Université Paris I / Panthéon Sorbonne, 2003, S. 361 – 372 (englische Fassung e Government and the protection of privacy in Germany, in: e Government for the benefit of citizens, ed. by Chatillon and de Marais, 2004, S. 345 – 356). 191. Reinhold Zippelius zum 75. Geburtstag, NJW 2003, 1503. 192. Forschung nur noch in der „Freizeit“?, Forschung & Lehre 2003, S. 478 – 480. 193. Übermittlung und Verwendung strafprozessual erhobener Daten für präventivpolizeiliche Zwecke, in: Wolter u. a. (Hg.), Datenübermittlung und Vorermittlungen, 2003, S. 263 – 274. 194. Auf dem Weg zu einem europäischen parlamentarischen System, in: Francisco Fernández Segado (Hg.), The Spanish Constitution in the European Constitutional Context, 2003, S. 237 – 256. 195. Von der Aufklärung zum Vormärz, in: Detlef Merten/Hans-Jürgen Papier (Hg.), Handbuch der Grundrechte, Bd. I, 2003, S. 49 – 96. 196. Akzeptanzmanagement von Verwaltungsentscheidungen mittels Mediation, in: Sascha Ferz/Johannes W. Pichler (Hg.), Mediation im öffentlichen Bereich, 2003, S. 31 – 49. 197. Einführung in: Landeszentrale für politische Bildung Thüringen (Hg.), Verfassung des Freistaates Thüringen und Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 6. Aufl. 2004, S. 5 – 39. 198. Die Idee der paktierten Verfassung in der Neuzeit bis zum 19. Jahrhundert, in: Okko Behrends und Christian Starck (Hg.), Gesetz und Vertrag I, 2004, S. 107 – 123. 199. El Bundesrat, un modelo de participación autonómica, in: Homenaje a la Constitución – Lecciones magistrales en el Parlamento de Andalucía, Serie Actas, Número 1, 2004, S. 263 – 282. 200. Das Verhältnis zwischen Verwaltungsprozeßrecht und Verwaltungsverfahrensrecht, in: Seoul Law Journal XLV, No. 1, 2004, S. 363 – 384. 201. Grundgesetz und Verfassungstradition, in: Essays in Honour of Georgios I. Kassimatis, 2004, S. 323 – 342. 202. The Role of Legal Methodology in a Law-Based Democracy, in: Ukrainian Law Review, Issue 6 (11), 2004, S. 5 – 11 (moldavische Übersetzung in: Revista nationale de drebt, Nr. 5, 2005, S. 33 – 41). 203. (gemeinsam mit Ralf P. Schenke) Current Trends in German Legal Methodology, in: Ukrainian Law Review, Issue 7 (12), 2004, S. 3 – 11. 204. Artikel Pluralismus, Ergänzbares Lexikon des Rechts, 5/550, Febr. 2005, 5 S. 205. Staatszielbestimmungen, Verfassungsaufträge, Ergänzbares Lexikon des Rechts, 5/720, Febr. 2005, 9 S. 206. Die Verfassungssymbolik der Revolution von 1848/49 im deutsch-französischen Vergleich, in: Intellektuelle Redlichkeit – Intégrité intellectuelle, FS für Joseph Jurt, 2005, S. 627 – 638. 207. Manfred Rehbinder 70 Jahre alt, Freiburger Universitätsblätter, H. 167 (2005), S. 100. 208. In memoriam Konrad Hesse, Freiburger Universitätsblätter, Heft 169, September 2005, S. 90 – 91.

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209. Theorie und Praxis des pluralistischen Staates, in: Venizelos/Pantélis (Hg.), Civilisations and Public Law, London 2005, S. 49 – 66; japanische Übersetzung in: Verbände, Organisationen und Recht. Japanisch-deutsches Symposium. Osaka 2005, Tokio 2006, S. 3 – 25. 210. New Development of Legal Methodology, in: Archives for legal Philosophy and Sociology of Law, Peking, 2005, S. 16 – 33 (in chinesisch). 211. Grundrechtsentwicklung und Konstitutionalismus, in: Jörg Wolff (Hg.), Kultur- und rechtshistorische Wurzeln Europas, Bd. 1, 2005, S. 355 – 372. 212. Statement zur Regionalisierung, in: Puchtinsky (Hg.), Probleme der Dezentralisierung, Kiew 2006, S. 102 – 105 (in ukrainisch). 213. Die Organisation der regionalen Ebene in Deutschland, in: Puchtinsky (Hg.), Probleme der Dezentralisierung, Kiew 2006, S. 264 – 269 (in ukrainisch). 214. Die Akzeptanz von Verwaltungsentscheidungen als verfahrensrechtliches Prinzip in der Europäischen Union, in: Planung-Steuerung-Kontrolle. Festschrift für Richard Bartlsperger, 2006, S. 233 – 245. 215. Die verwaltungsgerichtlichen Klagearten in Deutschland, in: W.-R. Schenke/J. H. Seok (Hg.), Rechtsschutz gegen staatliche Hoheitsakte in Deutschland und Korea, 2006, S. 67 – 80. 216. Die Idee der Freiheit und ihre Sicherung bei Montesquieu, in: E. Klein (Hg.), Gewaltenteilung und Menschenrechte, 2006, S. 15 – 36; 2. Aufl. 2010, S. 17 – 39. 217. Vorwort, in: Th. Würtenberger (Hg.), Rechtsreform in Deutschland und Korea im Vergleich, 2006, S. 5. 218. Schwierigkeiten bei der Transformation einer Rechtsordnung, in: Th. Würtenberger (Hg.), Rechtsreform in Deutschland und Korea im Vergleich, 2006, S. 185 – 195. 219. Gewissen und Recht, in: Maximilian Wallerath (Hg.), Fiat iustitia – Recht als Aufgabe der Vernunft, FS für Peter Krause zum 70. Geburtstag, 2006, S. 427 – 441. 220. Theorie und Praxis des pluralistischen Staates, in: D. Leipold (Hg.), Verbände und Organisationen im japanischen und deutschen Recht, 2006, S. 3 – 23. 221. Verfassungsrecht im Wettbewerb, in: Wirtschaft im offenen Verfassungsstaat, FS für Reiner Schmidt zum 70. Geburtstag, 2006, S. 645 – 658. 222. (gemeinsam mit P. Morgos und Ralf P. Schenke) Überlegungen zur Verfassungsreform in der Ukraine (Typoskript und Paper für die Internationale Konferenz in Kiew vom 28.–29. 6. 2006 zu Fragen der Verfassungsreform und Regionalisierung), 19 Seiten. 223. Zeit und Wissenschaftsfreiheit, in: Festschrift für Manfred Löwisch zum 70. Geburtstag, München 2007, S. 449 – 459. 224. Der Wandel des Hochschulrechts, in: Bernd Martin (Hg.), Festschrift 550 Jahre AlbertLudwigs-Universität Freiburg, Bd. 3, 2007, S. 783 – 798. 225. „Humankapital Hochschullehrer“, in: Forschung und Lehre 2007, S. 398 – 400. 226. Terörün Zorlamasi Kars¸isinda Yeniden S¸ekillenen Polis hukuku ve Güvenlik Hukuku, in: F. Yenisey (Hg.), Polis Vazife Ve Salahiyet Kanunu, Istanbul 2007, S. 49 – 91. 227. Droit provincial général prussien de 1794 (Preußisches allgemeines Landrecht), in: Dictionnaire du monde germanique, Paris 2007, S. 271 – 272. 228. (gemeinsam mit St. Neidhardt), Distance et rapprochement entre le droit administratif allemand et le droit administratif français, in: www.chairemadp.sciences-po.fr/fr/evenements/indere.htm.

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229. Modernisierung des Polizeirechts als Paradigma für die Entwicklung des Rechtsstaates, in: Gedenkschrift für Ferdinand O. Kopp, 2007, S. 427 – 441. 230. Verfassungsänderung und Verfassungswandel: Von der nationalen zu einer globalen Perspektive, in: Festschrift für Detlef Merten, 2007, S. 77 – 90. – Wieder abgedruckt in: R. Wahl (Hg.), Verfassungsänderung, Verfassungswandel, Verfassungsinterpretation, 2008, S. 49 – 63. 231. Zur Geschichte des allgemeinen Wahlrechts in vergleichender Perspektive, in: Festschrift für Hans-Peter Schneider, 2007, S. 537 – 550. 232. Statement: Verfassungsvergleichung und -angleichung in Europa, in: J. Schwarze (Hg.), Rechtseinheit und Rechtsvielfalt in Europa, 2007, S. 151 – 164. 233. Einführung, in: Verfassung des Freistaates Thüringen und Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 8. Aufl. 2008, S. 7 – 44. 234. (gemeinsam mit Stephan Neidhardt) Distanz und Annäherung zwischen deutschem und französischem Verwaltungsrecht im Zeichen europäischer Integration, in: Jürgen Schwarze (Hg.), Bestand und Perspektiven des Europäischen Verwaltungsrechts, 2008, S. 255 – 276 sowie wieder abgedruckt in dem Band L’état actuel et les perspectives du droit administratif européen, 2010, S. 279 – 294. 235. Das Polizei- und Sicherheitsrecht vor den Herausforderungen des Terrorismus, in: J. Masing/O. Jouanjan (Hg.), Terrorismusbekämpfung, Menschenrechtsschutz und Föderation, 2008, S. 27 – 48. 236. Reinhold Zippelius zum 80. Geburtstag, JZ 2008, S. 509 – 510. 237. Neugliederung, in: Isensee/Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. VI, 3. Aufl. 2008, § 132 (S. 413 – 454). 238. Zu den Determinanten des Wandels von Ehe und Familie, in: R. Wahl (Hg.), Verfassungsänderung, Verfassungswandel, Verfassungsinterpretation, 2008, S. 449 – 453. 239. Entwicklungslinien eines transnationalen informationellen Polizeirechts, in: Nach geltendem Verfassungsrecht, FS für Udo Steiner, 2009, S. 948 – 965. 240. Anforderungen des Rechtsstaatsprinzips an die Rechtsordnung, in: Kanzlei des Großen Staatskhurals, Nationales Rechtsinstitut der Mongolei u. a. (Hg.), Konstitutionalismus und das nationale Rechtssystem, 2009, S. 90 – 95. 241. (gemeinsam mit Steffen Tanneberger) Gesellschaftliche Voraussetzungen und Folgen der Technisierung von Sicherheit, in: P. Wintzer u. a. (Hg.), Sicherheitsforschung – Chancen und Perspektiven, 2010, S. 221 – 240. 242. (gemeinsam mit Steffen Tanneberger) Sicherheitsarchitektur als interdisziplinäres Forschungsfeld, in: Riescher (Hg.), Sicherheit und Freiheit statt Terror und Angst, 2010, S. 97 – 125. 243. Grundlagenforschung und Dogmatik aus deutscher Sicht, in: R. Stürner (Hg.), Die Bedeutung der Rechtsdogmatik für die Rechtsentwicklung, 2010, S. 3 – 21. 244. (gemeinsam mit Stefanie Mutschler) Der Vertrag von Prüm, in: Breitenmoser/Gless/Lagodny (Hg.), Schengen und Dublin in der Praxis, Weiterentwicklung der Rechtsgrundlagen, 2010. S. 137 – 154. 245. Sicherheitsarchitektur im Wandel, in: Kugelmann (Hg.), Polizei unter dem Grundgesetz, 2010, S. 73 – 90. 246. Herder, Johann Gottfried (1744 – 1803), in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, 2. Aufl., 12. Lieferung, 2010, Sp. 955 – 959.

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247. (gemeinsam mit Reinhold Zippelius) Historical Foundation and Current Challenges of German Constitutional Order, in: Archives for Legal Philosophy and Sociology of Law, Peking 2010, S. 199 – 215 (chinesische Übersetzung von Zippelius/Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 32. Aufl. 2008, § 1). 248. Einführung, in: Verfassung des Freistaats Thüringen und Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 9. Aufl. 2010, S. 7 – 44. 249. Zur Vereinheitlichung des Sicherheitsrechts in Europa, in: Zoche/Kaufmann/Haverkamp (Hg.), Zivile Sicherheit, 2011, S. 247 – 266. 250. Sicherheitsrecht im deutsch-französischen Vergleich, in: Fehling/Grewlich (Hg.), Struktur und Wandel des Verwaltungsrechts, 2011, S. 133 – 145. 251. (gemeinsam mit Patricia Wiater) Grundzüge der Thüringer Verfassung, in: Karl Schmitt (Hg.), Thüringen. Eine politische Landeskunde, 2. Aufl. 2011, S. 49 – 77. 252. Die Planungsidee in der verfassungsstaatlichen Entwicklung, in: Festschrift für Rainer Wahl, 2011, S. 261 – 279. 253. Resilienz, in: Festschrift für Wolf-Rüdiger Schenke, 2011, S. 563 – 578. 254. Verfassungsänderungen und Verfassungswandel des Grundgesetzes, in: Der Staat, Beiheft 20 „Verfassungsänderungen“, 2012, S. 287 – 305. 255. (gemeinsam mit Christoph Gusy/Hans-Jürgen Lange) Vorwort, in: Würtenberger/Gusy/ Lange (Hg.), Innere Sicherheit im europäischen Vergleich, 2012, S. 1 – 3. 256. Konvergenzen und Divergenzen im Sicherheitsrecht Frankreichs und Deutschlands, in: Würtenberger/Gusy/Lange (Hg.), Innere Sicherheit im europäischen Vergleich, 2012, S. 231 – 243. 257. Entwicklungslinien des Sicherheitsverfassungsrechts, in: Dynamik und Nachhaltigkeit des Öffentlichen Rechts, Festschrift für Meinhard Schröder, 2012, S. 285 – 304. 258. Rechtswissenschaftliche Begleitforschung zur intelligenten Videoüberwachung, Redemanuskript des Vortrags auf dem BMBF-Innovationsforum „Zivile Sicherheit“ (17.–19. April 2012, Berlin), www.bmbf.de/pubRD/B1-I_Wuerttemberger_Redemanu skript.pdf. 259. (gemeinsam mit Steffen Tanneberger) Privatisierung der inneren Sicherheit, in: Hochhuth (Hg.), Rückzug des Staates und Freiheit des Einzelnen. Die Privatisierung existenzieller Infrastrukturen, 2012, S. 47 – 63.

Autorenverzeichnis Prof. Dr. Ivo Appel Professor an der Universität Hamburg Prof. Dr. Richard Bartlsperger em. Professor an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Prof. Dr. Hartmut Bauer Professor an der Universität Potsdam Prof. Dr. Stephan Breitenmoser Professor an der Universität Basel Prof. Dr. Chonko Choi Professor an der National University Seoul Prof. Dr. Benito Aláez Corral Professor an der Universität Oviedo Prof. Dr. Dirk Ehlers Professor an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster Prof. Dr. Christoph Enders Professor an der Universität Leipzig Prof. Dr. Michael Fehling, LL.M. (Berkeley) Professor an der Bucerius Law School, Hamburg Prof. Dr. Wolfgang Frisch em. Professor an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Prof. Dr. Hans-Helmuth Gander Professor an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Prof. Dr. Max-Emanuel Geis Professor an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Prof. Dr. jur. habil. Dr. sc. econ Klaus W. Grewlich, LL.M. (Berkeley) † Professor an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, Hertie School of Governance, Berlin, Botschafter a. D. Bonn

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Autorenverzeichnis

Prof. Dr. Bernd Grzeszick Professor an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Prof. Dr. Jörg Gundel Professor an der Universität Bayreuth Prof. Dr. Christoph Gusy Professor an der Universität Bielefeld Prof. Dr. Dirk Heckmann Professor an der Universität Passau Prof. Dr. Johannes Hellermann Professor an der Universität Bielefeld Prof. Dr. Lic. phil. Erk Volkmar Heyen em. Professor an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald Prof. Dr. Martin Hochhuth Professor an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Prof. Dr. Friedhelm Hufen Professor an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Wolfgang Jäger em. Professor an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Rektor a.D. Prof. Dr. Matthias Jestaedt Professor an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Prof. Dr. Dr. h.c. Joseph Jurt em. Professor an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Prof. Dr. Stefan Kaufmann Professor an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Prof. Dr. Stephan Kirste Professor an der Universität Salzburg Prof. Dr. Michael Kloepfer em. Professor an der Humboldt-Universität zu Berlin Prof. Dr. jur. Ursula Köbl em. Professorin an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Prof. Dr. Peter Krause em. Professor an der Universität Trier

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Prof. Dr. Dieter Kugelmann Professor an der Deutschen Hochschule der Polizei, Münster Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Hans-Heiner Kühne em. Professor an der Universität Trier Prof. Dr. Joachim Lege Professor an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald Prof. Dr. Chien-hung Liu Professor an der National Chung-Cheng Universität, Taiwan Prof. Dr. Dr. h.c. Manfred Löwisch em. Professor an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Prof. Dr. Johannes Masing Professor an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Richter des Bundesverfassungsgerichts Prof. Dr. Hartmut Maurer em. Professor an der Universität Konstanz Prof. Dr. Dr. Detlef Merten em. Professor an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften, Speyer Prof. Dr. Dietrich Murswiek Professor an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Prof. Dr. Johannes W. Pichler Professor an der Karl-Franzens-Universität Graz Prof. Dr. Ralf Poscher Professor an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Prof. Dr. Manfred Rehbinder em. Professor an der Universität Zürich Prof. Dr. Franz Reimer Professor an der Justus-Liebig-Universität Gießen Prof. Dr. Gisela Riescher Professorin an der Universität Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Prof. Dr. Ulrich Rommelfanger (D.I.A.P., Paris) Professor an der Hochschule für Polizei, Sachsen, Fachanwalt Verwaltungsrecht Wiesbaden/Hanau

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Prof. Dr. Michael Ronellenfitsch Professor an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen Prof. Dr. Ralf P. Schenke Professor an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg Prof. Dr. Wolf-Rüdiger Schenke em. Professor an der Universität Mannheim Prof. Dr. Reiner Schmidt em. Professor an der Universität Augsburg Prof. Dr. Jens-Peter Schneider Professor an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Prof. Dr. Dr. h.c. Hans-Peter Schneider em. Professor an der Universität Hannover Prof. Dr. Friedrich Schoch Professor an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Prof. Dr. Meinhard Schröder em. Professor an der Universität Trier Prof. Dr. Dr. h.c. Jürgen Schwarze em. Professor an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Prof. Dr. Indra Spiecker genannt Döhmann, LL.M. (Georgetown) Professorin an der Universität Karlsruhe Prof. Dr. Christian Starck em. Professor an der Georg-August-Universität Göttingen Prof. Dr. Rudolf Steinberg em. Professor an der Goethe-Universität Frankfurt am Main, Universitätspräsident a.D. Prof. Dr. Udo Steiner em. Professor an der Universität Regensburg, Richter des Bundesverfassungsgerichts a.D. Prof. Dr. Dr. h.c. Rolf Stürner Professor an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Prof. Dr. Gernot Sydow, M.A. Professor an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Bischöfliches Ordinariat Limburg Prof. Dr. Arnd Uhle Professor an der Technischen Universität Dresden

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Prof. Dr. Silja Vöneky Professorin an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg PD Dr. Ulrich Vosgerau Privatdozent an der Universität zu Köln Prof. Dr. Andreas Voßkuhle Professor an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Präsident des Bundesverfassungsgerichts Prof. Dr. Rainer Wahl em. Professor an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg Prof. Dr. Rudolf Wendt Professor an der Universität des Saarlandes Julian Würtenberger Regierungspräsident des Regierungsbezirks Freiburg a. D. Dr. Thomas Würtenberger, LL.M. (Vanderbilt) Oppenländer Rechtsanwälte, Stuttgart Prof. Dr. Dieter Wyduckel em. Professor an der Technischen Universität Dresden Prof. Dr. Feridun Yenisey em. Professor an der Bahçes¸ehir Universität Istanbul Prof. Dr. Dr. h.c. Reinhold Zippelius em. Professor an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg