Am 27. Januar 2013 feiert Prof. Dr. jur. Thomas Würtenberger seinen 70. Geburtstag. Den Grundstein seiner wissenschaftli
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German Pages 1278 Year 2013
Verfassungsstaatlichkeit im Wandel Festschrift für Thomas Würtenberger zum 70. Geburtstag
Herausgegeben von Dirk Heckmann Ralf P. Schenke Gernot Sydow
Duncker & Humblot · Berlin
Verfassungsstaatlichkeit im Wandel Festschrift für Thomas Würtenberger zum 70. Geburtstag
Verfassungsstaatlichkeit im Wandel Festschrift für Thomas Würtenberger zum 70. Geburtstag
Herausgegeben von Dirk Heckmann Ralf P. Schenke Gernot Sydow
Duncker & Humblot · Berlin
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Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2013 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Konrad Triltsch GmbH, Ochsenfurt Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Berlin Printed in Germany ISBN 978-3-428-13918-7 (Print) ISBN 978-3-428-53918-5 (E-Book) ISBN 978-3-428-83918-6 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
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Vorwort Am 27. 1. 2013 feiert Thomas Wîrtenberger seinen 70. Geburtstag. Ihm zu diesem Anlass eine Festschrift zu widmen und damit einen Rechtswissenschaftler zu ehren, der sowohl dem ©ffentlichen Recht, aber auch den Grundlagenfchern viel gegeben hat, war uns als seinen Schîlern eine Herzensangelegenheit. Aber auch wer eingeladen wurde, an der Festschrift mitzuwirken, befand sich in einer angenehmen Position: Das wissenschaftliche Werk des Jubilars weist so ungewçhnlich viele Facetten auf, dass es denkbar leicht fllt, einen Bezug zu eigenen Arbeiten herzustellen. Dies gilt umso mehr, als Thomas Wîrtenberger den rechtswissenschaftlichen Diskurs nicht selten durch eigene Begriffe (mit-)geprgt hat, wobei beispielhaft fîr viele andere nur an die Akzeptanz des Verwaltungshandelns, die Normerlassklage, Zeitgeist und Recht oder die Resilienz erinnert sei. Thomas Wîrtenberger wurde 1971 mit einer Dissertation îber „Die Legitimitt staatlicher Herrschaft“ promoviert, die Konrad Hesse betreut hat und die zugleich das Fundament fîr die rechts- und ideengeschichtliche Tiefe gelegt hat, die alle seine spteren Arbeiten auszeichnet. In seiner Geburtsstadt Erlangen war er 1972 bis 1978 Wissenschaftlicher Assistent von Reinhold Zippelius am Institut fîr Rechtsphilosophie und Allgemeine Staatslehre. In dieser Zeit hat er sich mit einer Arbeit îber „Staatsrechtliche Probleme politischer Planung“ fîr die Fcher Staats- und Verwaltungsrecht, Verfassungsgeschichte und Verwaltungswissenschaft habilitiert. Bereits 1979 wurde er an der Universitt Augsburg zum Professor fîr ©ffentliches Recht ernannt, 1981 auf einen Lehrstuhl fîr ©ffentliches Recht, Verwaltungswissenschaft, Staatsphilosophie und Verfassungsgeschichte an der Universitt Trier berufen. Einen Ruf an die Universitt Regensburg lehnte er ab, nahm hingegen den 1987 erteilten Ruf auf die Nachfolge Hesse nach Freiburg an. Seit 1988 hatte er dort den Lehrstuhl fîr Staats- und Verwaltungsrecht inne, der mit der Funktion eines Direktors des Instituts fîr ©ffentliches Recht verbunden war. Der Universitt Freiburg ist er trotz eines weiteren, ehrenvollen Rufes an die Universitt zu Kçln treu geblieben. Seit seiner Emeritierung leitet er die çffentlich-rechtliche Abteilung der Freiburger Forschungsstelle fîr Hochschulrecht und Hochschularbeitsrecht. Die Bezeichnung seines frîheren Lehrstuhls an der Universitt Trier hatte bereits vier Arbeitsbereiche explizit hervorgehoben: ©ffentliches Recht, Verwaltungswissenschaft, Staatsphilosophie und Verfassungsgeschichte. Auch diese Aufzhlung deutet die Breite des wissenschaftlichen Arbeitens von Thomas Wîrtenberger nur an, ohne sie zu erschçpfen: Das ©ffentliche Recht hat er breit ausgefchert bearbeitet, vor allem im Staatsrecht, im Recht der Inneren Sicherheit, im Hochschulrecht sowie im Verfahrens- und Prozessrecht. ber das deutsche ©ffentliche Recht hinaus
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Vorwort
galt und gilt sein Interesse der Verfassungsvergleichung und der Freiheits- und Verfassungssymbolik. Monographische Studien hat er unter der Fragestellung von „Zeitgeist und Recht“ und zur „Akzeptanz von Verwaltungsentscheidungen“ vorgelegt. Auf der Tagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer referierte er 1998 zum Thema „Rechtliche Optimierungsgebote oder Rahmensetzungen fîr das Verwaltungshandeln?“. In den vergangenen Jahren lag einer seiner Forschungsschwerpunkte auf dem Sicherheitsrecht, was sich auch in zahlreichen Beitrgen in dieser Festschrift widerspiegelt. Eine Generation von Studenten hat Thomas Wîrtenberger durch seine Lehrbîcher geprgt: ein in drei Auflagen erschienenes Lehrbuch „Verwaltungsprozessrecht“, ergnzt um einen ebenfalls in drei Auflagen verlegten Band „Verwaltungsprozessrecht“ in der Reihe „Prîfe Dein Wissen“; eine Darstellung des „Polizeirechts in Baden-Wîrttenberg“ in sechs Auflagen; mehrere Neuauflagen und Bearbeitungen der „Einfîhrung in das juristische Denken“ von Karl Engisch; schließlich das von Theodor Maunz begrîndete und von Reinhold Zippelius fortgefîhrte Studienbuch „Deutsches Staatsrecht“, das er in zwei Neuauflagen zu einem eigenen Werk fortentwickelt hat. In den ersten Augsburger Jahren gehçrte auch die Vorlesung Europarecht zu seinen Lehrverpflichtungen. Die europarechtlichen Bezîge der von ihm bearbeiteten Rechtsgebiete hat er stets im Blick behalten. Mehr noch als die Auslegung einzelner Richtlinien und Verordnungen aussagen kann, hat er in einer Tiefendimension zum Verstndnis der europischen Einigung beigetragen und sich als ein weltoffener Europer erwiesen. Schon in seinem Studium gehçrte neben Freiburg und Berlin auch Genf zu seinen Studienorten. Im Anschluss an die juristischen Staatsexamina verbrachte er ein Jahr als Stipendiat an der Êcole nationale dÏadministration in Paris und hat so die Grundlage fîr eine intime Kenntnis der franzçsischen Rechtsordnung gelegt. Die Verfassungsgeschichte hat er in einer europischen Dimension betrieben, die Verfassungs- und Freiheitssymbolik Frankreichs auch einem deutschen Leserkreis erschlossen. Als Gastprofessor hielt er Vorlesungen an den Universitten Paris I (Sorbonne), Straßburg, Lausanne und Istanbul (BahÅes¸ehir). Immer wieder hat er junge Wissenschaftler aus dem Ausland an seinen Lehrstuhl geholt und ihnen die Mçglichkeit geboten, sich mit deutscher Rechtsdogmatik vertraut zu machen. Zahlreiche Kontakte unterhielt er insbesondere in den asiatischen Rechtsraum, besondere Erwhnung verdient aber auch sein selbstloses Engagement fîr die Transformationsstaaten Osteuropas. ber viele Jahre hinweg war er Rechtsberater des Rektors der Universitt Freiburg und hat îber seine Teilnahme an den Rektorats- und Senatssitzungen die Entwicklung der Universitt mitgeprgt. Mehrere Jahre gehçrte er dem Vorstand des Frankreichzentrums der Universitt Freiburg an. Thomas Wîrtenberger kennzeichnen eine bildungsbîrgerliche Weltlufigkeit und ein waches Interesse an den Prgungen und Sichtweisen anderer. Sein Lehrstuhl – wie sein Haus in der Freiburger Wiehre – wurden so zu einem idealen Ort des wis-
Vorwort
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senschaftlichen Austausches, sei es mit Fachkollegen aus Ostasien, sei es mit Humboldt-Stipendiaten und anderen auslndischen Nachwuchswissenschaftlern, sei es mit Studenten, denen er und seine Frau im Anschluss an die schon legendren Seminarveranstaltungen ebenso oft ihre Gastfreundschaft haben zuteil werden lassen. Zeugnis von seiner Fhigkeit, andere fîr die wissenschaftliche Arbeit zu begeistern, gibt nicht zuletzt die hohe Zahl seiner Doktoranden. Weit îber 90 Dissertationen hat er betreut und drei Schîler zur Habilitation gefîhrt. Wer Thomas Wîrtenberger kennt, weiß genau, dass er an seinem 70. Geburtstag nur einen Moment innehalten wird, um dann seine wissenschaftliche Arbeit mit ungebremstem Eifer und Begeisterung fortzusetzen. Hierzu wînschen wir ihm alles Gute und freuen uns schon jetzt auf die Denkanstçße und Impulse, die hiervon auch in Zukunft ausgehen werden. Dirk Heckmann
Ralf P. Schenke
Gernot Sydow
Inhaltsverzeichnis
I. Methodenlehre, Rechtsphilosophie, Rechtssymbolik Chongko Choi Staats- und Rechtssymbolik in geteilten Staaten: Ehemaliges Deutschland und Korea . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Dirk Heckmann Cloud Computing im Zeitgeist. Juristische Hürden, rechtspolitische Unwägbarkeiten, unternehmerische Gestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Erk Volkmar Heyen Verfassungswandel im Bild: Werner Tübkes „Herbst ’89“ . . . . . . . . . . . . . . . .
43
Martin Hochhuth Die Aufgaben der Moderne und der Stachel der Postmoderne . . . . . . . . . . . . .
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Joseph Jurt Die Nationalsymbole in Brasilien: Vom Kaiserreich zur Republik . . . . . . . . . .
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Stephan Kirste Kairós – Zeitgeist – Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
103
Rudolf Wendt Verfassungsorientierte Gesetzesauslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
123
Reinhold Zippelius Probleme der Rechtsfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Staatslehre, Verfassungsgeschichte, Politikwissenschaft Richard Bartlsperger Der Verfassungsstaat als Staatsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis
Bernd Grzeszick Pluralismus und Föderalismus in der deutschen Staatslehre an der Wende zum 20. Jahrhundert. Zum möglichen Ertrag verfassungshistorischer Vergleiche für Fragen der europäischen Integration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
193
Wolfgang Jäger Die Bundesversammlung – Ein unterschätztes Verfassungsorgan . . . . . . . . . . .
213
Matthias Jestaedt Verfassungstheorie als Referenz für Verfassungsanwendung, Verfassungsänderung und Verfassunggebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
221
Peter Krause Warum haben wir ein öffentliches Recht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
235
Joachim Lege „Die richtige Meinung vom Schrecklichen“. Platon über das Staats- und Verwaltungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
271
Hans-Peter Schneider Staatszielbestimmungen und Lebensordnungen. Zur Entstehung der Verfassung des Freistaats Thüringen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
281
Christian Starck Die Entwicklung der Sozialversicherungsgesetzgebung in Deutschland und die europäische Sozialunion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
293
Rudolf Steinberg Das Volk und Gegenstände und Formen direkter Demokratie . . . . . . . . . . . . . .
305
Dieter Wyduckel Gemeinschaft, Recht und Souveränität in der Politischen Theorie des Johannes Althusius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
323
III. Akzeptanzforschung und Mentalitätsgeschichte Ivo Appel Frühe Bürgerbeteiligung und Vorhabenakzeptanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
341
Johannes Masing Die deutsche Polenbegeisterung der Jahre 1830 bis 1832 . . . . . . . . . . . . . . . . .
359
Ulrich Rommelfanger Akzeptanz und Legitimität parlamentarischer Entscheidungen. Erforderlichkeit einer Neujustierung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis
XI
Reiner Schmidt Anmerkungen zur Akzeptanz von Gesetzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
397
Jens-Peter Schneider Akzeptanz für Energieleitungen durch Planungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . .
411
IV. Europarecht, internationales, ausländisches Recht Stephan Breitenmoser Art. 6 EMRK und Art. 47 GRC in Verfahren der internationalen Amts- und Rechtshilfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
425
Benito Aláez Corral Ciudadanía democrática en la constitución española de 1978: Entre la potenciación y la limitación del ejercicio multicultural de los derechos fundamentales. Demokratische Staatsbürgerschaft in der spanischen Verfassung von 1978: Zwischen Förderung und Einschränkung der multikulturellen Ausübung der Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
449
Klaus W. Grewlich „Governance“ und europäisches Regulierungsrecht in Netzwerkindustrien . . .
479
Jörg Gundel Die Stellung des Europäischen Bürgerbeauftragten im Rechtsschutzsystem der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
497
Dieter Kugelmann Datenschutz in der europäischen Innenpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
517
Chien-hung Liu Die Entwicklung des Widerspruchsverfahrens in Taiwan . . . . . . . . . . . . . . . . .
533
Johannes W. Pichler Europas Identität im Selbstbestimmungsrecht. Eine Behauptung . . . . . . . . . . .
545
Gernot Sydow Die britische Verfassung im Stadium der Präkodifikation . . . . . . . . . . . . . . . . .
575
Silja Vöneky Rechtlich begrenzte Zukunftsforschung? Die Totalsequenzierung des menschlichen Genoms aus der Perspektive des internationalen und nationalen Rechts
591
Ulrich Vosgerau Die Mobilisierung der Verbände zur Durchsetzung des Europarechts . . . . . . . .
609
XII
Inhaltsverzeichnis
Feridun Yenisey Die Videoüberwachung des öffentlichen Raumes in der Türkei . . . . . . . . . . . .
629
V. Grundrechte, Staatsrecht Hartmut Bauer Demokratisch inspirierte Petitionsrechtsmodernisierungen. Zugleich ein Beitrag zur Elektronisierung des Petitionswesens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
639
Christoph Enders Grundrechtseingriffe durch Datenerhebung? Am Beispiel der Videobeobachtung insbesondere von Versammlungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
655
Michael Fehling Mittelbare Diskriminierung und Art. 3 (Abs. 3) GG: Vom europäischen Recht lernen!? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
669
Michael Kloepfer Laufzeitverlängerung bei Kernkraftwerken und Bundesratszustimmung. Zur Frage der Zustimmungsbedürftigkeit des 11. Änderungsgesetzes zum AtG . . .
689
Ursula Köbl Von der Gleichstellung nichtehelicher Kinder zur Gleichstellung nichtverehelichter Eltern im Unterhalts- und Rentenrecht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
707
Heiner Kühne Zeitgeist und Menschenrechte – Das Beispiel der Diskussion um die Folter . .
725
Hartmut Maurer Volksabstimmung und Volksgesetzgebung in Baden-Württemberg . . . . . . . . . .
731
Detlef Merten Die Landrechts-Freiheiten als Schritt auf dem Weg in den grundrechtsgeprägten Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
757
Dietrich Murswiek Der Umgang mit verfassungswidrigen Vereinigungen nach dem Grundgesetz
775
Meinhard Schröder Varianten, Ausmaß und Stil der Änderungen des Grundgesetzes . . . . . . . . . . .
791
Indra Spiecker gen. Döhmann Die Online-Durchsuchung als Instrument der Sicherheitsgewährleistung . . . . .
803
Inhaltsverzeichnis
XIII
Rainer Wahl Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit: Ausgangslage und Gegenwartsproblematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
823
Thomas Würtenberger Eigentumsschutz im Rahmen von Politikänderungen – am Beispiel von § 29 Abs. 4 des Ersten GlüÄndStV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
855
VI. Prozessrecht Friedhelm Hufen Eine Brücke über die Lücke: Die Normerlassklage im System verwaltungsgerichtlicher Klagearten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
873
Michael Ronellenfitsch Zum ausgewogenen vorläufigen Rechtsschutz bei Fernstraßenprojekten . . . . .
883
Friedrich Schoch Das gerichtliche „in camera“-Verfahren im Informationsfreiheitsrecht . . . . . . .
893
Udo Steiner Der sog. funktionslose Bebauungsplan im Rechtsschutzkonzept des § 47 VwGO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
911
Rolf Stürner Europäisches und US-amerikanisches Grundverständnis der Verfahrensöffentlichkeit im Zivilprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
921
Arnd Uhle Das Recht auf wirkungsvollen Rechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
935
VII. Sicherheitsrecht und Sicherheitsforschung Wolfgang Frisch Das Bundesverfassungsgericht und die Sicherungsverwahrung . . . . . . . . . . . . .
959
Hans-Helmuth Gander Das Verlangen nach Sicherheit. Anthropologische Befunde . . . . . . . . . . . . . . .
983
Christoph Gusy Resilient Societies. Staatliche Katastrophenschutzverantwortung und Selbsthilfefähigkeit der Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis
Stefan Kaufmann Die Stadt im Zeichen ziviler Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1011 Ralf Poscher Öffentliche Ordnung und Grundgesetz. Zur verfassungsrechtlichen Einhegung eines rechtsstaatlichen Risikos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1029 Franz Reimer „… einfach wieder die Folgerungsweise des Polizeistaates“. Zur Unterscheidung von Aufgaben und Befugnissen im Polizeirecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1047 Gisela Riescher Resilienz: Demokratietheoretische Überlegungen zu einem neuen Sicherheitskonzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1067 Ralf P. Schenke Konstitutionalisierung: Vorbild für die Europäisierung des Sicherheitsrechts?
1079
Andreas Voßkuhle Das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit – Hat der 11. September 2001 das deutsche Verfassungsrecht verändert? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1101
VIII. Verwaltungsrecht, Planungsrecht, Hochschulrecht Dirk Ehlers Die Geltungsdauer von Planfeststellungsbeschlüssen und Plangenehmigungen 1123 Max-Emanuel Geis Die Verfasste Studierendenschaft – eine unendliche Geschichte . . . . . . . . . . . . 1137 Johannes Hellermann Städtische Kulturarbeit – eine Pflichtaufgabe auch unter den Bedingungen leerer Kassen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1147 Manfred Löwisch Tarifverträge für das Hochschulpersonal. Zum Verhältnis von Koalitionsfreiheit, Wissenschaftsfreiheit und staatlichem Organisationsrecht . . . . . . . . . . . . . 1165 Manfred Rehbinder Von der gerätebezogenen Rundfunkgebühr zum geräteunabhängigen Rundfunkbeitrag. Zum Wechsel im Finanzierungssystem des öffentlich-rechtlichen Rundfunks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1177
Inhaltsverzeichnis
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Wolf-Rüdiger Schenke Die maßgebliche Sach- und Rechtslage bei einer Entscheidung der Widerspruchsbehörde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1185 Jürgen Schwarze Die Rechtsprechung des EuGH zur Relevanz von Fehlern im Verwaltungsverfahren. Zugleich eine Anmerkung zur Entscheidung des EuGH vom 25. 10. 2011 in der Rechtssache C-110/10 P, Solvay SA/Kommission . . . . . . . . . . . . . 1203 Julian Würtenberger Strategische Steuerung in staatlichen Mittelbehörden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1219 Schriftenverzeichnis Prof. Dr. Thomas Würtenberger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1239 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1255
I. Methodenlehre, Rechtsphilosophie, Rechtssymbolik
Staats- und Rechtssymbolik in geteilten Staaten: Ehemaliges Deutschland und Korea Von Chongko Choi, Seoul Die Angelegenheiten von Staat und Recht werden nicht immer ausschließlich über das Medium der Schrift repräsentiert, denn das menschliche Auge verlangt auch nach etwas Anschaulicherem. Daher wurden Staat und Recht manchmal auch durch die Werke von Malern und Bildhauern veranschaulicht. Dies nennt man die Staats- und Rechtssymbolik.1 Ich habe mich für dieses Forschungsgebiet, das ich auch mein Hobby nennen kann, schon seit langem interessiert. Für mich war dabei das Jahr 1995 wichtig und bedeutsam. Damals zog der Oberste Gerichtshof Koreas in das gegenwärtige Justizgebäude um. Dabei mussten einige Justizsymbole aufgebaut bzw. installiert werden. Weil niemand in Korea über dieses Gebiet geforscht hatte, musste ich schnell ausländische Beispiele hierüber sammeln und publizierte das Buch Recht und Kunst (Sikongsa/Seoul, 1995).2 Ich hatte das Glück, den verehrten Herrn Professor Thomas Würtenberger (sen.) in Freiburg kennenzulernen. Sein Haus erschien reich an Kunstwerken von seinem Vater, dem Maler Ernst Würtenberger und von anderen Künstlern. Auch sein Sohn Thomas Würtenberger (jun.) betreibt Hobbyforschung über die Medaillenkunst und die Staats- und Rechtssymbolik. Wir beide referierten gemeinsam über Staatssymbolik am Seoul-Freiburger Seminar Recht-Kultur-Globalisierung am 14.–15. September, 2010 in Seoul. Mein Thema lautete „Staats- und Rechtssymbolik in Korea“. Nun möchte ich mein Referat um eine vergleichende Untersuchung mit Deutschland erweitern.3 1 Otto Kissel, Die Justitia, München, 1984; Wolfgang Schild, Bilder von Recht und Gerechtigkeit, Köln, 1994; Costas Douzinas & Synda Nead (ed.), Law and the Image, Univ. of Chicago Press, 1999. 2 Eine englische Zusammenfassung in: Chongko Choi, Korean Image of Law and Justice, in: Law and Justice in Korea: South and North, Seoul National University Press, 2007, S. 23 – 33 3 Thomas Würtenberger referierte damals über „Die Verbindung von Freiheits- und Verfassungssymbolik: Ein Beitrag zu historischen Formen der Globalisierung von Rechtskultur“. Hier danke ich ihm nochmals für seine Organisation meines Vortrags „Recht und Gerechtigkeit in Ost und West“ in Freiburg im August 2008 und seine Vernissage-Begrüßung zur Ausstellung meiner Gedichte und Zeichnungen im Freiburger UNISEUM am 5. September 2008 während meiner dortigen Gastprofessur. Thomas Würtenberger, Vernissage-Begrüßung, in: So schön ist Freiburg: Gedichte und Zeichnungen von Chongko Choi, Hyeon Verlag/Seoul, 2009, S. 10 – 11.
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Chongko Choi
I. Staats- und Rechtssymbolik in Deutschland In Deutschland ist die Rechtssymbolik besonders durch die Pionierarbeiten von Hans Fehr, Gustav Radbruch und Thomas Würtenberger (sen.) weit bekannt. Mittlerweile gibt es ziemlich viele Forschungsarbeiten über dieses Feld, etwa Otto Kissels Die Justitia (München, 1984) und Wolfgang Schilds Bilder von Recht und Gerechtigkeit (Köln, 1994). Allgemein gesagt bleibt die Rechts- und Gerechtigkeitssymbolik im Wesentlichen immer noch der Justitia-Figur treu. Das gilt nicht nur für Deutschland, sondern auch für ganz Europa und Amerika. Dabei versuchen sich auch gegenwärtige Künstler an ganz modernen und kreativen Interpretationen der Justitia-Figur entsprechend ihren jeweiligen künstlerischen Vorstellungen. Die Staatssymbolik ist demgegenüber sehr viel stärker offiziell und von der politischen Lage des Staates bestimmt. Staatsflagge Die heutige Bundesflagge der BRD ist bekanntlich eine Trikolore mit den Farben Schwarz, Rot und Gold. Diese Farbenwahl geht mindestens auf das frühe 19. Jahrhundert, in die Zeit der Entwicklung eines gesamtdeutschen Nationalbewusstseins angesichts der napoleonischen Expansionspolitik zurück. Die heutige Flaggengestaltung wurde jedoch erst 1848 im Zuge der verfassungsgebenden Nationalversammlung festgelegt und ist somit untrennbar mit dem modernen nationalen Selbstgefühl und der Überwindung der alten ständischen und absolutistischen Ordnung verbunden. Nachdem während der Weimarer Zeit diese Flagge erstmals vorübergehend zur deutschen Staatsflagge bestimmt worden war, wurde sie schließlich nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges im Jahre 1949 zur offiziellen Bundesflagge sowohl der BRD als auch der DDR. Zehn Jahre später, im Jahre 1959, wurde in der DDR jedoch eine Änderung der Flaggengestaltung durch das Hinzufügen des damaligen Staatswappens (siehe unten) vorgenommen. Das Zurschaustellen dieser Flagge wurde in der BRD vor allem während der 1960er Jahre bei Strafe untersagt. Aus DDR-Sicht vereinte diese neue Flagge in sich durch die Beibehaltung von Schwarz-Rot-Gold die nationale Tradition und durch die Einfügung des Staatswappens die symbolische Verbundenheit mit dem sozialistischen Projekt der Warschauer-Pakt-Staaten.
Staats- und Rechtssymbolik in geteilten Staaten
Abb. 1: Bundesflagge (seit 1949)
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Abb. 2: Flagge der DDR (1959 – 1990)
Nationalhymne Die Melodie der heute gültigen deutschen Nationalhymne wurde bereits Ende des 18. Jahrhunderts von Joseph Haydn komponiert, der ursprüngliche Text war jedoch auf das Habsburgerreich bezogen und mit „Gott erhalte Franz, den Kaiser“ betitelt. 1841 dichtete Heinrich Hoffmann von Fallersleben den später verwendeten Text des „Deutschlandlieds“, das 1922 zur offiziellen Nationalhymne des Weimar-Deutschlands wurde. In der BRD wurde die dritte Strophe dieses Liedes zum allein gültigen Text der deutschen Nationalhymne bestimmt und die beiden anderen Strophen ausgeschlossen, weil man sie für zu nationalistisch und nicht zur Politik Nachkriegsdeutschlands passend erachtete. In der DDR wollte die Staatsführung mit der alten Hymne gänzlich brechen und ließ eine neue Staatshymne dichten und komponieren. Das Resultat war das Lied „Auferstanden aus Ruinen“, welches von Hanns Eisler komponiert, von Johannes R. Becher gedichtet und 1949 per Gesetz zur neuen Nationalhymne bestimmt wurde. Interessanterweise wurde der Text auf staatliche Anordnung hin ab 1970 nicht mehr öffentlich gesungen, da die in ihm beinhaltete Idee des einigen Vaterlandes nicht mehr unterstützt wurde. Statt deutsches Nationalbewusstsein zu fördern, sollten die DDR-Bürger eher eine Identität als neue sozialistische Nation entwickeln. Staatswappen Das Wappen der Bundesrepublik Deutschland besteht aus einem schwarzen Adler vor goldenem Hintergrund. Es handelt sich um ein Motiv, das bereits seit dem Mittelalter das Reichsbanner des Heiligen Römischen Reichs zierte. Das Staatswappen der DDR wies keinen solchen historischen Bezug auf, sondern orientierte sich an den auch in anderen sozialistischen Ländern gebrauchten Symbolen der kommunistischen Bewegung. Der Ährenkranz stand für die Bauern, der Hammer für die Arbeiter und der Zirkel für die Intelligenz (im Sinne der sowjetischen intelligenzija).
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Chongko Choi
Abb. 3: Staatswappen der BRD
Abb. 4: Staatswappen der DDR
II. Staatssymbolik im traditionellen Korea Die im modernen Korea genutzte Schrift ist das Hangu˘l, welche eine Alphabetschrift mit 14 Konsonanten und 10 Vokalen ist. Daher unterscheidet sich das Hangu˘l ganz deutlich von den chinesischen Schriftzeichen, welche die Objekte als ein Ganzes nachbilden. Es kommt wohl darum nicht von ungefähr, dass es die Koreaner waren, die zum ersten Mal in der Weltgeschichte die Druckkunst der Schrift mit beweglichen Lettern erfanden. Die Staatsidee in den traditionellen Dynastien war identisch mit der Idee des Königtums. Die Malerei hinter dem Königsthron im Kyo˘ngbok-Palast stellt Sonne, Mond und eine Anzahl von Berggipfeln dar. Dies verdeutlichte, dass der König das ganze Land wie die vollkommene Natur repräsentierte.
Abb. 5: Königskrone der Shilla-Dynastie
Abb. 6: Darstellung der Berge, der Sonne und des Mondes
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III. Rechtssymbolik im traditionellen Korea Das gemeinsame Schriftzeichen für Recht in Ostasien ist 法, ausgesprochen Fa in China, Ho in Japan, Po˘b in Korea. Dieses Zeichen ist eine Verkürzung des ursprünglichen Schriftzeichens 灋,4 welches aus drei Elementen besteht; 水 (Su, Wasser), 廌 (Haetae, Einhorn) und 去 (Ko˘, Gehen). Beim Gottesurteil im alten China wurde auf das Haetae (auf Chinesisch: Hsiezai) zurückgegriffen. Dieses Fabeltier suchte den Schuldigen heim und stürzte ihn mit seinem Horn. Mithin ist dieses Fabeltier ein Gerechtigkeitssymbol und wird gern seit den alten Zeiten bis heute hier und dort in Form von Plastiken errichtet. Hierbei besteht insofern ein Kontrast gegenüber Europa, wo die Justitia durch eine weibliche Figur repräsentiert wird.5
Abb. 7: Haechi von Korea
Abb. 8: Hsechai von China
4 Nach dem amerikanischen Philologen Roy A. Miller lautete das ursprüngliche altaische Wort biab. In China machte es die Umwandlung biab-fab-fa durch, in Japan biab-fob-ho und in Korea biab-biob-bob. Nur in der koreanischen Aussprache ist, folgt man dieser Rekonstruktion, die Endung mit dem gleichen Konsonanten wie im Original erhalten geblieben. Roy A. Miller, Chinese fa in Altaic: A further Note, Journal of the American Oriental Studies, Vol. 118, No. 2, S. 268 – 273. Näheres hierzu in Chongko Choi, East Asian Jurisprudence, Seoul National University Press, 2009, S. 8 – 9. 5 Das Haetae ist auch unter dem Namen Haechi bekannt. Das Haechi wurde im Jahre 2008 als Symboltier von Seoul bestimmt. So sieht man die Tierdarstellung heute überall in Seoul.
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Abb. 9: Sitte (Li) und Gerechtigkeit (Ui)
Zusammengefasst enthält das Schriftzeichen (oder der Begriff) des Rechts mindestens drei Elemente: Natürlichkeit, Maßgeblichkeit und Gerechtigkeit.6 In Europa wurde die Gerechtigkeit nicht nur durch die Justitia-Skulptur, sondern auch durch Gerechtigkeits- oder Mahnbilder dargestellt. Die Rechtssymbolik oder –Ästhetik ist deshalb ein großes Forschungsgebiet, wie es Hans Fehr und G. Radbruch wunderschön gezeigt haben.7 Vielleicht weil das chinesische Schriftzeichen selbst schon ein Figursymbol ist, wurde die Abstraktionskunst außerhalb der Kalligraphie in Ostasien nicht weiterentwickelt. Man konnte ja stattdessen die Schriftmalerei (Munjado) in Anwendung bringen. Der Konfuzianismus in Korea ist ziemlich ikonoklastisch. Man kann eigentlich in keiner Weise von konfuzianischer Kunst sprechen. Im Konfuzius-Tempel (So˘ngkyunkwan) in Seoul findet man nur die mit einer Inschrift versehenen Ahnentafeln, jedoch keine Skulptur und keine Malerei. Andererseits hat der koreanische Buddhismus eine schöne und reiche Kunst der Malerei entwickelt. Wir sehen die eindrucksvollen Gerichtsinstanzen der Erde in den koreanischen buddhistischen Tempeln. Das Strafbildnis an der Wand bezweckte, die Menschen in hohem Maße zu erschrecken. 6
Chad Hansen, Fa (standards: Laws) and Meaning Changes in Chinese Philosophy, Philosophy East & West, Vol. 44, No. 3, 1944, S. 435 – 488; Chongko Choi, East Asian Jurisprudence, Seoul National University Press, 2009, S. 317 – 324. 7 Hans Fehr, Das Recht im Bilde, S. 195; Gustav Radbruch, Aesthetik des Rechts, in Rechtsphilosophie, übersetzt in das Koreanische von Chongko Choi, Popcholhak, Seoul, 1975, S. 151 – 155.
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Abb. 10: Höllenkönig als Richter
IV. Staats- und Rechtssymbolik in Südkorea 1. Die Nationalflagge Die Nationalflagge der Republik Korea wird Taegu˘kgi genannt. Taegu˘kgi veranschaulicht die Kosmologie der Yin- und Yang-Philosophie. So ist die südkoreanische Flagge in ihrer Symbolik traditionell und sehr philosophisch. Sie besteht aus der Yin- und Yang-Kugel und vier Trigrammen, die den Himmel, das Wasser, die Erde und das Feuer nach dem I-Ching-Orakel andeuten. In den offiziellen Diskussionen der Regierung im Jahre 1948 wurde von manchen diese traditionelle, kosmologische Flagge kritisiert. Aber die herrschende Meinung war von der Erinnerung geprägt, dass diese Taegu˘kgi-Flagge von den koreanischen Patrioten im Zuge der Unabhängigkeitsbewegung während der japanischen Kolonialherrschaft (1910 – 45) benutzt wurde.8 2. Die Nationalhymne Es ist hochinteressant, dass die erste moderne Nationalhymne Koreas von einem deutschen Musiker namens Franz Eckert (1852 – 1916) komponiert wurde. Am 27. Februar 1901 wurde der deutsche Marine-Kapellmeister Franz Eckert als Hofkapellmeister nach Korea eingeladen. Zuvor hatte er die japanische Nationalhymne (Kimikayo) komponiert. Nun komponierte er 8 Näheres hierzu vgl. Chongko Choi, Eine Studie über Staatssymbole in Süd- und Nordkorea (koreanisch), Nordkoreanische Rechts-Forschung, Bd. 3, 1996.
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Abb. 11: Nationalflagge Südkoreas
die Nationalhymne des damaligen koreanischen Kaiserreichs und dirigierte sie persönlich bei ihrer Aufführung zum 50. Geburtstag des Kaisers Kojong. Der Text der Eckert-Nationalhymne lautet: Der Himmelskaiser möge unserem Kaiser helfen! Dieser möge hochleben und die edlen Perlen Wie Berge aufgehäuft haben! Seine Macht und Würde möge sich aufs idealste Entwickeln und sein Glück gedeihe aufs Ewigste! Der Himmelskaiser möge unserem Kaiser helfen! (상제는 우리 황제를 도우쇼셔 성수무강하사 해옥주를 산같이 쌓으쇼셔 위권이 환영에 펼치사 어천만세에 복녹이 무궁케 하쇼셔 상제는 우리 황제를 도우쇼셔.)
In Anerkennung seiner Verdienste um die Komposition der koreanischen Nationalhymne und um den hiesigen Musikunterricht wurde ihm die höchstrangige Taegok-Medaille von Kaiser Kojong verliehen. Am 11. Mai 1904 erklärte das Erziehungsministerium des Kaiserreichs, dass die Studenten aller Schulen diese Nationalhymne lernen sollten. Die Marine-Kapelle wurde mit der erzwungenen Abdankung des Kaisers durch die japanische Kolonialmacht im Juli 1907 aufgelöst und infolgedessen wurde die Eckert-Nationalhymne nicht weiter benutzt.9 Franz Eckert starb nach einem langen Leben in Korea. Er wurde im Ausländerfriedhof von Seoul begraben. Im Jahre 1906 verfasste der Politiker Yun Chiho (1865 – 1946) einen anderen Text und ließ ihn nach der Melodie von Old Lang Syne singen. Im Jahre 1936 komponierte der koreanische Komponist Ahn Iktae (1906 – 1965) die Melodie der jetzigen koreanischen Nationalhymne.
9 Näheres hierzu vgl. Chongko Choi, Vom Han bis zum Rhein: Geschichte der deutsch-koreanischen Beziehungen, Euro-Verlag/Seoul, 2005, S. 173 – 176.
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Abb. 12: Das Staatswappen (Kukjang) Bis das Wasser des Ostmeers ausgetrocknet sein wird Und der Paektu-Berg zur flachen Ebene abgerieben wird, der liebe Gott im Himmel schütze unser Land bis in alle Ewigkeit! In dieser schönen Landschaft von dreitausend Li (Strecke), wo die Blume der Unendlichkeit aufblüht, Wollen wir Koreaner auf Ewigkeit leben! (동해물과 백두산이 마르고 닳도록 하느님이 보우하사 우리나라 만세 무궁화 삼천리 화려강산 대한사람 대한으로 길이 보전하세.)
Heutzutage wird diese Nationalhymne sehr hoch geschätzt. Aber auch sie bleibt nicht ohne Kritik, weil der Komponist Ahn angeblich ein Befürworter der japanischen Kolonialherrschaft gewesen sein soll.10 3. Das Staatswappen (Kukjang) Das Staatswappen wird nach dem Gesetz über das Staatswappen von 1970 bei einer Reihe von Gelegenheiten benutzt, etwa auf diplomatischen Dokumenten, nationalen Medaillen, auf den Diplomen der nationalen Universität usw. Die Taegu˘k-Symbolik ist in der Mitte der Nationalblume (Hibiskus) enthalten. Darunter steht der Name der Republik Korea auf koreanisch (Taehan Minguk) geschrieben. Nach der Tradition benutzt die Regierung ein Staatssiegel, das vier große Hangu˘l-Schriftzeichen zeigt: Dae-Han-Min-Kuk (대한민국), also die Republik Korea. Hier ist die Republik als Min-Kuk (also, auf die chinesische 10 Das Biographische Lexikon der Pro-Japanischen (Chinilpa Inmyongsajon) von 2009 enthält seinen Namen. Infolgedessen wurde der Ruf danach laut, dass die von ihm komponierte Nationalhymne nicht mehr weiter gebraucht werden soll.
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Abb. 13: Das Staatssiegel (Kukse)
Weise, nicht als Konghwa-Kuk) genannt. Hierüber sollte wohl nach der Wiedervereinigung Koreas erneut nachgedacht werden11. 4. Die Straße der Staatssymbole (Kukga Sangjing Ko˘ri) Neuerdings diskutiert die Regierung über eine Staatssymbolstraße in Seoul, vergleichbar etwa der National Mall in Washington DC, den Champs-Elyse´es in Paris oder der Straße um das Brandenburger Tor in Berlin. Nach diesen Plänen sollte die Straße von Kwanghwamun bis zum Han-Fluss die Staatssymbolstraße der Republik Korea werden. 5. Justizsymbolik In der heutigen koreanischen Gesellschaft wird Haetae immer beliebter. Im Garten des Parlamentsgebäudes in Seoul steht ein Paar Haetae, das dem Vorschlag des berühmten Schriftstellers Park Chonghwa folgend 1975 errichtet wurde. Wir sehen so viele Haetae-Statuen hier und dort, wie etwa bei der Präsidentenresidenz (Chongwadae), am Polizeipräsidium, an den Grenzen zwischen den verschiedenen Provinzen, sogar im Umfeld von Kinderspielplätzen usw. Es gibt auch einige private Haetae-Statuen-Betriebe. Vor dem Justizgebäude steht ein abstrakteres Haetae-Denkmal.
11 Neulich passierte diesbezüglich ein Skandal. Ein Schmied des Staatssiegels behauptete, dass er die 500-jährige traditionelle geheime Methode seiner Herstellung beherrschen würde. Dies erwies sich jedoch als eine Lüge. Aufgrund dessen forderten manche, dass das Staatssiegelsystem insgesamt abgeschafft werden sollte.
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Abb. 14: Koreanisierte Justitia
Die europäische Justitia wurde auch in Korea eingeführt, allerdings meistens in gewisser Weise koreanisiert. Zwei hierfür typische Justitia-Skulpturen sind am Gebäude des Rechtsanwaltsvereins und am Obersten Gerichtshof zu sehen. V. Staats- und Rechtssymbolik in Nordkorea 1. Nationalflagge Die Nationalflagge Nordkoreas ist als Inkonggi (in Südkorea), Konghwaguk Ku˘kgi (in Nordkorea), oder Hongnam Ogakbyolgi (홍남오각별기, Rot-Blau-Fünfsterneflagge) bekannt. Die rote Farbe symbolisiert die Revolution und die blaue Farbe soll den Frieden und das Gemeinwohl repräsentieren. Der Stern auf dem weißen Hintergrund ist schlicht das viel verwendete Symbol des Kommunismus. Nach einer offiziellen Erklärung wollten die beteiligten Designer eigentlich eine weiße Kugel nach der Yin-Yang-Philosophie malen. Aber Kim Ilso˘ng selbst soll den Stern angebracht haben, und alle beteiligten Künstler sollen vor Freude geweint haben.12 Aber es gibt auch andere Erklärungen, etwa dass die Benutzung des Sterns von der Sowjetunion erzwungen worden wäre.13 12
Kim Jukyong, Die Geschichte unseres Staatswappens und unserer Staatsflagge (koreanisch), Koreanische Literatur, Pyongyang, Sept., 1978. Zitiert aus dem in der Fußnote genannten folgenden Buch von Yim Chae-Uk. 13 Yim Chae-Uk, Bukhan ui Sangjing (Symbole Nordkoreas), Seoul, 1995, S. 30 ff.
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Abb. 15: Nationalflagge Nordkoreas
2. Die Nationalhymne Die nordkoreanische Nationalhymne wird wie in Südkorea Aegukga genannt. Die Text der nordkoreanischen Aegukga lautet wie folgt: Leuchtend schön ist der Morgen dieses Landes! Schön ist mein Vaterland von dreitausend Li (Strecken), Voll von Naturalien, von Gold und Silber, Mit der Geschichte der Hälfte von zehntausend Jahren! Mit der Weisheit, überliefert von der glänzenden Kultur, Wollen wir die Ehre und den Glanz des Volkes Mit allen Kräften auf ewig bewahren, Unser Vaterland Choso˘n beschützen! (아침은 빛나라 이 강산 은금에 자원도 가득한 삼천리 아름다운 내 조국 반만년 오랜 력사에 찬란한 문화로 자라난 슬기로 인민의 이 영광 몸과 맘 다 바쳐 이 조선 길이 받드세) Mit dem Edelmut des Paektu-Bergs, Mit dem energischen Geist der Arbeit Und mit dem unbeugsamen Willen zur Wahrheit Gehen wir voran vor aller Welt! Mit Kräften, die auch die andrängenden Wellen bezähmen, Haben wir als Volk errichtet Dieses Land Choso˘n, Das unbegrenzt stark und reich werde, Das wollen wir mit Glanz und Gloria schmücken! (백두산 기상을 다 안고 근로의 정신은 깃들어 진리로 뭉쳐진 억센 뜻 온 세계 앞서 나가니 솟는 힘 노도도 내밀어 인민의 뜻으로 선 나라 한없이 부강하는 이 조선 길이 빛내세.)
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Abb. 16: Staatswappen Nordkoreas
Diese Hymne wurde im Jahre 2002 anlässlich der Asiatischen Olympiade in Pusan gesungen, da Nordkorea auch offiziell daran teilnahm. Im Februar 2008 spielte The New York Philharmonic in Pyongyang diese Hymne. Allerdings ist es verboten, die nordkoreanische Nationalhymne in Südkorea zu singen. 3. Staatswappen Das Staatswappen wurde gleichzeitig mit der Nationalflagge von der nordkoreanischen Regierung festgelegt. Das Staatswappen zeigt die Reisähre und die Elektrizität durch Wasserkraft als Symbole des Reichtums und der Entwicklung des Landes. Im Himmel strahlt der „kommunistische“ Stern. 4. Justizsymbolik
Über die Realität der nordkoreanischen Justiz ist außerhalb des Landes noch nicht viel bekannt. Ich habe noch nicht einmal Fotos von den nordkoreanischen Gerichten sehen können. Vermutlich ähnelt die Justizsymbolik Nordkoreas jener der anderen sozialistischen Länder. VI. Aufgabe: Staats- und Rechtssymbolik im wiedervereinigten Korea Zum Glück ist die DDR dem Territorium der BRD beigetreten und Deutschland dadurch wiedervereinigt. Die ehemalige DDR wurde als solche Teil der Geschichte. Deshalb gab es keine ausführlichere Diskussion über eine neue Staats- und Rechtssymbolik im wiedervereinigten Deutschland. Die Lage ist in Korea völlig anders. Wie wird die Staats- und Rechtssymbolik im wiedervereinigten Korea sein? Das wird davon abhängen, wie Korea wiedervereinigt wird. Die Wiedervereinigung Koreas ist eine äußerst schwie-
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rige Thematik. Wenn Korea vielleicht nach dem deutschen Modell vereinigt würde, dann könnte die südkoreanische Taegu˘kgi als gemeinsame Nationalflagge weiter wirken. Aber auch in diesem Fall wird wohl ernsthaft die Frage gestellt werden müssen, ob die traditionelle östlich-philosophische Flagge weiter benutzt werden sollte. Es gibt hierzu bereits eine Reihe von privaten Vorschlägen. Diverse Gruppen und Einzelpersonen haben Vorschläge für die Nationalflagge des vereinigten Korea gemacht. Interessanterweise gibt es sogar einen Vorschlag für eine noch verstärkte Drei-Taegu˘k (Samtaegu˘kgi)-Flagge. Auch die Nationalhymne wird wohl ernstlich neu zu diskutieren sein. Was können wir über die Rechtssymbolik im Zusammenhang mit der Globalisierung sagen? Wir haben oben gesehen, dass das Gerechtigkeitssymbol in Europa eine Personifizierung (Justitia) zeigt, während das Koreanische (und das Ostasiatische insgesamt) eine Naturalisierung (Haetae) zeigt. Vielleicht kann man diesen Kontrast als eine zivilisatorische Differenz charakterisieren. Mit der Globalisierung besuchen die ausländischen Juristen die verschiedenen Länder häufiger als bisher. Ob wir ein „globales“ Gerechtigkeitssymbol schaffen sollen? Wenn ja, aber wie? Das wäre wohl eine Aufgabe zukünftiger Forschungen über die Rechtssymbolik von Ost und West.
Cloud Computing im Zeitgeist Juristische Hürden, rechtspolitische Unwägbarkeiten, unternehmerische Gestaltung Von Dirk Heckmann, Passau I. Einleitung Die „Cloud“ kommt und sie verändert alles:1 Sei es die IT-Organisation der Unternehmen und Behörden, das Verständnis von „Datenbesitz“ und „Datenherrschaft“ oder die Geschäftsmodelle großer Teile der IT-Branche. Cloud Computing revolutioniert z. B. die Arbeitsorganisation, indem Informationen in verteilten Systemen von Akteuren verarbeitet werden, die sich nicht kennen und doch einander vertrauen – und zwar weltweit. Gleiches gilt für die Bereitstellung und Nutzung von Applikationen. So fördert Cloud Computing die Globalisierung und prägt letztlich ein neues Verständnis der ITals „Geschäft auf Gegenseitigkeit“. Umso stärker gilt es, die rechtliche Dimension2 dieser innovativen Entwicklung im Auge zu behalten. Das geltende deutsche und europäische Datenschutzrecht kennt zwar Rahmenbedingungen für die sog. Auftragsdatenverarbeitung (zum Beispiel in § 11 BDSG). Diese sind auf das Konzept des Cloud Computing allerdings nur ansatzweise anwendbar. Umgekehrt formuliert: Wenn man die hohen rechtlichen, technischen und organisatorischen Anforderungen, die etwa § 11 Abs. 2 BDSG für die Auftragsdatenverarbeitung im Sinne eines klassischen IT-Outsourcing formuliert, „formaljuristisch“ zum Maßstab an Cloud-Lösungen anlegt, beenden Datenschutz-Bedenken die Annäherung an solche Innovationen, ohne dass eventuelle Vorteile von Cloud Computing, nämlich Überle1 So lautete das Credo auf der Cebit 2012. Einen Überblick über die rechtlichen, technischen und wirtschaftlichen Aspekte des Cloud Computing bietet Heckmann, in: Heckmann, jurisPK Internetrecht, 3. Aufl. 2011, Kap. 9, Rn. 577 ff. 2 Es gibt nicht „das“ Cloud Computing, so dass sich pauschale rechtliche Bewertungen verbieten. Dessen kennzeichnende Elemente (wie Flexibilität, Skalierbarkeit, Ressourcenteilung, Elastizität oder nutzungsorientierte Abrechnung) lassen sich mit unterschiedlichen Diensten und Services (Infrastructure as a Service, Software as a Service, Platform as a Service etc.) und unterschiedlicher Reichweite der Auslagerung von Daten und Diensten (Bereitstellungsformen: Public Cloud, Private Cloud, National Cloud, Community Cloud u. a.) mit entsprechender technischer Ausgestaltung und passenden Geschäftsmodellen verwirklichen. Ausführlich dazu vgl. Hennrich, CR 2011, 546 ff. Zum Cloud Computing in der öffentlichen Verwaltung vgl. Heckmann, in: Hill/Schliesky, Innovationen im und durch Recht, 2010, S. 97 ff.; ders., Der Bayerische Bürgermeister 9/ 2011, S. 302 ff.; Maisch/Seidl, VBlBW 2012, 7 ff.
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gungen der Effizienz, der Wirtschaftlichkeit und auch der IT-Sicherheit, überhaupt Gehör finden. In diesem Sinne raten derzeit neben Datenschützern auch viele Anwaltskanzleien davon ab, personenbezogene Daten in eine „Cloud“ auszulagern, weil das Haftungsrisiko unüberschaubar sei.3 Das ist allerdings nicht die einzige Hürde, der sich Anbieter von Cloud-Lösungen stellen müssen. Die Geschichte technischer Innovationen zeigt immer wieder, dass es zu Beginn zahlreiche Widerstände, Hindernisse und vermeintlich unüberschaubare Risiken gibt, die sich solchen Veränderungen entgegenstellen. Aus Sicht anbietender Unternehmen sind das sog. „Sales Blocker“, also Entwicklungs- und Vertriebshindernisse, die eine Etablierung selbst hoch nützlicher Produkte erschweren, was umso ärgerlicher erscheinen mag, je stärker sich das Unternehmen an einem internationalen Markt orientieren muss, auf dem auch die Produkte ausländischer Konkurrenz Abnehmer finden. Was aber sind die Sales Blocker beim Cloud Computing und gibt es umgekehrt auch Enabler? Mit dieser wissenschaftlich bislang nicht näher untersuchten Fragestellung befasst sich der Beitrag zu Ehren von Thomas Würtenberger, einem Wissenschaftler, der in seiner Forschung stets auch den Blick über die Grenzen der Rechtsdogmatik hinaus gerichtet hat, besonders im Hinblick auf die Einflüsse des Zeitgeistes auf die Rechtsentwicklung. II. Beharrungstendenzen der Rechtsordnung „Sales Blocker“ ergeben sich beim Cloud Computing in erster Linie aus den Beharrungstendenzen juristischer Kreise gegenüber (technischen) Innovationen, insbesondere durch die Scheu mancher Juristen, das Recht zeitgemäß auszulegen und anzuwenden. 1. Technische Innovation trifft auf konservierendes (konservatives) Recht Das BSI bezeichnet Cloud Computing als „das dynamisch an den Bedarf angepasste Anbieten, Nutzen und Abrechnen von IT-Dienstleistungen über ein Netz.“4 Angebot und Nutzung dieser Dienstleistungen erfolgen dabei ausschließlich über definierte technische Schnittstellen und Protokolle. Die Spannbreite der im Rahmen von Cloud Computing angebotenen Dienstleistungen umfasst das komplette Spektrum der Informationstechnik und beinhaltet unter anderem Infrastruktur (z. B. Rechenleistung, Speicherplatz), Plattformen und Software.“5 Cloud Computing zählt 3 Vgl. etwa die Stellungnahme des Deutschen Anwaltvereins gegenüber der EU-Kommission http://www.anwaltverein.de/downloads/Stellungnahmen-11/43-2011-SN-Cloud-Com puting.pdf. Kritisch auch Weichert, DuD 2010, 679; Becker/Nikolaeva, CR 2012, 170 ff. 4 https://www.bsi.bund.de/DE/Themen/CloudComputing/Grundlagen/Grundlagen_node. html. 5 BSI Eckpunktepapier zum Cloud Computing, https://www.bsi.bund.de/SharedDocs/ Downloads/DE/BSI/Mindestanforderungen/Eckpunktepapier-Sicherheitsempfehlungen-Cloud Computing-Anbieter.pdf?__blob=publicationFile.
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im Kontext der informationstechnologischen Entwicklung, auf ihr beruhender ITAngebote und entsprechender Geschäftsmodelle zu den herausragenden Innovationen des ersten Jahrzehnts im 21. Jahrhundert.6 Auch wenn es aktuell noch relativ konturenlos erscheint (zum „hohen Abstraktionsniveau“ der Cloud-Computing-Diskussion weiter unten IV.), wird die Fortschrittlichkeit des Cloud Computing nirgends bestritten. Im Gegenteil: Auch – und gerade – die Kritiker heben das Innovationspotential hervor.7 Gerade hier knüpfen dann aber auch deren Bedenken an: Cloud Computing sei – zumindest in bestimmten Erscheinungsformen – rechtlich fragwürdig, nicht datenschutzkonform oder wegen unkalkulierbarer Haftungsrisiken nicht empfehlenswert.8 Wenn man nach „Sales Blockern“ (im Sinne von Hürden für den Absatz von Cloud-Computing-Angeboten) fragt, sind vorrangig die Beharrungstendenzen der Rechtsordnung zu nennen. Technische Innovation trifft auf konservatives Recht – und auf konservative Juristen. Dies zeigt sich in aller Deutlichkeit bei der Auslegung der maßgeblichen Vorschrift des § 11 BDSG. Diese Norm regelt die Auftragsdatenverarbeitung und enthält auch die bislang für IT-Outsourcing-Verträge wesentlichen Anforderungen. Flankierend sind die §§ 4b, 4c sowie 9 BDSG und seine Anlage zu beachten. 2. Konventionelle Auslegung des § 11 BDSG a) Sicherungsmechanismen für die Auftragsdatenverarbeitung (§ 11 BDSG) Kommt es bei der Nutzung cloud-basierter Dienste – wie es regelmäßig der Fall sein wird – zur Verarbeitung personenbezogener Daten (§ 3 Abs. 1 BDSG), so ist im Verhältnis des Anwenders zum Diensteanbieter von einer Auftragsdatenverarbeitung i.S.d. § 11 BDSG auszugehen, bei der der Auftraggeber als „Herr der Daten“ datenschutzrechtlich verantwortlich bleibt.9 § 11 BDSG verlangt, dass in einem CloudComputing-Vertrag unter anderem Festlegungen hinsichtlich Art, Ort und Umfang der Verarbeitung der personenbezogenen Daten durch den Anbieter sowie Regelungen zum Schicksal der Daten im Fall der Beendigung des Vertrages als auch konkrete technische und organisatorische Maßnahmen zum Schutz der Daten gem. § 9 BDSG 6
Zu den technischen Grundlagen des Cloud Computing vgl. Heckmann, in: Hill/Schliesky, Innovationen im und durch Recht, S. 97 ff.; Maisch, AnwZert-ITR 15/2009, Anm. 4; Niemann/Hennrich, CR 2010, 686 ff. 7 Siehe beispielhaft die Darstellung zu dem Zweck des Cloud Computing bei Weichert, DuD 2010, 679. 8 Vgl. Weichert, DuD 2010, 679 ff. 9 Schulz, MMR 2010, 75 (78); Pohle/Ammann, CR 2009, 273 (277); Maisch, AnwZert-ITR 15/2009, Anm. 4; allgemein zu § 11 BDSG: Ehmann, in: Abel (Hrsg.), Praxiskommentar Bundesdatenschutzgesetz, 5. Aufl. 2009, S. 228 ff.; zur Auftragsdatenverarbeitung in der Kommunalverwaltung: Lübking/Zilkens, Datenschutz in der Kommunalverwaltung, 2. Aufl. 2008, Rn. 487 ff.
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und seiner Anlage aufgenommen werden.10 Dabei müssen dem Auftragnehmer die technischen und organisatorischen Maßnahmen zur Sicherstellung des Datenschutzes und der Datensicherheit – abgestimmt mit dem Auftraggeber auf die Bedürfnisse des konkreten Auftragsverhältnisses – vorgegeben und deren Realisierung vertraglich abgesichert werden.11 Beim Cloud Computing gestaltet sich schon die konkrete Wiedergabe der Maßnahmen als schwierig. Dies gilt nach dem Verständnis vieler nationaler Datenschutzaufsichtsbehörden insbesondere für Public Clouds.12 Zu beachten ist weiterhin, dass die Unkenntnis vom Ort der Verarbeitung oder Speicherung der Daten beispielsweise durch technische Mittel wie geeignete Reporting- oder Monitoring-Tools mit einem entsprechenden Onlinezugriff für den Kunden vermieden werden könnte.13 Diese Lösung dürfte technisch ohne übermäßige Schwierigkeiten umsetzbar sein, da die erforderlichen Informationen auf technischer Ebene ohnehin verfügbar sein müssen, um dem Kunden jederzeit Zugang zu den Daten zu ermöglichen.14 Mit Blick auf die Besonderheiten des Cloud Computing in weltweit verteilten Rechenzentren ist schließlich zu berücksichtigen, dass sich der Auftraggeber Gewissheit über die Gewährleistung des zu sichernden Schutzstandards verschaffen muss.15 Dies kann schon bei der Auswahl des Anbieters, beispielsweise durch Heranziehung von Zertifizierungen qualifizierter Dritter16 oder Informationen von Referenzkunden geschehen. Bei der Überwachung etwa durch entsprechend vereinbarte Berichtspflichten und regelmäßige Auditierungen des Auftragnehmers sowie durch ergänzende Kontrollrechte des Auftraggebers (vgl. § 11 Abs. 2 S. 2 Nr. 7, 9 BDSG).17 Insgesamt ist es unterdessen kaum vorstellbar, dass im Bereich der aktuell bekannten Cloud-Computing-Modelle die Formulierung eines IT-Outsourcing-Vertrages gelingen mag18, der alle Anforderungen des § 11 Abs. 2 BDSG einhält. Im Üb-
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Klinger, AnwZert-ITR 25/2009, Anm. 3. Klinger, AnwZert-ITR 25/2009, Anm. 3; Wedde, in: Däubler/Klebe/Wedde/Weichert, BDSG, 3. Aufl. 2010, § 11 Rn. 41; Gabel, in: Taeger/ders. (Hrsg.), Kommentar zum BDSG, 2010, § 11 Rn. 44. 12 Niemann/Paul, K&R 2009, 444 (449); auch der Nutzer des Cloud Computing weiß häufig gerade nicht, an welche geografischen Orte seine personenbezogenen Daten übermittelt werden, Schulz, MMR 2010, 75 (78). 13 Gabel, in: Taeger/ders. (Hrsg.), Kommentar zum BDSG, 2010, § 11 Rn. 18; ebenfalls für eine hohe Verfahrenstransparenz: Maisch, AnwZert-ITR 15/2009, Anm. 4. 14 Reindl, in: Taeger/Wiebe, Inside the Cloud – Neue Herausforderungen für das Informationsrecht, 2009, S. 444. 15 Gabel, in: Taeger/ders. (Hrsg.), Kommentar zum BDSG, 2010, § 11 Rn. 33 ff. 16 Vgl. Maisch, AnwZert-ITR 15/2009, Anm. 4. 17 Reindl, in: Taeger/Wiebe, Inside the Cloud – Neue Herausforderungen für das Informationsrecht, 2009, S. 449. 18 Sofern eine Auftragsdatenverarbeitung scheitert, richtet sich die erfolgende Datenübermittlung nach den Vorgaben des BDSG. Sie wäre dann nur beim Vorliegen einer konkreten 11
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rigen ist eine strikte Daten- und Verfahrensherrschaft des Auftraggebers nach dem Geschäftsmodell des Cloud Computing weder möglich noch erwünscht. b) Datenschutzniveau bei der Datenverarbeitung in Drittländern (§ 4b BDSG) Mit Hinblick auf die weltweite Datenverarbeitung in der Cloud stellen sich Rechtsfragen der Anwendbarkeit nationaler Rechtsregime. aa) Die Anwendbarkeit deutschen Datenschutzrechts richtet sich nach § 1 Abs. 5 BDSG. Für den EU-grenzüberschreitenden Datenverkehr normiert § 1 Abs. 5 S. 1 BDSG in Einklang mit Art. 4 der EU-Datenschutzrichtlinie das Sitzlandprinzip. Für auf den Anwendungsbereich der EU-Datenschutzrichtlinie beschränkte Cloud-Dienste bedeutet dies, dass das insoweit anzuwendende nationale Recht sich nicht nach dem Ort der Erhebung, Verarbeitung oder Nutzung personenbezogener Daten richtet, sondern nach dem Recht des Ortes, an dem die hierfür verantwortliche Stelle ihren Sitz hat. Für ein in Deutschland ansässiges Unternehmen, das als Auftraggeber i.S.v. § 11 BDSG Cloud-Dienste in Anspruch nimmt, hat dies bei „europäischen Clouds“ regelmäßig die Anwendung deutschen Datenschutzrechts zur Folge. Anders ist die Lage gemäß § 1 Abs. 5 S. 2 BDSG bei der Datenverarbeitung durch eine verantwortliche Stelle, die außerhalb des Anwendungsbereichs der EUDatenschutzrichtlinie belegen ist. Für die Frage, ob bei einer „innereuropäischen“ oder „außereuropäischen“ Cloud das Privileg der Auftragsdatenverarbeitung – im Unterschied zur Funktionsübertragung – angenommen werden kann, enthält § 3 Abs. 8 BDSG eine wichtige Weichenstellung. Eine Auftragsdatenverarbeitung liegt nach der Grundkonzeption des § 11 BDSG nur vor, wenn der Auftragnehmer (Cloud-Dienstleister) weisungsgebunden ist, d. h. ohne eigenen Wertungs- und Entscheidungsspielraum für den Auftraggeber (Cloud-Nutzer) tätig wird. Fehlt es hieran (bspw. weil dem Auftragnehmer die Daten für eigene Geschäftszwecke überlassen werden), so ist der Auftragnehmer als Dritter i.S.d. § 3 Abs. 8 S. 2 BDSG anzusehen. Die Datenverarbeitung durch einen Dritten ist jedoch nicht von § 11 BDSG erfasst und bedarf als sog. Funktionsübertragung eines eigenen Erlaubnistatbestandes gem. § 28 ff. BDSG. Nach der Konzeption des § 3 Abs. 8 BDSG ist als Dritter auch eine solche Stelle einzustufen – unabhängig von der Entscheidungsfreiheit –, die außerhalb des Geltungsbereichs der EU-Datenschutzrichtlinie tätig wird.19 bb) Personenbezogene Daten dürfen nicht ohne Weiteres an Drittstaaten außerhalb der EU übermittelt werden. Dies ist gem. § 4b Abs. 2 und 3 BDSG nur dann zulässig, wenn in diesen Drittstaaten ein angemessenes Schutzniveau, das dem hei(informierten) Einwilligung des Betroffenen oder einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage zulässig; Schulz, MMR 2010, 75 (78). 19 Kritisch zur Auslegung des § 3 Abs. 8 BDSG, Erd, DuD 2010, 275 ff.
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mischen vergleichbar ist, sichergestellt ist.20 Bislang wurde dies z. B. für Kanada, Argentinien oder die Schweiz angenommen. Grundlage dieser von der EU-Kommission getroffenen Einschätzung21 sind sowohl materielle als auch verfahrensrechtliche Kriterien. Die Hürde des angemessenen Schutzniveaus kann – außerhalb der von der EU als Staaten mit angemessenem Datenschutzniveau festgelegten Staaten – auch dadurch überwunden werden, dass die in § 4c BDSG geregelten Ausnahmen gegeben sind.22 Danach ist der Datenexport u. a. dann zulässig, wenn die empfangende Stelle im Ausland durch EU-Standardvertragsklauseln oder verbindliche Unternehmensregelungen ausreichende Garantien hinsichtlich des Schutzes des Persönlichkeitsrechts und der Ausübung der damit verbundenen Rechte gibt, § 4c Abs. 2 S. 1 BDSG.23 Die Datenübermittlung ist dabei von der zuständigen Aufsichtsbehörde zu genehmigen, es sei denn, es werden die von der Europäischen Kommission veröffentlichten EU-Standardvertragsklauseln24 unverändert verwendet.25 Was die Datenübermittlung in die USA – welche als Land des „inadäquaten Datenschutzes“ gelten26 – betrifft, so ist anerkannt, dass das Datenschutzniveau dadurch gesichert werden kann, dass sich das entsprechende Unternehmen den sog. „Safe Harbor Principles“ auf der Basis eines Abkommens zwischen dem amerikanischen Handelsministerium und der EU-Kommission unterwirft.27 Diese Safe-Harbor-Prinzipien und die damit verbundene Zertifizierung erwecken Vertrauen und sind damit einer der Garanten für Rechtssicherheit.28 Gleichwohl werden sie in jüngster Zeit stark kritisiert.29
20 Schulz, MMR 2010, 75 (78); Pohle/Ammann, CR 2009, 273 (277); Gabel, in: Taeger/ ders. (Hrsg.), Kommentar zum BDSG, 2010, § 4b Rn. 10 ff. 21 Vgl. Entscheidungen der Kommission zur Angemessenheit des Schutzes persönlicher Daten in Drittstaaten, http://ec.europa.eu/justice_home/fsj/privacy/thirdcountries/index_ de.htm. 22 Vertiefend zu den Ausnahmetatbeständen des § 4c BDSG: Gabel, in: Taeger/ders. (Hrsg.), Kommentar zum BDSG, 2010, § 4c Rn. 5 ff. 23 Hennrich/Maisch, AnwZert ITR 15/2011, Anm. 2. 24 Art. 26 Abs. 2, 4 RL 95/46/EG. 25 Reindl, in: Taeger/Wiebe, Inside the Cloud – Neue Herausforderungen für das Informationsrecht, 2009, S. 447. 26 Spies, MMR 2009, XI (XII). 27 Hennrich/Maisch, AnwZert ITR 15/2011, Anm. 2; Karger/Sarre in: Taeger/Wiebe, Inside the Cloud – Neue Herausforderungen für das Informationsrecht, 2009, S. 435. 28 Ausführlich Hennrich/Maisch, AnwZert ITR 15/2011, Anm. 2. 29 Vgl. nur Erd, K&R 2010, 624 ff.; Hennrich/Maisch AnwZert ITR 15/2011, Anm. 2 m.w.N.
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c) Gewährleistung von IT-Sicherheit (§ 9 S. 1 BDSG) Gemäß § 9 S. 1 BDSG haben öffentliche Stellen, die selbst oder im Auftrag personenbezogene Daten erheben, verarbeiten oder nutzen, diejenigen technischen und organisatorischen Maßnahmen zu treffen, die erforderlich sind, um die Ausführung der Vorschriften des BDSG zu gewährleisten. Hinsichtlich der automatisierten Verarbeitung oder Nutzung personenbezogener Daten wird die zentrale Datensicherheitsvorschrift des BDSG durch die Anlage zu § 9 S. 1 BDSG konkretisiert, welche – nicht abschließende – Maßnahmen enthält, die die Einhaltung der besonderen Anforderungen des Datenschutzes im Rahmen der innerbehördlichen Organisation sicherstellen sollen. § 11 BDSG stellt dabei auf klassische Datenverarbeitungsstrukturen ab. Seine Vorgaben eignen sich nur begrenzt für moderne und sich wandelnde Formen der Datenverarbeitung wie Cloud Computing.30 Dies darf jedoch nicht zu einem Verzicht auf ausreichende Datensicherungsmaßnahmen führen.31 Die vorzunehmenden Maßnahmen sollten nicht statisch, sondern vielmehr dynamisch geprüft und weiterentwickelt werden.32 3. Innovative Auslegung des BDSG Die formaljuristische Betrachtung der datenschutzrechtlichen Vorschriften, wie sie in den Eckpunktepapieren der politischen Akteure, allen voran der Datenschutzbehörden zum Ausdruck kommt, ist allerdings nicht zwingend. Sie leidet vor allem unter einem erheblichen methodischen Mangel, weil sie zwingende Subsumtionsergebnisse auf Grundlage defizitärer Wertungsmaßstäbe ermittelt und damit mit mehreren Unbekannten rechnet. So spricht § 11 Abs. 2 S. 1 BDSG davon, dass „der Auftragnehmer … unter besonderer Berücksichtigung der Eignung der von ihm getroffenen technischen und organisatorischen Maßnahmen sorgfältig auszuwählen“ ist. Hierbei werden wiederum die Maßnahmen und Maßgaben des § 11 Abs. 2 S. 2 BDSG als Minimum (!) zur Ausübung einer Datenherrschaft angesehen, die dem Auftraggeber als Ausdruck seiner Verantwortlichkeit im Sinne des § 11 Abs. 1 S. 1 BDSG verbleiben muss. Auf diese Weise entsteht durch die Forderung nach maximaler Datenherrschaft (§ 11 Abs. 1 S. 1 BDSG), maximaler Auswahlsorgfalt (§ 11 Abs. 2 S. 1 BDSG) und maximaler technisch-organisatorischer Vorkehrungen (§ 11 Abs. 2 S. 2 BDSG) ein quasi unerfüllbarer Anspruch gegenüber den Vertragspartnern im Cloud Computing. Weder kann der Auftraggeber die ihm zugedachte Rolle der Ausübung von Datenherrschaft noch der Auftragnehmer jene der Gewährleistung von Datensicherheit erfüllen. Von mehreren „Unbekannten“ ist hier deshalb zu sprechen, weil 30
Wedde, in: Däubler/Klebe/Wedde/Weichert, BDSG, 3. Aufl. 2010, § 9 Rn. 30. Zur Erforderlichkeit der Datensicherungsmaßnahmen Schultze-Melling, in: Taeger/ Gabel (Hrsg.), Kommentar zum BDSG, 2010, § 9 Rn. 19 ff. 32 Wedde, in: Däubler/Klebe/Wedde/Weichert, BDSG, 3. Aufl. 2010, § 9 Rn. 30. 31
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– die Herleitung von Datenherrschaft aus dem Prinzip der Verantwortlichkeit insofern willkürlich ist, da sie den Aspekt der notwendigen Verlagerung von Kompetenzen bei der Auftragsdatenverarbeitung übersieht. – die Anforderungen an die „sorgfältige Auswahl“ des Auftraggebers formuliert werden, ohne den Sorgfaltsmaßstab – auch unter Berücksichtigung der notwendigerweise fehlenden bzw. unzureichenden Expertise des Auftraggebers – zu ermitteln. – die Eignung und Erforderlichkeit von technischen und organisatorischen Maßnahmen zur Gewährleistung von Datenschutz und Datensicherheit behauptet und zugrunde gelegt wird, ohne den Risikomaßstab zu diskutieren, der beim Cloud Computing als einem im Prinzip herkömmlichen Datenverarbeitungsvorgang auch wegen § 9 S. 2 BDSG (Erwägungen der Wirtschaftlichkeit) unter Beachtung der Verhältnismäßigkeit zu ermitteln ist. – Kontrollrechte des Auftraggebers bis hin zu einer nachhaltigen Compliance-Kontrolle gefordert werden, ohne die Kontrolldichte zu ermitteln, die solche Maßnahmen erst verhältnismäßig und zumutbar erscheinen lassen. – die Begründung von Unterauftragsverhältnissen unter Aspekten der Datenherrschaft in Frage gestellt wird und Weisungsbefugnisse des Auftraggebers in einem Umfang als zwingendes Recht gefordert werden, ohne die Autonomie des Cloud-Anbieters als beauftragtem Experten auch in Anbetracht unzureichender fachlicher Kompetenz des Auftraggebers zu berücksichtigen. Die dem Cloud-Nutzer bei der Auftragsdatenverarbeitung obliegende Kontrolle der technischen und organisatorischen Maßnahmen nach § 11 Abs. 2 S. 2 Nr. 3, § 9 BDSG i.V.m. der Anlage zu § 9 BDSG sollte die Eigenheiten des Cloud Computing berücksichtigen. Eine enge und wortlautgetreue Auslegung des Begriffs „Festlegung der Maßnahmen“ in § 11 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 BDSG wird mit der Realität des Cloud Computing unvermeidlich kollidieren.33 Diese Auslegung geht vom (bisher für den Bereich des Datenschutzes vorherrschenden) Fall der zentralen Datenverarbeitung aus und setzt damit in Inhalt und Reichweite eine Kontrollmöglichkeit des Auftraggebers voraus, welche sich beim Cloud Computing nicht durchhalten lassen wird. Bei territorial begrenzten Cloud-Diensten mag für den einzelnen Auftraggeber noch die Kontrolle jedes einzelnen Rechenzentrumsstandorts möglich erscheinen. Schon hier mutet dieser Aufwand aber nicht praxisgerecht an und kollidiert mit dem in § 9 S. 2 BDSG normierten Erforderlichkeitsgrundsatz. Je weiter die Diversifizierung der Cloud reicht, umso mehr wird zugleich der faktische Zugriff der datenverarbeitenden Stelle (Cloud-Nutzer) reduziert. In vielen Fällen – vor allem bei weltweit verteilten Standorten – stößt daher eine realistische Kontrollmöglichkeit aller in Betracht kommender Rechenzentrumsstandorte, die in Inhalt und Reichweite derje-
33 So auch Niemann/Hennrich, CR 2010, 686 (690), die für eine dem technischen Fortschritt und der Realität des Cloud Computings angepasste, weite Auslegung plädieren.
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nigen bei zentraler Datenverarbeitung entspricht, an ihre Grenzen bzw. wird schlicht unmöglich.34 Stimmt man allerdings einer teleologischen, an den Erfordernissen und Eigenheiten dezentraler Datenverarbeitungsprozesse orientierten Auslegung der „Festlegung der Maßnahmen“ in § 11 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 BDSG zu, kann auch bei Cloud Computing eine ausreichende Kontrollmöglichkeit des Auftraggebers vorliegen. Eine mögliche cloud-spezifische Lösung wird z. B. darin gesehen, dass die Kontrollpflichten des Auftraggebers bereits durch regelmäßige Prüfberichte des Auftragnehmers erfüllt werden können.35 Im Rahmen standardisierter Leistungen für kleinere Unternehmen müsste der Auftraggeber seinen Kontrollpflichten zudem durch standardisierte Prüfberichte des Auftragnehmers nachkommen. 4. Fazit Die skizzierten Beharrungstendenzen der Rechtsordnung – im Sinne eines formaljuristischen, unzeitgemäßen Festhaltens an überkommenen (weil technisch, wirtschaftlich oder gesellschaftlich überholten) Regulierungskonzepten – ist der erste „Sales Blocker“ für die Verbreitung von Cloud-Computing-Angeboten, insbesondere solchen von global agierenden Anbietern. Dies ist aus Anbietersicht auch deshalb kritisch zu betrachten, weil die daraus resultierende Rechtsunsicherheit noch weitere potentielle Kunden abhalten wird, derartige Dienste in Anspruch zu nehmen. Bei einer technisch-funktionalen Innovation wie dem Cloud Computing wird das Problem offensichtlich, dass das BDSG immer noch als Ausfluss des Volkszählungsurteils unter dem Aspekt des Persönlichkeitsschutzes ausgelegt wird. Und das, obwohl es im Jahr 2011 längst um professionelles Datenmanagement geht, welches im Rahmen einer (eigentlich durch § 9 S. 2 BDSG bereits angelegten) Wirtschaftlichkeitsbetrachtung nur durch ein Sicherheitskonzept reguliert werden kann, in das Kriterien eines sachadäquaten Risikomanagements einfließen.36 III. Pauschalisierungstendenzen im politischen Diskurs Durch das hohe Abstraktionsniveau, in dem sich sowohl das „Cloud Computing“ als Marketingbegriff als auch die darauf bezogenen politischen Aussagen bewegen, ergeben sich Chancen und Risiken für den Vertrieb entsprechender Produkte bzw. 34
Vgl. auch Niemann/Hennrich, CR 2010, 686 (691). Vgl. Niemann/Hennrich, CR 2010, 686 (691) m.w.N. 36 Die Politik interessiert in erster Linie nur, dass (!) bestimmte Technologien bzw. technologische Konzepte als „Innovation“ gelten (sic!), weniger, was daran das Innovative ist. Vor allem aber scheut sich die Politik vor dem konsequenten Gedanken, dass Innovationen auch unvorhersehbare (!) Risiken mit sich bringen können. Es wäre eigentlich die Aufgabe der Politik, dies zu erklären, nicht aber, eine „Quadratur des Kreises“ anzustreben, etwa im Sinne einer „sicheren Unsicherheit“. 35
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Dienstleistungen. Das spezifische Risiko besteht darin, dass pauschale Bedenken wie jene unzureichender Datensicherheit eine ganze Angebotspalette in Verruf bringen können, von der allenfalls bestimmte einzelne Dienste kritisch zu betrachten wären. Umgekehrt besteht für Cloud-Anbieter die Chance, das Profil ihrer Angebote in der Weise zu konkretisieren, dass die im politischen Raum formulierten rechtlichen und technischen Anforderungen erfüllt werden oder zumindest als erfüllbar erscheinen. 1. Wolkige Aussagen zum Cloud Computing Analysiert man die zahlreichen Publikationen aus den Ministerien und anderen verantwortlichen Stellen, aus fachlichen Eckpunktepapieren und politischen Konzepten, so fällt auf, dass sämtliche Aussagen zum Cloud Computing auf einem sprachlich und inhaltlich signifikant hohen Abstraktionsniveau getroffen werden. Daraus ergeben sich spezifische Risiken für den Vertrieb von Cloud Services („Sales Blocker“). Allerdings bietet dieser Umstand auch Chancen. a) Beispiel 1: Aktionsprogramm Cloud Computing des Bundeswirtschaftsministeriums Das „Aktionsprogramm Cloud Computing“ kann geradezu als kennzeichnend genannt werden für das hohe Abstraktionsniveau und die darin zum Ausdruck kommende Unverbindlichkeit der damit verbundenen politischen Aussagen. So begrüßt der ehemalige Bundeswirtschaftsminister Brüderle „die gemeinsame Initiative von Wirtschaft, Wissenschaft und Politik, die Entwicklung, Verbreitung und Nutzung von Cloud Computing in Deutschland zu fo¨ rdern.“37 Er spricht von „Zukunftschancen“ und der Erschließung großer „Potenziale des Cloud Computings fu¨ r den Wirtschaftsstandort Deutschland.“ Dies gelinge nur mit einer „Sta¨ rkung von Sicherheit und Vertrauen im Cloud Computing“38, denn „vor allem kleinere Anwenderunternehmen, die nicht selbst aus dem IT-Bereich kommen“, hätten noch „Hemmschwellen, Software oder Hardware in der „Wolke“ des Internets zu nutzen.“ Sie würden sich fragen, „welchen Angeboten sie vertrauen und wohin sie Daten oder deren Verarbeitung sicher auslagern ko¨ nnen. Ein kaum u¨ berschaubares Angebot, sta¨ ndige Neuerungen, ungenu¨ gende Standardisierung und komplizierte Gescha¨ ftsmodelle erschwer(t)en oftmals die Entscheidungsfindung.“ 37
Aktionsprogramm BMWi, Grußwort, S. 4 (auch folgende Zitate), http://www.bmwi.de/ BMWi/Redaktion/PDF/Publikationen/Technologie-und-Innovation/aktionsprogramm-cloudcomputing,property=pdf,bereich=bmwi2012,sprache=de,rwb=true.pdf. 38 In ähnlicher Weise nennt der ehemalige BITKOM-Präsident Scheer den Aspekt der Kostensenkung für Unternehmen, um zugleich die „hohen Anforderungen an Datenschutz, Informationssicherheit und Integrationsfähigkeit“ zu betonen (Grußwort, S. 5). Auch der Präsident des CIOcolloquiums Endres greift hoch, wenn er von einer „zukunftsweisenden Technologie mit großem Entwicklungspotenzial“ spricht. Voraussetzung hierfür sei aber wiederum die „Gewährleistung der Rechts- und Datensicherheit“ (Grußwort, S. 6).
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Deshalb solle der Technologiewettbewerb „Trusted Cloud“ des Bundesministeriums fu¨ r Wirtschaft und Technologie einen wichtigen Beitrag leisten, „Nutzbarkeit und Akzeptanz von Cloud-Technologien durch u¨ berzeugende Anwendungsbeispiele deutlich zu erho¨ hen.“ Bei Themen wie „Datenschutz, Interoperabilita¨ t und Sicherheit“ sollen sich „traditionelle Standortsta¨ rken deutscher IT-Anbieter in die Entwicklung von Cloud Computing in Deutschland als Markenzeichen einbringen und so das Vertrauen in diese Technologie sta¨ rken.“ Bereits in diesem Grußwort wird ein typisches Argumentationsschema deutlich: Im ersten Schritt wird eine positive Grundhaltung erzeugt (Chancen und Potenziale). Diese Vorteile erfordern, so der zweite Schritt, Sicherheit und Vertrauen, also Attribute, deren Berechtigung wohl niemand in Zweifel ziehen kann. Ähnlich pauschal werden im dritten Schritt Risiken (zum Beispiel ungenügende Standardisierung oder komplizierte Geschäftsmodelle) benannt, die für sich sprechen sollen und deshalb jeder empirischen Beweiswürdigung entzogen werden. Besonders problematisch ist schließlich der vierte Schritt, wonach wiederum eine Lösung auf der Grundlage der im zweiten Schritt konstatierten Grundbedingung („Sicherheit und Vertrauen“) so ins Spiel gebracht wird, dass Alternativen entbehrlich erscheinen. Wenn dort nämlich von den „traditionellen Standortstärken deutscher Anbieter“ im Sinne der Marke „made in Germany“ die Rede ist39, werden bestimmte Geschäftsmodelle mit der Erfüllung abstrakter Anforderungen gleichgesetzt, was weder in der Sache zwingend noch vor dem Hintergrund einer Diskriminierung ausländischer Anbieter gerechtfertigt ist. b) Beispiel 2: BSI-Eckpunktepapier 2011 Das signifikant hohe Abstraktionsniveau im politischen Diskurs zeigt sich freilich nicht nur auf der politischen, sondern auch auf der fachlichen Ebene. Beispielhaft seien hierfür Passagen aus dem Eckpunktepapier des BSI40 genannt. „Obwohl weltweit IT-Dienstleistungen aus der „Wolke“ immer stärker in Anspruch genommen werden, zeigen fast alle Umfragen und Studien, dass es auch eine Vielzahl von Bedenken gibt, die Anwender vor der Nutzung von Cloud Computing Diensten zurückschrecken lassen. Als eines der größten Hindernisse wird immer wieder mangelndes Vertrauen in die Sicherheit der bereitgestellten Services genannt. Als zentrale Stelle des Bundes für die In-
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Aktionsprogramm BMWi S. 19: „Besonders wichtige Alleinstellungsmerkmale des deutschen IT-Sektors sind dabei Zuverlässigkeit, Sicherheit und Datenschutzkonformität der angebotenen Cloud-Lösungen“, http://www.bmwi.de/BMWi/Redaktion/PDF/Publikationen/ Technologie-und-Innovation/aktionsprogramm-cloud-computing,property=pdf,be reich=bmwi2012,sprache=de,rwb=true.pdf. 40 Siehe BSI, Eckpunktepapier „Sicherheitsempfehlungen für Cloud Computing Anbieter“. https://www.bsi.bund.de/SharedDocs/Downloads/DE/BSI/Mindestanforderungen/Eckpunktepa pier-Sicherheitsempfehlungen-CloudComputing-Anbieter.pdf;jsessionid=32FD3C8BD85 C0219423B90660EC5A4DD.2_cid286?__blob=publicationFile.
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Dirk Heckmann formationssicherheit ist es dem BSI wichtig, die Aufbauphase von Cloud Services aktiv mitzugestalten.“41 „Aufgrund der erwarteten technischen und wirtschaftlichen Potenziale wird sich Cloud Computing voraussichtlich am Markt durchsetzen können, allerdings nur, wenn die Anbieter es schaffen, die Fragen der Kunden zur Informationssicherheit und zum Datenschutz zu klären. Mit zunehmender Verbreitung in der Fläche werden allerdings Cloud Computing Angebote für Angreifer attraktiver, auch aufgrund der Konzentration vieler geschäftskritischer Ressourcen in zentralen Rechenzentren sowie der erforderlichen Standardisierung der Komponenten und Schnittstellen. Daher wird es auf lange Sicht nötig sein, internationale Standards für Informationssicherheit zu erarbeiten und zu etablieren, auf deren Grundlage Plattformen für das Cloud Computing überprüft und zertifiziert werden können. Eine der zentralen Aufgaben in den nächsten Jahren wird es daher sein, internationale Standards für die Informationssicherheit im Bereich Cloud Computing zu erarbeiten und zu etablieren, auf deren Basis die Sicherheit von Cloud Computing Anbietern zertifiziert werden kann. Nur durch international anerkannte Zertifizierungen von Cloud Computing Anbietern bzw. deren Services wird ein ausreichendes Vertrauen auf Seiten der Kunden geschaffen werden können.“42
2. Spezifische Risiken der Pauschalisierung und Abstrahierung Pauschalurteile, wie man sie im Hinblick auf die (gerade auch rechtliche) Beurteilung des Cloud Computing häufig vorfindet, können zum „Sales Blocker“ avancieren. Störungen des Vertriebs entsprechender Angebote sind in zweifacher Weise denkbar: Zum einen nimmt eine pauschale Distanzierung zu „Cloud Computing“ (etwa durch Datenschützer) den Anbietern die Chance, die Angemessenheit und Rechtskonformität des eigenen Angebots werbend nach außen zu tragen. Insoweit muss auch die subtile Wirkung von Aussagen wie „mangelndes Vertrauen in Sicherheit und Datenschutz“ berücksichtigt werden. Derartige Äußerungen rücken Cloud Computing in das Licht von etwas „Verbotenem“ oder „Unzulässigem“. Ebenso wenig werden die einzelnen Angebote eines „Cloud Computing“ näher spezifiziert (meist bleibt sogar gänzlich unerwähnt, welche Differenzierungen es überhaupt gibt) bzw. wird bei den Bedenken im Hinblick auf Datenschutz, Datensicherheit und Vertrauen nicht näher unterschieden, welche Daten auf welche Weise überhaupt gefährdet sind. Auf diese Weise erscheint der „Datenschutz“ für das „Cloud Computing“ wie ein Angst verbreitendes Schreckgespenst, dessen konturenlosen Gefahren kaum entgegengetreten werden kann. Zum anderen verhindert die Abstrahierung der Aussagen zu „Cloud Computing und Compliance“ im politischen Diskurs, dass Unternehmen sich auf richtungswei41
Aktionsprogramm BMWi, S. 8, http://www.bmwi.de/BMWi/Redaktion/PDF/Publikatio nen/Technologie-und-Innovation/aktionsprogramm-cloud-computing,property=pdf,be reich=bmwi2012,sprache=de,rwb=true.pdf. 42 Aktionsprogramm BMWi, S. 68.
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sende Entscheidungen der Regierung bzw. des Parlamentes einstellen und ihre Geschäftsmodelle auf entsprechende Weichenstellungen abstimmen können. Die politischen Entscheidungsträger scheuen jedwede Festlegung und überlassen das Feld damit jenen Instanzen, die sich aus heterogenen Motiven vereinzelter „Mutiger“ positionieren, wie etwa den Datenschutzbehörden.43 Diese Instanzen aus dem Verwaltungsvollzug sind aber nicht unmittelbar demokratisch legitimiert. Somit kann ihre Haltung nicht als Handlungsmaßstab dienen. 3. Chancen der Pauschalisierung und Abstrahierung Wie bereits aufgezeigt bergen pauschale Urteile und stark abstrahierende politische Aussagen zu technischen Innovationen Risiken für die Etablierung von Geschäftsmodellen, die auf eine verlässliche politische Weichenstellung angewiesen sind. Unternehmen, die auf diese Weise verunsichert werden, können von diesen Umständen aber auch profitieren: Ihnen bietet sich die Chance, das Profil ihrer Angebote in einer Weise zu konkretisieren, dass die im politischen Raum formulierten rechtlichen und technischen Anforderungen erfüllt werden oder zumindest als erfüllbar erscheinen. Im Grunde genommen geht es hier wie da um die normative Kraft des Faktischen:44 Unternehmerisches Marketing trifft auf politisches Marketing. Innovative Produkte und Dienstleistungen werden in ihren Compliance-Anforderungen auf jener Abstraktionshöhe als rechtskonform dargestellt, die die Politik in ihren Aussagen „eingestellt“ hat. Man greift also die politisch formulierten Ansprüche in ihrer pauschalen und abstrakten Form auf und subsumiert das eigene Datenschutzkonzept darunter. Das fällt aufgrund des hohen Abstraktionsgrades nicht schwer. Die unternehmerische Chance liegt hier in der Deutungshoheit: Wann genau ist ein Cloud-Computing-Dienst rechtskonform? Soweit dies nicht in verbindliche Regeln gefasst ist, können eigene Konzepte kaum widerlegt werden. Denkbar ist, dass genau diese Vorgehensweise die Politik veranlasst, „nachzulegen“. Dies kann in einem Dialog zwischen Politik und Unternehmen münden, der zur Konkretisierung bisheriger bloß formulierter Ansprüche führt. Diese „dialogische Konkretisierung“ trägt dazu bei, die als „Sales Blocker“ angeführte Rechtsunsicherheit zu beseitigen. 4. Fazit Neben den Beharrungstendenzen der Rechtsordnung de lege lata (oben II.) erweisen sich die Pauschalisierungs- und Abstrahierungstendenzen de lege ferenda im politischen Diskurs als weiterer „Sales Blocker“, soweit dadurch verhindert wird, not43
Beispielhaft vgl. Weichert, DuD 2010, 679 ff. Darauf stellt im Ergebnis auch Roger Albrecht in einem Artikel vom 19. Mai 2011 ab: http://www.enterprisecioforum.com/de/article/cloud-computing-–-daran-führt-kein-weg-vorbei. 44
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wendige Schutzmechanismen zum Ausgleich divergierender Interessen nach verlässlichen Vorgaben in die angebotenen Produkte und Dienstleistungen zu integrieren. Ergreifen Anbieter innovativer Dienste jedoch die Chance, Deutungshoheit und Konkretisierungsmacht bei der Formulierung der Compliance-Anforderungen zu übernehmen, dann avanciert das Zögern und Zaudern der politischen Entscheidungsträger möglicherweise zum „Enabler“ solcher Innovationen. Für die Etablierung von Angeboten am Markt genügt es dann nämlich, eine Rechtskonformität ohne plausiblen Widerstand zu behaupten. IV. Abschottungstendenzen der Wirtschaftsordnung Beim Cloud Computing zeigt sich in besonders starker Weise für außereuropäische Anbieter das Problem, dass industriepolitische Präferenzen durch rechtliche Bedenken verbrämt werden. Signifikanter Ausdruck dessen ist die „Cloud made in Germany“. 1. IT-Politik als Industriepolitik Wenn man die „Sales Blocker“ ermitteln will, die den Cloud-Computing-Anbietern in den nächsten Jahren den Vertrieb ihrer Produkte und Dienstleistungen erschweren könnten, ist neben den rechtsdogmatischen und rechtspolitischen Hürden auch zu bedenken, dass Cloud Computing innerhalb der IT-Innovationen geradezu paradigmatisch für „grenzüberschreitende Angebote“ steht und damit eine natürliche Affinität zum Weltmarkt aufweist. Solche Globalisierungstendenzen werden regelmäßig durch Abschottungstendenzen der Wirtschaftsordnung beantwortet: IT-Politik ist Industriepolitik. Selbst wenn es eindeutige Regeln zur Datenverarbeitung in Cloud-Umgebungen gäbe und keine politischen Vorbehalte oder Verzögerungen vorhanden wären, wäre der globale Wettbewerb um die besten Angebote trotzdem nur bedingt eröffnet. So paradox es auch erscheinen mag: Gerade die vielfach attestierte hohe Attraktivität der Cloud Services verhindert den Eintritt in nationale Märkte, weil diese sich gegen internationale Konkurrenz abzuschotten versuchen. In diesem Sinne forderte etwa Harald Lemke 2005, seinerzeit noch CIO des Landes Hessen, eine „knallharte IT-Industriepolitik“:45 „Wenn wir unsere Produkte in aller Welt verkaufen wollen, müssen wir auch der Showcase für diese Innovationen sein.“46 2. „Cloud made in Germany“ Und so werden die bereits vorstehend im Rahmen des politischen Diskurses zitierten Vorbehalte im Sinne von Datenschutz und Datensicherheit strategisch zur 45 46
http://www.gfaller.de/index.php?id=117. http://www.gfaller.de/index.php?id=117.
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Stärkung der eigenen Produkte verwendet. Sehr deutlich wurde dies auf der Cloud Computing Conference, die am 6. Oktober 2010 auf Einladung des BITKOM in Köln durchgeführt wurde.47 Dort ging es – schon wegen der Keynotes von Microsoft-Chef Steve Ballmer und Werner Vogels, CTO Amazon – zunächst um die internationale Dimension des Cloud Computing und dessen revolutionäre Kraft: „Die Cloud verändert alles.“ Weil allerdings die „Vertrauensfrage“ buchstäblich im Raum stand und es bei allen Visionen doch galt, der permanenten Datenschutz-Kritik zu begegnen, tat sich Telekom-Chef Obermann sehr leicht, beides vermeintlich in Einklang zu bringen. Vor allem Firmen, die geschäftskritische Anwendungen aus der Cloud beziehen wollen, verlangten nach Rechtssicherheit und garantierten Standards für Qualität und Stabilität, so Obermann. Das gelte gerade für die Datensicherheit. Deshalb seien die strengen deutschen Bestimmungen zum Datenschutz ein Standortvorteil für die „Cloud Made in Germany“.48 Natürlich mag diese Deutung auslegungsfähig sein.49 Es ist aber bezeichnend, dass ausgerechnet die vermeintlichen „Sales Blocker“ der „strengen Bestimmungen zum Datenschutz“ zum „Verkaufsschlager“ verkehrt werden. Wenngleich der Gedanke vom „Datenschutz als Geschäftsmodell“ einer gängigen Denkweise im Datenschutzrecht entspricht50, geht es aus Sicht eines deutschen Unternehmens doch eher um eine Abschottungsstrategie, wie dies etwa auf dem Markt sozialer Netzwerke schon länger von Unternehmen wie XING oder der VZ-Gruppe gegenüber dem amerikanischen Marktführer Facebook gepflegt wird.51 3. Fazit IT – zumal in einem globalen Markt – ist ein Milliardengeschäft. Eine Innovation wie Cloud Computing beflügelt Märkte und verheißt insbesondere durch die immanenten Skalierungsmöglichkeiten eine hohe Marktdurchdringung. Dies macht Cloud Computing zu einem volkswirtschaftlichen Faktor von unschätzbarer Größe. Dass dies aus Sicht nationaler Staaten industriepolitische Implikationen mit sich bringt, ist nicht näher erläuterungsbedürftig. So mag eine im Aufbau begriffene Marke „Cloud made in Germany“ nicht mehr als eine Fußnote in der weltweiten Compliance-Diskussion sein. Der darin sichtbare Trend zur Abschottung nationaler bzw. re47
Auf dieser Konferenz referierte der Verfasser dieser Studie zu „Cloud Computing zwischen Verantwortung und Vertrauen“, hierzu http://www.cloud-practice.de/news/cloud-computing-zwischen-vertrauen-und-verantwortung. Hierzu auch http://www.welt.de/print/welt_ kompakt/webwelt/article10147880/Revolution-aus-den-Wolken.html. 48 http://www.telekom.com/dtag/cms/content/dt/de/931006?printversion=true. 49 Differenzierend im Sinne einer Standortunabhängigkeit Heckmann, LTO v. 15. 11. 2010, http://www.lto.de/de/html/nachrichten/1929/cloud-made-in-germany-als-vertrauensgarant/ . 50 Vgl. Assion, Telemedicus v. 01. 04. 2010, http://www.telemedicus.info/article/1691-DasZeitalter-des-Datenschutzes-keinesfalls-vorbei.html. 51 Siehe zum Datenschutz in sozialen Netzwerken Erd, NVwZ 2011, 19 ff.
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gionaler Märkte ist unterdessen ein „Sales Blocker“ jedenfalls für solche Dienste, die, wie das Cloud Computing, ihren entscheidenden Effekt gerade in der grenzüberschreitenden Datenverarbeitung haben. Diese Hürde ist auch deshalb ernst zu nehmen, weil bestimmte Geschäftsmodelle nicht ihrer Konkurrenz willen, sondern aus vordergründigen Compliance-Erwägungen diskreditiert werden können. V. Ideologisierungstendenzen der fachlichen Ebene Für Cloud Dienste besteht ein erhöhtes Risiko einer „kalten Enteignung“ durch Standardisierung. Cloud Computing zeichnet sich durch eine hohe Skalierbarkeit (insbesondere durch Anpassung an unterschiedliche Bedarfe) und die damit einhergehende Innovationsoffenheit aus. Besonders autoritativ gesetzte (staatliche) Standards wirken als Störfaktor, unabhängig davon, ob sie bewusst oder unbewusst gegen bestimmte Erscheinungsformen des Cloud Computing gerichtet sind. 1. Standardisierung als erwartungssteigernde „Zauberformel“ „Standardisierung“ zählt zu jenen technisch-organisatorischen Vorkehrungen in heterogenen (IT-) Systemen, deren Begrifflichkeit durchweg positiv besetzt ist. Sie gelten als erstrebenswert und nützlich und dienen geradezu als „Zauberformel“, die Funktionsfähigkeit von Systemen (wieder-)herzustellen. Wesentliche Wachstums- und Servicepotentiale lassen sich durch eine Abstimmung von Standards und Interoperabilität erreichen.52 So übernimmt auch die Politik gerne Forderungen nach (IT-) Standardisierung in ihr Regulierungskonzept, um (vermeintliche) Missstände durch „Lösungen am Reißbrett“ zu beseitigen. Begriffe wie „Standard“ und „Interoperabilität“ werden immer häufiger genannt und finden zunehmend Eingang in die Gesetzessprache.53 Ein Beispiel für die rechtlich durchaus bedenkliche IT-Standardisierung im öffentlichen Sektor bietet SAGA.54 So plausibel die Forderung nach Standardisierung oft klingt (und zuweilen auch tatsächlich berechtigt ist), führt sie doch zu Problemen, die von der Rechtswissenschaft bislang kaum beachtet wurden. Dies liegt daran, dass sowohl der Begriff des „Standards“, insbesondere jener des IT-Standards, als auch seine rechtliche Einordnung und (Eingriffs-)Wirkung ungeklärt sind. Obwohl es bereits seit vielen Jahrzehnten Standardisierungsverfahren und -gremien auf nationaler und internationaler Ebene gibt, existiert bis heute kein anerkann-
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Vgl. Kühn/Riedl/Spichiger, in: Schweighofer, Semantisches Web und Soziale Netzwerke im Recht, 2010, S. 131 ff. 53 Vgl. Art. 91c GG „Standards“, § 2 BSI-Gesetz „Sicherheitsstandards“; § 2 EGovG Schleswig-Holstein. 54 Hierzu aus verfassungsrechtlicher Sicht grundlegend Heckmann, CR 2006, 1 ff.
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ter bzw. einheitlich gebrauchter Rechtsbegriff des Standards.55 Dies liegt nicht zuletzt daran, dass „Standard“ sowohl im Kontext von Normen als auch im Zusammenhang mit Qualitätsmerkmalen verwendet wird. Bezogen auf Informationstechnik wird Standard56 zuweilen auch mit Interoperabilität57 gleichgesetzt oder verwechselt. Im Rahmen einer noch auszubildenden „Rechtstheorie der Standardisierung“ sollte unterschieden werden: Was sind Standards (Produktstandards, Verfahrensstandards, normierte Formate und Spezifikationen), wer ist zur Festlegung solcher Standards berufen und was soll mit dem Setzen von Standards rechtlich bewirkt werden? Diese Begriffs- und Abgrenzungsschwierigkeiten werden noch verstärkt, wenn man den Begriff „Interoperabilitätsstandard“ hinzunimmt: Zum Teil wird dieser Begriff für Softwarestandards verwendet, die aufgrund ihrer technischen Eigenheiten, einer etwaigen Lizenzfreiheit („offene Standards“) oder anderer Vertriebs- und Einsatzbedingungen ein besonderes Maß an Interoperabilität in einer vorgegebenen ITUmgebung gewährleisten. Genau genommen ist ein solcher Begriff entbehrlich, zumindest aber irreführend. Denn im Prinzip sorgt jeder Standard für Interoperabilität bezüglich jener IT-Komponenten, deren Verknüpfung sich an genau diesem Standard orientiert.58 Wenn man den Begriff „Interoperabilitätsstandard“ (IO-Standard) jedoch nicht in dieser redundanten Weise verwenden will, darf man ihn nicht als „Interoperabilität von Standards“ oder „Interoperabilität durch Standards“ verstehen, sondern im Sinne einer Standardisierung von Interoperabilität. Dann aber geht es um Standards im Sinne von Regeln (Normen), deren Einhaltung Interoperabilität (hier: das funktionale Zusammenwirken von Informationssystemen zum unmittelbaren Datenaustausch) sicherstellt. Das können technische oder Verfahrensstandards sein. Als technische 55
U.a. zum Begriff „Standard“ im allgemeinen Verständnis Steinmetz, IT-Standardisierung und Grundgesetz, 2010, S. 25 ff. 56 Von einem Standard kann man (allgemein) sprechen bei einer „Vereinbarung, welche für die Nutznießer eines Objekts in Bezug auf bestimmte Eigenschaften dieses Objekts von einer anerkannten Stelle als verbindlich getroffen wird“. Eine gesetzliche Definition von Standards findet sich nunmehr in § 2 Nr. 2 des E-Government-Gesetzes Schleswig-Holstein: „Im Sinne dieses Gesetzes sind Standards technische und prozessuale Standards. Ein technischer Standard ist die Festlegung einer technischen Vorgehensweise auf einem bestimmten Gebiet. Hierzu zählen insbesondere die Definition von Schnittstellen, die Festlegung von Datenschemata und von Daten- und Dateiformaten für die Speicherung, den Austausch sowie für die Beund Verarbeitung von Daten. Ein prozessualer Standard ist die Festlegung von organisatorischen Bedingungen oder der Vorgehensweise hinsichtlich des Verfahrens auf einem bestimmten Gebiet. Hierzu zählt insbesondere die Festlegung von zeitlichen und fachlichen Prozessschnittstellen.“ 57 Interoperabilität (für sich) ist die Eigenschaft eines heterogenen Systems, dessen Komponenten funktional zusammenwirken zu lassen. 58 In diesem Sinne konnte man den Standard für Videokassetten VHS auch als Interoperabilitätsstandard bezeichnen, weil er nämlich die Interoperabilität dieser Videokassetten mit VHS-Videorekordern gewährleistete. In ähnlicher Weise wird der Softwarestandard ODF auch als Interoperabilitätsstandard gehandelt, weil seine Verwendung Interoperabilität von Office Dokumenten verspricht.
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Spezifikation kommen besonders die Definition von Schnittstellen und die Festlegung einheitlicher Übertragungsprotokolle oder Konvertierungsprogramme in Betracht. Die Festlegung derartiger IO-Standards ist ein Signal an den Markt, die Weiterverwendungsmöglichkeiten von Informationen durch Schaffung technischer Übergänge zu erweitern, d. h. die (latente) Abschottungswirkung „proprietärer“ Systeme zu vermeiden oder zu überwinden. In einem Satz: Ein IO-Standard beschreibt die Normierung von Übergängen in einem heterogenen System. Die politische (und auch administrative) Forderung einer IT-Standardisierung weckt Erwartungen, die kaum erfüllbar sind. Komplexe heterogene IT-Systeme sind durch IT-Standards nur bedingt regulierbar. Vor allem können autoritativ (extern) gesetzte IT-Standards wie ein Fremdkörper wirken, der zu unerwünschten Anpassungen und Veränderungen des regulierten IT-Systems führt, ohne dass dies durch die erstrebten Schutzwirkungen zwingend veranlasst wäre. 2. Risiken einer unbedachten Standardisierung von Cloud-Technologien Unnötige oder sachfremd motivierte IT-Standards wirken sich in zweifacher Hinsicht negativ auf den Vertrieb aus: Zum einen haben es Cloud-Anbieter, deren Angebote in einem oder mehreren Punkten nicht standardkonform erscheinen, schwer, sich gegenüber Konkurrenzangeboten zu behaupten, die ihrerseits mit ihrer Standardkonformität werben werden. Zum anderen führen diffuse IT-Standards (soweit diese nicht „Gesetzeskraft“ haben) zu einer Verunsicherung der Entwicklungsabteilungen auf Anbieterseite, weil unklar bleibt, welchen Verbindlichkeitsgrad und welche „Halbwertszeit“ diese Cloud-Standards haben. Weiter können Risiken auch dahingehend bestehen, dass ein marktführender „Player“ Leistungen nach seinen Vorstellungen standardisiert und andere Unternehmen aufgrund der Marktdominanz dazu zwingt, diesen Standard auch zu akzeptieren. Cloud-spezifisch kann auf die Gefahr eines „Vendor-Lock-Ins“ verwiesen werden, also einer Herstellerabhängigkeit: Leistungen sind so spezifisch konfiguriert, dass ein Wechsel nur mit großem Aufwand durchführbar wäre. 3. Fazit Cloudbezogene IT-Standards wirken sich mittelbar auf die Verwirklichung von Cloud-Computing-Geschäftsmodellen aus. Sie haben – anders als gesetzliche Datenschutzbestimmungen – keine unmittelbare Verbots- oder Gebotswirkung. Vielmehr wirken sie im Regelfall wie eine Empfehlung an die Kunden, (nur) standardkonforme Angebote in Anspruch zu nehmen.
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Allerdings ist auch eine solch bloße Empfehlung nicht frei von rechtlichen Voraussetzungen. So kann IT-Standardisierung in Konflikt mit Verfassungs- und Vergaberecht geraten:59 IT-Standards haben eine erhebliche marktregulierende Wirkung, indem sie all jene IT-Produkte und Dienstleistungen vom Beschaffungsmarkt, insbesondere jenem der öffentlichen Hand, abkoppeln, die sich als nicht „standardkonform“ erweisen. Damit wird die unter Bedarfsgesichtspunkten notwendige Interoperabilität ohne Not durch einen Standardisierungsprozess gesteuert, der zudem mangels kohärenter Delegations- und Entscheidungsstrukturen intransparent bleibt. Der damit einhergehende faktische Grundrechtseingriff zu Lasten der verdrängten Marktteilnehmer bedarf der verfassungsrechtlichen Rechtfertigung. Diese scheitert bereits am Fehlen einer gesetzlichen Grundlage für marktorientierte Technologievorgaben behördlicher Standardisierungsstellen. Die Empfehlung an die Kunden, (nur) standardkonforme Angebote in Anspruch zu nehmen, kann sich negativ auf Cloud-Angebote auswirken. Gerade weil die Forderung nach „Standardisierung“ positiv besetzt ist (die Marktteilnehmer assoziieren damit vielfach technisch notwendige Interoperabilität), wird ein – möglicherweise sachlich nicht gerechtfertigtes – Vertrauen in diese Standards gesetzt, was gerade vor dem Hintergrund der Datenschutzdiskussion beim Cloud Computing Kaufentscheidungen beeinflussen kann. Umgekehrt ist aber auch zu betonen, dass Cloud Computing in einem bestimmten Umfang Standards braucht. Es kommt nur darauf an, wer diese setzt bzw. in welchem Verfahren diese zustande kommen (autoritativ oder marktorientiert). Der „Sales Blocker“ ist deshalb nicht die Cloud-Standardisierung als solche, sondern sind gewisse Ideologisierungstendenzen bei dieser Standardisierung. Ähnlich wie dies schon bei der Open-Source-Debatte60 und bei SAGA (.NET vs. J2EE)61 zu beobachten war, ist das Risiko gegeben, dass Entscheidungsträger aus einer intransparenten und rechtlich schwer begründbaren Haltung heraus bestimmte Hersteller, ihre Produkte oder Geschäftsmodelle kritisieren und – eine offene Abwägung scheuend – das gewünschte Ergebnis in die Form „passender“ Standards kleiden. Dem müsste entgegengewirkt werden. VI. Destabilisierungstendenzen des Cloud Marketing Der Erfolg von „Cloud Computing“ steht und fällt mit der Gewinnung des Vertrauens der Marktteilnehmer. Vertrauensverlust ist der definitive „Sales Blocker“, Vertrauensstiftung dementsprechend der wesentliche Erfolgsfaktor. Aus Anbietersicht kommt es darauf an, die Definitionshoheit über die Vertrauenserwartungen zu erhalten. 59
Hierzu näher Heckmann, CR 2006, 1 ff. Hierzu Heckmann, CR 2004, 401 ff. 61 Hierzu Heckmann, CR 2006, 1 ff. 60
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1. Vertrauensverlust und Vertrauensvorschuss beim Cloud Computing Wenn es ein Wort gibt, das im Kontext der IT-Entwicklung in letzter Zeit geradezu inflationär gebraucht wird, dann ist es „Vertrauen“, das in diesem Kontext gar als Zauberwort62 bezeichnet wird. Je nach Standpunkt und Intention geht es einmal um das fehlende und einmal um das notwendige Vertrauen in Cloud-Angebote. Im Prinzip spitzt sich die gesamte Diskussion um Cloud Computing auf die „Vertrauensfrage“ zu: So bringt beispielsweise Katja Friedrich in ihrem Blogeintrag vom 30. 6. 201163 die Debatte auf den Punkt: „Cloud dreht sich nicht mehr nur um Infrastruktur und Software, sondern vielmehr um Mehrwerte, die über ein Cloud-Angebot geschaffen werden müssen. Laut Gartner wird sich der Nutzen eines Cloud-Angebotes von „Capacity on demand“ zu „Capability on demand“ verschieben. Wir schließen uns dieser Einschätzung an. Im Umkehrschluss bedeutet das für Unternehmen, dass sie einem Cloud-Partner großes Vertrauen entgegen bringen müssen. Vertrauen ist im Moment aber noch ein Hindernis für klassische Off-shoring-Cloudanbieter in Deutschland. In Synergie jedoch können deutsche und indische Cloud-Anbieter und IT-Dienstleister die Vertrauensfrage lösen. … Security, Safety, Privacy – diese Schlagworte sind nach wie vor große Herausforderungen beim Thema Cloud. Diese Überlegungen sind bei weitem nicht mehr theoretischer Natur, …. Auch hier gilt für Unternehmen: Vertrauen wird der Schlüssel sein müssen. Hundertprozentige Sicherheit gibt es nicht, aber vertrauenswürdige Partner.“
Und die PWC-Studie „Cloud Computing im Mittelstand“ formuliert: „Anbieter sollten daher alle zur Verfügung stehenden Zertifizierungen und Nachweise unabhängiger Dritter nutzen, um das zu tun, was offenkundig am meisten fehlt: Vertrauen schaffen.“64
In der Studie „XaaS Check 2010 – Status Quo und Trends im Cloud Computing“ kommen die Autoren der TU Darmstadt, IT Research und Wolfgang Martin Team zum Fazit: „Hindernisse für die Nutzung von Cloud Computing sind und bleiben die Themen Sicherheit, Vertraulichkeit, rechtliche Aspekte sowie Compliance-Anforderungen.“65
62
http://www.ishpc.de/2011/05/31/zauberwort-vertrauen-die-cloud-im-mittelstand/. http://www.cirquent-blog.de/2011/06/30/cloud-was-zahlt-sind-vertrauen-und-mehr wert/. 64 http://www.pwc.de/de_DE/de/mittelstand/assets/Cloud_Computing_Mittelstand.pdf, Studie S. 33. 65 http://www.xaas-check.eu/download.php?cat=00_Willkommen&file=2010-XaaSCheck-Report.pdf. 63
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So resümiert auch Dr. Guido Möllering, Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Köln, in seiner Untersuchung über Cloud Computing aus der Sicht der Vertrauensforschung66 unter der Überschrift „Verantwortung zeigen“: „So wird es auch im Cloud Computing über alle Bemühungen um fehlerfreie Technologien, lückenlose Rechtsapparate, konsequente Aufsichtsinstanzen und vorsorgliche Versicherungen hinaus immer nötig sein, dass die Beteiligten signalisieren, dass sie Verantwortung für das System tragen wollen – auch über ihre individuellen Verpflichtungen hinaus. Geschieht dies, werden sich viele weitere Akteure in die Wolke hineinwagen. Ich habe in meinem Vortrag herausgestellt, dass es in der Internet Cloud vor allem auf generalisiertes Vertrauen und Vertrauen in abstrakte Systeme ankommt. Wo technische Sicherungsmechanismen an Grenzen stoßen, müssen die verbleibenden Lücken durch soziale Mechanismen geschlossen werden. Daher gilt es, Gelegenheiten zu schaffen und zu nutzen, bei denen die das System tragenden Akteure in Erscheinung treten, ihre Verantwortungsbereitschaft beweisen und auch gegen die vorgehen, die verantwortungslos handeln – egal, ob diese auf der Seite der Anbieter, der Nachfrager oder der Behörden stehen. Es geht nicht um absolute Sicherheit, sondern um den guten Willen. Der allein reicht wiederum auch nicht aus – das wäre ja weltfremd – aber er muss stets erkennbar sein, wenn Cloud Computing mit Vertrauen effizienter oder überhaupt erst in der Breite möglich werden soll.“
Auch auf der Cebit 2011, die Cloud Computing als herausragendes Thema platzierte, wurden Vertrauensdefizite hervorgehoben.67 2. Definitionshoheit über die Vertrauenserwartungen Vertrauen hängt mit Erwartungen zusammen.68 Wenn etwa Cloud-Kunden den Diensten und Services ihrer Anbieter Vertrauen schenken, dann verknüpfen sie damit eine bestimmte Erwartung, etwa im Hinblick auf deren fachliche Kompetenz oder dahingehend, wie ihr Vertragspartner mit ihren Daten und den damit verbundenen Interessen (im Krisenfall) umgeht.69 Wer wiederum bestimmten Anbietern oder Angeboten misstraut, drückt damit auch eine (negative) Erwartung aus, nämlich dass jene Akteure die (vielleicht hochgesteckten) Anforderungen an die Verfügbarkeit, Vertraulichkeit oder Integrität der ausgelagerten Daten nicht erfüllen. Wenn Vertrauen also der wesentliche (Miss-) Erfolgsfaktor für Cloud Computing ist und die Investition von Vertrauen im Wesentlichen mit der Erfüllbarkeit von Vertrauenserwartungen zusammenhängt, ist es für einen Anbieter von entscheidender Bedeutung, die Definitionshoheit über diese Vertrauenserwartungen nicht zu verlieren. Welche Erwartungen bzw. Anforderungen an Cloud-Computing-Dienste gestellt werden, hängt auch damit zusammen, wie der Anbieter den Inhalt seines Angebots, 66
http://www.mpifg.de/people/gm/downloads/MK_Moellering_VernebeltesVertrauen_Do kumentation_100209.pdf. 67 http://www.welt.de/wirtschaft/webwelt/article12660443/Auf-der-Cebit-kaempfen-dieKonzerne-um-Vertrauen.html. 68 Luhmann, Vertrauen, 4. Aufl. 2000, S. 103 ff. 69 Zu Vertrauen in virtuellen Räumen, Heckmann, K&R 2010, 1 ff.
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die eigene Kompetenz zu dessen Erfüllung und den Umgang mit verbleibenden Risiken kommuniziert. Hier wird es besonders darauf ankommen, keine übertriebenen und damit praktisch unerfüllbaren Erwartungen aufkommen zu lassen. So ist es eine große Herausforderung an das Cloud Marketing, die Vorzüge, den Mehrwert und damit verbundene Leistungsversprechen zu verbreiten, ohne die jeweiligen Risiken und Einschränkungen im Portfolio zu verschweigen. 3. Fazit Die Diskussion um fehlendes Vertrauen, Vertrauensdefizite oder Misstrauen in Cloud Computing erweist sich als wesentlicher „Sales Blocker“. Man kann insoweit von Destabilisierungstendenzen sprechen. Innovationen haben es per definitionem ohnehin schwer, Vorbehalte gegenüber dem Neuen, dem Unbekannten, dem Riskanten auszuräumen. Das wird noch gesteigert, wenn solche Vorbehalte mit einem diffusen, generalisierenden „Misstrauen“ gegenüber Geschäftsmodellen begründet werden, die bestimmte Risiken implizieren und diese über einen dezidierten Mehrwert der Transaktion zum Ausgleich bringen.70 Alleine schon der Umstand, dass die „Vertrauensfrage“ im Kontext des Cloud Computing permanent aufgeworfen wird, verhindert die Etablierung eines stabilen Cloud-Marktes, in dem es nicht – wie bei anderen Produkten und Dienstleistungen – um Qualität, Preis und Service, sondern um die Legitimität der Innovation als solche geht. VII. Ausblick: Compliance- und Risikomanagement als Enabler des Cloud Computing Betrachtet man die wesentlichen „Sales Blocker“ für Cloud-Computing-Angebote, nämlich die – Beharrungstendenzen der Rechtsordnung, – Pauschalisierungstendenzen im politischen Diskurs, – Abschottungstendenzen der Wirtschaftsordnung, – Ideologisierungstendenzen der fachlichen Ebene, – Destabilisierungstendenzen des Cloud Marketing, dann sind es letztlich die Risiken, die Teile der Politik, Medien und Gesellschaft in der Veränderung der IT-Strukturen durch das Cloud Computing sehen bzw. prognostizieren. Diese – zumindest subjektiv wahrgenommenen – Risiken führen zu einem Abwehr- bzw. Vermeidungsverhalten der Juristen in der Anwendung und Fortent70
Dieses Phänomen könnte eventuell über eine Einbeziehung von Erkenntnissen der spieltheoretischen Vertrauensforschung erklärt werden, was an dieser Stelle nur angedeutet werden kann. Vgl. zum Einstieg Peng-Keller, Vertrauen verstehen, Hermeneutische Blätter 1/ 2 – 2010, S. 12 (http://www.vertrauen-verstehen.uzh.ch/personen/peng-keller/HBl2010_1_ 2_Peng_Keller.pdf).
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wicklung des Rechts gegenüber Innovationen. Sie bringen die Politik dazu, die notwendige Diskussion um Auswirkungen der neuen Services auf einer so hohen Abstraktionsebene zu führen, dass eine wirkliche Entscheidung vermieden wird, damit in diesem Kontext keine eigene Verantwortung übernommen werden muss. Es sind aber nicht nur technische Unsicherheiten im Hinblick auf die Verfügbarkeit, Vertraulichkeit und Integrität von Daten, die als Risiko wahrgenommen werden. Vielmehr wird der Einfluss bestimmter international agierender Player auf heimische Märkte als weiteres Risiko gesehen, was einen Schutzinstinkt gegenüber nationalen Anbietern auslöst. Schließlich kann man die Kommunikation dieser Risiken als weiteres, eigenes Risiko, nämlich jenem der Destabilisierung, begreifen. Nachdem diese Risiken auf einer rein fachlichen und rationalen Basis nicht beseitigt werden können, und jedwede Regulierung des Cloud Computing (außerhalb eines unsinnigen und ohnehin nicht erwünschten Totalverbots) nur unvollkommene Verbindlichkeiten begründen kann, geht es aus Sicht der Cloud-Anbieter letztlich um ein adäquates Compliance- und Risikomanagement. Dieses kann Enabler des Cloud Computing sein. 1. Netzpolitisch: Schaffung neuer Vertrauensstrukturen Die kurze Analyse der Rechtslage und der rechtspolitischen Implikationen der aktuellen Cloud-Diskussion hat gezeigt, dass Cloud Computing auf längere Sicht mit dezidierten Unsicherheitsfaktoren behaftet sein wird. Weder eine eindeutige „Öffnungsklausel“ für weitergehende IT-Outsourcing-Dienste (etwa im Sinne einer Novellierung oder Ergänzung des § 11 BDSG) noch der Versuch einer strengen Regulierung zur Minimierung (etwa im Sinne einer konkretisierenden Verschärfung des § 11 Abs. 2 BDSG) sind zu erwarten. Das deshalb aus Anbietersicht vorzugswürdige Compliance- und Risikomanagement-Konzept sollte – gleichsam proaktiv – kurzfristig auf neue Vertrauensstrukturen und langfristig auf eine neue Vertrauenskultur setzen. Vertrauen bedeutet, trotz Ungewissheit und Verwundbarkeit zu erwarten, dass andere ihre Freiräume kompetent und verantwortungsvoll nutzen.71 Erst Vertrauen macht die Akteure in einem komplexen System wie der Cloud-Infrastruktur handlungsfähig. Notwendig ist ein generalisiertes Vertrauen, eine vertrauensvolle Grundeinstellung, die nicht Anbieter gegen Nachfrager ausspielt, sondern eine „Koalition der Verantwortungsvollen gegen Betrüger und Trittbrettfahrer“ bildet.72 Ebenso gehört eine gewisse Fehlertoleranz und eine „Kultur des konstruktiven Problemlösens“ zu einer neuen Vertrauenskultur: Vertrauen wird nämlich „nicht schon dadurch zerstört, dass ein Problem auftritt, sondern erst dadurch, dass die betreffenden Akteure 71
Möllering, Vernebeltes Vertrauen? Cloud Computing aus Sicht der Vertrauensforschung, 2011, S. 4, http://www.mpifg.de/people/gm/downloads/MK_Moellering_VernebeltesVertrauen_Dokumentation_100209.pdf. 72 Möllering, Vernebeltes Vertrauen?, a.a.O., S. 5.
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das Problem nicht lösen, sondern sich als inkompetent erweisen oder sich gar ihrer Verantwortung entziehen“.73 Flankiert wird ein solches System durch Kontrollen, die aber den Freiraum der Akteure des vertrauenswürdigen Systems nicht in Frage stellen dürfen, sondern im Gegenteil das Vertrauen darin stärken, indem sie (alleine) den Vertrauensmissbrauch im Visier haben. Dass die Kontrolleure ihrerseits um Vertrauen werben müssen, widerspricht diesem Prinzip nicht, sondern bestätigt es. 2. Formaljuristisch: Entwicklung neuer Einwilligungsprozesse Datenschutzrechtlich umgemünzt wird ein Compliance- und Risikomanagement beim Cloud Computing auf die Entwicklung neuer Einwilligungsprozesse setzen müssen.74 Will man nämlich nicht alleine auf eine Rechtfertigung durch gesetzliche Ermächtigung angewiesen sein, lässt sich eine (gar hohe) Legitimation der Verlagerung von persönlichen und geschäftlichen Daten „in die Wolke“ am ehesten durch Einwilligung jener erreichen75, um deren Daten bzw. Interessen es bei dieser Datenverarbeitung geht. Weil man de lege lata aber bezweifeln kann, ob eine wirksame informierte Einwilligung durch konventionelle Datenschutzpolicies oder AGBs erzielt werden kann, gilt es, die Vorteilhaftigkeit und Vertrauenswürdigkeit der eigenen Cloud-Infrastruktur, ihrer Akteure und Prozesse, gegenüber den Betroffenen so zu verdeutlichen, dass diese ernsthaft bereit sind, die offen gelegten (Rest-)Risiken einzugehen. Die Schaffung von Transparenz ist der maßgebliche Legitimationsfaktor für eine daraufhin erteilte Einwilligung zum IT-Outsourcing. 3. Dogmatischer Rechtfertigungsansatz: Risikoabwägung i.S.d. § 9 S. 2 BDSG Rechtsdogmatische Grundlage für das Konzept des Compliance- und Risikomanagements ist § 9 S. 2 BDSG. Danach sind Maßnahmen zur Gewährleistung von ITSicherheit nur erforderlich, „wenn ihr Aufwand in einem angemessenen Verhältnis zu dem angestrebten Schutzzweck steht“. Das Datenschutzrecht verdeutlicht mit dieser Regelung, dass es keinen „Datenschutz um jeden Preis“ gibt.76 So ist auch bei der 73
Möllering, Vernebeltes Vertrauen?, a.a.O., S. 6. Neuartige Einwilligungsprozesse werden auch bei der allgegenwärtigen Datenverarbeitung im Smart Life gefordert, vgl. dazu den Ansatz des Smart Privacy Managements, Heckmann, K&R 2011, 1 (5). 75 Kritisch Niemann/Hennrich CR 2010, 686 (688), die davon ausgehen, dass die Einwilligung von Datensubjekten cloud-spezifisch nicht von Relevanz sein kann. Nicht nur kann diese jederzeit widerrufen werden, sondern bestehen auch Schwierigkeiten, diese durch AGB und abstrakt für alle möglichen Datenverarbeitungen in einer Cloud herbeizuführen. 76 Dies entspricht auch der verfassungsrechtlichen Rechtsprechung, wonach der „Einzelne nicht ein Recht im Sinne einer absoluten, uneinschränkbaren Herrschaft über „seine“ Daten [hat]“ vgl. BVerfGE 65, 1, 43 f. 74
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Auftragsdatenverarbeitung im Rahmen von Cloud-Computing-Diensten zur Sicherung sowohl der personenbezogenen Daten selbst als auch ihrer Verarbeitungsprozesse (nur) jenes Schutzniveau zu „gewährleisten, das den von der Verarbeitung ausgehenden Risiken und der Art der zu schützenden Daten angemessen ist.“77 Dabei sind der Stand der Technik und die bei der Durchführung von Sicherungsmaßnahmen entstehenden Kosten zu berücksichtigen. Leitlinien für die Abwägung sind der konkrete Schutzbedarf und das Schadenspotenzial.78 Dies läuft im Ergebnis auf eine Risikoanalyse heraus, weil „absolute Sicherheit in vernetzten Systemen selbst mit erheblichem Aufwand kaum erreichbar ist. Es gilt stattdessen, ausreichende Hürden gegen einen Missbrauch der Systeme und angemessene Vorkehrungen gegen Störungen zu planen, umzusetzen und regelmäßig im Hinblick auf ihre Wirksamkeit zu kontrollieren“.79 Am Ende gilt es, ein adäquates Schutzniveau80 für den Schutz konfligierender Interessen und Rechtsgüter zu erreichen. Dies beginnt mit einer politisch überzeugenden und rechtsdogmatisch konsistenten Bestimmung des richtigen Maßes von IT-Sicherheit bzw. Datenschutz. Das darauf aufbauende Risikomanagement-Konzept schafft Transparenz, Vertrauen und Dispositionssicherheit. Dies löst auf lange Sicht die hier vorgestellten „Sales Blocker“ auf.
77
Schultze-Melling, in: Taeger/Gabel, BDSG, 2010, § 9 Rn. 19. Schultze-Melling, in: Taeger/Gabel, BDSG, 2010, § 9 Rn. 21 ff. 79 So zutreffend Schultze-Melling, in: Taeger/Gabel, BDSG, 2010, § 9 Rn. 28. 80 Hierzu grundsätzlich Heckmann/Seidl/Maisch, Adäquates Sicherheitsniveau in der elektronischen Kommunikation, 2012, passim. 78
Verfassungswandel im Bild: Werner Tübkes „Herbst ’89“ Von Erk Volkmar Heyen, Greifswald I. Über Verfassungswandel läßt sich nicht nur sprechen und schreiben, man kann ihn auch ins Bild setzen. Das Erste machen Staatsrechtler gern, das Zweite ist ihre Sache nicht, sollte aber ihr Interesse wecken, sobald sie sich vergegenwärtigen, daß im Bild etwas veranschaulicht sein kann, über das sich zwar auch sprechen und schreiben ließe, aber nicht in der dem Bild eigenen, ästhetisch komprimierten Weise. Die Verfassungsikonographie ist freilich kaum entwickelt1 und nur vergleichsweise wenig mit auch künstlerisch bedeutsamen Werken der Malerei verbunden. Diese erhalten ihren Verfassungsbezug teils aus der Schilderung von Ereignissen, die im Zusammenhang mit einer bestimmten Verfassungsgebung stehen, teils aus der inhaltlichen Kennzeichnung der in den Blick genommenen Verfassung. Bekannte, ja berühmte Bildbeispiele für eine Ausrichtung auf verfassungsrelevante Ereignisse sind „Der Schwur im Ballhaus“ von Jacques-Louis David (1748 – 1825)2 und „Die Freiheit führt das Volk“ von Eugène Delacroix (1798 – 1863)3, zwei Werke mit Bezug auf die französischen Revolutionen von 1789 bzw. 1830. Nennen läßt sich hier aber auch „Die Proklamierung des Deutschen Kaiserreiches“ von Anton von Werner (1843 – 1915).4 Die erste Fassung dieses Werkes, die im Berliner Stadtschloß Aufnahme fand, aber dort im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde, feiert zusammen mit der Reichsproklamation im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles die siegreiche deutsche Waffenbrüderschaft als Voraussetzung der Reichsgründung, jedoch als eine Angelegenheit nicht des Volkes, sondern der 1 Vgl. jüngst U. Fleckner u. a. (Hg.), Handbuch der politischen Ikonographie [hinfort: HPI], 2 Bände, 2011. Um den Verfassungsbezug dieses verdienstvollen Handbuchs zu erschließen, darf man sich nicht auf M. G. Müller, Art. „Verfassung“, Bd. II, 514 – 520, beschränken, vielmehr muß man noch unter weiteren Stichworten nachschlagen, die freilich ebenfalls nur aspekthaft abgehandelt werden. 2 „Le Serment du Jeu de Paume“, 1790 begonnen, 1792 unvollendet aufgegeben; W. Kemp, Das Revolutionstheater des Jacques-Louis David. Eine neue Interpretation des „Schwurs im Ballhaus“, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft, 1996 (21), 165 – 184. 3 „La Liberté guidant le peuple“, vollendet 1831; N. Hadjinicolaou, „Die Freiheit führt das Volk“ von Eugène Delacroix. Sinn und Gegensinn, 1991. 4 Vollendet 1877; Th. W. Gaehtgens, Anton von Werner „Die Proklamierung des Deutschen Kaiserreiches“. Ein Historienbild im Wandel preußischer Politik, 1990.
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Fürsten, eine Sicht, die sich ja auch in der Ausgestaltung der Reichsverfassung von 1871 niedergeschlagen hat. Für den zweiten, auf eine inhaltliche Verfassungskennzeichnung zielenden Bildtyp läßt sich als Beispiel vor allem ein Werk von Jean-Baptiste Regnault (1754 – 1829) anführen, das in der Kunsthalle Hamburg ausgestellt ist und daher nicht wenigen Staatsrechtlern aus eigener unmittelbarer Anschauung bekannt sein dürfte: „Freiheit oder Tod“.5 Es handelt sich um die kleinformatige Fassung eines sehr viel größeren Werkes, das von 1799, noch unter der Direktorialverfassung, bis 1804, als Napoléon Bonaparte seine inzwischen durch Staatsstreich und Plebiszit durchgesetzte Konsulatsherrschaft in ein Kaisertum überführte, in den Räumlichkeiten der Legislative, dem Palais Bourbon, zu sehen war, dann aber aufgrund politischer Inopportunität in den Louvre abgeschoben wurde, von dort 1872 in ein Provinzmuseum gelangte und heute als verschollen gilt, wahrscheinlich aber durch Kriegseinwirkung zerstört wurde. Die Anfänge der Bildfindung, insbesondere die staatliche Anregung dazu, fallen noch in die Zeit vor der Ausrufung der Republik, doch erfolgte die erste öffentliche Ausstellung erst im September 1795, also nach dem Sturz Robespierres. Das Bild reflektiert nicht nur, wie man angesichts seines auf den Maler selbst zurückgehenden Titels zunächst annehmen könnte, die revolutionären Straßenparolen der sans-culottes, jener die aristokratische Bundhose verachtenden Kleinbürger, die mit Pike und Säbel bewaffnet auf der Straße den Forderungen der intellektuellen Jakobiner drastischen Nachdruck gaben und zum Durchbruch verhalfen, sondern vielmehr die Verfassung von 1793, die als Folge der von ihr anerkannten Menschenrechte ein Widerstandsrecht gegen Unterdrückung, ja sogar unter Umständen eine Aufstandspflicht kannte (Art. 33, 35) und sich darüber hinaus der Obhut aller Tugenden anvertraute (Art. 123).6 Von den drei bildbestimmenden allegorischen Personifikationen sei hier nur auf jene kurz eingegangen, die in junger weiblicher Gestalt die revolutionäre Republik verkörpert. In entspannter, volkstümlicher Haltung hat sie auf einem Thron Platz genommen, verklärt durch das überweltliche Leuchten eines Sterns über ihrem Kopf. Charakterisiert wird ihre Herrschaftsweise durch die zwei Maßstabszeichen, die sie mit ihren Händen in die Höhe hält: eine rote Jakobinermütze, als Zeichen der Freiheit (liberté), und ein Richtscheit (Dreieck mit Lot), als Zeichen der Gleichheit (égalité), insbesondere – da auch in der tradierten Gerechtigkeitsikonographie geläufig – der Gleichheit im Recht. Den Verfassungshistoriker wird es nicht wundern, daß ein Zeichen der Brüderlichkeit (fraternité) fehlt, denn anders als Freiheit und Gleichheit wird die Brüderlichkeit ja erst in der französischen Verfassung von 1848, 5 „La Liberté ou la mort“, vollendet 1794; G. Walczak, Jean-Baptiste Regnault (1754 – 1829), [Inventarnummer] 510: „Freiheit oder Tod“, in: U. M. Schneede / M. Sitt (Hg.), Die Sammlungen der Hamburger Kunsthalle, Bd. I, 2007, 266 – 269; A. Stolzenburg, Freiheit oder Tod – ein mißverstandenes Werk Jean-Baptiste Regnaults?, in: Wallraf-Richartz-Jahrbuch, 1987/88 (48/49), 463 – 472. Zum ikonographischen Umfeld s. K. Herding / R. Reichardt, Die Bildpublizistik der Französischen Revolution, 1989. 6 M. Duverger, Constitutions et documents politiques, 13. Aufl. Paris 1992, 81 und 88.
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Abb. 1: Werner Tübke, „Herbst ’89“, 1990 (© VG Bild-Kunst, Bonn 2012)
also für die Zweite Republik, zum tragenden Prinzip. Es besteht daher kein Anlaß, das neben die Thronwange gelegte und mit einem Band in den Farben der Trikolore umwickelte Rutenbündel zum Zeichen der Brüderlichkeit zu erklären, wie es des öfteren in der kunsthistorischen Literatur geschehen ist und noch immer geschieht.7 Das Rutenbündel war grundsätzlich nur ein Herrschaftszeichen und als solches schon dem ancien régime vertraut. Eine gewisse Maßstabsfunktion konnte es allenfalls insofern erlangen, als es die unteilbare Einheit der Republik (la République une et indivisible) evozieren half, um damit den konterrevolutionären Bestrebungen einer Föderalisierung Frankreichs entgegenzutreten. Von einer solchen, auf Lesbarkeit achtenden Visualisierung verfassungsrechtlicher Prinzipien ist das hier zu besprechende, zweihundert Jahre nach der französischen Revolution von 1789 entstandene Werk von Werner Tübke (1929 – 2004), einer der großen Namen in der Malerei der DDR und nun auch des wieder verei7 So jüngst erst wieder Walczak (Fußn. 5), 266 f., und leider auch schon, in einem sonst vieles klärenden Beitrag, Stolzenburg (Fußn. 5), 464. Bei H. Meller, Liberté, Égalité, Fraternité: Revolutionäre und Konterrevolutionäre Dreifaltigkeiten, in: D. Harth / J. Assmann (Hg.), Revolution und Mythos, 1992, 104 – 127 (105), wird das Bild sogar in seinem Titel verändert („Liberté, Égalité, Fraternité ou la Mort“), um es der angeblich verfassungsmäßig verankerten Prinzipientrias gefügig zu machen. Zu deren Geschichte s. M. Borgetto, La devise „Liberté, Égalité, Fraternité“, Paris 1997.
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nigten Deutschland, offensichtlich weit entfernt. „Herbst ’89“ (Abb. 1)8 – ein eher kleines Bild, von einer lichten, gedämpften Farbigkeit, welche der detailreichen, zarten Zeichnung die Wirkung beläßt – betrifft zwar ebenfalls eine große politische Revolution: die „friedliche Revolution“, die zum Ende der DDR führen sollte, jedoch scheint es von dem Ereignis nur erzählen zu wollen. Bildbeherrschend ist eine hohe Betonmauer, die den natürlichen Horizont verbirgt, aber an einer Stelle eingerissen worden ist, dadurch hier nunmehr den Blick freigibt in eine offene Landschaft und einem breiten Menschenstrom freie Bahn gewähren muß, vorbei an jenen, die mit Demonstrationsschildern, Mahn- und Gedenkkerzen sowie Leitern versehen soeben diesen Mauerdurchbruch erreicht haben9. Auch ohne Einfügung staatlicher Hoheitszeichen ist die Anspielung auf die DDR und die den Mauerfall herbeiführenden Ereignisse im Oktober und November 1989 eindeutig. Sie wird in ihrem politischen Gehalt noch dadurch verstärkt, daß neben dem umgestürzten Mauerstück eine ebenfalls umgestürzte Denkmalsbüste liegt. Zugleich zeigt sich darin aber auch ein sinnbildlicher, die bloße Ereigniserzählung übersteigender Gehalt. Auffällig ist insofern weiterhin, daß auf der Mauer, die ohne Grenzsicherungspersonal und ohne Wachttürme, Stacheldraht sowie andere sie begleitende Grenzsicherungsanlagen erscheint, geflügelte Engel plaziert sind und einige bunt kostümierte Theaterfiguren das umgestürzte Mauerstück als Bühne nutzen, zu höchst ausgelassenem Treiben, aber auch nachdenklichem Innehalten. In solchen eigensinnigen Akzenten stets nur künstlerische Freiheit ohne semantische Relevanz zu vermuten, hieße Tübke zu unterschätzen. Er ist ein Maler, dessen bildnerisches Gestalten sich insbesondere in der Auseinandersetzung mit den Meistern frühneuzeitlicher Malerei entwickelt hat und der in seine Bilder gern kunsthistorische Zitate hat einfließen lassen, die der Interpretation Denkanstöße vermitteln, indem sie den Augenschein des Gegenwärtigen durch Erinnerung an ein Vergangenes kommentierend überlagern, freilich ohne daß diese Denkanstöße zur Herausarbeitung eines klaren, geschlossenen Sinnganzen führen müßten.10 Für 8 Vollendet 1990; Mischtechnik auf Holz, 59,5 x 75,5 cm (Leipzig, Sammlung der Verbundnetz Gas AG); Farbabbildung bei B. Tübke-Schellenberger / G. Lindner (Hg.), Werner Tübke. Das malerische Werk. Verzeichnis der Gemälde 1976 bis 1999 [Ausstellungskatalog (hinfort: AK) Bad Frankenhausen], 1999, 212, und H.-W. Schmidt (Hg.), Tübke. Die Retrospektive zum 80. Geburtstag [AK Leipzig und Berlin], 2009, 190, sowie in dem vom Bildeigentümer herausgegebenen Katalog: Sammlung Zeitgenössische Malerei und Grafik, 2006, 271. 9 Man könnte meinen, daß ein derartiges Bild im HPI (Fußn. 1), insbesondere von W. Kemp, Art. „Volksmenge“, in: Bd. II, 521 – 529, berücksichtigt wird, doch ist dies nicht der Fall. 10 Zur Einschätzung von Maler und Werk s., neben Tübke-Schellenberger / Lindner (Fußn. 8), H. Behrendt, Die Leipziger Malschule und Werner Tübke, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte, 2008 (71), 101 – 120; U. Garvert, Werner Tübke und die Verläßlichkeit der Diskontinuität, in: Museum Giersch (Hg.), Mattheuer, Tübke, Triegel. Eine Frankfurter Privatsammlung [AK Frankfurt a.M.], 2007, 101 – 125; E. Beaucamp, Die Macht der Erinnerung – Geschichtsphantasie und Geschichtsreflexion im Werk Werner Tübkes, in: M. Zuckermann (Hg.), Geschichte und bildende Kunst (= Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte, Bd. 34), 2006, 293 – 308; G. Meißner, Werner Tübke – Leben und Werk, 1989.
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„Herbst ’89“ gibt es bislang keine eindringlichen Besprechungen.11 Die folgende erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern beschränkt sich auf drei Aspekte des im Mauerfall angedeuteten grundlegenden Verfassungswandels, der die Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten ermöglichte. Sie betreffen sämtlich das Denken und Handeln des Volkes, nämlich seine Verblendung und Aufklärung (II.), seine Einmütigkeit im Verlangen nach Wandel (III.) und seine bleibende Verführbarkeit (IV.).12 II. Der Aspekt der Verblendung und Aufklärung des Volkes verbindet sich mit der Mauer, den in ihrem Schatten stehenden, Kerzen tragenden Demonstranten und den Engeln auf ihr.13 Daß die Mauer den Blick verstellt und dadurch die Orientierung einschränkt, ihre Öffnung daher wie eine Befreiung des Denkens und Handelns wirkt, wurde bereits festgehalten. In welchem Zusammenhang aber stehen damit Kerzenträger und Engel? Da die Engel links und rechts der Maueröffnung plaziert sind, mögen sie zunächst an dekorative Statuen erinnern, wie man sie – z. B. als Fanfarenbläser, allegorische Personifikationen oder Wappenträger – auf den frühneuzeitlichen Ehrenpforten findet, mit denen bedeutende Städte bei Gelegenheit von Krönungen, Friedensschlüssen und ähnlich wichtigen Ereignissen den Einzug ihrer Landesherren feierten. Aber hier geht es nicht um Fürsten oder andere höchste Würdenträger, sondern um das gemeine Volk. Auch hat der Einzug der Menschenmenge selbst nichts sonderlich Festliches, geschweige denn Triumphales an sich, vielmehr wirkt er zwar neugierig, aber bedächtig, nicht begeistert, sondern erstaunt. Ferner fällt auf, daß die Engel auf das menschliche Geschehen unter sich Einfluß nehmen. Sie halten große, goldumrandete Schalen in den Händen, mit denen sie aus himmlischer Sphäre eine geheimnisvolle Kraft, die als Lichtstrom in Erscheinung 11 Ein nur kurzer Kommentar findet sich in dem von der Verbundnetz Gas AG herausgegebenen Katalog (Fußn. 8): M. Michael, Bildsuche in Transiträumen: VNGart – Sammlung Zeitgenössische Malerei und Grafik, 11 – 16 (16): „Sieben Engel stehen und knien auf der Mauer, empfangen göttliche Sendung und geben sie nach unten weiter. Dort aber ist heillose Verwirrung entstanden: Denkmalssturz und Folter, Sturz und Verzückung, Ratlosigkeit im Gedränge. Tübke holte sich das Personal aus den Tumulten früherer Bilder. Unordnung und Fieber dominieren die Welt.“ Eine Folterszene kann ich nicht entdecken. 12 Für eine anregende Diskussion danke ich meinem Kollegen Kilian Heck vom CasparDavid-Friedrich-Institut unserer Greifswalder Universität. 13 Mauern sind in der politischen Ikonographie ein eigenes Thema, insbesondere die Berlin und Deutschland teilende Mauer. B. Drechsel, Art. „Mauer“, in: HPI (Fußn. 1), Bd. II, 130 – 136, konzentriert sich auf die Photographie und nennt keine Gemälde. Ein frühes Beispiel stammt von Franz Radziwill, eine bittere, entschlossen antikommunistische Anklage: „Die Berliner Mauer“, vollendet 1962; W. Seeba, Franz Radziwill: Magie der Städte [AK Bremen], 1995. Die umfangreiche Bestandsaufnahme von A. Kuhrmann, An der Grenze. Künstler aus Ost und West sehen die Berliner Mauer, in: dies. u. a., Die Berliner Mauer in der Kunst. Bildende Kunst, Literatur und Film, 2011, 13 – 198, erwähnt leider weder Radziwills noch Tübkes Bild.
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Abb. 2: Tübke, Detail aus Abb. 1
tritt, einfangen und in die irdische Sphäre weiterleiten, nämlich zu den Kerzenträgern und anderen Demonstranten am Fuß der Mauer (Abb. 2). Solche Schalen in Engelhand finden sich bereits, wenngleich in einem apokalyptischen Zusammenhang, in Tübkes monumentalem Panoramabild „Frühbürgerliche Revolution in Deutschland“14, dem im thüringischen Bad Frankenhausen ein eigenes Museum gewidmet ist, das kurz vor Beginn der Leipziger Montags-Demonstrationen eröffnet wurde. Sie sind aber nicht Tübkes eigene Erfindung, sondern lassen sich auf barocke religiöse Malerei zurückführen, wo sie die Ausstrahlung des Heiligen Geistes veranschaulichen helfen.15 Ihre Aufnahme in „Herbst ’89“ bedeutet, daß die 14 1987 vollendet; Farbabbildungen bei Tübke-Schellenberger / Lindner (Fußn. 8), 167 – 170 (Gesamtansicht) und, für das hier interessierende Detail, 181 (Sektor IV: Große Wiese). Zum Werk selbst s. H. Behrendt, Werner Tübkes Panoramabild in Bad Frankenhausen. Zwischen staatlichem Prestigeobjekt und künstlerischem Selbstauftrag, 2006. 15 Ein herausragendes Beispiel findet sich in dem 1694 vollendeten Deckengemälde von Andrea Pozzo (1642 – 1709) im Langhaus von S. Ignazio di Loyola in Rom, einer Allegorie der weltweiten Mission der Jesuiten; Farbabbildungen bei C. Strinati, Gli affreschi nella chiesa di Sant’Ignazio a Roma, in: V. De Feo / V. Martinelli (Hg.), Andrea Pozzo, Mailand 1996, S. 66 – 93 (72 – 73 Gesamtansicht, 77 Detail). Pozzo selbst nennt das von Gnadenstrahlen getroffene Gerät freilich nicht Schale oder Spiegel, sondern Wappenschild („scudo“) und schmückt es mit dem von einem Kreuz überhöhten Christusmonogramm, wie es den Jesuitenorden kennzeichnet; s. Ch. Hecht, Die Glorie. Begriff, Thema, Bildelement in der
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Abb. 3: Jan Saenredam, „Antrum Platonicum“, 1604 (aus van Thiel [Fußn. 17], Abb. 115)
Maueröffnung hier nicht nur als Menschenwerk angesehen wird, sondern auch als glückliche Fügung einer übergeordneten Macht, die aufgrund der verwendeten Ikonographie christlich konnotiert erscheint. Der Kontrast zwischen den schüchternen irdischen Kerzenträgern und den schwungvollen himmlischen Lichtträgern wird noch dadurch verstärkt, daß die Kerzenträger im Schatten einer Mauer verbleiben, die nicht streng bildparallel verläuft, sondern abknickend eine Ecke ausbildet und somit nicht nur ein Abgrenzen und Abweisen, sondern auch ein Einschließen zum Ausdruck bringt.16 Diese besondere Konstellation gibt Anlaß zu der Vermutung, daß Tübke sich hier von europäischen Sakralkunst vom Mittelalter bis zum Ausgang des Barock, 2003, 256 ff. (257, 259 f.). Eine aufklärerische Variante in der Form einer Linse bietet der 1744 angefertigte Kupferstich „Die Wahrheit erleuchtet die Blinden“ von Francesco Cepparuli, abgebildet bei Rolf Reichardt, „Lumières“ versus „Ténèbres“. Politisierung und Visualisierung aufklärerischer Schlüsselwörter in Frankreich vom XVII. zum XIX. Jahrhundert, in: ders. (Hg.), Aufklärung und Historische Semantik. Interdisziplinäre Beiträge zur westeuropäischen Kulturgeschichte (= Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 21), 1998, 83 – 170 (106). 16 In einem anderen Bild, ebenfalls 1990 entstanden, hat Tübke die den Horizont verstellende Mauer zu einem Verlies mit zugemauertem Eingang umgeformt: „Die Vergessenen“; Farbabbildung bei Tübke-Schellenberger / Lindner (Fußn. 8), 214. Dabei mag er die Gefängnis- und Irrenhausbilder von Francisco de Goya im Kopf gehabt haben, z. B. „Hof der Irren / Corral de locos“, vollendet 1794; Farbabbildung bei W. Seipel / P.-K. Schuster (Hg.), Francisco de Goya 1746 – 1828. Prophet der Moderne [AK Wien], 2005, 138.
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einem Kupferstich hat anregen lassen, den der Holländer Jan Saenredam (1565 – 1607) im Jahre 1604 nach einem inzwischen verloren gegangenen Ölgemälde von Cornelis Cornelisz. van Haarlem (1562 – 1638) angefertigt hat (Abb. 3).17 Thema ist das berühmte Höhlen(gefängnis)gleichnis, mit dem Platon im Rahmen eines Hauptwerks seiner Philosophie des Politischen, „Politeia“ (514a–517a), zugleich seine Ideenlehre und den Bildungsweg des zur Übernahme politischer Verantwortung aufgerufenen Philosophen veranschaulicht.18 Der Kupferstich erläutert sich durch eine intensive lateinische Beschriftung selbst. Der unterhalb der oberen Randzeile mittig ins Bild gesetzte Titel, „ANTRVM PLATONICVM“, weist ausdrücklich auf Platons Höhlengleichnis hin. Man erkennt unschwer einige seiner wesentlichen Züge: eine in der nur wenig erleuchteten Höhle errichtete hohe Mauer, welche die in deren Schatten lebenden Höhlenbewohner – abweichend von Platons Text sind sie nicht gefesselt – von der Wirklichkeit der ihren Blicken verborgenen Höhlenseite allenfalls die an das Höhlengewölbe geworfenen Schatten wahrnehmen läßt, ohne daß sie sich indes solcher Beschränkung bewußt werden; des weiteren eine Gruppe von Philosophen, die sich darüber im Klaren sind, daß es ohne die Flammen des über ihren Köpfen von Menschenhand aufgehängten und entzündeten Feuers diese Schatten nicht gäbe; schließlich einen schmalen Gang, der ins Freie führt, wo eine noch kleinere Gruppe von Philosophen das eigentliche, alles übertreffende Licht der Sonne schaut. Auf dem unteren Rand des Kupferstichs findet sich, neben Angaben zum Auftraggeber, Maler und Stecher sowie einer Widmung, ein dreistrophiges Gedicht, das Platons Höhlengleichnis paraphrasiert. Es sei hier in einer deutschen Übersetzung wiedergegeben:19 „Der größte Teil der Menschen, in geistiger Blindheit befangen, wird unablässig umgetrieben und freut sich an nichtigem Streben: Siehe wie der Blick hängen bleibt an geworfenen Schatten, wie alle die Trugbilder des Wahren anstaunen und lieben, [/] und die Toren getäuscht werden vom leeren Schattenbild der Dinge. Wie wenige sind aus besserem Stoff, die im klaren Licht, getrennt von der törichten Menge, die Schatten der Dinge als Blendwerk erkennen und alles richtig beurteilen: [/] diese können den bestehenden Nebel des Irrtums sehr wohl durchschauen, und sie versuchen, die anderen, die in unwissender Nacht befangen sind, in das klare Licht hinauszuführen, aber von denen hat keiner den Drang zum Licht, so groß ist die Dürftigkeit ihrer Denkweise.“
17 32,7 x 45 cm (u. a. Berlin, Staatliche Museen, Kupferstichkabinett); Abbildung bei P. J. J. van Thiel, Cornelis Cornelisz. van Haarlem 1562 – 1638. A Monograph and Catalogue Raisonné, Doornspijk 1999, Abb. 115 (Kommentar 202 ff. und 435 ff.). Zur Zusammenarbeit von Stecher und Maler s. J. L. McGee, Cornelis Corneliszoon van Haarlem (1562 – 1638). Patrons, friends and Dutch humanists, Nieuwkoop 1991, 289 ff. 18 R. Rehn (Hg.), Platons Höhlengleichnis. Das Siebte Buch der Politeia. GriechischDeutsch, 2005; W. Blum, Höhlengleichnisse. Thema und Variationen, 2004. 19 H. Mielke (Bearb.), Manierismus in Holland um 1600. Kupferstiche, Holzschnitte und Zeichnungen aus dem Berliner Kupferstichkabinett, 1979, 59. Englische Übersetzungen finden sich bei van Thiel (Fußn. 17), 435 (begleitet vom lateinischen Original), und McGee (Fußn. 17), 247.
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Daß in diesem Gedicht indes noch etwas anderes als Platons Höhlengleichnis mitschwingt und bei der Visualisierung doch auch mit nicht unerheblichen Abweichungen zu rechnen ist, läßt die auf den oberen Rand gesetzte, das Johannes-Evangelium zitierende Textzeile vermuten: „LVX VENIT IN MVNDVN [!] ET DILEXERVNT HOMINES MAGIS TENEBRAS QVAM LVCEM. IO.3.19.“ Diese Zusammenschau von antiker Philosophie und Christentum, die auf einen neostoizistischen Verständnishintergrund deutet, verdankt sich dem Auftraggeber des Bildes: Hendrik Laurensz. Spiegel (1549 – 1612), einem humanistisch gebildeten Amsterdamer Kaufmann, der sich als Philologe, Rhetoriker und Poet einen Namen machte und von dem auch das Gedicht stammt20. Die christliche Überlagerung des Höhlengleichnisses wird an zwei Stellen sichtbar. Zum einen haben sich, auffälligerweise im Vordergrund mittig plaziert, zwei Männer der Menge im Schatten der Mauer zugewandt, die als Jesus Christus (stehend) und Johannes der Täufer bzw. der Evangelist (sitzend) gedeutet worden sind. Zum anderen finden sich auf der Mauer Tugend- und Lasterpersonifikationen. Man erkennt vorneweg einen geflügelten Amor und dahinter die Gruppe der drei christlichen Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe; gut zu erkennen ist auch noch ein Wein trinkender Bacchus und eine ihre Doppeltrompete blasende geflügelte Fama, die hier wohl negativ, als Ruhmsucht zu verstehen ist. Sie sind es, welche die Schatten werfen, und nicht, wie im Höhlengleichnis, hinter der Mauer vorbeigetragene Geräte und Bildwerke. Tübke folgt dem Kupferstich insoweit, als er auf der Mauer allegorische, von christlicher Ikonographie inspirierte Figuren plaziert, die zum menschlichen Leben im Schatten dieser Mauer in Bezug stehen. Auch der Durchblick auf einen Ort unverstellten Lichts jenseits der Mauer fehlt nicht. Die Botschaft freilich unterscheidet sich. Während nämlich bei Platon die Philosophen, die beim Verlassen der Höhle das wahre Licht haben schauen und so Erkenntnis haben gewinnen können, nach ihrer Rückkehr die übrigen Höhlenbewohner nicht zur Einsicht in die Beschränktheit ihrer bisherigen Denk- und Daseinsweise zu bringen vermögen, und auch der Kupferstich mit seiner Verbindung von Platon und Christentum von keiner größeren Kehrtwendung zu berichten weiß, bleibt es in Tübkes Bild zwar ebenfalls bei einer Kontrastierung von himmlischem und irdischem Licht, aber es ist doch eine erhebliche Veränderung der Lage eingetreten und dies, ohne daß dafür das Wirken einer elitären Gruppe von Lehrern und Führern verantwortlich gemacht wird. Insofern zeugt das Bild von der Selbstaufklärung und Selbstbefreiung des Volkes. Diese Sicht findet Bestätigung in der umgestürzten Denkmalsbüste, auf die der Bildbetrachter durch den ausgestreckten Arm einer Theaterfigur mit Maske besonders 20 Für die Interpretation des Kupferstichs von unmittelbarer Bedeutung ist, daß Spiegel, wiederum in Versform, einen moralischen Traktat verfaßt hat: Hertspiegel, 1614 posthum veröffentlicht und dann bis ins 18. Jahrhundert hinein mehrfach nachgedruckt; s. dazu ausführlich P. J. J. van Thiel, H. L. Spiegel en het Orgel van Euterpe: een Hertspiegel-probleem, in: J. Bruyn (Red.), Album amicorum J. G. van Gelder, Den Haag 1973, 312 – 320. Zur Persönlichkeit Spiegels, seinem Freundes- und Korrespondentenkreis sowie seiner Zusammenarbeit mit dem Maler s. McGee (Fußn. 17), 127 ff., 239 ff.
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Abb. 4: Tübke, Detail aus Abb. 1
aufmerksam gemacht wird (Abb. 4). Die Büste ist nämlich nicht, wie man auf den ersten Blick annehmen möchte, eine Marx-, Engels- oder Leninskulptur, sondern zeigt den specknackigen Hinterkopf und gedrungenen Oberkörper eines anscheinend bewußt anonym gelassenen Mannes. Diesem gesichtslosen Säulenheiligen des bisherigen politisch-administrativen Systems ist die zum sozialistischen Gruß geballte rechte Faust beim Umsturz abgebrochen und vor Stirn und Augen geraten. Darin liegt nicht nur ein Hinweis darauf, daß der Staatssozialismus kraftlos geworden ist, sondern auch, daß er Sicht und Einsicht behindert hat. Wie schon bei den Kerzenträgern zu beobachten, zeigt die Reaktion der vor der Büste vorbeiziehenden Menge keinen Enthusiasmus. Einige Männer, darunter ein Blinder mit kennzeichnender Armbinde, erkunden das vor ihr liegende Mauerwerk, als wollten sie sich eine neue, verwirrende Wahrheit erschließen.21 Es herrscht offenbar nicht der Eindruck, einer bereits vollendeten Selbstaufklärung und Selbstbefreiung beizuwohnen. Die Frage nach Schein und Wahrheit stellt sich nach wie vor. III. Das tugendethische Moment, das in Saenredams Kupferstich in den allegorischen Figuren auf der Mauer deutlich hervortritt, scheint in Tübkes Bild zu fehlen. Doch läßt sich in ihm ein zweites Bildzitat entdecken, das der faktischen Gemeinschaftlichkeit der Demonstranten eine tugendethische Konturierung verleiht. Unter den Demonstranten, die mit dem Rücken zum Bildbetrachter an der Kante des umgestürzten Mauerstücks stehen, auf ihre Demonstrationsschilder gestützt und der 21 1991 hat Tübke diese Szene der Inaugenscheinnahme in leichter Variation zu einem Bild mit dem Titel „Verwirrung“ verselbständigt; Farbabbildung bei Tübke-Schellenberger / Lindner (Fußn. 8), 218.
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einströmenden Menschenmenge entgegenblickend, findet sich ein Mann mit auffällig kraftvoller, entschlossener Körperhaltung: seitwärts herausgestelles Bein, in die Hüfte gestemmter Arm, durchgedrücktes Kreuz (Abb. 5). Er ist dem Figurenrepertoire des Schweizer Malers Ferdinand Hodler (1853 – 1918) entliehen, und zwar dessen monumentalem Wandbild „Einmütigkeit“, das einen Sitzungssaal im Rathaus von Hannover schmückt und 1913 fertiggestellt wurde.22 Wegen der leichteren Reproduzierbarkeit wird es hier in seiner kleineren und helleren Museumsfassung wiedergegeben (Abb. 6 – 7).23
Abb. 5: Tübke, Detail aus Abb. 1
Abb. 6: Hodler, Detail aus Abb. 7
Abb. 7: Ferdinand Hodler, „Einmütigkeit II“, 1913 (aus Brüschweiler u.a. [Fußn. 23], 360) 22
Öl auf vier Leinwänden, 475 x 1517 cm; Farbabbildung bei W. Steinweg, Das Rathaus in Hannover. Von der Kaiserzeit bis in die Gegenwart, 1988, 92. Zum Werk selbst s. B. von Waldkirch, Ferdinand Hodler. Zeichnungen der Reifezeit 1900 – 1918 aus der Graphischen Sammlung des Kunsthauses Zürich [AK Zürich], Zürich 1992, 166 ff., und H. G. Gmelin, Zur Entstehung von Ferdinand Hodlers Wandbild „Einmütigkeit“ in Hannover, in: Niederdeutsche Beiträge zur Kunstgeschichte, 1968 (7), 219 – 246. 23 „Einmütigkeit II“, ebenfalls 1913 vollendet; Öl auf Leinwand, 314 cm x 1000 cm (Zürich, Kunsthaus); Farbabbildung bei J. Brüschweiler u. a., Ferdinand Hodler [AK Berlin u. a.], Bern 1983, 360.
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Historischer Anlaß dieses Bildes ist der Reformationsschwur vom 26. Juni 1533 in Hannover. Vorausgegangen war ihm ein Streit zwischen dem Rat der Stadt, der an der überkommenen Glaubensfassung festhalten wollte, und der Bürgerschaft, die mehrheitlich für die evangelische Lehre Martin Luthers und die Zulassung protestantischer Gottesdienste eintrat. Als der Rat die Vorstände der Handwerker und Kaufleute auf seine Seite zu ziehen versuchte, forderte Dietrich (Dirck) Arnsborg als „Worthalter“, d. h. Vorsitzender und Sprecher der Vertreter der Bürgerschaft, dazu auf, sich auf dem Marktplatz vor dem Rathaus „durch Handerheben“ gemeinsam und offen zur lutherischen Reformation zu bekennen und darin unter Einsatz von Leib und Gut beständig zu bleiben. Auf diese Weise gelang es der Bürgerschaft, ihr Anliegen gegenüber dem Rat durchzusetzen. Die Aufgabenstellung erinnert an das bereits eingangs erwähnte Bild „Der Schwur im Ballhaus“ von David. Gibt es auch darüber hinaus noch gewisse Gemeinsamkeiten im Bildaufbau und hinsichtlich des theatralischen Charakters der Inszenierung, so wirkt doch Hodlers Bild schon auf den ersten Blick viel konzentrierter, dadurch auch dynamischer und radikaler. Auf einem mittig plazierten Podest steht der rostrot gewandete „Worthalter“ in trotziger Breitbeinigkeit, die rechte Hand mit herrisch mahnendem Zeigefinger nach oben gereckt, die linke pathetisch ans Herz gedrückt. Um ihn drängt sich eine große Schar von Männern in teilweise landsknechtsartiger, in den Primärfarben Gelb, Rot und Blau gehaltener Kleidung. Obwohl sie eigentlich in einer ellipsenförmigen Rundung angeordnet sind, überwiegt der Eindruck einer friesartigen und dabei durch spiegelbildliche Beinstellungen symmetrisch gegliederten Reihung, die sie als standhaften Block erscheinen läßt – ein starkes Beispiel für Hodlers figürlichen „Parallelismus“, der mit farblicher Rhythmisierung und schwacher räumlicher Tiefe einhergeht. Die Arme der Männer strecken sich wie aufgestellte Lanzen, so daß die Abstimmungsgeste sich zu einer Geste des Durchsetzungswillens wandelt. Die Entschlossenheitspose des Anführers der Bürgerschaft scheint auf seine Anhänger wie ein Signal zu wirken, das sie schaudernd, in einer erhebenden, wenn nicht gar berauschenden Erfahrung der Willensverschmelzung zusammenrücken läßt. Wäre Hodler nicht ein Schweizer mit freiem Bürgersinn und ginge es mit Hannover nicht um die Residenzstadt des ehemaligen welfischen Königreichs, sondern um Preußen oder das Deutsche Reich, könnte man hier den Geist eines nur reformationsgeschichtlich vordergründig verbrämten Nationalismus vermuten. Das Bild weckte denn auch bereits bei seiner öffentlichen Vorstellung gemischte Gefühle. Tübkes Bild teilt zwar mit Davids und Hodlers Schwurbildern die bühnenartige Präsentation seiner Szenerie, verzichtet dabei aber, wie schon festgestellt, auf die Hervorhebung einzelner Protagonisten des politischen Geschehens und begnügt sich damit, das einmütig handelnde Volk in einer lockeren Reihung von Demonstranten zu zeigen. Gleichwohl fällt in dieser Reihung, durch mittige Plazierung vor dem Mauerdurchbruch hervorgehoben, die auch ohne hoch erhobenen Arm gut wiedererkennbare Hodler-Figur ins Auge. Tübkes Rückgriff darauf wird man so verstehen dürfen, daß er die Demonstranten in ihrem Verlangen nach politischem
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Wandel durch die alte politische Tugend der Einmütigkeit (concordia) zusammengehalten und bewegt sieht. Die gegen das herrschende politisch-administrative System der DDR in Anspruch genommene Meinungs- und Demonstrationsfreiheit erscheint dabei nicht als ein wesentlich individuelles, sondern als ein kollektives Grundrecht, ein Recht, das seine höchste politische Wirksamkeit nicht im Eigensinn, sondern im Gemeinsinn findet, nicht in der Vereinzelung, sondern im Bündnis, begünstigt doch dessen Einmütigkeit die Beharrlichkeit und Standhaftigkeit in der Freiheitsausübung, insbesondere unter schwierigen Umständen. IV. Der dritte und letzte Aspekt verbindet sich mit einer Figuration, die bereits bei der Betrachtung der Kerzenträger im Schatten der Mauer aufgefallen sein könnte (Abb. 2). Man erkennt dort einen hell gekleideten, nach vorn gebeugten Demonstranten, der sein Schild so hält, als müßte er eine schwere Last auf seiner Schulter tragen, und dadurch Christi Kreuztragung evoziert, zumal – bei farbiger Abbildung deutlicher sichtbar – das Schild von dem Lichtstrom eines Engels gekreuzt wird. Wie die rechts neben ihm stehende Gruppe von drei Frauen, die durch die besondere Farbgebung ihrer Kleidung (Rosa, Weiß und Grün) hervorgehoben werden, schaut er in Richtung der umgestürzten Denkmalsbüste. Diese Konstellation lädt dazu ein, in der Anspielung auf die Kreuztragung ein Interpretament für das ganze Bild zu sehen. In welchem Sinne, ist jedoch unklar, denn für sich genommen ergibt die christlich konnotierte Leidenshaltung eines einzelnen Demonstranten noch keinen Sinn. Es könnte aber auch hier ein weiterführendes Bildzitat vorliegen. Es gibt viele Bilder aus der Frühen Neuzeit, die Christi Kreuztragung inmitten einer Menschenmenge darstellen.24 Unter ihnen befindet sich aber eines, das über die Kreuztragung hinaus noch zwei weitere Elemente aufweist, die in Tübkes Bild aufgegriffen werden, so daß man annehmen darf, der Maler habe genau dieses Bild im Blick gehabt. Es entstand 1564 aus der Hand des flämischen Malers Pieter Bruegel d.Ä. (um 1527/28 – 1569), dem Tübke auch in anderen Bildern verpflichtet ist, und ist sowohl unter dem Titel „Die Kreuztragung Christi“ als auch unter dem Titel „Der Aufstieg zum Kalvarienberg“ bekannt (Abb. 8).25 Obwohl der unter der Last des Kreuzes zusammengebrochene Christus das Bildzentrum einnimmt, bemerkt man ihn erst auf den zweiten Blick (Abb. 9). Ihm voraus werden die beiden anderen zur Kreuzigung verurteilten Delinquenten in einem Fuhrwerk zur Hinrichtungsstätte gefahren. An der Spitze dieses kleinen Zuges, der von berittenen, durch einheitliche rote Kleidung hervorgehobenen Wa24 1983 hat Tübke eine „Kreuzabnahme“ gemalt, deren Komposition belegt, daß ihm diese Darstellungstradition vertraut war; Farbabbildung bei Tübke-Schellenberger / Lindner (Fußn. 8), 143 (kleine Fassung), 149 (große Fassung). 25 Öl auf Holz, 124 x 170 cm (Wien, Kunsthistorisches Museum); Farbabbildung bei W. Seipel (Hg.), Pieter Bruegel d.Ä. im Kunsthistorischen Museum Wien, Wien 1997, 71.
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Abb. 8: Pieter Bruegel d. Ä., „Die Kreuztragung Christi“, 1564 (aus Seipel [Fußn. 25], 71 – 83)
chen begleitet wird, erhebt sich ein Banner im Wind. Zwei solcher Banner finden sich auch in Tübkes Bild, und zwar inmitten der Menschenmenge, welche die Maueröffnung noch nicht passiert hat (Abb. 10). Sie werden durch besondere Farbgebung (Gelb und Rosa) hervorgehoben und bleiben rätselhaft, wenn man sie nicht als frühneuzeitliche Banner erkennt.26 Im selben Bildausschnitt, links von den Bannern, gibt es noch etwas, das auf befremdende Weise auffällt und ohne den Bezug zu Bruegels Bild unverständlich bliebe: ein Hubschrauber vor dem Hintergrund eines Gebirges. Überrascht schon der Hubschrauber an sich, so noch mehr seine Gestaltung. Während die zweigeteilte Frontscheibe des Cockpits und die darüber liegenden Öffnungen zweier Gasturbinen nichts Ungewöhnliches bieten, verwirrt die Stellung der Rotorblätter, denn wenigstens ein Blatt ist dermaßen steil gestellt, wie es eigentlich nicht sein kann, auch wenn die Bauweise des Rotorkopfs nicht erkennbar ist. In dieser Stellung aber erinnern die Rotorblätter an die Flügel einer Windmühle, wie sie Bruegels Bild oberhalb von Christi Kreuztragung auf einem hohen Felsen zeigt. Eine solche herausragende Stellung einer Windmühle findet sich in keiner anderen niederländi-
26 Solche Banner finden sich auch schon in Tübkes Panoramabild, vor allem in Sektor II (Die Schlacht), wo sie freilich nicht überraschen; Farbabbildung bei Tübke-Schellenberger / Lindner (Fußn. 8), 176 – 177.
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Abb. 9: Bruegel, Detail aus Abb. 8
Abb. 10: Tübke, Detail aus Abb. 1
schen Darstellung einer Kreuztragung.27 Sie ist kaum minder unwahrscheinlich als die Stellung der Rotorblätter in Tübkes Bild, denn mögen die Windverhältnisse auf 27 Ihr in dieser Hinsicht am nächsten kommt eine „Kreuztragung“, die dem im zweiten Viertel des 16. Jahrhunderts in Antwerpen wirkenden Maler Jan van Amstel zugeschrieben
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Abb. 11: Bruegel, Detail aus Abb. 8
dem Felsen auch gut sein, so wären doch die Errichtung einer inneren Treppe, wie sie das Bild andeutet, viel zu aufwendig und der Sacktransport über diese Treppe viel zu mühsam (Abb. 11). Eine sinnbildliche Sicht drängt sich daher auf, zumal der Felsen mit der Windmühle als Scheidelinie zwischen dem hellen Himmel über der in grünender Natur liegenden Stadt und dem dunkel bewölkten Himmel über den in ödem Gelände liegenden Hinrichtungsstätten figuriert. Wie Bruegels Bilder zu verstehen sind, ist recht umstritten. Dies gilt auch für den vorliegenden Fall.28 Die jüngeren, anspruchsvollen Interpretationen, welche die zeitgenössische Philosophie und Theologie feinsinnig erschließen, um Bruegels besondere Bildsprache herauszuarbeiten, darf man Tübke nicht unterstellen. Vielmehr ist von einem Verständnis auszugehen, das ihm zur Entstehungszeit von „Herbst ’89“ ohne weiteres zugänglich war und das er für dieses Bild nutzen und durch Transformation der Windmühlenflügel in Rotorblätter sichtbar machen konnte. Zwei Aspekte von Bruegels Bild sind insofern wichtig. wird; schwarz-weiße Abbildung bei W. S. Gibson, „Mirror of the Earth“. The World Landscape in Sixteenth-Century Flemish Painting, Princeton (NJ) 1989, Abb. 2.28 (Kommentar 23 f.). Das Bild zeigt einen großen Felsen in der Mitte und eine große Windmühle am rechten Rand. Es gehört zu einer Amsterdamer Privatsammlung und dürfte Tübke nicht bekannt gewesen sein. 28 Vgl. insbesondere L. Silver, Pieter Bruegel, New York / London 2011, 15 ff.; J. F. Gregory, Contemporization as polemical device in Pieter Bruegel’s biblical narratives, Lewiston (NY) 2005, 29 ff.; J. Müller, Das Paradox als Bildform. Studien zur Ikonologie Pieter Bruegels d.Ä., 1999, 136 ff. (Farbtafel 3 zeigt das Bild leider seitenverkehrt); R. L. Falkenburg, Pieter Bruegels „Kruisdraging“: een proeve van ,close-reading‘, in: Oud Holland, 1993 (107), 17 – 33.
Verfassungswandel im Bild: Werner Tübkes „Herbst ’89“
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Zum einen mischt es verschiedene Zeiträume. Das im Neuen Testament bezeugte Kreuzigungsgeschehen im römischen Jerusalem wird in das niederländische 16. Jahrhundert verlagert. Die Stadt hat einen antiken jüdischen Tempel in ihrer Mitte, ist aber nach frühneuzeitlichen Gesichtspunkten befestigt. Außer den bereits von einer wartenden Menschenmenge umringten Kreuzen auf Golgatha zeigen sich auf dem öden Gelände auch noch zeitgenössische Galgen und Räderungspfähle in erschreckender Zahl.29 Die Christus im Fuhrwerk begleitenden Delinquenten halten ein Kruzifix in der Hand und lassen sich von Mönchen die Beichte abnehmen. Die Menschen tragen die im zeitgenössischen Flandern übliche Kleidung, aber in der abgesonderten Beweinungsszene des Bildvordergrunds, die der Kreuztragung vorausgreift, nämlich zur Kreuzigung oder Kreuzabnahme Christi gehört, bildet Bruegel sie in Gewändern ab, wie man sie aus der Malerei des 15. Jahrhunderts kennt. Diese Mischung der Zeiträume läßt das Kreuzigungsgeschehen als ein sich wiederholendes Geschehen erscheinen. Man darf davon ausgehen, daß Bruegel hier nicht zuletzt an die konfessionellen Verfolgungen in seiner Zeit dachte. Zum anderen stellt das Bild heraus, daß das Kreuzigungsgeschehen von den weitaus meisten in seiner Bedeutung als Heilsgeschehen nicht erkannt wird. Die Menge strömt zur Hinrichtungsstätte, nimmt aber nur äußerlich Anteil, nicht innerlich. Zu den wenigen Ausnahmen gehören, zwischen der vom wahren Glauben geprägten Beweinungsszene und dem hohen Räderungspfahl am rechten Bildrand plaziert, zwei Ordensschwestern, die verzweifelt die Hände ringen (Abb. 12). Sie scheinen gerade beobachtet zu haben, daß Christus unter der Last des Kreuzes zusammengebrochen ist. Doch hat sich eine von ihm abgewendet, so daß ihre Aufrichtigkeit bezweifelt werden kann. Eindeutiger kommt die Distanzierung in einer Szene der linken Bildhälfte zum Ausdruck, welche die von den synoptischen Evangelien nur kurz erwähnte Episode des Simon von Kyrene variiert (Abb. 13): Ein Mann wird ergriffen, um Christus das Kreuz zu tragen, aber er sträubt sich; seine Frau kommt ihm zur Hilfe und versucht ihn zurückzuhalten, so daß sich ihre im Rosenkranz am Schürzenbund zur Schau getragene Frömmigkeit als oberflächlich erweist. Nicht nur das Kreuzigungsgeschehen wiederholt sich über die Jahrhunderte, auch die Blindheit gegenüber seiner Bedeutung. In Tübkes Bild geht es nicht um das Christentum als solches, wohl aber – im Rahmen einer christlichen Ikonographie, wie schon der Bezug auf Saenredams Kupferstich hat deutlich werden lassen – um Schein und Wahrheit und die andauernde Unfähigkeit, zwischen beidem zu unterscheiden, damit aber auch die fortbestehende Gefahr, durch den Schein verführt zu werden und sich gedankenlos oder selbstgerecht von der Wahrheit abzuwenden. Für die daraus sich ergebende Wechselhaftigkeit des menschlichen Lebens dienen die Flügel der Windmühle in Brue29
Räderungspfähle prägen auch Bruegels „Triumph des Todes“, entstanden um 1566; Farbabbildung bei Silver (Fußn. 28), 290 – 291. In Tübkes Panoramabild findet sich eine Räderung in Sektor I (Winterlandschaft); Farbabbildung bei Tübke-Schellenberger / Lindner (Fußn. 8), 174. Deutlicher ist derselbe Abschnitt in der 1:10-Fassung, die bereits 1981 fertiggestellt wurde; ebd., 122.
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Abb. 12: Bruegel, Detail aus Abb. 8
Abb. 13: Bruegel, Detail aus Abb. 8
gels Bild und die ihnen nachempfundenen windmühlenartigen Flügel des Hubschraubers in Tübkes Bild als Zeichen. In Bruegels Bild ist zwar die Windmühle auf dem Felsen auch noch in einem betont christlichen Sinn gedeutet worden (der Felsen als Zeichen für den steilen Weg christlicher Tugendhaftigkeit; die Kornmühle als Zeichen für Christus, das Brot des Lebens), doch läßt sich diese Deutung nicht auf Tübkes Bild übertragen. Anders steht es mit der dadurch nicht ausgeschlossenen Deutung, welche die Windmühle, wie in anderen Werken der nieder-
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ländischen Malerei des 16. Jahrhunderts, als Zeichen für den sich ständig wiederholenden Lauf des Lebens sieht, als Rad der Zeit, das den Zusammenhang von Werden und Vergehen veranschaulicht, und als Zeichen für die Unstetigkeit der Orientierung.30 V. „Herbst ’89“, eines der wenigen Bilder von Tübke, das einen klaren Bezug auf ein politisches Ereignis seiner eigenen Zeit hat, erschließt sich nicht so schnell und sicher, wie man auf den ersten Blick glauben mag. Weder beschränkt es sich darauf, von den Ereignissen zu erzählen, noch verwendet es leicht deutbare Allegorien, vielmehr spielt es mit verfremdeten Bildzitaten, von denen hier drei mit semantischer Relevanz besprochen worden sind. Was läßt sich zusammenfassend festhalten? Das Bild trauert der sich einmauernden DDR nicht nach. Es begrüßt, daß der gegen den Westen im allgemeinen und die Bundesrepublik im besonderen gerichtete, aber vor allem das eigene Volk behindernde „antifaschistische“ und „antiimperialistische Schutzwall“, wie die staatsoffizielle Rhetorik lautete, eingerissen wurde. Es sieht den Mauerfall als Rückgewinnung eines weiten Horizonts, als Lösung aus Verblendung und Ermöglichung von Aufklärung, und feiert dies als Leistung des Volkes, das in Einmütigkeit seine Meinungs- und Demonstrationsfreiheit behauptet hat und damit einen Verfassungswandel herbeiführt, der sich nicht mehr nach den Vorgaben des politisch-administrativen Systems der DDR richtet, sondern eine systemsprengende moralische und rechtliche Normativität in Anspruch nimmt, die für Demokratie maßgeblich sein soll. Insofern bezieht Tübke hier einen ganz anderen Standpunkt als in seinem sehr viel bekannteren, für die Universität Leipzig bestimmten Auftragswerk „Arbeiterklasse und Intelligenz“31, in dem Einmütigkeit im Denken und Handeln ebenfalls ein Thema ist, aber einer vorgegebenen Orientierung unterworfen wird. Da Wissenschaft eine „Hauptproduktivkraft des Sozialismus“ war, mußten ihre universitären Vertreter, die aus marxistisch-leninistischer Sicht zur klassenmäßig nicht determinierten Schicht der „Intelligenz“ gehörten, im Interesse der anvisierten harmonischen Entwicklung der „sozialistischen Menschengemeinschaft“ unbedingt ein dauerhaftes Bündnis mit der „Arbeiterklasse“ und deren führendem Kopf – in der DDR die SED – eingehen. Wenn Tübke diesen 30 Zur Interpretation der Windmühle s. Silver (Fußn. 28), 24; Gregory (Fußn. 28), 43 ff.; M. F. Gibson, The Mill and the Cross: Pieter Bruegel’s „Way to Calvary“, Lausanne 2000, 60 ff.; Gibson (Fußn. 27), 68 f. 31 Vollendet 1973; Farbabbildung bei R. Hiller von Gaertringen (Hg.), Werner Tübkes „Arbeiterklasse und Intelligenz“. Studien zu Kontext, Genese und Rezeption, 2006, 11 – 14. Zum weiteren kunstpolitischen Hintergrund s. P. Kaiser, „Hofkünstler“ im „Arbeiter- und Bauernstaat“? Zur Sozialfigur des bildenden Künstlers in der DDR, in: J. Fischer / H. Joas (Hg.), Kunst, Macht und Institution. Studien zur Philosophischen Anthropologie, soziologischen Theorie und Kultursoziologie der Moderne. Festschrift für Karl-Siegbert Rehberg, 2003, 622 – 639, m.w.N.
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Standpunkt in „Herbst ’89“ völlig aufgegeben hat, dann formuliert er hier wohl auch ein Stück politischer Selbstkritik. Wenngleich die beschwingten Theaterfiguren und Engel auf den ersten Blick heiter stimmen, ist der Ton des Bildes nicht ungetrübt. Es stellt die Selbstgewißheit und Selbstgerechtigkeit der „friedlichen Revolution“ in Frage. Es thematisiert das Erfreuliche als etwas Gefährdetes. Es sieht das Mitläufertum der großen Menschenmenge, ihre beschränkte Einsichtsfähigkeit, ihre Faszination für die Oberfläche der Ereignisse. Tübke war Revolutionen gegenüber skeptisch; ihn interessierten die in der Menschheitsgeschichte anzutreffenden „Grundmuster“32 und von daher auch die ihnen Ausdruck gebende alte Malerei. Insofern stehen seine beiden Bilder „Frühbürgerliche Revolution in Deutschland“ und „Herbst ’89“ in einem engen Zusammenhang. Der Mauerfall ist ein glücklicher Moment im Welttheater, aber eben nur ein Moment.
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Vgl. die bei Beaucamp (Fußn. 10), 297 f., aufgeführten wörtlichen Zitate.
Die Aufgaben der Moderne und der Stachel der Postmoderne Von Martin Hochhuth, Freiburg I. Einleitung Beide philosophischen Bücher Thomas Würtenbergers stehen auf dem Boden der abendländischen Moderne.1 Sie wurzeln dort so selbstverständlich wie seine dogmatischen Werke im Recht des freiheitlichen, demokratischen Staates, den diese Neuzeit sich schuf. Die folgenden Überlegungen gelten dem Begriff eben dieser Neuzeit oder Moderne und dem bislang neuesten ihrer vielen Gegenbilder. Untersucht wird die Strömung, die sich anheischig macht, die Moderne zu überwinden: die Postmoderne. Es soll dargelegt werden, dass die Postmoderne einerseits weitestgehend überflüssig ist; dass aber ihre Verbreitung und Beliebtheit andererseits ein Stachel werden kann, um das Gute an der Moderne immer von neuem wieder wachzurufen. Dieses Wiedererwecken kann notwendig sein, wenn die Moderne sich selbst untreu wird. Die Postmoderne ist also, so die obige, erste These, weithin überflüssig. Soweit aber nicht überflüssig, bildet sie nur eine Fortsetzung und Ergänzung der (recht verstandenen) Normativität der Moderne. – Das Schwergewicht der nachvollziehbaren Ideen der Postmoderne fügt sich also jener anderen Bewegung oder Großepoche ein, gegen die sie sich richtet oder zu richten meint. Soweit die Postmoderne allerdings keine Ergänzung und Fortsetzung der Moderne ist, aber trotzdem etwas Sinnvolles, soweit, so lautet die weitere These, ist sie gerade deswegen überflüssig, weil sie nur andere vor- oder nachmoderne Strömungen wiederholt: Zivilisationskritik und Kulturpessimismus, Phänomenologie, Mystik, Romantik, Existenzphilosophie. Oder, das ist eine weitere Möglichkeit (und eine weitere These), die Postmoderne wiederholt in manchen ihrer Züge nichts dergleichen und lässt sich weder jenen genannten Strömungen noch der Moderne im weitesten Sinne einordnen. Dann aber ist sie Spielerei. Spielerei mag mitunter erfreuen oder auch fruchtbar erschrecken und dadurch zum Denken anregen, wie es dem heiteren Schrottplastiker Jean Tinguely mit seinen Meisterwerken glückte. Als Theorie aber taugt Postmoderne in dieser Variante nichts, ist Unsinn. 1 Thomas Würtenberger, „Zeitgeist und Recht“, 2., ergänzte Aufl. 1991 und ders., „Die Legitimität staatlicher Herrschaft. Eine staatsrechtlich-politische Begriffsgeschichte“, 1973.
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II. Zum Begriff der Postmoderne Zunächst aber: Was ist Postmoderne? Der Artikel „Postmoderne“ im Historischen Wörterbuch der Philosophie beginnt mit einem eleganten, ironischen Schachtelsatz: „Seit Anfang der achtziger Jahre erfahren der Begriff ,Postmoderne‘ und das Prädikat ,postmodern‘ steigende Konjunktur innerhalb einer auf den verschiedenen Gebieten der Literaturwissenschaft, Kunst-, besonders Architekturtheorie und Philosophie geführten Debatte, zu deren Hauptanliegen die Klärung der Frage gehört, was ,postmodern‘ eigentlich bedeutet.“2
Das zweite Zitat stammt aus der Zeitung Guardian und steigert die Ironie. Es fragt zunächst, welcher Art jene als Postmoderne bezeichnete „moderne französische Philosophie“ denn wohl sei: „Euklidisch, spinozistisch oder existenzialistisch?“ Und dann folgt die Antwort: „Nein, es ist einfach ein Haufen alter Quatsch“, „a load of old tosh“.3 Aber kann diese britische Frechheit auf die gemeinten Autoren zutreffen, „ein wahres Pantheon der zeitgenössischen ,Französischen Theorie‘“4 : „Gilles Deleuze, Jacques Derrida, Félix Guattari, Luce Irigaray, Jacques Lacan, Bruno Latour, Jean-François Lyotard, Michel Serres, Paul Virilio“… „Jean Baudrillard und Julia Kristeva“?5
Auch nach Jahrzehnten noch ist der Begriff im Streit: Diejenigen Kunst- und vor allem Architekturhistoriker, die die Postmoderne auf die beiden Dekaden von 1970 bis 1990 einschränken möchten, liefern zu wenige Anhaltspunkte für gerade diese 2 So S. Meier, „Postmoderne“, im HistWBPhil Band 7, 1989, Sp. 1141 ff., 1141 f.; vgl. auch Albrecht Wellmer, zur Dialektik von Moderne und Postmoderne, Vernunftkritik nach Adorno, 5. Aufl. 1993, der 1985 den „Begriff der Postmoderne oder des Postmodernismus“ einen der „schillerndsten Begriffe in der kunst-, literatur- und gesellschaftstheoretischen Diskussion des letzten Jahrzehnts“ nennt; das bestätigen auch die Umkreisungen des Begriffs in zwei Arbeiten von Dennis Patterson: in der Einführung zu seinem Band „Postmodernism and Law“, S. XI ff., 1994 und in dem Abschnitt „Postmodernism“ im von ihm selbst herausgegebenen Companion to Philosophy of Law and Legal Theory, 2. Aufl. 2010. 3 So der „Guardian“-Autor Jon Henley in der Ausgabe vom 1. 10. 1997, auf Deutsch teilweise zitiert im Vorwort zur deutschen Ausgabe von Alan Sokal/Jean Bricmont, „Eleganter Unsinn, wie die Denker der Postmoderne die Wissenschaften mißbrauchen“, 2001, S. 9. und (die ganze englische Sequenz) S. 337.: „Euclidean, Spinozist or existentialist? Er, no. It’s simply a load of old tosh.“; offenbar handelt es sich um die resümierende Überschrift zu einem Artikel Henleys über das Werk dieser beiden Postmoderne-Kritiker. 4 So nennen Sokal und Bricmont zutreffenderweise ihre Gegner, und zählen sodann, ebenso zutreffend die entscheidenden Protagonisten auf. 5 So die Liste in Sokals und Bricmonts Einführung ihres Werkes, S. 19, der erste Teil der Liste im Text, Baudrillard und Kristeva in der Fußnote; in ihrer Fußnote 5, S. 19, belegen Sokal und Bricmont überdies noch aus der amerikanischen und der französischen Literatur, was ohnehin jeder weiss, dass nämlich der größere Teil der von ihnen angegriffenen Autoren weit verbreitet als die Spitze, die Crème de la crème dieses Faches angesehen wird. Sokal und Bricmont kritisieren, m. E. in vielen Hinsichten überzeugend, auch Thomas Kuhn und Paul Feyerabend.
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Abgrenzung.6 Im Gegenteil beginnen ja die Experimente mit vergangenen Stilen, die man Historizismus nennt, bereits in den 1960er Jahren und dauern bis heute an.7 Kennzeichnen wir die Postmoderne also nicht formal und zeitlich, sondern von ihren Zielen her. Welcher Impuls treibt sie? — In der Architektur der Widerwille gegen die „Orthodoxie der Moderne“ und ihren „zunehmend als totalitär empfundenen Purismus“.8 Dem entspricht in der Philosophie „eine mehr oder minder ausdrückliche Ablehnung der rationalistischen Tradition der Aufklärung […] und […] ein kognitiver und kultureller Relativismus, der die Wissenschaft lediglich als ,Erzählung‘, als ,Mythos‘ oder als eine gesellschaftliche Konstruktion unter vielen betrachtet.“9 Diese Opposition zur Aufklärung, dem Inbegriff der Moderne, erklärt denn auch ihren Namen. Auch die prinzipielle Schwierigkeit des Postmoderne-Begriffs erklärt sich so: Er ist negativ, nämlich nur vom Abgelehnten her bestimmt. Darum gilt es, sich diese abgelehnte Moderne anzusehen. III. Die Moderne und ihre Normativitäten: Fortschritt, Kritik, Recht 1. Zeitliche Eingrenzung Die Neuzeit oder Moderne ist die Geschichtsperiode von etwa 1500 bis heute. Bekanntlich kann man sie auch später oder früher beginnen lassen und überdies weiter aufteilen, etwa die frühe Neuzeit, also die Epoche bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieges, von der eigentlichen Hochmoderne abgrenzen. Für unser Untersuchungsthema genügt jedoch, dass die Moderne der Gegenbegriff zu Altertum und Mittelalter ist. 6
Vgl. 2011/2012 die Ausstellung des Londoner Victoria-and-Albert-Museums, die erweitert vom Landesmuseum Zürich übernommen wurde: „Postmodernism. Style and Subversion 1970 – 1990“. Sie zeigt als – m. E. zutreffende – Essenz zwei Charakteristika der Postmoderne: Erstens die Ablehnung der Moderne als insgesamt „koyaanisqatsi“ (was in der Hopi-Sprache „schräg“ im Sinne von „ver-rückt“ bedeutet und dem zivilisationskritischen Filmklassiker Godfrey Reggios von 1982 den Titel gibt); zweitens, als Reaktion auf dieses im neudeutschen Sinne „schräge“ moderne Leben: eine Künstlichkeit ohne Funktion, die darum offen für alles ist, insb. für Hedonismus, Pop, Punk aber mangels Inhalts auch für strategische Kommerzialisierung. 7 Auch der Kampf um das Ende der klassisch modernen „Guten Form“, das die Ortsgruppe Bern des Schweizerischen Werkbundes im November 1967 mit ihrer Ausstellung teilweise hochprovokativer „Sitzmöglichkeiten“ einläutete, ist bis heute nicht entschieden. 8 So resümiert m. E. überzeugend die Internetreklame für die oben (Fußn. 6) zitierte Zürcher Ausstellung: www.musee-suisse.ch/d/zuerich/wechselausstellungen/2012/postmodernism.Php (letzter Abruf am 13. 7. 2012). 9 So charakterisieren Sokal/Bricmont (aaO., wie Fußn. 3) S. 17, die von ihnen kritisierte postmoderne Strömung; zur Postmoderne als dem „Jenseits der Erzählungen“ auch Matthias Mahlmann, „Rechtsphilosophie und Rechtstheorie“, 2. Aufl. 2012, § 15, Rdnrn. 73 ff., insb. 74 mit Bezug auf Lyotard und Rorty.
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2. Fortschrittsoptimismus Die Normativität dieser Epoche prägt nicht zuletzt ein umfassender Fortschritt10, in dessen Dienst eine zunehmend generelle und vorurteilslose Kritik steht. Die Entdecker Kolumbus und Magellan, die Forscher Galilei und Newton, der Erfinder Gutenberg charakterisieren die Moderne. Doch im Blick auf die normative Frage nach den Aufgaben sind Revolutionäre wie Kopernikus und Luther wichtiger. Für die Wende im Äußeren steht Kopernikus, der das mittelalterliche astronomische Weltbild ablöst; für die Wende im Inneren Luther, der die Religion vom Einzelmenschen her erneuert, der sie selbst – ob kritisch oder unkritisch – interpretieren muss und darf.11 Der Fortschritt hat zwei Richtungen: Mit dem wissenschaftlich-technischen Fortschritt macht die Menschheit sich die Außenwelt untertan, im moralischen Fortschritt strebt sie, sich selbst zu vervollkommnen. Auch diese Vervollkommnung bedeutet wiederum zweierlei: Individuelle Selbstvervollkommnung verkörpern Benjamin Franklin oder Goethe, der „die eigene Lebenspyramide immer höher hinaufspitzen“ wollte. Und auch schon Goethes berühmtester Stoff gehört weniger ans Ende des Mittelalters als beispielhaft gerade in die anbrechende Moderne: Der schon zu Lebzeiten legendäre, aber keineswegs erfundene12 Arzt, Astrologe und Schwarzkünstler „Doktor“ Faust. Die Menschheit kann sich aber auch als Gattung vervollkommnen. Der Optimismus Leibnizens, der meinte, wir hätten hienieden schon die beste aller möglichen Welten, legt das nahe, ebenso, wenn auch indirekt, später Hegels alles aussöhnende Geschichtsphilosophie.
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Vgl. etwa Condorcets „Entwurf einer historischen Darstellung der Fortschritte des menschlichen Geistes“ („Esquisse d’un tableau historique des progrès de l’esprit humain“, Übersetzung und zweisprachige Ausgabe von Wilhelm Alff, 1963). Condorcet schrieb ihn 1793/94 auf der Flucht vor seinen blutigen Mitrevolutionären, deren Wüten bereits manche Moderneskeptiker zu bestätigen scheint. Sein Optimismus war nicht zu brechen. 11 Inhaltlich wären hier auch Zwingli, Melanchthon und Calvin zu nennen, nicht Luther allein. Geschichtlich steht jedoch Luther am Anfang der Bewegung; vgl. dazu, im Anschluss an Hegels Einschätzung der Lutherischen Wende etwa Friedrich Wilhelm Graf, „Der Protestantismus, Geschichte und Gegenwart“, 2006, S. 15 f.; hingegen bestreitet Luise SchornSchütte, „Die Reformation, Vorgeschichte, Verlauf, Wirkung“, 4., aktualisierte Aufl. 2006, S. 108, dass Luther am Anfang der Moderne stehe, allerdings mit Zweifeln an dieser Epochenzäsur überhaupt. 12 Laut der Brockhaus-Enzyklopädie (Band 9, „Fasz-Frier“, 21., völlig neubearbeitete Aufl. 2006) ist Georg (oder Johann) Faust um 1480 in Knittlingen geboren und 1536 oder kurz vor 1540 in Staufen im Breisgau – möglicherweise gewaltsam – umgekommen.
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3. Der Mensch als Kriterium der Erkenntnis, des Fortschritts, des Rechts Wichtig für die Charakterisierung der Moderne oder Neuzeit im Blick auf ihre heutigen Gegenbewegungen ist, dass sie den Menschen als Kriterium nimmt. Er ist es sowohl für die Aufklärung (die den Gipfel der Moderne bildet), als auch für das Recht, für das Naturrecht (Gerechtigkeit), aber auch für Wahr und Falsch: Diese Bedeutung erlangt er auch durch die moderne Erkenntnistheorie, nicht zuletzt durch die kritische Wende, die dieser Zweig der Philosophie, nach zahlreichen Vorbereitungen, mit Kant endgültig nimmt. 4. Doppelte Kritik an „Objektivem“ Kants Theorien – als ein Inbegriff der Moderne – sind im Blick auf die Postmoderne besonders wichtig, weswegen hier in Erinnerung gerufen wird: Das Kritische im System Kants hat zwei Richtungen. Es bedeutet einerseits Demut, wissenschaftlich tastende Vorsicht aus dem Bewusstsein der Vorläufigkeit aller Behauptung von Objektivität.13 Zum anderen legt Kants System den absoluten Wert des individuellen menschlichen Subjekts logisch nahe, weil dieses Subjekt der Dreh- und Angelpunkt der ganzen, „kopernikanisch gewendeten“ Philosophie-Konstruktion ist. Dass Kant dies in den Formulierungen des Kategorischen Imperativs ausspricht, ist daher folgerichtig.14 – Wenn Kant hier hervorgehoben wird, dann aber nicht um einzelner Meinungen dieses geschichtlich-konkreten Autors Willen, sondern wegen des Einheitskerns seiner Leistung. Es geht um sein kritisches Grundprinzip als Paradigma.15
13 Diese Behutsamkeit verkörpert das mit dem „Ding an sich“ gesetzte selbstkritische, nämlich erkenntnis-skeptische Prinzip. 14 Wegen des gleichen Selbstwerts eines jeden Menschen liegt es auch nahe, über Kants Philosophie nicht nur – fast selbstverständlich – zur „Republik“ zu gelangen sondern, über Kant hinaus, folgerichtig auch seine kritischen Äußerungen zur Demokratie zu relativieren, da sie ersichtlich von Voraussetzungen ausgehen, die keineswegs notwendig vorliegen; vgl. etwa die Bestimmungen im ersten Definitivartikel zum „Ewigen Frieden“, in der Ausgabe von Theodor Valentiner (1983) S. 25 ff., insb. 27 ff. 15 In diesem Sinne schrieb Klaus Natorp in seinem Aufsatz „Kant und die Marburger Schule“ (Kant-Studien XVII, 1910): „Auf Kant konnte man nur zurückgehen wollen, um in der Richtung der durch ihn unverlierbar der Philosophie gewonnenen Grunderkenntnis, in der reinen Konsequenz der durch ihn errungenen Vertiefung ihrer ewigen Fragen dann weiterzugehen… Ein schlechter Schüler Kants, der es anders verstände!“; hier zitiert nach Ernst Cassirers Vorrede zu seinem „Determinismus und Indeterminismus in der modernen Physik, historische und systematische Studien zum Kausalproblem“, Göteborg 1937 (Göteborgs Högskolas Arsskrift, Band XLII, 1936, S. VIII.
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Auch Kants Definition, Aufklärung sei „der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit“16, stellt den Menschen ins Zentrum. Dieser mündige Mensch soll die Welt aber vernünftig nicht nur deuten, sondern auch gestalten. Das bedeutet Fortschritt im Bereich des Rechts und Staates. Solcher Fortschritt wiederum heißt: Vernünftigkeit, Berechenbarkeit und Gerechtigkeit des geltenden, also des positiven Rechts. An diese hohen Ansprüche der Moderne gerade auch im Normativen war zu erinnern. Sowohl hinsichtlich des Menschenrechts, von dem Kant sagt, es sei der „Augapfel Gottes“ auf Erden,17 als auch hinsichtlich des Naturrechts und der vernünftigen Gesamteinrichtung der Welt. – Und normativ sind nicht nur Recht und Gerechtigkeit. Normativ sind auch die Begriffe „Fortschritt“ und „Kritik“. Fortschritt, weil er dem Menschen, und „Kritik“, weil sie der Wahrheit dient. Ein so optimistischer Anspruch stimmt allerdings nicht erst heute, im Rückblick, manchen bedenklich. Widerlegen ihn nicht zahlreiche Brüche und Probleme der Wirklichkeit? Die Skepsis hiergegen war und ist denn auch eine Quelle der zahlreichen Angriffs- und Überwindungsversuche gegen die Moderne, denen sich später auch die Postmoderne einordnen wird. IV. Brüche der Moderne – Genealogie der Postmoderne Die Massen von Einwänden gegen die Moderne und ihren Optimismus lassen sich nach ihren Brennpunkten gruppieren: Skepsis im Geschichtlich-Großen und Skepsis im Persönlich-Individuellen. 1. Programmwidriges Versagen der Moderne: „Betriebsunfälle“ des Fortschritts? Zunächst im Großen: Nahrung für Fortschrittszweifel bieten die bekannten und unleugbaren Verheerungen, die es in der Geschichte der Moderne ebenso gibt, wie im Mittelalter oder der Antike. Kann man es wirklich als „Betriebsunfälle“ innerhalb einer Aufwärtskurve schönreden, wenn noch immer Millionen verhungern, wenn noch immer ständig Krieg geführt wird, der auch Unschuldige verschlingt? – Noch deutlichere Beispiele hat die Neuzeit in Gestalt der Atombombe und erst recht des industriemäßigen Massenmordes von 1941 – 1945 geliefert, den ja nur moderne 16 Kant, „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“ in: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 1, Band XI 1977, S. 53. Kant hat den gesamten oben im Text zitierten Satz, mit dem er seine kleine Abhandlung eröffnet, gesperrt drucken lassen. 17 Dieses Bild gebraucht Kant in einer Anmerkung seiner oben [Fußn. 14] zitierten Schrift „Zum ewigen Frieden“: „…das Heiligste, was Gott auf Erden hat, das Recht der Menschen…[dieser] Augapfel Gottes…“ S. 29 (kursiv bei Kant).
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Technik und Verwaltungsorganisation so ermöglichten. Für viele, nicht nur für Adorno und Horkheimer, widerlegen sie jeglichen Fortschrittsoptimismus. 2. Das Verfehlen des Eigentlichen Die Geschichtsphilosophie der Aufklärung18 und der ihr nachfolgenden Epochen denkt in der Regel aufs Allgemeine und Objektive hin. Das Allgemeine aber ist notwendig abstrakt und übergeht Einzelheiten, die u. U. wesentlich sein können. So wird es schon dem frühen 19. Jahrhundert fraglich, ob die reale, schutzwürdige Subjektivität und das Konkrete wirklich mit derart optimistisch-menschenfreundlichen Objektivitätsvorstellungen, wie sie in jener Epoche am wirksamsten Hegel19 darlegt, zusammenpassen. Für das Verfehlen des konkret-Individuellen, des Leidens und des Einzelnen in seiner Zerrissenheit scheint ein bestimmter anti-Hegelianischer Angriff aus dieser Frühzeit besonders wichtig. Ihn führt Sören Kierkegaard.20 In seinem Einwand gegen die sich objektivistisch gebärdende Hegelsche Philosophie stecken unabweisliche Fragen an die Moderne. Solange diese Fragen nicht beantwortet sind, hat aller Fortschrittsoptimismus etwas Oberflächliches. Und auch nach dem Verebben der existentialistischen Bewegung lebt diese Gruppe von Anliegen fort. Auch sowohl die kommunitaristischen Einwände gegen den von ihnen so genannten liberalism wie auch gender-Philosophien wollen diesem Anliegen gerecht werden. Es sind unterschiedliche Arten von Besonderssein, subjektivem Verkanntwerden, Scheitern- oder Verfehlen-Können, unabhängig von – vorgeblich oder wirklich – gelingender „Objektivität“.21 Kierkegaard wendet sich gegen die objektivistische, an der gesamten Welt und Weltgeschichte orientierte Betrachtung, weil sie, bei Hegel (und nicht nur bei Hegel), dem Individuum bestenfalls Seitenblicke schenkt. „In der Sprache der Abstraktion kommt eigentlich nie das vor, was die Schwierigkeit der Existenz und des Existierenden ausmacht, geschweige daß die Schwierigkeit erklärt wird.“22 Insofern berührt sich Kierkegaards Kritik schon mit dem spä-
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Für die etwa der oben auf S. 66, Fußn. 10 zitierte Condorcet stehen mag. Vgl. zu diesem Objektivitätsanspruch das Hegel-Kapitel in Thomas Würtenbergers gründlicher Legitimitätsstudie (wie oben, Fußn. 1) vor allem S. 178 ff. 20 Vgl. zunächst die oft wiederabgedruckte kurze, klassische Darstellung „Kierkegaard“ (ursprünglich von 1951) von Jaspers; hier zitiert nach seinem Sammelband „Mitverantwortlich / Ein philosophisch politisches Lesebuch“, o. J., S. 239 – 253 sowie sehr knapp aber mit zahlreichen neuesten Nachweisen Reiner Wimmer, „Kierkegaard“ in der 2. Aufl. der Mittelstraßschen „Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie“, Band 4, 2010, S. 201 – 208. 21 Vgl. Sören Kierkegaard, Abschließende unwissenschaftliche Nachschrift zu den philosophischen Brocken. Zweiter Teil, 1958, übersetzt von Hans Martin Junghans, 16. Abteilung der Gesammelten Werke, insb. S. 5 – 35. 22 So Kierkegaards Einleitungssatz zu Kapitel III, § 1 der „Abschließenden unwissenschaftlichen Nachschrift“, hier nach der Übersetzung von H. Gottsched (1910) S. 1 zitiert. 19
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teren Vorwurf Adornos23. Es ist, kurz gesagt, die Unaufgehobenheit des konkret wirklichen Individuellen und Persönlichen, das bis in die äußerste Verzweiflung reichen kann, in der Abstraktion etwa eines gerechten und vernünftigen Staates oder einer guten Weltordnung. Jener Streit Kierkegaards gegen Hegel ist im Kern und zunächst ein theologischer, innerchristlicher. Doch reichen Hegels System und Kierkegaards Angriff weit darüber hinaus. Man kann Kierkegaards Einwand und Hegels Optimismus auch juristisch aktualisieren. Wenn etwa die Welthandelsorganisation, die Weltbank und andere mit dem Anspruch objektiv geltenden Rechts auftretende Institutionen im Namen eines Prinzips – etwa des freien Welthandels – die Interessen bestimmter Individuen, vielleicht ganzer Weltgegenden oder wenigstens kleinerer und mittlerer schwächerer Staaten unter sich begraben: Angenommen, die heute in jenen Institutionen geglaubten ökonomischen Rezepte wären richtig, wäre es selbst unter dieser Prämisse zumutbar, ganze Volkswirtschaften, die vorher – wenngleich isoliert – zumindest einigermaßen funktioniert haben, zu zerstören? Oder, aufs innerstaatliche Recht gewendet: Angenommen, ein Justizbediensteter weiß, dass der rechtskräftig Verurteilte in Wahrheit unschuldig ist, es gibt aber keine Möglichkeiten der Wiederaufnahme für diesen Fall.24 Ist er moralisch verpflichtet, den Strafgefangenen zu befreien? Oder muss er im Interesse der Verlässlichkeit der rechtsstaatlichen Gesamtstruktur die weitere Vollstreckung einer vielleicht langen, jahrzehntelangen Freiheitsstrafe, zulassen? Muss er gar an ihr mitwirken? – Dass die objektive Struktur das subjektive Recht verfehlt, ist keine hypothetische Erfindung.25 Kierkegaards Verzweiflung an der wirklichen Welt, an dem, was er „Existenz“ nennt, und was später einer breiten philosophischen Schule den Namen geben wird, ist der Gegenpol zu Benjamin Franklins individuellen Glücksoptimismus. Jener unermüdliche, geniale und witzige wissenschaftliche Journalist, Schriftsteller, Verleger, Verfassungsvater, Erfinder, Politiker und Diplomat lebte in der Zuversicht, wer in seinem Gewerbe fleißig sei und ein anständiger Mensch, der könne auch auf die Vorsehung vertrauen. (Die vorliegende Abhandlung bringe ich dem produktiven Autor, erfolgreichen Prozessvertreter und Politikberater, liberalen, menschenfreundlichen und angenehmen Kollegen Thomas Würtenberger auch
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Vgl. etwa Max Horkheimer / Theodor W. Adorno, „Dialektik der Aufklärung/Philosophische Fragmente“, 9. bis 13. Tausend, 1989, S. 18, 22, 217. 24 „Die Problematik des Wiederaufnahmerechts wird freilich in noch drängenderer Weise an den gescheiterten Wiederaufnahmeverfahren deutlich“, schreibt Karl Peters (S. V) im Vorwort zum dritten Band seiner seit 1970 erschienenen „Fehlerquellen im Strafprozeß / Eine Untersuchung der Wiederaufnahmeverfahren in der Bundesrepublik Deutschland“, 1974; es gilt: „Rechtsprobleme können erdacht werden. Auf dem Gebiet des Wiederaufnahmerechts bedarf es dessen nicht.“ aaO. 25 Vgl. die Peters-Zitate in der vorigen Fußn. und vor allem die Fälle in seinen ersten beiden Bänden.
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deshalb dar, weil in ihr Franklin auftritt, als Verkörperung der Stärken und des Optimismus der Moderne. Er passt zu Herrn Würtenberger.)26 Demgegenüber streift Kierkegaards bewusste Sonderbarkeit und auch seine damit verknüpfte Verzweiflung an allem mitunter fast ans Komische. Und gewiss ist es ein Fehlschluß, wegen der Möglichkeit individuellen Scheiterns und Verfehlens auch gleich den modernen Optimismus insgesamt zu verwerfen. So einfach darf die Kritik es sich nicht machen. Aber auch umgekehrt darf man es sich mit der Kritik pauschaler Harmonievorstellungen nicht einfach machen. 3. Die Erschütterung der Wert-Fundamente Die innere, rein subjektive Zerrissenheit, die mit dem problematischen Denker Kierkegaard zur philosophischen Sprache kommt, behält der wohlintegrierte Erwachsene damals wie heute für sich. Doch zu ihr gehört ein anderer Strang, der die literarische, philosophische und politische Kritik an der Moderne seit ihrem Anbeginn durchzieht. Er gilt der Freisetzung des Menschen durch das Denken der Moderne. Diese Kritik übt nicht nur die Gegenaufklärung, wie etwa Carl Schmitt oder auch der dennoch wohlmeinende Papst und ehemalige Theologieprofessor Benedikt XVI.27. Auch der Freiheitsphilosoph und Erzliberale Bertrand Russell schreibt: „Die Emanzipation von der Autorität der Kirche verstärkte den Individualismus bis an die Grenze der Anarchie.“28 Dostojewski lässt seinen Großinquisitor sagen, was Carl Schmitt später zustimmend so formuliert: Der Mensch sei „ein feiger Rebell, der eines Herren bedarf“.29 Es ist das Problem der Wertordnung und ihrer Durchsetzung. Kritik, die der Moderne und insbesondere dem aufklärerischen Denken ihr Gepräge gibt, führt, wie erwähnt, zum Individuum zurück, zum einzelnen Menschen mit seiner subjektiven Wahrnehmung und seinem subjektiven Denken. Alle „Objektivität“, soweit wir vernünftigerweise und verallgemeinerbar überhaupt von so 26
Das zeigt sich, je mehr man sich in Franklin einliest: Vgl. speziell zum aufklärerischepochentypischen Optimismus etwa die Erinnerungen („The Autobiography and Other Writings“. Selected and edited by and with an introduction by L. Jesse Lemisch, with a new afterword by Carla Mulford, New York 2001) passim; insb. S. 25, wo er im Rückblick auf seine Eltern schreibt: „From this instance, Reader, Be encouraged to diligence in thy calling, And distrust not Providence.“ In der deutschen Ausgabe, „Lebenserinnerungen“, hrsg. v. Manfred Pütz, übersetzt von Gottfried August Bürger, Zürich 1985, S. 18. 27 Vgl. die Regensburger Vorlesung des Papstes, vom Bayerischen Rundfunk übertragen am 13. 9. 2006. 28 Bertrand Russell, „Philosophie des Abendlandes. Ihr Zusammenhang mit der politischen und der sozialen Entwicklung“, 10. Aufl., 2001, 501; es handelt sich um seine Einleitung zu den Kapiteln über die neuzeitliche Philosophie. 29 Vgl. Carl Schmitts Kampfschrift „Römischer Katholizismus und politische Form“ von 1923, S. 44, hier nach der 2. Aufl. (München, Theatiner, 1925) zitiert.
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etwas wie Objektivität sprechen können, ist unser „Entwurf“. Für die Naturwissenschaft ist dies gewiss kein Problem. Karl Popper, der Fortsetzer der Erkenntniskritik Kants, hat klargemacht, dass allein Falsifizierbarkeit möglich ist. Obwohl letztlich nur unsere – allerdings übereinstimmenden und gut bewährten – Entwürfe vorliegen, handelt es sich doch um etwas, was so verlässlich ist, dass man im Allgemeinen durchaus von „Objektivität“ sprechen und auf sie vertrauen darf.30 Gleichwohl liegt ein Problem in der Einsicht, das Gute und Richtige, das wir, wenn es verrechtlicht ist, sogar mit Polizeigewalt durchsetzen, beruhe letztlich nur auf gedachten Übereinkünften, sei also nicht etwas von Gott in hinreichend erkennbarer Weise Vorgegebenes, das wir nur ohne eigenen Entscheidungs- und Deutungsakt zu übernehmen hätten. In dieser Schwierigkeit kann man eine Erschütterung der Fundamente sehen. Ein Missverständnis ist jedoch die sehr verbreitete Annahme, die Erschütterung der Fundamente durch die moderne Erkenntnistheorie (also vor allem durch Kant) sei Ursache des Nihilismus. Für manche Philosophen mag die Kausalkette so sein, etwa Nietzsche ist ohne Kant nicht denkbar. Faktisch hat es aber nihilistische Praxis auch in Epochen lange vor der modernen Erkenntniskritik, also vor Descartes und Kant, gegeben. Und faktisch gibt es Ruchlosigkeit auch heute in Kreisen, denen moderne abendländische Theorie fernliegt: Am 11. September 2001 begingen fromme, gottesfürchtige Verbrecher mit entführten Flugzeugen Massenmord im Einklang mit dem, was sie aus religiöser Unterweisung glaubten folgern zu können. Und der Rassenwahn Hitlers, Himmlers usw. hielt sich für etwas Objektives, war also gerade nicht aus jener Skepsis und Behutsamkeit erwachsen, die die Frucht kritischer Erkenntnistheorie ist. Er konnte sich gerade in der Gewissheit und dem Unbedingtheitsvertrauen einwurzeln und verwirklichen, das Menschen droht, die an eine Objektivität ohne distanzierende Anführungsstriche glauben. Seit David Hume und Immanuel Kant ist jedoch klar und seit Max Weber auch allgemein bekannt: Es gibt keine im naiven Sinne objektiven Werte, und auch hierin liegt eine Erschütterung des Fundaments. Der radikale Subjektivismus des Willens, der bei Nietzsche und flach verstandenem Nietzscheanismus zu schlimmen Ergebnissen bis hin zur „blonden Bestie“ führen kann, ist keineswegs aus Kant abzuleiten. Es bedarf zumindest noch der Umwege über Fichte und Stirner. Konsequent ist er jedoch auch mit Hilfe dieser Zwischenglieder nicht. Für unser Problem der Postmoderne sei jedoch festgehalten: In der akademischen Debatte, aus der die Postmoderne auch stammt, ist die moderne, skeptische Philosophie durchaus eine Mitursache für Nihilismus und Haltlosigkeit geworden.
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Vgl. die differenzierende Darstellung der modernen Erkenntnistheorie im Blick auf die Naturwissenschaften bei Sokal und Bricmont (wie oben, Fußn. 3) S. 68 ff.; dort auch der Spott, wenn ein Geisteswissenschaftler darauf bestehe, dass es sich auch bei der Physik bloß um ein Thesengebäude handle, dann könne er im Büro von Herrn Sokal, das im 21. Stock liegt, aus dem Fenster springen und es überprüfen.
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4. Eindimensionalität, oder das Problem des störenden Rauschens Die wissenschaftlich-technische Moderne hat in vielen Hinsichten Perfektion erreicht. Auch die Organisations- und Verwaltungssysteme, die regierende, teilweise ja sogar demokratisch zustande gekommene Repräsentationsaristokratie, die fürsorglichen Bürokratien und Organisationen, die für Strom und Wasser, für Wärme, Bequemlichkeit, Transport und Gefahrenabwehr sorgen, dann der akademische Betrieb, – gewiß könnte all dies noch besser sein; dass es aber insgesamt recht gut ist, beschwört die Gefahr der Immunisierung herauf. Der Optimismus der Aufklärung will vernünftig und praktisch die Welt nicht nur gestalten, sondern strebt auch nach möglichst richtiger Wahrnehmung der Welt. Obwohl Scharfsinn sich seit Jahrhunderten müht, diese Erkenntnisse zu verbessern, zu verfeinern, und die Apparatur immer offenzuhalten, verstummt auch der Zweifel an den Erkenntnismöglichkeiten nicht. Adorno hat bestritten, dass es möglich sei, dass der Begriff sich den Dingen, die durch ihn zu begreifen sind, anschmiege. Stattdessen wohne dem Denken die Tendenz inne, das sich gleichzumachen, was es eigentlich nur anschmiegend umfassen solle. Luhmann hat gezeigt, dass Systeme, also auch soziale und politische Systeme, gegen solche Eingaben, die nicht genau in ihr Schema passen, die nicht im richtigen „Code“ verschlüsselt übermittelt werden, taub sind. Sie nehmen sie nur als „störendes Rauschen“31 wahr. Wenn wir auf die vorigen Gliederungspunkte in diesem Kapitel zurückschauen, dann erkennen wir, welch fatale Folge diese Selbstimmunisierung des Systems der Moderne hat. Wir sahen oben (1.), dass das System immer unvollkommen ist, dass an den Rändern Brüche auftreten. Ist das System nun in der Tat taub, so dass es das Schreien von den Unfallstellen dieser Brüche nicht als Schreien begreift, sondern bloß als störendes Rauschen abtut, dann hilft es dort nicht, dann bessert es nicht nach, sondern stampft weiter. Die große Maschine droht dann aber, Schäden anzurichten, die alles übertreffen, was ohne die Moderne und ihre überlegenen fortschrittlichen Mittel je möglich war. Kommt in der Moderne eine Schar Verbrecher an die Macht, wie 1933, so hat sie Möglichkeiten, die das Projekt insgesamt in Frage stellen können. Diese Infragestellung ist keine nur scheinbare. Wenn wir nämlich vom Einzelmenschen aus denken, so kann schon die existentielle Verletzung von nur einem, etwa seine Ermordung, eine Infragestellung des Ganzen sein. Das Schlagwort des Ironikers Luhmann versinnbildlicht, was Herbert Marcuse, also die andere, die kritische Seite als eine Facette des Problems der „Eindimensionalität“32 des in der Spätzeit der technischen Moderne, der der positivistischen 31
Vgl. Luhmanns „Ökologische Kommunikation/Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen?“, 3. Aufl. 1990, S. 128. 32 Vgl. die „Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft“, die Marcuse unter dem Obertitel „Der eindimensionale Mensch“ 1964 in den USA (Boston, Beacon Press, „The One-dimensional Man. Studies in the Ideology of advanced Industrial Society“) und 1967 auf Deutsch veröffentlicht hat.
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Ideologie, herausgezüchteten Menschen anprangert. – Trotz dieser Gefahren des Positivismus ist er natürlich in weiten Bereichen der Wissenschaft unverzichtbar. 5. Interne und externe Kritik an der Moderne (vor allem an der Aufklärung) von früh an Seit Anbeginn ist, wie gesagt, das moderne Denken kritisiert worden. Innerhalb dieser Kritiken lässt sich auch noch eine andere Differenzierung treffen als im vorigen Kapitel. Kritik ist ja überhaupt ein wesentliches Prinzip der Moderne. Aber obwohl die Moderne mit Hilfe der Kritik arbeitet, gibt es auch eine Kritik, die nicht in die Fortschrittsrichtung geht, die diese Epoche charakterisiert. Seit Anbeginn gab es die entschiedene Gegenmoderne, die die Macht des Klerus (der sich gegenüber dem Glauben und den Gläubigen verselbständigenden Kirche), und die demokratisch nicht legitimierte Herrschaft der Fürsten zu erhalten strebte. In der Gegenreformation, später auch in der Gegenaufklärung, wird sie deutlich. Der Faschismus ist ihr Spross. Dennoch überwiegt insgesamt solche „Kritik“, die sich aus dem Ungenügen am bisher erreichten Fortschritt speist. Schon gerade in der Aufklärungszeit selbst hat man sich über Ideen der Aufklärung lustig gemacht. Etwa über Leibnizens Optimismus, die Welt, in der wir leben, sei die beste aller möglichen Welten. Schon Voltaire verhöhnt das in seinem Roman Candide. Angesichts grundloser bestialischer Hinrichtungen und anderer Unglücke und Katastrophen fragt sich der Held: „Wenn das die beste aller möglichen Welten ist, wie müssen dann erst die anderen sein?“33 Und als Sturm und Drang und Klassik auftraten, da wollten sie die Aufklärung und Empfindsamkeit, also die Programmbegriffe der Epoche vor ihnen, zwar abwerten: In der Aufklärung sahen sie eher die Bevorzugung der „platten Vernünftigkeit […], in der Empfindsamkeit den Ausdruck eines künstlichen und unwahren Gefühls.“ Aber sie begingen jene vielfach so ungerechte Abwertung um größerer Wahrhaftigkeit und Echtheit Willen.34 Solche Kritik an Einzelphasen der Moderne trifft im Einzelnen oft zu, wird ihr als Ganzer aber keineswegs gerecht.35 In diesen Kritikbeispielen steckt etwas Verallgemeinerbares. Oft wird innerhalb der Moderne ein früherer Abschnitt oder gar ein gleichzeitiger dieser selben Moderne kritisiert, indem man ihn nur von seinen Fehlern und Schwächen her versteht. 33
„Si c’est ici le meilleur des mondes possibles, que sont donc les autres?…“; vgl. Voltaire, „Candide ou l’ optimisme, traduit de l’allemand de Mr. le docteur Ralph, avec les additions qu’on a trouvées dans la poche du docteur, lorsqu’il mourut à Minden, l’an de grâce 1759“ in: Voltaire, „Candide et autres contes“ hrsg. v. Frédéric Deloffre avec la collaboration de Jacques van den Heuvel, 1992, S. 9 ff.; das Zitat findet sich im sechsten Kapitel, S. 24. Deutsch in „Candid und andere Erzählungen“ (ohne Jahr), in der hier nicht ganz perfekten Übersetzung von Ernst Sander, S. 179 ff., S. 202. 34 Vgl. Walter Flemmer, „Einführung zu Friedrich Gottlieb Klopstock. Dichtungen und Schriften, Eine Auswahl aus dem Gesamtwerk“, ohne Jahr, S. 7 ff. 35 Flemmer, aaO., legt dar, inwiefern dies eine Verzerrung des Bildes jener Epochen ist.
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Dabei wollen die Kritiker aber oft ähnliches wie das, was jene Vorgänger auch anstrebten. Wenn wir uns die Postmoderne ansehen, gilt es, das im Sinn zu behalten. Von hierher löst sich das Problem der Normativität in der Postmoderne.36 V. Dekonstruktion oder: Das Scheitern postmoderner Wissenschaft 1. Déconstruction statt Destruktion Auf diesem Wege wird zum Beispiel aus der Kritik, die die Moderne, und insbesondere die Aufklärung, so nützlich auf ihre Höhen geführt hat, die Dekonstruktion oder der „Abbau“ (so lautet das Wort bei Heidegger) und dann die déconstruction bei Jacques Derrida. Es wurde oben Kierkegaard zitiert, der in der Philosophie der Moderne Verfehlung des Eigentlichen des Menschen sah. In die Denkschule Kierkegaards gehört Heidegger, und er folgt ihm hier, wie viele andere Existenzphilosophen auch. Das abendländische Denken habe, so rügt er noch radikaler als Kierkegaard, das eigentlich Wesentliche überhaupt nicht bearbeitet. Indes: dieses Wesentliche, die Existenz, kann man möglicherweise im wissenschaftlich-philosophischen Denken gar nicht bearbeiten. Heideggers Sprache nähert sich denn auch oft dem Dichterischen sowie der Mystik an. Das „Seinsdenken“ ist keine im herkömmlichen Sinne wissenschaftliche Philosophie. Heidegger nimmt das für sich auch nicht in Anspruch. Für unsere Frage der Normativität der Moderne und der Normativität einer Epoche, die sie abzulösen behauptet, hat er das klar in seinem „Brief über den Humanismus“ ausgesprochen. Sein Denken liege, so behauptet er, sogar schon der Trennung von Sein und Sollen voraus,37 ohne die aber, so meine ich, Normativität nicht gedacht werden kann. Nun kommt gefährliche Dialektik ins Spiel. Weil er die zurückliegenden Epochen unterschätzt, meint er, in vielem ganz neu ansetzen zu müssen oder zu können.38 Dieses Neuansetzen, das etwa die Trennung von Sein und Sollen vernach36
Vermutlich ist auch ein Gutteil der Kritik des scharfsichtigen Nietzscheaners Michel Foucault hier einzuordnen; vgl. zu ihm vor allem zwei Darstellungen: sehr wohlwollend Hans-Helmuth Gander, „,Ich weiß nicht, ob wir jemals mündig werden‘, Anmerkungen zu Foucaults Aufklärungskritik“ in: Monika Fludernik / Ruth Nestvold / Vera Alexander (Hrsg.), „Das 18. Jahrhundert“, 1998, S. 199 – 213 und kritisch Hans-Ulrich Wehler, „Die ,Disziplinargesellschaft‘ als Geschöpf der Diskurse, der Machttechniken und der ,Bio-Politik‘“ in: „Die Herausforderung der Kulturgeschichte“, 1998, S. 45 – 95. 37 „Dieses Denken ist weder theoretisch noch praktisch…“ schreibt Heidegger (S. 354) in seinem „Brief über den Humanismus“ (in: ders., „Wegmarken“, 2., erweiterte und durchgesehene Aufl., 1978, S. 311 – 360). 38 Für den Hinweis auf Briefstellen, aus denen sich ergibt, dass Heidegger erst spät, also nach „Sein und Zeit“, sah, wie nahe er in vielen Hinsichten dem unerhört radikalen Kant war, danke ich Gerold Prauss; die Seiten des Humanismusbriefes, in denen sich die eben (vorige Fußn.) zitierte Passage findet, zeigen andererseits, dass auch noch der reife Heidegger Kants Denken in zentralen Punkten nicht kannte oder missverstand.
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lässigt, ebenso wie auch das von der wissenschaftlichen Philosophie hinsichtlich Subjektivität und Objektivität und hinsichtlich Erkenntnistheorie Erreichte, muss zu Rückfällen führen. Das zeigt sich an Heideggers Begriff des Abbaues oder der Destruktion, die dann bei Jacques Derrida zur Dekonstruktion wird.39 — „Abbau“ ist im Deutschen mehrdeutig und entsprechend im Französischen: Derrida schreibt dazu, schon im Französischen sei das Wort déconstruction keineswegs klar und unzweideutig. Diese Hoffnung sei naiv. Schon in „meiner“ Sprache, schreibt Derrida, habe er ein ernsthaftes (sombre) Problem mit der „Übersetzung“ dessen, was mit déconstruction gemeint sei, je nach Zusammenhang wechsle das schon im Französischen. Noch mehr aber sei es so in deutschen und englischen und vor allem amerikanischen Kontexten.40 Als ich dieses Wort wählte, fährt Derrida fort, und dann korrigiert er sich: oder als vielmehr „sich dieses Wort mir selbst auferlegte“ – in der Grammatologie – da sei nicht klar gewesen, welch große Rolle ihm einst zukommen würde. U.a. habe er damals die Heideggerschen Worte Destruktion oder Abbau übersetzen und zu seinen eigenen Zwecken anpassen wollen.41 Man kann hier nicht den ganzen Brief,42 der diese Wortgeschichte erzählt, in der Ausführlichkeit durchsprechen, die er für die Frage der Postmoderne von seiner Bedeutung her verdienen würde. Aber auf zwei Aspekte sei hingewiesen. Erstens erklärt Derrida im Folgenden, das französische Wort déstruction habe er nicht nehmen wollen, denn es sei zu nah an Nietzsches Zerstörung (démolition), an der Vernichtung, an der negativen Reduktion gewesen, und dafür nicht nah genug an Heideggers Stil von Auslegen oder Interpretieren und damit nicht nah genug an der Lektüreart, die er, Derrida vorschlagen wolle. Es soll also nicht nietzscheanisch radikal zerstörend, sondern heideggerisch abgebaut werden. Spontan fiel ihm dafür die Übersetzung déconstruction ein, was gutes Französisch ist.43 Es ging also darum, Heidegger zu übersetzen, wenn auch abwandelnd, und Nietzsche dabei zu vermeiden. Das ist ein Merkposten. Was aber war – in Derridas Auffassung – jenes Heideggersche Erbgut, das einerseits (bei Heidegger) Destruktion und andererseits (ebenfalls bei Heidegger) Abbau heißt? Derrida sagt es in einer Weise, die mir gut heideggerisch scheint (jedenfalls für manche Heidegger-Phasen): „Each [also so39 Zu Derridas „Dekonstruktion“ und ihrer Entstehung aus Heideggers „Abbau“-Konzept vgl. im Einzelnen: „Nüchtern und klar trotz Postmoderne / Drei wissenschaftstheoretische Fragen zu Dietrich Murswieks Sechzigstem“ in „Nachdenken über Staat und Recht“, 2010, S. 11 ff., S. 14 ff. 40 Alle Zitate in Jacques Derrida, Letter to a Japanese Friend, datiert 10. Juli 1983, abgedruckt in dem Sammelband von David Wood und Robert Bernasconi (Hrsg.), Derrida and Différance, Evanston, Il., 1988, Northwestern University Press, 1 ff. (bisherige Zitate alle S. 1). 41 Bei Wood/Bernasconi ebd. Die Wörter Destruktion oder Abbau sind kursiv gesetzt und auf Deutsch geschrieben. 42 Lettre à un ami japonais, in: Jacques Derrida, Psyché, Inventions de l’ autre, Band II, nouvelle édition revue et augmentée, Paris 2003, S. 9 – 14. Der Freund ist (wie es in der Fußnote 1 bei Derrida aaO. S. 9 heißt) „der berühmte japanische Islamkundler“. 43 So zumindest sagt es Derrida, aaO., S. 1.
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wohl Destruktion als auch Abbau] signified in this context an operation bearing on the structure or traditional architecture of the fundamental concepts of ontology or of Western metaphysics.“44 2. Metaphysik oder Ontologie? a) Heideggerische, nicht Hartmann’sche Gleichsetzung bei Derrida In dem Zitat ist etwas wichtig, was Derrida ganz nebenbei hineingeschrieben hat: Es ist die Gleichsetzung von „de l’ontologie ou de la métaphysique occidentale“, also von „Ontologie oder abendländischer/westlicher Metaphysik“. Wer die Philosophie nicht nur bei unkritischen Heidegger-Fortsetzern kennengelernt hat oder direkt in die Postmoderne geraten ist, der sieht hier den fundamentalen Rückfall. Seit der Kritik der reinen Vernunft, also seit Kants erkenntnistheoretischem Hauptwerk, ist die Gleichsetzung von western metaphysics und ontology einfach nur falsch. Sie passiert zwar auch seither vielen. Aber sie verleugnet das revolutionäre und zugleich freiheitliche Erbe dieses Gipfels der Aufklärung. Wenn Derrida glaubt, die abendländische Philosophie treibe noch immer – er hat diesen Brief 1983 geschrieben – sie treibe noch zweihundert Jahre nach Erscheinen der Kritik der reinen Vernunft jene Seinswissenschaft (das ist die Bedeutung von Ontologie), so hat er die skeptische Wende dieser Philosophie, das radikal Kritische an ihr, übersehen. Auch Heidegger hatte dies am Anfang seines Schaffens und jedenfalls noch bei „Sein und Zeit“ nicht gesehen. Ein bis heute verbreiteter Irrtum macht aus Kant eine Art psychologisch ausgeklügelten Platon. Dieses Missverständnis verkennt aber das Radikale, Subjektivistische, Revolutionäre und potentiell Anarchische, die Wende zum Subjekt und zur autonomen Erkenntnis, die in Kants „kopernikanischer Drehung“ liegt. Zweiter Punkt ist jener angesprochene Abbau, die Dekonstruktion, die Derrida lieber ist als das Demolieren, mit dem Nietzsches Philosophie gewissermaßen als Abrissbirne gegen alles etablierte Denken vorgegangen war. Der nachlesenswerte Brief Derridas macht klar, wie nah das deutsche Wort Abbau, das Heidegger gewählt hatte, tatsächlich an dem ist, was Derrida mit déconstruction meint, und was tatsächlich zumindest zu einem guten Teil dem normalen französischen Wort déconstruction entspricht. Abbau oder déconstruction bedeutet in einem Satz: das Durcheinanderbringen der Wörter durch Zerstörung der Satzstruktur, oder auch: das Umbauen eines Satzes der Poesie, also der gebundenen Dichtung, in bloße Prosa, oder auch, und das scheint mir (wie auch für Derrida in seiner Selbstinterpretation) der Schwerpunkt zu sein: Es hat einen maschinentechnisch-mechanischen45 Sinn, und zwar, das ist das Beispiel, das Derrida dem Littré entnimmt und zitiert: Das Abbauen einer Maschine, ihre Zerlegung, um die einzelnen Teile dann 44 45
AaO., S. 1. „Une portée ,machinique‘“ (lettre aaO., S. 10).
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besser transportieren und an einer anderen Stelle die Maschine wieder aufbauen zu können – also wie etwa den Kran am Ende der Bauzeit. Dieser Abbau ist etwas anderes als Kritik, als Analyse, auch wenn er auf den ersten Blick einiges mit ihr gemeinsam zu haben scheint. Derrida betont in jenem Brief sogar selbst, dass Kritik, gerade die Kantische, etwas anderes sei.46 Im Gegenteil, erklärt er, die Kantsche Kritik selbst sei Gegenstand der Dekonstruktion, also des Abbaues. Gewiss, das kennen wir aus Derridas Texten, soll das, was wieder aufgebaut wird, nachdem es abgebaut worden ist, nicht dasselbe Gerät sein, das die Einzelbestandteile früher zusammen ausgemacht hatten. So wie Derrida sagt, das Wort habe sich ihm auferlegt, anstatt dass er selbst es gewählt habe, so wird auch der Wiederaufbauplan dem Text selbst, den Versatzstücken selbst zugeschrieben. — Auch der mittelbar (über Popper, Sartre und andere) wirkmächtig gewordene Nicolai Hartmann nennt sein Philosophieren zwar wieder Ontologie. Aber diese seine „Neue Ontologie“ ist kein Rückfall ins Vorkritische, sondern erkenntnistheoretisch geläutert. Hartmann ortet die erkenntniskritische Skepsis lediglich anders. Bei Derrida hingegen fehlt sie. b) Dekonstruktion im Unterschied zu Kritik Erinnern wir uns an die Gegenseite, an die gnadenlose Genauigkeit der Kritik bei Johannes Duns Scotus und Wilhelm von Ockham, bei Kant und Feuerbach, bei Stirner und Nietzsche, und schließlich bei den Autoren des zwanzigsten Jahrhunderts, wie Popper. – Stellen wir dem die Postmoderne gegenüber. Wolfgang Welschs einflussreiches Werk über die Postmoderne geht zu recht von der Architektur aus.47 Jeder kennt seit Jahrzehnten die Häuser, in denen sich Stilelemente vieler Epochen unverfremdet oder auch verfremdet mischen. Oft muss der Geschmack sich erst daran gewöhnen – mitunter kann er das nicht, oft ist es auf eigene Art auch „schön“.48 Hier waltet kein Prinzip, sondern es waltet Freiheit. Es ist aber nicht die Freiheit Kants, die die – anstrengende – Eigenschaft hat, möglicherweise gleich zu verlangen, dass ich mich ganz und gar der Vernunft unterordne. Die es mitunter sogar so weitgehend zu verlangen scheint, dass sich die Frage aufdrängt, ob man überhaupt noch von Freiheit reden soll und nicht gleich von Vernünftigkeit und dem Zwang der Vernunft. Es ist eine andere Freiheit in der postmodernen Architektur. Es ist Beliebigkeit. Nietzsche erkannte schon im neunzehnten Jahrhundert das Zeichen seiner Epoche als etwas Buntscheckiges, ein systemloses SichZusammensuchen von Versatzstücken früherer Epochen. Dies scheint mir ein Bild 46 Das tut er, obwohl er sich anderswo wohl durchaus als einen Kantianer bezeichnet oder zumindest mittelbar bekennt, nicht nur durch die oft in bejahender Absicht vor seine Texte gestellten Kant-Motti. 47 Wolfgang Welsch, „Unsere postmoderne Moderne“, 6. Aufl., 2002. 48 Das Bemühen um mehr Gefälligkeit (im Vergleich zur Strenge der Moderne) wird in vielen der Schaustücke, Videos, Filme usw. der oben (Fußn. 6) zitierten Londoner und Zürcher Ausstellung deutlich.
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der Dekonstruktion, des Abbaues im Sinne von Derrida zu sein: wie bei Heidegger eine Weigerung, auf den Errungenschaften der neueren Philosophie aufzubauen. Sie sind für Derrida nur „Text“, den man dekonstruieren und beliebig wieder zusammenfügen kann. Dieses Verfahren erklärt wohl auch die praktische Unbrauchbarkeit solchen Denkens, wie sie sich in Derridas Versuch offenbart, den modernen Terrorismus zu analysieren.49 Es handelt sich um ein (meist uneingestanden) spielerisches Denken, um Tinguely-Philosophie.50 c) Bedenklichkeit des Verfahrens Das Problem ist, dass bei diesen mehr ästhetischen als analytischen Verfahren auch die Allgemeinheit, der Anspruch des Denkens auf intersubjektives Zwingen, verloren geht. Nicht erst Derrida, sondern weitgehend auch schon Heidegger ebnet den Unterschied zwischen Literatur und Philosophie ein.51 „Philosophisches Denken hat überhaupt nicht mehr die Pflicht, Probleme zu lösen.“52 Die beschränkte Brauchbarkeit solchen Denkens wird klar, wenn wir Giorgio Agamben lesen. Er beschreibt unsere Epoche nicht unzutreffend, mit Anklängen an Carl Schmitt und an Kafka, als eine Welt von Lagern, des Krieges; aber ist es noch Kritik, die er übt? Heidegger kann man das solange nicht vorwerfen, wie er nicht praktisch wird. Sagt er nicht in jenem Zitat aus dem Humanismus-Brief, sein Denken liege jeder Praxis voraus, übertreffe sie gar?53 Doch wenn Mystik, so wie bei Heidegger, den Platz der Philosophie einnimmt oder eine Poesie-ähnliche Selbstreferenz von Sprache wie bei Derrida, dann muss der an Normativität Interessierte sich klarmachen, dass seine Themen hier nicht mehr verhandelt werden. Und weiter: er muss sich auch darüber klar sein, dass schon die Grundlagen alles dessen, was seine Themen betrifft, hier durch etwas anderes ersetzt worden sind.
49 Vgl. Jürgen Habermas und Jacques Derrida, „Philosophie in Zeiten des Terrors“, zwei Gespräche, geführt, eingeleitet und kommentiert von Giovanna Borradori, 2006. Zu den Ansätzen von Karl-Heinz Ladeur, „Postmoderne Rechtstheorie“, 2. Aufl. 1995, auf die hier aus Raumgründen nicht eingegangen werden kann, vgl. Thomas Vesting, „Die Sprengkraft des Heterogenen. Über Karl-Heinz Ladeurs „Entwurf einer post-modernen Rechtstheorie“ in: ARSP 81 (1995), S. 92 – 101. 50 Das ist kein Vorwurf gegen Tinguely. Oben (S. 63) ist gesagt geworden, dass Tinguelys Kunst eine sinnvolle, weil erheiternde oder auch fruchtbar befremdende Art von spielerischer Rekonstruktion aus spielerisch Dekonstruiertem sein kann. Theorie hingegen ist weder Kunst noch Spiel. 51 Vgl. dazu Jürgen Habermas, „Der philosophische Diskurs der Moderne. 12 Vorlesungen“, 4. Aufl. 1985, 219 f. In dem Kapitel davor wird auch deutlich, wie Rückfälle Edmund Husserls den Rückfällen von Heidegger und Derrida vorarbeiten. 52 So Habermas, aaO., 246. 53 Vgl. erneut Heideggers oben (Fußn. 37) zitierten „Brief über den Humanismus“, S. 354 ff.
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Wenn alle Grundlagen der aufklärerischen Konzepte, also etwa auch der Freiheitsbegriff, nur noch als „große Erzählungen“ / „grands récits“54 gelten, die sich so verknüpfen, wie die freien Assoziationen des Analysanden auf der Couch des Psychoanalytikers, dann erscheint auch ein konsequentes, etwa diszipliniert Ziele verfolgendes Ich nur noch als eine fragwürdige sprachliche Möglichkeit. Der Unernst im altmodischen Sinne, der hier konstatiert wird, ist kein Vorwurf. Diese Art von Philosophie strebt etwas anderes an. Und zweitens sei auch zugestanden, dass auch jene Konzepte, die der Moderne ihre analytische Schärfe gaben, nicht vor aller Kritik geschützt werden dürfen. Vielmehr sind auch sie permanent in Frage zu stellen. Zurückweisen möchte ich jedoch die Meinung, solche postmodernen Theorien überwänden die Moderne. Ähnlich wie die vermeintliche Überwindung, die Heidegger für sich in Anspruch nahm, dem sie viel verdanken, scheitern sie. Dieses Scheitern ist aber kein Zufall. Es liegt an der Unverzichtbarkeit eben jener Instrumente des Denkens, insbesondere der Freiheits- und Kritikvorstellungen, denen die Moderne zum Sieg verholfen hat und die ihrerseits die Aufklärung zum Sieg geführt haben. 3. Dekonstruktion als Parodie Zur Veranschaulichung sei von einer Parodie berichtet. Die Parodie heißt: Transgressing the boundaries55 und macht sich über die postmoderne Philosophie lustig. Sie erschien 1996 in der renommierten amerikanischen postmodernen Zeitschrift Social Text56. Das Copyright liegt noch immer beim Verlag jenes damals auf den Arm genommenen Fachblattes, der Duke University Press.57 Der amerikanische Physiker und Mathematiker Alan Sokal wagte ein Experiment, und es gelang: Er veralberte den postmodernen Schreibstil und verkaufte seine Parodie an ein Flaggschiff dieser Strömung, das ihn ernstnahm. Als er den Irrtum einige Zeit später aufdecken wollte, in einem weiteren Artikel, weigerte Social Text sich, diese Entlarvung zu drucken. Die Begründung war, er entspreche nicht dem Niveau der Zeitschrift … Daraufhin, 1997, veröffentlichte Sokal zusammen mit einem anderen Physiker, Jean Bricmont jenes Buch, dem wir einleitend schon begegnet sind. In Frankreich hieß es „intellektuelle Hochstapeleien“, „impostures intellectuelles“58, in den USA Fashionable Nonsense, wie auch auf Deutsch: Eleganter Unsinn. 54
Vgl. dazu die knappe, überzeugende Kritik von Mahlmann (oben Fußn. 9). Der vollständige Titel lautet: „Transgressing the Boundaries: Towards a Transformative Hermeneutics of Quantum Gravity“. /Die Grenzen überschreiten: Unterwegs zu einer transformativen Hermeneutik der Quantengravitation. 56 In der Nr. 46/47 von Social Text, 1996, S. 217 – 252. Mein Bericht stützt sich auf Sokal/ Bricmonts Buch (vgl. oben, Fußn. 3). 57 Wiederabdruck in dem Buch von Sokal/Bricmont aaO. (oben, Fußn. 3), S. 262 – 309. 58 Éditions Odile Jacob, Paris, Oktober 1997. Vgl. Sokal/Bricmont aaO, S. 9. 55
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Man warf ihnen vor, sie seien „humorlose, wissenschaftsgläubige Pedanten, die grammatikalische Fehler in Liebesbriefen korrigieren“.59 Pedanterie war aber nicht der Grund. Sokal und Bricmont ärgern sich über die postmoderne Mode, weil sie, wie sie in dem Buch schreiben, politisch gesinnt sind und folglich möchten, dass die Philosophie sich mit der wirklichen Welt und wirklichen Problemen beschäftigt, damit sie auch etwas nützt. „Dekonstruktion“ verringert die Möglichkeiten, Sinn von Unsinn zu unterscheiden.
VI. Der Name der Parodie Jene Parodie Alan Sokals ist noch wegen einer zufälligen Kleinigkeit bemerkenswert. Ihr Name, „Transgressing the boundaries“ veranschaulicht indirekt das Gefährliche der sogenannten Postmoderne: Transgressing (in etwa „Überschreitend“) gemahnt an den Kernsatz kritischen Denkens bei Ernst Bloch: „Denken heißt Überschreiten“. Denken hieß aber für Bloch, einen ernsthaft ringenden Fortsetzer der Modernen Philosophie, nicht irgendein Überschreiten, sondern mit zwei Zielen: in Erkenntnisabsicht und Befreiungsabsicht. Bloch hat die klassische Moderne, insbesondere Kant, durchaus auch überschritten. Er ergänzte die bürgerliche Befreiung durch die soziale und, wie er meinte, sozialistische. Er ersetzte die Errungenschaften der Moderne also nicht, sondern führte sie kritisch weiter.60 Dass zwei kritische Physiker das zum kritischen Fortschritt aufrufende Wort eines der letzten kritischen Philosophen, Ernst Bloch, über ihre Parodie setzten, kann irritieren. Zeigt es, wie weit der postmoderne Philosophiebetrieb die Geistesund Gesellschaftswissenschaften in Verruf gebracht hat? Zeigt es, wie ihr Fortschrittswille unter Spielereien verweht, unter einer Flut von Texten, die die Grenzen von Sprachwissenschaft, Literaturwissenschaft, Geschichte, Soziologie, Mystik, Dichtung und „Freier Assoziation“ (im Sinne von Freuds Psychoanalyse) überschreiten? Aus der unbefriedigenden Geschichte der Postmoderne ergibt sich als Fazit: Wir müssen stets neu zurück zum „Überschreiten“ im Stil der Moderne, damit wir nicht auf postmoderne transgressions hereinfallen. Das bedeutet: Die klassische, freiheitliche Moderne darf Brüche und Kritik nicht als „störendes Rauschen“ ausblenden. Sie muss dann vielmehr, um Luhmanns schöne Bildsprache aufzunehmen nachjustieren, das gestörte „Programm“ ergänzen.61 D.h. sie hat sich um noch wissenschaftlichere („objektivere“) Erkenntnis zu bemühen, muss folglich noch sorgfältiger nach Gerechtigkeit und Fortschritt auch für Schwache und Außenseiter streben. Insbesondere dann, wenn sie auch das Randständige und „Sonderbare“ 59
So Robert Maggiori in Libération, zitiert aaO., S. 9. Das wird besonders im Kapitel 19 seines rechtsphilosophischen Hauptwerkes „Naturrecht und menschliche Würde“ (1985) deutlich, das den Titel trägt: „Aporien und Erbe an der Trikolore: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ (S. 175 ff.). 61 Vgl. Luhmann aaO. (Fußn. 31), S. 128. 60
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ernstnimmt, dann entzieht sie der Idee, sie müsse abgelöst werden, von vorneherein die Legitimation. Die ständige Bereitschaft, das bisher Erreichte in Frage zu stellen und bei Bedarf kritisch und selbstkritisch zu überschreiten, wohnt der aufklärerischen Neuzeit schon selbst inne.
Die Nationalsymbole in Brasilien: Vom Kaiserreich zur Republik Von Joseph Jurt, Basel/Freiburg „Symbole sind Bestandteil der Identität der Staaten. Ihre Bedeutung beruht auf der Tatsache, dass Gewaltmonopol und juristische Instrumente nicht ausreichen, um die Legitimität der Regierung zu garantieren. So stellen sich Staaten über ein System von Zeichen und Emblemen dar, die ihre politischen Werte und Ideale übersetzen. Sie behaupten sich auf der symbolischen Ebene und schaffen ein Umfeld, das eine dauerhafte soziale Ordnung fördert und legitimiert.“ Das kann man auf einer Schautafel im Saal der Symbole im Museum der Republik in Rio de Janeiro lesen, das während 63 Jahren Sitz der Regierung der Republik Brasiliens war.1 I. Verfassungsstaat und politische Symbolik In der Tat waren Nationalsymbole mit der Bildung der Nationalstaaten seit der Amerikanischen Revolution im 18. Jahrhundert zu einer Notwendigkeit geworden. Die Staaten definierten sich nicht mehr über eine Dynastie (und deren Wappen), der gegenüber Loyalität Pflicht war. Entscheidend war der Transfer der Souveränität von der Person des Monarchen auf die Nation (das Volk) und die Garantierung der fundamentalen Rechte über eine Verfassung. Für die Nationalstaaten drängte sich darum die Schaffung eines Zusammengehörigkeitsgefühls auf, wofür man eine ganze Reihe von Instrumenten einsetzte: den Bezug auf eine geschichtliche Kontinuität, auf Heldenfiguren, eine gemeinsame Sprache und Kultur, auf Erinnerungsorte und eben eine Staatssymbolik.2 Den Nationalsymbolen kommt darum eine zentrale Funktion zu, weil sie wichtige politische Werte und Inhalte des politischen Selbstverständnisses eines Gemeinwesens in einprägsamer Weise visualisieren, in denen die Staatsbürger ihre politische Identität erkennen und anerkennen. Mit diesen leicht identifizierbaren omnipräsenten Symbolen werden, so der brasilianische Historiker José Murilo de Carvalho, „die Seelen geformt“.3 Auch in den Augen von Thomas Würtenberger sind politische 1
http://www.museudarepublica.org.br/principal2.html (Übersetzung des Textes J.J.). Siehe dazu Anne-Marie Thiesse, La création des identités nationales. Europe XVIIIe–XXe siècle. Paris, 1999. Joseph Jurt, Die Konstruktion nationaler Identitäten in Europa (18. bis 20. Jahrhundert), Francia, (28/3), 2001, S. 1 – 14. 3 José Murilo de Carvalho, A Formação das Almas: O Imaginário da República na Brasil, São Paulo, 1990. 2
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Symbole „ein wichtiges Medium politischer Kommunikation“: „Sie repräsentieren die geistigen Grundlagen und zentralen Prinzipien der politisch-rechtlichen Ordnung. Damit schaffen sie die Identität einer Gemeinschaft und beanspruchen um der politischen Kontinuität willen Geltung für die Zukunft.“4 Thomas Würtenberger hat in seinen Publikationen häufig über die Legitimation von Herrschaft gearbeitet und kam dabei immer wieder auf die politische Symbolik zu sprechen, etwa in der Studie Verfassung als Gegenstand politischer Symbolik im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert5 oder im eben genannten Aufsatz über Die Verfassungssymbolik der Revolution von 1848/49. Er untersucht dabei diese Symbolik in den Medien der politischen Publizistik und vor allem auch in der Kunstform der Medaillen, in denen die Erinnerung an die „unterschiedlichsten privaten oder politischen Ereignisse zumeist auf hohem künstlerischem Niveau wach gehalten werden“.6 Verfassungen sind indes relativ abstrakte Gebilde; visualisiert werden vor allem einzelne Verfassungsprinzipien, wie Recht auf Arbeit, Freiheit, Solidarität, die die Verfassung durch Symbole für den Bürger erfahr- und sichtbar machen. Als ich Anfang der 1990er Jahre angesichts der eminenten Bedeutung der Verfassung und der Verfassungsgerichtsbarkeit in der Bundesrepublik nachfragte, ob nicht das Bundesverfassungsgericht zu einem neuen politischen Symbol Deutschlands geworden sei, wies man in den Antworten auf das Problem der schwierigen Visualisierung hin. Ernst-Wolfgang Böckenförde, einst selbst Bundesverfassungsrichter, unterstrich dieses hohe Ansehen des Bundesverfassungsgerichts, das bei der Bevölkerung gleich hinter, einige Jahre vorher noch vor dem Bundespräsidenten rangierte. Er bezweifelte aber, dass dieses Ansehen schon einen Symbolcharakter begründe: „Die Verfassung als solche ist zunächst ein Abstraktum. Sie gewinnt Leben in den Institutionen, die die Verfassung begründet und organisiert und im konkreten staatlichen Leben.“7 Das Grundgesetz zu den sozial akzeptierten Symbolen zu zählen greift, so auch ein damaliger Sprecher des Bundesministeriums des Innern, teils zu kurz teils zu weit: „Zu kurz deshalb, weil die Verfassung natürlich von ihrer Aufgabenstellung und ihrem Regelungscharakter her weit mehr ist als nur ein Symbol. Zugleich aber auch zu weit, weil das Grundgesetz wegen seines erklärten Übergangscharakters […] ohne den Anspruch auftrat, Symbol zu sein. Wenn die Verfassungswirklichkeit heute auch anders aussieht, so wird man den Symbolcharakter gleichwohl vermissen, weil das Grundgesetz eine für Symbole kennzeichnende Eigenschaft nicht hat: Es reduziert seine Aussagekraft nicht auf einen für jeden Bürger erfass- und überschaubaren Kern, sondern bleibt für das breite Publikum zwar beruhigende aber weitgehend un-
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Thomas Würtenberger, Die Verfassungssymbolik der Revolution von 1848/49 im deutsch-französischen Vergleich, FS Jurt, 2005, S. 627. 5 Thomas Würtenberger, Verfassung als Gegenstand politischer Symbolik im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert, FS Rehbinder, 2002, S. 617 – 632. 6 Thomas Würtenberger (Fußn. 4), S. 629. 7 Persönlicher Brief von Ernst-Wolfgang Böckenförde vom 12. August 1991.
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bekannte Rechtsmaterie.“8 Die obigen Schreiben antworteten auf die Frage, ob es neue Symbole für das neue Deutschland gebe, die ich für ein Kolloquium in Genf zu beantworten hatte.9 Ich habe mich danach noch mehrfach mit der Bedeutung der Nationalsymbole vor allem im deutsch-französischen Vergleich befasst, unter anderem auch anlässlich eines von Thomas Würtenberger angeregten Kolloquiums über den Wandel von Recht und Rechtsbewusstseins in Deutschland und Frankreich.10 Der Bereich der Nationalsymbole ist so ein Gebiet, wo sich die Forschungsinteressen von Thomas Würtenberger mit den meinen treffen. Unlängst legte Thomas Würtenberger eine umfangreiche Arbeit zur „Verbindung von Freiheits- und Verfassungssymbolik“ vor, die er als einen „Beitrag zu historischen Formen der Globalisierung von Rechtskultur“ versteht.11 Nach einer umfassenden Analyse kommt er zu dem Fazit, dass in der Phase der Entstehung des Verfassungsstaats seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert länderübergreifend teilweise sehr ähnliche Symbolformen entwickelt wurden, die die neue politisch-rechtliche Ordnung repräsentierten. „Dabei war diese Symbolik das Scharnier, die das, was staatsrechtlich und staatstheoretisch auf den Weg gebracht wurde, dem Volk vermittelte. Die Freiheits- und Verfassungssymbolik diente der Konsekrierung politischer Werte und einem gemeinsamen politisch-rechtlichen Bewusstsein.“12 Wenn der Ursprung der Freiheitssymbolik in dieser Arbeit in der Antike verortet wird, so wird das frühe Aufgreifen dieser Symbolik in den jungen Vereinigten Staaten von Amerika unterstrichen, aber auch die Verbreitung im republikanischen Frankreich sowie die kritische Rezeption in England untersucht. Die globale Verbreitung dieser Symbolik wird über argentinische und mexikanische Beispiele belegt, die sich stark an französischen, nordamerikanischen Vorbildern orientieren.
8 Persönlicher Brief des Bundesministeriums des Innern (Sennewald) vom 16. April 1991; zum Problem der Visualisierung der Verfassung siehe auch Marion G. Müller, Verfassung, in: Uwe Fleckner / Martin Warnke / Hendrik Ziegler (Hrsg.), Handbuch der politischen Ikonographie, Band II, 2011, S. 514 – 520. 9 Internationales Kolloquium „Le symbolique et la formation des identités nationales européennes“, Institut universitaire d’études européennes, Genf 3.–4. Mai 1991; Joseph Jurt, „La nouvelle Allemagne: quels symboles?“, Actes de la recherche en sciences sociales, 98, 1993, S. 45 – 58. 10 Joseph Jurt, Die Rolle der Nationalsymbole in Deutschland und Frankreich, in: J. Jurt / G. Krumeich, Th. Würtemberger (Hrsg.), Wandel von Recht und Rechtsbewusstsein in Frankreich und Deutschland, 1999, S. 67 – 90; Id., Symbolische Repräsentation nationaler Identität in Frankreich und Deutschland nach 1789, in: Ruth Florack (Hrsg.) Nation als Stereotyp. Fremdwahrnehmung in deutscher und französischer Literatur, 2000, S. 115 – 140. 11 Thomas Würtenberger, Die Verbindung von Freiheits-und Verfassungssymbolik. Ein Beitrag zu historischen Formen der Globalisierung von Rechtskultur (Vortragsmanuskript 2010). 12 Ibidem, 55.
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II. Die Verfassungsrealität im Kaiserreich Brasilien An diesen letzteren Aspekt möchte ich anknüpfen und die Ausführungen von Thomas Würtenberger weiterführen durch die Analyse der politischen Symbolik Brasiliens. Brasilien stellt einen Sonderfall dar, denn die Republik wurde im Unterschied zu den anderen Nationen in Lateinamerika nicht gleichzeitig mit der Unabhängigkeit zu Beginn des 19. Jahrhunderts ausgerufen, sondern erst 1889 – genau hundert Jahre nach der Französischen Revolution. Brasilien war zunächst ein Kaiserreich. Als das napoleonische Frankreich sich anschickte, Portugal zu besetzen, um den Ring der Kontinentalsperre gegen Großbritannien zu schließen, übersiedelten 1807 der gesamte Hofstaat und die Verwaltung Portugals von Lissabon nach Rio. Zum ersten und einzigen Mal verlagerte eine Kolonialmacht die Hauptstadt ihres Reiches in die Kolonie. Der Prinzregent Dom João regierte ab 1808 das Königreich von Brasilien aus.13 Nach dem Fall Napoleons kehrte der Prinzregent nicht nach Portugal zurück, beendete den Kolonialstatus von Brasilien, dessen Verwaltung in der Zwischenzeit stark zentralisiert worden war, und dekretierte Ende 1815 das Vereinigte Königreich von Portugal, Brasilien und Algarve (Reino Unido). Nachdem in Portugal 1821 die Durchsetzung einer konstitutionellen Monarchie gefordert worden war, kehrte João VI. nach Portugal zurück und ernannte seinen Sohn Pedro zum Regenten des Königreichs Brasilien. Als das portugiesische Parlament versuchte, den Kolonialstatus Brasiliens wieder herzustellen, brach der Konflikt zwischen den alteingesessenen Weißen, den Kreolen, und den Neuzuwanderern aus Portugal aus. Im August 1822 wurde ein Unabhängigkeitsmanifest ausgearbeitet, mit dem sich auch Dom Pedro identifizierte, der zum Kaiser Pedro I. ausgerufen wurde.14 Es zeichnete sich so eine monarchische Lösung des Unabhängigkeitsprozesses ab, durch die „jene Legitimitätskrise vermieden werden konnte, der in Spanisch-Amerika alle neuen Regierungen ausgesetzt waren.“15 Träger der Unabhängigkeitsbewegung war die Schicht der einheimischen Großgrundbesitzer gewesen, die wohl die staatliche Unabhängigkeit erringen, aber die bestehenden Wirtschafts- und Sozialstrukturen wahren wollten. Die Person des Monarchen fungierte als „Identifikationssymbol und Garant der sozialen Stabilität.“16 Während der Zeit der Verfassungsgebenden Versammlung 1823 und später im Parlament bildeten sich drei politische Strömungen aus: die exaltados, die der Person des Kaisers und der Monarchie kritisch gegenüberstanden, die aber keine große Rolle spielten. Die Regierungen des Kaiserreiches wurden abwechselnd durch die moderados und die conservadores bestimmt. Die Ersteren bejahten wohl die Monarchie, 13 Nach Walther L. Bernecker / Horst Pietschmann / Rüdiger Zoller, Eine kleine Geschichte Brasiliens, 2000, S. 127. 14 Nachdem die portugiesischen Cortes Don Pedro zum Aufrührer erklärt hatten, kam es zum berühmten Ausruf Don Pedros am Fluss Ipiranga in der Nähe von São Paulo: (,grito de Ipiranga‘): „Unabhängigkeit oder Tod“. 15 Ibidem, S. 135. 16 Ibidem, S. 139.
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setzten sich aber für die verfassungsmäßige Begrenzung der kaiserlichen Prärogativen ein; die Konservativen unterstützten die breite Machtfülle, wie sie in der von Pedro I. 1824 erlassenen Verfassung vorgesehen war.17 Wenn sich nach Eckhard Rumpf das politische Denken im Kaiserreich stark am britischen Modell der konstitutionellen Monarchie orientierte, so wurde doch dem Kaiser eine herausragende Funktion zugeschrieben. Die Verfassung stattete – unter dem Einfluss der Theorie von Benjamin Constant18 – den Monarchen mit der sogenannten ,Ausgleichenden Gewalt‘ (,Poder Moderador‘) aus, die seine Rolle als Wahrer des Gleichgewichts der übrigen Gewalten legitimieren sollte. Diese Kontrollgewalt stellte de facto eine vierte Gewalt neben den klassischen drei Gewalten dar. Der Kaiser konnte Senatoren ernennen, das Abgeordnetenhaus auflösen, Minister einsetzen. Wenn Pedro I., der sich für die portugiesische Thronfolge interessierte, 1831 abdankte und die Regierungsgeschäfte zunächst von zwei Regentschaften wahrgenommen wurden, so übte dann sein Sohn Pedro II. während seiner 49-jährigen Herrschaft ab 1840 diese Prärogativen intensiv aus.19 Die Ausrichtung der beiden dominanten Parteien wurde nicht nur durch das jeweilige Verständnis der kaiserlichen Prärogativen bestimmt, sondern auch durch die Haltung zum Zentralstaat. Die traditionellen Wirtschaftszweige (der exportorientierten Latifundienwirtschaft und des Handels) sowie die gehobene Bürokratie favorisierten das zentralistische Staatskonzept der Konservativen. Die binnenmarktorientierte Landwirtschaft sowie die Kaffeepflanzer von São Paulo und Minas Gerais setzten mehr auf regionale Autonomie, um ihre Interessen durchzusetzen und standen darum der Liberalen Partei näher; Intellektuelle und Vertreter der Freien Berufe, die städtische Mittelschicht, optierten ebenfalls für die Liberalen, weil diese sich für die individuellen Freiheitsrechte einsetzten.20 Wenn zwischen den beiden Lagern immer wieder Machtkämpfe ausbrachen, so setzte sich 1853 eine Koalition (conciliação) durch, die bis 1862 hielt, innerhalb der die Konservativen tonangebend blieben. III. Die politische Symbolik des Kaiserreiches Brasilien Wenn Brasilien ab 1815 nicht mehr unter dem Kolonialstatus stand und 1822 unabhängig wurde, so bildete sich so eine neue Nation aus, die ihren Status auch durch Symbole zum Ausdruck bringen musste und wollte. Erstaunlicherweise spielte hier der französische Einfluss eine nicht geringe Rolle. Unter Napoleon war Joachim Le17
Nach Eckhard Rumpf, Unterentwicklung der politischen Parteien und Dominanz der Eliten in Brasilien, Diss. Berlin, 2004, S. 24. 18 Zur Konzeption des pouvoir royal als eine pouvoir neutre als Schiedsrichter der drei Gewalten siehe Benjamin Constant, Écrits politiques. Hrsg. v. Marcel Gauchet, Paris, 1997, S. 322 – 337: „De la nature du pouvoir royal dans une monarchie constitutionelle“. 19 Eckhard Rumpf (Fußn. 17), S. 25 – 30; zur Regierungszeit von Pedro II. siehe auch Lilia Moritz Schwarcz, As barbas do imperador. D. Pedro II, um monarca nos trópicos. São Paulo, 1999. 20 Ibidem, S. 29 – 30.
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breton zum Premier secrétaire der Pariser Académie des Beaux-Arts ernannt worden. Mit dem Sturz Napoleons waren er und viele andere Mitglieder der Kunstakademie in Paris nicht mehr genehm. Lebreton bot dem portugiesischen Hof in Rio seine Dienste an. Im Januar 1816 kam eine relativ große Gruppe von Akademie-Mitgliedern in Rio an; dazu zählten unter anderem Lebreton, der Historienmaler Jean-Baptiste Debret, der Landschaftsmaler Nicolas-Antoine Taunay, der Architekt Auguste Grandjean de Montigny, der Bildhauer Auguste-Marie Taunay. Die Aktivität dieser Gruppe, die unter der Bezeichnung Missão Artística Francesa in die Geschichte einging, spielte für die kulturelle Entwicklung Brasiliens eine zentrale Rolle. Sie führte in Brasilien, das bisher durch den Kolonialbarock geprägt war, den neoklassischen Stil ein.21 Wenn nach 1815 der wirtschaftliche Einfluss Großbritanniens in Brasilien dominant wurde, so sollte diese Dominanz durch die kulturelle Tätigkeit der Franzosen etwas ausgeglichen werden. Im August 1816 unterzeichnet João VI. das Dekret der Gründung einer Kunst- und Wissenschaftsakademie (Escola Real de Ciências, Artes e Ofícios), innerhalb der die genannte Gruppe der Franzosen eine wichtige Rolle spielte. Die französische Kunstmission prägte den Stil wichtiger dynastischer Ereignisse in Rio, so die Proklamation Joãos VI. zum König (1817), die Ankunft der Erzherzogin Leopoldine aus dem Hause Habsburg, der künftigen Gattin Pedros I., sowie die Krönung Pedros I. zum Kaiser des unabhängigen Brasiliens 1822.22 Der französische Maler Jean-Baptiste Debret (1768 – 1848), Schüler von David und dann ab 1816 wichtiges Mitglied der Missão Artística Francesa, war mit dem Aufbau der Kunstakademie betraut, stand schon vor der Kaiserkrönung in engem Kontakt mit Pedro I., wurde dann zu einem bedeutenden Lehrer an der Akademie. Als bevorzugter Maler des kaiserlichen Hofes wurde er des öfteren beauftragt, deren Mitglieder zu portraitieren.23 Pedro I. betraute Debret dann damit, eine Flagge für das unabhängige Kaiserreich Brasilien zu entwerfen, die Symbol der entstehenden Nation sein sollte. Die entworfene Fahne bestand aus einer gelben Raute in einem grünen Feld. Grün war die Farbe der Dynastie Pedros, des portugiesischen Hauses Bragança, und Gelb die Farbe der Dynastie seiner Frau, der Habsburger. Die Flagge griff so auf eine dynastische Tradition zurück und meinte keineswegs das Grün des Amazonas und das Gelb des Goldes, wie man es später zu reinterpretieren versuchte.24 Die Rautenform ging offenbar auf die Regimentsfahnen von Napoleons Armee zurück, wie man sie etwa auf Davids Bild Le Serment de l’armée fait à l’Empereur après la distribution des Aigles au Champ de Mars le 5 décembre 1804 sehen kann.25 Auf der 21
Siehe hierzu Julio Bandeira / Pedro Martins Caldas Xexéo / Roberto Conduru, A Missão Francesa, Rio de Janeiro, 2003. 22 Zu den damals erstellten Kunstbauten (Triumphbogen) siehe die Abbildungen, ibidem, S. 48 – 55. 23 Viele dieser Bilder sind im Band A Missão Francesa (Fußn. 21) abgebildet, S. 25 – 41. 24 Der Entwurf von Debret ist im Band A Missão Francesa (Fußn. 21), S. 60 abgebildet. 25 Musée National du Château de Versailles, siehe ibidem, S. 116. Debret verdanken wir nicht nur Porträts der Hofmitglieder und den Entwurf der Flagge, sondern auch zahllose ,ethnographische‘ Bilder mit Bräuchen, Personen, vor allem auch Sklaven aus dem alltäglichen Leben Rios zwischen 1816 – 1831, die sich im dreibändigen Werk Voyage pictoresque et
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gelben Raute der Bandeira Imperial fand sich ein blauer Schild mit dem karmesinroten Kreuz des Christusordens und der Armillarsphäre, ein stilisierter Sternenglobus, den man auf der Flagge des portugiesischen Principado do Brasil seit 1645 fand. Der Wappeninhalt verwies so ebenfalls wie die typische Form der kaiserlichen Krone auf die portugiesische Tradition. Die 19 Sterne innerhalb des Wappens erinnerten indes an die brasilianische Realität – die 19 Bundesstaaten – ebenso wie die grünen Kaffee- und Tabakzweige, die das Wappen umgaben. Die Flagge Brasiliens wies so schon seit der Unabhängigkeit ein spezifisches Profil mit den Farben Grün und Gelb und der Rautenform auf, die sich zumindest in ihrem Grundmuster nicht mehr wesentlich verändern wird. Die Geschichte der Landeshymne zeichnet nicht dieselbe Kontinuität aus. Der Kaiser Pedro I. hatte 1822 selber eine Hymne komponiert mit einem Text von Evaristo da Veiga zunächst unter dem Teil Hino constitucional Brasiliense, der dann zur Hino da Independência do Brasil wurde. Als Pedro I. 1831 abdankte, wurde auch seine Hymne nicht mehr gesungen. Einer der bekanntesten brasilianischen Komponisten, Francisco Manoel da Silva, der auch Schüler des Komponisten Sigismund Neukomm war, einem Mitglied der Missão Artística Francesa, legte 1831 eine neue Hymne vor zu einem Text von Ovídio Saraiva. Diese Hymne, die im Stil der italienischen Romantik komponiert war, von der einige berichten, sie sei schon 1822 entstanden, wurde sehr beliebt. Sie wurde aber nicht zur Nationalhymne; man nannte sie Hino 7 de abril mit Bezug auf den Abdankungstag von Pedro I., oder Marcha Triunfal. Unter Pedro II. wurde die Hymne bei feierlichen Anlässen gespielt, aber ohne den Text, den man als zu portugalfeindlich einstufte. Die Melodie blieb beliebt und wurde auf Drängen des Volkes, wie wir sehen werden, auch nach der Ausrufung der Republik beibehalten. IV. Positivistische, liberale und jakobinische Konzepte der Republik Die Zeit des Kaiserreiches war relativ symbolarm, weil der Kaiser selber als Garant der nationalen Einheit wichtigstes Symbol war. Diese Einheit war aber auch gefährdet durch die große soziale Ungleichheit und die Fortdauer des Sklavensystems. Während des Tripelallianz-Krieges von Brasilien, Argentinien und Uruguay gegen Paraguay (1865 – 1870), der über 50.000 Tote forderte, wurden die Reformprojekte, die auch der Kaiser hegte, eingestellt; die Liberalen verschärften ihre Opposition. Der Krieg zeitigte aber auch nachhaltige Folgen für die brasilianische Gesellschaft. Innerhalb der Streitkräfte schafften Vertreter aus der Mittelschicht den Aufstieg zum Offizierskorps und wandten sich republikanisch-liberalen Ideen zu. Die Truppen rekrutierten sich weitgehend aus (ehemaligen) Sklaven, die durch den Wehrdienst ihre Freiheit erlangten, was das Sklavenhaltersystem unterminierte. „Durch den Parahistorique au Brésil, ou Séjour d’un Artiste Français au Brésil (1834 – 1839) wiederfinden, das er nach seiner Rückkehr nach Paris (1831) veröffentlichte (siehe ibidem, S. 100 – 109).
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guaykrieg erfolgte der eigentliche Aufstieg des Heeres; aufgrund seiner besonderen Situation und seines messianischen Sendungsbewußtseins der Nation gegenüber wurde das Militär zum entscheidenden machtpolitischen Faktor. Es sah sich als Garanten der nationalen Integrität und als eine Institution, in der Brasilianer unabhängig von ihrer ethnisch-kulturellen Herkunft vertreten waren, was zur Vorstellung einer Identität zwischen Heer und Volk führe.“26 Das Heer war aber keineswegs eine kohärente Einheit. Es hatten sich innerhalb der Armee zwei wichtige Fraktionen ausgebildet. Auf der einen Seite gab es die traditionellen Militärs, die in der Truppe groß geworden waren, die von ihren Rivalen ,Pritschenleute‘ (tarimbeiros) genannt wurden, und die jüngeren Offiziere, die sich über die Wissenschaft definierten, die aus der Militärakademie der Praia de Vermelha in Rio hervorgingen, die sich als ,Tabernakel der Wissenschaft‘ bezeichnete.27 Hier wurde mehr Philosophie und Mathematik gelehrt als Militärstrategie. Die dort ausgebildete ,militärische Jugend‘ (mocidade militar) vertrat zum größten Teil republikanische und positivistische Ideen. Der eigentliche Meister der jungen Militärgeneration war Benjamin Constant Botelho de Magalhães (1836 – 1891), der Chef der Militär-Akademie, der als Ingenieur des Heeres im Paraguay-Krieg ein Kommando inne gehabt hatte. Er war ein sehr guter Kenner der positivistischen Philosophie von Auguste Comte. 1876 gründet er die Positivistische Gesellschaft Brasiliens. Da er sich ähnlich wie die ,Pritschenleute‘ der traditionellen Armee vom kaiserlichen Hof vernachlässigt fühlte, rief er mit deren Anführer, dem Marschall Manuel Deodoro da Fonseca den ,Clube Militar‘ ins Leben. Das Bündnis der beiden Tendenzen war eine Vorstufe für die Ausrufung der Republik. Die Positivisten waren nach Murilo de Carvalho gegen die Monarchie, weil diese gemäß der Drei-Stufen-Theorie Comtes der theologischen Phase entsprach, während die Republik die Staatsform der dritten, der positivistischen Phase sei. Mit Comte plädierten sie für eine starke Exekutive, die den Fortschritt befördern sollte. Bei der Ausbildung der jungen Offiziere wurde das Schwergewicht auf die technisch-naturwissenschaftliche Kompetenz gelegt im Unterschied zur mehr literarischen Bildung der zivilen Elite; der militärischen Elite stand darum die Idee einer ,republikanischen Diktatur‘, die die industrielle Entwicklung des Landes voranbringen würde, nahe.28 Die positivistische Bewegung zählte aber auch in dem südlichen Drittel Brasiliens von Rio de Janeiro bis Rio Grande do Sul viele Anhänger, vor allem in der Mittelschicht und an den Hochschulen und Akademien. Es gab aber daneben in der Zivilgesellschaft zwei Gruppen, die dem republikanischen Gedanken ebenfalls nahe standen. Auf der einen Seite war es die Kaffeeoligarchie des Bundesstaates São Paulo, die ihre Interessen vom Zentralstaat zu wenig gewahrt sah. Ihr Hauptpostulat war eine föderalistische Staatsstruktur. Ihre Philosophie war wirtschaftsliberal: das Gemeinwohl wurde als Summe der Privatinteressen bestimmt. Wenn diese Grup26
Walther L. Bernecker et alii (Fußn. 13), S. 165. Edouardo Bueno, Brasil: uma História. São Paulo, 2003, S. 239 – 240. 28 José Murilo de Carvalho (Fußn. 3), S. 27 – 29.
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pe vorgab, sich an den Vereinigten Staaten von Amerika zu orientieren, dann wurde vergessen, dass die dortige Kolonialgesellschaft viel egalitärer war, während hier die ,Republik‘ eine extrem ungleiche Gesellschaft zementieren sollte. In dem 1873 gegründeten Partido Republicano Paulista war so die Mehrheit der Mitglieder Großgrundbesitzer.29 Eine erste republikanische Partei (Partido Republicano) war indes 1870 in Rio mit einem republikanischen Manifest lanciert worden. Die Parteigänger stammten vor allem aus Vertretern der Freien Berufe und der Presse. Sie orientierten sich am jakobinischen Konzept der Republik, der relativ abstrakt gefassten Prinzipien von Gleichheit und Freiheit. Der starke Staat war für sie ein wichtiges Instrument, um die politischen Ziele zu realisieren. Diese relativ kleine Gruppe war die einzige, die eine Beteiligung des Volkes am politischen Geschehen vorsah.30 V. Der Kampf um die politische Symbolik der Republik Es war aber die Gruppe der Militärs, die eigentlich mit der Republik nicht viel am Hute hatten, aber ihre korporatistischen Interessen gegenüber der Regierung verteidigen wollten, die im Verein mit oligarchischen ,Republikanern‘ von São Paulo, die sich wegen der Sklavenbefreiung der Monarchie entfremdet hatten, die die Monarchie in einem Putsch in der Nacht vom 14. auf den 15. November 1889 stürzten. Der Marschall Deodoro da Fonseca war zu diesem Schritt überredet worden, als er hörte, sein Intimfeind sollte Premierminister werden. Beim Sturz der Monarchie war kein Blut geflossen. Ein paar hundert Offiziere waren zum kaiserlichen Palast gezogen und ihr Anführer ließ über einen Major mitteilen, dass die neue Provisorische Regierung vom Kaiser erwarte, dass er den brasilianischen Boden mit seiner Familie aufs schnellste verlasse. Der Kaiser, der eine Woche zuvor auf der Zollinsel (Ilha Fiscal) eine rauschende Ballnacht gegeben hatte,31 ging mit seiner Familie zwei Tage später, am 17. November ins Exil, zuerst nach Portugal und dann nach Paris, wo er 1891 starb. Ein anonymer Maler aus Bahia stellte die Abreise der kaiserlichen Familie am frühen Morgen dar. Während im Vordergrund der Marschall Deodoro da Fonseca die Nationalflagge einer Allegorie der Republik übergibt, über die eine Hand eine Jakobinermütze hält, besteigt die kaiserliche Familie ein Schiff. Das Bild, das schon 1889 entstand, belegt schön die Idealisierung und Mythisierung des Staatsstreiches.32
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Ibidem, S. 24 – 25 und Edouardo Bueno (Fußn. 27), S. 238. Ibidem, S. 25 – 26. 31 Ein großes Ölbild des letzten Balles der Monarchie von Aurélio Figueiredo findet sich im vormaligen Sitzungszimmer der Regierung im heutigen Museum der Republik in Rio. Das Gemälde findet sich abgebildet in Eduardo Bueno (Fußn. 27), S. 234 – 235. 32 Das Bild ist wiedergegeben in Lilia Moritz Schwarcz (Fußn. 19), Farbtafel Nr. 15. 30
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Die Ausrufung der Republik durch ,Republikaner‘ der 12. Stunde ohne Beteiligung des Volkes musste nun ihre Legitimität durch neue Symbole zum Ausdruck bringen. Offizielle Symbole waren Flagge und Hymne, die zu einem bestimmten Zeitpunkt auch gesetzlich festgelegt werden mussten.33 Hier entbrannte eine eigentliche ,Symbolschlacht‘, ein Kampf um die Deutung sowie um das Programm, das man der ausgerufenen Republik geben wollte. Die aufständischen Militärs trugen am 15. November keine Fahnensymbole mit sich. Akustisches Symbol war die französische Marseillaise, die bei der Republikanischen Gruppe der Hauptstadt schon vorher als Zeichen eines republikanisch-revolutionären Aufbruchs gesungen wurde, und als universelle und nicht nationale Hymne der Revolution galt, was für die (französische) Trikolore nicht zutraf.34 Es tauchte aber am 15. November ein brasilianisches Sternenbanner auf, dessen horizontale Streifen in den traditionellen brasilianischen Farben Gelb und Grün gehalten waren mit zwanzig Sternen auf dem schwarzen Innenviereck.35 Diese Fahne, die später ,Proklamationsfahne‘ genannt wurde, wehte zumindest bis zum 19. November am Gebäude der Câmara Municipal von Rio de Janeiro.36 Das Modell der Republikaner von Rio war eher die französische Republik; aber vielleicht ging es auch darum, die Liberalen aus São Paulo für die Sache zu gewinnen, die sich am nordamerikanischen Modell orientierten. Murilo de Carvalho berichtet von einigen analogen Exemplaren einer solchen amerikanischen Flagge.37 Die Positivisten waren mit diesem Flaggenkonzept nicht einverstanden. Sie beauftragten den bekannten Künstler Décio Villares, ein alternatives Modell zu entwickeln, das sie durch die Vermittlung ihres Meisters Benjamin Constant der Provisorischen Regierung übergaben. Sie folgten hier fast wörtlich den Vorstellungen von Auguste Comte. Wolf Paul hat sehr präzise darauf hingewiesen, wie Comtes positivistische Staatsphilosophie in die brasilianische Staatssymbolik einging. Nach Comte befand sich der Westen im ,organischen Übergang‘ vom metaphysischen zum wissenschaftlich industriellen Stadium der Geschichte; er konzipierte die politische Ikonographie, die diesem Übergang zu entsprechen habe. Er schlug einen grünen Grund vor, die „natürliche Farbe der Hoffnung, die dem Emblem der Zukunft eigen ist“. Auf den beiden Seiten der Fahne sollte einmal „die politische und wissenschaftliche Devise ,Ordnung und Fortschritt‘“, auf der andern „die moralische und ästhetische Devise ,Leben für den Andern‘“ stehen.38
33
José Murilo de Carvalho (Fußn. 3), S. 109. Zu den beiden französischen Nationalsymbolen siehe Joseph Jurt (Fußn. 10), S. 72 – 77, S. 87 – 90. 35 Siehe dazu Wolf Paul, Ordem e Progresso. Entstehung und Deutung des brasilianischen Fahnensymbols, FS Kübler, 1997. 36 Nach José Murilo de Carvalho (Fußn. 3), S. 111. 37 José Murilo de Carvalho (Fußn. 3), S. 112; wir folgen seiner Darstellung. 38 Auguste Comte, Système de Politique Positive, zitiert nach der Übersetzung von Wolf Paul, (Fußn. 35), S. 119 – 120. 34
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Das positivistische Modell übernahm ,Ordem e Progresso‘ und verstand sich so „ideologisch als Fahne des nationalen Aufbaus und der zivilisatorischen Evolution, nicht als Fahne des revolutionären Umbruchs.“39 Von der Flagge des Kaiserreichs wurden die Farben so wie die Rautenform übernommen, aber die kaiserlichen Insignien, das Christuskreuz, die Armillarsphäre, der Sternenkranz, die Kaiserkrone sowie die Kaffee-und Tabakzweige (die auf die wichtigsten Produkte der Großgrundbesitzer verwiesen) wurden entfernt.40 An deren Stelle trat ein blauer Globus, der mit Sternen besetzt und von einem weißen Umschriftband mit der Devise, Ordem e Progresso‘ umgeben ist. Mit den Begriffen blauer Globus mit Sternen ist das Zentrum der Flagge nur rudimentär beschrieben. Die Sterne sind nicht etwa symmetrisch angeordnet, wie auf dem Sternenbanner der USA, sondern stellen genau die Sternenkonstellation über Rio de Janeiro am 15. November 1889 zwischen sechs und sieben Uhr, dem Tag der Ausrufung der Republik dar. Wir verdanken Jens Soentgen eine genaue Beschreibung und Deutung dieser Konstellation. Wenn man auch einen Astronomen als Berater herbeizog, so wurde doch die Konstellation leicht stilisiert. Der Fahnenhimmel ist spiegelverkehrt. Gewisse Sternenzeichen sind verkleinert, andere vergrößert. Vergrößert ist das Sternzeichen, das in der Sphärenmitte steht: das Kreuz des Südens (der Cruzeiro do Sul).41 Das Kreuz des Südens war für die portugiesischen und die spanischen Seefahrer von alters her ein Orientierungszeichen im südlichen Meer. Wegen der ersten ausführlichen Beschreibung des Sternzeichens durch einen portugiesischen Kapitän im 16. Jahrhundert, aber auch wegen seiner Lobpreisung im großen Seefahrerepos von Camões, den Luisiaden, galt der cruzeiro als das „portugiesische Sternenzeichen schlechthin.“42 Sowohl für Wolf Paul wie für Jens Soentgen erinnert der zentrale Platz des Sterns des Südens an Portugal, an den Ursprung Brasiliens in der portugiesischen Entdeckung, an deren „Drang nach fernen unbekannten Horizonten“.43 Die Sterne verweisen aber nicht bloß auf die Sternenkonstellation am Tag der Ausrufung der Republik; sie symbolisieren gleichzeitig die einzelnen Teilstaaten je nach ihrer Größe und Position. Das weiße Band mit der Aufschrift ,Ordem e Progresso‘, erscheint gleichzeitig auch als Sinnbild des Äquators. Das Band suggeriert die Dreidimensionalität eines Himmelsglobus; der Nachthimmel erscheint wie durch ein Fernrohr betrachtet, was sowohl an die nautischen Instrumente der Entdeckungszeit erinnert als auch an Instrumente der modernen Wissenschaft – Embleme der Comteschen dritten Phase.44 Gerade mit der Entsprechung Makrokosmos und dem (geogra39
Ibidem, S. 120. „Der Fortschritt Brasiliens begründete der Schöpfer der republikanischen Fahne Raimundo Teixeira Mendes, liege nicht mehr in der Pflanzung von Tabak und Kaffee, sondern in der Industrie, in der industriellen Ausbeutung der überreichen Naturschätze des Landes, als deren Symbol das Grün-Gelb erhalten geblieben sei.“ Wolf Paul (Fußn. 37) S. 115. 41 Jens Soentgen, Die Bandeira Brasileira, FS Gernot Böhme, 2002, S. 158. 42 Wolf Paul (Fußn. 35), S. 118. 43 Jens Soentgen (Fußn. 41), S. 158. 44 Jens Soentgen (Fußn. 41), S. 165. 40
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phischen) Mikrokosmos entspricht die Flagge der Philosophie Comtes, die von „organischem“ Geschichtsdenken geprägt ist. Die Sterne als Symbole der einzelnen Bundesländer fanden sich schon auf der Bandeira Imperial, als Kreis aufgereiht und nicht in ihrer wissenschaftlich ,genauen‘ Disposition. Auch die Farben wurden von der Kaiser-Flagge übernommen. Die Raute wurde verkürzt; sie berührt die Ränder der Flagge nicht mehr. Trotz der neuen Konzeption des neuen Zentralsymbols auf der Flagge, fällt die Kontinuität auf. Das Kreuz des Südens verweist auf die portugiesische Seefahrertradition, könnte aber auch als Verweis auf die religiöse Tradition gelesen werden. Die Farben Grün-Gelb und die Rautenform wurden von der brasilianischen Kaiserflagge übernommen, die jetzt nicht mehr dynastisch, sondern als Verweis auf die brasilianische Natur und ihre Reichtümer gelesen wurden. Nach Jens Soentgen ist diese Bemühung um Kontinuität kein Zufall: „denn für die evolutionäre Geschichtsphilosophie Comtes kommt alles auf einen sanften Übergang zwischen den Epochen an. Abrupte Umbrüche sind zu vermeiden, so lautet die Lehre, die Comte aus den blutigen Wirren der französischen Revolution gezogen hatte“.45 In der Tat findet man auch auf der Flagge Brasiliens nichts, was an die Symbol-Tradition der Französischen Revolution erinnern würde. Wie wir schon unterstrichen haben, vereint die Flagge der Republik eine vorgängige Tradition; aber es ist die positivistische Philosophie, die das Symbol am meisten geprägt hat. Das erstaunt, weil die Positivisten bei der Ausrufung der Republik nicht die bedeutendste Rolle gespielt hatten. Die Offiziere unter der Führung von Deodoro plädierten für die neue Staatsform, damit das Heer wieder in seine Rolle eingesetzt werde: „Die Republik ist das Heil der Armee“, so eine Aussage Deodoros am Vorabend des 15. November46 – eine sehr magere und ganz und gar partikularistische Legitimation der neuen Staatsform. Für diesen Regimewechsel, der letztlich auf kontingenten Motiven beruhte, hatten die Positivisten mit ihrem Stufenkonzept eine Theorie bereit, die das Vorgefallene einordnen konnte, und darum gelang es ihnen, trotz vieler Einwände, auch namentlich gegen die Devise ,Ordem e Progresso‘, ihre Deutung auf der Ebene der zentralen politischen Symbolik durchzusetzen.47 Erstaunlich war dann aber, dass die Verfassung Brasiliens von 1891 sich am Modell der Vereinigten Staaten orientierte48 und nicht an Comtes Konzept einer ,republikanischen Diktatur‘. Das Staatswesen nannte sich darum logischerweise ,Repúb45
Jens Soentgen (Fußn. 41), S. 163; vgl. auch Wolf Paul (Fußn. 35), S. 114: „Die Fahne erinnert an dieses Ereignis [Proklamtion der Republik], doch nicht allein daran, sie bekennt sich zur alten wie zur neuen Zeit, symbolisiert Vergangenheit und Gegenwart.“ 46 Nach José Murilo de Cavalho (Fußn. 3), S. 40. 47 Wolf Paul (Fußn. 35), S. 124. 48 Brasilien wurde nun zu einem Bundesstaat mit 20 Teilstaaten; die früheren Provinzen erhielten nun umfangreiche Kompetenzen. In der Verfassungstheorie herrschte Gewaltenteilung zwischen dem Obersten Gerichtshof (Judikative) dem Abgeordnetenhaus und dem Senat (Legislative) und dem Präsidenten, der die Exekutive repräsentiert. Die vorherige ,vierte Gewalt‘, die Schiedsrichterrolle eines Kaisers entfiel, doch in der Praxis griff immer wieder das Militär ein als „ausgleichende Macht“. (Walther L. Bernecker et alii, Fußn.13), S. 216.
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lica dos Estados Unidos do Brasil‘49, ein Name der bis 1968 blieb und dann in ,República Federativa do Brasil‘ geändert wurde. Die Fahne der Republik von 1889 blieb jedoch trotz allen Regimewechseln bis heute unverändert. Die meisten assoziierten wohl mit, Ordem e Progresso‘ nicht so sehr die Comtsche Idee einer republikanischen Diktatur sondern eher ein politisch ökonomisches Programm, das ein rechtes Programm der ,Ordnung‘ mit einer optimistischen Option für den ,Fortschritt‘ in Einklang zu bringen schien. Die allgemeine Akzeptanz der Republik-Flagge wird auch belegt durch das Monumental-Gemälde ,A Pátria‘ von Pedro Bruno aus dem Jahre 1919, das im ehemaligen Regierungssaal des heutigen Museums der Republik hängt.50 Die Fahne liegt in der Mitte, zwei Frauen sticken am Fahnentuch; (das mag auch ein Hinweis auf die Bandeira sein, die die beiden Töchter von Benjamin Constant in der Tat gestickt haben und die heute im Museum der Republik zu sehen ist.)51 Zwei weitere Frauen erscheinen in ihrer Funktion als Mütter, die eine stillt ihr Kind, die andere tröstet eine Tochter. Ein junger Bub, der den Betrachter anschaut, streichelt das Fahnentuch und ein Säugling, der auf einem Kissen liegt, spielt mit einem Stern, der aufgenäht werden soll. Im Schatten im Hintergrund sieht man eine ältere Person. Auf einem Tisch erkennt man eine kleine Marienstatue, an der Wand hängen Bilder von Tiradentes – dem Helden des ersten Aufstands im 18. Jahrhundert – sowie von Marschall Deodoro da Fonseca. Die Flagge wird nicht mit einem kriegerischen oder offiziellen Anlass in Verbindung gebracht, sie ist Gegenstand einer friedlich-bürgerlichen Szene, die durch das einfallende Licht bestimmt wird. Über die Präsenz von Personen aller Lebensalter wird das politische Symbol im Sinne von Comte ,naturalisiert‘. Der ganze Aufbau des Bildes entspricht der Philosophie Comtes, für den ,Individualismus‘ oder ,volonté générale‘ Begriffe des ,metaphysischen‘ Zeitalters sind. Der Mensch muss eintauchen in soziale Einheiten, die dazu beitragen, seinen sozialen Sinn zu entwickeln zunächst in der Familie, dann im Vaterland und schließlich in der Menschheit, der Comte einen geradezu religiösen Kult widmet. Das Vaterland erscheint als das Bindeglied zwischen der Familie und der Menschheit. So ist es bezeichnend, dass das Bild von Bruno, in dem stickende und sorgende Mütter im Zentrum stehen, ,A Pátria‘ heißt. Einzig die Marienstatue und das Bild von Deodoro entsprechen nicht dem positivistischen Programm, sollten aber vielleicht dessen Integrationsfähigkeit belegen.52 Die Bandeira Brasileira ist seit 1889 zum zentralen Symbol Brasiliens geworden. Das zweite offizielle Symbol ist die Hymne. Dass die Kaiser-Hymne von Manuel da Silva aus dem Jahre 1831 (ohne Text) sehr populär war, haben wir schon erwähnt. Im 49 Wenn das Sternenbanner abgelehnt wurde, so scheint doch das Emblem des Adlers aus dem amerikanischen Symbolarsenal mindestens partiell übernommen worden zu sein (als Verkörperung von Stärke und Liberalismus). So finden sich mehrere Adlerfiguren auf dem Regierungspalast, dem heutigen Museum der Republik in Rio. 50 Pedro Bruno ,A Pátria‘, abgebildet in José Murilo de Carvalho, (Fußn. 3), S. 106 – 107. 51 Abgebildet ibidem, S. 105. 52 Dazu ibidem, S. 22, S. 119 – 121.
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kleinen Kreis der Republikaner von Rio war indes die ,Marseillaise‘ sehr beliebt, und ihre Klänge ertönten auch am Tag der Proklamation der Republik.53 Medeiros e Albuquerque entwarf einen Text, der zur Hymne der Republikanischen Partei werden sollte. Im Refrain wurde die Freiheit beschworen, aber auch Gleichheit und Brüderlichkeit mit einer expliziten Distanzierung gegenüber der (nun abgeschafften) Sklaverei. Die Provisorische Regierung eröffnete noch Ende November einen Wettbewerb, um die beste Melodie zu diesem Text zu küren. 36 bekannte Komponisten beteiligten sich am Wettbewerb, aus dem Leopoldo Miguez mit seiner Version als Sieger hervorging. Das Volk hatte aber offen seine Anhänglichkeit an die alte Kaiserhymne manifestiert. So wurde mit dem Dekret 171 vom 20. Januar 1890 die alte Hymne von Francisco Manuel da Silva erstmals zur Nationalhymne und diejenige von Miguez zur Hymne der Proklamation der Republik (Hino da Proclamação da República) erklärt. Als offizielle Hymne galt, wie gesagt, diejenige von 1831. Joaquim Osório Duque-Estrada (1870 – 1927) hatte zur Melodie von Manuel da Silva 1908 einen neuen Text geschrieben, der anlässlich der Jahrhundertfeier der Unabhängigkeit 1922 auch als offiziell erklärt wurde. Hier wird auch die „Sonne der Freiheit“ beschworen, die Freiheit der Nation, die das „heroische Volk“ durch den ,Schrei von Ipiranga‘ mit der Unabhängigkeit erlangt habe. Im Zentrum steht die „hochverehrte geliebte Heimat“ („Pátria amada, Idolatrada“), die für ihre Kinder eine „fürsorgliche Mutter“ ist. Auch von Gerechtigkeit ist die Rede, vom „Kreuz des Südens“, von der „Standarte, stolz gehisst und voller Sterne im Lorbeergrün“. Wenn in der offiziellen Hymne so die Flagge erwähnt wird, so entwarfen Francisco Braga und Olavo Bilac 1906 noch eine eigentliche Hymne auf die Landesfahne (Hino à Bandeira). Dadurch wird wiederum die Zentralität der Bandeira als Nationalsymbol unterstrichen.54 VI. Eine Allegorie der Republik? Neben diesen offiziellen Symbolen gab es aber weitere Versuche einer politischen Symbolik. In der Monarchie verkörpert der Monarch sein Land. In der Republik übernehmen Personifizierungen oder Nationen-Allegorien diese Funktion. In Frankreich war es die Figur der Frau, die als Emblem der Freiheit galt, die zur Verkörperung der Nation wurde, deren Verankerung im Bildgedächtnis des Volkes durch den populären Namen der ,Marianne‘ ab Mitte des 19. Jahrhunderts noch verstärkt wurde. Die revolutionäre Deutung der Figur wird dabei durch die Jakobinermütze, die konsensuelle durch den Strahlenkranz angezeigt. In Frankreich ist in der Tat die Freiheitsfigur zur exklusiven Allegorie der Nation geworden, gerade auch weil die Re-
53
Zur Marseillaise siehe auch Joseph Jurt, (Fußn. 10), S. 87 – 89. Alle vier Hymnen sind auf der CD ,Hinário Nacional‘ (Manaus, Festa Irineu Garcia) vereint. 54
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publik und nicht die Verfassung, die sich wandelt, der eigentliche Ausdruck der nationalen Identität ist.55 Auch in Brasilien gab es einige Versuche, die Republik als Frau darzustellen. Aber meistens war es bloß ein Abklatsch von Marianne-Figuren in Bronze. Es entstand keine brasilianische eigenständige Bild-Tradition, die in einer Figur Freiheit, Nation und Republik vereint hätte. Es gab wohl bei den Positivisten eine Tradition der Allegorisierung der Frau; sie war aber die Verkörperung der Menschheit. So entwarf der schon genannte Künstler Décio Villares 1890 für die positivistische Kirche eine Prozessionsfahne, auf der eine Mutter mit den Zügen der Inspiratorin von Comte, Clotilde de Vaux, die Menschheit darstellen sollte.56 Kunstwerke wie die Sabinerinnen von David, oder Delacroix’ ,Die Freiheit führt das Volk‘ (1831) oder Daumiers ,La République‘ (1848) entstanden im brasilianischen Kontext nicht. Die Republik als Frau tauchte vor allem in Karikaturen auf, in denen die Enttäuschung über die neue Staatsform zum Ausdruck kam, welche einzelne Zeichner als Prostituierte darstellten. Wenn sich in Brasilien keine eigentliche Tradition einer weiblichen Allegorie der Republik entwickelte, so gab es dafür nach Murilo de Carvalho mehrere Gründe. Einerseits war die Funktion der Frau als Symbol in dem durch die katholische Religion geprägten Land schon durch die Figur der Maria besetzt. Die Republik hatte im Sinne des positivistischen Programms die Trennung zwischen Staat und Kirche durchgesetzt; kirchliche Kreise stellten der Figur der Republik die der Maria entgegen. Bei der Französischen Revolution aber auch bei den späteren Aufständen in Frankreich hatten Frauen eine aktive Rolle gespielt. In Brasilien wurde den Frauen nur eine Funktion im Hause, aber keine in der Öffentlichkeit zugeschrieben. Selbst in der relativ radikalen Republikanischen Partei waren keine Frauen aktiv. So ist es auch bezeichnend, dass auf dem schon genannten Bild ,A Pátria‘ Frauen nur in ihrer häuslichen Rolle als Mütter und Stickerinnen dargestellt werden, im Übrigen alles weiße Frauen; farbige Frauen kamen überhaupt nicht ins Bild. In die französische Bildtradition der Frau als Symbol der Republik ging auch die Bildtradition der Freiheit ein. In einer Republik, die vom Militär getragen wurde, – fast alle Stellen der vormaligen zivilen kaiserlichen Verwaltung wurden mit Offizieren besetzt – konnte die Freiheit nicht im Vordergrund stehen, sondern eben Ordnung und Disziplin. So ist es auch kein Zufall, dass in Frankreich zur selben Zeit der Positivismus Comtes, der vom Primat sozialer Einheiten vor dem Individuum ausgeht, zum Meisterdenker autoritärer politischer Richtungen wie der Action Française wurde.57 55 Siehe dazu Thomas Würtenberger, Die Verbindung von Freiheits-und Verfassungssymbolik, (Fußn. 11); Joseph Jurt, Die Allegorie der Freiheit in der französischen Tradition, in: Klaudia Knabel / Dietmar Rieger / Stephanie Wodianka (Hg.), Nationale Mythen-kollektive Symbole, 2005, S. 113 – 126. 56 Nach José Murilo de Carvalho, (Fußn. 3), S. 77 – 96. 57 Siehe dazu Wolf Lepenies, Die drei Kulturen, 1985, S. 41 – 48.
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Eine Frau, die in der Realität für die Freiheit hätte stehen können, war die Prinzessin Isabelle, Regentin des Kaiserreiches während der krankheitsbedingten Abwesenheit ihres Vaters. Unter ihrer Regentschaft wurde das sogenannte ,goldene Gesetz‘ (Lei Aurea) erlassen, das die sofortige Aufhebung der Sklaverei am 13. Mai 1888 besiegelte. Sie wurde als ,Isabelle die Erlöserin‘ (Isabel a Redentora) gefeiert und Gedenkmünzen der Abolitionsbewegung stellen sie ins Zentrum mit zerbrochenen Ketten in der einen und dem Abschaffungsdekret in der anderen Hand.58 Auf eine bedeutende Figur der Monarchie wollten sich die Vertreter der neuen Republik nicht beziehen. VII. Die Erfindung des Helden der Republik: Tiradentes Bei der Konstruktion der nationalen Identität spielen oft auch Heldenfiguren eine Rolle; für die Schweiz ist es etwa die Figur von Wilhelm Tell,59 für die USA die „founding fathers“. Für die Republik in Brasilien gab es natürlich auch Gründerväter; die Anführer der Gruppen, die die Proklamation der neuen Staatsform trugen. Sie vertraten aber ein jeweils ganz unterschiedliches Verständnis der Republik: Deodoro eine Militärrepublik, Benjamin Constant eine soziokratische und Guintino Bocaiúva eine liberale Republik. Bezeichnenderweise blieben die radikalen Republikaner ohne Vertretung in der Regierung. In der Verfassung wurde Benjamin Constant der führende Positivist und Leiter der Militärschule, der die Funktion eines Kriegsministers, dann die eines Bildungs- und dann Postministers wahrnahm, ausdrücklich als ,Gründer der Republik‘ gewürdigt60; erster Präsident der Provisorischen Regierung war aber Deodoro da Fonseca, der sich mit Benjamin Constant nicht verstand; der Konflikt mit seinem Minister eskalierte bis zu einer Aufforderung zum Duell. Deodoro da Fonseca scheiterte mit seinem Versuch eines Staatsstreichs „von oben“, trat zurück und starb schon 1892; Benjamin Constant war schon ein Jahr zuvor gestorben. Die drei genannten Politiker, die ganz unterschiedliche Republikvorstellungen vertraten, eigneten sich nicht als ,Gründerväter‘. Zu deren Substitut wurde eine historische Figur über den klassischen Prozess der ,invention of tradition‘ (Hobsbawm). Diese Figur, die zu einer Art Ursprungsmythos stilisiert wurde, war Joaquim José da Silva Xavier, der unter dem Namen ,Tiradentes‘ bekannt wurde. Der Genannte stammte aus bescheidenen Verhältnissen und verdiente sich sein Geld mit Zahnziehen (darum der Name ,Zahnzieher‘). Die Provinz Minas Gerais, aus der er stammte, drohte in den 1760er Jahren wegen der hohen Abgaben an Portugal zu verarmen, weil die Goldfunde zurückgingen. Es kam zu einer Verschwörung, der sogenannten ,Inconfidência Mineira‘ (1789), die nach dem Vorbild der Vereinigten Staaten von Ame58
Siehe Lilia Moritz Schwarcz (Fußn. 19), S. 438 – 439. Siehe Joseph Jurt, Guillaume Tell ou la question du héros, in: Gérard Peylet (Hrsg.), L’Apogée, Bordeaux, 2005, S. 201 – 218. 60 Walther L. Bernecker et alii (Fußn. 13) S. 216. 59
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rika die Unabhängigkeit erlangen und die Sklaverei abschaffen wollte. Tiradentes wurde zu ihrem Führer. Er wurde verraten und am 21. April 1792 als einziger der Gruppe hingerichtet. Der Verwalter der Provinz, der Visconte de Barbacena, gab den Befehl, „ihn zu hängen, zu vierteilen und Teile des blutigen Leichnams als warnendes Beispiel auf die Straßen und Dörfer der Umgegend zu werfen“.61 Die Erinnerung an ihn wurde durch das Buch eines Forschers, Joaquim Norberto de Souza e Silva, Historiá da conjuração mineira (1872) wieder wachgerufen. Der Historiker betonte aber, dass die Rolle von Tiradentes nicht so zentral war und dass sein patriotisches Engagement sich im Gefängnis in ein religiöses verwandelte. Dem widersprachen republikanische Kreise, für die Tiradentes zu einem Mythos, zum politischen Helden geworden war, der für seine Ideen starb. In Rio hatte sich ein Tiradentes-Club gebildet; Tiradentes wurde als ,Christus der Massen‘ bezeichnet. Nach der Ausrufung der Republik intensivierte sich der Prozess der Kanonisierung. Der Todestag von Tiradentes, der 21. April, wurde 1890 zum offiziellen Feiertag erklärt. Auf einer anonymen Grafik, die zum Unabhängigkeitstag des ersten Jahres der Republik erschien, sieht man über den Wolken einen Engel, der seine Hand über den Märtyrer Tiradentes hält und der mit der anderen auf eine Indianerin verweist, die eine Gedenktafel an dem Datum der Unabhängigkeit hochhält.62 Während einer Kundgebung zu Ehren von Tiradentes im Jahre 1890 verteilte der schon öfters genannte positivistische Künstler Décio Villares eine Lithographie, die Tiradentes, von dem es keine zeitgenössischen Bilder gab, als einen Christus mit Bart und langen Haaren und der Märtyrerpalme neben einem Lorbeerzweig darstellt. Die Sakralisierung des ,Helden‘ ist noch offensichtlicher im Ölbild von Aurélio de Figuereido ,O martírio de Tiradentes‘, die den Helden auf einer Barke zeigt, dem ein Mönch ein Kruzifix entgegenhält, während der Scharfrichter seine Augen mit den Händen bedeckt.63 Noch eindrücklicher ist das Bild ,Tiradentes esquartejado‘ (1893) von Pedro Américo, das realistisch den gevierteilten Helden auf dem Schafott zeigt64, mit dem Kopf unmittelbar unter einem Kruzifix, was die Analogie mit der Passionsgeschichte sichtbar machen will. Die Betonung dieser Analogie zur Passionsgeschichte, die in diesem katholischen Land jedem bekannt war, trug, nach Murilo da Cavalho, zum Erfolg der Heroisierung von Tiradentes als einem republikanischem Helden bei.65 Er war gerade als ,Märtyrer‘, als ,Opfer‘ für die Republik ein idealer Held, weil er so nicht einen möglichen Widerstand gegen eine autoritäre Republik suggerieren konnte.66
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Siehe dazu Edouardo Bueno (Fußn. 27) S. 124 – 131. Abgebildet in Lilia Moritz Schwarcz (Fußn. 19), S. 474. 63 Abgebildet in Lilia Moritz Schwarcz (Fußn. 19), S. 473 und in Edouardo Bueno (Fußn. 27), S. 130. 64 Siehe ibidem, S. 131. 65 José Murilo ea Carvalho (Fußn. 3), S. 67. 66 Ibidem, S. 68. 62
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Die Figur verband überdies den Kampf für die Unabhängigkeit und die Abschaffung der Sklaverei mit der Republik, die Vergangenheit mit der Gegenwart. Über diese Sakralisierung hatte Tiradentes aufgehört, bloß mehr der politische Held der radikalen Republikaner zu sein. Schließlich konnten sich auch die Monarchisten auf sein Erbe berufen, weil die Monarchie seine beiden Zielvorstellungen – Unabhängigkeit und Abschaffung der Sklaverei – realisiert hatte. Das Geheimnis des Weiterlebens des Heldenkultes um Tiradentes liegt vielleicht, so Murilo de Carvalho, in seiner Ambiguität, da die Figur, von der man letztlich nicht so viel historisch Gesichertes wusste, sich als ideale Projektionsfläche eignet und sich gleichzeitig jeder einseitigen Vereinnahmung entzieht.67 VIII. Fazit José Murilo de Carvalho stellt in der Schlussfolgerung seiner Untersuchung fest, dass die Positivisten bei fast allen Symbol-Schöpfungen für die Republik in Brasilien präsent waren, bei der Flagge, beim Versuch einer Allegorie der Republik, beim Tiradentes-Mythos. Nach ihrer Vorstellung sollte eine kleine gebildete politische Elite die Gesetzmäßigkeiten der historischen Entwicklung erkennen und danach handeln „unabhängig von der Zustimmung wankelmütiger Volks- oder zufälliger Parlamentsmehrheiten“.68 Es ging ihnen darum, zu erreichen, dass das Volk diese Regierungsform akzeptieren, ja lieben lerne. Um das zu erreichen, engagierten sie sich so stark bei der Schaffung der Symbole der neuen Republik, die über ihre visuelle Form eine Bevölkerung ansprechen sollte, die zum größten Teil nicht alphabetisiert war.69 Das Volk „von der Wahrheit ihrer Doktrin zu überzeugen, war für die Positivisten die unabdingbare Voraussetzung für den endgültigen Erfolg der Aufgabe, die sie sich selbst gestellt hatten“.70 Die Republik hatte aber bei ihrem Versuch, eigene, neue Symbole zu schaffen, wenig Erfolg; die Symbole, die sich durchsetzten, so die Flagge, beruhten auf der Tradition des Kaiserreiches, der Tiradentes-Mythos war die Adaption einer religiösen Ikonographie. Die Symbole hätten sich zu wenig auf das Bildgedächtnis des Volkes gestützt. In der Tat war der Sturz der Monarchie „ohne Beteiligung des Volkes“ erfolgt: „was als ,republikanische Revolution‘ propagiert wurde, war nichts als der symbolische Verschwörungsakt einer kleinen Schar idealistischer Politiker und pragmatischer Militärs […]“.71 Die neue Verfassung – die immerhin 43 Jahre gültig blieb – regelte wohl das Verhältnis der politischen Gewalten; die Beteiligung des Volkes war aber minimal: Nur männliche Bürger über 21 Jahre, die Vermögen besaßen und keine Anal-
67
Ibidem, S. 73. Wolf Paul (Fußn. 35), S. 122. 69 José Murilo de Carvalho (Fußn. 3), S. 129. 70 Ibidem, S. 140. 71 Wolf Paul (Fußn. 35), S. 120. 68
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phabeten waren, durften wählen: das waren 1894 2,2 % der Gesamtbevölkerung!72 Wenn die Symbole der Republik in Brasilien von einer politischen Elite (und beauftragten Künstlern) entworfen wurden, dann handelte es sich letztlich um Staats- und nicht um Nationalsymbole.73 Dadurch, dass diese Symbole überdauerten, die Hymne von 1831 bis heute, die Flagge seit 1889, der Tiradentes-Mythos ebenfalls bis heute, wurden sie zu Nationalsymbolen. Die intensive Suche nach Symbolen, um die sich eine (aus unserer Sicht sehr unvollendete) Republik bemühte, belegt ihre immense Bedeutung für die politische Kommunikation. Diese Symbol-Politik äußerte sich in Brasilien erneut mit der (voluntaristischen) Gründung von Brasilia vor fünfzig Jahren, eine Hauptstadt, deren Grundriss gleichzeitig ein Kreuz – das ,Kreuz des Südens‘ – und ein Flugzeug (,progresso‘) markiert, mit einem Platz der drei Gewalten (,Praça dos Três Poderes‘), um den sich das Parlament (Senat und Abgeordnetenhaus), das oberste Gericht und der Regierungssitz gruppieren. Eine beeindruckende symbolische Ordnung, aber gleichzeitig ein so massiv geordneter Stadtraum, der das Leben für den einzelnen Bürger in dieser Stadt nicht gerade leicht macht. Aber das ist eine andere Geschichte …
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S. 6.
Walther L. Bernecker et alii (Fußn. 13), S. 217. Siehe dazu Renilson Rosa Rebeiro, Republica(s) imaginada(s), Revista Aulas, 2, 2006,
Kairós – Zeitgeist – Verfassung Von Stephan Kirste, Salzburg Zeitgeist und Kairós (kaiq|r) beziehen sich auf unterschiedliche Aspekte von Zeit. Der Zeitgeist betrifft einen Aspekt von Dauer und Fluß der Zeit, der Kairós hingegen hebt besondere Momente in diesem Fluß hervor. Die Akzentuierung des einen oder anderen Elements der Zeit steht hinter unterschiedlichen Konzeptionen von Verfassung und ihrer Interpretation. Dem soll im Folgenden nachgegangen werden, um Möglichkeiten einer Vermittlung beider Positionen auszuloten. I. Zeitgeist und Verfassung 1. Der Begriff des Zeitgeistes Thomas Würtenberger1 hat sich wie kein anderer Jurist2 mit dem Thema Zeitgeist und Recht auseinandergesetzt. Er hat es auch gegen kritische Stimmen3 ver1
Das Thema wurde umfassend erarbeitet in: Würtenberger, Zeitgeist und Recht, 1987, 2. Aufl. 1991; vgl. hierzu auch die positive Rezeption etwa bei Rüthers, Zeitgeist und Recht, in: ZRP 1988, 283 – 285; Rezensionen auch von Klippel, FamRZ 1989, 580 f.; Sellert, ZRGGermanistische Abteilung 1989, 550 f.; Vormbaum, Goltdammer’s Archiv für Strafrecht 1989, 534 f.; Zippelius, AöR 1989, 308 f.; Wassermann, Recht und Politik 1990, 125 f.; Hasseln, DRiZ 1992, 228 f.; weiter ausgeführt wurden die Untersuchungen in: Würtenberger, Zeitgeist und Recht – die Verantwortung der Parteien, in: Eisenmann/Rill (Hg.), Rechtsbewußtsein und Staatsverständnis der Parteien, 1991, S. 12 – 34; Würtenberger, Beständigkeit und Wandel: Unser Rechtsstaat und der Zeitgeist, in: Politische Studien, 1993 (Sonderheft 5), 13 – 21; Würtenberger, Zeitgeist und Rechtsbewußtsein, in: Pädagogische Arbeitsstelle für Erwachsenenbildung in Baden-Württemberg (Hg.), Arbeitshilfen für die Erwachsenenbildung, 1994 (H. 29), S. 126 – 136; Würtenberger, Zeitgeist-Metaphorik und Recht in Frankreich und in Deutschland im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert, in: Jurt/Krumeich/Würtenberger (Hg.), Wandel von Recht und Rechtsbewußtsein in Frankreich und Deutschland, 1999, S. 91 – 106; Würtenberger, Zivilcourage gegen Zeitgeist, in: Meiche u. a. (Hg.), Anstiftung zur Zivilcourage, 2000, S. 54 – 66. 2 Vgl. kürzlich: Schmidt, Intellektuelle Moden in Recht und Rechtswissenschaft – Ein Versuch über den Zeitgeist, in: Harrer/Honsell/Mader (Hg.), Gedächtnisschrift für MayerMaly zum 80. Geburtstag, 2011, 423 ff.; Redeker, Zeitgeist und Werteordnung, in: NJW 1999, 3687 ff.; Schulze-Fielitz, Das Bundesverfassungsgericht in der Krise des Zeitgeistes, in: AöR 1997 (122), 1 ff.; Kutscha, Das Bundesverfassungsgericht und der Zeitgeist, in: NJ 1996, 171 ff.; Guggenberger, Der Zeitgeist und das Zeitgeistige, in: DRiZ 1993, 49 – 57 – aus der Zeit nach dem Erscheinen der 2. Aufl. von Würtenbergers Zeitgeist und Recht. 3 Küchenhoff, Geschichtlichkeit des Rechts oder Naturrecht, in: Speculum historiale, 1965, 395 – 407 (397): In der Nachfolge von Savignys wurde „der ,Volksgeist‘ zum ,Zeitgeist‘ und
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teidigt und damit konkreter und nachhaltiger gewirkt als die philosophischen Versuche der Zeitgeistforschung.4 Seit seinem Aufkommen etwa bei Wilhelm von Ockham (1288 – 1347), dann bei John Barclay (1582 – 1621) und anderen Konzeptualisten bezeichnet der Begriff des Zeitgeistes eine Qualität und später den Genius der Zeit.5 Im Fokus des Begriffsverständnisses steht also weniger der eigentlich temporale Aspekt, sondern vielmehr dasjenige, womit die Zeit „erfüllt“ ist. Der „genius animis et temporibus“ (Barclay) scheint an die Stelle des griechischen Aion (b aQ~m) getreten zu sein, der Lebenszeit, die antiken Denkern zufolge Menschen, wie menschlichen Werken von den Göttern verfügt war.6 Die Griechen hatten im Zeitlichen ein mangelhaftes Abbild der von den Göttern geordneten Zeit gesehen.7 Mit der beginnenden Neuzeit drückt der Zeitgeist den zeitlichen Möglichkeitshorizont für menschliches Handeln aus, die Bedingung des Fortschritts.8 Ob in diesem Sinne fortschrittsorientiert wie die Enzyklopädisten des 18. Jahrhunderts oder vergangenheitsorientiert wie etwa die Historische Schule des 19., immer wird die Gegenwart der jeweiligen Gesellschaft – verstanden im Sinne der Bergsonschen Longue Durée – mit ihrer Vergangenheit oder Zukunft, nicht mehr mit einem transzendenten Maßstab verglichen: Der Zeitgeist ist keine Zeit des Geistes oder Geistesgegenwart mehr. Ihr Geist hat sich „verzeitlicht“ und die treibenden Kräfte seines Flusses, sind immanente politische oder kulturelle Kräfte. Bei Arnold Ruge und Moses Hess wird der endliche Zeitgeist schließlich selbst zum handelnden Subjekt der Geschichte. Schien das politische Geschehen unter den Vorzeichen des Historismus der Macht des jeweiligen Zeitgeistes unterworfen zu sein, so wurde doch in der Nachfolge der Hegelschen Philosophie zugleich verlangt, daß die Philosophie ihre Zeit überschreite und unter den Neukantianern: von diesem Standpunkt aus auch kritisch prüfe und impulsiere.9 die Unklarheit erreicht ihren Höhepunkt. Denn ,der Zeitgeist‘ zeichnet sich dadurch aus, daß es ihn nicht gibt; Geist hat nur der Mensch, nicht ,die Zeit‘“. 4 Schoeps, Was ist und was will die Geistesgeschichte. Über Theorie und Praxis der Zeitgeistforschung, 1959; vgl. auch die zweibändige Untersuchung von de Boor und Meurer, Über den Zeitgeist – aus den Jahren 1918 – 1995, besonders Bd. 2: „Justiz in Deutschland“, 1995. 5 Hierzu und zum folgenden auch: Konersmann, Zeitgeist, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, 2004 (Bd. 12), Sp. 1266 f. 6 Kirste, Die Zeitlichkeit des positiven Rechts und die Geschichtlichkeit des Rechtsbewußtseins, 1998, S. 41. Bei Platon hat sowohl Gott eine Lebenszeit, wenn auch eine vollkommene, als auch der Mensch und seine Werke (Kirste, S. 69 f.). Aristoteles versteht es als Ableitung aus „ewig“ und sieht sie als Lebenszeit sowohl der Himmelskörper als auch der irdischen Wesen. Während Plotin und die altchristliche Lehre Aion auf den Aspekt der Ewigkeit beschränken, greift die Romantik den Begriff wieder auf und verwendet ihn insbesondere in der Lehre von den Weltaltern bei Schelling, Wieland, Aion, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, 1971 (Bd. 1), Sp. 117 f. 7 Platon, Timaios 39c/d. 8 Konersmann (Fußn. 5), Sp. 1266 f. 9 Konersmann (Fußn. 5), Sp. 1269.
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Würtenberger hat die vielfältigen Bedeutungsgehalte des Begriffs des Zeitgeistes geordnet und begrifflich erfaßt: „Zeitgeist ist das Gemeinsame im individuellen Bewußtsein, d. h. Gemeinsamkeit in den Wertungen und Einstellungen, kurzum kollektives Bewußtsein. Individuelles Bewußtsein und Einstellungen werden durch den Zeitgeist geprägt und sind in dem Zeitgeist verhaftet.“10
Er umfaßt also die Menschen einer zu bestimmenden Gegenwart gemeinsamen Wertüberzeugungen, ihr Ethos11und ihre Einstellungen12, bringt sie auf einen gemeinsamen Nenner und prägt umgekehrt das Bewußtsein des Einzelnen.13 Es besteht danach ein interdependenter Wirkungszusammenhang von geistiger Strömung, Bewußtsein und Rechtsordnung.14 Die geistige Strömung wird inhaltlich durch die „politischen und kulturspezifischen Ideen, Weltbilder, Leitbilder, Wertvorstellungen, religiös-weltanschaulichen Ansichten, moralisch-ethischen Überzeugungen“ usw. geprägt.15 „Wandel ist das einzig Beständige im Zeitgeist“.16 Das mit dem Zeitgeist angesprochene dynamische Element ist nicht durch revolutionäre, sprunghafte Veränderungen, sondern eher durch kontinuierlichen Wandel gekennzeichnet.17 Hervorgebracht werden Wandlungen des Zeitgeistes aus sozialen und ökonomischen Gründen, historischen Schlüsselereignissen, wenn Grenzen eines bestimmten Paradigmas aufgezeigt werden, wesentliche neue Ideen aufkommen oder sich die Kommunikationsmedien ändern. Allerdings kann der Zeitgeist auch sei10
Würtenberger 1991 (Fußn. 1), S. 43. Feindt, Beamtenethos und Zeitgeist, in: DöD 1981, 1 ff. 12 Vgl. auch Hommes, Zeitgeist, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, 1931, Sp. 1522. Anders als Würtenberger versteht freilich Hommes den Zeitgeist ausschließlich als „Kollektiverscheinung“ und übersieht die individuellen Einflüsse darauf. 13 Würtenberger 1991 (Fußn. 1), S. 23; In diesem Sinne auch schon Windelband, Einleitung in die Philosophie, 1920, S. 91: „Wir sind gewohnt, vom Volksgeist oder vom Zeitgeist, von der Kultur oder dem Kulturbewußtsein zu reden: welche geistige Wirklichkeit denken wir uns darunter? Wir meinen doch bei nüchterner Überlegung nicht, daß solch ein Volksgeist usw. eine eigene substantielle Wirklichkeit bedeute, ein Wesen, das für sich außerhalb der Individuen und über ihnen bestünde: sondern wir meinen damit einen einheitlichen Lebensbestand, der einer Masse vorstellender und wollender Individuen gemeinsam ist“, vgl. auch S. 176, 305 u. 350. 14 Leitend ist die These, „daß die dominanten geistigen Strömungen einer Epoche individuelles wie kollektives Bewußtsein prägen, daß ein Wandel in den dominanten geistigen Strömungen zugleich auch Wandel von individuellem und kollektivem Bewußtsein bedeutet und daß sich mit änderndem Bewußtsein auch die Rechtsordnung verändert“, Würtenberger 1991 (Fußn. 1), S. 11. 15 Würtenberger 1991 (Fußn. 1), S. 12. 16 Würtenberger 1991 (Fußn. 1), S. 28. 17 Wenn auch Würtenberger zu Recht davon Abstand nimmt, den Wandel des Zeitgeistes an einen Rhythmus, etwa der Generationenfolge festzumachen, so jedoch Hommes (Fußn. 11), Sp. 1224 f. 11
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nerseits durch gezielte Maßnahmen beeinflußt werden, wenn es gelingt, Orientierungsmuster menschlichen Verhaltens zu formulieren und ein Gespür für die bis dahin latenten Orientierungsmuster, Bedürfnisse und Hoffnungen zu entwickeln. Nicht nur in totalitären Systemen,18 sondern auch in liberalen Gesellschaften kann der Zeitgeist durch wirtschaftliche Kräfte, technische Neuerungen, Eliten, Peergroups, Öffentlichkeitsarbeit von Regierungen etc. beeinflußt werden.19 Der Zeitgeist ist danach nicht nur eine quasi natürlich wirkende Kraft, sondern Manifestation kultureller Überzeugungen.20 Wichtige gesellschaftliche Funktionen des Zeitgeistes sind Orientierung, Stabilisierung und Legitimation. Der Zeitgeist vermittelt Werte, Lebenseinstellungen, Trends und ermöglicht so dem Einzelnen eine Orientierung für sein Verhalten. Damit hat der Zeitgeist zugleich eine konservative und stabilisierende Funktion: Wer sich verändernd gegen den Zeitgeist stellt, gilt als Außenseiter, auch wenn er vielleicht die Grundlage für eine neue Epoche mit ihren besonderen geistigen Qualitäten legt. Wer sich am Zeitgeist orientiert, scheint sich für sein Verhalten auch nicht besonders recht-fertigen zu müssen. Er scheint mit der Kraft des Normalen zugleich legitimiert. In diesem Sinne wirkt der Zeitgeist auch als „normative Kraft des Faktischen“ im Sinne Georg Jellineks.21 2. Zeitgeist und Recht a) Zeitgeist und Rechtsbewußtsein Im Verhältnis von Zeitgeist und Rechtsordnung ist dann die Frage leitend, „inwiefern geistige Faktoren die Fortentwicklung der Rechtsordnung beeinflussen können“.22 Damit ist der dynamische Aspekt von Phänomenen wie dem Rechtsbe-
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Würtenberger 1991 (Fußn. 1), S. 31. Würtenberger, Schwankungen und Wandlungen im Rechtsbewußtsein der Bevölkerung, in: NJW 1986, 2281 – 2287 (2285 f.). 20 Ein jedoch nicht ganz leichtes Unterfangen: „Die großen epochalen Wandlungen des Zeitgeistes können den in einer Epoche Lebenden nur selten in ihrer ganzen Tragweite bewußt werden. Wandlungen des Zeitgeistes lassen sich eben erst mit der wünschenswerten Sicherheit erfassen und feststellen, wenn sich das Neue durchgesetzt hat, also erst im Nachhinein“, Würtenberger 1991 (Fußn. 1), S. 49 f. 21 Jellinek beruft sich auf die „Einsicht, daß den tatsächlichen Verhältnissen selbst normative Kraft innewohnt, d. h. daß aus ihnen die Überzeugung hervorgehen muß, daß die tatsächlichen Herrschaftsverhältnisse als rechtliche anzuerkennen seien. Wo diese ausbleibt, kann die faktische Ordnung nur durch äußere Machtmittel aufrechterhalten werden, was auf die Dauer unmöglich ist … Wo … das einmal Gegebene durch die in Form der Gewohnheit sich äußernde Anerkennung zur Norm erhoben ist, da werden die dem außen Stehenden selbst noch so unbillig dünkenden Zustände als rechtmäßig empfunden“, Jellinek, Allgemeine Staatlehre, 1959, S. 341. 22 Würtenberger 1991 (Fußn. 1), S. 10. 19
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wußtsein23 oder auch Akzeptanz und Anerkennung24 angesprochen. Das Rechtsbewußtsein erfaßt „kollektive Wert-, Gerechtigkeits- und Richtigkeitsvorstellungen“.25 Es kann individuell oder kollektiv sein.26 Seine Vorstellungen mag es kritisch an das Recht herantragen oder umgekehrt von ihm geprägt sein.27 Über das Rechtsbewußtsein prägt der Zeitgeist Rechtskultur, die die Rechtsordnung insgesamt trägt, sie durchdringt und ihre Anwendung beeinflußt.28 Er wirkt über das Rechtsbewußtsein die Normsetzung, -anwendung und die Rechtsprechung.29 Wegen der Wandelbarkeit des Zeitgeistes und des durch ihn geprägten Rechtsbewußtseins, wird auch an das Recht als Norm die Forderung herangetragen, es soll wandelbar und in diesem Sinne „geschichtlich“ sein.30 Im Zentrum des kollektiven Rechtsbewußtseins steht nach Würtenberger der Verfassungskonsens.31 Er stabilisiert die normative Verfassung.32 So berief sich etwa das VG Neustadt in seiner vielzitierten Entscheidung zum „Zwergenweitwurf“ auf den Verfassungskonsens zur Konkretisierung der „Guten Sitten“ in § 33a II 23 Würtenberger (Fußn. 19), S. 2281; Würtenberger, Schwankungen und Wandlungen im Rechtsbewußtsein der Bevölkerung, in: Jakob/Rehbinder (Hg.), Beiträge zur Rechtspsychologie, 1987, S. 197 – 214; Würtenberger, Rechtsbewußtsein und verfassungsrechtlicher Handlungsspielraum des Gesetzgebers in Deutschland, in: Konrad-Adenauer-Stiftung (Hg.), Schutz des ungeborenen Kindes, 1991, S. 42 – 55; Würtenberger, Rechtsprechung und sich wandelndes Rechtsbewußtsein, in: Hoppe/Krawietz/Schulte (Hg.), Rechtsprechungslehre, 1992, S. 545 – 558; Würtenberger, Die Wechselwirkung zwischen Rechtsbewußtsein im Umweltschutz und Umweltrecht in Industriestaaten, in: Kroeschell/Cordes (Hg.), Vom nationalen zum transnationalen Recht, 1995, S. 239 – 250; Würtenberger, Gesetz, Rechtsbewußtsein und Schutz des ungeborenen Kindes, in: Schriftenreihe der Juristen-Vereinigung Lebensrecht, 1998 (Nr. 5), 31 – 52; Würtenberger, Rechts- und Verfassungsbewußtsein in Frankreich und in Deutschland, in: Le Forum Franco-Allemand, 1998 (numéro spécial mai/juin), 147 – 150. 24 Würtenberger, Akzeptanz als Leitlinie des Verwaltungsermessens, in: Pichler (Hg.), Rechtsakzeptanz und Handlungsorientierung, 1998, S. 287 – 291; Würtenberger, Gemeinschaftsrecht als Akzeptanz-Neuland, in: Pichler (Hg.), Rechtsakzeptanz und Handlungsorientierung, 1998, S. 307 – 312; Würtenberger, Die Akzeptanz von Gesetzen, in: Soziale Integration, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 1999 (Sonderheft 39), 380 – 397. 25 Würtenberger 1986 (Fußn. 19), S. 2282 f., Würtenberger 1991 (Fußn. 1), S. 13 f. u. 93 ff. 26 Demgegenüber beschränkt sich Kirste (Fußn. 6), S. 392 ff. auf das individuelle Rechtsbewußtsein. 27 Würtenberger 1991 (Fußn. 1), S. 104 f. 28 Würtenberger 1991 (Fußn. 1), S. 34. 29 Würtenberger 1991 (Fußn. 1), S. 157. 30 Llompart, Die Geschichtlichkeit in der Begründung des Rechts im Deutschland der Gegenwart, 1968, S. 134. 31 Würtenberger 1986 (Fußn. 19), S. 2282. 32 Würtenberger 1991 (Fußn. 1), S. 143 f.; ders. 1986 (Fußn. 19), S. 2281 u. 2287; ders., Wiedervereinigung und Verfassungskonsens, in: JZ 1993, 745 ff. (746). Kritisch zur Kompensation von Legitimationsdefiziten bei der Verfassungsgebung des Grundgesetzes: Murswiek, Präambel, in: Dolzer (Hg.), Bonner Kommentar, 2005, Rn. 154 f.
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Nr. 2 GewO33 und folgte damit dem BVerwG in seiner – wegen paternalistischer Argumente34 – problematischen ersten Peepshow-Entscheidung35. b) Zeitgeist und Normsetzung Da sich der Zeitgeist zumeist allmählich wandelt und jedenfalls die Entstehung neuer Paradigmen Zeit benötigt, ist die normative Orientierung an ihm einfacher, als an der Gesetzgebung, die eher in einer abrupten Veränderung besteht. Die Folge zeitgeistgetragener rechtlicher Entscheidungen von Gerichten, Verwaltungen und Legislativen ist – auch ohne ausdrückliche Mitwirkung des Volkes – die demokratische Legitimation durch Akzeptanz der Normen36 und damit die Vermeidung von Krisen. Verfassungen unterschiedlicher Zeiten verhalten sich anders zum jeweiligen Zeitgeist. Die klassischen liberalen Verfassungen versuchten die natürlichen Rechte und ein philosophisch more geometrico begründetes Verhältnis der Staatsgewalten und ihre Ordnung zu etablieren. Das Grundgesetz sollte zunächst in seinem Artikel 1 Abs. 3 zum Ausdruck bringen, daß die neue Verfassung nicht nur vorübergehend (Präambel und Art. 146), sondern auch „für unser Volk aus unserer Zeit geformt und niedergelegt“ sei.37 Neuere Verfassungen – man denke etwa an den Grundrechtskatalog der Verfassung der Bundesrepublik Brasilien von 1988 – wollen sehr konkrete Antworten auf Anfragen des Zeitgeistes geben.38 Der Zeitgeist kann selbst nach förmlichen Verfassungsänderungen verlangen39. Die förmliche Rechtsänderung hat aber nicht nur den Vorteil für die Rechtssicherheit, daß die neue Rechtslage klar markiert wird; sie bringt vielmehr auch die häufig unklaren Strömungen des Zeitgeistes zum Bewußtsein und damit zur Klärung. c) Zeitgeist und Verfassungsinterpretation Das Bundesverfassungsgericht hat in der Soraya-Entscheidung und hierauf aufbauenden Urteilen immer wieder die Bezugnahme auf den Zeitgeist gerechtfertigt. Insbesondere dann, wenn es das subjektive Auslegungsziel der Ermittlung des 33
VG Neustadt, NVwZ 1993, 98 f. (99): „Den Kern des maßgeblichen sozialethischen Ordnungsgefüges bilden die wertethischen Prinzipien, über deren Verbindlichkeit die Rechtsgemeinschaft im Verfassungskonsens befunden hat“. 34 Vgl. hierzu Kirste, Harter und Weicher Rechtspaternalismus unter besonderer Berücksichtigung der Medizinethik. In: JZ 2011, 805 ff. (805). 35 BVerwGE 64, 274 ff. (277). 36 Würtenberger, Legitimität, in: Evangelisches Soziallexikon, 2001, Sp. 607 – 609. 37 JöR N.F., 1951, S. 50 mit Fußn. 19. 38 Wieser, Vergleichendes Verfassungsrecht, 2005, S. 100. 39 Würtenberger, Verfassungsänderung und Verfassungswandel: Von der nationalen zu einer globalen Perspektive, in: Wahl (Hg.), Verfassungsänderung, Verfassungswandel, Verfassungsinterpretation, 2008, S. 49 ff. (S. 50).
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Willens des historischen Gesetzgebers als nachrangig gegenüber einer objektiven Auslegung des „Willens des Gesetzes“ ansieht,40 eröffnet es die Möglichkeit der Einbeziehung von zeitgeistorientierten Argumenten. Bei der Sinnermittlung von Verfassungsnormen komme es auf die aktuelle Funktion im Anwendungszeitpunkt an und nicht auf die Entstehungszeit. Wegen der Interdependenz von Norm und sozialen Verhältnissen und Anschauungen müsse sich die Verfassung mit diesen ändern.41 In seiner Entscheidung zum Existenzminimum aus dem Jahre 2010 hat das BVerfG dem Gesetzgeber einen Entscheidungsspielraum zur Berücksichtigung dieser „gesellschaftlichen Anschauungen“ bei der Konkretisierung des Rechts auf ein Existenzminimum eingeräumt.42 Es liegt auf der Linie dieser zeitgeistorientierten Rechtsprechung, daß das Gericht Gesetze als „Alterungsprozessen unterworfen“ ansieht.43 Bei der Rechtfertigung verfassungsrichterlicher Rechtsfortbildung des Verfassungsrechts spielen gewiß auch die sich immer schneller ändernden gesellschaftlichen Verhältnisse eine Rolle, die den Motor der Gesetzgebung ins Stottern bringen können.44 Auch die Verfassungsgerichte anderer Staaten haben sich mit der Zulässigkeit einer zeitgeistorientierten Rechtsprechung auseinandergesetzt. So schreibt der Supreme Court von New Jersey 1845 in The State v. Post, es sei nicht seine Aufgabe „dem gültigen Zeitgeist“ zu folgen und zu entscheiden, ob „Gesetze weise, klug oder gerecht sind; oder inwieweit sie mit Prinzipien der Menschlichkeit sowie natürlicher und angeborener Rechte übereinstimmen“.45 Stattdessen habe es den zur Zeit des Inkrafttretens der Verfassung geltenden Sinn seiner Interpretation zugrunde zu legen. Im zu entscheidenden Fall ging es um Sklaverei, die im Zeitpunkt des Inkrafttretens der Verfassung weithin anerkannt gewesen war. Anders – und ebenfalls unter Berufung auf den Zeitgeist – nahm der Supreme Court von Massachu40 Dazu Würtenberger treffend: „Bei dem Streit, ob eine subjektive oder objektive Auslegungsmethode bei der Interpretation gesetzlicher Texte vorzugswürdig sei, geht es letztlich um die Rolle der Zeit, d. h. ob das historische oder heutige Rechtsbewußtsein bei der Norminterpretation zugrunde zu legen sei“, Würtenberger 1991 (Fußn. 1), S. 164. 41 So die bekannte Stelle aus der Soraya-Entscheidung, BVerfGE 34, 269 ff. (288). 42 BVerfGE 125, 175 ff. (224): „Der Umfang dieses Anspruchs kann nicht unmittelbar aus der Verfassung abgeleitet werden …, sondern hängt von den gesellschaftlichen Anschauungen über das für ein menschenwürdiges Dasein Erforderliche, der konkreten Lebenssituation des Hilfebedürftigen sowie den jeweiligen wirtschaftlichen und technischen Gegebenheiten ab“. 43 Als Voraussetzung der Rechtsfortbildung bestimmt das Gericht zutreffend die Lückenhaftigkeit und Ergänzungsbedürftigkeit des Rechts und beschränkt die Veränderung auf die Anwendung, nicht auf die Norm selbst: „Eine tatsächliche oder rechtliche Entwicklung kann eine bis dahin eindeutige und vollständige Regelung lückenhaft, ergänzungsbedürftig und zugleich ergänzungsfähig werden lassen. Die verfassungsrechtliche Zulässigkeit der Lückensuche und -schließung findet ihre Rechtfertigung unter anderem darin, dass Gesetze einem Alterungsprozess unterworfen sind. Die Gerichte sind daher befugt und verpflichtet zu prüfen, wie das Gesetzesrecht auf neue Zeitumstände anzuwenden ist…“. 44 BVerfGE 96, 376 ff. (394). 45 20 New Jersey Law Reports (N.J.L.) 368 (1845), S. 371, zit. nach Brugger, Recht und Rasse in der amerikanischen Verfassungsrechtsprechung, in: JZ 1989, 809 ff. (810).
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setts – zu einem vergleichbaren Wortlaut der dortigen Verfassung an, daß die dort geduldete Sklaverei verfassungswidrig sei.46 Interpretivistische Theorien etwa von Ronald Dworkin rechtfertigen die Einbeziehung des Zeitgeistes, denn dies kann dazu beitragen, die Rechtsordnung vom Standpunkt einer „political morality“ bestmöglich zu gestalten.47 Sie rechtfertigen ihre Ansicht damit, daß häufig der revolutionäre Verfassungsgeber unzureichend demokratisch legitimiert sei,48 so daß der jetzige demokratische Gesetzgeber sogar über eine höhere Legitimation für angemessene Entscheidungen verfüge als der historische Verfassungsgeber. Auch Würtenberger sieht derartige Rechtsfortbildung über den entstehungszeitlichen Sinn der Normen hinaus als demokratisch gerechtfertigt an.49 Sie harmonisiert zeitgeistgeprägtes Rechtsbewußtsein und geltendes Recht und läßt letzteres nicht mehr als eine heteronome, sondern autonome Ordnung erscheinen. So hält in der Tat, wie Zippelius feststellt, der Zeitgeist das Recht in Bewegung.50 II. Kairós und Verfassung Ein ganz anderes Bild ergibt sich, wenn die Verfassung aus der zeitlichen Perspektive des Kairós betrachtet wird. 1. Der Begriff des Kairós Vielleicht noch mehr als die Neuzeit hatte die Antike ein Gespür für den besonderen Augenblick, das „Itzt“, wie Hegel sagen würde51. In der Festschrift für
46 Vgl. Brugger (Fußn. 45), S. 811, der die Position des Gerichts im hier interessierenden Punkt zusammenfaßt: „Verfassungsrichter sind nicht auf die Achtung der überkommenen Tradition verpflichtet, sondern können auf die Anerkennung und Fortschreibung des Zeitgeistes drängen, die im Vordringen befindliche Meinung absegnen“. 47 Das Ziel seines „Law as integrity“-Konzepts ist es, daß „the community’s legal record the best it can be from the point of view of political morality“, Dworkin, Law’s Empire, 1986, S. 53, 228 – 232, 380 u. 411. Entsprechend werden Verfassungen moralisch und politisch verstanden und interpretiert, um „political morality into the heart of constitutional law“ zu implantieren, Ronald, Freedom’s Law, 1996, S. 3 f. 48 Dworkin (Fußn. 47), S. 363. 49 Würtenberger1991 (Fußn. 1), S. 192: „Zeitgeistorientierte Rechtsetzung und Rechtsfortbildung kommt, vorausgesetzt, die sich wandelnden Vorstellungen sind richtig erkannt, unmittelbare demokratische Legitimität zu.“ 50 Zippelius, Recht und Gerechtigkeit in der offenen Gesellschaft, 1994, S. 156 f. 51 Hegel, Die Vernunft in der Geschichte. Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, Hg. v. Hoffmeister, 1955 (Bd. 1), S. 182: „Was wahr ist, ist ewig an und für sich, nicht gestern und nicht morgen, sondern schlechthin gegenwärtig, ,itzt‘ im Sinne der absoluten Gegenwart. In der Idee ist, was auch vergangen scheint, ewig unverloren“.
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Fikentscher zitiert Johannes Gründel den griechischen Epigrammdichter Poseidippos aus Pella52 : „Wer bist du? Ich bin Kairós, der alles bezwingt! Warum läufst du auf Zehenspitzen? Ich der Kairos, laufe unablässig. Warum hast du Flügel am Fuß? Ich fliege wie der Wind. Warum trägst du in deiner Hand ein spitzes Messer? Um die Menschen daran zu erinnern, dass ich spitzer bin als ein Messer. Warum fällt dir eine Haarlocke in die Stirn? Damit mich ergreifen kann, wer mir begegnet. Warum bist du am Hinterkopf kahl? Wenn ich mit fliegendem Fuß erst einmal vorbeigeglitten bin, wird mich auch keiner von hinten erwischen so sehr er sich auch bemüht. Und wozu schuf Euch der Künstler? Euch Wanderern zur Belehrung.“
Der personifizierte Kairós berührt die Erde nur punktuell und ist gleich wieder verschwunden. Er kann nur kurz ergriffen werden. Wenn er vorbeigezogen ist und die Gelegenheit nicht „beim Schopf gepackt“ wurde, gibt es kein Halten mehr. Dann ist die Zeit vertan. Allegorisch wird er auch mit Schwert und Waage in der Hand dargestellt, zum Zeichen, daß er nicht für den bloßen äußeren Zeitpunkt steht, sondern für den richtigen, den gerechten Augenblick oder auch die Situationsgerechtigkeit und Rechtzeitigkeit.53 Der Ausdruck wurde jedoch nicht nur allegorisch in der Dichtkunst, sondern hier wie auch in der Rhetorik (etwa bei Gorgias) als Ausdruck dafür genommen, „das Rechte zur rechten Zeit zu [Hinzufügung, SK] sagen“54. Dabei kulminieren nicht nur die Ereignisse in einem bestimmten Zeitpunkt; hier werden auch viele Stränge der Erzählung oder der Argumentation zusammengeführt: Kairós ist ein Moment, der besonderen Aussagen vorbehalten ist.55 Aristoteles bezeichnet mit Kairós auch die Kulmination einer Entwicklung oder Handlung.56 Im jüdisch-christlich Verständnis ist die Zeit des Kairós eine herausgehobene, eine Hoch-Zeit. Hier zeigt sich, daß die Zeit erfüllt ist (Mk 1.15: fti pepk^qytai b jaiq|r)57. Mit Kairós wird 52 Gründel, Der „Kairos“ ärztlichen Handelns heute: Ganzheitliche Therapie, in: Großfeld u. a. (Hg.), FS Fikentscher, 1998, 70 – 90 (89). 53 Wolf, Griechisches Rechtsdenken I. Vorsokratiker und frühe Dichter, 1950, S. 184 f. 54 Theunissen, Pindar, 2000, S. 840. 55 Zum Begriff der Kairós in der griechischen Antike: Kerkhoff, Zum antiken Begriff des Kairós, in: ZPhf 1973 (Bd. 27), 256 – 274. 56 Vgl. auch zur Situativität des richtigen Handelns aufgrund von geeigneten und weniger geeigneten Augenblicken: Aristoteles, Nikomachische Ethik, III, 1, 1110a 13. 57 Theunissen (Fußn. 54), S. 872.
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eine Zeit bezeichnet, die „näher zum Heil“, (Rö 13,11), eine „Zeit der Gnade“ (2 Kor 6,2) und damit eine Zeit ist, die wegen ihres geistlichen Gehalts nicht vertan, sondern genutzt werden sollte (Eph 5,15 – 17)58 : Carpe diem! Der protestantische Theologe Paul Tillich hat aber auch die Problematik des Kairós angesprochen:59 Der Kairós bedeutet zwar das Einbrechen des Ewigen in die Zeit und somit ihre Erfüllung. Diese historisch einmalige Erfüllung ist jedoch ein vorübergehendes Phänomen. Der Moment ist so flüchtig, wie ihn schon die griechische Allegorie vorstellte. In diesem Sinn wird der Begriff des Kairós zum Gegenbegriff des Zeitgeistes. Während Kairós als besonderer Augenblick den Charakter der Ausnahme hat, des Ereignisses, des Existentiellen besitzt, ist der Zeitgeist gewissermaßen die Normallage. Kairós bedeutet die Diskontinuität, die im Einbrechen des Neuen begründet ist. Der Zeitgeist ist Ausdruck einer – wenn auch wandelbaren – Dauer. 2. Kairós und Verfassunggebung Der herausragende Augenblick, die Geistesgegenwart der Verfassungsgeber und die von ihnen nicht selten erhoffte und invozierte Gegenwart des Geistes in einem besonderen Moment der Geschichte ist der Zeithorizont der Schaffung und auch wesentlicher Veränderungen von Verfassungen. Dies zeigt sich besonders in ihren Präambeln. Gewiß enthalten Präambeln von Verfassungen mythologische Elemente.60 Sie sollen mit einem gewissen feierlichen Pathos auf den nachfolgenden, verbindlichen Teil der Verfassung einstimmen61 und unterwerfen sich somit nicht derselben juristischen Rationalität wie die übrigen Abschnitte der Verfassung. 58
Gründel (Fußn. 52), S. 90. Tillich, Der Widerstreit zwischen Raum und Zeit. Gesammelte Werke VI. Hg. v. Albrecht, 1963, S. 35: Die Idee des K. „enthält das Hereinbrechen der Ewigkeit in die Zeit, den unbedingten Entscheidungs- und Schicksalscharakter dieses geschichtlichen Augenblicks, aber sie enthält zugleich das Bewußtsein, daß es keinen Zustand der Ewigkeit in der Zeit geben kann, daß das Ewige wesensmäßig das in die Zeit Hereinbrechende, aber nie das in der Zeit Fixierbare ist“. 60 Dworkin (Fußn. 47), S. 348. Ausführlich auch Roellecke, Verfassungsgebende Gewalt als Ideologie, in: JZ 1992, 929 f.: Präambeln und verfassungsgebende Gewalt als Ideologie. Dies gilt gerade auch dann, wenn sie auf den Moment des Anfangs der Verfassung verweisen; vgl. dazu allgemein, Henke, Staatsrecht, Politik und verfassungsgebende Gewalt, in: Der Staat 1980, 181 – 211 (195); zu Mythos und Realität der Präambel des Grundgesetzes in bezug auf die verfassungsgebende Gewalt, vgl. Murswiek, Die verfassungsgebende Gewalt nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 1978, S. 56 ff. (S. 88): Die Behauptung, das Volk habe bei der Verfassungsgebung gehandelt sei historisch unrichtig. 61 Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 1998, S. 920; sie stehen so zwischen der Alltags- und einer technischen Rechtssprache, ders., Präambeln im Text und Kontext von Verfassungen, in: ders.: Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, S. 176 – 212 (S. 190 f.). 59
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In ihren Einleitungen und Präambeln drücken viele Verfassungen die Chance oder gar Notwendigkeit aus, daß sich das Volk gerade in diesem Augenblick eine Verfassung gibt.62 Sie heben den besonderen historischen Moment hervor63, der gekommen sei64, die letzte Gelegenheit für eine lange Zeit65, eine geschichtliche Lage, die nicht lange anhalten66 und vielleicht nicht wiederkommen wird, um über die generellen Strukturen des Gemeinwesens zu entscheiden. Die Verfassung von Kroatien etwa spricht ausdrücklich von einem „Wendepunkt“ in der Geschichte des Landes.67 Andere Verfassungsväter heben hervor, daß Verfassungen immer in gefährlichen Momenten der Geschichte geschaffen würden. Nur diese besonderen Gefahren würden die Kräfte und einen entsprechend ausgeprägten Willen zur Einheit über Parteigrenzen hinweg mobilisieren, die zu einem solchen Projekt erforderlich seien.68 In der ungesicherten Lage der Verfassungsgebung ist es die Not oder die Krise,69 die die Einheit dadurch stiftet, daß sie die Leidenschaften bändigt und sich auf das Neue der zu etablierenden Ordnung konzentriert. Weil in der Perspektive der Verfassungsgeber diese einigende Kraft für die Zukunft nicht zu erwarten ist, muß eine Ordnung geschaffen werden, deren dauerhafte Geltung selbst die Autorität hervorbringt, die aufkommenden Änderungswünsche zu steuern. Die Präambeln beruhigen mit diesen Formulierungen nicht nur Skeptiker, die gegenüber der Verfassungsgebung einwenden mögen, daß die Zeit für die Ausarbeitung und Verabschiedung einer Verfassung noch nicht gekommen sei – wenn sie denn je käme. Friedrich Carl von Savigny gab bekanntlich den Gesetzgebern zu 62 Ein anschauliches Beispiel ist die „Declaration of Independence“ (1776): „When in the Course of human Events, it becomes necessary for one People to dissolve the Political Bands which have connected them with another, and to assume among the Powers of the Earth, the separate and equal Station to which the Laws of Nature and of Nature’s God entitle them, a decent Respect to the Opinions of Mankind requires that they should declare the causes which impel them to the Separation.“ 63 Dies wird auch durch die Akzentuierung der eigenen Zeitrechnung wie etwa in der Verfassung Thailands von 1997 deutlich: „Today is the tenth day of the waxing moon in the eleventh month of the year of the Ox under the lunar calendar, being Saturday, the eleventh day of October under the solar calendar, in the 2540th year of the Buddhist Era.“ 64 Die Iranische Verfassung von 1979 betont dies: „Now, at the threshold of this great victory [the Islamic revolution of Iran], our nation, with all its beings, seeks its fulfilment“. 65 Wie etwa im Fall der Amerikanischen Revolution, Ackerman, We the People I. Foundations, 1993, S. 169 u. 179. 66 Ackerman (Fußn. 65), S. 288, “Nothing lasts forever, least of all a mobilized majority of private citizens. Soon enough, the popular mind will return to other things”. 67 „Am historischen Wendepunkt der Verwerfung des kommunistischen Systems und der Änderung der internationalen Ordnung in Europa, hat das kroatische Volk bei den ersten demokratischen Wahlen (im Jahre 1990), den frei zum Ausdruck gebrachten Willen, seine tausendjährige staatliche Eigenständigkeit und Entschlossenheit, die Republik Kroatien als souveränen Staat zu errichten, bestätigt“. 68 So Madison No. 49, in: Hamilton/Jay/Madison, Die Federalist-Artikel, 1994, S. 307. 69 Die „Not der Gegenwart“ erwähnt etwa die Präambel der Verfassung von NordrheinWestfalen vom 28. Juni 1950.
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bedenken, daß wenige Zeiten überhaupt in der Lage gewesen seien, ihr Recht zu kodifizieren. Der Anfang von Staaten gehörte nicht dazu. Nur eine mittlere Zeit verfüge über die entsprechenden Fähigkeiten.70 Sie knüpfe an das Herkommen an, sichere es für die Zukunft und schaffe so Kontinuität des Rechts. Kontinuität ist jedoch nicht die Entwicklungsvorstellung von Verfassungsgebern. von Savignys Skrupel fechten sie folglich auch nicht an. Sie beziehen sich auf historische Notwendigkeiten, die Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung im Interesse des Gemeinwohls oder ihren heroischen Willen und außergewöhnliche Tugenden,71 um sich gerade in diesem historischen Augenblick von den Rechtsbindungen der Vergangenheit loszusagen, eine Verfassung zu entwerfen und in Kraft zu setzen. Den Revolutionären der französischen Revolution etwa war dieser besondere Augenblick durchaus bewußt. Robespierre beklagt in seiner letzten Rede: „Wir werden untergehen, weil wir in der Geschichte der Menschheit den Augenblick für die Gründung der Freiheit verpaßten.“72 Das tatsächliche Moment der Gefahr, der Krise – eine Revolution, ein verlorener Krieg –, die eine Selbstvergewisserung und eine daraus entspringende demokratische Selbstbestimmung erfordern, sind die Momente, die die erforderliche Kraftanstrengung für einen rechtlichen Neubeginn freisetzen.73 Die Verfassungsgebung überführt im besonderen revolutionären Moment die vereinigten politischen Kräfte als historische Ausnahme in die Normalität der beständigen Autorität der Verfassung. Der besondere Augenblick der Verfassunggebung wird als Chance gesehen, das große Problem der Bildung eines einheitlichen Willens ohne die der Staatsgewalt dabei zur Verfügung stehenden verfassungsrechtlichen Verfahren zu lösen. Was als zeitliche Einheit der im Willen zum Neubeginn vereinigten Macht bei der Verfassunggebung ungetrennt auftritt, differenziert sich im Normalfall des Verfassungsalltags in das geordnete „Gegeneinander rivalisierender Interessen“74 durch unterschiedene Gewalten, in denen die Exekutive idealtypisch das Moment der Gegenwart, die Gesetzgebung das Moment der Zukunft und die Rechtsprechung das der Vergangenheit entfaltet.75 Dieses Gegeneinander der Funktionen steht jedoch unter der ordnenden Kraft verbindlicher Normen.
70 von Savigny, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Wissenschaft, 1814. Wiederabgedruckt in: Thibaut und Savigny, Ihre programmatischen Schriften, 1973, S. 95 ff. (S. 112). Im späteren „System des heutigen Römischen Rechts“ hat er dann eine etwas freundliche Ansicht gegenüber Kodifikationen vertreten, vgl. 1840 (Bd. 1), S. 41 f. 71 Ackerman (Fußn. 66), S. 170. 72 Zitiert nach Arendt, Über die Revolution, 2000, S. 75. 73 Vgl. zum Zusammenhang von Revolution und Verfassungsgebung Murswiek (Fußn. 60), S. 17 ff. 74 The Federalist Papers (Fußn. 68), No. 51, dt.S. 315. 75 Kirste (Fußn. 6), S. 253, 362 u. 377.
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So überrascht es nicht, daß einige Vorsprüche eine „Invocatio Dei“ oder „Nominatio Dei“ für dieses Projekt enthalten.76 Dies ist mehr als nur die rhetorische Überspielung der Willkür des Anfangs in der Verankerung von etwas Unbeliebigen, die menschliche Vernunft Übersteigenden77. Andernfalls hätte es bei der Diskussion um die Präambel der Europäischen Grundrechtecharta kaum eine Kontroverse um die Berufung auf ein „geistig-religiöses und sittliches Erbe“ Europas (deutsche Fassung) oder „its spiritual and moral heritage“ (britische Fassung) bzw. „son patrimoine spirituel et moral“ (französische Fassung) zwischen dem traditionell laizistischen Frankreich und Deutschland gegeben.78 Fremdverantwortung und Verantwortung für das eigene Werk, die gleichwohl nicht positiv-rechtlicher Natur sind, kommen hier zusammen und werden anerkannt.79 Es ist die Berufung auf eine Immanenz Gottes im Werk der Verfassungsgebung, ein Hineinrufen.80 Im Grunde könnte damit die „Anwesenheit“ oder mit Heidegger das „Anwesen“ Gottes angesprochen werden81. Die zeitliche Perspektive, die darin zum Ausdruck gebracht wird, ist nicht die des gemächlich sich wandelnden Rechtsbewußtseins; hier geht es um die Zeit des Geistes und nicht den Zeitgeist. In seiner Gegenwart soll ein Neuanfang der Verfassung gewagt werden.82 III. Der Zeithorizont der Verfassung: Kairós und Zeitgeist Lassen sich nun beide Zeitperspektiven, die des stillen und allmählichen Wandels des Zeitgeistes und die schrille, diskontinuierliche, exzeptionelle des Kairós miteinander vermitteln? 76
Etwa die Verfassung von Griechenland von 1975: „In the name of the Holy and Consubstantial and Indivisible Trinity, the Fifth Constitutional Assembly of Greece votes… .“ oder die Präambel der Schweizer Verfassung von 1999; Präambel der Verfassung von Brasilien; aber auch Pakistans Verfassung von 1973: „In the name of Allah, the Beneficent, the Merciful – The constition of the Islamic republic of Pakistan – Preamble: Whereas sovereignity over the entire Universe belongs to Almighty Allah alone …“. 77 Arendt (Fußn. 72), S. 265. 78 Zur Diskussion Heinig, Die Religion, die Kirchen und die europäische Grundrechtscharta. In: ZevKR 2001 (Bd. 46), 440 – 461 (457 f.) – und dabei handelt es sich bei dieser Formel noch nicht einmal um eine förmliche invocatio dei! 79 Hollerbach, Grundlagen des Staatskirchenrechts. In: Isensee/Kirchhof (Hg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 1989 (Bd. 6), § 138, S. 471 – 555 (S. 517); Häberle (Fußn. 61), S. 958 f. 80 Es muß also nicht notwendig bei einer strikten Transzendenz Gottes bleiben. 81 Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, 1973, S. 233: Die Anwesenheit des Seins oder in den Invocationes: des Gottes als „Beständigkeit und Ständigkeit“ der Verfassungen. Die Verfassungsgeber würden damit auf die gegenwärtige Einheit der drei Zeitdimensionen als „Anwesenheit“ hinweisen. Heidegger, Holzwege, 1994, S. 346 f. 82 Ausführlich hierzu: Kirste, Die Zeit der Verfassung. In: Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart, 2008 (Bd. 56), S. 35 – 74.
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Inhaltlich stellt die Verfassung nicht notwendig einen Neuanfang dar. Sie mag an frühere Verfassungen anknüpfen oder ist etwa an Eigenarten der betreffenden Verfassungskultur gebunden. Formal jedoch ist sie eine „creatio ex nihilo“. Sie bezieht ihre rechtliche Geltung und Legitimation nicht aus einer vorhergehenden Verfassung, die etwa ihr Zustandekommen geregelt hätte.83 Denn verfassungsrechtlichnormativ ist sie ein Neuanfang. Verfassunggebung bedeutet mit anderen Worten eine Transformation von politisch moralischen Überzeugungen, Bindungen der verschiedensten Art und eben auch des Zeitgeistes in die rechtliche Form der Verfassung.84 Diese tatsächlichen Überzeugungen von moralischen und sonstigen Bindungen gehen dadurch nicht notwendig verloren; sie erhalten jedoch nach Maßgabe ihrer rechtlichen Rezeption und in ihrem Umfang rechtliche Verbindlichkeit. Auch ihr Inhalt als rechtliche Prinzipien oder Regeln richtet sich nun nach dem systematischen Zusammenhang, in den sie durch die Kodifikation gestellt worden sind. Der Kairós behält seine Funktion als Moment der Transformation – und der Zeitgeist? 1. Ein Modell der Vermittlung von Kairós und Zeitgeist: Constitutional Moments Bruce Ackerman ist bemüht, beide zeitlichen Momente zu berücksichtigen. Ausgangspunkt ist die Frage, ob, warum und inwiefern man sich in den USA auf 200 Jahre alte verfassungsgebende Entscheidungen verlassen soll.85 Zur Antwort entwickelt Ackerman ein prozedurales Verständnis der Verfassung, unterscheidet aber die Verfahren der verfassungsgebundenen Rechtsanwendung von der höheren Gesetzgebung als Rechtsveränderung, die nur in besonderen historischen Augenblicken stattfinden kann. Die Verfassung habe einen Mittelweg zwischen permanenter Revolution und „revolutionärer Amnesie“ gewählt, indem sie Änderungsregeln einbaut, die darauf angelegt sind, den Prozeß der Verfassunggebung fortzusetzen, indem sie das Volk zu Wort kommen lassen.86 83
Hannah Arendt beschreibt diese Situation als petitioprincipii. Sie liege darin, daß „diejenigen, die zusammenkommen, um den neuen Verfassungsstaat zu errichten, … selber keine verfassungsrechtlichen Befugnisse“ haben; Arendt (Fußn. 72), S. 238 u. S. 263, Dies sei „eine theoretisch unlösbare „petitio principii …, in die jeder Anfang gerät, weil er das auf ihn Folgende bedingt, gerade darum aber selbst als etwas Unbedingtes, Absolutes in Erscheinung tritt“. 84 Zum Konzept der Transformation im Recht: Kirste, Recht als Transformation, in: Brugger/Neumann/Kirste (Hg.), Rechtsphilosophie im 21. Jahrhundert, 2008, S. 134 – 156; auch Murswiek (Fußn. 60), S. 259 spricht von Transformation: „Die verfassungsgebende Gewalt ist der für die Praxis zwar nicht bedeutendste, aus theoretischer Perspektive jedoch evidenteste Punkt, wo praktische Politik in rechtliche Normativität transformiert wird.“ 85 Ackerman, We the People II. Transformations, 1998; Ackerman (Fußn. 65), S. 166: „What can hundreds of millions of men and women living in a postindustrial and polyglot America learn about governing a world power from these imperfectly liberated English men of long ago?“ 86 Ackerman (Fußn. 65), S. 171.
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Er sieht die Rechtsetzung auf verschiedenen Hierarchieebenen gewissermaßen immer dem Ansturm der „rights-foundationalists“, der Moralisten à la Dworkin, ausgesetzt. Während sich diese jedoch in Normalzeiten in den verfassungsrechtlichen Verfahren und im Rahmen der Spielräume von Gerichtsentscheidungen artikulieren sollen, kommt es in den Augenblicken des higher lawmaking zu einer Veränderung der sozialen Verfassungsgrundlagen selbst. Dieser Wandel wird zwar formal, nicht aber in der Sache durch die Regeln zur Veränderung der Verfassung eingefangen.87 Es geht um Paradigmenwechsel innerhalb des formalen Verfassungsrahmens. Die Momente dieses „higher lawmaking“ sind jedoch selten.88 Sie erfordern eine Anstrengung der besten Qualitäten eines Volkes, um einen Neuanfang ins Werk zu setzen und außerordentliche Leidenschaften,89 um die Risiken und Unbequemlichkeiten des Wandels zu überwinden.90 In derartigen historischen Situationen soll es nach Ackerman nur an der trüben Sicht der Verfassungstheoretiker liegen, daß sie den Prozeß der Verfassungsergänzung als verfassungsgebunden ansehen. Diese Änderungsregeln sind zwar nicht vollständig zu vernachlässigen, die verändernden Kräfte arbeiten jedoch um sie herum.91 Worauf Ackerman also abzielt, ist Verfassung als einen evolutionären Prozeß der Transformation der verfassungsrechtlichen Bestimmungen zu verstehen. Die ursprüngliche Verfassunggebung ist nur die Etablierung eines Rahmens für diesen Prozeß92 und kein historischer Moment „wie die Kreuzigung des inkarnierten Gottes in der christlichen Religion“.93 Seiner Auffassung nach kann man sich nicht vollständig auf diese Gründungsmomente verlassen, weil sie beeinträchtigt sein können und „imperfectly liberated people“ einer Gesellschaft, die auf einem geringeren Stand ihrer Entwicklung stand als der, den sie in der Gegenwart der Rechtsanwendung erreicht hat, an ihnen wirken.94 Obwohl Ackerman so einen Weg zwischen den beiden Polen der „permanenten Revolution“ und der „revolutionären Amnesie“ zu entwerfen versucht, indem er 87 Ackerman identifiziert in diesem Prozeß der höheren Gesetzgebung vier Phasen: (1.) „signaling phase“ eine politische Bewegung zeigt, daß „its reform agenda should be placed at the center of sustained public scrutiny“; (2.) „Proposalphase“ für eine verfassungsrechtliche Reform; (3.) „mobilized popular deliberation phase“; (4.) „codification phase“, Ackerman (Fußn. 65), S. 267. 88 Vor allem drei derartige Paradigmen identifiziert Ackerman (Fußn. 65), S. 40: Founding, Amendments infolge des Bürgerkriegs, New Deal. 89 Ackerman (Fußn. 65), S. 22. 90 Ackerman (Fußn. 65), S. 220. 91 Ackerman (Fußn. 65), S. 40. 92 Ackerman (Fußn. 65), S. 165: „… Founding as the beginning of a dialogue between past and present.“ 93 Ackerman (Fußn. 65), S. 160. 94 Ackerman (Fußn. 65), S. 166 u. 315.
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dem Volk die Fähigkeit zur Selbstbestimmung erhalten will,95 präsentiert er doch nur ein differenziertes Modell des tatsächlichen Verfassungswandels und Erklärungen für eine Veränderung von politischen Paradigmen innerhalb der Verfassung, und keine Erklärung der Zukunftsbindung, die sich ein Volk durch die Verfassung (verstanden als geschriebener Text) auferlegt.96 Die verfassungsrechtliche Vergangenheit, die eingerissen werden soll, um eine bessere Zukunft aufzubauen97, ist dann auch nicht die Gesamtverfassung. Dennoch hilft seine Perspektive zu einem differenzierten Verständnis zwischen normaler und richtungsgebender Verfassungsgesetzgebung und -interpretation zu unterscheiden und damit zu verdeutlichen, daß es auch unter Beachtung der Geltung der Verfassung Einflußmöglichkeiten gegenwartsorientierter Überzeugungen geben kann. 2. Kairós, Zeitgeist und Verfassungsinterpretation a) Möglichkeit des Einwirkens auf den Zeitgeist Die Einwirkung von Zeitströmungen auf das Recht ist jedoch keine Einbahnstraße. Schon Georg Jellinek nimmt bekanntlich nicht nur eine „Normative Kraft des Faktischen“, sondern auch eine „faktische Kraft des Normativen“ an. Zwar werden die Normen durch die Anerkennung der Normunterworfenen getragen und durch ihren Willen hervorgebracht; sie wirken aber auch auf die Erzeugung von Normalität und tatsächlicher Ordnung.98 In diesem Sinn nimmt auch Würtenberger an, daß der Zeitgeist nicht nur via Rechtsbewußtsein die Verfassung und ihr Verständnis prägt, sondern umgekehrt auch von ihr geprägt werden kann. Beeinflußbar ist der Zeitgeist etwa als „kulturelles Gedächtnis“.99 Dem Recht kommt hier eine erhebliche Aufgabe der Steuerung des Umgangs mit der Vergangenheit zu. Es stellt etwa Instrumente zur Aufarbeitung von Vergangenheit dar oder entscheidet über die Speicherung von Daten oder ihre Löschung und damit über die Vergegenwärtigung von Vergangenheit. Das zeigt, daß sich die Verfassung dem Zeitgeist nicht nur beugen muß, sondern sich – faktisch – ihm auch entgegenstellen kann.100 95
Ackerman (Fußn. 65), S. 171 u. 181. Zu berücksichtigen ist dabei, daß Artikel V der amerikanischen Verfassung nur minimale materiale Anforderungen an den Prozeß der Verfassungsänderung stellt. 97 Ackerman (Fußn. 65), S. 315. 98 Jellinek, Die sozialethische Bedeutung von Recht, Unrecht und Strafe, 1908, S. 12. Die politische Verfassung und das Wehrsystem tragen das ihrige dazu bei, die Ordnungsliebe und die Achtung vor dem Gesetze in den Bürgern zu heben und dadurch die Summe sozialer Gefühle und Denkungsart zu vergrößern. 99 Kirste, Der Beitrag des Rechts zum kulturellen Gedächtnis. In: ARSP 2008 (Bd. 94), 47 – 69. 100 Isensee, Der antiplebiszitäre Zug des Grundgesetzes – Verfassungsrecht im Widerspruch zum Zeitgeist, in: Akyürek u. a. (Hg.), Verfassung in Zeiten des Wandels. Demokratie – Föderalismus – Rechtsstaatlichkeit. Symposion zum 60. Geburtstag von Heinz Schäffer, 2002, 53 – 83 (64). 96
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b) Wieviel Einfluß darf die Verfassungsinterpretation dem Zeitgeist einräumen und inwieweit hat sie auf ihn zu wirken? Inwiefern soll sie dies auch? Da Gerichte nicht über den demoskopischen Apparat oder andere Möglichkeiten der Ermittlung von Zeitgeist verfügen, wird ihre Einschätzung häufig dem subjektiven Belieben anheim gestellt bleiben. Wenn es „guten“ und „bösen“ Zeitgeist gibt, sich die verschiedensten weltanschaulichen Strömungen, Modisches und Fundamentales, Fortschrittliches und Konservierendes im Zeitgeist mischen, dann ist allzuleicht die Berufung auf ihn willkürlich.101 Angesichts der Heterogenität der öffentlichen Meinung in einer pluralistischen Gesellschaft wird seine Ermittlung die hermeneutischen Fähigkeiten der Gerichte noch stärker fordern, als die Interpretation der Normen selbst. Schließlich ist auch die Minderheit zu schützen, die sich mit verfassungsrechtlichen Argumenten etwa aus den Grundrechten gegen den Zeitgeist stellt. Faktisch interpretiert die Öffentlichkeit, wie Häberle immer wieder betont hat, an der Verfassung mit.102 Darin ist sie rechtlich durch Art. 5 I GG geschützt. Über pluralistische Artikulationsmöglichkeiten und den parlamentarischen Gesetzgebungsprozeß artikuliert sie sich normativ verbindlich. Den Verfassungsgerichten kommt es jedoch zu, innerhalb dieser Interpretationsansätze diejenigen auszuwählen, die seinen Entscheidungsvoraussetzungen am besten entsprechen und ggf. neue hinzuzufügen. „Ein Gericht kann eben nicht klüger sein als der Zeitgeist“, schreibt Gerd Roellecke103, aber es muß sich ihm doch entgegenstellen, wenn die normativen Grundlagen seiner Entscheidung dies gebieten. Dazu ist es durch Art. 20 III GG verpflichtet. Wie sehr sich die Norminterpretation dem Zeitgeist öffnen darf, hängt also maßgeblich von ihren engeren oder weiteren normativen Bindungen ab. Hierbei sind zunächst formale Aspekte wie etwa die gegenüber dem Gesetzgeber geringere demokratische Legitimation und die Gewaltenteilung zu berücksichtigen. Neben die personelle tritt die über die verfassungsrechtlichen Regelungen jedenfalls eines Verfassungsgerichts vermittelte institutionelle Legitimation. Bei Verfassungsgerichten bleibt auch zu berücksichtigen, daß sie gerade die Verfassungsmäßigkeit des Handelns auch der anderen Gewalten zu überprüfen haben. Auch institutionelle Aspekte sind zu berücksichtigen: Gerichte sind zwar in unterschiedlicher Weise ausgestattet, um in die Öffentlichkeit oder nur zwischen den Parteien zu wirken; Möglichkeiten der Ermittlung der öffentlichen Meinung stehen ihnen aber regelmäßig nicht zu Gebote. Sie sind auf die Auffassungen der Parteien, die allenfalls durch Gutachten ergänzt werden, angewiesen. 101
Schulze-Fielitz (Fußn. 2), S. 16. Häberle, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, in: JZ 1975, 297 – 305. 103 Roellecke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: Starck (Hg.), Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, 1976 (Bd. 2), S. 49. 102
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Neben diese formalen Aspekte treten inhaltliche Aspekte aus dem Charakter der entsprechenden Normen: Sind Normen offen formuliert, etwa als Prinzipien, so will der Normsetzer offenbar, daß ihre Anwendung einer Vielzahl von Sachverhalten und auch historischen Entwicklungen gerecht wird. Somit öffnet er selbst ihre Konkretisierung dem Zeitgeist. Dies gilt in ganz besonderer Weise für die Grundrechte. Grenzen ergeben sich freilich aus dem Charakter jeder Rechtsetzung als Transformation: Der Normsetzer hat moralische Prinzipien, Werte und Rechte in einen neuen systematischen Zusammenhang versetzt, aus dem heraus sie verstanden werden müssen. Der ungefilterte Rekurs auf Moral(en) ist damit ausgeschlossen. Sowohl die Alltagssprache als auch die Rechtssprache sind erheblichen Wandlungen ausgesetzt. Sofern der Normsetzer hier nicht durch Legaldefinitionen Beschränkungen vorgenommen hat, kann der sprachliche Wandel auch Ausfluß auf die Interpretation haben. Auch muß begrenzend sein Wille jedenfalls insofern berücksichtigt werden, als sich aus Materialien eindeutig rekonstruieren läßt, daß er bestimmte Auslegungen ablehnt. Hat er sich hingegen in Finalnormen auf Ziele festgelegt, sind jedenfalls diejenigen Mittel, die er nicht explizit ausgeschlossen hat und die nicht im Widerspruch zu sonstigen Normen stehen, rechtlich zulässig und offen für Herausforderungen des Zeitgeistes. Somit stellt nicht nur der Wortlaut die Grenze des Einflusses des Zeitgeistes auf die Verfassungsinterpretation dar104, sondern alle klaren Entscheidungen des Verfassungsgebers. Er war es, der in einem herausgehobenen Moment der Geschichte, außerrechtliche Normen in Recht transformiert hat, d. h. ihnen in der Sprache und im System einen neuen Zusammenhang gegeben hat. Diese limitierende Entscheidung kann auch durch das An-branden des Zeitgeistes nicht abgeschliffen werden. Generalklauseln wirken gerade hier als Öffnungen gegenüber dem Zeitgeist.105 Paradebeispiel hierfür ist die „öffentliche Ordnung“ in der polizeilichen Generalklausel. Sie verweist geradezu auf den – lokalen – Zeitgeist, wenn sie jene ungeschriebenen Verhaltensregeln erfaßt, „deren Befolgung nach den jeweils herrschenden sozialen und ethischen Anschauungen als unentbehrliche Voraussetzung für ein gedeihliches Zusammenleben … angesehen wird.“ Auch die „Sittenwidrigkeit“ (§ 138 BGB) und „Treu und Glauben“ (§ 242 BGB) sind solche Tore.106 Bei aller Bedeutung der Verfassungsgerichte für die Fortentwicklung der Gehalte des Verfassungsrechts, bleiben sie also der Verfassung untergeordnet und durch sie gebunden. Sie können nicht verbindlich „neue Grundrechte“ erfinden, sondern nur neue Konkretisierungen bestehender Grundrechte – und seien es solche auf „informationelle Selbstbestimmung“107 oder der „Integrität informationstech-
104 So aber Hesse, Grenzen der Verfassungswandlung, FS Scheuner, 1973, auch in: Hesse, Ausgewählte Schriften, 1984, 28 ff. (42). 105 Würtenberger 1991 (Fußn. 1), S. 161. 106 Schmidt (Fußn. 2), S. 427. 107 BVerfGE 65, 1 ff.
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nischer Systeme“108. Ein entsprechender Federstrich des verfassungsändernden Gesetzgebers bei Art. 2 I GG könnte die „neuen Grundrechte“ zu Makulatur werden lassen. Hier liegt – wie Christian Walter gezeigt hat – ein unechter Verfassungswandel, bei dem lediglich geänderte Sachverhalte bei gleichem Verfassungsgehalt zu unterschiedlichen Lösungen führen und kein echter, den Inhalt der Verfassung modifizierender Verfassungswandel vor.109 Generell gilt: soweit sich Interpret oder Gesetzgeber im Rahmen der normativen Vorgaben halten und lediglich ihre Spielräume zur Interpretation und zur Konkretisierung nutzen, können sie den Zeitgeist interpretierend handeln, ohne dadurch einen Normwandel herbeizuführen. Verlassen sie diesen Bereich und verändern den Norminhalt selbst, liegt eine grundsätzlich unzulässige Änderung vor110 und ebenfalls kein Verfassungswandel. IV. Schluß Von Heraklit sind bekanntlich zwei Aussprüche über Wandel und Veränderung überliefert. Platon berichtet, „Heraklit sagt doch wohl, alles sei in Bewegung und nichts habe Bestand“ und vergleiche „die Dinge mit der Strömung eines Flusses“ (P\mta wyqe? ja· oqd³m l]mei).111 So ist auch der Zeitgeist und sein Einfluß auf Rechtsbewußtsein und Recht im permanenten, allmählichen Wandel zu begreifen. Platon erwähnt aber auch den anderen Gedanken Heraklits, daß man nämlich „den Fuß nicht zweimal in den nämlichen Fluß setzen“ könne.112 Jeder Schritt in den Fluß ist einmalig, zu dieser Zeit, in diesem Moment des Fließens. Der Fluß wird dadurch nicht gestoppt, aber doch eine Zäsur eingefügt, ein Ereignis hat stattgefunden. Nur wenn in besonderen Momenten eine Verfassung geschaffen werde, so schrieb Hamilton, entspringe der „Strom nationaler Macht … direkt aus jener reinen, ursprünglichen Quelle aller legitimen Autorität“.113 Die verfassungsgebende Gewalt steigt in den Fluß des Zeitgeistes und errichtet in einem besonderen Augenblick Schleusen für seine weitere rechtliche Wirkung: 108
BVerfG v. 27. 2. 2008, BvR 370/07, 1 BvR 595/07, NJW 2008, 822. Walter, Hüter oder Wandler der Verfassung? Zur Rolle des Bundesverfassungsgerichts im Prozeß des Verfassungswandels, in: AöR 2000 (125), 517 – 550, (525 u. 526): „Abstrakt formuliert, liegt bei Normen, die auf eine Ausgestaltung durch den einfachen Gesetzgeber ausgelegt sind, nur dann ein echter Verfassungswandel vor, wenn die Grenzen der Ausgestaltungsbefugnis verändert werden. Als unechter Verfassungswandel lassen sich dagegen diejenigen Veränderungen erfassen, die innerhalb des von der Verfassung vorgegebenen Rahmens stattfinden“. 110 Böckenförde, Anmerkungen zum Problem des Verfassungswandels, in: Badura/Scholz (Hg.), Wege und Verfahren des Verfassungslebens. FS Lerche, 1993, 3 – 14 (4). 111 Platon, Kratylos 402 A, in: Apelt (Hg.), Platon. Sämtliche Dialoge, 1993 (Bd. 2), S. 37 ff. (S. 68) – Platon bringt hier übrigens das Bild des fließenden Wassers bei Heraklit in einen engen Zusammenhang mit Kronos (und Rhea), also des Gottes, der oft mit Chronos, der Zeit, gleichgesetzt wurde. 112 Platon (Fußn. 111), S. 68. 113 Hamilton/Madison/Jay (Fußn. 68), Art. 22, S. 132. 109
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Verfassungs- und Gesetzesänderungen zur Anpassung an ihn werden Regeln unterworfen. Die Interpretation wird formal und inhaltlich begrenzt. Um die Schleusen bauen zu können, muß der Fluß für einen Moment gestaut werden. Sein Fließen wird dadurch nicht beendet; es vollzieht sich danach jedoch in anderen Bahnen114. Der künstliche Fluß mag nicht so schön sein, wie der natürliche, der Schiffsverkehr vermeidet in ihm aber die Untiefen, die ihn im alten Bachbett ausbremsen. Im Moment der Verfassungsgebung hört auch die Rechtsentwicklung nicht vollständig auf oder beginnt die Rechtsordnung inhaltlich in einer Stunde Null. Aber danach vollzieht sie sich doch in anderen, künstlicheren, aber auch geordneteren Bahnen. Schleusen müssen repariert, ggf. einer veränderten Schiffsgröße angepaßt werden; dann muß eben der Fluß – zu einer geeigneten Jahreszeit – durch parallele Schleusentore bewegt werden. Und auch die Verfassung kann dann, ohne sie vollständig neu zu errichten, bei laufendem Betrieb repariert werden. Den Schleusenwärtern steht es aber ebensowenig zu, den Fluß wieder komplett umzuleiten und seinem alten Bett anzuvertrauen, wie die Schleusen auf beiden Seiten zu öffnen und den Fluß einfach durchrauschen zu lassen. Das alte Bett wäre damit längst überfordert. So, wie ein Fluß nicht alle Tage angehalten wird, sondern außergewöhnlicher Anstrengungen bedarf, wird auch die Verfassung nicht laufend neu geschrieben, sondern bedarf der außergewöhnlichen Mobilisierung moralischer und rechtstechnischer Fähigkeiten, um die weitere Rechtsentwicklung in eine geordnete Form überzuleiten, einen Kairós eben, den richtigen Augenblick.
114 Schmidt (Fußn. 2), S. 433: „Zeitgeist im Recht muss sich der versachlichten rechtspolitischen Kontrolle stellen, gegebenenfalls auch rechtspolitischen Kraftproben“.
Verfassungsorientierte Gesetzesauslegung Von Rudolf Wendt, Saarbrücken* I. Einleitung Sieht sich der Jurist zum ersten Mal mit für ihn ungewohnten fachspezifischen Begrifflichkeiten konfrontiert, so gilt sein Weg der (Universitäts-)Bibliothek. Hier arbeitet er sich durch die vorhandene Fülle an Büchern und Bänden und wird im Normalfall auch schnell fündig, denn er weiß, wo er suchen muss („Wissen heißt, wissen, wo es steht!“). Betrifft nun die Erstkonfrontation den Begriff der „verfassungsorientierten“ Auslegung, greift der geübte Jurist zunächst zielsicher zu hermeneutischer Literatur, da es ja, was die Begrifflichkeit nahe legt, um die Auslegung von Gesetzen geht. Darüber hinaus ist ihm die „verfassungskonforme“ Auslegung selbstverständlich ein Begriff, weshalb er daneben verfassungsrechtliche Literatur zu Rate zieht. Nach konzentrierter Durchsicht der einschlägigen Literatur macht sich allerdings bei unserem Wissensdurstigen eine gewisse Ernüchterung breit. Er stößt zwar immer wieder einmal auf die ihm schon leidlich bekannte „verfassungskonforme“ Auslegung, der Begriff der „verfassungsorientierten“ Auslegung wird jedoch von den zu Rate gezogenen Autoren entweder gänzlich ausgespart oder – wenn er denn ausnahmsweise einmal gebraucht wird – überaus uneinheitlich verwendet. Für den Juristen ist dies dann fast schon ein untrügliches Zeichen dafür, dass es bei der Unterscheidung beider Phänomene entweder nur um mehr oder weniger belanglose, zu vernachlässigende terminologische Feinheiten geht oder aber dass sich diejenigen Autoren, die neben der allerorts erwähnten „verfassungskonformen“ Auslegung zusätzlich noch von der „verfassungsorientierten“ Auslegung sprechen, jeweils ihre ganz eigene, von anderen nicht geteilte Meinung zur Besonderheit des Phänomens der „verfassungsorientierten“ Auslegung gebildet haben – die in Relation zur literarischen Mehrheit in der Jurisprudenz dann auch gerne mit dem Präfix „Minder“ versehen wird. Es wird sich in der Tat zeigen, dass die erstere Sichtweise ihre dezidierten Anhänger hat und im Lager der Befürworter einer Eigenständigkeit der „verfassungsorientierten“ Auslegung höchst individuelle Ansichten vertreten werden. II. Die Auslegung von Gesetzen Begibt man sich zunächst einmal auf eine allgemeinere Ebene und blendet gedanklich die Attribute „verfassungsorientiert“ und „verfassungskonform“ aus, so *
Der Verfasser dankt seinem Assistenten Martin Frank für wertvolle Mitarbeit.
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wird klar, was den eigentlichen Rahmen der hiesigen Bemühungen bildet. Es geht um Auslegung und konkret natürlich um die Auslegung von Gesetzen, also die eigentliche Arbeit des Juristen. Weil nun die einzelnen Probleme der juristischen Auslegungslehre mit zu den „meisterörterten Themen der rechtswissenschaftlichen Literatur“1 gehören und sich eine fast schon unüberschaubare Anzahl von Schriften detailliert mit hermeneutischen Fragestellungen befasst, reicht es für die vorliegend anzustellenden Überlegungen aus, kurz zu umreißen, was gemeinhin unter der Auslegung von Gesetzen zu verstehen ist. Orientiert man sich hierfür an Zippelius, kann man feststellen, dass „Gesetze konkrete rechtliche Vorstellungen in Worte fassen und erst die Einkleidung in Worte solche Vorstellungen mitteilbar werden lässt und ihnen eine feste Gestalt gibt (…). Daher heißt es ein Gesetz auszulegen, die eigentliche Bedeutung der Gesetzesworte zu ermitteln, also jene Tatsachen-, Wert- und Sollensvorstellungen zu gewinnen, die durch sie bezeichnet werden sollen.“2 Es geht also bei der Gesetzesauslegung um die Interpretation des Gesetzes durch den Gesetzesanwender. In der Hermeneutik haben sich bekanntlich wenigstens vier Kategorien der Gesetzesinterpretation herausgebildet: die grammatische, die historische, die systematische und die teleologische Auslegung.3 In dieser Aufzählung fehlen zunächst einmal die „verfassungskonforme“ und die „verfassungsorientierte“ Auslegung. Die Frage ist also: Wie reihen sich diese Auslegungsmethoden in die genannten Methoden ein? Haben sie überhaupt eigenständigen Charakter? Und wenn ja: Worin liegt dieser? III. Die „verfassungskonforme“ Auslegung von Gesetzen Die „verfassungskonforme“ Auslegung gilt als „gesicherter Bestand“4 unter den anerkannten Auslegungssätzen. Vom Bundesverfassungsgericht schon frühzeitig als solche benannt,5 kommt sie immer dann zum Tragen, wenn sich bei der Auslegung einer Norm, die im Rang unterhalb der Verfassung steht, herausstellt, dass diese Norm mehrere Deutungen zulässt und mindestens eine mögliche Auslegung der Norm den verfassungsrechtlichen Vorgaben entspricht und mindestens eine mögliche Auslegung diesen Vorgaben widerspricht. Ist die Norm mehrdeutig in diesem Sinne, fordert der Grundsatz der „verfassungskonformen“ Auslegung des unterverfassungsrechtlichen Rechts, dass diejenige Auslegungsmöglichkeit gewählt wird, die mit der Verfassung in Einklang steht. Damit fungiert die Verfassung nicht nur als Erkenntnis-, sondern zugleich als Kontrollnorm.6
1
Burmeister, Die Verfassungsorientierung der Gesetzesauslegung, 1966, S. 1. Zippelius, Juristische Methodenlehre, 2006, S. 19 und 42. 3 Engisch, Einführung in das juristische Denken, 2010, S. 136. 4 Skouris, Teilnichtigkeit von Gesetzen, 1972, S. 96; Burmeister (Fußn. 1), S. 4. 5 BVerfGE 2, 266 (281 f.). 6 Voßkuhle, AöR 125 (2000), 177 (181).
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Die übrigen Normdeutungen, die sich als verfassungswidrig herausgestellt haben, sind vom konkreten Gesetzesanwender zu verwerfen.7 Der „verfassungskonformen“ Auslegung kommt demnach vor allem die Aufgabe zu, die Verfassungswidrigkeit einer Norm zu vermeiden8 und dient damit mittelbar auch dem Schutz der parlamentarischen Autorität. Die „verfassungskonforme“ Auslegung von einfachem Recht wird demgemäß von einigen Autoren9 der methodologischen Kategorie der systematischen Auslegung, als „der Auslegung (…) der Norm (…) aus ihrem Zusammenhang“10, zugerechnet. Andere Autoren konstatieren demgegenüber im deutschen verfassungsrechtlichen Schrifttum eine Tendenz, die Eigenständigkeit der „verfassungskonformen“ Auslegung im Rahmen des Auslegungskanons stärker zu betonen.11 Inhalt, Aufgabe und Kategorisierung der „verfassungskonformen“ Auslegung sind aber im Übrigen im Großen und Ganzen in der Literatur unstreitig, wenn auch immer wieder über die zu extensive Anwendung dieser Auslegungsmethode durch das Bundesverfassungsgericht geklagt und dem Gericht vorgeworfen wird, es betreibe „Verfassungspolitik“ und überschreite die vom Grundgesetz gesetzten Grenzen, vor allem im Hinblick auf den Gewaltenteilungsgrundsatz.12 Hinsichtlich der dogmatischen Verankerung existieren unterschiedliche literarische Strömungen. Die „verfassungskonforme“ Auslegung soll sich entweder aus dem Prinzip der Einheit der Rechtsordnung erklären, auf der Vermutung zugunsten der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes beruhen oder als Ausfluss des Grundsatzes der Normerhaltung – favor legis – zu betrachten sein, nach dem Normen so weit wie möglich aufrechterhalten werden müssen und nicht für nichtig erklärt werden dürfen.13
7
Skouris (Fußn. 4), S. 96; Bettermann, Die verfassungskonforme Auslegung, 1986, S. 18: „Die Denkfigur der verfassungskonformen Auslegung prüft, ob die Vorschrift in dieser oder in jener Auslegung mit der Verfassung vereinbar ist, und verwirft die unvereinbare(n) Auslegung (en). Sie prüft die mehreren Auslegungsergebnisse auf ihre Verträglichkeit mit der Verfassung.“ Zur Frage, ob die Auslegung einer Norm noch zur Norm selbst mitzurechnen ist und es sich demnach bei der verfassungskonformen Auslegung in der Sache um eine teilweise Nichtigerklärung ohne Normtextreduzierung handelt, vgl. Voßkuhle, AöR 125 (2000), 177 (182 f.) m. w. N. 8 Canaris, FS Ernst A. Kramer, 2004, S. 141 (153). 9 Skouris (Fußn. 4), S. 115: „(…) Teil systematischer Hermeneutik.“; vgl. zudem Voßkuhle, AöR 125 (2000), 177 (181) m. w. N. 10 BVerfGE 11, 126 (130); vgl. hierzu auch Weyreuther, DÖV 1982, 173 (178): „Zusammenhang in diesem Sinne umfasst die Beziehung der Rechtssätze zueinander.“. 11 Canaris, FS Ernst A. Kramer, 2004, S. 141 (142); von Arnim/Brink, Methodik der Rechtsbildung unter dem Grundgesetz, 2001, S. 239. 12 Näher hierzu Wendt, in: Europäische Integration und Globalisierung, FS zum 60-jährigen Bestehen des Europa-Instituts, hrsg. von W. Meng/G. Ress/T. Stein, 2011, S. 625 (626). 13 Vgl. hierzu Voßkuhle, AöR 125 (2000), 177 (182 f.) m. w. N.; Wendt, in: Europäische Integration und Globalisierung, FS zum 60-jährigen Bestehen des Europa-Instituts, hrsg. von W. Meng/G. Ress/T. Stein, 2011, S. 625 (628).
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IV. Die „verfassungsorientierte“ Auslegung von Gesetzen Im Gegensatz dazu ergibt sich bei Durchsicht der einschlägigen Literatur zur „verfassungsorientierten“ Auslegung ein doch sehr uneinheitliches Bild. Oft oder sogar meist findet diese Auslegungsmethode überhaupt keine Erwähnung. Von einigen Autoren wird sie mit Nachdruck von der „verfassungskonformen“ Auslegung abgegrenzt,14 von wiederum anderen Autoren als deren eigentlicher Oberbegriff verstanden.15 Die in der rechtswissenschaftlichen Literatur anzutreffende Ausgangslage macht eine Umschreibung und Einordnung der „verfassungsorientierten“ Auslegung somit nicht gerade zu einem leichten Unterfangen. Daher ist ein genauerer Blick notwendig. Stern16 geht davon aus, dass die „verfassungsorientierte“ Auslegung aus der Bedeutung der Verfassung für die gesamte Rechtsordnung resultiere und daher jedem (!) rechtsanwendenden Organ, das Recht anwende, aufgegeben sei; dagegen sei die „verfassungskonforme“ Auslegung ein spezifisches Instrument allein der Verfassungsgerichte im Normüberprüfungsverfahren. Nach ihm liegt also das eigentliche Unterscheidungskriterium zwischen der „verfassungsorientierten“ und der „verfassungskonformen“ Auslegung im Adressaten der Auslegungsverpflichtung – dem Gesetzesanwender – begründet. Im Anschluss an Stern sieht Wesser im Ergebnis die verfassungsorientierte Auslegung – ohne dass sie jedoch den Terminus selbst gebrauchen würde – als die Selbstverständlichkeit an, dass jede Norm des einfachen Rechts im Einklang mit den Wertentscheidungen der Verfassung auszulegen sei. Mit der „verfassungskonformen“ Auslegung ist dagegen auch nach ihrer Auffassung ein besonderer Typus von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts gemeint, in denen das Gericht selbst einem Gesetz eine bestimmte Auslegung gebe, um dadurch die Nichtigkeit des betreffenden Gesetzes zu vermeiden.17 In diesem Sinn bezeichnet Simon die „verfassungskonforme“ Auslegung als akzessorisches Element des Normenkontrollverfahrens.18 Dem kann aus hiesiger Sicht allerdings nicht gefolgt werden. Es ist nicht recht einzusehen, warum man den Begriff der „verfassungskonformen“ Auslegung exklusiv für die Normüberprüfung durch die Verfassungsgerichte reservieren sollte. Die Interpretationsverfahren, mittels derer Wertentscheidungen der Verfassung im einfa14
Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 8. Aufl. 2010, Rn. 448; Krauß, Der Umfang der Prüfung von Zivilurteilen durch das Bundesverfassungsgericht, 1987, S. 183; Dreier, Verw. 36 (2003), 105 (111 f.); Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, 2011, § 31 Rn. 262; Bumke, Verw. 45 (2012), 81 (85 ff.). 15 Lüdemann, JuS 2004, 27 (28); Bettermann (Fußn. 7), S. 20; Voßkuhle, AöR 2000 (125), 177 (180); Bumke/Voßkuhle, Casebook Verfassungsrecht, 2008, S. 41; Lembke, Einheit aus Erkenntnis?, 2009, S. 247, spricht in diametralem Gegensatz hierzu von der verfassungsorientierten Auslegung als Unterfall der verfassungskonformen Auslegung. 16 Stern, Das Staatsrecht der BRD, Band I, 2. Aufl. 1984, S. 136. 17 Wesser, NJW 2001, 475 (477), dort in Fußn. 18 expliziter Rekurs auf Stern (Fußn. 16), S. 136. 18 Simon, EuGRZ 1974, 85 (87).
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chen Recht zur Geltung gebracht werden, mögen unterschiedlich bezeichnet werden, soweit sachliche Differenzierungen zwischen ihnen ausgemacht werden können. Unterscheidungen der Interpretationsverfahren nach der Person oder Institution, die die Interpretation vornimmt, führen in der Sache zu keinem Erkenntnisgewinn. Vielleicht auch deshalb findet sich in der Literatur auch ein andersgearteter Umgang mit den hier in Rede stehenden Begrifflichkeiten.19 Es wird folgende Unterscheidung getroffen: Während die „verfassungskonforme“ Auslegung es verbiete, einer Norm im Wege der Auslegung einen Inhalt zu geben, der nicht mit der Verfassung vereinbar sei, bestehe das Wesen der „verfassungsorientierten“ Auslegung darin, den Richter oder sonstigen Gesetzesinterpreten zu der Prüfung zu veranlassen, welche von mehreren nach den allgemeinen Regeln mögliche Auslegungen, die sämtlich, als Norm mit ausdrücklichem entsprechenden Inhalt gedacht, mit der Verfassung vereinbar seien, der Verfassung näher kämen.20 Nach dieser Ansicht ist das Ergebnis der Auslegung nach den üblichen Methoden – also der grammatischen, historischen, systematischen und teleologischen Auslegung – der eigentliche Anknüpfungspunkt der Unterscheidung. Voraussetzung für die Anwendung der „verfassungsorientierten“ Auslegung ist, dass alle (!) nach diesen Methoden gebildeten Auslegungsvarianten der Norm mit der Verfassung vereinbar sind. Ist das zunächst nicht für alle nach diesen Methoden ermittelten möglichen Auslegungsvarianten der Norm der Fall, werden diese nicht mit der Verfassung vereinbaren Auslegungsvarianten im Wege der „verfassungskonformen“ Auslegung vorab ausgeschieden. Die verbleibenden verfassungskonformen Auslegungsvarianten der Norm werden sodann daraufhin überprüft, welche von ihnen der Verfassung am nächsten ist. Eine Stellungnahme, die in die Richtung dieses Modells weist, ist z. B. diejenige von Manssen, der erklärt: „Auch bei mehreren verfassungsmäßigen Varianten ist diejenige Interpretation zu wählen, die den Schutzauftrag des Grundrechts am weitestgehenden erfüllt.“21 Es wird auch darauf hingewiesen, dass die „verfassungsorientierte“ Auslegung im letztgenannten Sinne gewisse Parallelen zum europarechtlichen effet utile aufweise, also zu dem Gebot, bei der Auslegung mitgliedstaatlicher Gesetze die Regelungsziele einer europarechtlichen Norm bestmöglich zur Geltung zu bringen.22
19
Lüdemann, JuS 2004, 27 (28 f.); Seetzen, NJW 1997, 1997 (1998); Krauß (Fußn. 14), S. 183: „Das Unterlassen einer verfassungsorientierten Auslegung führt (…) zu einem Obersatz, der mit der Verfassung (noch) vereinbar ist, ihr (nur) ferner steht als andere Auslegungsvarianten. Als Rüge des Unterlassens einer verfassungsorientierten Auslegung sind daher die Entscheidungen des BVerfG zu werten, die eine Auslegung für verfassungswidrig erklären, obwohl gegen entsprechende gesetzliche Regelungen keine Bedenken bestünden.“; Manssen, Staatsrecht II, Grundrechte, 2012, Rn. 63. 20 Pieroth/Schlink, Grundrechte Staatsrecht II, 27. Aufl. 2011, Rn. 103, sehen es inhaltlich zwar genauso, bezeichnen dies aber als „verfassungskonforme“ Auslegung. 21 Manssen (Fußn. 19), Rn. 63. 22 Armbrüster, NJW 2007, 1494 (1496).
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Es fällt mithin bei der Durchsicht der Stimmen in der Literatur auf, dass in Abgrenzung zur „verfassungskonformen“ Auslegung unter der „verfassungsorientierten“ Auslegung sachlich grundlegend Unterschiedliches verstanden wird. Es trifft daher nicht zu, wenn Canaris von einer „nur wenig anderen“ Akzentsetzung der Auffassungen spricht.23 Um dem ganzen Verwirrspiel noch die Krone aufzusetzen, wird die „verfassungsorientierte“ Auslegung darüber hinaus auch als Synonym zur „verfassungsfreundlichen“ Auslegung gebraucht,24 oder aber man stellt gar einer „verfassungskonformen“ Auslegung im engeren Sinne – womit dann üblicherweise der Normalfall der „verfassungskonformen“ Auslegung gemeint ist – eine „verfassungskonforme“ Auslegung im weiteren Sinne gegenüber, die dann zum angeblichen Zweck der „Verdeutlichung“25 (!) als „verfassungsorientierte“ Auslegung bezeichnet wird. Der interessierte Beobachter der Szene gewinnt bei alledem den nachhaltigen Eindruck, dass absolute Uneinheitlichkeit in der Terminologie und in der Sache selbst herrscht.26 Auffällig ist, dass sich dieser unbefriedigende Zustand auf den ersten Blick auf den literarischen Binnenbereich zu beschränken scheint. Denn das Bundesverfassungsgericht gebraucht zwar fortwährend die Begrifflichkeit der „verfassungskonformen“ Auslegung, nicht aber diejenige der „verfassungsorientierten“ Auslegung.27 Die Beobachtung, dass das Bundesverfassungsgericht den Terminus nicht explizit verwendet, sollte man allerdings nicht überbewerten. Denn die gebotene Verfassungsorientierung jedweder Gesetzesauslegung ist „in der umfänglichen Judikatur (des Bundesverfassungsgerichts) unter den Stichworten „Ausstrahlungswirkung“, „Wertordnung“, „Verfassungsmäßigkeit der Auslegung“ und neuerdings „interpretationsleitende“ Berücksichtigung u. a. präsent [!]“.28 Gleichwohl könnte man den Schluss ziehen, dass die von Teilen der Literatur vorgenommene Unterscheidung zwischen den Begriffen der „verfassungskonformen“ und der „verfassungsorientierten“ Auslegung überflüssig sei, da die Literatur hiermit nicht etwa eine problematische uneinheitliche Handhabung durch das oberste Gericht systematisiere oder vereinfache – was ja vielfach der eigentliche Sinn der Bildung von terminologischen Kategorien ist –, sondern im Gegenteil selbst durch uneinheitlichen Gebrauch nur Verwirrung stifte. 23
Canaris, FS Ernst A. Kramer, 2004, S. 141 (143). Lüdemann, JuS 2004, 27 (28). 25 Wank, JuS 1980, 545 (548). 26 Bezeichnend: Bumke/Voßkuhle (Fußn. 15), S. 41 f., die im Rahmen der „verfassungsorientierten“ Auslegung die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Ehegattennachzug vom 12. Mai 1987 [BVerfGE 76, 1 (49 f.)] anführen, in der das Bundesverfassungsgericht eine bestimmte Auslegung des § 2 Abs. 1 S. 2 Ausländergesetz (a.F.) als mit Art. 6 Abs. 1 GG unvereinbar (!) ansah, sodann allerdings im Rahmen der „verfassungskonformen“ Auslegung ausführen, dass sich die Notwendigkeit einer ebensolchen Auslegung gerade dann stelle, wenn ein Gesetz in verschiedener Weise ausgelegt werden könne, aber nicht alle Auslegungsvarianten mit der Verfassung vereinbar seien. 27 Schlaich/Korioth (Fußn. 14), Rn. 448; vgl. die Nachweise bei Krauß (Fußn. 14), S. 179, dort Fußn. 11. 28 Dreier, Verw. 36 (2003), 105 (111 f.), dort Fußn. 43. 24
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Darüber hinaus kann man zu Recht sagen, dass es doch selbstverständlich ist, dass eine an der Verfassung „orientierte“ Auslegung im Ergebnis zu einem mit der Verfassung „konformen“ Ergebnis führt und umgekehrt eine „verfassungskonforme“ Auslegung zwingend auch „verfassungsorientiert“ sein muss.29 Wer gerade diese letztere Einsicht in den Vordergrund stellt, mag weiter argumentieren, dass es unverständlich sei,30 wenn trotz des Umstandes, dass die Begriffe der „verfassungskonformen“ und der „verfassungsorientierten“ Auslegung als solche keine Trennschärfe im Verhältnis zueinander aufwiesen und jeweils umgekehrt verwendet werden könnten,31 von nicht wenigen Autoren doch an der unterschiedlichen Kategorisierung festgehalten werde. Dementsprechend wird denn auch gefordert, auf den Terminus der „verfassungsorientierten“ Auslegung zu verzichten, da insoweit kein Auslegungsmodus erkennbar sei, der einen eigenen Begriff verdiene.32 Es könne auch nicht sein, dass die „verfassungsorientierte“Auslegung allein zu dem Zweck verwendet werde, eine Abgrenzung gegenüber der „verfassungskonformen“ Auslegung zu markieren und eine etwaige Vorrangstellung derselben innerhalb der üblichen anerkannten Auslegungsmodi – der grammatischen, historischen, systematischen, teleologischen Auslegung – zu dokumentieren.33 Die Verfolgung dieses Ziels gehe, sagt man, insgesamt unverhältnismäßig zu Lasten terminologischer Übersichtlichkeit und Einheitlichkeit in einem der unstrittig wichtigsten und meist diskutierten Bereiche der Jurisprudenz. Man solle daher einheitlich nur von „verfassungskonformer“ Auslegung sprechen.34 Für ein solch übergreifendes Verständnis des Instituts der „verfassungskonformen“ Auslegung wird denn auch geworben, wenn erklärt wird: „Verfassungskonforme Auslegung (…) ist jede auf judizielle Vermittlung von Verfassung und gesetzli-
29
Canaris, FS Ernst A. Kramer, 2004, S. 141 (143). Krauß (Fußn. 14), S. 183, der den materiell-rechtlichen Grund für die Unterscheidung von „verfassungskonformer“ und „verfassungsorientierter“ Auslegung in dem Umstand suchen will, dass ein Gericht nach der Wechselwirkungstheorie ein Gesetz, das ein Grundrecht einschränke, aus der Erkenntnis der wertsetzenden Bedeutung dieses Grundrechts selbst wiederum einschränken müsse und somit weniger einschränken dürfe als der Gesetzgeber. 31 Simon, EuGRZ 1974, 85 (86), formuliert denn auch, obgleich er eine saubere Trennung von „verfassungsorientierter“ und „verfassungskonformer“ Auslegung fordert: „Die Unterscheidung zwischen verfassungsorientierter Auslegung (…) und (…) verfassungskonformer Auslegung (…) dürfte allerdings heuristischer Natur sein. Im Verfahren (…) gehen beide Arten oft ineinander über. Rechtsdogmatische Unterschiede lassen sich nicht feststellen.“; ähnlich Schlaich/Korioth (Fußn. 13), Rn. 448. 32 Canaris, FS Ernst A. Kramer, 2004, S. 141 (154); Lembke (Fußn. 15), S. 248: „Es darf (…) gefragt werden, welchen Sinn die Etablierung einer verfassungsorientierten Auslegung als Methode oder Institut haben soll“. 33 So wohl Canaris, FS Ernst A. Kramer, 2004, S. 141 (143 ff.). 34 Göldner, Verfassungsprinzip und Privatrechtsnorm in der verfassungskonformen Auslegung und Rechtsfortbildung, 1969, S. 47. 30
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cher Rechtsordnung gerichtete Interpretation, gleichviel, ob sie der Konservierung einer verfassungsrechtlich zweifelhaften Norm dient oder nicht.“35 Diese Kritik überzeugt nicht. Das Institut der „verfassungskonformen“ Auslegung sollte auf das Verwerfen von per se nicht mit der Verfassung zu vereinbarenden Auslegungsvarianten einer Norm und das Herausfiltern von an sich mit der Verfassung zu vereinbarenden Auslegungsvarianten beschränkt werden. Hat man es nach der Anwendung dieses Verfahrens nur noch mit „verfassungskonformen“ Auslegungsvarianten einer Norm zu tun oder gibt es von vornherein nur „verfassungskonforme“ Auslegungsvarianten, so hat man im Rahmen der „verfassungsorientierten“ Auslegung – nur noch – danach zu fragen, welche dieser Auslegungsvarianten der Verfassung am nächsten ist, und diese Auslegungsvariante vorzuziehen. Eine sachliche Trennung zwischen beiden interpretatorischen Vorgehensweisen ist möglich und auch sinnvoll. Der Rahmen, innerhalb dessen man sich jeweils bewegt, ist nämlich ein unterschiedlicher. Das im Rahmen der „verfassungskonformen“ Auslegung im befürworteten Sinne verworfene Verständnis der Norm könnte nicht einmal vom Gesetzgeber zum Norminhalt gemacht werden, selbst wenn dieser sich ausdrücklich zu diesem Inhalt zu bekennen versuchte. Dagegen werden ja bei der „verfassungsorientierten“ Auslegung bestimmte Normverständnisse deswegen ausgeschieden, weil im Vergleich zu ihnen ein verfassungsnäheres Normverständnis möglich und geboten ist; die verworfenen Norminhalte könnten aber durchaus möglicher Gegenstand einer gesetzlichen Regelung sein, wenn der Gesetzgeber dies wollte und sich ausdrücklich und unmissverständlich zu ihnen bekenne. Das Problem der mangelnden begrifflichen Abgrenzungsschärfe von „verfassungskonformer“ und „verfassungsorientierter“ Auslegung ist damit noch nicht gelöst. Es lässt sich aber lösen, indem man den beiden Auslegungsmethoden per Definition den genannten Inhalt gibt. Die Schwierigkeit, hinreichend abgrenzungsscharfe Begriffe für unterschiedliche Phänomene zu finden, kann nicht dazu führen, dass man auf die sachlich gebotene Distinktion verzichtet und die Phänomene in eins setzt. Zur Illustration des gefundenen Ergebnisses mögen drei Beispiele dienen, für die in der Literatur ausdrücklich eine „verfassungsorientierte“ Auslegung des einfachen Rechts gefordert wird.36
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Göldner (Fußn. 34), S. 47; dem folgen wohl auch Pieroth/Schlink (Fußn. 20), Rn. 103. Die nachfolgend genannten Beispiele beruhen auf der in der Literatur vertretenen und auch vorliegend befürworteten Auffassung, dass das Ergebnis der Auslegung nach den üblichen Methoden – der grammatischen, historischen, systematischen und teleologischen Auslegung – der eigentliche Anknüpfungspunkt der Unterscheidung zwischen der „verfassungskonformen“ und der „verfassungsorientierten“ Auslegung ist, vgl. oben IV. 36
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V. Beispiele 1. Zivilrecht37 Die Normierung des so genannten Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG)38 vom 18. August 2006 hat eine wichtige Frage offen gelassen, die schon während des gesetzlichen Entstehungsprozesses Gegenstand heftigster Diskussionen im Bundestag und in der Wissenschaft war. Nämlich die Frage: Kann eine Person, der wegen eines der durch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz geschützten Merkmale – Rasse/ethnische Herkunft, Geschlecht usw. – der Abschluss eines Vertrages verweigert wurde, den Vertragsabschluss gerichtlich erzwingen, d. h. besteht ein Kontrahierungszwang? Während der einfache Gesetzgeber im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz diese konkrete Fragestellung für das arbeitsrechtliche Benachteiligungsverbot expressis verbis verneint hat (vgl. § 15 Abs. 6 AGG), wurde dies für das allgemein-zivilrechtliche Benachteiligungsverbot (§ 19 AGG), das ebenfalls in diesem Gesetz enthalten ist, gerade nicht eigens geregelt. In der Literatur besteht nun weitestgehend Einigkeit dahingehend, dass es die Frage eines Kontrahierungszwanges durch Auslegung der Regelung des § 21 Abs. 1 S. 1 AGG zu beantworten gilt. Diese Norm gewährt bei einem Verstoß gegen das Benachteiligungsverbot dem Benachteiligten einen Anspruch auf Beseitigung der Beeinträchtigung, also einen Beseitigungsanspruch.39 Um die Auslegung dieser Vorschrift rankt sich nun der eigentliche literarische Diskurs. Bei Durchsicht der in der zivilrechtlichen Literatur für und gegen einen Kontrahierungszwang vorgetragenen Argumente lässt sich im Hinblick auf die hier interessierende Frage feststellen – ohne dass darauf im Detail eingegangen werden müsste –, dass mit Blick auf Grammatik, Systematik, Telos und Gesetzesgeschichte sowohl für als auch gegen einen Kontrahierungszwang quantitativ und qualitativ einiges vorgebracht werden kann; hinsichtlich der vertretbaren Auslegungsmöglichkeiten kommt es damit zu einem „non liquet“.40 Da aber – jedenfalls nach (Teilen) der Literatur – keine der nach den üblichen Auslegungsregeln möglichen und denkbaren Auslegungsvarianten von § 21 Abs. 1 S. 1 AGG dem Verdikt der Verfassungswidrigkeit unterliegt, bedarf es auf dem Boden der vorliegend zugrunde gelegten Unterscheidung gerade keiner „verfassungskonformen“, sondern – wenn man so will – lediglich41 einer „verfassungsorientierten“ Auslegung des § 21 Abs. 1 S. 1 AGG. Nimmt man diese vor, hat man zu berücksichtigen, dass sich bei der Frage nach dem Kontrahierungszwang die negative Abschlussfreiheit des Anbieters von Waren 37
Hierzu umfassend: Armbrüster, NJW 2007, 1494 ff. In der Fassung der Bekanntmachung vom 14. August 2006 (BGBl. I S. 1897), zuletzt geändert durch Gesetz vom 5. Februar 2009 (BGBl. I S. 160). 39 Armbrüster, NJW 2007, 1494 (1495) m. w. N. 40 Armbrüster, NJW 2007, 1494 (1495). 41 Das „weichere Konzept“, Dreier, Verw. 36 (2003), 105 (112). 38
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und Dienstleistungen und die positive Abschlussfreiheit der von der Ungleichbehandlung Betroffenen gegenüberstehen. Beide Seiten, der Anbieter und der Nachfragende, fallen also unter den Schutz der allgemeinen Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG. Damit ist klar, dass § 21 Abs. 1 S. 1 AGG hinsichtlich der konkreten Frage nach einem etwaigen Kontrahierungszwang im Lichte der allgemeinen Handlungsfreiheit auszulegen ist. Auf der verfassungsrechtlichen Grundlage der allgemeinen Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG gelangt die Literatur sodann mittels des Topos der praktischen Konkordanz mit einigem argumentativen Aufwand dazu, dass der negativen Abschlussfreiheit des Anbieters von Waren und Dienstleistungen der Vorzug gebühre. Das auf der einfachgesetzlichen Auslegungsebene bestehende „non liquet“ wird von der Literatur folglich im Wege einer „verfassungsorientierten“ Auslegung, genauer: einer auf Art. 2 Abs. 1 GG ausgerichteten und damit „grundrechtsorientierten“ Auslegung, dahingehend aufgelöst, dass ein Kontrahierungszwang auszuscheiden hat. Dieses konkrete Ergebnis ist damit – um im Bild zu bleiben – „näher an der Verfassung“42, sprich: näher am Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG. Die Auslegungsvariante des § 21 Abs. 1 S. 1 AGG, nach der vom Nachfragenden kein Vertragsschluss gerichtlich erzwungen werden kann, erfüllt nach Ansicht der Literatur den Schutzauftrag des Art. 2 Abs. 1 GG am weitestgehenden. 2. Strafrecht43 Nach § 29 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 des Betäubungsmittelgesetzes (BtMG)44 wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, „wer Betäubungsmittel unerlaubt anbaut, herstellt, mit ihnen Handel treibt, sie, ohne Handel zu treiben, einführt, ausführt, veräußert, abgibt, sonst in den Verkehr bringt, erwirbt oder sich in sonstiger Weise verschafft“. Im Mittelpunkt des strafrechtswissenschaftlichen Diskurses stand diesbezüglich stets die Frage, wie das hier und später immer wieder im Gesetz (vgl. §§ 29a, 30, 30a BtMG) auftauchende Tatbestandsmerkmal des „Handeltreibens“ auszulegen ist. Nach überkommener Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs fällt unter diesen Begriff jede eigennützige auf Umsatz gerichtete Tätigkeit, wobei es rechtlich unerheblich sein soll, ob es zu eigenen Umsatzgeschäften oder auch nur zur Anbahnung bestimmter Geschäfte gekommen ist.45 Diese weite Auslegung des Tatbestandsmerkmals „Handeltreiben“ führt nun dazu, dass als Handeltreiben auch solche Handlun42
Krauß (Fn. 14), S. 183. Zum Folgenden umfassend von Heintschel-Heinegg, in: BeckOK StGB, § 1 Rn 21; BGH, NStZ 2004, 105 ff.; Kuhlen, Die verfassungskonforme Auslegung von Strafgesetzen, 2006, S. 2 ff. [„Ein instruktives Beispiel verfassungsorientierter Auslegung (…)“]. 44 In der Fassung der Bekanntmachung vom 1. März 1994 (BGBl. I S. 358), zuletzt geändert durch Gesetz vom 22. Dezember 2010 (BGBl. I S. 2262). 45 Ständige Rechtsprechung, vgl. BGHSt 29, 239 f.; 30, 359 (361). 43
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gen abgeurteilt werden können, die weit im Vorfeld der eigentlichen Umsatzgeschäfte liegen, diese nur als Hilfstätigkeiten begleiten oder ihnen im Rahmen des Geldflusses nachfolgen. Daher ist es nicht verwunderlich, dass diese Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs – die das Ergebnis einer langen Entwicklung ist – heftiger Kritik vor allem in der Literatur ausgesetzt ist.46 Vor allem werden Bedenken unter dem Blickwinkel des Art. 103 Abs. 2 GG vorgebracht, der den Gesetzgeber seinem unmittelbaren Regelungsinhalt nach verpflichtet, die Voraussetzungen der Strafbarkeit so konkret zu umschreiben, dass Anwendungsbereich und Tragweite der Straftatbestände sich aus dem Wortlaut ergeben oder jedenfalls durch Auslegung ermitteln lassen. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts47 will Art. 103 Abs. 2 GG neben der Bindung der Rechtsprechung an die Gesetze vor allem auch sicherstellen, dass die Normadressaten vorhersehen können, welches Verhalten verboten und mit Strafe bedroht ist. Nach Auffassung in der Literatur wird die geschilderte Definition des „Handeltreibens“ den Anforderungen des Art. 103 Abs. 2 GG nur unzureichend gerecht. Wollte man, wird moniert, tatsächlich jede eigennützige auf Umsatz gerichtete Tätigkeit als „Handeltreiben“ auffassen, würden vom eigentlichen Rauschgiftgeschäft ganz entfernte Aktivitäten ein vollendetes „Handeltreiben“ darstellen – wie etwa die Beschaffung eines Mobiltelefons, eines Transportfahrzeuges oder gar nur von Verpackungsmaterial und ähnliches. Da aber, soweit ersichtlich, trotz aller unter dem Blickwinkel des Art. 103 Abs. 2 GG geäußerten Kritik die Auslegung des Merkmals „Handeltreiben“ durch den Bundesgerichtshof nicht dem Verdikt der Verfassungswidrigkeit unterworfen wird, geht es nach Ansicht der Literatur gerade nicht um die Notwendigkeit einer „verfassungskonformen“ Auslegung des Tatbestandsmerkmals, sondern allein um eine „verfassungsorientierte“ Auslegung – bei der es gerade geboten ist, sich zwischen mehreren an sich verfassungsgemäßen Auslegungsvarianten für diejenige zu entscheiden, die die verfassungsrechtlichen Vorgaben am meisten berücksichtigt48, hier eben die Vorgaben des Art. 103 Abs. 2 GG. Vorgeschlagen wird daher u. a. folgende Definition: Mit Betäubungsmitteln treibt Handel, wer diese eigennützig und in der Absicht, ihren Umsatz zu ermöglichen oder zu fördern, ankauft, erwirbt, sich in sonstiger Weise verschafft, einführt, ausführt, feilhält, Bestellungen entgegennimmt oder aufsucht, veräußert, anderen überlässt, sonst in den Verkehr bringt oder den Erwerb, den Vertrieb oder das Überlassen ver46
Vgl. nur Krack, JuS 1995, 585 (586); Roxin, StV 1992, 517 (518). E 92, 1 (12). 48 von Heintschel-Heinegg, in: BeckOK, StGB § 1 Rn. 21; Kuhlen (Fußn. 43), S. 3 f. [„So wird in dem erörterten Beschluss die Frage, ob die dort verworfene weite Auslegung verfassungsgemäß oder verfassungswidrig ist, offen gelassen. Das wird hier als Fall der verfassungsorientierten Auslegung begriffen, weil die negative Komponente der verfassungskonformen Auslegung, also die Verwerfung einer bestimmten Verständnisvariante als verfassungswidrig, fehlt.“]. 47
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mittelt. Diese Auslegung des Tatbestandsmerkmals „Handeltreiben“, findet die Literatur, sei „näher an der Verfassung“. 3. Öffentliches Recht49 Nach § 11 Abs. 1 S. 1 der Allgemeine Schulordnung Nordrhein-Westfalens (ASchO NRW50) kann eine Schülerin oder ein Schüler nur in besonderen Ausnahmefällen und in der Regel zeitlich begrenzt auf Antrag der Erziehungsberechtigten vom Unterricht in einzelnen Fächern oder von einzelnen Schulveranstaltungen befreit werden. Einen ebensolchen Antrag hatte der Vater einer zwölfjährigen Klägerin türkischer Staatsangehörigkeit gestellt, um seine Tochter aus Gründen ihres islamischen Glaubens vom koedukativ erteilten Sportunterricht befreien zu lassen. Dieser Antrag wurde vom Beklagten jedoch – in der Folge bestätigt durch die Instanzgerichte – u. a. mit der (von den Instanzgerichten ausgeführten) Begründung abgelehnt, dass ein „besonderer Ausnahmefall“, der eine Befreiung nach § 11 Abs. 1 S. 1 ASchO NRW rechtfertige, gerade nicht vorliege. Bei der Klägerin habe vielmehr das Recht der Glaubens- und Religionsfreiheit gemäß Art. 4 Abs.1 und 2 GG hinter dem in Art. 7 Abs. 1 GG normierten staatlichen Bildungsauftrag zurückzutreten. Das Bundesverwaltungsgericht, zu dem die Sache schlussendlich ging, bemängelte die Auflösung des Spannungsverhältnisses im Wege der „praktischen Konkordanz“ durch die Instanzgerichte und entschied die Sache genau entgegengesetzt. Nach den Feststellungen des Bundesverwaltungsgerichts war nämlich im konkreten Fall das Spannungsverhältnis dahingehend aufzulösen, dass Art. 4 Abs. 1 und 2 GG Vorrang vor Art. 7 Abs. 1 GG zukomme. Damit konnte das Gericht einen „besonderen Ausnahmefall“ im Sinne des § 11 Abs. 1 S. 1 ASchO NRW annehmen und der Klägerin einen Befreiungsanspruch nach dieser Vorschrift zuerkennen.51 Die dahingehende Auslegung müsste mithin vom Standpunkt derjenigen aus, die hier einen 49 BVerwGE 94, 82. – Die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts wird von Schlaich / Korioth (Fußn. 14), Rn. 448, und von Dreier, Verw. 36 (2003), 105 (113), als Beispiel einer „verfassungsorientierten“ Auslegung angeführt. Der Entscheidungsbegründung des Bundesverwaltungsgerichts lässt sich indes nicht klar entnehmen, ob es die Auslegung der Instanzgerichte für verfassungswidrig (womit dann eigentlich eine „verfassungskonforme“ Auslegung vorläge) oder seine Auslegung des einfachen Rechts nur für „der Verfassung näher“ hielt. – Eine Gleichsetzung der Begrifflichkeiten „verfassungsorientierte“ und „verfassungskonforme“ Auslegung durch das Bundesverwaltungsgericht findet sich in der Entscheidung vom 22. Oktober 2008 – 8 C 1/08 – , BVerwG 132, 166, hier zitiert nach juris Rn. 46 f.: Der Aussage: „Der Senat kann allerdings auf der Grundlage einer verfassungskonformen Auslegung des § 7 Abs. 2 KWG LSA zwar grundsätzlich in der Sache selbst entscheiden (…)“ folgt die Feststellung: „Eine sachgerechte, am Bundesverfassungsrecht orientierte Auslegung des. § 7 Abs. 2 KWG LSA ergibt Folgendes (…)“; Hervorhebung hinzugefügt. 50 In der Fassung der Bekanntmachung vom 8. November 1978 (GV.NRW. S. 552), zuletzt geändert durch Verordnung vom 18. Mai 2002 in der ab 1. August 2002 geltenden Fassung (GV.NRW. S. 172). 51 BVerwGE 94, 82 (83 f.).
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Fall der „verfassungsorientierten“ Auslegung gegeben sehen, als „näher an der Verfassung“ liegend angesehen werden. Die dahingehende Auflösung dieses letzten Falles erscheint jedoch aus hiesiger Sicht mehr als zweifelhaft. Wenn Gerichte – wie im hiesigen Fall die Instanzgerichte – unter Verwendung der Maßstäbe der praktischen Konkordanz die Reichweite einer Grundrechtsgewährleistung verkennen,52 dann ist die entsprechende Auslegung verfassungswidrig. Und wenn das Bundesverwaltungsgericht als letzte Instanz diese Auslegung dann auch konsequenterweise verwirft und allein die entgegengesetzte Auslegung bestehen lässt, dann nimmt es eine „verfassungskonforme“ Auslegung vor. Man sieht, dass noch viel Aufklärungsarbeit zu leisten ist.
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So die Formulierung des Bundesverwaltungsgerichts, vgl. BVerwGE 94, 82 (83).
Probleme der Rechtsfortbildung Von Reinhold Zippelius, Erlangen I. Die Frage der Rechtsfortbildung liegt, wie das Problem des Rechts überhaupt, in dem Spannungsfeld zwischen einer soziologischen und einer normativen Betrachtung, von denen keine in ihrer Einseitigkeit verharren kann. Selbst die Reine Rechtslehre Kelsens konnte das Recht nicht rein in Begriffen des Sollens erfassen, sondern mußte in ihren Begriff von Recht dessen tatsächliche Wirksamkeit aufnehmen, weil nicht geleugnet werden kann, „daß eine Rechtsordnung als Ganzes, ebenso wie eine einzelne Rechtsnorm, ihre Geltung verliert, wenn sie aufhört, wirksam zu sein“; weil von einer geltenden Rechts- und Verfassungsordnung nur gesprochen werden kann, wenn ihre „Normen im Großen und Ganzen angewendet und befolgt werden.“1 Unangetastet bleibt dabei aber die Erkenntnis, daß die Legitimität (die Rechtfertigung und der Geltungsanspruch) solcher „wirksamen“ Normen nicht in dieser Wirksamkeit selbst gefunden, sondern nur normativ begründet werden kann. Geltende Rechtsvorschriften sind also wirksame Verhaltensnormen, Gebote, welche die hohe Chance haben, das vorgeschriebene Verhalten zu bewirken, „law in action“.2 Das Sein des Rechts, so hat es Binder formuliert, „besteht in seiner Geltung […,] darin […], daß es als Recht gewußt, beobachtet und angewendet wird.“3 Oder, wie Larenz sagte: „Es ist das in der Anwendung befindliche […] Ganze von Normen, Entscheidungsmaximen und als richtungweisend angesehenen Urteilen.“4 Ähnliche Gedanken fanden sich in der Integrationslehre, für welche die lebendige Rechts- und Verfassungsordnung des Staates vorhanden ist in den einzelnen Le1 Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. 1960, S. 216 (214). Die Wirksamkeit der Rechtsordnung als Ganzes und die Wirksamkeit der einzelnen Rechtsnorm sei Bedingung der Geltung (S. 218); diese Wirksamkeit sei als Bedingung der Geltung in der Grundnorm statuiert (S. 212). Die als transzendental-logische Voraussetzung angenommene Grundnorm (S. 196 ff.) erhält dadurch den Inhalt, daß man derjenigen Rechts- und Verfassungsordnung gehorchen soll, die im Großen und Ganzen angewendet und befolgt wird (vgl. S. 219). Wie man allerdings jeder einzelnen Rechtsordnung ihre eigene „transzendental-logische“ Grundnorm – gleichsam als transzendental-logischen „Hausgeist“ – zugestehen kann (S. 197, 213 f.), ist schwer nachvollziehbar. Der „reine“ transzendental-logische Geltungsgrund (eines Positivismus Kelsenscher Prägung) kann doch nur sein, daß man der je wirksamen Rechtsund Verfassungsordnung folgen solle. Das heißt, er kann nur eine allgemeine normlogische Legitimierung allen je wirksamen Rechts sein. 2 Zippelius, Rechtsphilosophie, 6. Aufl. 2011, § 4. 3 Binder, Grundlegung zur Rechtsphilosophie, 1935, S. 132 (136 f.). 4 Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 1960, S. 148.
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bensäußerungen, sofern sie Betätigungen eines geistigen Gesamtzusammenhanges sind, was nach Smends Worten ebenfalls auf eine Zusammenordnung von objektivem Sinngehalt und zeitlich realem Leben abzielt.5 II. Nicht nur die Rechtsgeltung hat „faktische“ Komponenten. Auch die Rechtsinhalte werden in hohem Maße durch die Wirklichkeit beeinflußt. Das zeigt sich nicht nur bei der Gesetzgebung, sondern auch bei der Rechtsfortbildung. Denn Rechtsanwendung ist keine nur vollziehende Aktualisierung exakt vorgegebener Rechtsnormen. Vielmehr nehmen verbreitete Gerechtigkeitsvorstellungen und andere Ideen, Interessen, politische, wirtschaftliche und andere gesellschaftliche Kräfte auch darauf Einfluß, wie Gesetze ausgelegt6 oder wie Gesetzeslücken ausgefüllt werden: 1. Wichtige Ansatzpunkte für die Rechtsfortbildung bietet bereits die Gesetzesauslegung. Diese wird auch durch gesellschaftliche Faktoren, insbesondere durch politische Bestrebungen beeinflußt. Zum Beispiel ist die föderative Struktur des Bundes weitgehend mitbestimmt durch die Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen zwischen Bund und Ländern: Der Bund und die Länder versuchen in der Regel, nicht nur ihre Gesetzgebungkompetenzen auszuweiten, sondern auch größtmöglichen Einfluss auf das Verfahren der Bundesgesetzgebung zu nehmen. So werden in dieser Verteilung Tendenzen zum Einheitsstaat oder aber zum föderalistischen Staat wirksam. Das Bestreben, die Gesetzgebungskompetenzen des Bundes auszudehnen, zeigt sich besonders in der konkurrierenden Gesetzgebung. Es findet seinen dogmatischen Ansatzpunkt vor allem in der Interpretation der Begriffe, die die Gesetzgebungsmaterien bezeichnen (z. B. die in Art. 74 GG enthaltenen Begriffe: bürgerliches Recht, gerichtliches Verfahren, öffentliche Fürsorge, Recht der Wirtschaft). An der Unschärfe dieser Begriffe können Auslegungen ansetzen, in die auch politische Konzeptionen und Kräfte Eingang finden. So hüllt sich der Kampf um die Verstärkung oder die Eindämmung zentralistischer Tendenzen nicht selten in das Gewand eines Streites um Auslegungen. Ein in der Sache bedeutungslos gewordenes, methodisch aber interessant gebliebenes Beispiel bot der Streit darüber, ob das Beschußgesetz zum Recht der Wirtschaft (Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG) gehöre und deshalb als Bundesrecht fortgelte (Art. 125 GG) oder ob es dem Recht der öffentlichen Sicherheit und Ordnung zuzurechnen und daher Landesrecht sei. Das Bundesverfassungsgericht (Art. 126 GG) 5 Smend, Staatsrechtliche Abhandlungen, 1955, S. 136 (138). Die Integration läßt sich also nicht auf eine durch wechselseitige Verständigung zustande kommende Verschränkung subjektiver Bewußtseinsprozesse verengen. Es handelt sich nicht nur um ein Einheitsgefüge von Erlebnissen (mißverständlich: S. 126). „Jeder geistige Austausch führt unvermeidlich in die Bereiche des zeitlosen Sinnes hinein, die er zugleich voraussetzt, und umgekehrt werden Sinn und Wert nur im geistigen Gemeinschaftsleben zur Sinn- und Wertwirklichkeit“ (S. 139). 6 Auch hier geht es also nicht um einen rein kognitiven Nachvollzug gesetzlicher Vorgaben.
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entschied sich für die erste Auffassung. Das Beschußgesetz zähle zum Recht der Wirtschaft; denn das Gebot, Schußwaffen auf ihre Haltbarkeit und insbesondere auf Fehler zu prüfen, bevor sie gewerbsmäßig feilgehalten oder anderen überlassen werden, diene vor allem der Gewerbeförderung; der gleichzeitig verfolgte Ordnungs- und Sicherheitszweck sei hier Annex des Rechts der Wirtschaft und sei diesem Sachbereich zuzurechnen, mit dem er in einem notwendigen Zusammenhang stehe.7 Mit gleichem Recht hätte man aber die Gegenmeinung vertreten können, daß die Waffenprüfung vor allem der Sicherheit wegen vorgeschrieben wurde, während die Gewerbeförderung allenfalls eine Nebenfolge sei. Die Lösung des Bundesverfassungsgerichts war also weder zwingend noch eindeutig berechenbar. Die Interpretation ließ die eine und die andere Lösung zu. So blieb dem Gericht ein Spielraum, die eine oder die andere zu wählen. Ein früheres Mitglied des Bundesverfassungsgerichts hat das so beschrieben:8 In allen Fällen, die ernstlich zweifelhaft seien, handle es sich gerade in der Verfassungsgerichtsbarkeit nicht nur um eine Konkretisierung des Rechts durch Auslegung, sondern um eine selbständigere, schöpferische Tätigkeit – wozu lediglich zu bemerken ist, daß das schöpferische Moment gerade in der Konkretisierung der abstrakten Norm liegt. Auch das gegenläufige Bestreben der Länder, ihren Einfluß auf das Gesetzgebungsverfahren zu stärken, kann sich über eine Gesetzesauslegung verwirklichen. So ging früher das Tauziehen um Kompetenzen auch darum, wie weit der Kreis zustimmungsbedürftiger Gesetze zu ziehen sei: Ob unter den Voraussetzungen des früheren Art. 84 Abs. 1 GG die Zustimmungsbedürftigkeit sich auf den einzelnen Gesetzesparagraphen beschränke, der diese Zustimmungsbedürftigkeit begründe, oder ob schon ein einziger zustimmungsbedürftiger Paragraph das ganze Bundesgesetz zustimmungsbedürftig mache. Dogmatisch ging es um die Frage, wie das in einem Nebensatz des Art 84 GG enthaltene Wort „Bundesgesetz“ auszulegen sei. In dieser Zweifelsfrage hat der Bundesrat mit Nachdruck die Auffassung vertreten, daß nicht nur die einzelne Norm, sondern das ganze Gesetz der Zustimmung bedürfe. Er hat diese Rechtsauffassung mit Billigung des Bundesverfassungsgerichts9 durchgesetzt und damit jahrelang einen bemerkenswerten Einfluß auf die Bundesgesetzgebung erlangt.
Solche Auseinandersetzungen um die Kompetenzen oberster Organe sind überhaupt ein ergiebiger Boden für die Fortbildung des Verfassungsrechts und für die Herausbildung ungeschriebenen Verfassungsrechts. Gerade hier ist nicht nur die Judikatur, sondern in starkem Maße auch die Verfassungspraxis an der Rechtsbildung und -fortbildung beteiligt: Hier bestimmen nicht zuletzt die Standfestigkeit und der Durchsetzungswille der beteiligten Organe die Richtung der Verfassungsentwicklung. Diese Feststellung gilt heute nicht zuletzt auch für das Europarecht; hier kann sich durch einen stillen Wandel des Rechts die Regelungsmacht von den Mitgliedstaaten hin zu den supranationalen Organisationen verschieben, wenn die Mitgliedstaaten es hinnehmen, daß diese Organisationen ihre Kompetenzen exten7
BVerfGE 8, 148. Drath, VVDStRL 9 (1952), S. 94. 9 BVerfGE 55, 319 mit weiteren Nachweisen. 8
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siv beanspruchen. Wollen die Mitgliedstaaten „Herren der Verträge“ bleiben, müssen sie also darauf achten, daß ihre Kompetenzen nicht durch solch stillen Wandel zu den supranationalen Organen abwandern.10 Die Beispiele, in denen die Rechtsfortbildung ihren Ansatzpunkt in der Interpretation der Gesetze fand oder findet, bestätigen, was bereits Philipp Heck festgestellt hatte: Die Unbestimmtheit gesetzlicher Begriffe erlaubt es nicht, für alle Anwendungsfälle genau bestimmte Ergebnisse zu liefern.11 Wo Gesetzesbegriffe mehrere Auslegungen offenlassen, kann dem Gesetz keine sichere Entscheidung entnommen werden. Wo das Gesetz es offenläßt, welche Ausdeutung die Rechtsanwendung zu wählen hat, steht diese fast ebenso vom Gesetz verlassen da, wie bei der Ausfüllung von Gesetzeslücken. Man hat daher nicht ganz zu Unrecht auch in den „schwimmenden Konturen“ der Rechtsbegriffe ein Lückenproblem gesehen.12 Kelsens Scharfsinn bewährte sich auch hier: „In der Anwendung des Rechtes durch ein Rechtsorgan verbindet sich die erkenntnismäßige Interpretation des anzuwendenden Rechtes mit einem Willensakt, in dem das rechtsanwendende Organ eine Wahl trifft zwischen den durch die erkenntnismäßige Interpretation aufgezeigten Möglichkeiten.“13
Selbstverständlich wäre das keine Rechtfertigung dafür, vor Ausschöpfung aller zu Gebote stehenden Mittel der Rechtserkenntnis den bequemen Weg der „Dezision“ zu gehen. Auch darf deren Spielraum nicht überschätzt werden. Das durch sie zu schließende Feld der Ungewißheit ist in die Interpretation eingefügt; dadurch sind durch das Gesetz Richtlinien und Grenzen vorgezeichnet.14 Aber die Konkretisierung des Maßstabs birgt eben doch Entscheidungen, die in der Gleichung Rechtsanwendung = Subsumtion keinen Platz finden.15 Das trifft sich übrigens mit der Beobachtung Hegels, daß in der „Zuspitzung des Allgemeinen […] zur Vereinzelung, d.i. zur unmittelbaren Anwendung“ nicht immer mit „einer aus dem Begriffe herkommenden Bestimmtheit“ entschieden werden kann. „Die Begriffsbestimmtheit gibt nur eine allgemeine Grenze, innerhalb deren […] eine […] zufällige und willkürliche (?) Entscheidung eintritt.“16 10
BVerfGE 123, 349 (353 f.). Heck, Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz, 1914, S. 46, 173. 12 Kantorowicz, Der Kampf um die Rechtswissenschaft, 1906, S. 15; Heck (Fußn. 11), S. 100, 161 f., 173 f.; Ehrlich, AcP 115 (1917), S. 338 ff., 362 f., 374. Zu den gleichwohl bestehenden Unterschieden s. Engisch, Einführung in das juristische Denken, 11. Aufl. 2010, bearbeitet von Würtenberger/Otto, S. 240 f. 13 Kelsen (Fußn. 2), S. 351. Mit Recht distanziert er sich von der einst weit verbreiteten „Fiktion […], daß eine Rechtsnorm stets nur eine, die ,richtige‘ Deutung zuläßt“ (S. 353); s. Zippelius, Juristische Methodenlehre, 11. Aufl. 2012, § 16 III a; und auch schon Bülow, Gesetz und Richteramt, 1885, S. 6, 29 f.; Rümelin, Werturteile und Willensentscheidungen im Civilrecht, 1891, S. 29, 46. 14 Wie Engisch (Fußn. 12), für die unbestimmten Begriffe bemerkt hat. 15 Engisch, Die Idee der Konkretisierung, 1953, S. 212 ff.; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl., 1991, S. 110, 367. 16 Hegel, Rechtsphilosophie, § 214. 11
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2. Oft geht die Rechtsbildung ihren Weg ohne enge interpretatorische Anknüpfung an geschriebenes Recht. So hat z. B. das Bundesverfassungsgericht aus dem „ungeschriebenen Verfassungsgrundsatz von der wechselseitigen Pflicht des Bundes und der Länder zu bundesfreundlichem Verhalten“ eine Reihe konkreter Rechtspflichten entwickelt,17 und zwar unter weitgehender Berücksichtigung der aktuellen politischen Erfordernisse und Kräfte. Andere Entscheidungen haben ihre Ausgangspunkte in solchen Normenkollisionen, die nicht durch Kollisionsnormen geregelt sind. Ergiebig sind die Grundrechtskollisionen. Wenn z. B. ein Mieter seine Meinung dadurch kundtut, daß er gegen den Willen des Hauseigentümers die Außenwand des Mietshauses für eine Wahlkampagne mit einem Wahlplakat18 oder für eine Prozession mit einem großen Heiligenbild schmückt, dann kollidiert sein Grundrecht auf freie Meinungsäußerung (im zweiten Fall auch seine Bekenntnisfreiheit) mit dem Eigentumsrecht des Hauseigentümers. Es sind Kollisionen, die das Gesetz nicht geregelt hat. Auch hier werden gesellschaftliche Faktoren (wie z. B. Gepflogenheiten und Brauchtum) in den Kollisionsentscheidungen berücksichtigt. Bei der Lösung solcher Fragen, die das Gesetz offengelassen hat,19 sind die rechtlichen Entscheidungen darauf angewiesen, mehr oder minder unscharfe Richtlinien im System und Geist des Gesetzes und, soweit es sich um Wertungen handelt, in mehrheitlich konsensfähigen Gerechtigkeitsvorstellungen20 zu finden, die in aller Regel einen Entscheidungsspielraum lassen. Kurz, auf Schritt und Tritt lassen die gesetzlichen Tatbestände Fragen offen, die sich mit Mitteln der Erkenntnis nicht eindeutig aus den Rechtsnormen beantworten lassen, immer wieder finden sich in den Gesetzen offene Auslegungsfragen und Lücken, und mit der Fülle der Gesetze wächst zudem die Summe der Kollisionsprobleme, die ihrerseits oft ungelöste Fragen aufgeben. 3. Der „reale“ Faktor des lebendigen Rechts ist aber nicht nur dort wirksam, wo die abstrakte Normenordnung Fragen offenläßt, wie bei der Auslegung und der Lückenausfüllung. Mitunter setzt sich die Wirklichkeit auch gegen eine eindeutige Gesetzesnorm durch. Auch diese Rechtsentwicklungen (die nicht unter den herkömmlichen, engen Begriff der Rechtsfortbildung fallen und die hier gleichfalls nur beschrieben und nicht bewertet werden sollen) sind, wenn sie sich gegen das bisherige Recht durchgesetzt haben, gegen eine nachfolgende juristische „Rüge“ recht gleichgültig. Man denkt bei der Verdrängung rechtlicher Normen durch die Wirklichkeit zunächst wohl an die Derogation. Bei ihr treten Rechtsnormen allein dadurch außer Kraft, daß sie nicht mehr angewandt werden. Ein berühmtes Beispiel ist das einstige 17
BVerfGE 12, 254 ff. s. BVerfGE 7, 234 ff. 19 Zippelius (Fußn. 13), § 11. 20 Zippelius (Fußn. 2), §§ 11 II 4, 20 III, 21. 18
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Recht des englischen Königs, Gesetzen die Zustimmung zu verweigern, das zum letztenmal im Jahre 1707 von der Königin Anna ausgeübt wurde und deshalb, wie man gesagt hat, heute „so tot ist wie die Königin Anna“. Neben diesen Fällen eines sanften Todes einer Norm stehen solche, in denen die Lebenswirklichkeit sich über die Rechtserkenntnis hinwegsetzt, nicht nur dort, wo eine Revolution die alte Verfassungsordnung hinwegfegt, sondern meist in sehr viel harmloserer und kaum sichtbarer Gestalt. So kann z. B. die Macht der politischen Notwendigkeit starke Gründe der Interpretation überwinden. Ein bekanntes Beispiel bot Art. 48 Abs. 2 Satz 1 der Weimarer Reichsverfassung. Nach dieser Vorschrift durfte der Reichspräsident die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötigen Maßnahmen treffen, wenn im Deutschen Reiche die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich gestört oder gefährdet wurde. Die Vorgeschichte der Bestimmung sprach dafür, daß der Verfassungsgeber hier nur ein Maßnahmerecht zur Wiederherstellung der in einem engeren (wenn auch nicht unbedingt streng polizeilichen) Sinne verstandenen öffentlichen Sicherheit und Ordnung schaffen wollte.21 Die gleiche Konzeption kam auch in den Verhandlungen der Nationalversammlung zum Ausdruck. Doch in kurzer Zeit verstand es die Verfassungspraxis, dieser Vorschrift einen anderen Sinn zu geben, als sie nach ihrer Geschichte, nach der traditionellen Bedeutung ihrer Begriffe und nach der Absicht des Verfassungsgebers ursprünglich hatte. Durch die Nöte der Zeit gedrängt, entfaltete sich in kürzester Frist auf Grund des Art. 48 eine ausgedehnte Verfassungspraxis, die unter „Maßnahmen“ auch gesetzesvertretende Verordnungen verstand; auch die Voraussetzungen, unter denen solche „Maßnahmen“ zulässig waren, deutete man kurzerhand um und verstand unter „erheblichen Störungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung“ auch wirtschaftliche und soziale Nöte, finanzielle Schwierigkeiten, ja selbst Störungen in der Funktion des parlamentarischen Regierungssystems, darunter sogar die Unmöglichkeit, die notwendige Mehrheit im Parlament zu bilden.22
Im „wirksamen“ Recht bleiben also Entscheidungsspielräume, nicht nur da, wo keine sichere Rechtserkenntnis gewonnen werden kann, sondern auch dort, wo starke Motive, etwa die herrschenden Gerechtigkeitsvorstellungen oder starke politische Notwendigkeiten, dazu drängen, sich über das geschriebene Recht und seine „kunstgerechte“ Auslegung hinwegzusetzen. III. Bisher galt die Aufmerksamkeit vor allem dem ersten Schritt der Rechtsfortbildung: der Konkretisierung gesetzlicher Vorschriften zu lebendigem Recht. Dabei hat sich gezeigt, daß und in welcher Weise das Gesetz die Anlage zu verschiedenen Möglichkeiten des angewandten Rechts enthält: Es ist gleichsam nur die Skizze für das volle Bild des lebendigen Rechts, eine Skizze, welche die Praxis verschieden ausfüllen und in manchen Fällen sogar korrigieren kann. 21
Vorläufer dieser Befugnis des Reichspräsidenten war die Regelung des „Kriegszustandes“ (Art. 68 RV 1871), in dem die vollziehende Gewalt auf die Militärbefehlshaber überging. Die Ausdrücke „öffentliche Sicherheit und Ordnung“ stammten aus dem Polizeirecht. 22 Vgl. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, 14. Aufl. 1932, Art. 48 Anm. 6 – 8, 13; Schätzel, VVDStRL 10 (1952), S. 51, mit weiteren Beispielen für Rechtsentwicklungen contra legem.
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Mit dieser Konkretisierung ist aber die Rechtsforbildung nicht ans Ende gelangt. Sondern die konkreten Rechtsentscheidungen können ihrerseits die Normenordnung modifizieren und gestalten: Insbesondere die Funktion der Rechtsprechung, zumal der höchstrichterlichen Judikatur, erschöpft sich nicht darin, Auslegungen und Lückenausfüllungen nur für den Einzelfall zu finden; denn Gründe der Gleichbehandlung und der Rechtssicherheit verlangen, die gefundenen Gesetzesauslegungen und Lückenausfüllungen auf gleichartige Fälle in gleicher Weise anzuwenden, wenn nicht triftige Gründe entgegenstehen. Auf diese Weise wirkt die Rechtsprechung über den Einzelfall hinaus und führt für den Falltypus zu einem Richterrecht,23 das mit Wiederholungen dieser Auslegung oder Lückenausfüllung schrittweise an Wirksamkeit und Bindungskraft gewinnt.24 Dadurch können aus Rechtsanwendungen neue Normen erwachsen. So galt im Jahre 1900 eine andere bürgerlich-rechtliche Normenordnung als heute, oft auch dort, wo der Wortlaut des Bürgerlichen Gesetzbuches unverändert blieb.25 Es stellt sich also die Frage, wann und auf welche Weise eine in konkreter Entscheidung gefundene Entscheidungsregel allgemeine Geltung erlangt. Dabei liegt die Annahme nahe, daß von der Rechtsprechung entwickelte Auslegungen und Lückenausfüllungen nur dann Rechtsgeltung als ungeschriebenes „Recht“ erlangen, wenn sie zu Gewohnheitrecht geworden sind, also nach klassischem Verständnis von der Rechtsgemeinschaft befolgt werden und vom „tacitus consensus omnium“, vom herrschenden Rechtsbewußtsein, getragen sind.26 Damit würde nicht nur ein Gedanke fortgeführt, der in der historischen Rechtsschule eine zentrale Rolle spielte: Daß die lebendige Rechtsentwicklung im Volksgeist wurzeln solle; auch eine rigorose demokratische Rechtstheorie müßte dazu neigen, eine breite Fundierung der Rechtsfortbildung im allgemeinen Rechtsbewußtsein zu verlangen. Nach all dem dürfte ein Gerichtsgebrauch allein nicht ausreichen, geltendes Recht hervorzubringen. Doch gibt es ganz offensichtlich auch verläßlich verwirklichte Rechtsentwicklungen, von denen die Rechtsgemeinschaft kaum den Schatten eines Bewußtseins, geschweige denn eine gefestigte Rechtsüberzeugung besitzt. Man braucht etwa nur an Normen des ungeschriebenen Verfassungsrechts zu denken, die nicht im Blickfeld der Öffentlichkeit liegen, Normen vielleicht, die etwas entlegenere Zuständigkeiten von Verfassungsorganen fixieren und gegeneinander abgrenzen. Und auch sonst liegt die Fortbildung der als „Recht“ verläßlich praktizierten Normen weitgehend außerhalb des Blickfeldes und damit auch jenseits einer aktuellen Billigung der Rechtsgemeinschaft. Für weite Gebiete unseres Rechts geben heute nicht 23
BVerfGE 66, 138. Zu diesen beiden Komponenten – Wirksamkeit und Verbindlichkeit – s. Zippelius (Fußn. 13), § 13 I und II. 25 Zippelius (Fußn. 13), §§ 4 III und 13. 26 Larenz (Fußn. 15), S. 433; aus ältere Zeit etwa Enneccerus-Nipperdey, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts, 15. Aufl. 1959, Bd.1, § 42. 24
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mehr die im Volke herrschenden Rechtsauffassungen, sondern nur noch die Kommentare Auskunft, wohin die Rechtsentwicklung gegangen ist. Je undurchschaubarer die Rechtsordnung wird, desto ungenierter geht die Bildung der durch eine feste Praxis der Staatsorgane entwickelten und gewährleisteten Normen ihren Weg ohne Rückhalt in der opinio iuris des Volkes, dem das Gewirr seiner Rechtsordnung immer mehr zu einem Buch mit sieben Siegeln wird. Je perfekter und unübersichtlicher die Normenordnung wird, um so mehr verblaßt jedenfalls für Detailfragen des Rechts die These vom consensus omnium zu einer romantischen Mär. Für die Frage, auf welche Weise durch die Praxis der Rechtsanwendung „geltendes“ Recht entsteht, kommt es darauf an, was man unter der „Geltung“ von Normen und ihrer Auslegung versteht.27 Zur Geltung rechtlicher Normen gehört jedenfalls auch deren Wirksamkeit, d. h. die faktische Chance, das Bezweckte zu bewirken, insbesondere willig befolgt oder in rechtlich geordneter Weise durchgesetzt zu werden.28 In diesem Sinne sprach der Bundesgerichtshof einmal davon, daß ein seit langer Zeit herrschender Gerichtsgebrauch „faktische“ Rechtsgeltung erlange.29 Diese empirische Geltung einer Auslegung oder Lückenausfüllung, d. h. ihre Durchsetzungschance, hängt ab vom Rang des Gerichts, das die Entscheidung trifft, und sie wächst in dem Maße, wie die Wahrscheinlichkeit, sie durchzusetzen, durch Wiederholungen zunimmt. Unter der „Geltung“ einer Auslegung oder Lückenausfüllung kann man aber auch deren Verbindlichkeit verstehen, die besagt, daß und warum man sie beachten solle.30 Daß eine Auslegung oder eine Lückenausfüllung, für welche die Gerichte sich entschieden haben, auch solche Verbindlichkeit gewinnt, folgt aus den Prinzipien der Gleichbehandlung und der Rechtssicherheit. Denn diese gebieten es der Staatsgewalt, einer einmal gewählten und um so mehr gefestigten Rechtsauffassung treu zu bleiben, wenn nicht vorrangige Gründe es rechtfertigen, den eingeschlagenen Weg wieder zu verlassen.31 Und ähnlich, wie es Abstufungen der tatsächlichen Durchsetzungschance gibt, gibt es auch Abstufungen der Verbindlichkeit: Die Kontinuitätserwartung hängt ab vom Rang des Gerichts, das die Entscheidung fällt, und sie festigt sich durch Wiederholungen einer bestimmten Judikatur bis hin zu einer „ständigen Rechtsprechung“. In vielen Fällen finden wir also einen fließenden Übergang, eine allmähliche Zunahme nicht nur der Durchsetzungschance, sondern auch der Legitimitätsbindung einer bestimmten Auslegung oder Lückenausfüllung. Sie kann jene Verläßlichkeit und Verbindlichkeit erreichen, die einer Legalinterpretation oder einer sonstigen Gesetzesnorm zukommt; das ist die Stufe, die man 27
Zu den unterschiedlichen Geltungsbegriffen s. Zippelius (Fußn. 2), § 5 I. Zippelius, Grundbegriffe der Rechts- und Staatssoziologie, 3. Aufl. 2012, § 11. 29 Er setzt diese in nicht sehr glücklicher und wenig aufschlußreicher Weise in Gegensatz zu einer normativen Geltung, BGHZ 23, 189. 30 Über das Verhältnis der beiden Geltungsbegriffe zueinander s. Zippelius, Das Wesen des Rechts, 6. Aufl. 2012, Kap. 1 c, 2 f, 9 f. 31 Zippelius (Fußn. 13), § 13 II. 28
Probleme der Rechtsfortbildung
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herkömmlicherweise mit dem Wort „Gewohnheitsrecht“ bezeichnet. Ein Beispiel bot der Schadensersatzanspruch aus positiver Forderungsverletzung, lange, bevor er in das Bürgerliche Gesetzbuch aufgenommen wurde.
II. Staatslehre, Verfassungsgeschichte, Politikwissenschaft
Der Verfassungsstaat als Staatsbegriff Von Richard Bartlsperger, Erlangen Das umfangreiche Werk des Jubilars greift mehrfach verfassungsgeschichtliche sowie staats- und verfassungstheoretische Themen auf. Einen bedeutenden Rang können dabei diejenigen seiner Abhandlungen beanspruchen, in denen er seine Aufmerksamkeit auf die Idee des Verfassungsstaates in deren epochaler Entstehungsund frühen Entwicklungsgeschichte richtet. Die erörterte Thematik umspannt die dabei wesentlichen Vorgänge, die Artikulation verfassungsstaatlicher Vorstellungen schon während des achtzehnten Jahrhunderts, die Rezeption „westlicher“ Staatsbzw. Verfassungslehren sowie einer im Zusammenhang mit dortigen revolutionären Ereignissen hervorgetretenen politischen Gedankenwelt, die frühkonstitutionelle Verwirklichung verfassungsstaatlicher Verhältnisse durch Bundes-Glieder des Deutschen Bundes sowie die nationweiten politischen Verfassungsbewegungen bis zum Vormärz.1 Es geht um jene ideengeschichtlich wirkungsträchtige Epochenwende, in deren Verlauf Deutschland sich seine Vorstellungen von einer Nation und von einer zu schaffenden konstitutionellen Ordnung als zusammengehörigen Errungenschaften „erfunden“ hat.2 Die epochale verfassungsgeschichtliche Bedeutung der seinerzeitigen politischen Bewegungen, ideengeschichtlichen Entwicklungen und staatsrechtlichen Vorgänge liegt im grundsätzlichen historischen Ende der Legitimationsund Existenzvoraussetzungen für die überkommene feudale Monarchie, ihr landesherrliches Regime und ihre ständische Ordnung3 sowie in einer Neubegründung der staatlichen Verhältnisse und Ordnungen durch deren Konstitutionalisierung,4 auch 1
Zu den frühkonstitutionellen Verfassungen Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. I, 2. Aufl., Nachdr. 1975, §§ 19 – 22 und Bd. II, 2. Aufl., Nachdr. 1975, §§ 3 – 9; Engelbert, Der Konstitutionalismus in den deutschen Kleinstaaten, Der Staat, Bh. 1, 1975, 103 ff.; Stolleis, Geschichte des Öffentlichen Rechts in Deutschland, Zweiter Band, 1992, 187 ff., Schulze, Frühkonstitutionalismus in Deutschland, 2002; zu den damaligen Verfassungsbewegungen Huber, Bd. II, §§ 27 – 33. Zu jener Epoche Stolleis, a.a.O., 42 ff.; zum Vormärz Huber, Bd. II, §§ 27 – 36; Frotscher/Pieroth, Verfassungsgeschichte, 4 Aufl. 2003, § 8 Rn. 248 ff. m.w.Nachw. 2 Zur „Erfindung der Nation“ Langewiesche, Hist. Zschr. 277 (2003), 593 ff.; zur Nation als ein „geistiges Prinzip“ ders., a.a.O., 604 ff. 3 Zum Begriff der feudalen Monarchie Brunner, „Feudalismus“, in: Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, 2. Aufl. 1968, 128 ff.; aus der Sicht des nachfolgenden Übergangs in die bürgerliche Gesellschaft Luf, Freiheit und Gleichheit, 1968, 65. 4 Konstitutionalismus in der allgemeinsten Bedeutung als „System wirksamer Beschränkungen für das Handeln der Regierung“ (Friedrich, Der Verfassungsstaat der Neuzeit, 1953, 26 ff.), als „Idee der Machteinschränkung“ (Gangl, Der Staat, Bh. 1, 1975, 23 f./29). Ferner
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wenn sich die Verwirklichung derselben mit ihren partikularen, sukzessiven und konzeptionellen Unterschieden über eine längere Zeit hinziehen sollte, teilweise weit bis in das Jahrhundert hinein.5 Der Verfassungsstaat war als Idee eine geschichtliche Realität geworden. I. Verfassungsstaat epochal – Die Vernunftbegründung des Staates 1. In konkreter und fassbarer Weise sichtbar gemacht haben die epochale, grundlegende verfassungsgeschichtliche Veränderung das Ende des alten Reichsstaatsrechts6 sowie die teils durch fremde Macht und Einflussnahme erzwungenen, teils aus eigenen Initiativen und Arrangements hervorgegangenen territorialen, organisatorischen und rechtlichen Umgestaltungen der partikularstaatlichen Zustände, in den Partikularstaaten unternommene Staatsreformen7 sowie schließlich die konstitutionellen Maßgaben des Deutschen Bundes und deren Verwirklichung in Konstitutionen zunächst der süddeutschen und nachfolgend mittlerer Bundes-Glieder.8 Das „äußere“ Erscheinungsbild des damaligen Epochenwandels erscheint hiermit im Wesentlichen erfasst. In spezifisch staatsrechtlicher Hinsicht lassen sich die seinerzeitigen Vorgänge und Ereignisse zur Neubegründung der Herrschaftsgrundlagen und der Herrschaftsordnung sowie der Herrschaftsbeziehungen im frühen Konstitutionalismus auf eine bloß formale, von ihrer sinnbegründeten und geschichtlichen Realität abstrahierende Weise mit dem Begriff einer rechtlichen Machtbeschränkung politischer Herrschaft zusammenfassen.9 Es gilt denn auch durchaus als gebräuchlich, Grundlage und Wesensgehalt des Verfassungsstaates in der Konstituierung und Formierung einer rechtlich geordneten, gebundenen und begrenzten Staatsgewalt zu sehen, in einer „Koppelung von Politik und Recht“, in einer unter einer „VerBadura, Der Staat, Bh. 11 (1996), 133 ff., Di Fabio, Der Staat als Institution, in: Isensee u. a. (Hg.), Freiheit und Eigentum 1999, 225/230 f.; ders., Die Staatsrechtslehre und der Staat, 2003, 14 ff.; zur Genese des Verfassungsstaates Würtenberger, Der Staat, Bh. 10, 1993, 85 ff. und ders., Der Staat, Bh. 37, 1998, 165 ff. 5 Zu angenommenen drei „Verfassungswellen“ (1816 – 1820; 1830 – 1833; 1848 – 1850) bei Gangl, a.a.O., 15 ff. 6 Zur Reichsauflösung von 1806 Huber (Fußn. 1), Bd. I, § 5 III, Frotscher/Pieroth (Fußn. 1), § 6 m.w.Nachw. 7 Beispielhaft zu den bekannten Reformen in Preußen E. R. Huber (Fußn. 1), Bd. I, §§ 8 – 17; Frotscher/Pieroth, a.a.O., § 7 sowie in Bayern Weis, in: Spindler, Bayerische Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert, Erster Teilband 1974, § 3. Zu den wesentlichen Gebietsänderungen für die deutschen Partikularstaaten Huber, a.a.O., § 6 (Rheinbund) und a.a.O., § 32 II und III (1814/15 und 1819). 8 Zum Deutschen Bund und zu seiner Verfassung Huber, a.a.O., §§ 33 – 37, Frotscher/ Pieroth, a.a.O., Rn. 228 ff.; zu den konstitutionellen Maßgaben, insb. zu Art. 13 Bundesakte (Verfassungshomogenität aufgrund landständischer Verfassungen) Huber, a.a.O., § 36; Gangl, Der Staat, Bh. 1, 1975, 23/49; Frotscher/Pieroth, a.a.O., Rn. 240 ff.; zu den betreffenden frühkonstitutionellen Verfassungen Nachw. in Fußn. 1. 9 So die Nachw. in Fußn. 4.
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fassung“ dauerhaft angelegten Verbindung des politischen Funktionssystems mit demjenigen des Rechts.10 Damit allein jedoch soll der Verfassungsstaat wohl nicht auch schon als geschichtlich reale Idee beschrieben sein. Zum einen wäre er nicht in seiner generellen ideengeschichtlichen Grundlegung erfasst sowie zum zweiten und vor allem nicht in der besonderen Ursprungsbegründung, die er unter den originären kulturgeschichtlichen Voraussetzungen in Deutschland erfahren hat. 2. Bei der Neubegründung der staatlichen Verhältnisse durch deren Verrechtlichung war es wesentlich um eine sinnbestimmte und sinngebende Konstituierung und Formierung aus Vernunft gegangen. Dieses Verständnis der Verfassungsstaatlichkeit zielte auf eine staatsorganisationsrechtliche Rationalisierung der politischen Macht aus dem Geiste der Aufklärung, auf die Ermöglichung von Vernunft im rechtlichen und politischen Funktionssystem.11 In der staatsrechtlichen Ausgestaltung verlangte dies nach den zeitgeschichtlichen Anschauungen vor allem eine Verwirklichung der aus der vernunftrechtlichen Staatstheorie kommenden Verfassungsstrukturen von formeller Gesetzgebung durch repräsentative Körperschaften, von Gesetzesvorbehalt und von Gewaltenteilung. In der betreffenden ideengeschichtlichen Grundlegung bedeuteten solche Verfassungsstrukturen die staatsrechtliche Verwirklichung von individueller Autonomie, Freiheit und Gleichheit, allerdings in einem noch vernunftnaturrechtlichen Verständnis bzw. auch in staatsvertraglicher Tradition. Ausgangspunkt der betreffenden Vernunftbegründungen waren also noch empirische Annahmen zu einem angeblich vorgefundenen Zustand. Die darauf gestützten vernunftgeforderten Folgerungen und Forderungen hatten eine Verfassungsstaatlichkeit im Sinne, deren Idee die organisatorische Gewährleistung von individueller Autonomie, Freiheit und Gleichheit war. Die Rezeption jener wegen ihrer historischen und ideengeschichtlichen Zuordnung sogenannten „westlichen“ Vernunftbegründungen des Verfassungsstaates in Deutschland stellt in ihrer wirkungsgeschichtlichen Bedeutung ein eigenes historiographisches Thema dar.12 Im verfassungsge-
10 Di Fabio, Der Staat als Institution (Fußn. 4), 230 f.; als „fruchtbare Paradoxie“ wird die rechtliche Bindung der Herrschaft bei gleichzeitiger Herrschaft über das Recht bezeichnet (Di Fabio, Die Staatsrechtslehre und der Staat, Fußn. 4, 15 f.). 11 Zu den vernunftnaturrechtlichen Staatsvertragstheorien Stolleis, Geschichte des Öffentlichen Rechts in Deutschland, Erster Band, 1988, 323 ff.; Dreier, ARSP 1988;Würtenberger, Der Staat, Bh. 10, 1993, 85/86 ff.; ders., Der Staat 37, 1998, 165/176, P. Unruh, Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes. Eine verfassungstheoretische Rekonstruktion, 2002, 86 f. m. Nachw.; Kersting, Kant über Recht, 2004, 99 ff. (Hobbes), 101 ff. (Locke), 104 ff., (Rousseau). 12 Zu Einfluss und Rezeption „westlicher“ Verfassungsideen Gangl, Der Staat, Bh. 1, 1975, 23/30 ff. und 36 ff., Stolleis (Fußn. 1), 42 ff. und 99 ff., Würtenberger, Der Staat 37, 1998, 165/176 ff. Zu den wesentlich anderen politischen Voraussetzungen des Konstitutionalismus in Deutschland Gangl, a.a.O., 36 ff. und Würtenberger, Der Staat, Bh. 10, 1993, 85/102 f. („Verfassungspatriotismus“). Zur konstitutionellen Monarchie in Deutschland als einer monarchischen Reform „von oben“ im Unterschied zu der Entstehung in Frankreich aus einer Revolution Böckenförde, Der deutsche Typ der konstitutionellen Monarchie im 19. Jahrhundert (1967), abgedr. in: Böckenförde, Recht, Staat, Freiheit, 1991, 273 ff.; Gangl, a.a.O., 50;
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Richard Bartlsperger
schichtlichen, insbesondere verfassungstheoretischen Zusammenhang beurteilbar und wesentlich erscheint aber jedenfalls, dass jene vernunftnaturrechtlichen bzw. auch staatsvertraglichen Begründungen des Verfassungsstaates sich erkennbar auf die strukturelle Rationalisierung desselben in entsprechenden staatsrechtlichen Organisationsformen und Entscheidungsverfahren gerichtet und konzentriert haben. Es ging diesen also um eine staatsrechtliche Rationalisierung als „Prozess“, nicht um eine „Institutionalisierung“ von Staatlichkeit als objektiver und eigenständiger geschichtlicher Realität, d. h. um „Verfassung“ und nicht um einen „Staat“. Demgegenüber hat die Idee des Verfassungsstaates in Deutschland während ihrer dortigen epochalen Entfaltung um die Wende vom achtzehnten zum neunzehnten Jahrhundert13 eine Prägung durch eine kulturgeschichtlich eigene und originäre Vernunftbegründung erfahren.14 Zwar hat diese ihren spezifisch rationalistischen und verfassungstheoretischen Ansatzpunkt und Aussagegehalt ebenfalls in den Prinzipien von individueller Autonomie, Freiheit und Gleichheit. Aber diese verfassungstheoretischen Prinzipien erklären sich und begründen sich bei ihr nicht als „vertraglich“ zu verstehende Gegenpositionen gegen einen sie gefährdenden empirischen Naturzustand.15 Vielmehr sind sie apriorische elementare Prinzipien der praktischen Philosophie eines transzendentalphilosophischen Subjektivismus jener seinerzeitigen philosophiegeschichtlichen Epoche, der kritischen Philosophie und der an sie anschließenden praktischen Philosophie des Deutschen Idealismus.16 Jene für die KulDietrich, Der Staat, Bh. 1, 1975, 7 ff.; Stolleis, a.a.O., 42 und 102 ff.; Robbers, Der Staat, Bh. 11, 1996, 103/106 ff. 13 Zu jener kulturgeschichtlichen Wende Würtenberger, a.a.O, 25 ff.; ders., Der Staat 37 (1998), 165 ff. 14 Ausgangspunkt für die Vernunftbegründung des Verfassungsstaates war die Ablösung der vernunftnaturrechtlichen Staatsvertragslehren (Nachw. Fußn. 11) in der betreffenden transzendentalphilosophischen Kritik, d. h. in der praktischen Philosophie Kants; dazu Riedel, Studien zu Hegels Rechtsphilosophie, 1969, 14 ff.; Luf, Naturrechtskritik im Lichte der Transzendentalphilosophie (1983), in: ders., Freiheit als Rechtsprinzip, 2008, 21 ff. und ders., Souveränität bei Rousseau und Kant (2004), in: ders., Freiheit als Rechtsprinzip, 2008, 217/ 228 ff.; Unruh, Die Herrschaft der Vernunft. Zur Staatsphilosophie Immanuel Kants, 1993, 86 ff., 107 ff., 111 ff., 116 ff.; Würtenberger, Der Staat, Bh. 10, 1993, 105 f.; Kersting, Kant über Recht, 2004, 106 ff., 121 ff. Abgesehen von der staatstheoretischen Ablösung der Staatsvertragslehren richtet sich die kantische Vernunftbegründung des Staates selbstredend auch gegen die seinerzeit überkommenen feudalstaatlichen Verhältnisse (Luf, Feiheit und Gleichheit, 1978, 65). 15 Zu Freiheit und Gleichheit in den vorangegangenen vernunftnaturrechtlichen, von empirischen Annahmen zum Naturzustand ausgehenden Staatsvertragslehren Somek, Rechtssystem und Republik, 1992, 48 ff.; zu den Ursprüngen des Konstitutionalismus schon in den Naturrechtslehren des 18. Jahrhunderts Stolleis (Fußn. 12, 50) und Link, Herrschaftsordnung und Bürgerliche Freiheit. Grenzen der Staatsgewalt in der älteren deutschen Staatslehre, 1979. Ideengeschichtlich zur frühen Entstehung des Gegensatzes von Empirismus und Rationalismus bei Leibniz siehe Windelband, Die Geschichte der neueren Philosophie, Erster Band, 6. Aufl. 1919, 469 ff., 495 f. 16 Zur praktischen Philosophie Kants im Hinblick auf Rechts- und Staatslehre siehe schon die Nachw. bei Bartlsperger, Wertdenken in der Staatsrechtslehre des Verfassungsstaates, in:
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turgeschichte Deutschlands umwälzende Veränderung und Entwicklung des philosophischen Denkens musste auch zu einer grundlegenden staatstheoretischen Erneuerung der verfassungsstaatlichen Ideengeschichte führen. An die Stelle der angesprochenen vernunftnaturrechtlichen bzw. staatsvertraglichen Gedankenkonstruktionen des Verfassungsstaates vermochte eine unmittelbare Vernunftbegründung desselben zu treten. Verständlicherweise hiervon unberührt erlebten zwar die schon vernunftnaturrechtlich bzw. staatsvertraglich begründeten, auch für die künftige verfassungsstaatliche Entwicklung grundlegenden rechtsstaatlichen Prinzipien, insbesondere die Gewaltenteilungslehre, eine Rezeption und Inkorporierung; dieses verfassungsstaatliche Gedankengut konnte seine ursprüngliche ideengeschichtliche Bedeutung auch ausdrücklich behaupten.17 Aber im Übrigen und im Grunde konnte mit der originären Vernunftbegründung des Verfassungsstaates die generelle transzendentalphilosophische Erneuerung theoretischer und praktischer Philosophie auch für die Staats- und Verfassungstheorie vollzogen werden. Die staatstheoretische Bedeutung dieses kulturgeschichtlichen Vorganges lässt sich anhand der expliziten Konsequenzen für Rechts- und Staatslehre innerhalb der betreffenden praktischen Philosophie präziseren, in dem hier möglichen Rahmen wenigstens in zusammengefasster Weise. 3. Mit der Ablösung der Staatsvertragslehre durch die unmittelbare transzendentalphilosophische Vernunftbegründung von Rechts- und Staatslehre in der kritischen Philosophie ist der Verfassungsstaat a priori zum „Staat“ geworden. Denn wie die Staatsvertragslehre ihren gedanklichen Schritt von individueller Freiheit zu deren staatlicher Gewährleistung über eine Vertragskonstruktion tut, so geschieht in der kritischen Philosophie der konstruktiv vergleichbare Schritt in transzendentalphilosophischer Weise zu einer Idee des Staates, „wie dieser nach reinen Rechtsprinzipien sein soll“,18 über das hierbei folgerichtige allgemeine Prinzip des Rechts. Das a priori Apel u. a. (Hg.), Öffentliches Recht im offenen Staat, FS Wahl, 2011, 23/35 ff.; ferner Windelband, Die Geschichte der neueren Philosophie, Zweiter Band, 6. Aufl. 1919, 112 ff.; H. Krüger, Kant und die Staatslehre des 19. Jahrhunderts. Ein Arbeitsprogramm, in: Blühdorn/Ritter (Hg.), Philosophie und Rechtswissenschaft, 1969, 49 f., 58 ff.; Bärsch, Der Staatsbegriff in der neueren deutschen Staatslehre und seine theoretischen Implikationen, 1974, 135 ff.; Unruh (Fußn. 14), 41 ff., 47 f.; Luf, Freiheit und Gleichheit, 1992, 65 f.; Stolleis (Fußn. 12), 324 ff.; Kersting (Fußn. 14), 13 f., 16, 21 ff. Zum Deutschen Idealismus in rechtsund staatstheoretischer Hinsicht, d. h. zu Fichte und Hegel, vorweg und statt vieler die einschlägigen Beiträge mit Lit. von Siep, in: Siep, Praktische Philosophie im Deutschen Idealismus, 1992; ferner Bärsch, a.a.O., 132 ff., 135 ff., 147 ff.; speziell zu Hegel bei Riedel (Fußn. 14), 11, 16 f., 37 f. 17 Dazu schon Bartlsperger, a.a.O., 36 m. Fußn. 55 f. und ders., Das subjektive öffentliche Recht als Apriori des Verfassungsstaates, in: Baumeister u. a. (Hg.)., Staat, Verwaltung und Rechtsschutz, FS W.-R. Schenke, 2011, 17/47 m. Fußn. 122 f. 18 Kant, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre. Metaphysik der Sitten (1797), Philosophische Bibliothek Band 360, 3. Aufl. 2009, Rechtslehre Zweiter Teil, § 45; zu den staatsphilosophischen Schriften Kants Unruh (Fußn. 14), 17 ff. und zur Einordnung von dessen Staatstheorie in seine kritische Philosophie ders., 41 ff.; insofern zum Unterschied gegenüber der vernunftnaturrechtlichen Staatsvertragslehre Luf (Fußn. 14), 22 ff., 25 f.; Kersting (Fußn. 14), 121.
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notwenige allgemeine Gesetz, nach dem „die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach dem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann“,19 macht die betreffende Vereinigung von Menschen zum Staat. Dessen Form ist „die Form eines Staates überhaupt, d.i. der Staat in der Idee.“20 Allerdings zu einer Staatslehre des wirklichen Staates kommt es in dieser für die weitere Ideengeschichte der Staatstheorie fundamentalen Vernunftbegründung der Idee des Staates nicht mehr. Zwar wird dieser insofern die Bedeutung beigemessen, dass sie “jeder wirklichen Vereinigung zu einem gemeinen Wesen (also im Inneren) zur Richtschnur (norma) dient.“21 Aber mit einer solchen Feststellung enden auch schon die betreffenden staatstheoretisch relevanten Aussagen jener in der kritischen Philosophie transzendentalphilosophisch begründeten Staatslehre und es beginnt das staatstheoretisch Unfertige an ihr.22 Sie gelangt bei ihrem ideengeschichtlich fundamentalen Schritt zu einer Staatslehre des Verfassungsstaates lediglich noch bis zu einem „ethischen Staat“ als staatstheoretisch und staatsrechtlich regulativer Idee.23 Aber offenbar nicht mehr innerhalb ihres nachweislichen thematischen Blickfeldes dagegen, vielleicht überhaupt nicht mehr innerhalb der Möglichkeiten ihres apriorisch „reinen“ transzendentalphilosophischen Denkens, liegt der Gesichtspunkt, dass auch apriorische Freiheit im Zusammenhang mit der ihr entsprechenden Vernunftbegründung des Staates reale Bedürfnisse und Zwecke empirischer Objekte kennt, dass deshalb auch der vernunftbegründete Staat eine Kontingenz und Effizienz gegenüber seiner Idee und bloßen „Form“ aufweisen muss, also nicht ohne eine geschichtliche 19
Kant, a.a.O., Einleitung in die Rechtslehre, § C; dazu Unruh, a.a.O., 53. Kant, a.a.O., Rechtslehre Zweiter Teil, § 45. 21 A.a.O. 22 Dazu schon Bartlsperger (Fußn. 16), 35 ff.; Luf (Fußn. 14, 30) bezeichnet die Geschichtlichkeit der Rechtsverwirklichung bei Kant „relativ unentfaltet“. Grundsätzlich zum Unfertigen der kantischen Rechts- und Staatlehre hinsichtlich des Elements der Geschichtlichkeit Luf, Aspekte einer deontologischen Rechtstechnik in der Tradition Kants (2004), in: ders (Fußn. 14), 151/152 ff. 23 Unruh (Fußn. 14), 52 und Heller (Hegel und der nationale Machtstaatsgedanke in Deutschland, 1921, Neudr. 1963, 8 f.), der Kants Interesse am Staat als „ein überwiegend ethisches“ bezeichnet. Ferner dazu Dreier, Rechtsbegriff und Rechtsidee. Kants Rechtsbegriff und seine Bedeutung für die gegenwärtige Diskussion, 1986, 9 ff., 19 ff.; Kersting (Fußn. 14), 36, 51, 121. Kant verkennt zwar keineswegs, dass Recht und Staat zur Vermittlung und zur Verwirklichung der Idee der Freiheit als praktischer Vernunftidee und transzendentalem Rechtsprinzip notwendig sind. Aber er vermag die Differenz zwischen beiden nur noch mit einer normativen Beziehung zu beschreiben; es handelt sich um eine „typisierende Qualifikation“ des konkreten wirklichen Rechts sowie von dessen Rechtsanwendung durch einen möglichen vereinigten Willen aller (Kant, Fußn. 18, §§ 44 und 47; dazu dann Unruh, a.a.O., 164 ff. und insb. Luf, Die „Typik der reinen praktischen Urteilskraft“ und ihre Anwendung auf Kants Rechtslehre, 1975, in: ders., Fußn. 14, 133 ff.). In gleicher Weise ist die staatliche Souveränität bei Kant dahin definiert, dass sie von den staatlichen Repräsentativorganen bzw. auch in Wahrnehmung der Volkssouveränität nur gemäß dem vereinigten Willen des ganzen Volkes wahrgenommen werden kann (Luf, Souveränität bei Rousseau und Kant, 2004, in: ders., a.a.O., 217/228 ff.). Dies bedeutet eine Verfassungstheorie, wonach auch demokratische Institutionen bzw. Verfahren einer materiellen Rechtsbegrenzung und Rechtsbindung unterliegen. 20
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Realisierung und objektive Wirklichkeit verstanden werden kann.24 Auch transzendentalphilosophische praktische Philosophie vermag daher ungeachtet ihrer subjektivistischen Grundannahme jedenfalls in rechts- und staatstheoretischer Hinsicht nicht davon abzusehen, dass man es mit empirischen Subjekten zu tun hat, dass deshalb eine intersubjektive Objektivierung stattfindet und dass dementsprechend ihre Staatslehre nicht an einer diese Objektivität repräsentierenden realen Institutionalisierung im „Staat“ vorbeigehen kann. Mit der bloßen erwähnten Annahme allein, dass der Staat die einer Vereinigung von Menschen unter a priori notwendigen Rechtsgrundsätzen entsprechende Form sei und dass diese als „Form eines Staates überhaupt, d.i. der Staat in der Idee“ als Richtschnur „jeder wirklichen Vereinigung zu einem Gemeinwesen“ diene, ist es für eine Staatslehre nicht getan. Eine normative Staatsphilosophie ist noch keine Staatslehre. Für diese kommt es erst einmal darauf an, eine konstruktive Grundlage für Staatstheorie und Staatsrechtslehre zu schaffen. Danach hat die kritische Philosophie mit der dargelegten, zu ihrer praktischen Philosophie gehörenden transzendentalphilosophischen Vernunftbegründung des Staates den für die Ideengeschichte des Verfassungsstaates in Deutschland originären und grundlegenden Schritt getan, die Staatsvertragslehre und die in deren Rahmen entstandenen bloßen Verfassungslehren durch eine Staatslehre im eigentlichen Sinne abzulösen und in der Verfassungsstaatlichkeit den „Staatsbegriff“ zu erkennen. Allerdings ist sie hierbei über einen bloßen Begriff des Staates als apriorische „Form eines Staates“, über den „Staat in der Idee“ hinaus nicht zu einer substanziellen Aussage gekommen. Namentlich für Staatstheorie und Staatsrechtslehre stellt sich zur Vernunftbegründung des Staates die eigentlich erst grundlegende Frage einer eigenen und objektiven geschichtlichen Wirklichkeit desselben. In einer ideengeschichtlich gleichzeitigen praktischen Philosophie des transzendentalen Subjektivismus ist die Frage zutreffend aufgegriffen worden.25 4. Die kritische Philosophie verlangte nicht nur in der spezifischen Hinsicht ihrer dargelegten transzendentalphilosophischen Vernunftbegründung von Recht und Staat einer Fortentwicklung, um die Deduktion von Recht und Staat als Ideen a priori auch zum Ausgangspunkt und zur Grundlage einer einsichtigen und brauchbaren „äußeren“ Rechts- und Staatslehre machen zu können. Vielmehr bedurfte es zu einer solchen Vermittlungsleistung einer veränderten Grundlegung in einer anderen, allgemeinen Wissenschaftslehre und zu einer solchen war es in ideengeschichtlicher Gleichzeitigkeit auch bereits gekommen.26 Diese hat die transzendentalphilosophi24 Kersting, a.a.O., 16 f., 51 f. Zu der die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts insofern beherrschenden Frage des Verhältnisses von Vernunft und Geschichte sowie zur Bewältigung dieser Frage bei Kant und Hegel s. Jaeschke, Immanuel Kant und G.W.F. Hegel: Vernunftrecht und Geschichte, in: Siep u. a. (Hg.), Von der religiösen zur säkularen Begründung staatlicher Normen, 2012, 119/129 ff., 132 ff., 136 f.; ferner Städtler, Immanuel Kant und G.W.F. Hegel: Vernunftrecht und Geschichte, in: Siep, u. a. (Hg.), a.a.O., 141 ff. 25 Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre (1726), Neudr. 1960 der 2. Aufl. 1922, hgg. von Manfred Zahn. 26 Fußn. 25.
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sche Subjektivität und das transzendentalphilosophische Bewusstsein in eine Begegnung mit deren realen, empirischen Bedingungen gebracht. Damit ist keineswegs auch schon eine Theorie empirischer Erfahrung in Raum und Zeit an die Stelle einer transzendentalphilosophischen theoretischen und praktischen Vernunft gesetzt worden. Vielmehr sind die letzteren lediglich insofern zu einem auch empirisch beachtlichen Vorgang verändert worden, als sie bewusstseinsmäßig in einen Zusammenhang mit der begegnenden Sinnenwelt gebracht worden sind.27 Im Bereich praktischer Philosophie bedeutet dies, dass die auch in der kritischen praktischen Philosophie dem Begriff der „apriorischen Verallgemeinerung und des apriorischen allgemeinen Gesetzes“ innewohnende Kategorie der Intersubjektivität nunmehr als eine „empirische Intersubjektivität“28 zwischen Individuen verstanden werden sollte. Die betreffende, in umfassender Weise auch der praktischen Philosophie zugrunde gelegte Wissenschaftslehre besagt für eine „äußere“ Rechtslehre, dass die in dem Zusammenhang als bloße Fiktion anzunehmenden, einem Jeden zustehenden sogenannten „Urrechte“ nicht ohne eine intersubjektive, gegenseitige Einschränkung gedacht werden können und dass sie sich daher zu Rechten in einem Gemeinwesen verwandeln.29 Zur Veranschaulichung dieses rechtstheoretischen Ansatzes dient das Bild eines sogenannten „Staatsbürgervertrages“ zwischen den Einzelnen.30 Hieraus folgt indessen strukturnotwendig auch eine „äußere“ Staatslehre. Da die intersubjektiven, wechselseitigen Rechtsbeschränkungen sich stets erst zukünftig aktualisieren und gegebenenfalls erst in der Zukunft einen entsprechenden rechtlichen Schutz verlangen, stellen sie sowohl als rechtliche Beschränkungen wie als hiermit auf der anderen Seite konstituierte, unbeschränkt verbleibende rechtliche Freiheiten ein reelles Ganzes dar, nicht bloß eine Rechtsstellung aller, sondern eine rechtliche „Allheit“.31 Die rechtliche Vernunft ist „Eine“; „und ihre Darstellung in der Sinnenwelt ist auch nur Eine.“32 Sie ist im Staat vereinigt. Für die Veranschaulichung einer solchen transzendentalphilosophischen Deduktion realer Staatlichkeit dient das zweite Bild eines
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Fichte (Fußn. 25), § 1. Erster Lehrsatz (S. 17 ff.), § 4 Dritter Lehrsatz (S. 40 ff.). Dazu schon Bartlsperger (Fußn. 17), 49; ferner Siep, Philosophische Begründung des Rechts bei Fichte und Hegel (1983), in: ders. (Fußn. 16), 65 ff.; Rohs, Johann Gottlieb Fichte, 2. Aufl. 2007, 79 ff. 28 Kant (Fußn. 18), Einleitung in die Rechtslehre, § C. Dazu Luf, Zum Problem der Anerkennung in der Rechtsphilosophie von Kant und Fichte (1992), in: ders (Fußn. 14), 165/174 f., 178 f. 29 Zu den „Urrechten“ im Sinne der Fichteschen Rechtslehre sowie zu deren Heraustreten aus einer bloßen Fiktion in die Wirklichkeit ihrer intersubjektiven Beschränkung Fichte (Fußn. 25), §§ 9 ff. (S. 110 ff.). 30 A.a.O., § 17 (S. 185 ff.). Der „Staatsbürgervertrag“ wird verstanden als ein Vertrag zwischen dem Einzelnen und allen anderen als kontrahierenden Parteien; er garantiert jedem Einzelnen Schutz und gilt als Bedingung für den Eintritt des Einzelnen in den Staat (§ 17 IV, S. 195 f.). 31 A.a.O., § 17 IV (S. 196). 32 A.a.O., § 17 IV (S. 197).
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sogenannten „Vereinigungsvertrages“,33 der diesmal also ein Vertrag zwischen den Individuen und dem Staat ist. Zufolge dieses „Vereinigungsvertrages“ wird der Einzelne „ein Teil eines organisierten Ganzen, und schmilzt so mit demselben in Eins zusammen“.34 Rechtlich gebunden ist der Einzelne, soweit er im Wege intersubjektiver Rechtsbeschränkung einen Beitrag zum Ganzen des Staates, zum Staatszweck geleistet hat. Rechtlich frei und in individuellen Rechten durch den Staat geschützt bleibt er, soweit er nicht durch seinen betreffenden Beitrag zum Staatszweck „in das Ganze des Staatskörpers verwebt“ ist und dementsprechend seine apriorischen sogenannten „Urrechte“ als eine materielle Freiheit behalten hat.35 Zusammengefasst ist das Prinzip einer solchen vernunftbegründeten, bewusstseinsmäßig realen Rechts- und Staatslehre ein Prinzip der wechselseitigen „Anerkennung“ von Vernunftwesen, kraft deren diese ein gemeinschaftliches Rechtsbewusstsein ausbilden, zur Verbindlichkeit einer solchen Rechtsordnung gelangen und sich als Glieder einer Rechtsgemeinschaft sowie einer entsprechenden staatlichen Gemeinschaft verstehen, dabei sich aber auch ihrer „ursprünglichen“ subjektiven Rechte gegenüber dem Staat gewahr bleiben.36 Für eine Staatstheorie des Verfassungsstaates ergeben sich jedenfalls zwei grundlegende Folgerungen: Zum einen ergibt sich aus der vernunftbegründeten intersubjektiven Anerkennungslehre von Recht und Staat eine staatsrechtliche Theorie und Dogmatik subjektiver öffentlicher Rechte. Danach hängen diese entgegen einer gesetzesstaatlich überkommenen und lange Zeit maßgeblichen sogenannten Schutznormtheorie nicht von einer gesetzlichen Statusverleihung bzw. Rechtsbegründung ab. Vielmehr sind sie originär bestehende, vernunftbegründete Rechte a priori.37 Von dieser staatstheoretischen Grundlegung aus kann auch einer Grundrechtstheorie subjektiver öffentlicher Rechte nachgegangen werden.38 Zum zweiten und unmittelbar im vorliegenden Zusammenhang bedeutet die intersubjektive Anerkennungslehre eine vernunftbegründete Staatslehre des Verfassungsstaates, die den Staat nicht nur als Form und Idee a priori der „Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen“ zu begreifen vermag, ihn vielmehr als eine dem Bewusstsein empirisch begegnende objektive und eigene geschichtliche Realität kennt. Auch stehen die subjektiven Freiheiten der Einzelnen unbeschadet ihrer „ursprünglichen“ Vernunftbegründung und ihrer wechselseitigen Be33
A.a.O., § 17 V (S. 198 ff.). A.a.O. (S. 98 und 200). 35 A.a.O. (S. 199 f.). 36 Zu dieser sogenannten Anerkennungslehre in der praktischen Philosophie des deutschen Idealismus Siep, Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie, 1979, insb. 22 f. und 32 ff.; Luf (Fußn. 28), 165 ff.; ders., Überlegungen zur Theorie der Anerkennung in der gegenwärtigen Rechtsphilosophie (2000), in: ders. (Fußn. 14), 181 ff. 37 Dazu Bartlsperger (Fußn. 17), insb. 46 ff. 38 In der Richtung und in dem Sinn, dass Apriorität und „Primat“ subjektiver öffentlicher Rechte eine ideengeschichtliche, staatstheoretische Perspektive für die Grundrechtstheorie sein können. 34
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schränkung auf der intersubjektiven Ebene dem Ganzen der staatlichen Gemeinschaft gegenüber, weil sie diese mit ihrem Beitrag zur intersubjektiven Freiheitsbeschränkung notwendigerweise konstituieren und hinsichtlich des ihnen verbleibenden Teiles einer dementsprechenden materiellen Freiheit eines Schutzes von Seiten dieser staatlichen Gemeinschaft bedürfen.39 Es handelt sich um das später in der Staatsrechtslehre mit dem sogenannten rechtsstaatlichen „Verteilungsprinzip“ bezeichnete Gegenüber von Staat und individueller Freiheit.40 Die staatstheoretisch wesentliche Bedeutung der intersubjektiven Anerkennungslehre liegt also darin, dass sie auf der Grundlage einer originär vernunftbegründeten Rechts- und Staatslehre die Rechtsbildungsprinzipien der Verallgemeinerung bzw. der Intersubjektivität mit einer empirischen Realisierung verbindet und in einem dabei notwendigerweise entstehenden reellen Ganzen die staatliche Gemeinschaft bzw. den Staat als geschichtliche Realität erkennt. Die vernunftmäßige Intersubjektivität als Rechtsbildungsprinzip und die Institutionalisierung der hierbei entstehenden materiellen Rechtsbeschränkungen und verbleibenden Rechtsfreiheiten in dem Ganzen einer staatlichen Rechtsgemeinschaft bilden eine notwendige Einheit. So kennt der Verfassungsstaat den Staat als vernunftbegründete Idee a priori und als vernunftbegründete objektive und eigenständige geschichtliche Realität. 5. Allerdings hat das vernunftmäßige Rechtsbildungsprinzip einer intersubjektiven Begründung von materiellen Rechtsbeschränkungen „ursprünglicher“ Freiheiten und von verbleibenden materiellen Freiheiten in der Zwischenzeit auch eine andere theoretische Ausgestaltung erfahren. Ein diskurstheoretisches Rechtsverständnis versagt sich einer intersubjektiv begründeten Staatslehre, einer dementsprechend auf eine Staatsgewalt bezogenen staatsrechtlichen Ordnung und einem sogenannten „liberalen Rechtsparadigma“ von der Gewährleistung subjektiver öffentlicher Rechte gegenüber dem Staat. Danach soll die in der kritischen Philosophie zugrundegelegte Vereinbarkeit der Freiheit eines jeden mit den gleichen subjektiven Freiheiten aller erst im Zuge des sogenannten „liberalen Rechtsparadigmas“, also im Zuge einer angeblich durch die Interessenlage des liberalen Bürgertums bestimmten historischen Situation, zu einer Freiheitsgewährleistung gegenüber dem Staat „verkürzt“ worden sein. Den staatsbezogenen Abwehrrechten wird danach ein nur hinzugekommener derivativer Charakter zuerkannt. Erst mit der Konstituierung einer Staatsgewalt soll der zunächst intersubjektive Sinn wechselseitiger Anerkennung horizontal vergesellschafteter, freiwillig assoziierter Rechtsgenossen auf das Verhältnis zu 39 Siep (Fußn. 36), 22 f., 33 ff. „Anerkennung“ als transzendentalphilosophisches Vernunftprinzip von Rechts- und Verfassungsstaat ist danach ein „Prozess der gegenseitigen Konstitution von individuellem und allgemeinem Bewusstsein“ (a.a.O., 22). Sie ist sowohl Voraussetzung als auch Resultat von Recht und Staat. Es besteht eine Reziprozität von Legalität und Legitimität (Luf, Überlegungen zur Theorie der Anerkennung in der gegenwärtigen Rechtsphilosophie, Fußn. 36, 183 f.), eine Gleichrangigkeit von Freiheitgewährleistung und Kollektivwerten (a.a.O., 192 ff.), ein Verhältnis von Vereinigung und Distanz zwischen einzelnen und dem Staat (Luf, Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie, Fußn. 36, 297). 40 Dazu Isensee, HStR II, 3. Aufl. 2004, § 15 Rn. 174.
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einem Ganzen realer Staatlichkeit übertragen worden sein.41 In vergleichbarer Weise können fundamentaldemokratische Rechtstheorien, die sich durch eine angenommene Unvereinbarkeit von Demokratie und Staat definieren, eine konstruktive Bestätigung in bloß horizontalen subjektiven Beziehungen der Rechtsgenossen suchen wollen, soweit ihre Auffassungen sich nicht überhaupt nur aus politischen Motivationen erklären.42 Alle angesprochenen Fälle einer Diskurs- bzw. fundamentalen Demokratietheorie weisen eine Beziehung zum erörterten Prinzip intersubjektiver Anerkennung auf, werden aber von ihm in seinem ideengeschichtlichen, staatstheoretischen Aussagegehalt nicht getragen. Jene dargelegte ideengeschichtlich nachweisbare Rechtslehre auf der spezifischen Grundlage intersubjektiver Anerkennung jedenfalls kann weder für jene Diskurstheorie noch gegebenenfalls für jenes angesprochene fundamental-demokratische Rechtsverständnis als theoretische Grundlage beansprucht werden. Vielmehr gehört es gerade zur Kernaussage jener für die praktische Philosophie des Deutschen Idealismus wesentlich gewordenen Rechtslehre, dass die Vernunftbegründung des Rechts aus einer bewusstseinsmäßig empirischen intersubjektiven Anerkennung der Rechtsgenossen mit ebensolcher bewusstseinsmäßiger Notwendigkeit verbunden ist mit der Konstituierung zu einem Ganzen einer betreffenden Rechtsgemeinschaft und staatlichen Rechtsordnung sowie mit der Institutionalisierung einer zu deren Schutz erforderlichen Staatsgewalt. Solche ideengeschichtlichen Klarstellungen erlauben eine Zusammenfassung zu einer Staatslehre des vernunftbegründeten Verfassungsstaates, wie sie für dessen originäres kulturgeschichtliches Verständnis am epochalen Beginn in Deutschland kennzeichnend ist. Danach ist Verfassungsstaatlichkeit vernunftmäßig aus der in der Idee verallgemeinerten, unter empirischen Bewusstseinsbedingungen intersubjektiv ermöglichten apriorischen Freiheit der Einzelnen begründet und über den „Staat“ als einer dementsprechend konstitutionell verfassten Rechtsgemeinschaft vermittelt. Die betreffenden verfassungsrechtlichen Strukturen, Organisationsformen, Verfahren und Entscheidungen sind solche eines derartigen Staates. Den in der intersubjektiven Anerkennung materiell verbleibenden „ursprünglichen“ Frei41
Zusammengefasst bei Habermas, Faktizität und Geltung (4. Aufl. 1994), Taschenbuchausgabe 1998, 306. Zu der betreffenden Diskurstheorie auch die Beiträge in: Schaal (Hg.), Das Staatsverständnis von Jürgen Habermas, 2009. Kritik dazu bei Luf (Fußn. 14), 29 ff. und Zippelius, Rechtsphilosophie, 6. Aufl. 2011, § 26 I; zutreffend wird dort jene Auffassung angesichts der gesellschaftlichen Pluralität und von dementsprechend fehlenden Realbedingungen als „ideologische Anmaßung“ beurteilt (Luf) bzw. liberale Freiheit gegen demokratische Freiheit ins Feld geführt (Zippelius). 42 Bärsch (Fußn. 16), 7, 17 ff., 102 ff., 122 ff. Maus, Die Trennung von Recht und Moral als Begrenzung des Rechts, Rechtstheorie 20 (1989), 191 ff. und abgedr. bei ders., Zur Aufklärung der Demokratietheorie, 1994, 308 ff.; dies., Zur Theorie der Institutionalisierung bei Kant (1990), abgedr. bei ders., Zur Aufklärung der Demokratietheorie, 1994, 249 ff.; dies., von der Metaphysik des Widerstandsrechts zum nachmetaphysischen Prinzip der Volkssouveränität: Die Demokratietheorie Kants, in: dies., Zur Aufklärung der Demokratietheorie, 1994, 15 ff. Uhlenbrock, Der Staat als juristische Person, 2000, 167 ff., 176.
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heiten der Einzelnen einschließlich von deren sozialer Gewährleistung steht eine damit konforme objektive und eigenständige Gemeinwohl- bzw. Wertordnung des betreffenden staatlichen Ganzen gegenüber und die so vorhandene materielle Verfassungsordnung bindet und begrenzt die in den staatsrechtlichen Organisationsformen und Verfahren zustande kommenden Entscheidungen. Das vernunftmäßige Rechtsbildungsprinzip einer bewusstseinsmäßig empirischen, intersubjektiven Anerkennung zwischen den individuellen Rechtsträgern „ursprünglicher“ Freiheiten ist also in der Lage, für die Verfassungsstaatlichkeit eine Staatsvorstellung zu vermitteln. Sie vermag für einen solchen Verfassungsstaat auch in dessen geschichtlicher, verwirklichter Staatlichkeit seine Vernunftbegründung zu veranschaulichen und einen apriorischen Maßstab für jede seiner geschichtlichen Verwirklichungen zu liefern. Es ist die nachhaltige Leistung der dargelegten ideengeschichtlichen Grundlegung des Rechtsbildungsprinzips einer bewusstseinsmäßig empirischen, intersubjektiven Anerkennung, den Verfassungsstaat in einer vernunftbegründeten Staatstheorie erfasst zu haben, nach deren Rechtsvorstellung die Individuen nicht ohne Staat denkbar sind und der Staat nicht ohne die Individuen. Weder die einen noch der andere erscheinen dabei verabsolutiert.43 In diesem letzteren Punkt allerdings hat das Rechtsbildungsprinzip intersubjektiver Anerkennung schließlich in der praktischen Philosophie des Deutschen Idealismus noch eine wesentliche und wirkungsträchtige Akzentuierung erfahren.44 Folgerichtig musste auf der Grundlage der intersubjektiven Anerkennungslehre die Einsicht zur Geltung kommen, dass bei einer geschichtlichen Verwirklichung dieses rechts- und staatstheoretischen Prinzips anstatt einer völligen intersubjektiven Wechselwirkung zwischen den Individuen schließlich doch die hierbei konstituierten Institutionen des Staates einen „Primat“ der in ihnen verwirklichten Allgemeinheit erzeugen, dass sich also eine „Asymmetrie“ zugunsten des im Staat institutionalisierten allgemeinen Willens im Verhältnis zu den Individuen einstellt.45 Es kann dahingestellt bleiben, ob es sich bei dieser ideengeschichtlichen Konsequenz um eine immanente Fortentwicklung innerhalb der genannten, also der ideengeschichtlich vorangegangenen praktischen Philosophie gehandelt hat oder um eine originäre Erneuerung derselben. Jedenfalls hat sich mit jenem Gedankenschritt die praktische Philosophie gänzlich der Frage einer Verwirklichung im Bereich eines objektiven geschichtlichen Geistes zugewandt.46 Sie ist dadurch in eine Philosophie bzw. Phäno43
Siep (Fußn. 36, 1979), 22. In der Staatslehre Hegels; zu diesem Entwicklungsschritt der Anerkennungslehre, d. h. von Fichte zu Hegel, siehe Siep, a.a.O, 22 f., 34 f. 45 Siep, a.a.O, 23, 278 ff. 46 Dazu schon Bartlsperger (Fußn. 16), 50 m. Nachw. in Fußn. 109. Es handelt sich um den Schritt zur „Wirklichkeit der konkreten Freiheit“ (N. Hartmann, Die Philosophie des deutschen Idealismus, II. Teil – Hegel, 1929, 339 ff.), vom individuellen bzw. vom gemeinsamen Willen zum Allgemeinen oder von der „Moralität“ zur „Sittlichkeit“; dazu Brie, Der Volksgeist bei Hegel und in der historischen Rechtsschule, 1909, 16 f., 20; Kaufmann, Kritik der neukantischen Rechtsphilosophie, 1921, in: ders., Rechtsidee und Recht, Gesammelte 44
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menologie des Geistes eingegangen, speziell was dessen geschichtliche Verwirklichung in einem objektiven und eigenständigen geistigen Gebilde angeht.47 Infolgedessen hat sie sich zu einer Geschichtsphilosophie entwickelt und ist, was die konkrete geschichtliche Verwirklichung betrifft, gerade zu einer Rechts- und Staatslehre geworden.48 Bekanntlich sollte sie als solche dann zum Gegenstand prinzipieller, noch in der gleichen Epoche einsetzender Auseinandersetzungen um eine politische Philosophie des Verfassungsstaates werden.49 In der Staatsrechtslehre ist sie über die Zeiten hin zu einem stets gegenwärtigen, wesentlichen ideengeschichtlichen Ausgangspunkt für staatstheoretische Kontroversen um den Staatsbegriff im Verfassungsstaat geworden sowie in Verbindung damit für einen grundlegenden Methodenstreit um ein staatsrechtliches „Denken vom Staat her“.50
II. Verfassungsstaat geschichtsphilosophisch – Der Staat als Verwirklichung konkreter Freiheit und Vernunft 1. Die genannte und bekannte Entwicklung jener von der kritischen Philosophie ausgehenden und dann den Deutschen Idealismus prägenden praktischen Philosophie zu einer Philosophie bzw. Phänomenologie des Geistes und in diesem Sinne zu einer Geschichtsphilosophie lässt sich als ein abschließender, aber auch ideengeschichtlich eigener Abschnitt jener geistesgeschichtlichen Epoche betrachten. Denn hiermit hat sich die vernunftbegründete praktische Philosophie wesentlich der geSchriften, Bd. III, 1960, 176/211 ff., 285 f., 290 f.; Ritter, Auseinandersetzung mit der kantischen Ethik, 1966, in: ders., Metaphysik und Politik, 2003, 281 ff.; Horstmann, Wahrheit aus dem Begriff, 1990, 53 ff.; Emundts/Horstmann, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, 2002, 9 f. 47 Windelband (Fußn. 16), 342 ff.; Lask, Gesammelte Schriften I, 1923, 334, 337, 344 ff.; Litt, Hegel, 1923, 99; Wenke, Hegels Theorie des objektiven Geistes, 1927; Hartmann, a.a.O, 270 ff., 282 ff., 298 ff., 303 ff., 355; Moog, Hegel und die Hegelsche Schule, 1930, 289 ff., 310 ff.; Ritter, Hegel und die Französische Revolution (1956), in: ders. (Fußn. 46), 234 (Exkurse), 247 f.; Riedel, Objektiver Geist und praktische Philosophie, 1968, in: ders., Studien zu Hegels Rechtsphilosophie, 1969, 11/40 f.; Siep, Zur Dialektik der Anerkennung bei Hegel (1974), in: ders. (Fußn. 16), 172 ff.; ders., „Gesinnung“ und „Verfassung“, in: ders. (Fußn. 16), 270 ff.; ders., Hegels politische Philosophie (1990), in: ders. (Fußn. 16), 307/ 314 ff., 317, 320, 325 f., 328; Schnädelbach, Hegel zur Einführung, 1999, 111, 121, 127; Emundts/Horstmann, a.a.O., 12, 37 ff. 48 Windelband, a.a.O, 345 ff., Rosenzweig, Hegel und der Staat, Zweiter Band, 1920, Neudr. 1962, 88; Riedel, Tradition und Revolution in Hegels „Philosophie des Rechts“ (1962), in: ders., a.a.O., 110 f.; Siep, Hegels politische Philosophie, in: ders. (Fußn. 16), 307/314, 317 f., 327 f.; im Hinblick auf die organische Staatslehre Häfelin, Die Rechtspersönlichkeit des Staates, I. Teilband 1959, 90 ff. 49 Zu dem Vorwurf einer Rechtfertigung seinerzeitiger politischer Reaktion und Restauration Bartlsperger (Fußn. 16), 51 m.Nachw. in Fußn. 111. Ferner Heller (Fußn. 23), V f., 20 ff., 57 ff., 131 ff., 159 ff., 167 ff., 175 f.; bereits zu Kant kritisch Bärsch (Fußn. 16), 138 ff., 142 f., 147 ff.; zur politischen Wirkungsgeschichte der Hegelschen Rechtsphilosophie Dreier, Bemerkungen zur Rechtsphilosophie Hegels (1980), in: ders., Recht, Moral, Ideologie, 1981, 316 f. 50 Günther, Denken vom Staat her, 2004 und Möllers, Staat als Argument, 2000.
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schichtlichen Verwirklichung von Freiheit und Vernunft in der Gemeinschaft zugewendet und hierbei ihre rechts- und staatstheoretische Blickrichtung umgekehrt. Diese geht nicht mehr von der „ursprünglichen“ individuellen Freiheit und von deren wechselseitiger materieller Beschränkung zu der hierbei konkret konstituierten Gemeinschaft hin, sondern nunmehr von der die individuelle Freiheit konkret verwirklichenden Gemeinschaft zu der innerhalb derselben verbleibenden materiellen Freiheit des Einzelnen. Es hatte schließlich auch im kulturgeschichtlichen Trend jener Zeit gelegen, Rechtsordnung und Rechtslehre mit einer Vorstellung vom geschichtlichen „Volksgeist“ in Verbindung zu bringen. Denn auch für die zeitgleich in der Rechtswissenschaft speziell zur maßgeblichen und wirkungsträchtigen Rechtslehre sich entfaltenden Historischen Rechtsschule gilt der „Volksgeist“ als Vermittler der Rechtsbildung und als Verwirklichung des Rechts.51 Aber grundlegend anders als in jener fachspezifischen, zivilistischen Rechtslehre, die den „Geist“ und speziell das „System“ des Rechts aus Tradition und Kontinuität erkennen zu müssen glaubte, gelten jener vernunftbegründeten Geschichtsphilosophie Freiheit und Vernunft, also die transzendentalphilosophischen Prinzipien praktischer Philosophie, als Prinzipien der Rechtsbildung. Diametral entgegen jener spezifischen Rechtslehre betrachtet diese Geschichtsphilosophie das Recht als Produkt der sich in ihm konkret verwirklichenden Freiheit und Vernunft.52 In der Rechtsgemeinschaft konstituieren sich die Institutionen des Staates und dieser als geschichtliche Realität ist es, der wiederum den Einzelnen das Recht vermittelt. Das Recht ist positives Recht; aber nicht, wie im Positivismus der Historischen Rechtsschule, die Geschichte bringt es hervor, sondern der Staat als konkrete geschichtliche Wirklichkeit von Freiheit und Vernunft vermittelt es. 2. Im Zuge der ideengeschichtlichen Wendung vernunftbegründeter praktischer Philosophie zu einer vernunftbegründeten Geschichtsphilosophie ist es gelungen, auch der in jener Epoche unternommenen originären Vernunftbegründung von Recht und Staat jedenfalls die grundlegende Richtung zu weisen, um dieselben in ihrer „äußeren“, geschichtlichen Wirklichkeit kategorial seiensmäßig begreifbar zu machen. Dies ist innerhalb der entsprechenden Philosophie bzw. Phänomenologie des Geistes mit der kategorial seinsmäßigen Annahme und Verdeutlichung von Gebilden „objektiven Geistes“ geschehen.53 Deren kategorial seinsmäßige Struktur wurde dahin offengelegt, dass in kategorialer Abhängigkeit vom subjektiven geistigen Bewusstsein und von der geistigen Tätigkeit der Einzelnen sowie von deren 51
Zur Historischen Rechtsschule Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1967, 348 ff., 377 ff.; weitere Nachw. und zur fehlenden Bedeutung für die Staatslehre Bartlsperger (Fußn. 16), 32 f. 52 Dazu Brie (Fußn. 46), 7 ff., 16 f., 20 ff.; Rosenzweig (Fußn. 48), Erster Band, 23 ff., 105 f., 167; Heller (Fußn. 23), 61; Schönfeld, Puchta und Hegel, in: Larenz (Hg.), FG Binder, 1930, 1/26 ff., 33 f., Ritter, Person und Eigentum. Zu Hegels „Grundlinien der Philosophie des Rechts“ §§ 34 – 81 (1961), in: ders. (Fußn. 46), 257/261 ff.; Riedel (Fußn. 48), 100 f., Ottmann, Individuum und Gemeinschaft bei Hegel, Band I, Hegel im Spiegel der Interpretationen, 1977, 249, 244; Emundts/Horstmann (Fußn. 46), 10. 53 Nachw. Fußn. 47.
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wechselseitiger „Anerkennung“ sich zugleich ein allgemeiner Wille bildet, der zu einer ebenso kategorial eigenen Wirklichkeit findet und unter einer solchen Voraussetzung sich zu einem Produkt seiner selbst entwickelt.54 Die kategorial eigene geistige Realität und Aktivität setzt ihn nicht zuletzt in die Lage, wiederum in eine Wechselseitigkeit, d. h. in eine konstituierende Beziehung zum Bewusstsein der Einzelnen zu treten. Die seinsmäßige Eigenheit von Korporationen als Gebilden objektiven Geistes wurde also schon in einer auch von der nachfolgenden Ontologie nicht mehr grundlegend veränderten kategorialen Bestimmtheit erkannt, dass dieselben „durch ihre eigene inhaltliche Struktur bestimmt werden, dieser auch in ihrer geschichtlich konkreten Fortentwicklung folgen und dementsprechend auch ihre eigenen begrifflichen Strukturen besitzen“.55 Darin hat auch jede auf Gebilde objektiven Geistes, wie den Staat und seine staatsrechtliche Ordnung, gerichtete Begriffsbildung ihre kategoriale Voraussetzung; die betreffenden Begriffe verdanken sich ungeachtet ihres transzendentalen Charakters einer wechselseitigen Bindung an die betreffenden, sich selbst realisierenden Objektivierungen geistiger Inhalte. Mit der im Rahmen jener Philosophie bzw. Phänomenologie des Geistes in die Begriffswelt eingeführten Seinskategorie von Gebilden objektiven Geistes war ersichtlich eine wesentliche Voraussetzung für die Staatslehre geschaffen worden, um auf der Grundlage und in Gemäßheit der epochalen originären Vernunftbegründung des Verfassungsstaates den Begriff des Staates überhaupt aus dessen „inneren Staatsrecht“56 vollends deutlich zu machen. In demselben erscheint der Staat als „die Wirklichkeit der konkreten Freiheit“ und der konkreten Vernunft, d. h. als Form des vernünftigen freien Willens unter historischen Bedingungen. Damit ist das „Prinzip des modernen Staates“ bezeichnet.57 Es besteht darin, „das Prinzip der Subjektivität sich zum selbständigen Extreme der persönlichen Besonderheit vollenden zu lassen und zugleich es in die substantielle Einheit zurückzuführen und so in ihm selbst diese zu erhalten.“58 Man kann also festhalten, dass die dargelegte, einer vernunftbegründeten Geschichtsphilosophie zugehörige und aus einer spezifischen Philosophie bzw. Phänomenologie des Geistes entwickelte Staatslehre die epochale und originäre Vernunftbegründung des Verfassungsstaates in Deutschland auf einen grundsätzlich überzeugenden und brauchbaren Weg zu führen sowie eine wirkungsträchtige ideengeschichtliche Grundlage für eine entsprechende Staatstheorie und Staatsrechtslehre des Verfassungsstaates aufzuzeigen vermochte. Ihrer philosophischen Grundlegung ist denn auch noch in beträchtlichem zeitlichem Abstand bestätigt worden, dass sie „eine der bedeutendsten und entschiedensten Großtaten der Geistesgeschichte“ ge54
Dazu Bartlsperger (Fußn. 16), 55 m. Nachw. Bartlsperger a.a.O. 56 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), neu die 4. Ausgabe, stw. 607, 1986, §§ 257 ff.; zum „inneren Staatsrecht“ § 259 f. 57 A.a.O, § 260. 58 A.a.O. 55
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wesen sei.59 Aber von einer augenscheinlichen und bekannten, kurzfristigen bestimmenden Rolle im zeitgeschichtlichen Geistesleben abgesehen, ist ihren unmittelbaren Aussagen und Bedeutungsgehalten wegen zeitgeschichtlicher Veränderung kein uneingeschränkter nachhaltiger Erfolg beschieden gewesen. In der Staatsrechtslehre konnte dies schon deshalb nicht der Fall sein, weil sich dort ab der Jahrhundertmitte die der geschichtlichen Wirklichkeit von Recht und Staat sich versagende „juristische“ Methode der aus dem Zivilrecht kommenden, aber generell beherrschenden Historischen Rechtsschule60 sowie deren staatstheoretisch folgerichtige, formalistische Staatskonstruktion aus dem Willens- und dem monarchischen Herrschaftsprinzip durchsetzen konnten.61 3. Indessen jenes Werk selbst gibt nachweislichen Anlass zu prinzipieller Kritik, was seine spezifisch idealistischen Annahmen angeht, vor allem was seine damit in Verbindung stehende politische Philosophie in ihrem authentischen Erscheinungsbild betrifft. Diese musste in ihrer entschieden dem monarchischen Prinzip folgenden Auffassung vom konstitutionellen Staat als konservativ und antiliberal gelten sowie mit der restaurativen Politik jener Epoche in Verbindung gebracht werden.62 Die Kritik daran setzt angesichts der frühkonstitutionellen Entwicklung und einer breiten, gegen einen monarchischen „Machtstaat“ gerichteten politischen Bewegung unverzüglich ein; sie ist in ermüdenden Wiederholungen bis heute lebendig. Nicht selten verschließt sie sich dabei der Möglichkeit, zwischen dem Werk in seiner Authentizität einerseits sowie dessen ideen- und wirkungsgeschichtlichem Aussage- und Bedeutungsgehalt andererseits zu trennen.63 Hiervon betroffen ist auch die vorstehend erörterte, auf die kategorial seinsmäßige Annahme von Gebilden des objektiven Geistes gegründete Staatslehre vom Verfassungsstaat als objektiver und eigenständiger geschichtlicher Realität. Keine staatstheoretische Bezugnahme oder Anknüpfung an diese Staatslehre kann umhin, jene Werk-Kritik wenigstens in wesentlichen Punkten einzubeziehen, weil eigentlich erst die betreffenden Auseinandersetzungen die wirklich wichtigen und nachhaltig bedeutsamen Punkte des Werks deutlich in Erscheinung treten lassen. Nach einer zentralen authentischen Aussage des Werks besteht der Staat als „die Wirklichkeit der sittlichen Idee“ dergestalt, dass er an „der Sitte seine unmittelbare 59
Kaufmann (Fußn. 46), 292. Fußn. 51. 61 Grundlegung jener für den Staatsrechtlichen Positivismus bestimmenden Staatsrechtslehre bei v. Gerber, Über öffentliche Rechte (1852), Abdr. 1913 sowie ders., Grundzüge eines Systems des Deutschen Staatsrechts (1865), 2. Aufl. 1869, 3. Aufl. 1880. Dazu schon Bartlsperger (Fußn. 16), 33 f. m.Nachw. und ders. (Fußn. 17), 22 ff. 62 Fußn. 49. 63 Zur Notwendigkeit, in Hegels Philosophie des Rechts die „Wirkungsgeschichte und systematische Konzeption von besonderen zeitbezogenen Äußerungen des Autors zu unterscheiden“, Siep, Verfassung, Grundrechte und soziales Wohl in Hegels Philosophie des Rechts (1991), in: ders. (Fußn. 16), 285, 285 ff.; ders., Zschr f. phil. Forschung 35 (1981), 518 ff.; so auch Hartmann (Fußn. 46), 9 ff. 60
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und an dem Selbstbewusstsein des Einzelnen, dem Wissen und Tätigkeit desselben, seine vermittelte Existenz, sowie dieses durch die Gesinnung in ihm, als seinem Wesen, Zweck und Produkte seiner Tätigkeit, seine substantielle Freiheit hat.“64 Was im Anschluss hieran die Vernunftbegründung des Staates angeht, gilt dieser „als die Wirklichkeit des substantiellen Willens, die er in dem zu seiner Allgemeinheit erhobenen besonderen Selbstbewusstsein hat, das an und für sich Vernünftige.“65 Für diese speziell staatstheoretische Annahme grundlegend ist das hieran zur Geltung kommende, generell angenommene Verhältnis von Vernunft und Wirklichkeit. Es ist in der bekannten Formulierung zusammengefasst: „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig.“66 Die Werk-Kritik sieht hierin eine Anerkennung der jeweiligen Staatswirklichkeit, also einen Ausdruck prinzipieller Staatshörigkeit sowie im zeitgeschichtlichen Zusammenhang ein Bekenntnis zu einer dem monarchischen Herrschaftsprinzip verpflichteten, letztlich antiliberalen und antidemokratischen konstitutionellen Ordnung. Das letztere ist in dem Werkzusammenhang und anderweitig nachweislich für die fachspezifische Befassung mit dem Werk und mit dessen Urheber durchaus von besonderem Interesse, aber über seinen zeitgeschichtlichen Zusammenhang hinaus weder als politische Philosophie noch in staatstheoretischer Hinsicht von Belang. Dagegen bildet die genannte, allenthalben gegenwärtige und für das Werk plakativ stehende Gleichsetzung des Vernünftigen mit dem Wirklichen sowie des Wirklichen mit dem Vernünftigen einen an sich, nicht zuletzt staatstheoretisch nachhaltig relevanten Problemfall. Denn es könnte damit eingeschlossen sein, dass jeder „tatsächliche“ Zustand von Staat und staatsrechtlicher Ordnung auch immer als „vernünftig“ zu gelten hätte. Dann könnten im Ergebnis doch die seinerzeit in der staatlichen Wirklichkeit innerhalb des Deutschen Bundes als bestimmend hervorgetretene Restaurationspolitik und deren konstitutionell strikt verfochtenes monarchisches Herrschaftsprinzip mit dem philosophischen Prädikat der Vernünftigkeit identifiziert worden sein. So konnte denn auch zu den betreffenden Stellen des Werks bemerkt werden, dass es sich um ein „publizistisches Unglück“ oder um eine „politische Peinlichkeit“ gehandelt habe.67 Aber auch insofern bedarf die ideengeschichtliche Würdigung des Werks letztlich einer notwendigen Distanz zu politischen Assoziationen, und zwar sowohl gegenüber dem angesprochenen, im Werk selbst vorhandenen Bekenntnis zum seinerzeit maßgeblichen Prinzip konstitutioneller Monarchie als auch gegenüber generellen Identifikationen des Werks mit einer unterstellten politischen Philosophie. In verständlicher Weise konnte es damals unter den zeitgeschichtlichen politischen Verhältnissen zu einer Missdeutung des ideengeschichtlich und nachhaltig Wesentlichen in dem Werk kommen und gleiches kann für dessen jeweils aktuelle Interpretationen gelten, dieses habe in der „tatsächlichen“ Wirklichkeit eines Staates das „an und für sich Ver64
Fußn. 56, § 257. A.a.O, § 258. 66 A.a.O, Vorrede, S. 24. 67 Schnädelbach (Fußn. 47), 121 bzw. Siep, Vernunftrecht und Rechtsgeschichte, in: ders., G. W. F Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1997, 9 f. 65
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nünftige“ sehen wollen. Aber demgegenüber kann eine prinzipielle Unterscheidung zu machen sein zwischen dem „Tatsächlichen“ eines politischen bzw. staatsrechtlichen Zustandes und einer im Werk bei genauerer Betrachtung gemeinten „wahrhaften“ Verwirklichung der Vernunft im Staat.68 Für Letzteres spricht die vorstehend dargelegte ideengeschichtliche Anknüpfung und die Genese der staatstheoretischen Annahme vom Staat als einer objektiven und eigenständigen geschichtlichen Wirklichkeit. Denn nachweislich stellt sich das Werk in seinen staatstheoretischen Aussagen als eine Rezeption und Fortbildung der erörterten Anerkennungslehre dar, welche die Vorstellung einer vernünftigen wechselseitigen, intersubjektiven Anerkennung der Einzelnen mit der Annahme einer hierdurch notwendigerweise zugleich vernunftbegründeten geschichtlichen realen Staatlichkeit verbunden hatte. Dementsprechend ist es dann in der geschichtsphilosophischen Fortführung jener Annahmen zu der staatstheoretischen Feststellung gekommen, dass der Staat „als die Wirklichkeit substantiellen Willens, die er in dem zu seiner Allgemeinheit erhobenen besonderen Selbstbewusstsein hat, das an und für sich Vernünftige“ ist.69 Es erscheint somit als der von der kritischen Philosophie ausgegangene, durchgehende ideengeschichtliche Wesenszug in der originären Vernunftbegründung des Staates, dass dieser sich von der individuellen Vernunft, d. h. von der Freiheit des Einzelnen, ausgehend konstituiert, auch wenn er hierbei zu einer objektiven und eigenständigen geschichtlichen Wirklichkeit wird. In der seinerzeitigen epochalen, originären Vernunftbegründung des Verfassungsstaates ist selbstredend die Verwirklichung von Vernunft, d. h. des von der individuellen Freiheit der Einzelnen ausgehenden Allgemeinen, das Prinzip der Staatsbildung und nicht jede Verwirklichung einer staatlichen Ordnung, wie sich eine solche seinerzeit auf der alleinigen Grundlage eines monarchischen Herrschaftsprinzips noch zu behaupten versuchte. Als vernünftig gelten danach nicht alle bestehenden staatlichen Institutionen, sondern nur diejenigen, die aus einer Entwicklung der zur objektiven und eigenständigen Allgemeinheit „aufgehobenen“ Vernunftwillen der Einzelnen hervorgehen. Konservativ ist eine solche Staatslehre lediglich insofern, als sie den in einer kontinuierlichen Entwicklung zur objektiven und eigenständigen Allgemeinheit gelangenden Staat als Verwirklichung der Vernunft beurteilen möchte. Zutreffend war und ist also die Kritik am Werk, weil dieses in der damaligen politischen Restauration des monarchischen Herrschaftsprinzips als alleiniger Grundlage der staatsrechtlichen Ordnung eine kontinuierliche Entwicklung der seinerzeitigen staatlichen Zustände hatte erkennen wollen. Der Fehlgriff liegt in der Verkennung der zwischenzeitlichen Entwicklung der Staatsidee zum Verfassungsstaat. Danach muss das Werk als politische Philosophie in seiner damaligen zeitgeschichtlichen politischen Verstrickung getrennt werden vom Werk in seinem 68
So Brie (Fußn. 52), 16; Windelband (Fußn. 47), 347; Lask (Fußn. 47), 337 f.; Binder, Philosophie des Rechts (1925), Neudr. 1967, 513; Hartmann (Fußn. 46), 309; Ritter, Hegel und die Französische Revolution (1956), in: ders. (Fußn. 46), 238 ff.; Marquard, Philosophisches Jahrbuch 72 (1964), 103 ff.; Horstmann, Grenzen der Vernunft, 1991, 177 ff., 243 f.; ferner schon Bartlsperger (Fußn. 16), 51. 69 Hegel (Fußn. 56), § 258.
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ideengeschichtlich und wirkungsträchtig prinzipiellen staatstheoretischen Aussageund Bedeutungsgehalt. Dieser gilt dem Staat als vom ethischen Selbstbewusstsein und vom Vernunftwillen der sich wechselseitig „anerkennenden“ Einzelnen getragenen, zu einer objektiven und eigenständigen Allgemeinheit sich entwickelnden geschichtlichen Wirklichkeit. Dieses Ergebnis war zuletzt, wie dargelegt, auf der Grundlage und im Rahmen einer Philosophie bzw. Phänomenologie des Geistes entwickelt worden, einer Geschichtsphilosophie zur Verwirklichung des Geistes auf einem Weg von seiner Subjektivität über seine geschichtliche Objektivierung zu einer Sphäre seiner Verabsolutierung.70 Es handelte sich um die Metaphysik eines logischen Idealismus. Sie hat indessen weder der erörterten, ideengeschichtlich unmittelbar vorangegangenen Staatsbegründung aus der Verallgemeinerung wechselseitiger individueller Anerkennung zugrunde gelegen, noch hat sie sich in der nachfolgenden, auf phänomenologischer Grundlage entstandenen sogenannten Neuen Ontologie als fortführungsbedürftig oder auch nur rezeptionsfähig für die Annahme von kategorial seinsmäßigen Gebilden objektiven Geistes erwiesen.71 Die mit der kritischen Philosophie begonnene, epochale originäre Vernunftbegründung des Verfassungsstaates kann auch ohne jenes Element eines logischen Idealismus als überzeugende und brauchbare Grundlegung einer Staatstheorie vom Staat als objektiver und eigenständiger geschichtlicher Wirklichkeit gelten.72 Das kategorial seinsmäßige Gebilde objektiven Geistes als Seinsweise von Gemeinschaft, Rechtsordnung und Staat hat im weiteren ideengeschichtlichen Verlauf der betreffenden Philosophie, nämlich in der auf phänomenologischer Grundlage entwickelten sogenannten Neuen Ontologie, eine nachidealistische Karriere gemacht.73 4. Man kann danach zur Ausgangs- und Entwicklungsepoche einer Staatslehre vom Verfassungsstaat in Deutschland festhalten, dass der Verfassungsstaat unter den seinerzeitigen epochalen, kulturgeschichtlich maßgeblichen Umständen zum Gegenstand praktischer Philosophie in der sogenannten Kritik und im Deutschen Idealismus geworden war, dabei eine originäre Vernunftbegründung erfahren hat 70
Nachw. zum Begriff des objektiven Geistes Fußn. 47. Zur sogenannten Neuen Ontologie Hartmann, Neue Wege der Ontologie, 2. Aufl. (o. J.), ders., Zur Grundlegung der Ontologie, 3. Aufl. 1948; dabei zu den kategorial seinsmäßigen Gebilden objektiven Geistes ders., Der Aufbau der realen Welt, 2. Aufl. 1949, 21, 27, 195 ff.; ders., Das Problem des geistigen Seins, 3. Aufl. 1962, 177 ff.; ders., Ethik, 4. Aufl. 1962, 243 ff.; speziell zum nachidealistischen Charakter der neuen Ontologie ders. (Fußn. 46), 14, 19 ff. 72 Zur nachwirkenden Bedeutung der Hegelschen Staatslehre Marquard, Philosophisches Jahrbuch 72 (1964), 103/109 ff.; Ottmann (Fußn. 52), 1 f., 224 ff., 261 ff., 299 ff.; Siep (Fußn. 67), 5/13, Fulda, G.W.F. Hegel, 2003, 226 ff. 73 Speziell zu Recht und Staat als geschichtlich realen, eigenständigen geistigen Objektivationen Hartmann, Der Aufbau der realen Welt; dazu schon Bartlsperger (Fußn. 16), 54 ff.; ferner insofern zur gebotenen ideengeschichtlichen Fortbildung der Hegelschen Rechts- und Staatslehre Dulckeit, Rechtsbegriff und Rechtsgestalt – Untersuchungen zu Hegels Philosophie des Rechts und ihrer Gegenwartsbedeutung, 1936, 13 f. 71
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und mit einem Staatsbegriff verbunden, d. h. als „Staat“, nicht nur als Verfassungsordnung, begriffen worden war. Im Verlaufe der Hinwendung praktischer Philosophie zu einer Staatstheorie des Verfassungsstaates in dessen „äußerer“ Wirklichkeit musste schließlich eine Staatslehre entstehen, die den Staat in der kategorialen Seinsweise eines Gebildes objektiven Geistes erkannt hat. Diese Staatslehre des vernunftbegründenden Verfassungsstaates hat ihren Weg genommen von einer zunächst in der kritischen Philosophie lediglich explizierten Idee a priori vom Staat zu einer im empirischen Bewusstsein vorhandenen, von intersubjektiver individueller Anerkennung zur Allgemeinheit „aufgehobenen“ Staatswirklichkeit und schließlich zu einer objektivierten und eigenständigen geistigen Realität des Staates. Daher ist der Verfassungsstaat in Deutschland von Anfang an mit Fragen eines Staatsbegriffs und eines dementsprechenden staatsrechtlichen Methode verbunden und er ist es traditionell geblieben. Für die Staatsrechtslehre sind diese Fragen grundlegend wie keine anderen geworden. Sie haben dementsprechende, geradezu epochenbildende Kontroversen ausgelöst. Sogleich um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts hat ein abrupter Bruch mit der philosophischen Entwicklung im allgemeinen sowie mit der durch die dargelegte philosophische Grundlegung des Verfassungsstaates wesentlich mitgeprägten frühkonstitutionellen Epoche von Staatstheorie und Staatsrechtslehre stattgefunden.74 Zwar ist der Staatsbegriff sogar noch stärker ins Blickfeld getreten durch die zwischenzeitliche rechtswissenschaftliche „Entdeckung“ des Staates als Rechtspersönlichkeit.75Aber das geschichtliche Werden der Idee des Verfassungsstaates hat nicht nur in politischer Hinsicht nach dem Scheitern der Frankfurter Nationalversammlung, sondern auch durch spezifische Entwicklungen in der Staatsrechtslehre eine grundlegende Unterbrechung erfahren. Es waren philosophisch begründete, methodische „Verwicklungen“ von gänzlich eigengearteter theoretischer Herkunft bzw. Begründung, in welche Staatstheorie und Staatsrechtslehre verstrickt wurden.76
74 Zum Bruch in der philosophischen Entwicklung Schmitt, ZgStW 100 (1940), 5/16 ff.; Riedel (Fußn. 48), 100 ff.; Lübbe, Poltische Philosophie in Deutschland, 1963, 77, 85 f.; Faber, Hist. Zschr. 2003 (1966), 1/8, 17 f., 39; Krüger (Fußn. 16), 49/58 f.; Stolleis (Fußn. 1), 323 (methodischer Umbruch), 424 f.; in dem Zusammenhang zum Aufkommen der sozialen Frage Lübbe, a.a.O., 73 f.; Jouanjan, Savigny Zschr. f. Rechtsgeschichte, Germ. Abt. 125 (2008), 367 ff. „Der Rhythmus des Rechtsdenkens folgte grundsätzlich dem der Philosophie“ (Jouanjan, a.a.O., 269). 75 Albrecht, Rezension über Maurenbrechers Grundzüge des heutigen deutschen Staatsrechts, Göttinger Gelehrte Anzeigen 1837, 1489 ff. und 1508 ff. (Neudr. 1962); dazu Häfelin (Fußn. 48), 84 ff.; Wyduckel, Jus Publicum, 1984, 289 ff.; zum hierbei zugrundeliegenden organischen Staatsverständnis Stolleis, a.a.O., 91; zu einer Rezeption der Hegelschen Staatslehre hierbei Heller (Fußn. 23), 166 f. 76 So Jouanjan (Fußn. 74), 367 ff. hinsichtlich des staatsrechtlichen Positivismus.
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III. Verfassungsstaat „juristisch“ – Die Staatsrechtslehre in methodischen „Verwicklungen“ 1. Man kann sich Situation und Zustand der Staatsrechtslehre in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, namentlich am politisch markierten Ende jener frühkonstitutionellen Epoche, vor Augen führen. Frühkonstitutionell kann diese Epoche, wie schon eingangs gesagt, deshalb bezeichnet werden, weil ihr die ersten staatsrechtlichen Ansätze einer konstitutionellen Ordnung auf der Ebene des Deutschen Bundes und in einigen Bundes-Gliedern angehören sowie kasuelle oder dauerhaft sich entwickelnde konstitutionelle bzw. verfassungsstaatliche politische Bewegungen ein wesentliches Gepräge geben. In der Staatsrechtslehre waren angesichts grundlegender Gegensätze im politischen Verständnis und in der Rechtskonstruktion des konstitutionellen Staates nur bedingt übereinstimmende theoretische und dogmatische Ansätze erkennbar.77 Zum Teil hatten die konstitutionellen Auffassungen ihre Herkunft noch in vernunftnaturrechtlichen Staatstheorien,78 zum Teil entsprangen sie lediglich dem Bemühen um eine Systematisierung des partikularen, unter dem Deutschen Bund bestehenden Staatsrechts der Bundes-Glieder. Zu einem wesentlichen Teil aber erscheint die frühkonstitutionelle Staatsrechtslehre jedenfalls in einer, wenngleich wenig offengelegten und nachweisbaren Weise, von der vorstehend erörterten Vernunftbegründung des Verfassungsstaates und seiner staatsrechtlichen Ordnung durch die praktische Philosophie der Epoche geprägt.79 Das hat ihr unter anderem den zeitgenössischen Vorwurf einer „Philosophie“ oder einer Staatsrechtslehre „politischer Professoren“ eingetragen.80 In einer gebräuchlichen Zusammenfassung kann man die Kennzeichnung als „allgemeines deutsches Staatsrecht“ verwenden.81 Eine darin regelmäßig anzutreffende Gemeinsamkeit kann man in jener Epoche der Staatsrechtslehre jedenfalls erkennen und festhalten. Denn staatstheoretisch war sie jeweils von einer organischen Staatsauffassung getragen und be77 Darstellung bei Stolleis (Fußn. 1), 81 ff., 96 ff., 121 ff., 322 ff.; Robbers, Der Staat, Beih. 11, 1996, 103 ff.; zu den politischen Bewegungen Würtenberger, Der Staat 37 (1998), 165 ff. 78 Schmitt, ZgStW 100 (1940), 5/10 ff.; Stolleis, a.a.O., 98; Robbers, a.a.O., 103/105 f. 79 Zu deren grundlegendem Einfluss auf das organische Denken der Zeit Heller (Fußn. 23), 91 ff.; Lübbe (Fußn. 74), 69 ff., 94 f.; Jouanjan (Fußn. 74), 373 ff.; Entsprechendes gilt für die politische Theorie in der Nachfolge Hegels (Lübbe, a.a.O., 27 ff.). 80 Stolleis, a.a.O., 119 f., 266 f.; es wird auch von dem „Vorspiel im philosophischen Himmel“ gesprochen (v. Gerber, Fußn. 61, Grundzüge des Systems des Deutschen Staatsrechts, 238). 81 H. Schulze, Ueber Prinzip, Methode und System des deutschen Staatsrechts, Aegidis Zschr. f. Deutsches Staatsrecht und Deutsche Verfassungsgeschichte 1 (1867), 451; Schmitt, ZgStW 100 (1940), 5/8; Stolleis, a.a.O., 96 ff., 322 ff. Zur Staatsrechtslehre in der ersten Hälfe des 19. Jahrhunderts v. Mohl, Das positive deutsche Staatsrecht seit der Gründung des Bundes, in: ders., Die Geschichte und Literatur der Staatsrechtswissenschaften, Zweiter Band, 1856, 235 ff.; v. Gierke, ZgStW 30 (1874), 153 (166 ff.); Zorn, JöR 1 (1907), 49; SchmidtAßmann, Der Verfassungsbegriff in der deutschen Staatsrechtslehre der Aufklärung und des Historismus, 1967, 196; Häfelin (Fußn. 48), 69 ff.; Friedrich, Geschichte der deutschen Staatsrechtswissenschaft, 1997, 210 ff.
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stimmt.82 Deshalb rechtfertigt es sich, von einer frühkonstitutionellen Organismustheorie in der Staatsrechtslehre der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhundert zu sprechen, im Unterschied zu der späteren und weitaus bekannteren, spezifisch gegen den staatsrechtlichen Positivismus der spätkonstitutionellen Epoche gerichteten Organismustheorie. Die frühkonstitutionelle organische Staatstheorie repräsentiert im fachspezifischen Bereich der Staatsrechtslehre jedenfalls die vorstehend erörterte, zeitgleiche Entwicklung in der praktischen Philosophie zu einer Staatslehre des vernunftbegründeten Verfassungsstaates als eines kategorial seinsmäßigen objektiven und eigenständigen Gebildes objektiven Geistes. Zudem bemerkenswert ist daran, dass jene frühkonstitutionelle organische Staatsauffassung und damit auch jene von ihr repräsentierte, in der praktischen Philosophie entstandene Vernunftbegründung des Verfassungsstaates als geschichtlicher Realität keineswegs im Zuge des von der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts an einsetzenden fundamentalen methodischen Umbruchs in der Staatsrechtslehre untergegangen ist. Sie ist lediglich für die Staatsrechtslehre als „juristisch“ unerheblich beurteilt worden. Dies gilt zunächst für die ab der Mitte des Jahrhunderts hervorgetretene und für die nachfolgende spätkonstitutionelle Epoche maßgeblich gewordene Staatsrechtslehre des staatsrechtlichen Positivismus.83 2. Aus der Sicht von politischer Geschichte und von Staatsrechtslehre haben Entstehung und Entwicklung von Spätkonstitutionalismus und staatsrechtlichem Positivismus ebenfalls schon vor den mit ihnen dann epochal identifizierten Bundesgründungen und Verfassungsgebungen zum Norddeutschen Bund von 1867 und zum Deutschen Reich von 1870/71 gelegen.84 Gemeinhin können mehrere Gründe für jenen Epochenwandel ab der Mitte des Jahrhunderts in Anspruch genommen werden. In politischer Hinsicht war es offenbar die mit dem Scheitern der Frankfurter Nationalversammlung von 1848/49 verbundene Veränderung im Verständnis der konstitutionellen Monarchie. Hatte auf der Grundlage und im Rahmen der erörterten organischen Staatstheorien der frühkonstitutionellen Epoche noch die Möglichkeit bestanden, eine Staatslehre vom Staat als einer angenommenen objektiven und eigenständigen geschichtlichen Realität einerseits und das monarchische Prinzip anderer82 Selbst bei der Begründung des staatsrechtlichen Positivismus war in staatstheoretischer Hinsicht von der Vorstellung eines Organismus ausgegangen worden: v. Gerber (Fußn. 61), Ueber öffentliche Rechte. 15 ff., ders. (Fußn. 61), Grundzüge des Systems des Deutschen Staatsrechts, 1 ff., 21 ff.; ders., Ueber deutsches Recht und deutsche Rechtswissenschaft überhaupt (1851, 1855, 1865), in: ders., Gesammelte Juristische Abhandlungen, 1878, 1 ff.; ders., Theilbarkeit deutscher Staatsgewalt (1865), in: ders., a.a.O., 441 ff.; ferner bei Kremer, Die Willensmacht des Staates. Die gemeindeutsche Staatsrechtslehre des Carl Friedrich von Gerbers, 2008, 160 ff.; vor allem im Zusammenhang mit der Staatslehre Hegels auch Heller (Fußn. 23), 91 ff. sowie Stolleis (Fußn. 1), 176 ff.; Friedrich, a.a.O., 222 ff. 83 Stolleis, a.a.O., 330 ff., 348 ff.; mit zahlreichen Nachw. Bartlsperger (Fußn. 16), 33 f. m. Fußn. 47 – 50; speziell zum wissenschaftlichen Positivismus der Staatsrechtslehre v. Gerbers bei Bartlsperger (Fußn. 17), 22 ff.; Jouanjan (Fußn. 74), 386 ff.; Kremer (Fußn. 82), 160 ff.; zum Gesetzespositivismus Labands Stolleis, a.a.O., 341 ff. 84 Fußn. 61 und 82.
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seits auf irgendeine Weise in einen staatsrechtlichen Einklang zu bringen oder deren Verhältnis zumindest offenzulassen, so ist die als Spätkonstitutionalismus bezeichnete Staatstheorie durch eine Grundlegung des staatsrechtlichen Systems allein in einem strikten Prinzip monarchischer Herrschaft gekennzeichnet.85 Elemente einer organischen Staatstheorie und Gesichtspunkte einer originären Vernunftbegründung des Staates in dem vorstehend erörterten Sinne einer objektiven und eigenständigen geschichtlichen Realität des Staates erscheinen hierdurch rechtskonstruktiv ausgeschlossen.86 Konform hiermit wird ferner für die Ablösung jener die frühkonstitutionelle Epoche kennzeichnenden verfassungsstaatlichen Staatslehren angeführt, dass die Zeit nicht mehr „philosophisch“ gewesen, vielmehr aufgrund einer neuen naturalistischen Weltsicht „naturwissenschaftlich“ und von einer entsprechenden naturalistischen Wissenschaftslehre bestimmt worden sei.87 Es handelt sich um den kulturgeschichtlich nachweislichen Umstand, dass die philosophische Tradition der Klassik und des Deutschen Idealismus zunächst einmal zu Ende gegangen war, nicht zuletzt was auch deren Einfluss und Bedeutung im staatsrechtlichen Denken betrifft. Aus der damaligen Sicht bedeutete dies das wissenschaftstheoretische Ende der Geisteswissenschaften und einer Philosophie geistiger Objektivation. Damit scheinen im Prinzip die an einem realen Staatsbegriff, d. h. an einer objektiven und eigenständigen geschichtlichen Wirklichkeit des Staates als eines seinsmäßigen Gebildes des objektiven Geistes orientierten Staatslehren, alle Annahmen von der originären Vernunftbegründung eines realen Verfassungsstaates und alle frühkonstitutionellen organischen Staatstheorien einer wissenschaftstheoretisch haltbaren Begründung verlustig gegangen zu sein. Das wissenschaftstheoretische Verdikt gegen alle staatstheoretischen Vorstellungen von einer originären Vernunftbegründung des Staates als objektiver und eigenständiger, geschichtlich realer geistiger Objektivation und die politisch strikte Behauptung des monarchischen Herrschaftsprinzips zur Identifikation von Staatsexistenz und Rechtspersönlichkeit des Staates konnten so, auch ohne einen ursprünglichen gemeinsamen Sinnbezug, eine historische Koinzidenz bilden. Es waren jedoch letztlich nicht oder jedenfalls nicht maßgeblich allgemeine wissenschaftstheoretische Gesichtspunkte und Motivationen ideengeschichtlich bestimmend für die seinerzeitige Begründung des staatsrechtlichen Positivismus bzw. seines methodischen Formalismus. Entscheidend war vielmehr bekanntermaßen die nachweisliche Erstreckung bzw. Rezeption der methodisch zur Begriffsjurisprudenz
85 Zur nachhaltigen Begründung bei v. Gerber siehe Bartlsperger (Fußn. 17), 28 f.; ferner Jouanjan (Fußn. 74), 388 f. 86 Stolleis (Fußn. 1), 368 ff.; Bartlsperger, a.a.O., 25 f. 87 Dazu die Nachw. bei Bartlsperger, a.a.O., 33 f. Fußn. 46 f., insb. Tripp, Der Einfluss des naturwissenschaftlichen, philosophischen und historischen Positivismus auf die deutsche Rechtslehre im 19. Jahrhundert, 1983; kongenial mit v. Gerber insofern v. Ihering, Unsere Aufgabe, Jbch. 1 (1857), 1 ff.; ferner dazu Losano, Der Briefwechsel zwischen Ihering und Gerber, 1984.
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gewordenen Historischen Rechtsschule in die Staatsrechtslehre.88 Es handelte sich also um eine spezifisch rechtswissenschaftliche Genese, mag diese auch unter kulturgeschichtlichen Gesichtspunkten in den größeren Zusammenhang des erwähnten wissenschaftstheoretischen Wandels gestellt werden können. Jedenfalls unterscheidet sich der spezifische rechtswissenschaftliche Formalismus der Historischen Rechtsschule in einem wesentlichen, gerade im vorliegenden staatstheoretischen Zusammenhang relevanten Punkt von jener damaligen, allgemeinen wissenschaftstheoretischen Position. Die Historische Rechtsschule verschloss sich in ihrem rechtswissenschaftlichen Formalismus gemäß dem dabei maßgeblichen erkenntnistheoretischen Programm keineswegs der geschichtlichen Wirklichkeit als Erfahrungs- und Ursprungsobjekt ihrer konstruktiven „juristischen“ Begriffsbildung. Im Gegenteil war ihr der „Volksgeist“ Entstehungsgrund des Rechts. Er wurde durch die aus „Geist“ und „System“ desselben gewonnenen Rechtsbegriffe nicht als Erfahrungsobjekt verdrängt, sondern gerade vorausgesetzt. Nur sollte er für die „juristische“ Begriffsbildung keine methodische Bedeutung beanspruchen können. Dieser erkenntnistheoretische Standpunkt der Historischen Rechtsschule hatte dann folgerichtigerweise auch bei der methodischen Rezeption ihres begriffsjuristischen Formalismus in der Staatsrechtslehre des juristischen Positivismus Bestand. Auch wenn sich die Historische Rechtsschule bis dahin nicht auch mit Staatstheorie und Staatsrechtslehre befasst hatte, musste sie konsequenterweise bei ihrer Erstreckung auf diese rechtswissenschaftlichen Bereiche ihre dargelegte erkenntnistheoretische Position beibehalten. Darum war es für die betreffende Begründungsliteratur zum staatsrechtlichen Positivismus89 auf der einen Seite eine Selbstverständlichkeit, der, wie dargelegt, in der frühkonstitutionellen Staatsrechtslehre eines „allgemeinen deutschen Staatsrechts“ bestimmenden staatstheoretischen Vorstellung eines staatlichen Organismus zu folgen. Sie hatte Besonderheit und Unterscheidung der innerhalb einer staatsrechtlichen Ordnung bestehenden Rechtsbeziehungen, nämlich der betreffenden „öffentlichen Rechte“, gerade darin gesehen, dass diese von Gliedern eines staatlichen Organismus wahrgenommen werden und „durch eine objektive aus der Natur des Staatsverbandes hervorgehende Rechtsregel (den allgemeinen Willen) bestimmt“ sind.90 Auf der anderen Seite sollte aber die insofern nachweislich angenommene Tatsache eines staatlichen Organismus, d. h. die Existenz des Staates als einer geistig und rechtlich verbundenen realen Einheit und wirklichen Ganzheit keinerlei „juristische“ Bedeutung bei der Begriffsbildung der Staatsrechtslehre und für den „Rechtsbegriff“ des Staates beanspruchen können, sollte also für die Staatsrechtlehre methodisch bedeutungslos sein. Es stellt also keinen unentwirrbaren Widerspruch dar, wenn im staatsrechtlichen Positivismus, jedenfalls in dessen authentischer ideengeschichtlicher Begründung, ein methodischer Formalismus der Staatsrechtslehre und eine staatstheoretische Or88
In dem Werk v. Gerbers (Fußn. 82); dazu Bartlsperger, a.a.O., 32 ff. v. Gerber(Fußn. 82). 90 v. Gerber (Fußn. 61), Ueber öffentliche Rechte, 40 f.
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ganismustheorie nebeneinanderstehen. Einen gewissen Widerspruch mag es lediglich bedeuten, dass staatstheoretische Organismustheorie und striktes monarchisches Herrschaftsprinzip, letzteres als rechtskonstruktive Grundlegung der staatsrechtlichen Ordnung, gleichzeitig vertreten werden; aber auch dies findet eine widerspruchsfreie Auflösung, wenn man gemäß dem Gesagten, zugegebenermaßen mit einem nur schwer zu ertragenden methodischen Trick, zu unterscheiden gezwungen wird zwischen der organischen Staatsrealität und der „juristischen“ Grundlegung der staatsrechtlichen Ordnung im monarchischen Herrschaftsprinzip. Die nicht leicht und nicht ohne beträchtlichen Darstellungsaufwand mögliche staatstheoretische und methodische Entschlüsselung der Staatsrechtslehre des staatsrechtlichen Positivismus ist im vorliegenden Zusammenhang der ideengeschichtlichen Entwicklung einer Staatslehre des Verfassungsstaates unentbehrlich, aber auch entsprechend aufschlussreich. Denn es ist ersichtlich, dass in jener maßgeblich durch eben den staatsrechtlichen Positivismus geprägten Epoche der Staatsrechtslehre diese lediglich in eine methodische „Verwicklung“ verstrickt war, verstrickt in eine „Verwicklung“ mit der Begriffsjurisprudenz der Historischen Rechtsschule. Sie steht als solche hier nicht weiter zur Erörterung. Festzuhalten ist vielmehr ein in der Ideengeschichte einer verfassungsstaatlichen Staatstheorie deutlich hervorgetretener Umstand, nämlich dass selbst unter der epochal beherrschenden Stellung des staatsrechtlichen Positivismus und seines methodischen Formalismus in der Staatsrechtslehre keineswegs die staatstheoretische Traditionslinie untergegangen ist, die von der originären Vernunftbegründung des Verfassungsstaates in der praktischen Philosophie der philosophischen Kritik und des Deutschen Idealismus begründet und von den Organismustheorien der frühkonstitutionellen Staatsrechtslehre repräsentiert worden ist. Es war also nach wie vor staatstheoretisch anerkannt, dass der Verfassungsstaat als geschichtliche Realität in der Seinsweise eines Gebildes objektiven Geistes wissenschaftlich erfassbar ist und, wie die damals erstmalige staatsrechtliche Begriffsbestimmung der „öffentlichen Rechte“, der heutigen subjektiven öffentlichen Rechte, aus deren gliedschaftlicher Stellung im staatlichen Organismus zeigt, sogar Bedeutung für die Bildung staatsrechtlicher Begriffe beanspruchen kann. Zum grundsätzlichen Problem geworden war lediglich das ursprünglich offenbar weder in der Staatslehre der praktischen Philosophie noch in der frühkonstitutionellen organischen Staatsrechtslehre in Frage gestellte Band zwischen einer realen Staatsvorstellung der Staatsrechtslehre und deren Methode. Anders und kürzer formuliert, hatte der staatsrechtliche Positivismus die Einheit von Staatsbegriff und Methode in der Staatsrechtlehre aufgekündigt. Die ideengeschichtliche Genese der Trennung von Staatsbegriff und Methode der Staatsrechtslehre lässt sich im Falle des staatsrechtlichen Positivismus eindeutig nachweisen und klar identifizieren. Es war die ausdrückliche Herkunft und nachweisliche Begründung jenes staatsrechtlichen Formalismus aus der zur Begriffsjurisprudenz fortgeschrittenen Historischen Rechtsschule, die glaubte, die Positivität des Rechts in geschichtlicher Tradition und Kontinuität sehen zu können, aber die rechtswissenschaftliche Erkenntnis auf das förmliche Begriffssystem des geschichtlich po-
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sitivierten Rechts beschränken zu müssen. Dies stand in einem diametralen Gegensatz zur ideengeschichtlichen Herkunft und Begründung einer Staatsrechtslehre des Verfassungsstaates, nämlich, wie schon angeführt, zur originären Vernunftbegründung des Verfassungsstaates in der praktischen Philosophie der philosophischen Kritik und des Deutschen Idealismus. Denn danach sind Recht und Staat das Produkt der in ihnen verwirklichten Freiheit und Vernunft und das positive Recht wird vom Staat als konkreter geschichtlicher Wirklichkeit von Freiheit und Vernunft vermittelt. Das Recht ist also objektive und eigenständige geschichtliche Wirklichkeit aus praktischer Vernunft, nicht aus einer Vernunft kraft Tradition und Kontinuität, sondern aus einer Vernunft kraft staatlicher Entscheidung, kraft einer Einheit von Vernunft und Entscheidung. Nur an dieser in staatlicher Rechtssetzung bestehenden Einheit von Vernunft und Entscheidung kann sich die Methode der Staatsrechtslehre orientieren. Im Grunde geht es bei den hierzu bestehenden gegensätzlichen Auffassungen um die in der philosophischen Kritik prinzipiell gestellte und beantwortete Frage praktischer Philosophie nach dem Verhältnis von Vernunft und Wille, speziell in der Rechts- und Staatslehre. In der begriffsjuristisch fortgeschrittenen Historischen Rechtsschule und mit dem staatsrechtlichen Positivismus ist die in der praktischen Philosophie der philosophischen Kritik und des Deutschen Idealismus zum Ausgangspunkt genommene Zusammengehörigkeit von Vernunft und Wille zerrissen, ist also der rechtssetzende Wille von dessen praktischer Vernunftbindung getrennt worden; der rechtsetzende Wille ist dadurch nur noch Wille und an die Stelle praktischer Vernunft ist eine begriffliche Vernunft gestellt worden. Diese rechts- und staatstheoretische „Verwicklung“ der Staatsrechtslehre in einen Bruch mit den Grundannahmen praktischer Philosophie hat dann noch eine Fortsetzung und einen eigentlichen Höhepunkt erlebt in der normlogischen Rechts- und Staatstheorie der sogenannten Reinen Rechtlehre.91 In dieser wird dann am konsequentesten der ideengeschichtliche Bruch vor Augen geführt, den die Staatsrechtslehre durch eine methodische „Verwicklung“ in eine von praktischer Vernunft, d. h. von vernunftgebundenen Verfahren und Entscheidungen getrennte Willenstheorie vollzieht und damit die originäre Vernunftbegründung des Verfassungsstaates in der praktischen Philosophie verlässt.
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Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre (1911), 2. Aufl. 1923, Neudr. 1960; ders., Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, 1922; ders., Allgemeine Staatslehre, 1925; ders., Der Staat als Integration, 1930; ders., Reine Rechtslehre. Einleitung in die rechtswissenschaftliche Problematik (1934), hgg. und eingeleitet von Jestaedt, 2008. Weitere Nachw. zum Werk bei Jestaedt (Hg.), Hans Kelsen im Selbstzeugnis, 2006, 97 ff. Zur normlogischen Rechts- und Staatstheorie mit zahlreichen Nachw. schon Bartlsperger, Integration oder Dissens und Konflikt als Sinnprinzip von Staat und Verfassung, in: Manssen u. a. (Hg.), Nach geltendem Verfassungsrecht, FS Steiner, 2009, 30/34; ders. (Fußn. 16), 41 ff.; ferner Möllers, Der Staat als Argument (Fußn. 50), 36 ff. und Paulsen/Stolleis (Hg.), Hans Kelsen. Staatsrechtslehrer und Rechtstheoretiker des 20. Jahrhunderts, 2005.
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3. Wie der staatsrechtliche Positivismus bezieht auch die normlogische Rechtsund Staatstheorie eine politische Position im Verständnis des Verfassungsstaates.92 Mit dem methodischen Formalismus des staatsrechtlichen Positivismus war die von der praktischen Philosophie geleistete originäre Vernunftbegründung des Verfassungsstaates ersetzt sowie im Wege einer Uminterpretation der frühkonstitutionellen organischen Staatstheorie und Staatsrechtlehre eine monarchische Herrschaftstheorie des spätkonstitutionellen Staates, eines monarchischen „Machtstaates“, begründet worden. Die normlogische Rechts- und Staatstheorie bezieht in ihrer staatsrechtlichen Gleichsetzung des Staates mit einer Rechtsordnung in einem normlogischen, formalistischen Sinn sowie mit ihrer folgerichtigen Rechtstheorie einer stufenmäßig sukzessiven voluntaristischen Rechtserzeugung in erklärter und emphatisch vertretener Weise die Position eines demokratischen Dezisionismus. Diese verfassungspolitische Motivation ist es ersichtlich, der die normlogische Rechts- und Staatstheorie eine aktuelle Belebung verdankt und eine dabei forcierte Aufmerksamkeit in der gegenwärtigen Staatsrechtslehre; es wird von einer „Wiederentdeckung“ gesprochen.93 Der politische Anspruch richtet sich gegen eine Vermittlung verfassungsstaatlicher Freiheit durch Recht und Staat als geschichtliche Institutionen, gegen eine rechtliche Institutionalisierung von Freiheit und ihrer geschichtlichen Erscheinungsform und gegen die Einsicht in die unaufhebbare Spannung zwischen individuellem Freiheitsgebot und staatlich konstituierter Allgemeinheit. Der Angriff gilt einem Verfassungsstaat mit einem materiellen Verfassungsverständnis und mit einer materiellen Verfassungsbindung auch der demokratischen Institutionen und Verfahren. Die materielle Verfassungsbindung wird danach als mögliche Freiheitsbedrohung beurteilt, als antiliberal, antiparlamentarisch und demokratiefeindlich. Verweigert wird die Einsicht in die Grundannahme praktischer Vernunft, dass Freiheit vernunftgebunden ist und deshalb in ihrer staatsrechtlichen Verwirklichung immer nur in der begrenzten Weise verbürgt werden kann, wie dies die praktische Philosophie in ihrer vorstehend erörterten sogenannten Anerkennungslehre von intersubjektiver Freiheitsbeschränkung sowie deren „Aufhebung“ und Institutionalisierung in der Allgemeinheit von Recht und Staat darzulegen vermochte. Es handelt sich also um eine entschiedene Entgegensetzung gegen die in der praktischen Philosophie entwickelte Vernunftbegründung des Verfassungsstaates als geschichtlicher Realität und seinsmäßig eigenständiger geistiger Objektivierung. Letztlich und im Grunde geht es also um eine 92
Dazu die Nachw. bei Bartlsperger, Integration oder Dissens und Konflikt als Sinnprinzip von Staat und Verfassung, a.a.O., 41 Fußn. 11, ders. (Fußn. 16), 41 f; ferner bei Somek (Fußn. 15), 44 f., 515 ff., 547 ff., 566 f. 93 Lepsius, Die Wiederentdeckung Weimars durch die bundesdeutsche Staatsrechtslehre, in: Gusy (Hg.), Weimars langer Schatten, 2003, 354/354 ff., 369 ff.; dabei wird der normlogischen Rechts- und Staatstheorie ein erwachendes Interesse und eine voraussichtliche Rezeption bestätigt (a.a.O., 371 f., 394). Nach Bärsch (Fußn. 16, 88 ff.) ist Kelsen nicht widerlegt. Zur Rehabilitierung Kelsens vor allem Dreier, Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, 1986. Anders und kritisch zu Erfolg und Bedeutung der normlogischen Rechts- und Staatstheorie Möllers, Der Staat als Argument (Fußn. 50), 55 ff., 427 f.
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Auseinandersetzung mit dem kulturgeschichtlichen Erbe der in der kritischen Philosophie zugrunde gelegten praktischen Vernunft und ihrer Entwicklung im Deutschen Idealismus zu einer vernunftgebundenen Rechts- und Staatslehre. Die normlogische Rechts- und Staatslehre führt hiergegen die im frühen Neukantianismus entstandene Auffassung94 ins Feld, dass praktische Vernunft prinzipiell unmöglich sei, weil Vernunft nur eine Erkenntnisfunktion besitze, Normsetzung und Normerkenntnis dagegen nichts mit einer Erkenntnisfunktion zu tun haben könnten, vielmehr sich allein aus einer formalen Willensentscheidung erklärten.95 Allein wegen dieser Ablehnung praktischer Vernunft erscheint es überhaupt sinnvoll, jene allenthalben erschöpfte Beschäftigung mit der Reinen Rechtslehre und ihrer Staatslehre auch im vorliegenden Zusammenhang aufzunehmen und sich nicht nur auf eine gebotene Erwähnung zu beschränken.96 Sinnvoll kann dies nur sein, um den nicht wegzudenkenden ideengeschichtlichen Zusammenhang klarzustellen und vor Augen zu führen, der zwischen einer Staatslehre des Verfassungsstaates und praktischer Philosophie im Verständnis der kritischen Philosophie und des Deutschen Idealismus besteht. Die betreffende Verneinung der mit dem Begriff praktischer Philosophie zum Ausdruck gebrachten Vernunftgenese und Vernunftbindung von Freiheit, Wille und Entscheidung folgt einem bestimmten Verständnis des in dem Zusammenhang reichlich strapazierten Theorems einer Trennung von Sein und Sollen.97 Logisch und im Sinne theoretischer Vernunft ist dies unbestreitbar und unbestritten. Aus einem Sein als solchem kann im erkenntnistheoretischen Sinne der theoretischen Vernunft niemals ein Sollen unmittelbar abgeleitet werden. Wenn man Vernunft auf die theoretische Erkenntnisfunktion beschränkt, kann sie im praktischen Bereich, in Normsetzung und Normerkenntnis, keine Begründungs- und Erkenntnisfunktion beanspruchen. Eben hiervon und allein hiervon gehen der betreffende Neukantianismus und die ihm folgende normlogische Rechts- und Staatstheorie aus. Zutreffend folgen sie insofern einer Unterscheidung der Rechtswissenschaft von der Naturwissenschaft sowie einer gebotenen Abschirmung des Rechts- und Staatsverständnisses gegenüber ideologisch-metaphysischen Einflüssen. Dabei handelt es sich um nicht zu be94 Cohen, Ethik des reinen Willens, 1904; ders., Logik des reinen Erkennens, 2. Aufl. 1914; dazu Lübbe (Fußn. 74), 102 ff., 113 ff.; ferner C. Müller, Die Rechtsphilosophie des Marburger Neukantianismus, 1994. 95 Darstellung und Kritik bei Luf, Überlegungen zum Verhältnis von Entscheidung und Rechtfertigung im Recht (1983), in: ders. (Fußn. 14), 37/38 ff., 42 ff. (m.Nachw. zu Kelsen), 52 ff., bei dems., Überlegungen zum transzendentallogischen Stellenwert der Grundkonzeption Kelsens (1984), in: ders., a.a.O., 57/62 ff. m. Nachw.; ferner dazu Dreier, Sein und Sollen. Bemerkungen zur Reinen Rechtslehre Kelsens (1972), in: ders., Recht-Moral-Ideologie, 1981, 217 ff.; Kritik an jener philosophischen Grundkonzeption Kelsens vom Standpunkt einer soziologischen Staatslehre aus bei Heller, Die Krisis der Staatsrechtslehre (1926), in: ders., Gesammelte Schriften II, 1971, 3/15 ff. 96 Möllers (Fußn. 50, 44) glaubt insofern feststellen zu dürfen, „dass im deutschen Staatsrecht niemand außerhalb der eigenen Schule Kelsens Staatsbegriff gefolgt ist“. 97 Dazu Winkler, Rechtstheorie 1979, 257 ff.; Zippelius, Rechtsphilosophie, 6. Aufl. 2011, § 3.
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streitende Annahmen. Aber die normlogische Rechts- und Staatstheorie will den weitergehenden und gänzlich anderen Standpunkt vertreten, dass Normsetzung ausschließlich als ein Willensakt, d. h. als eine vernunftfreie Entscheidung, gesehen werden müsse.98 In den authentischen Vorstellungen der kritischen Philosophie von praktischer Vernunft findet dies keine Stütze. Wenn es um eine richtigstellende Interpretation derselben gehen sollte, läge darin eine Unterstellung, ein gewolltes und vorweggenommenes Ergebnis von deren authentischer Interpretation. Es ist gerade der authentische und entschiedene Aussage- und Bedeutungsgehalt der „Kritik praktischer Vernunft“ zu der in ihr entwickelten sowie im Deutschen Idealismus aufgenommenen und dort mit einem Wirklichkeitsbewusstsein verbundenen „praktischen Vernunft“, dass auch im praktischen Bereich die Vernunft eine Erkenntnisfunktion zu beanspruchen hat.99 Eine praktische Funktion der Vernunft konnte die transzendentalphilosophische kritische Neubegründung der Philosophie wegen der angenommenen Voraussetzung beanspruchen, dass Freiheit und Wille im Handeln Motive kennen, Zielen und Bestimmungsgründen folgen, eine Vorstellung von Prinzipien und Regeln besitzen und dass es nur im Bewusstsein solcher Faktoren des Handelns überhaupt zur Betätigung von Freiheit und Wille kommen kann.100 Das ist es, was Handeln unter Vernunftbedingungen besagen will, d. h. was praktische Vernunft bedeuten soll. Willensbetätigung geschieht als vernünftig durch das Vermögen von Vernunftwesen, ihren Willen aus einer Kausalität zu begreifen und diese Kausalität durch die Vorstellung von Regeln zu bestimmen. Eine so verstandene vernunftbegründete Kausalität des Handelns erweist sich mit der Annahme von Willensfreiheit als vereinbar, weil es sich um eine Kausalität aus Freiheit handelt, um Freiheit in einem positiven Sinne.101 Sowohl die handelnden Subjekte selbst als auch diejenigen, denen die Handlungen anderer Subjekte in ihrem Bewusstsein begegnen, sind in der Lage, jene Vernunftbedingungen des Handelns sich zu vergegenwärtigen und sie konkret zu identifizieren. Die kritische Philosophie selbst mag zwar dem Schritt praktischer Vernunft in dem Stadium ihrer „äußeren“ Verwirklichung nicht mehr nachgegangen sein; dies musste vergleichbar schon in Bezug auf ihre nur bis zur Idee a priori gediehene Rechts- und Staatslehre festgestellt werden. Es konnte auch der Eindruck entstehen, dass die „Kritik praktischer Vernunft“ Freiheit lediglich in einem negativen Sinne verstehe.102 Möglicherweise sind in diesen Umständen auch Anlass und Anknüpfungspunkt zu suchen und zu sehen, warum Neukantianismus sowie normlogische Rechts- und Staatslehre in der nachfolgenden 98 Nachw. Fußn. 95. Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen, hgg. von Ringhofer und Walter, 1979, 258; dazu die Erörterung bei Luf (Fußn. 95), Überlegungen zum Verhältnis von Entscheidung und Rechtfertigung im Recht, 41 ff. 99 Luf, a.a.O., 37 ff. 100 Luf, a.a.O., 39, 41 f., 44 f., 52 ff.; siehe auch Di Fabio (Fußn. 4), Die Staatsrechtslehre und der Staat, 13. 101 Luf, a.a.O., 48; zum positiven Freiheitsbegriff, d. h. zur Annahme, dass der freie Wille immer ein „bestimmter“ ist; Bartlsperger (Fußn. 16), 39 f. Fußn. 71 m. Nachw. 102 Insofern zum kantischen Freiheitsbegriff Bartlsperger, a.a.O., Fußn. 70 m. Nachw.
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Interpretation der betreffenden „Kritik praktischer Vernunft“ annahmen, eine wirkliche Vernunftbedingtheit von Freiheits- und Willensbetätigung verneinen und praktischer Vernunft überhaupt eine beschreibende Erkenntnisfunktion absprechen zu können. Aber solches wäre nicht nur eine kaum mehr verständliche Verkennung der realen Vernunftkausalität von Freiheitswahrnehmung und Willensbetätigung. Es vernachlässigt auch die konsequente ideengeschichtliche Explikation und Ausgestaltung der „Kritik praktischer Vernunft“ zu einer Kritik verwirklichter praktischer Vernunft in der vorstehend ausführlich erörterten sogenannten Anerkennungslehre, in welcher die Vernunftbegründung von Recht und Staat als geschichtlicher Wirklichkeit erst ihre ideengeschichtlich zu Ende geführte Entwicklung und Darlegung erfahren hat. Danach erfolgt die wirkliche Betätigung von Freiheit und Wille durch ihrer sich selbst bewusste Subjekte in einer intersubjektiven Äußerung und Beschränkung von vernunftbedingten Bedürfnissen und Interessen und aus diesem Vorgang wechselseitiger Anerkennung entsteht notwendigerweise eine wirkliche objektive und eigenständige Allgemeinheit. Es ist die Vernunftbestimmtheit wirklicher Vorgänge und Institutionen praktischen Handelns, die Erkenntnisfunktion besitzt. Mit anderen Worten und zusammengefasst macht die Vernunftbegründung praktischen Handelns dieses in seinem Inhalt erkennbar. Dies gilt naturgemäß auch für praktisches Handeln in Gemeinschaftsbezügen und bei einer Normsetzung. Auch institutionalisiertes praktisches Handeln einer Gemeinschaft und institutionalisierte Normsetzung sind kraft der betreffenden Vernunftgründe inhaltlich erkennbar. Das Theorem der Trennung von Sein und Sollen besitzt also keine unbeschränkte Wahrheit; vielmehr hat das Sollen in seiner Vernunftbedingtheit ein erkennbares Sein. Auf diesem Verständnis seiner Vernunftbegründung praktischen Handelns, aus der dementsprechenden Erkennbarkeit einer Vernunftbegründung von Recht und Staat beruhen die Erkennbarkeit der letzteren als eigenständiger geschichtlicher Wirklichkeit sowie eine dementsprechende geisteswissenschaftliche Methode von Rechtswissenschaft und Staatsrechtslehre. Die epochale ideengeschichtliche Erkenntnis kritischer Philosophie, dass praktisches Handeln in Recht und Staat als Handeln aus praktischer Vernunft begriffen werden kann, bedeutet auch die ideengeschichtliche Voraussetzung und die Geburtsstunde der originären Vernunftbegründung des Verfassungsstaates als einer objektiv und eigenständig erkennbaren geschichtlichen Wirklichkeit. 4. Mit den „Verwicklungen“ in den Formalismus des staatsrechtlichen Positivismus sowie der normlogischen Rechts- und Staatstheorie ist die Staatsrechtlehre nicht nur wegen der betreffenden methodischen Konsequenzen in eine als „Krisis“103 erkannte Situation gelangt, sondern auch hinsichtlich der insofern konstruktiv ursächlichen Ideengeschichte des Verfassungsstaates in eine Sackgasse geführt worden.104 Aus den dargelegten, gänzlich unterschiedlichen rechtstheoretischen Annahmen sowie politischen Motivationen sind die originäre Vernunftbegründung des Verfas103 104
Heller (Fußn. 95). Jouanjan, Savigny Zschr. f. Rechtsgeschichte, Germ. Abt. 125 (2008), 367/369.
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sungsstaates als geschichtlicher Realität und deren methodische Implikation aus der Staatsrechtslehre verdrängt worden. Diese ideengeschichtlichen Vorgänge haben dann aber in der Staatslehre auch die nachhaltige Erkenntnis gefördert, dass im Verfassungsstaat Staatsbegriff und Methode der Staatsrechtslehre eine untrennbare Einheit bilden. Von da an ist dieser konstruktive Zusammenhang die Grundfrage und das wesentliche bewegende Element im wissenschaftlichen Selbstverständnis der Staatsrechtslehre. IV. Verfassungsstaat staatsrechtlich – Staatsrechtliche Bedeutung und politische Verdächtigung des Staatsbegriffs Was ursprünglich aufgrund der originären Vernunftbegründung des Verfassungsstaates selbstverständlich schien, nämlich eine auf der objektiven und eigenständigen geistigen Wirklichkeit des Verfassungsstaates beruhende materielle Verfassungstheorie und materielle Methode der Staatsrechtslehre, ist mit den erörterten methodischen „Verwicklungen“ in den „juristischen“ Formalismus zum Thema geworden und Gegenstand grundlegender Auseinandersetzungen. Im Übrigen werden in den Kontroversen der Staatsrechtslehre um den Staatsbegriff ganz wesentlich politische Annahmen ins Spiel gebracht und als Positionen bezogen. Ein Politizismus vermochte sich in der Staatsrechtslehre zu etablieren, allerdings in seiner Motivation und Artikulierung regelmäßig nur in der einen Richtung gegen den Verfassungsstaat als Staatsbegriff. Zutreffend zwar haben sich politische Beurteilungen mit dem zeitgeschichtlichen Einsetzen einer Geschichtsbewältigung in beträchtlicher Zahl auch in der Staatsrechtslehre einer Kritik des Spätkonstitutionalismus, speziell desselben als Epoche eines „Machtstaates“ unter der seinerzeitigen staatsrechtlichen Ordnung und unter dem damaligen staatsrechtlichen Positivismus gewidmet.105 Auch mehr als verständlich und berechtigt vom Standpunkt verfassungsstaatlichen Denkens ist jede politische Kritik an der mit einer nicht enden wollenden literarischen Aufmerksamkeit bedachten staatsrechtlichen Doktrin eines politischen Voluntarismus, die den Staat als politische Einheit des Volkes zum faktischen Staat reduziert und verabsolutiert, der als eigener Wert einer Verrechtlichung durch die Verfassung vorausliegt.106 Jener Doktrin ihrerseits fehlt jedes politische Verständnis für die Idee des Verfassungsstaates als einer rechtlich konstituierten und formierten geistigen Wirklichkeit; der Begriff des Verfassungsstaates im spezifisch staatsrechtlichen Sinne bedeutet gerade, dass Staat und Verfassung eine objektivierte geistige Einheit bilden.107 Von diesen besonderen Fällen abgesehen, kennt je105
Dazu m. Nachw. Bartlsperger (Fußn. 91), 43 Fußn. 37; ders. (Fußn. 16), 35 Fußn. 50. Zu jenem Dezisionismus- und konkreten Ordnungsdenken sowie zu der aus einem entsprechenden Begriff des Politischen entwickelten Verfassungslehre C. Schmitts die Nachw. bei Bartlsperger (Fußn. 91), 33 f. 107 Zur Thematik, also zu dem staatstheoretischen Verhältnis von Staat und Verfassung grundsätzlich Isensee, Staat und Verfassung, in: Isensee/Kirchhof (Hg.), HStR, 3. Aufl. 2004, § 15. 106
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doch die neuere Staatsrechtslehre, naturgemäß auch eine einschlägig engagierte politische Wissenschaft, eine bestimmte generelle Staatsverneinung, die politischen Verdächtigungen des Staatsbegriffs als antiliberal, antiparlamentarisch und undemokratisch entstammt. Aktuell, aber nicht ohne Traditionslinie, wendet sich politische Kritik entschieden gegen eine Staatsrechtslehre, die sich am „Staat als Argument“ orientiert.108 Eine Situationsbeschreibung zu Staatsverständnis und staatstheoretischer Situation in der Bundesrepublik spricht in plakativ überspitzter Weise vom angeblich „vermissten Leviathan“.109 Ersichtlich handelt es sich bei der betreffenden traditionellen und aktuellen Staatsverneinung, bei der Verneinung des Verfassungsstaates als Staatsbegriff, um das stets gleiche Argumentationsmuster der Dekonstruktion eines eigenen politischen Standpunktes aus zeitgeschichtlich bedingten, tatsächlichen oder angeblichen politischen Fehlentwicklungen in der Ideengeschichte von Staatstheorie und Staatsrechtslehre. In jedem Falle aber bedeutet die politisch motivierte Staatsverneinung in der Staatsrechtslehre einen Bruch mit dem Ursprung des Verfassungsstaates in dessen originärer Vernunftbegründung als objektivierter geschichtlicher Verwirklichung von Freiheit. Eine politische Verdächtigung des Staatsbegriffs als antiliberal gilt rückblickend schon den frühkonstitutionellen organischen Staatslehren,110 ohne in der für eine ideengeschichtliche Beurteilung gebotenen Weise zu differenzieren zwischen zeitgeschichtlichen Bedingtheiten derselben und ihrem prinzipiellen staatstheoretischen Aussage- und Bedeutungsgehalt. Die betreffende politische Kritik gegenüber einem Staatsbegriff muss sich dann aber auch gegen jede Staatstheorie richten, die schon in der Endphase des Spätkonstitutionalismus und vor allem im Verlaufe des sogenannten Weimarer Methodenstreits der Staatsrechtslehre die Bewältigung von deren erörterter methodischer Krise in Verbindung mit einem Staatsbegriff unternommen hat, d. h. auf dem Wege einer Rückkehr zur Ursprungs- und Grundfrage des Verfassungsstaates nach dessen staatstheoretischer Begründung.111 In dem thematischen Zusammenhang ist es gerade ein wesentliches Kennzeichen jener neueren Epoche der Staatsrechtslehre, dass sie es war, die seit der vorstehend erörterten ursprünglichen Vernunftbegründung des Verfassungsstaates in der praktischen Philosophie der Klassik erstmalig selbst die Frage nach einer Staatslehre vom Verfassungsstaat als geschichtlicher Wirklichkeit aufgegriffen hat. Es ist ein wesentliches, nämlich das 108
Möllers (Fußn. 50). Möllers, Der vermisste Leviathan, 2008. 110 Heller (Fußn. 23), 57 ff., 166 f.; Bärsch (Fußn. 16), 138 ff. (schon Kant betreffend); vielfach Stolleis (Fußn. 1), 126 ff., 138 f., 139 ff., 141 f., 156 f., 176 ff., 181 f., 277 f.; auch in Bezug auf die Lehre von der Rechtspersönlichkeit des Staates Uhlenbrock (Fußn. 42), 167 ff. Zu den aus historischer Distanz unternommenen, uneinheitlichen politischen Beurteilungen der vormärzlichen Bewegung Würtenberger, Der Staat 37 (1998), 165/172 ff., 175, 187 f.; zum liberalistischen Element in der damaligen Nationalstaatsbewegung Gangl (Fußn. 12), 23/ 32 unter Hinweis auf Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat, 7. Aufl. 128, 9 („nationbildender Individualismus“). 111 Nachw. zur politischen Kritik an der Integrationslehre Smends bei Bartlsperger (Fußn. 91), 34 Fußn. 11. 109
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spezifisch staatstheoretische Kennzeichen der Epoche der sogenannten Weimarer Staatsrechtslehre, dass in ihr, abgesehen von den methodischen Anlässen, die Frage nach dem Verfassungsstaat als Staatsbegriff zu einem zentralen Thema gemacht worden ist. V. Verfassungsstaat staatstheoretisch – Neue Wege zu einem Staatsbegriff 1. Zuerst waren es wesentlich die unter der zusammenfassenden Bezeichnung einer sogenannten Organismustheorie zusammengefassten Staatslehren in der Endphase der spätkonstitutionellen Epoche, die sich zur Begründung einer Gegenposition gegen den methodischen Formalismus der seinerzeit maßgeblichen Staatsrechtslehre des staatsrechtlichen Positivismus veranlasst sahen, ihre dementsprechenden Vorstellungen zum Verfassungsstaat als Staatsbegriff zu entwickeln.112 Der Weg hierzu konnte nicht in einer einfachen Rückkehr zur ursprünglichen Vernunftbegründung des Verfassungsstaates in den Staatslehren der kritischen Philosophie und des Deutschen Idealismus bestehen. Die kulturgeschichtlichen Voraussetzungen waren, wie schon angesprochen, durch eine Projizierung der Wissenschaftstheorie auf die Naturwissenschaften andere geworden, auch mit Konsequenzen für die Staatsrechtslehre. Der Anerkennungsverlust, den die Einheit der Wissenschaften um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts erleben musste,113 verlangte nach einer Neubegründung der „Geisteswissenschaften“. Repräsentativ hierfür steht die bekannte zeitgenössische „Einleitung in die Geisteswissenschaften“.114 Das Recht wird in dem neuen „geisteswissenschaftlichen“ Sinne als Produkt des Rechtsbewusstseins und in einem hierauf gegründeten Zweckzusammenhang gesehen, d. h. nicht nur als Produkt der staatlichen Rechtsetzung, sondern auch einer selbständigen Rechtswissenschaft verstanden.115 In einem ideen- und zeitgeschichtlichen Zusammenhang damit entstand in der Rechtswissenschaft eine entsprechende organische Rechtslehre. Diese folgt für das Recht aufgrund von dessen historischer Wirklichkeit einer genetischen Betrachtungsweise im Zusammenhang mit der Gesamtwirklichkeit des Ge-
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Stolleis (Fußn. 1), 354 ff. (H. Schulze), 359 ff. (O. v. Gierke), 355 ff. (Haenel). Vor allem bedeutsam die Rechts- und Staatslehre v. Gierkes: ders., ZgStW 30 (1874), 153 ff. (Die Grundbegriffe des Staatsrechts und die neuesten Staatsrechtstheorien); ders., Grünhuts Zschr. 6 (1879), 221 ff.; ders., Schmollers Jbch 7 (883), 1 ff. (Auseinandersetzung mit dem staatsrechtlichen Positivismus Labands). Ausführlich zu v. Gierkes Rechts- und Staatslehre Janssen, Otto von Gierkes Methode der geschichtlichen Rechtswissenschaft, 1974. Neben v. Gierke für die Staatsrechtslehre bedeutsam Haenel, AöR 5 (1890), 457 ff./471 ff.; ders., Deutsches Staatsrecht, Erster Band, 1892; weitere Nachw. bei Stolleis, a.a.O., 357 Fußn. 261. 113 Fußn. 74. 114 Dilthey, Einleitung in die Geisteswissenschaften, Gesammelte Schriften, Bd. I, 5. Aufl. 1959. 115 Janssen (Fußn. 112), 182 ff.; ders. (a.a.O., 185) zur Selbständigkeit der Rechtswissenschaft aufgrund von deren Befähigung und Bestimmung zur Abstraktion des jeweiligen Zweckzusammenhanges.
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meinschaftslebens.116Allerdings erachtet sie für das Staatsrecht jene bloße „geisteswissenschaftliche“ innere Rechtserfahrung als unzureichend und eine Grundlegung der Staatsrechtslehre in einem Staatsbegriff als notwendig.117 In der solcherart konzipierten organischen Rechts- und Staatslehre erscheint der Staat als die wirklich erkennbare, „dauernde, lebendige wollende und handelnde Einheit, zu welcher ein ganzes Volk sich zusammenschließt.“118 Diese organische Begriffskonstituierung des Staates vereinigt in sich also die zwischenzeitlich sich ihrer bewusstwerdende Geisteswissenschaft mit der seinerzeit naturwissenschaftlichen Zeittendenz.119Auch wenn man deshalb von einer Neubegründung des Staatsbegriffs in einer organischen Staatsrechtslehre sprechen kann, so lässt sich gleichwohl eine Denktradition erkennen, die zurückführt auf die ursprüngliche Vernunftbegründung des Verfassungsstaates in der erörterten klassischen, transzendentalphilosophischen „Wissenschaftslehre“ eines empirischen Subjektivismus, nämlich auf dessen praktische Vernunftleistung intersubjektiver Gemeinschaftsbildung. Im Übrigen kann in der hier gebotenen Kürze nur darauf hingewiesen werden, dass man es bei der Organismustheorie nicht mit einer einheitlichen Staatslehre zu tun hat. Neben staatsrechtlich schwer fassbaren und deshalb „schädlichen Verallgemeinerungen“ zu einer generellen Theorie von Korperationen120 findet sich auf der anderen Seite die Begründung eines Staatsbegriffs und einer Staatsrechtslehre, welche die organische Konstituierung des Staates ohne Vernachlässigung von deren natürlichen Elementen wesentlich in einem spezifisch staatsrechtlichen Sinne aus der Organisationsstruktur des Staates und aus vernunftmäßiger Willensbetätigung begreifen.121 Dieses letztere Verständnis eines organischen, aber von anderen rechtlichen Korperationen unterschiedenen, spezifisch staatsrechtlichen Staatsbegriffs erscheint repräsentativ für eine verständliche und überzeugende Rezeption der ideengeschichtlich ursprünglichen, originären Vernunftbegründung des Verfassungsstaates in der praktischen Philosophie durch die Staatsrechtslehre. Offensichtlich hat indes jene seinerzeitige staatsrechtliche Organismustheorie nur eine geringe wirkungsgeschichtliche Bedeutung zu erringen vermocht. Dies erklärt sich wohl daraus, dass sie sich, wie erwähnt, noch unter den zeitgeschichtlichen Bedingungen des Spätkonstitutionalismus und von dessen beherrschender Staatsrechtslehre zu behaupten hatte und deshalb nicht die nachhaltige Aufmerksamkeit auf sich 116
Janssen, a.a.O., 171 ff. Staatsbegriff v. Gierkes, ZgStW 30 (1874), 153/167 ff. Grundlage hierfür ist ein realistisches organisches Denken im Unterschied zu einem „geisteswissenschaftlichen“ Denken nach bloßer innerer Erfahrung; dazu Janssen (Fußn. 112), 203 ff. (Unterscheidung zu Diltheys „Einleitung in die Geisteswissenschaften“). 118 v. Gierke, a.a.O., 175; zum Begriff einer organischen Staatstheorie in einem weiteren staatstheoretischen Sinn Bartlsperger (Fußn. 16), 23/24 Fußn. 3. 119 Janssen (Fußn. 112), 206, 209 (organisches Denken aufgrund äußerer Erfahrung). 120 Haenel. AöR 5 (1890), 457/471; gerichtet gegen die umfassende und einheitliche Korporationstheorie von Preuß (a.a.O., 471 ff.). 121 Haenel, a.a.O., 476 ff. 117
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ziehen konnte, die dann den Staatstheorien der Weimarer Staatsrechtslehre unter den Voraussetzungen einer neuen republikanischen Staatsordnung und unter politisch außerordentlichen Verhältnissen, also unter besonderen Herausforderungen an die Staatsrechtslehre, naturgemäß zufallen musste. Jedenfalls haben erst die Staatstheorien bzw. methodischen Positionen der Weimarer Staatsrechtslehre eine nachhaltige präpositive Bedeutung erlangt.122 Führt man sich freilich genauer deren Beitrag vor Augen, den sie zu einer Staatstheorie des Verfassungsstaates angesichts des betreffenden ideengeschichtlichen Hintergrundes geleistet haben, so erscheint eine recht differenzierte Beurteilung geboten. 2. Unmittelbarer Anlass und wesentliche Thematik der innerhalb des sogenannten Weimarer Methodenstreits hervorgetretenen Positionsbestimmungen der Staatsrechtslehre war bekanntlich die Auseinandersetzung mit dem methodischen Formalismus, der auf der einen Seite im staatsrechtlichen Positivismus der spätkonstitutionellen Epoche überkommen war sowie auf der anderen Seite in der normlogischen Rechts- und Staatslehre Einfluss gewonnen hatte;123 gegenüber der letzteren war es sowohl um deren vorstehend erörterte philosophische Begründung als auch um deren gegen eine materielle Verfassungs- bzw. Rechtsbindung des Rechtsverwirklichungsprozesses gerichtete politische Motivation gegangen. Die tragende und entschiedene Rolle in der Frontstellung vermochte die sogenannte geisteswissenschaftliche Richtung zu beanspruchen.124 Aber deren substanziell und nachhaltig eindrucksvolle Leistungen haben weitgehend in einer Bewusstmachung der politischen Verflechtung staatsrechtlicher Konstruktion und Begriffsbildung,125 in einer „geisteswissenschaftlichen“ Vergewisserung der Staatsrechtslehre126 sowie in einer Kritik neukantischer Rechtsphilosophie,127 d. h. auf methodischem Gebiet gelegen. Zusammengefasst kann man ihre bleibende Bedeutung in der Grundlegung und Formulierung einer materiellen Verfassungstheorie sehen. Lediglich die bekannte Integrationslehre hat in diesen Zusammenhängen explizit auch einen spezifisch staatstheoretischen Weg beschritten, um die Begründung einer geisteswissenschaftlichen Methode der Staatsrechtslehre sowie einer materiellen Verfassungstheorie in einem Staatsbegriff
122 Zum Weimarer Methodenstreit die Nachw. bei Bartlsperger (Fußn. 91), 31/31 f. Fußn. 3 und 4. Ferner Gusy, Die Weimarer Reichsverfassung, 1997, 36 ff., 435 ff., 439 f.; ders. (Hg.), Weimars langer Schatten, 2003; Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Dritter Band, 1999, 79 f., 90 ff.; Friedrich (Fußn. 81), 337 ff.; Möllers (Fußn. 50), 36 ff., 50 ff., 84 ff., 100 ff.; ders., Der Staat 43 (2004), 399 ff. 123 Speziell hinsichtlich des staatsrechtlichen Positivismus Korioth, AöR 117 (1992), 212 ff.; am exponiertesten gegen Kelsens Staatslehre Heller (Fußn. 95). 124 Dazu Holstein, AöR 50 (1926), 1 ff.; Rennert, Die „geisteswissenschaftliche Richtung“ in der Staatsrechtslehre der Weimarer Republik, 1987; Gusy, Weimarer Reichsverfassung (Fußn. 122), 435 ff., 438 ff.; Stolleis (Fußn. 122), 93 f. 125 Triepel, Staatsrecht und Politik, 1927; dazu Forschner, AöR, 136 (2012), 616 ff. 126 Holstein (Fußn. 124); dazu Rennert (Rn. 124), 122 ff., 197 ff. (Lit. Verz. 323 f.). 127 Kaufmann, Kritik der neukantischen Rechtsphilosophie (1921), in: ders., Gesammelte Schriften III, 1960, 176 ff.; dazu Rennert, a.a.O., 97 ff., 160 ff. (Lit. Verz. 321 f.).
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zu suchen.128 Sie war es, die es unter den neuen Voraussetzungen einer republikanischen Staatsordnung unternommen hat, den Verfassungsstaat in seiner geschichtlichen Wirklichkeit als objektives und eigenständiges Sinngefüge für die Staatsrechtslehre verstehbar zu machen. Über die damalige zeitgeschichtliche und unmittelbare Bedeutung hinaus ist es der Integrationslehre und allein dieser gelungen, mit dem Staatsbildungsprinzip einer integrativen Institutionalisierung der Organisations- und Verfahrensordnung des Staates sowie einer integrativen Konstituierung der objektiven und eigenständigen geistigen Einheit desselben jedenfalls im Ergebnis einen ideengeschichtlichen Anschluss herzustellen zu den vorangegangen organischen Staatsauffassungen sowie letzten Endes zur ursprünglichen Vernunftbegründung des Verfassungsstaates in der praktischen Philosophie als geschichtlicher Wirklichkeit eines seinsmäßigen Gebildes objektiven Geistes.129 Greifbar ist ihre wirkungsgeschichtliche Bedeutung, in einer Anfangsphase der Staatsrechtslehre unter dem Grundgesetz die nachweislich angenommene Sinn- und Wertordnung der neuen Verfassung sowie eine entsprechende materielle Verfassungslehre entgegen damaligen neonaturrechtlichen Einflüssen in eine rationale Verfassungsdogmatik überführt zu haben.130 Seitdem hat sie alle Angriffe aus der Staatsrechtslehre und aus einer einschlägig engagierten Politikwissenschaft auf sich gezogen, die aus unterschiedlichen Grundauffassungen heraus eine Einheitsbetrachtung des Staates und ein dementsprechendes materielles Verfassungsverständnis ausschließen wollen, teils aus einer auch hier angesprochenen Wiederbelebung der normlogischen Rechts- und Staatstheorie, teils aus der liberalistischen Verdächtigung jedes materialen Wertdenkens in der Staatsrechtslehre, teils aus einer fundamentaldemokratischen Staatsverneinung oder aus einer politikbzw. sozialwissenschaftlichen Dissens- und Konflikttheorie zur heutigen Staatswirklichkeit.131 Vor allem gegenüber der letzteren Argumentation ist klarzustellen, dass es sich bei dem Staatsbegriff der Integrationslehre um einen solchen der Staatsrechtslehre handelt, also nicht um eine theoretische Beschreibung und Erfassung der 128 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht (1928), in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, 4. Aufl. 2010. Dazu Bartlsperger, Die Integrationslehre Rudolf Smends als Grundlegung einer Staats- und Rechtstheorie, Diss. jur. Erlangen, 1964, ders. (Fußn. 91), insb. 32 ff., 36 f.; ders. (Fußn. 16), 28 ff.; Nachw. zu Smend bei Bartlsperger (Fußn. 91), 31 Fußn. 2; ferner Rennert, a.a.O., 141 ff., 214 ff., 299 ff. (Lit. Verz. 324 f.); Bärsch (Fußn. 16), 92 ff. 129 Zur (Nach-)Interpretation der Integrationslehre im Sinne einer ontologischen Staatstheorie, spezifisch zu einer Erfassung des Staates in der Seinskategorie objektiven Geistes Bartlsperger, Die Integrationslehre Rudolf Smends als Grundlegung einer Staats- und Rechtstheorie, a.a.O., 38 ff., 81 ff.; zum entsprechenden philosophischen Hintergrund der „geisteswissenschaftlichen Methode“ Bartlsperger (Fußn. 16), 24 Fußn. 5 und generell für die Rechts- und Staatstheorie Janke, Kant-Studien 82 (1991), 197/197 f. 130 Bartlsperger (Fußn. 91), 38; ders. (Fußn. 16), 28. 131 Bei Bartlsperger (Fußn. 91), 34; bei dems. (Fußn. 16), 29, 42, 44 ff.; ferner Stolleis (Fußn. 122), 103 sowie ausführlich und dezidiert Möllers (Fußn. 50), 100 ff. Speziell zur Kritik aus einer politik- und sozialwissenschaftlichen Pluralismus-, Dissens- und Konflikttheorie Bartlsperger (Fußn. 91).
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Staatswirklichkeit, sondern um eine vernunftbegründete regulative Idee für eine dem Verfassungsstaat und seiner aktuellen Verfassungsordnung entsprechende, für eine überzeugende, akzeptable und brauchbare Staatstheorie und Grundlegung der Staatsrechtslehre.132 Angreifbar erscheint die Integrationslehre aus anderen Gründen. Abgesehen von gerügten Schwächen ihrer Darstellung und Ausführung133 ist es zum einen die nachträglich selbst eingestandene Vernachlässigung des „herrschaftlichen“ Elements in der staatlichen Organisation134 sowie zum anderen und vor allem ihre zur Voraussetzung ihres Integrationsbegriffs genommene besondere kultursoziologische Strukturbegründung des Verhältnisses von „Individuum und Gemeinschaft“;135 letzteres konnte ihr als Psychologismus angelastet werden.136 Jedenfalls muss man feststellen, dass sie in ihrer Begründung weder auf eine ideengeschichtliche Ursprungsbegründung verfassungsstaatlicher Staatstheorie und eine entsprechende Traditionslinie zurückgreift noch in ihren Annahmen zur geschichtlichen Wirklichkeit des Staates eine ontologische Grundlegung und für ihr materielles Wertdenken eine ebensolche ontologische Wertlehre in Anspruch nimmt. Hinsichtlich der letzteren Punkte bedarf sie sicherlich einer Nachinterpretation auf der Grundlage einer nachidealistischen, neuen Ontologie objektiver und eigenständiger realer Sinngebilde sowie einer materialen Wertlehre.137 Der eigentümlich gewählte Integrationsbegriff konnte das insofern Geforderte nicht leisten.
132 So schon Bartlsperger (Fußn. 91), 49. Das aktuelle Pluralismus-, Dissens- und Konfliktargument gegen eine Einheitsbetrachtung des Staates bzw. gegen einen Staatsbegriff überhaupt ist bereits in den hier erörterten Staatslehren der praktischen Philosophie im Deutschen Idealismus explizit und wesentlich als Problem aufgegriffen und berücksichtigt worden: Zur Notwendigkeit eines diskursiven Konfliktaustrags im Prozess der Konsensfindung bzw. im Innenverhältnis von Institutionen aufgrund des kantischen Autonomie-Prinzips Luf (Fußn. 16), 68. Vor allem in der erörterten Vernunftbegründung des Staates aus einer Anerkennungslehre bei Fichte und Hegel bildet der intersubjektive diskursive Austrag unterschiedlicher individueller Bewusstseinslagen und Standpunkte gerade die wesentliche Grundvoraussetzung (speziell dazu Siep, Zur Dialektik der Anerkennung bei Hegel, 1975, in: ders., Fußn. 16, 1992, 172 ff., ders., „Gesinnung“ und „Verfassung“, in: ders., a.a.O., 270 ff.). Zur Pluralismusdebatte auch Stolleis (Fußn. 122), 255 ff. 133 Kaufmann, Gesammelte Schriften, Band III, 1960, XXX. 134 Smend, Integration, Ev. Staatslexikon, 2. Aufl. 1975, Sp. 1024 ff. 135 Litt, Individuum und Gemeinschaft, 3. Aufl. 1926; dazu Bartlsperger, Die Integrationslehre Rudolf Smends als Grundlegung einer Staats- und Rechtstheorie (Fußn. 128), 4 ff., 112 ff.; kritisch zu dieser Rezeptionsbeziehung Nothoff, Der Staat als „geistige Wirklichkeit“, 2008, 37 ff., 42 ff. 136 Jerusalem, AöR 54 (1928), 161/188 ff.; Kaufmann (Fußn. 133), XXX, XXXII, XXXV; ders., Problematik des Volkswillens, 1931, 272 ff. 137 Zur ontologischen Nachinterpretation auf der Grundlage der sogenannten Neuen Ontologie (N. Hartmann) bei Bartlsperger (Fußn. 135), 58 ff., 81 ff.; zur betreffenden materialen Wertlehre Hartmann, Ethik, 4. Aufl. 1962 und dazu hinsichtlich des Wertdenkens in der Staatsrechtslehre Bartlsperger (Fußn. 16), 54 ff.
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Alle jeweils bedenklichen und zu bedenkenden Aspekte der Integrationslehre können letztlich deren grundsätzliche staatstheoretische Konzeption und methodische Aussage nicht in Frage stellen, vor allem ihrer prinzipiellen Bedeutung keinen Abbruch tun, dass sie in der neueren Staatsrechtslehre den Verfassungsstaat wieder in dessen Wirklichkeit als objektives und eigenständiges, rechtlich konstituiertes Ordnungs- und Sinngefüge verstehbar gemacht hat. Dadurch vermag sie der Staatstheorie und der Staatsrechtslehre eine einsehbare und überzeugende, akzeptable und brauchbare regulative Idee zu liefern. Namentlich ist es ihr im Ergebnis gelungen, einen Weg bzw. jedenfalls die Richtung aufzuzeigen, um den erörterten ideengeschichtlichen Bruch zu überwinden, der in Staatstheorie und Staatsrechtslehre im Zusammenhang mit der kulturgeschichtlichen Veränderung in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts sowie infolge der spätkonstitutionellen und neukantischen „Verwicklungen“ gegenüber der ursprünglichen Vernunftbegründung des Verfassungsstaates in der praktischen Philosophie und gegenüber der frühkonstitutionellen Organismustheorie eingetreten war. Mit Blick darauf markiert die Integrationslehre in der Frage eines verfassungsstaatlichen Staatsbegriffs auch einen ideengeschichtlichen Abschluss. Dies gilt vor allem auch, wenn man die weitere Entwicklung in dieser Frage betrachtet, unbeschadet von nachfolgenden Rezeptionen bzw. Abwandlungen der Integrationslehre sowie einer von ihr ausgehenden, recht vielfältigen Schulenbildung.138 So wird zur Staatsrechtslehre unter dem Grundgesetz die Ansicht vertreten, sie besitze keine Staatstheorie mehr.139 Jedenfalls ist der Integrationslehre noch innerhalb des sogenannten Weimarer Methodenstreits ein Gegenpart erwachsen, der mit dem Anspruch einer „Staatslehre“ im Staat nur mehr eine organisatorische „Wirkungseinheit“, genauer eine Organisation ohne „Einheit“, sehen will.140 Diese „Staatslehre“ hat durch eine anschließend vielfältige argumentative Inanspruchnahme in Staatsrechtslehre und politischer Wissenschaft einen bedeutenden Anteil daran, dass sich das verfassungsstaatliche Denken zur Frage eines Staatsbegriffs verbreitet in neue Richtungen bewegt hat. VI. Verfassungsstaat organisationsrechtlich – Organisation anstatt Staat 1. Innerhalb des sogenannten Weimarer Methodenstreits steht die betreffende „Staatslehre“, die den Staat ausschließlich als eine organisierte Wirkungseinheit be138
Als Rezeption bzw. Abwandlung kann gelten Krüger, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl. 1966; zur methodisch und politisch differenzierten sogenannten Smend-Schule Günther (Fußn. 50), 39 ff., 159 ff.; Lepsius (Fußn. 93), 354/363 f. 139 Möllers (Fußn. 50), 129 f., ders. (Fußn. 109), 31; dazu auch Günther, a.a.O., 321 ff. 140 Heller, Staatslehre (1934), Bearbeitung von Niemeyer, 6. Aufl. 1983; ferner ders., AöR 55 (1929), 321 ff.; dazu Böckenförde, Organ, Organisation, Juristische Person, in: Menger u. a. (Hg.), Fortschritte des Verwaltungsrechts, FS H.J. Wolff, 1963, 269/292 ff.; Bärsch (Fußn. 16), 94 ff.; Somek (Fußn. 15), 521 ff.; Stolleis (Fußn. 122), 183 ff.; Lepsius (Fußn. 138), 366 ff.; Möllers (Fußn. 50), 84 ff.; 428; weitere Nachw. bei Bartlsperger (Fußn. 17), 33 Fußn. 9.
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greifen will, insofern auf der gleichen Seite wie die sogenannte „geisteswissenschaftliche“ Richtung, als sie mit einer ausgeprägten Entschiedenheit und Vehemenz gerade die normlogische Gleichsetzung des Staates mit seiner formalen Rechtsordnung angreift.141 Sie identifiziert gleichfalls die in jenem normlogischen Formalismus erkannte „Krisis der Staatsrechtslehre“ in der neukantischen Verkennung des Wirklichkeitszusammenhangs von Recht und Wirklichkeit, also in der insofern unzutreffenden Trennung von Sein und Sollen. Ihr Anliegen zielt freilich anders als das der sogenannten geisteswissenschaftlichen Richtung der Staatsrechtslehre darauf ab, die Wirklichkeit des Staates soziologisch zu erfassen sowie im Sinne einer dementsprechenden materiellen Staatstheorie anderer Art den demokratisch organisierten Staat aus dessen Aufgabe einer Entscheidungsinstanz gegenüber Politik und Wirtschaft sowie einer Gestaltungsinstanz für soziale Gerechtigkeit zu definieren.142 Soweit in einer solchen Wirklichkeits- und Funktionsbetrachtung des Staates überhaupt mehr als eine soziologische Erfassung der Staatswirklichkeit und eine politische Funktionsbestimmung des Staates gesehen und darüber hinaus auch eine staatstheoretische Aussage zum Staatsbegriff im spezifischen Sinne der Staatsrechtslehre sowie eine methodische Bestimmung derselben angenommen werden soll, stellen sich Verständnisschwierigkeiten ein.143 Zum einen kann die Annahme eines ausschließlich organisationsrechtlichen Bildungsprinzips für Staat und Rechtsordnung zu dem gleichen politischen Dezisionismus in der Rechtsverwirklichung führen wie die in dem erwähnten Ausgangspunkt nachdrücklich bekämpfte formale Rechtserzeugungslehre der normlogischen Rechts- und Staatstheorie.144 Die dieser gegenüber dezidierte Kritik erweist sich anscheinend im methodischen Ergebnis und im politischen Effekt gar nicht als wirkliche Gegenposition, sondern eher als in sich widersprüchlich. Zum anderen bleibt aus der Sicht von Staatstheorie und Staatsrechtslehre wesentlich die angenommene Beschränkung des Staatsverständnisses auf ein organisatorisches Wirkungsgefüge eine Aufklärung darüber schuldig, wie aus den nicht nur formell, sondern eben ausdrücklich und gerade als „wirklich“ und „materiell“ verstandenen Willensbetätigungen im Rahmen der betreffenden staatlichen Verfahrens- und Organisationsstrukturen keine wirkliche und materielle Allgemeinheit, also keine wirkliche objektive und eigen141 Heller (Fußn. 95); dazu Müller, in: Müller/Staff, Staatslehre in der Weimarer Republik. Hermann Heller zu Ehren, 1985, 128; Stolleis, a.a.O., 183 f.; Möllers, a.a.O., 3 Fußn. 12, 84 ff., 98. 142 Heller, Staatslehre (Fußn. 140), 88 ff., 228 ff.; Böckenförde (Fußn. 140), 292, 295 ff.; Somek (Fußn. 15), 521 f.; Stolleis, a.a.O., 185. 143 Zur Beurteilung der Hellerschen Staatslehre als bloß politik- und sozialwissenschaftlicher Begriffsbestimmung des Staates Möllers (Fußn. 50), 85 f., 88, 92, 99, 428. Insofern wird festgestellt, dass jene Staatslehre die Jurisprudenz aus der Staatslehre verwiesen habe und überhaupt keine Aussage zur Methodik der Staatsrechtslehre enthalte (a.a.O.). Zur politischen Konzeption bzw. Motivation der Hellerschen Staatslehre für einen demokratischen Sozialstaat Böckenförde (Fußn. 140), 296 f.; Somek (Fußn. 15), 515 ff.; Stolleis, a.a.O., 183 ff.; Günther (Fußn. 50), 47. 144 Stolleis, a.a.O., 183 f.; Möllers, a.a.O., 3 Fußn. 12, 98, 84 ff.
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ständige Einheit des Staates entstehen soll.145 Insofern fehlt staatstheoretisch eine ideengeschichtliche Reflexion an der ursprünglichen Vernunftbegründung des Verfassungsstaates in der praktischen Philosophie, namentlich an deren erörterter intersubjektiver Anerkennungslehre, oder jedenfalls an hiervon ausgegangenen organischen Staatsauffassungen. Unklar bleibt in diesem letzteren ideengeschichtlichen Zusammenhang schließlich das Verhältnis zu jener geschichtsphilosophischen Staatslehre, die den Staat als Verwirklichung des Vernünftigen betrachtet; denn jene Staatslehre wird nachweislich durchaus zum Ausgangspunkt genommen, andererseits wird ihr der substanziell relevante Vorwurf eines „nationalen Machtstaatsdenkens“ gemacht.146 Ungeachtet der Verständnisschwierigkeiten muss jene „Staatslehre“ vom Staat als eines ausschließlich organisatorischen Wirkungsgefüges in ihrem möglichen und dann in der Tat auch beanspruchten Aussagegehalt für Staatstheorie und Staatsrechtslehre als ein weiterer ideengeschichtlicher Bruch innerhalb von deren ideengeschichtlicher Entwicklung angesehen werden. Denn bei einer angenommenen staatstheoretischen Bedeutung jener „Staatslehre“ handelt es sich um eine grundlegend neue Qualität des verfassungsstaatlichen Denkens. Vergleichsweise war weder der erörterte staatsrechtliche Positivismus so weit gegangen, die organische Staatqualität zu verneinen,147 noch stellt die normlogische Staatstheorie einen „soziologischen“ Staatsbegriff in Abrede.148 In beiden Fällen ist lediglich die angenommene „juristische“ Unbeachtlichkeit der objektiven und eigenständigen geschichtlichen Wirklichkeit bzw. der soziologischen Realität des Staates der Grund für eine Eliminierung der betreffenden realen Staatsvorstellung aus der Staatsrechtslehre. Indessen ist mit der Ersetzung des Staates als geschichtlicher Wirklichkeit durch eine bloße Organisation ein qualitativ ganz anderer Schritt zu einer gänzlichen Staatsverneinung getan. In der Folge jedenfalls wird es auch so verstanden und Organisation im Sinne einer ihr attestierten Handlungseinheit wird an die Stelle des Staates gesetzt,149 ohne dass begreiflich gemacht wird, wie auf bloß organisatorischer Grundlage ohne ein Sinnverständnis derselben, ohne eine entsprechende Sinnstiftung überhaupt eine wirkliche Einheit entstehen kann. 2. Im unmittelbaren Anschluss an jene „Staatslehre“, die der Wirklichkeit des Verfassungsstaates ein bloßes organisatorisches Wirkungsgefüge unterstellen möchte, ist in der Staatsrechtslehre Anlass genommen worden, an die Stelle einer Rechtspersönlichkeit des Staates nur mehr den Begriff der Organisation zu setzen sowie der angeblich nur organisationsrechtlich vermittelten staatlichen Wirklichkeit und Ein145 Unerklärt ist insofern, wie ein bloßes organisatorisches Wirkungsgefüge ohne eine sinnstiftende Einheit überhaupt zu staatlicher Herrschaft befähigt sein kann (Di Fabio, Die Staatsrechtslehre und der Staat, Fußn. 4, 14 f.). 146 Ideengeschichtliche Kritik Hellers (Fußn. 23) an der Staatslehre Hegels; dabei (a.a.O., 206 ff.) eine gleiche Kritik gegenüber Kaufmann. 147 Insofern zur Staatsrechtslehre von v. Gerbers in Fußn. 82. 148 Kelsen, Der soziologische und der juristische Staatsbegriff, 1922. 149 Böckenförde (Fußn. 140).
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heit lediglich einen „insgesamt anstaltlichen Charakter“ zu geben.150 Ausschließlich eine derartige organisationsrechtliche Anstaltskonstruktion des Staates soll danach adäquat zum Ausdruck bringen können, dass „der Staat eine Veranstaltung des Volkes ist“ und dass die Verfassungsorgane „als die repräsentativen, die Leitung und Lenkung der Anstalt Staat unmittelbar für den Anstaltsherrn Volk ausübenden Organe“ zu gelten haben.151 Motiv und argumentativer Aufwand für eine derartige Staatsverneinung verstehen sich erklärtermaßen aus der Annahme, dass eine in Form der juristischen Person zu einer „übergreifenden Ganzheit und Einheit“ erhobene Staatskonstruktion einen Gegensatz bilde zum Prinzip der politischen Demokratie.152 In Verbindung mit dieser demokratischen Begründung der Staatverneinung steht dann auch das sogenannte „liberalistische Argument“. Mit diesem wird der Angriff gegen einen Staatsbegriff mit dem Argument einer Freiheitsgefährdung durch eine Staatsvorstellung geführt, die den Staat als objektive und eigenständige geschichtliche Wirklichkeit identifiziert, dessen staatsrechtliche Ordnung deshalb mit einer materiellen Wertordnung zu verbinden erlaubt und auf diese Weise zu einem, den demokratischen Prozess und die individuelle Freiheitsverwirklichung beschränkenden und bindenden materiellen Verfassungsbegriff sowie zu einer entsprechenden materiellen Methode der Staatsrechtslehre gelangt.153 Die gegen solche Konsequenzen eines Staatsbegriffs gerichtete Reduzierung der staatlichen Wirklichkeit auf ein organisatorisches Wirkungsgefüge bzw. auf eine sogenannte Anstalts-Konstruktion soll zwar offenbar keineswegs dahin zu verstehen sein, dass der Verfassungsstaat sinnbegründeter und sinnstiftender Funktions- und Legitimationsbedingungen entraten könne; aber diese soll er um der Garantie einer freiheitlichen und demokratischen Ordnungswillen nicht selbst garantieren dürfen und können.154 Jene ersichtlich eher politischen Motivationen entspringende Staatsverneinung erscheint einigermaßen verwirrend. Es ist erklärungsbedürftig, in welchem Verhältnis eine die staatliche Ordnung verwirklichende und repräsentierende organisatorische Wirkungseinheit bzw. eine entsprechende Anstalts-Konstruktion zu einem Wertdenken steht, auf das sie offenbar und zugegebenermaßen in ihrem Funktionsbzw. Legitimationsvoraussetzungen durchaus angewiesen sein soll. Die Willensbildungs- und Entscheidungsverfahren der betreffenden Organisations- bzw. Anstaltseinrichtungen erfolgen im Wege praktischer Vernunft, besitzen daher, wie hier eingehend dargelegt, in ihrem Ablauf sowie in ihrem Ergebnis eine inhaltliche Erkennungsfunktion;155 sie sind deshalb nicht nur formale Vorgänge und Ergebnisse, sondern sinnbestimmt und sinnstiftend. In ihrem Ergebnis führen sie stets zu einer in150
A.a.O., 295, 295 ff. A.a.O., 295 f. 152 A.a.O., 296 f. 153 Nachw. und Erörterung zu dieser von Böckenförde durchgehend und zentral vertretenen Auffassung bei Bartlsperger (Fußn. 16), 44 ff. 154 Böckenförde, Entstehung und Wandel des Rechtsstaatsbegriffs (1969), in: ders., Staat, Gesellschaft, Freiheit, 1976, 84 f. 155 Nachw. oben Fußn. 99 f. 151
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haltlichen Allgemeinheit und zu deren Institutionalisierung in einer rechtlichen und staatlichen Wirklichkeit.156 Es ist, um es nochmals hervorzuheben, die Eigenschaft jeder transzendentalphilosophischen Rechtsbegründung und es ist die nicht in Abrede zu stellende Konsequenz der originären Vernunftbegründung des Verfassungsstaates, dass die betreffenden Handlungsabläufe solche praktischer Vernunft sind und daher im Rahmen ihres intersubjektiv bzw. organisatorisch und verfahrensmäßig institutionalisierten Vollzugs eine inhaltliche Allgemeinheit hervorbringen und dass erst auf diese Weise Freiheit sowie Demokratie in Recht und Staat eine Verwirklichung finden. Unter den Voraussetzungen praktischer Vernunft und einer Vernunftbegründung des Verfassungsstaates ist es keine mögliche staatstheoretische Vorstellung, anstelle des Staates als objektive geschichtliche Realität lediglich eine bloße Organisation anzunehmen und zur Grundlage der Staatsrechtslehre zu machen. Zwischenzeitlich indessen zählen jene Auffassungen von einer ausschließlich organisatorischen „Staatslehre“ gerade aufgrund ihrer dargelegten politischen Motivation schon zu einer im Ergebnis gleichgerichteten Traditionslinie der Staatsverneinung. Der mit einem demokratischen Argument geführte Angriff gegen den Staat ist ein Phänomen, das die aktuelle Situation der Staatsrechtslehre nicht unwesentlich kennzeichnet. VII. Verfassungsstaat aktuell – Das demokratische Argument gegen den Staat 1. Die Reihe aktueller, mit dem demokratischen Argument begründeter Staatsverneinungen kann man unter einer ideengeschichtlichen Perspektive beginnen lassen mit der Forderung nach einer Wiederbelebung der normlogischen Rechts- und Staatslehre157sowie des eben erörterten bloßen organisatorischen Staatsverständnisses. Mit Blick darauf wird es als versäumte Gelegenheit der Staatsrechtswissenschaft unter dem Grundgesetz beurteilt, dass es die „längste Zeit an einem linksdemokratischen republikanischen Etatismus“ in der Nachfolge jener beiden „Staatslehren“ gefehlt habe.158 Ferner lassen sich jenseits bzw. an der fachspezifischen Grenze zur Staatsrechtslehre die sogenannte Diskurstheorie sowie die fundamentaldemokratischen Positionen anführen, welche, wie in ideengeschichtlichem Zusammenhang schon angesprochen, gegen die staatliche Institutionalisierung des demokratischen Prozesses dessen behauptete nur intersubjektive, kommunikative Ursprünglichkeit
156 So anlässlich jener bekannten Bemerkung Böckenfördes (Fußn. 154); die Beurteilung von Luf, Zum Problem der Anerkennung in der Rechtsphilosophie von Kant und Fichte (1992), in: ders. (Fußn. 14), 165/179. Es ist allerdings fraglich, ob Luf dabei das eigentliche „liberalistische“ Anliegen von Böckenförde richtig gewürdigt hat. Kritisch zu Böckenfördes Identifikation des Staates mit einem organisatorischen Anstaltsbegriff auch Uhlenbrock (Fußn. 41), 164 f. 157 Fußn. 93. Möllers (Fußn. 50, 125) sieht in der „weitgehenden Ignoranz des Werks Kelsens eine verpasste Chance“. 158 Möllers (Fußn. 109), 99.
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und Ausschließlichkeit ins Feld führen bzw. einen prinzipiellen Gegensatz von Demokratie und Staat annehmen möchten.159 Für den aktuellen Stand der Staatsrechtslehre in der staatstheoretischen Frage des Staatsbegriffs kennzeichnend ist schließlich und vor allem eine Version demokratisch argumentierender Staatsverneinung, die sich dabei auch eingehend und kritisch mit der staatstheoretischen Entwicklung und Situation der Staatsrechtslehre unter dem Grundgesetz beschäftigt.160 Nicht allein von dieser Seite allerdings wird resümiert, dass die sogenannte Bonner Republik zwar lange Zeit eine nüchterne, methodische und vielfältige Rechtsstaatslehre entwickelt habe, aber „staatswissenschaftlich insgesamt wenig ambitioniert“ gewesen sei.161 Der Nachkriegszeit wird eine deutliche staatstheoretische Abstinenz bescheinigt.162Abgesehen von dieser staatstheoretischen Situationsbeschreibung wird dann aber auch mit bemerkenswerter Profilierung und Vehemenz in Abrede gestellt, dass eine „Wiederbelebung einer ganzheitlichen, den Staatsbegriff in normativen und deskriptiven Belangen beschreibenden wissenschaftlichen Disziplin“ in einer Staatslehre aussichtsreich sein könnte und sollte.163 Es wird prinzipiell verneint, dass ein Staatsbegriff für die Staatsrechtslehre notwendig sei oder auch nur mit ihr verträglich sein könne.164 Den staatstheoretischen „Diskussionsfronten“ in dieser Frage wird eine Orientierung an den Debatten der Weimarer Staatsrechtslehre bescheinigt und sie werden mit „Generationenabfolgen der Staatsrechtswissenschaft“ in Verbindung gebracht.165 In vergleichbarer, aber umgekehrter Absicht wird von anderer Seite die aktuelle „Staatskritische Attitüde“ auch als neues Phänomen in einer Staatsrechtslehre unter der sogenannten Berliner Republik gedeutet.166 Wie auch immer geht es jedenfalls um das Für und Wider einer staatstheoretischen Positionsbestimmung, welche die Staatsrechtslehre auf eine gegen den Staatsbegriff gerichtete demokratische Verfassungstheorie festlegen
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Fußn. 41 f. Möllers (Fußn. 109), 31 ff., 44 ff., 59 ff. 161 Di Fabio, Die Staatsrechtslehre und der Staat (Fußn. 4), 51. Möllers (Fußn. 50, 1 f.) beurteilt die Bedeutung des Staatsbegriffs für die Staatsrechtslehre auch als „Randfrage“. Im Übrigen zur Staatsrechtslehre nach 1945 Bärsch (Fußn. 16), 97 ff. 162 Möllers (Fußn. 109), 31. 163 Möllers (Fußn. 50), 432. 164 Möllers (Fußn. 109), 103 ff. Danach gilt der Staatsbegriff nur „als ein einigermaßen amorphes, historisch zufällig gewachsenes und dem Recht zum großen Teil unsichtbares Gebilde“ (ders., Fußn. 50, 7), als „ein spezifisch deutsches Projekt“ (ders., Fußn. 109, 113) sowie als „Erkenntnis- und Modernisierungshindernis“ (a.a.O., 9 f.). 165 A.a.O., 97 ff. bzw. 101 ff., ders., Der Staat 43 (2004), 399 ff. 166 So Di Fabio (Fußn. 4, 63) zu einer angeblichen paradigmatischen Ablösung von „Staat“ durch „Verfassung“ und „Demokratie“. Stolleis (Fußn. 130, 258 f.) möchte insofern eine allmähliche Transformation der „Staatslehren“ in „Verfassungslehren“ annehmen, sowie von „jüngsten Äußerungen zum möglichen Ende des (alten) Staates“ sprechen, die „nicht mehr in die (alte) Bundesrepublik“ gehören. 160
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möchte, auf eine Ersetzung des „Staates“ durch „Verfassung“, des „Staatsrechts“ durch „Verfassungsrecht“.167 Der letztgenannte, in der Sache und in der Form aktuell wohl exponierteste Angriff gegen den Verfassungsstaat als Staatsbegriff offenbart sich in seiner politischen Voreingenommenheit und Emotionalität durch die Behauptung, in der juristischen Staatstheorie der Bundesrepublik spielten das „Ideal eines souveränen, also allmächtigen Staats, einer Gewalt, die sich auf Erden mit keiner vergleichen kann,“ wie das bekannte Zitat vom Leviathan laute, „und die Erfahrung eines Verlustes dieses Ideals“ eine wichtige Rolle. Vermisst werde die „ungebrochene Staatsgewalt“.168 Der „Leviathan“, so wird angefügt, erweise sich als die „professionelle institutionelle Heimat“ der Staatsrechtswissenschaft, deren Verlust diese abzuwehren oder zu beklagen habe.169 Solche offensichtlich das aktuell wirkliche Staats- und Verfassungsverständnis verfehlenden, zu nichts anderem als zur Findung und Begründung eines politischen Standpunkts aufgestellten Behauptungen und Beurteilungen verschließen offenbar einen Zugang zu dem kulturgeschichtlichen Erbe von Staatstheorie und Staatsrechtslehre des Verfassungsstaates, dass dieser sich einer originären praktischen Vernunftbegründung als objektiver und eigenständiger geschichtlicher Realität verdankt und dass Freiheit sowie Demokratie nur in dieser vernunftbegründeten realen Staatlichkeit eine Verwirklichung finden können.
167
Möllers, a.a.O., 10 unter Berufung auf die Rechtsordnungen anderer Länder. A.a.O. 169 A.a.O. 168
Pluralismus und Föderalismus in der deutschen Staatslehre an der Wende zum 20. Jahrhundert Zum möglichen Ertrag verfassungshistorischer Vergleiche für Fragen der europäischen Integration Von Bernd Grzeszick, Heidelberg I. Verfassungsgeschichte, Pluralismus und Legitimität der Staatsgewalt Erhebliche Teile seines Werkes hat Thomas Würtenberger Fragen der Verfassungsgeschichte und der Legitimität der staatlichen Gewalt1 sowie des Pluralismus2 gewidmet. Dabei war stets kennzeichnend, dass seine Überlegungen nicht nur auf genaue Beschreibung und tiefe Analyse zielten, sondern auch mögliche Schlussfolgerungen für den Umgang mit und die weitere Entwicklung der Verfassungsstaatlichkeit suchten. Mit eben diesem Impetus hat sich die Staatsrechtslehre in jüngerer Zeit verstärkt Ansätzen zur Integration von Pluralismus und Föderalismus in der deutschen Staatslehre am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts zugewandt. Hintergrund dieser Entwicklung ist die Überlegung, dass der Übergang vom Deutschen Bund zum Bismarckreich aus staatsrechtlicher Perspektive einen Vergleich mit der fortschreitenden europäischen Integration anregend erscheinen lassen könnte.3 Diese Überlegungen werden weiter dadurch befördert, dass das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung über den Vertrag von Lissabon zum Teil explizit auf staatstheoretische Überlegungen aus dieser Zeit sowie den in der wissenschaftlichen Diskussion von Christoph Schönberger vorgeschlagenen verglei1 Dazu nur Würtenberger, Die Legitimität staatlicher Herrschaft. Eine staatsrechtlich-politische Begriffsgeschichte, 1973; ders., Die Akzeptanz von Verwaltungsentscheidungen, 1996; ders./Gose, Zur Ideen- und Rezeptionsgeschichte des preußischen Allgemeinen Landrechts, 1999. 2 Dazu nur Würtenberger, Die Verbändeproblematik aus europarechtlicher und integrationstheoretischer Sicht, in: Meesen (Hrsg.), Verbände und europäische Integration, 1980, S. 29 ff.; ders., Rechtspluralismus oder Rechtsetatismus?, in: Lampe (Hrsg.), Rechtsgleichheit und Rechtspluralismus, 1995, S. 92 ff.; ders., Theorie und Praxis des pluralistischen Staates, in: Venizelos/Pantélis (Hrsg.), Civilisation and Public Law, 2005, S. 49 ff. 3 Zu dieser Perspektive vor allem Schönberger, AöR 129 (2004), S. 81, 83, 86, 89 ff., 107 f.; ders., Unionsbürger, 2005, S. 5 ff., insbes. S. 9, sowie S. 100 ff.
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chenden Rückgriff auf die Gründung des Norddeutschen Bundes und des Bismarckreiches4 rekurriert.5 In diesem Zusammenhang führt das Gericht aus: „Historische Vergleiche zur deutschen Bundesstaatsgründung über den Norddeutschen Bund von 1867 […] führen in diesem Zusammenhang nicht weiter.“ In der wissenschaftlichen Diskussion, auf die das Gericht Bezug nimmt, kommt besondere Aufmerksamkeit dem Werk von Hugo Preuß zu. Dessen Ausführungen zu Pluralismus, Föderalismus und Demokratie haben eine Renaissance erfahren, in deren Rahmen er als „Vordenker einer Verfassungstheorie des Pluralismus“6 und „moderner Klassiker einer kritischen Theorie der verfaßten Politik“7 bezeichnet wird. Zugleich ist Preuß einer der wenigen Staatsrechtler seiner Zeit, die methodisch nicht primär staatsrechtspositivistisch argumentierten und die inhaltlich für ein differenziertes Auffangen des Verhältnisses von Souveränität, Legitimität und Föderalismus eintraten; für beides steht seine zur Reichsverfassung von 1871 entwickelte Bundesstaatstheorie. Vor diesem Hintergrund wird im Folgenden erörtert, ob und wieweit dem Pluralismus und Föderalismus in der deutschen Staatslehre an der Wende zum 20. Jahrhundert Anregungen für die Debatte über die europäische Integration zu entnehmen sind. Die entsprechenden Fragen werden am Beispiel der Bundesstaatstheorie von Hugo Preuß erarbeitet. Zunächst werden seine Person (II.) sowie seine Grundpositionen zu Fragen von Souveränität, Legitimität und Föderalismus (III.) dargestellt. Ein Vergleich mit der Debatte über die europäische Integration (IV.) vermag Aufschluss über die Verfassungsgeschichte als Speicher von Grundfragen und -antworten zu geben (V.). II. Zur Person von Hugo Preuß Hugo Preuß8 wurde am 28. Oktober 1860 in Berlin geboren. Er war Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie und hat den größten Teil seines Lebens in Berlin verbracht. Zwar hat er in Heidelberg die Schule besucht und nach dem – in Berlin abgelegten – Abschluss ab 1879 für drei Semester in Heidelberg studiert; die weiteren beruflichen und privaten Stationen seines Lebens sind aber ganz überwiegend Berlin zuzuordnen.
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Schönberger, Unionsbürger, 2005, S. 100 ff. BVerfGE 123, 267 (403 f.). 6 Voßkuhle, Der Staat 50 (2011), S. 251 (ff.). 7 Lehnert, PVS 33 (1992), S. 33 (ff.). 8 Zum Folgenden nur Hucko, NJW 1985, 2309 ff.; Lehnert, PVS 33 (1992), S. 33 ff.; Schefold, in: Heinrichs/Franzki/Schmalz/Stolleis (Hrsg.), Deutsche Juristen jüdischer Herkunft, 1993, S. 429 ff.; Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Band 3, 1999, S. 81 ff.; jeweils m.w.N. 5
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1883 legte er das Staatsexamen beim Kammergericht ab. Im gleichen Jahr erfolgte die Promotion mit einer römischrechtlichen Arbeit9 in Göttingen. Die Habilitation erfolgte 1889 an der Universität in Berlin, wo er anschließend als Privatdozent für Öffentliches Recht tätig war. Allerdings blieb ihm ein Ordinariat nicht zuletzt wegen seiner linksliberalen politischen Positionen und seines jüdischen Glaubens10 verwehrt. Dennoch war ihm eine unabhängige Existenz als Gelehrter möglich, da sein Stiefvater ihm eine Rente ausgesetzt hatte. Auf dieser materiellen Basis entfaltete Hugo Preuß rasch eine umfangreiche Publikations- und Vortragstätigkeit. 1890 heiratete er Else Liebermann, die Tochter des Chemieprofessors und Entdeckers Carl Liebermann und Cousine des Malers Max Liebermann, die zudem mit der Familie Rathenau verwandt war. Aus der Ehe gingen vier Kinder hervor. Erst 1906 erhielt Preuß dann eine Professur, und zwar an der neu gegründeten und staatsfernen11 Handelshochschule Berlin, deren Rektor er 1918 wurde. Hinzu kamen seine zahlreichen politischen Tätigkeiten, von denen hier nur die prominentesten angeführt werden sollen. Ab 1895 war er Mitglied der Berliner Stadtverordnetenversammlung für die Freisinnige Volkspartei in Charlottenburg, und von 1910 bis 1918 ehrenamtlicher Stadtrat des Berliner Magistrats in Charlottenburg. Unmittelbar nach der Novemberrevolution wurde Preuß zum Staatssekretär des Reichsamtes des Inneren berufen und mit dem Entwurf einer Reichsverfassung betraut. Sowohl die Berufung zum Staatssekretär als auch die Zuteilung dieser Aufgabe erfolgte durch Friedrich Ebert. Inhaltlich waren die Überlegungen von Preuß dabei in erheblichem Maß von den Vorstellungen Max Webers und Gerhard Anschütz’ geprägt. Auch in den Beratungen über die Grundzüge des Verfassungsentwurfes zog er beide Kollegen heran. Insbesondere die Vorschläge Webers nahm Preuß offenbar zu großen Teilen mit in seinen Entwurf auf. Der am 3. Februar 1919 von ihm vorgelegte Entwurf wurde zwar nicht vollständig umgesetzt. In Folge der Kritik vor allem von konservativer Seite, der der Entwurf zu sehr der Paulskirchenverfassung entsprach, wurde er in Teilen geändert. Die wesentlichen Grundzüge wurden aber akzeptiert. Bis Juni 1919 war Preuß im Kabinett von Philipp Scheidemann erster Reichsinnenminister der Weimarer Republik; er trat dann wegen des Versailler Vertrags zurück.12 Daneben war Preuß 1918 Mitbegründer der Deutschen Demokratischen Partei, für die er von 1919 bis 1925 Mitglied der Preußischen Landesversammlung und des Preußischen Landtags war.
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Thema: Der Eviktionsregreß des in possessorio unterlegenen Käufers. Lehnert, PVS 33 (1992), S. 33 f. 11 Lehnert, PVS 33 (1992), S. 33. 12 Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Band 2, 1992, S. 364.
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III. Souveränität, Legitimität und Föderalismus bei Hugo Preuß 1. „Gemeinde, Staat und Reich als Gebietskörperschaften“ von 1889 Die Grundpositionen von Hugo Preuß zu Fragen von Souveränität, Legitimität und Föderalismus finden sich in umfassender Ausarbeitung bereits in seiner ersten staatswissenschaftlichen Publikation, der Monographie „Gemeinde, Staat und Reich als Gebietskörperschaften. Versuch einer deutschen Staatskonstruktion auf der Grundlage der Genossenschaftstheorie“ von 1889, die seine Habilitationsschrift war. Preuß liefert mit dieser Arbeit einen pointierten Beitrag zur wohl brisantesten Diskussion des spätkonstitutionellen Staatsrechts: Der Debatte über den föderalen Charakter des Bismarckreiches.13 Die unitarische Entwicklung der Reichsstrukturen14 in der Verfassungswirklichkeit des Reiches war in der staatsrechtlichen Diskussion ganz überwiegend nachvollzogen worden und Vorstellungen von einer geteilten oder doppelten Souveränität waren allmählich von der Idee der souveränen Staatlichkeit des Gesamtstaates verdrängt worden.15 Die Auffassung von der Souveränität des Bundes war allerdings nicht unwidersprochen. Sie wurde insbesondere von Hugo Preuß in Frage gestellt, der eben in seiner Habilitationsschrift weiterhin die staatenbündischen und föderalen Elemente der Reichsverfassung betonte – wie dies auch Otto von Gierke, Otto Mayer und Rudolf Smend vertraten. 2. Bezugspunkt: Die Verfassung des Bismarckreichs von 1871 Bezugspunkt und Gegenstand der Schrift von Preuß sowie der Debatte war die Reichsverfassung vom 16. April 1871.16 Bei deren Abfassung waren in erheblichem Umfang Teile der Verfassung des Norddeutschen Bundes übernommen worden. a) Föderale und unitarische Elemente der Reichsverfassung Die Reichsverfassung enthielt keine ausdrückliche Bestimmung ihres föderalen Charakters. Aus dem in einzelnen Vorschriften geregelten Verhältnis zwischen dem 13 Doerfert, Besprechung von Maren Becker: Max von Seydel und die Bundesstaatstheorie des Kaiserreichs, Der Staat 50 (2011), S. 155, 156. 14 So Triepel, Unitarismus und Föderalismus im Deutschen Reiche, 1907, S. 116; Laband, JöR 1 (1907), S. 1, 5. 15 Dazu sowie zum Folgenden nur Deuerlein, Föderalismus, 1972, S. 131 ff., 148 ff. sowie Oeter, Integration und Subsidiarität im deutschen Bundesstaatsrecht, 1998, S. 46 ff. 16 RGBl. 1871, S. 64 – 85.
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Reich und den Einzelstaaten wurde aber gefolgert, dass ein lockeres Staatenbündnis wie im Deutschen Bund nicht errichtet werden sollte.17 In Erstreckung dieser Bewertung wurde das Reich als Bundesstaat qualifiziert,18 in dem Preußen eine herausragende Stellung zukam, die durch die in der Verfassung festgeschriebenen Personalunionen von preußischem König und deutschem Kaiser sowie von preußischem Ministerpräsidenten und Reichskanzler abgesichert war.19 Sowohl das Reich als auch die Mitgliedstaaten besaßen die Qualität von Staaten, die bei der Aufgabenerfüllung entsprechend ihrer verfassungsrechtlichen Stellung zusammenwirkten. Das Reich war sowohl in seinen Grundlagen als auch in seinen einzelnen Ausprägungen ein Produkt verschiedener Strömungen, Tendenzen und Traditionen, angeleitet durch den preußischen Ministerpräsidenten Bismarck20 und geprägt durch die Monarchen der Gliedstaaten, nicht durch das Volk des entstandenen Reiches.21 Dementsprechend enthielt die Reichsverfassung sowohl zentralistische bzw. unitarische als auch föderale Elemente. An zentralistischen Elementen ist zunächst der Kaiser anzuführen, der in national-unitarischer Weise dem Reich vorstand;22 damit war zugleich eine Entscheidung für ein monarchisches Element verbunden. Der Kaiser ernannte nach Art. 15 der Verfassung einen Reichskanzler, der ihm politisch verantwortlich war. Gleichfalls unitarisch wirkte die Vertretung der Nation durch den Reichstag, mit dem zugleich demokratische Züge verbunden waren, denn die Reichstagsmitglieder gingen aus allgemeinen – ausgenommen der Frauen – und freien Wahlen im Sinne des Art. 20 der Verfassung hervor und waren gemäß Art. 29 der Verfassung Vertreter des gesamten Volkes. Schließlich stärkten die weiten fakultativen Gesetzgebungskompetenzen aus Art. 4 der Verfassung, von denen das Reich nach und nach immer mehr Gebrauch machte, die Bedeutung des Reiches und schwächten die der Einzelstaaten.23 Die zentralistische Tendenz der Verteilung der Kompetenzen zwischen Einzelund Gesamtstaatsebene prägte auch die Verwaltungszuständigkeiten. Nach herr17 Triepel, Unitarismus und Föderalismus im Deutschen Reiche, 1907, S. 120, hält es für „ausgemacht“, dass der Staatenbund „eine für Deutschland schlechterdings unmögliche Gestaltung“ sei. 18 Mejer, Einleitung in das Deutsche Staatsrecht, 2. Auflage, 1884, S. 294; Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Band I. 5. Auflage, 1911, S. 88. 19 Dazu Volkmann, in: FS Frotscher, 2007, S. 183 ff., 187 f. 20 Ähnlich Nipperdey, in: ders., Nachdenken über die deutsche Geschichte, 1986, S. 60 ff., 80 f. 21 Senigaglia, in: Berger/Brauneder (Hrsg.), Repräsentation in Föderalismus und Korporativismus, 1998, S. 11, 15. 22 Laband, JöR 1 (1907), S. 1, 15. 23 Triepel, Unitarismus und Föderalismus im Deutschen Reiche, 1907, S. 53. Zur Kompetenzverteilung unter der Reichsverfassung von 1871 auch Preuß, Reich und Länder, 1928, S. 107 f.
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schender Ansicht waren zwar grundsätzlich die Länder – unter Aufsicht des Reiches – für die Verwaltung zuständig, selbst wenn gemäß Art. 7 der Reichsverfassung der Bundesrat Verwaltungsvorschriften zur Ausführung der Reichsgesetze beschließen konnte.24 In der Praxis konnten hier aber deutliche unitarische Tendenzen wahrgenommen werden; vor allem baute das Reich die reichseigene Verwaltung aus. Aufgrund zunehmender öffentlicher Aufgaben nahm freilich auch der Umfang der Verwaltungsaufgaben der Gliedstaaten zu.25 Schließlich verfügte das Reich mit der Reichsexekution nach Art. 19 der Verfassung über ein Instrument, gewissen Einfluss auf die Einzelstaaten geltend machen zu können. Ein starkes föderales Element war darin zu sehen, dass das Reich selber kaum über Einnahmen verfügte. Die unmittelbare Verwaltung – und damit auch die Finanzverwaltung – lag bei den Gliedstaaten und das Reich war zu seiner Finanzierung auf Beiträge der Gliedstaaten angewiesen, was zu einem System der Matrikularbeiträge führte,26 bei dem das Reich in finanzieller Abhängigkeit von den Gliedstaaten stand.27 Art. 70 der Reichsverfassung sah zwar die Einführung von Reichsteuern vor, die jedoch erst zum Ende des Reiches erhoben wurden.28 Neben dieser Stärkung der Gliedstaaten im Rahmen der Finanzverfassung wurden einigen süddeutschen Staaten Reservatrechte eingeräumt, die ebenfalls die Stellung einzelner Staaten gegenüber dem Reich stärkten. Zudem war nach Art. 6 der Verfassung dem Bundesrat ein Veto- und Initiativrecht eingeräumt, mit dem die Einzelstaaten an der staatlichen Willensbildung teilnahmen und unmittelbar an der Reichspolitik beteiligt waren.29 Mit der Bezeichnung „Bundesrat“ sollte verdeutlicht werden,30 dass hier – anders als beim Reichstag – föderale Elemente betont und integriert wurden.31 b) Politische Position der Länder im Reich Allein der isolierte Blick auf die Regelungen der Reichsverfassung ergibt aber nur einen Teil des gesamten Bildes. Denn die politische Position der Länder war – mit Ausnahme von Preußen – sowohl im exekutiven Bereich als auch in der poli24
Holste, Der deutsche Bundesstaat im Wandel, 2002, S. 170 ff. m.N. Holste, Der deutsche Bundesstaat im Wandel, 2002, S. 180, 182. 26 Deuerlein, Föderalismus, 1972, S. 140 ff. 27 So Holste, Der deutsche Bundesstaat im Wandel, 2002, S. 196 f. 28 Laband, JöR 1 (1907), S. 1, 8, 42 ff. 29 Vgl. Deuerlein, Föderalismus, 1972, S. 140. 30 So Bismarck, Immediatbericht vom 29. März 1871 über die Benennung des Bundesrates, abgedruckt in Puttkammer, Föderative Elemente im deutschen Staatsrecht seit 1648, 1955, Nr. 31, S. 150 f. 31 Senigaglia, in: Berger/Brauneder (Hrsg.), Repräsentation in Föderalismus und Korporativismus, 1998, S. 11, 15. 25
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tischen Bedeutung eher schwach.32 Dahinter stand vor allem der tatsächliche Machtanspruch Preußens. Der preußische Monarch war nach Art. 11 der Reichsverfassung Deutscher Kaiser und dieser konnte den Reichskanzler ernennen, was sich personalpolitisch so auswirkte, dass es überwiegend preußisch stämmige Reichskanzler gab.33 Die auch mit föderalen Elementen ausgestattete Reichsverfassung wurde damit zur Grundlage eines monarchisch und preußisch geprägten Unitarismus, der durch Kaiser Wilhelm II. verkörpert wurde.34 Selbst der Bundesrat, der im Rahmen der Reichsverfassung als originär föderales Organ der Länder konzipiert worden war, wurde aufgrund des beherrschenden Einflusses Preußens in erheblichen Teilen politisch unitarisch geprägt.35 Zusammenfassend lässt sich deshalb festhalten, dass die Verfassung von 1871 ihrer Konzeption nach in Teilen föderal aufgebaut war. Die föderalen Strukturen wurden jedoch in der Verfassungswirklichkeit geschwächt; unitarische Tendenzen konnten sich stärker verwirklichen.36 Damit beeinträchtigte die preußische Dominanz die konzeptionell vorgesehene Rechtsgleichheit der Gliedstaaten erheblich. Aus bewertender Perspektive wird aber auch geltend gemacht, dass das Reich als Gesamtstaat durch die besondere Stellung Preußens gestärkt wurde und bis 1919 erhalten blieb.37 Für die weitere Entwicklung des föderalen Systems erlangte zudem der Gedanke der Bündnis- und Vertragstreue, welcher der Reichsverfassung entnommen wurde und die Grundlage für den heute geltenden Grundsatz der Bundestreue darstellt, zentrale Bedeutung.38
32 Laband, JöR 1 (1907), S. 1, 18; Oeter, Integration und Subsidiarität im deutschen Bundesstaatsrecht, 1998, S. 31. 33 Kimminich, Deutsche Verfassungsgeschichte, 2. Auflage, 1987, S. 434. 34 Holste, Der deutsche Bundesstaat im Wandel, 2002, S. 543. 35 So Oeter, Integration und Subsidiarität im deutschen Bundesstaatsrecht, 1998, S. 42. 36 So Laband, JöR 1 (1907), S. 1, 5; Triepel, Unitarismus und Föderalismus im Deutschen Reiche, 1907, S. 116; Oeter, Integration und Subsidiarität im deutschen Bundesstaatsrecht, 1998, S. 44; Holste, Der deutsche Bundesstaat im Wandel, 2002, S. 261. 37 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Band 3, 1963, S. 802. 38 Bauer, Die Bundestreue, 1992, S. 39 ff.; Holste, Der deutsche Bundesstaat im Wandel, 2002, S. 152 ff.
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3.. Die zeitgenössische Debatte über den föderalen Charakter des Reiches a) Überwiegende Ansicht: Souveräne Staatlichkeit des Reiches als Bundesstaat Die vorstehend skizzierte politische Entwicklung wurde in der staatsrechtlichen Diskussion nicht nur wahrgenommen, sondern großteils auch nachvollzogen und damit wissenschaftlich positiv sanktioniert.39 Die Vorstellungen von einer geteilten oder doppelten Souveränität wurden allmählich von der Idee der souveränen Staatlichkeit des Gesamtstaates verdrängt und es wurde sich nun auf die Mitwirkung der Gliedstaaten an der Willensbildung des Gesamtstaates sowie die Aufteilung der staatlichen Kompetenzen fokussiert. Dementsprechend konnte sich die These vom Reich als einem staatenbündischen Zusammenschluss der einzelnen Staaten, die sich über die Bundesverträge die Fortdauer als Staaten gesichert hatten, nicht dauerhaft halten; sie unterlag der Sichtweise der Reichsgründung als Begründung einer staatsrechtlichen Organisation. Ähnlich war die Entwicklung der Vorstellung von der Souveränität im Bundesstaat verlaufen. Die bis Mitte des 19. Jahrhunderts immer wieder vorgetragene und gepflegte Vorstellung einer geteilten bzw. doppelten Souveränität entfaltete zunächst auch unter der Reichsverfassung noch ihre Wirkkraft. Robert von Mohl äußerte in seinem Werk „Das deutsche Reichsstaatsrecht“ 1873 die Auffassung, dass die Gliedstaaten nicht aufgehört hatten, ihre eigene Verfassung und Verwaltung zu haben, einen bestimmten Teil der Zwecke eines Staates selbstständig und mit eigenen Mitteln und nach eigenen Bestimmungen zu verfolgen. Seiner Ansicht nach ging für die Gliedstaaten allein ein durch die Zuständigkeit der Bundesgewalt bestimmter Teil der Souveränität verloren und an die Bundesorgane über. Diese Auffassung hatte aber dezidierte Gegner. Vor allem der bayerische Staatsrechtler Max von Seydel versuchte 1872 in seinem Aufsatz „Der Bundesstaatsbegriff“ die theoretische Unmöglichkeit des Bundesstaates zu beweisen und in der Folge das Reich als Staatenbund zu deuten. Seiner Ansicht nach gehörte es zum Begriff des Staates, dass dieser von einem einheitlichen höchsten Willen beherrscht wird, den er Staatsgewalt oder Souveränität nannte. Da nun zwei höchste Willen einander aufhöben und verneinten, seien diese begrifflich nicht möglich. Eine der wesentlichen Eigenschaften der Souveränität sei deshalb gerade, dass sie keinen bestimmten Umfang habe, sondern inhaltlich völlig unbeschränkt sei; ihre umfängliche Beschränkung sei deshalb ihre Negierung. Diese Gleichsetzung von Souveränität und Staatsgewalt sowie ihr Verständnis als höchste, einheitliche und unbeschränkte Herrschaftsgewalt stand Teilungen, Doppelungen und Beschrän39 Dazu sowie zum Folgenden nur Deuerlein, Föderalismus, 1972, S. 131 ff., 148 ff.; Oeter, Integration und Subsidiarität im deutschen Bundesstaatsrecht, 1998, S. 46 ff.; Holste, Der deutsche Bundesstaat im Wandel, 2002, S. 120 ff., 243 ff.; jeweils m.N.
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kungen prinzipiell entgegen. Der Begriff des Bundesstaates war deshalb für von Seydel rechtlich unhaltbar, weil er im Widerspruch zum Begriff des Staates stand; es konnte nach seiner Ansicht nur Staaten oder Staatenbünde geben. Diese Auffassung vom vertragsmäßigen und staatenbündischen Charakter des Reiches wurde zwar sowohl in der Konstruktion als auch in ihrer Zuspitzung ganz überwiegend abgelehnt. Die Vorstellung einer nur als einheitlich und unteilbar vorstellbaren Souveränität fand aber grundsätzliche Zustimmung. Sie wurde vor allem von Georg Meyer, Paul Laband, Georg Jellinek, Albert Haenel, Philipp Zorn und Joseph von Held – sämtlich unitarisch gesinnte Positivisten des Reichsstaatsrechts – auf die Reichsverfassung übertragen und dabei nun so verwendet, dass sie in einem staatsrechtlichen Gefüge, also in einem durch Über- und Unterordnungsverhältnisse strukturierten Gebilde, dem Oberstaat, also dem Bund zustehen musste. Damit diese Annahme nicht im Widerspruch zur reichsverfassungsrechtlichen Rechtsstellung der Länder als Staaten stand, wurde zwischen Souveränität und Staatlichkeit unterschieden und Souveränität vor allem als Kompetenz-Kompetenz verstanden. Auch nicht-souveräne Staaten konnten so grundsätzlich anerkannt werden, wozu allerdings erheblich divergierende Positionen vertreten wurden. Insgesamt wurde der Bundesstaat überwiegend als ein aus nicht-souveränen Staaten zusammengesetzter souveräner Staat verstanden; diese Position wurde vorherrschend. b) Kritik an diesem Verständnis von Souveränität und Bundesstaat Die Auffassung von der Souveränität des Bundes blieb aber nicht unbestritten. Der Genossenschaftstheoretiker Otto von Gierke wies 1883 in einem gegen Paul Laband gerichteten Beitrag darauf hin, dass die vorherrschende Lehre entweder dem Deutschen Reich oder den deutschen Einzelstaaten die staatliche Qualität rauben musste.40 Hugo Preuß äußerte 1889 in seiner Habilitationsschrift, dass die deutsche Staatsrechtswissenschaft in Bezug auf die Bundesstaatlichkeit sich im Gespinst des Souveränitätsbegriffs verfangen habe wie die Fliege im Gewebe der Spinne.41 Otto Mayer konstatierte 1903, dass die deutsche Staatsrechtswissenschaft die Konstruktion der Verfassung von 1871 nie wirklich akzeptiert habe und diese durch unitarische Theorien und Konstruktionen von ihren Grundlagen abzulösen suchte.42 Und Rudolf Smend betonte noch in einer 1916 veröffentlichten Arbeit über die Bundestreue die föderal-dezentralen Elemente der Reichsverfassung, indem er davon ausging, dass Reich und Einzelstaaten nicht nur im Verhältnis der Über- und Unterordnung standen, sondern zugleich im Verhältnis des Bundes zu
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v. Gierke, Schmollers Jahrbuch 7 (1883), S. 1097, 1159 f. Preuß, Gemeinde, Staat und Reich als Gebietskörperschaften, 1889, Vorbemerkung S. VI. 42 Mayer, AöR 18 (1903), S. 337, 365 f., 370 f. 41
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seinen Verbündeten und damit auf einer Ebene gleichgeordneter Rechte und Pflichten.43 Die Ansätze einer stärkeren Betonung der staatenbündisch-monarchischen Elemente der Reichsverfassung konnten aber bis zum Ende des Reiches nicht die Oberhand gewinnen. 4. Grundlagen der Position Preuß’ a) Preuß als Außenseiter der Staatsrechtslehre der Kaiserzeit Vor diesem Hintergrund trifft die Ansicht von Stefan Oeter und Jens Kersten zu, die Hugo Preuß als „Außenseiter der Staatsrechtslehre der Kaiserzeit“ bezeichnen.44 Allerdings ist er ein Außenseiter, der Erfolg haben und die nächste Verfassung schreiben sollte. Auch aus diesem Grund – aber nicht nur deshalb – lohnt sich ein Blick auf die Grundlagen der Position Preuß’. Was stand hinter seiner Position zum föderalen Charakter des Reiches und zum Souveränitätsbegriff? b) Organisch-genossenschaftliche Perspektive gestufter Staatlichkeit Ein wichtiger Schlüssel zu seinem Verständnis von Staat und Recht bildet eben seine Habilitationsschrift von 1889.45 Deren zentrales Thema ist die Frage nach der Art und Weise, in der öffentliche Gewalt im Staat auf unterschiedlichen Ebenen ausgeübt werden kann. Auf der Grundlage einer organischen, genossenschaftlichen Staatstheorie in der Tradition Gierkes begreift Preuß das Reich als mehrstufiges Gebilde, auf dessen verschiedenen Stufen jeweils eine eigenständige Willensbildung durch das Volk stattfinden soll.46 Die unterschiedlichen Ebenen bilden dabei ein Gesamtsystem, das den Bürgern die Entfaltung ihres Willens auf allen Ebenen ermöglichen soll. Preuß entwarf damit im Grundsatz eine Theorie des Bundesstaates als ein Gefüge gestufter Selbstverwaltung, die als ein Modell im Sinne einer „dezentralisierten Einheitsstaatlichkeit“ verstanden werden kann.47 Insoweit war er im Ergebnis den Anhängern zentralistischer Staatsvorstellungen zuzurechnen. Allerdings war 43
Smend, in: Festgabe O. Mayer, 1916, S. 247, 258 ff. Oeter, Integration und Subsidiarität im deutschen Bundesstaatsrecht, 1998, S. 48, 56; Kersten, JZ 2010, 1062 f. 45 Dazu sowie zum Folgenden näher Schefold, in: Heinrichs/Franzki/Schmalz/Stolleis (Hrsg.), Deutsche Juristen jüdischer Herkunft, 1993, S. 429, 437 ff.; Groh, Demokratische Staatsrechtslehrer in der Weimarer Republik, 2010, S. 257 ff.; Voßkuhle, Der Staat 50 (2011), S. 251, 257 ff. 46 Schefold, in: Heinrichs/Franzki/Schmalz/Stolleis (Hrsg.), Deutsche Juristen jüdischer Herkunft, 1993, S. 429, 437. 47 Oeter, Integration und Subsidiarität im deutschen Bundesstaatsrecht, 1998, S. 56. 44
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diese zentralistische Tendenz nicht tragend und in zweierlei Hinsicht zu relativieren.48 Zum einen lagen das eigentliche Ziel seiner Überlegungen und damit der inhaltliche Schwerpunkt seines Ansatzes nicht auf der Einheitsstaatlichkeit, sondern auf dem Gedanken der Selbstverwaltung und damit der demokratischen Legitimation, die er institutionell in einer parlamentarischen Regierung verortet sah. Konsequent kritisierte Preuß deshalb die antiparlamentarische Tendenz hinter Bismarcks föderaler Rhetorik zu Gunsten der Rolle des Bundesrates und der entsprechenden Behauptung, es gebe keine Reichsregierung, sondern lediglich die verbündeten Regierungen der Länder, scharfsinnig und scharfzüngig wie folgt: „Das Auftauchen dieser Behauptung war stets ein untrügliches Zeichen, daß der Reichstag wieder etwas geduckt werden sollte; denn die Behauptung schloß die Impotenzerklärung des Reichstags in sich.“49 Zum anderen unterschied Preuß deutlich zwischen seiner Theorie und dem geltenden Recht. Für ihn war einsichtig, dass sein staatstheoretisches Ideal weder dem geltenden Recht ohne weiteres entsprach, noch ihm durch schlichte Auslegung unterlegt werden konnte. Vielmehr bedurfte es dazu erheblicher rechtlicher Änderungen – die er konsequenterweise dann in seiner Eigenschaft als Politiker betrieb. Beide Gedanken – demokratische Selbstverwaltung und Beachtung des geltenden Rechts – kulminierten in der Kritik am damaligen Souveränitätsbegriff, die er in seiner Habilitationsschrift vortrug. Im Souveränitätsbegriff sah er das Symbol obrigkeitlicher, nichtdemokratischer Herrschaft.50 Für Preuß war der „Souveränitätsbegriff die Negation des öffentlichen Rechts“51, weil die Souveränität des Gesamtstaates die demokratisch-genossenschaftliche Substanz der übrigen Gebietskörperschaften entleerte.52 Im Souveränitätsbegriff sah er deshalb „das tragende Princip des absoluten Obrigkeitsstaates.“53 Preuß betont stattdessen die Bedeutung der konkreten Kompetenzverteilung, die er mit dem Grundsatz der demokratischen Selbstregierung der jeweiligen Einheit zusammenband.54 Für diese Fragen folgte aber nach seiner Ansicht „aus dem Wesen
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Dazu sowie zum Folgenden auch Oeter, Integration und Subsidiarität im deutschen Bundesstaatsrecht, 1998, S. 56 ff. – An gleicher Stelle differenzierend, aber aus der umgekehrten Perspektive kommend und zudem stärker auf die methodischen Grundlagen abstellend Groh, Demokratische Staatsrechtslehrer in der Weimarer Republik, 2010, S. 259 ff. 49 Preuß, Die Organisation der Reichsregierung und die Parteien, 1890, in: ders., Staat, Recht und Freiheit, 1926, S. 172, 182. 50 Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Band 2, 1992, S. 363; Holste, Der deutsche Bundesstaat im Wandel, 2002, S. 256. 51 Preuß, Gemeinde, Staat und Reich als Gebietskörperschaften, 1889, S. 133. 52 Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Band 2, 1992, S. 363. 53 Preuß, Gemeinde, Staat und Reich als Gebietskörperschaften, 1889, S. 136. 54 Preuß, in: FG Laband, Band 2, 1908, S. 199, 205.
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des Staates“ nichts.55 Vielmehr sind es bei Preuß die vielgestaltigen genossenschaftlichen Zwischenbildungen, die erst das Volk zum Staat organisieren können.56 Der genossenschaftliche Gedanke ist daher Vorbild einer verfassungsdemokratischen57 Konstituierung auf allen föderalen Ebenen.58 Sich selbst regierende demokratische Einheiten und Bundesstaat sind damit kein Gegensatz, sondern vielmehr Entfaltungen ein und desselben Prinzips.59 IV. Vergleich mit der Debatte über die europäische Integration 1. Verfassungsgeschichte als Indikator des Wandels von Verfassungsstaatlichkeit? Die inhaltliche Nähe dieser Überlegungen zu solchen der aktuellen Debatte über die europäische Integration ist frappierend: Sind Mitgliedstaaten und Union sich ergänzende Entfaltungen ein und desselben Prinzips demokratischer Selbstregierung auf verschiedenen Ebenen, die sich deshalb ergänzen können, nicht aber im Gegensatz zueinander stehen, oder schließen Staatlichkeit und Souveränität ein solches Mehrebenensystem offener Staatlichkeit aus? Diese Parallele legt die Frage nahe, ob der Blick in die Verfassungsgeschichte Erkenntnisse für die aktuelle Debatte bereithält: Kann die Verfassungsgeschichte als Rechtsvergleichung in der Zeit fruchtbar gemacht werden, vielleicht in dem Sinne, dass auch zu den aktuellen Fragen alle Antworten schon gegeben worden sind, nur zu anderen Zeiten und an anderen Orten? Und allgemeiner gewendet: Kann man aus der Verfassungsgeschichte lernen – nicht in schlichter und daher unzutreffender Übertragung partikularer Entwicklungen, sondern durch Sensibilisierungen für Zusammenhänge und Hintergründe, die den Wandel der Verfassungsstaatlichkeit in der Vergangenheit geprägt haben, und möglicherweise weiterhin prägen werden, also der Verfassungsgeschichte als Indikator des Wandels von Verfassungsstaatlichkeit?
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Preuß, in: FG Laband, Band 2, 1908, S. 199, 243. Lehnert, in: Hugo Preuß, Gesammelte Schriften, Band 4, 2008, S. 12. 57 Begriff von Voßkuhle, Der Staat 50 (2011), S. 251, 259; angelehnt an Lehnert, in: Hugo Preuß, Gesammelte Schriften, Band 4, 2008, S. 12. 58 Voßkuhle, Der Staat 50 (2011), S. 251, 259 m.w.N. 59 Voßkuhle, Der Staat 50 (2011), S. 251, 259. 56
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2. Grundelemente der Position des Bundesverfassungsgerichts zu den Grenzen der europäischen Integration a) Verbot der Preisgabe souveräner Staatlichkeit Das Bundesverfassungsgericht hat vor allem im Urteil zum Reformvertrag von Lissabon60 zur Frage, welche Grenzen das Grundgesetz der europäischen Integration setzt, seine Position markiert. Unter anderem stellt das Gericht ein Verbot der Preisgabe der souveränen Staatlichkeit Deutschlands auf. Das Grundgesetz ermächtige die für Deutschland handelnden Organe nicht dazu, durch einen Eintritt in einen europäischen Bundesstaat das Selbstbestimmungsrecht des Deutschen Volkes in Gestalt der völkerrechtlichen Souveränität Deutschlands aufzugeben.61 Mit der Garantie des Art. 79 Abs. 3 GG werde die Verfügung über die Identität der Verfassung selbst dem verfassungsändernden Gesetzgeber aus der Hand genommen. Die souveräne Staatlichkeit Deutschlands werde daher vom Grundgesetz nicht nur vorausgesetzt, sondern auch garantiert.62 Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG verdeutliche, dass dieser Mindeststand im Sinne des Art. 79 Abs. 3 GG auch durch die Einbindung Deutschlands in überstaatliche Strukturen nicht unterschritten werden dürfe.63 b) Einhaltung demokratischer Grundsätze Darüber hinaus verlangt das Bundesverfassungsgericht, dass die Europäische Union nicht nur den Anforderungen an ihre elementaren Strukturen, sondern darüber hinausgehend in ihrer Ausgestaltung im Hinblick auf übertragene Hoheitsrechte, Organe und Entscheidungsverfahren demokratischen Grundsätzen entsprechen muss.64 Die konkreten Anforderungen an die von der Europäischen Union einzuhaltenden, demokratischen Grundsätze hängen dabei vom Umfang der übertragenen Hoheitsrechte und vom Grad der Verselbständigung europäischer Entscheidungsverfahren ab.65 Solange die Integration in einem Verbund souveräner Staaten mit ausgeprägten Zügen exekutiver und gouvernementaler Zusammenarbeit das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung wahrt, reicht dazu grundsätzlich die über die nationalen Parlamente und Regierungen vermittelte Legitimation der Mitgliedstaaten aus, die ergänzt und abgestützt wird durch das unmittelbar gewählte Europäische Parlament.66 Dagegen liegt ein nicht hinnehmbares strukturelles Demokratiedefizit vor, wenn der Kompetenzumfang, die politische Gestaltungsmacht und der Grad an selbständiger Willensbildung der Unionsorgane ein der Bundes60
BVerfGE 123, 267 ff. BVerfGE 123, 267 (347, 404). 62 BVerfGE 123, 267 (343). 63 BVerfGE 123, 267 (348). 64 BVerfGE 123, 267 (363 f.). 65 BVerfGE 123, 267 (363 f.). 66 BVerfGE 123, 267 (364). 61
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ebene im föderalen Staat entsprechendes staatsanaloges Niveau erreichte, weil etwa die für die demokratische Selbstbestimmung wesentlichen Gesetzgebungszuständigkeiten überwiegend auf der Unionsebene ausgeübt würden.67 3. Kritik am Bundesverfassungsgericht: Staatsvorstellung der Staatsrechtslehre des 19. Jahrhunderts Das Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts und dessen Begründung sind auf zum Teil erhebliche Kritik gestoßen.68 Das Verbot der Preisgabe der souveränen Staatlichkeit wird bereits seit längerem streitig diskutiert, und die Annahme einer verfassungsrechtlichen Pflicht zum Erhalt der Eigenstaatlichkeit auch gegenüber der europäischen Integration hat in der Literatur nicht nur Zustimmung,69 sondern auch Kritik erfahren.70 Die in der wissenschaftlichen Debatte bereits formulierten Einwände werden daher auch gegen die entsprechenden Passagen des Lissabon-Urteils gerichtet; das Urteil beruhe insoweit auf einer Staatsvorstellung der konstitutionellen Staatsrechtslehre des 19. Jahrhunderts.71 4. Rückgriff auf die Überlegungen Preuß’ Vor diesem Hintergrund soll zur Ausgangsfrage zurückgekehrt werden: Kann man aus der Verfassungsgeschichte lernen? Können die Antworten Preuß’ den aktuellen Fragen nach den Grenzen der europäischen Integration sinnvoll, also erkenntnisbringend zugeordnet werden?
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BVerfGE 123, 267 (364 f.). Dazu nur Schönberger, GLJ 10 (2009), S. 1201 ff.; ders., Der Staat 48 (2009), S. 535 ff.; Halberstam/Möllers, GLJ 10 (2009), S. 1241 ff.; Tomuschat, GLJ 10 (2009), S. 1259 ff.; Grosser, GLJ 10 (2009), S. 1263 ff.; Ruffert, DVBl. 2009, S. 1197 ff.; Hector, ZEuS 12 (2009), S. 599 ff.; Selmayr, ZEuS 12 (2009), S. 637 ff.; Classen, JZ 2009, 881 ff.; Everling, EuR 2010, 91 ff. 69 Schilling, AöR 116 (1991), S. 32, 54 f.; Kirchhof, HStR VII, 1992, § 183 Rn. 58 ff.; Herdegen, EuGRZ 1992, 589 (590); Randelzhofer, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 24 (Dezember 1992) Rn. 204; Scholz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 23 (Oktober 2009) Rn. 204; Streinz, in: M. Sachs (Hrsg.), GG, 6. Aufl., 2011, Art. 23 Rn. 93; Uerpmann-Wittzack, in: Münch/Kunig (Hrsg.), Band 2, 6. Aufl., 2012, Art. 23 Rn. 7. 70 Bryde, in: Münch/Kunig, GG, Band 2, 6. Auflage, 2012, Art. 79 Rn. 53; Pernice, in: Dreier (Hrsg.), GG, Band II, 2. Auflage, 2006, Art. 23 Rn. 36; Classen, in: Mangoldt/Klein/ Starck (Hrsg.), GG, Band II, 2. Auflage, 2006, Art. 24 Rn. 29; Hobe, in: Friauf/Höfling (Hrsg.), Berliner Kommentar, Art. 23 (August 2008) Rn. 53. 71 Vgl. Jestaedt, Der Staat 48 (2009), S. 467 (505 ff.); Röper, DÖV 2010, 285 ff. Kritisch wohl auch Grimm, Der Staat 48 (2009), S. 475 (489 f.). 68
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a) Mehrstufiger Aufbau mit Selbstregierung der Einheiten Im Grundsatz kann der Ansatz von Preuß auf die Frage nach den verfassungsrechtlichen Grenzen der europäischen Integration übertragen werden. Die von Preuß zu Grunde gelegte Mehrstufigkeit des staatlichen Aufbaus, die mit dem Grundgedanken der demokratischen Selbstregierung jeder Einheit verbunden ist, kann als Ausgangspunkt einer modernen demokratischen Pluralismustheorie verstanden werden.72 Wenn und soweit die einzelnen Einheiten sich selbst regierende und demokratisch legitimierte Verbände sind, können sie zu einem System zusammengefügt werden, das sowohl den kleineren als auch den größeren Einheiten eigenständige Kompetenzen und Legitimationen zuordnet. Das Mehrebenenprinzip des Genossenschaftsdenkens Preuß’ eignet sich insoweit dazu, supranationale Integrationsvorgänge zu erfassen und abzubilden.73 b) Historisch-werkimmanente Grenzen einer Deutung als moderner Verbändepluralismus Eine allgemeine und umfassende Deutung des Ansatzes von Preuß als Ur- oder Frühform eines modernen Verbändepluralismus74 stößt allerdings auf Grenzen. Diese Grenzen sind zum einen historisch bedingter, werkimmanenter Art.75 Die Staats- und Demokratietheorie von Preuß baute zwar auf den Beobachtungen gesellschaftlicher Heterogenität und Ausdifferenzierung auf. Allerdings waren seine Überlegungen nicht auf politische bzw. bürgerschaftliche Verbände, sondern auf die öffentlich-rechtlichen Gliedkörperschaften im Rahmen der Reichsverfassung ausgerichtet. In der Konsequenz blieb sein Ansatz deshalb darauf beschränkt, die Verwaltungsebenen des Staates zu analysieren und gegenüber der Zentralebene in der Legitimation stützen zu können. Andere, nicht gewachsene und nicht weiter verfasste Verbände und private Interessengruppen blieben bei seinen Betrachtungen außen vor, weshalb der Ansatz von Preuß nur sehr eingeschränkt als Vorläufer oder gar Frühform eines modernen Pluralismus angesehen werden kann. Zugleich muss aber festgestellt werden, dass diese Einschränkung im hier untersuchten Kontext nicht weiter wesentlich ist. Die Fragen des Verhältnisses zwischen Europäischer Union und Mitgliedstaaten, insbesondere die nach den verfassungsrechtlichen Grenzen der Integration, betrifft das Verhältnis öffentlich-recht72
So Lehnert, in: ders./Megerle (Hrsg.), Pluralismus als Verfassungs- und Gesellschaftsmodell, 1993, S. 11, 23, 25; Schefold, in: Hugo Preuß, Gesammelte Schriften, Band 2, 2009, S. 1, 22; Voßkuhle, Der Staat 50 (2011), S. 251 (260). 73 In diese Richtung Schefold, in: Heinrichs/Franzki/Schmalz/Stolleis (Hrsg.), Deutsche Juristen jüdischer Herkunft, 1993, S. 429, 440; Voßkuhle, Der Staat 50 (2011), S. 251 (259). 74 In diese Richtung vor allem Lehnert, PVS 33 (1992), S. 33, 39. Wohl auch Graßmann, Hugo Preuß und die deutsche Selbstverwaltung, 1965, S. 25. 75 Zum Folgenden grundlegend Groh, Demokratische Staatsrechtslehrer in der Weimarer Republik, 2010, S. 257 ff. m.w.N.
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lich verfasster Einheiten zueinander. Ob und wieweit der Ansatz von Preuß darüber hinaus auch andere, nicht öffentlich-rechtliche Verbände zu erfassen vermag, ist deshalb für diese Fragen unmittelbar nicht relevant. Der aus Sicht der modernen Pluralismustheorie anschlussfähige Teil des Ansatzes von Preuß, die Dekonstruktion der – zeitgenössischen – Souveränitätsvorstellung,76 ist dagegen für die Fragen der europäischen Integration weiterhin relevant. c) Grenzen durch den geänderten Kontext Zum anderen ist bei der Fruchtbarmachung der Überlegungen Preuß’ für die aktuelle Debatte auch der geänderte Kontext zu beachten. Weggefallen ist insbesondere das demokratische Defizit der staatlichen Ebene. Die Bundesrepublik ist ein demokratischer Staat, weshalb die demokratische Unterfütterung der Souveränitätskritik an der übergeordneten Exekutivebene, die in Bezug auf das Bismarckreich noch treffend war, insoweit ins Leere gehen muss. d) Identische Grundfrage: Souveränität und Legitimation Allerdings hat die demokratietheoretisch aufgeladene Kritik an der übergeordneten Ebene sich in der aktuellen Debatte nicht erledigt; vielmehr hat sie mit der Europäischen Union einen neuen Bezugspunkt gefunden. Die Europäische Union als Bezugspunkt der Debatte über Souveränität und Demokratie bewirkt nun eine Umkehrung der demokratisch-legitimatorischen Vorzeichen: Während Preuß die unteren Ebenen des Staates gerade aus der Sicht der demokratischen Legitimation bzw. Mitwirkung der Bürger stärken wollte und deshalb das Konzept der Souveränität des Reiches als Gesamt- bzw. obere Ebene in Frage stellte, ohne aber dessen demokratische Legitimation unmittelbar anzugreifen, wird in Bezug auf die Europäische Union die demokratische Legitimation der unteren Einheiten, konkret der Mitgliedstaaten, nicht in Frage gestellt, sondern eher gefragt, ob die Betonung deren Souveränität angesichts der Möglichkeiten und Grenzen europäischer Demokratie zutreffend ist. Hintergrund dieser Entwicklung ist die besondere Stellung der Europäischen Union und deren Verhältnis zu den Mitgliedstaaten. Diese Besonderheit besteht in der Übertragung von nationalen Hoheitsrechten auf europäische Organe zur eigenständigen Ausübung. Die Union kann in den übertragenen Bereichen eigenes Recht setzen, das die Bürger in den Mitgliedstaaten unmittelbar berechtigt und verpflichtet und das dem nationalen Recht vorgeht.77 In dem Maß, in dem sie dies tut, stellt sich die Frage nach der nötigen demokratischen Legitimation. Die Union tritt partiell an die Stelle der demokratisch legitimierten Mitgliedstaaten; ihre Tä76
Dazu Groh, Demokratische Staatsrechtslehrer in der Weimarer Republik, 2010, S. 260 ff. EuGH, Rs. 26/62, Slg. 1963, 1, 24 f. – Van Gend & Loos; Rs. 6/64, Slg. 1964, 1251, 1269 f. – Costa/ENEL; Rs. 106/77, Slg. 1978, 629, 643 ff. – Simmenthal. 77
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tigkeiten müssen daher gleichfalls demokratisch legitimiert sein. Dies geschieht über zwei Legitimationsstränge: einen nationalen und einen europäischen. Zum einen legitimieren die Bürger als nationale Staatsvölker über ihre Parlamente und Regierungen den Rat, der aus Ministern der nationalen Regierungen besteht. Zum anderen wählen die Bürger als Unionsbürger das Europäische Parlament. Rat und Parlament setzen dann gemeinsam die Kommission ein. In diesem föderalen Geflecht demokratisch legitimierter und legitimierender Einheiten kann alleine mit dem Begriff der Souveränität wenig erreicht werden. Vielmehr ist dieser rückzubeziehen auf das dahinter stehende Prinzip der demokratischen Legitimation. Dementsprechend ist zu fragen, ob und welche Grenzen das Erfordernis der demokratischen Legitimation der europäischen Integration setzt. Der Begriff der Souveränität behält damit seine Bedeutung und seine mögliche Eigenschaft als Rechtsbegriff auch für föderale Systeme, ist aber auf die zu legitimierenden Befugnisse, die Mechanismen und Voraussetzungen demokratischer Legitimation sowie den Träger dieser Legitimation zu beziehen, und kann nicht gegen sie verselbständigt oder gar ausgespielt werden. Auch diesen Zusammenhang hatte Preuß bereits erkannt. Er hatte frühzeitig darauf hingewiesen, dass demokratische Einheiten auf gesellschaftliche Akteure angewiesen sind, die das Gemeinwohl bestimmen, was durch demokratische Wahlen und Abstimmungen sowie durch die Mitwirkung autonomer Gruppen geschehen sollte.78 Unter letzterem wurden dann vor allem die politischen Parteien verstanden, die bei Preuß eine zentrale Rolle für die Bestimmung des Gemeinwohls in der öffentlichen Diskussion, die zur politischen Willensbildung hinführt, einnahmen.79 Auch diese Überlegungen finden in der Debatte über die europäische Integration einen Widerhall. Bei genauerem Studium des Lissabon-Urteils zeigt sich, dass auch das Bundesverfassungsgericht den Weg geht, nach den demokratischen Grenzen der Integration zu fragen. Die Souveränität Deutschlands wird im Urteil demokratisch konstruiert und aufgeladen. Demokratische Legitimation wird auf bestimmte Voraussetzungen und Bedingungen zurückgeführt, und aus diesen werden dann Grenzen der Integration abgeleitet. Unter anderem erfordert das Demokratieprinzip nach Ansicht des Gerichts, dass Deutschland auch als Mitglied der Union ein ausreichender Raum zur nationalen Gestaltung der Lebensverhältnisse bleiben muss;80 dieser Gestaltungsraum wird als demokratischer Primärraum bezeichnet.81 In diesem Raum werden dann in einem weiteren Schritt integrationsfeste Bereiche ausgemacht.82 Nach Ansicht des Gerichts ist in diesen Bereichen die Übertragung von
78 Dazu Lehnert/Müller, in: dies. (Hrsg.), Vom Untertanenverband zur Bürgergenossenschaft, 2003, S. 11, 27. 79 Dazu näher Voßkuhle, Der Staat 50 (2011), S. 251 (260 ff.) m.N. 80 BVerfGE 123, 267 (357 f.). 81 BVerfGE 123, 267 (411). 82 BVerfGE 123, 267 (358 ff.).
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Hoheitsrechten auf die Europäische Union zwar nicht ausgeschlossen.83 Die Integration ist aber sachlich zu beschränken auf das zur Koordinierung grenzüberschreitender Sachverhalte nötige Maß.84 Ob und wieweit die einzelnen Ableitungen integrationsfester Bereiche im Einzelnen überzeugen, soll hier nicht weiter diskutiert werden.85 Der Grundsatz, aus den Erfordernissen und Bedingungen effektiver demokratischer Legitimation Grenzen der Integration abzuleiten, ist aber zutreffend. Denn Demokratie ist als Legitimationsmodus der organisierten Selbstherrschaft der Bürger zentral darauf angewiesen, dass die Herrschaft der Mehrheit grundsätzlich auch von der Minderheit akzeptiert wird. Voraussetzung dieser realen Akzeptanz ist ein die Mehrheit und Minderheit einfassender gemeinsamer Rahmen, der aus den Erfahrungen und Werten der Bürger gebildet wird. Erst dieses Mindestmaß an prinzipieller Einigkeit sichert die Bereitschaft der Bürger zur Reflexion und Transzendierung des eigenen Interessenhorizontes, auf die eine demokratische öffentliche Diskussion aufbaut, und die der aus Wahlen hervorgehenden Mehrheitsentscheidung die Akzeptanz sichert.86 Diesen Überlegungen entsprechend hat auch das Bundesverfassungsgericht sich in der Lissabon-Entscheidung deutlich für ein materiales Demokratieverständnis ausgesprochen. Demokratie erschöpfe sich nicht in der Wahrung formaler Organisationsprinzipien. Demokratie lebe von und in einer öffentlichen Meinungsbildung, die sich auf zentrale politische Richtungsbestimmungen und die periodisch erfolgende Vergabe politischer Spitzenämter im Wettbewerb von Regierung und Opposition konzentriere. Diese öffentliche Meinung mache für Wahlen und Abstimmungen erst die Alternativen sichtbar und rufe diese fortlaufend in Erinnerung, damit die politische Willensbildung des Volkes über die Parteien und im öffentlichen Informationsraum präsent und wirksam bliebe. Die für eine entsprechende Wahrnehmung von Sachthemen und politischem Führungspersonal erforderlichen Resonanzräume seien in erheblichem Umfang an nationalstaatliche, sprachliche, historische und kulturelle Identifikationsmuster angeschlossen. Sie beruhten auf gewachsenen Überzeugungen und Wertvorstellungen, die in spezifischen historischen Traditionen und Erfahrungen verwurzelt seien.
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BVerfGE 123, 267 (359). BVerfGE 123, 267 (359, 361, 362 f.). 85 Dazu näher Britz, EuR 2010, Beiheft 1, S. 151 ff.; Grzeszick, in: Axer/Grzeszick/Kahl/ Mager/Reimer (Hrsg.), Das Europäische Verwaltungsrecht in der Konsolidierungsphase, Die Verwaltung, Beiheft 10, 2010, S. 95, 107 ff. 86 In diese Richtung u. a. Volkmann, AöR 127 (2002), S. 575, 602 ff. sowie Möllers, Demokratie – Zumutungen und Versprechen, 2. Auflage, 2009, S. 48 ff.; gegenläufig u. a. Britz, Sonderheft EuR 2010, S. 151 (163 ff., 167 f.). 84
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V. Verfassungsgeschichte als Speicher von Grundfragen und -antworten Nach alledem: Können den Überlegungen von Preuß Erkenntnisse oder Anregungen für die Debatte über die europäische Integration entnommen werden? Auf den ersten Blick ist dies eher abzulehnen, da Art und Weise, insbesondere Umfang, Intensität und Dynamik der europäischen Integration sich von anderen föderalen Verbindungen erheblich unterscheiden und sicher so keinesfalls vorhersehbar waren. Die Grundlagen des Preuß’schen Ansatzes sind aber durchaus in der Lage, Bausteine und Erklärungsmuster für eine Staatstheorie zu liefern, die die staatliche Souveränität öffnet für die europäische Integration. Allerdings ist die Öffnung nach Preuß – und auch nach der Position des Bundesverfassungsgerichts – voraussetzungsvoll und insoweit beschränkt: Es muss sichergestellt sein, dass Hoheitsmacht von den der Hoheitsmacht unterworfenen Bürgern hinreichend demokratisch legitimiert wird. Das von Preuß in der Diskussion um den Charakter des Bismarckreiches gegen die postulierte Souveränität des Gesamtstaates angeführte Argument, dass Souveränität die demokratisch-genossenschaftliche Substanz der übrigen Gebietskörperschaften nicht entleeren dürfe, ist insoweit auf die Debatte über die Europäische Union übertragbar: Die Integration darf nicht dazu führen, dass die demokratische Substanz der Mitgliedstaaten entleert wird. Insoweit nehmen Methode und Inhalt der Preuß’schen Habilitationsschrift aus dem Jahr 1889 Wandlungen in der Verfassungsstaatlichkeit vorweg, die die Staatsrechtslehre bis zur Gegenwart beschäftigen.87 Schließlich findet der Vorwurf an das Bundesverfassungsgericht, sich mit seinen Vorstellungen zur Europäischen Integration inhaltlich an der Staatsrechtslehre des 19. Jahrhunderts zu orientieren, eine Bestätigung – allerdings auf ungeahnte Weise. Denn das Gericht ist den Gründen seiner Position nach inhaltlich nicht an der damals vorherrschenden Souveränitätsansicht orientiert, sondern an der Ansicht eines zeitgenössischen Außenseiters, der den abstrakten und vom Kontext losgelösten Souveränitätsvorstellungen mit der Frage nach der Legitimation von Herrschaft entgegentrat und damit einer Überhöhung der Souveränität entgegenwirken wollte. Der Blick auf die Verfassungsgeschichte vermag daher dafür zu sensibilisieren, dass die Frage nach der Legitimation staatlicher Herrschaft eine Grundfrage ist, die zwar in anderen Formen und Kontexten auftaucht, aber stets zu beantworten ist. Verfassungsgeschichte liefert deshalb zwar meist nicht die Antwort auf aktuelle Fragen, vermag aber für die Bedeutung sowie die mehr oder weniger starke Ausprägung der Kontextabhängigkeit der Grundfragen von Staat und Recht zu sensibilisieren. Aus dieser Sicht erweist sich die Verfassungsgeschichte – wie auch die 87 Schefold, in: Heinrichs/Franzki/Schmalz/Stolleis (Hrsg.), Deutsche Juristen jüdischer Herkunft, 1993, S. 429, 437.
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anderen Grundlagenfächer – als ein Speicher von grundlegenden Fragen und Antworten an die und der Rechtswissenschaft.
Die Bundesversammlung – Ein unterschätztes Verfassungsorgan Von Wolfgang Jäger, Freiburg Welcher Bürger wusste in den ersten 60 Jahren der Bundesrepublik Deutschland mit dem Begriff „Bundesversammlung“ schon etwas anzufangen? Alle fünf Jahre trat dieses oberste Verfassungsorgan als Kreationsorgan für die Wahl des Bundespräsidenten zusammen, löste sich dann wieder auf und geriet in Vergessenheit. Erst seit 2009, nachdem die Bundesversammlung in drei Jahren gleich dreimal – in unterschiedlicher Zusammensetzung – tagen und wählen musste, erlangte dieses Verfassungsorgan einen gewissen Bekanntheitsgrad. Es lohnt sich auch heute noch, die ernsthafte Debatte des Parlamentarischen Rates über den Modus der Wahl des Bundespräsidenten nachzulesen.1 Eine Direktwahl durch das Volk wurde von vorneherein nicht zuletzt mit dem Hinweis auf die geringen Kompetenzen des Bundespräsidenten und die Erfahrungen der Weimarer Republik ausgeschlossen. Im Mittelpunkt stand, wenig überraschend, das Verhältnis von Bund und Ländern. Sollten in den vorgesehenen Wahlgremien die Abgeordneten des Bundestages und die Mitglieder des Bundesrates vertreten sein? Sollten die Institutionen Bundestag und Bundesrat gleichgewichtig entscheiden? Sollte das Volk von den Abgeordneten des Bundestages und gleich vielen Vertretern der Länderebene vertreten werden oder aber: Sollte außerdem auch noch der Bundesrat zustimmen müssen? Gerade an der Debatte über die letzte Variante, die im Hauptausschuss des Parlamentarischen Rates von Hans-Christoph Seebohm (DP), Vertreter des Landes Niedersachsen und später langjähriger Bundesverkehrsminister, vorgetragen wurde, lässt sich das Ringen um den institutionellen Stellenwert der Bundesversammlung ablesen. Gegen Seebohms Vorschlag, dass der von der Bundesversammlung gewählte Bundespräsident noch „eine besondere Vertrauenserklärung durch den Bundesrat“ erhalten müsse, wandten sich vor allem Theodor Heuss (FDP) und der Vorsitzende des Hauptausschusses, Carlo Schmid (SPD). Heuss stellte die Frage, was eigentlich passiere, wenn der Bundesrat dem Bundespräsidenten nicht das Vertrauen ausspreche, ihm also eine „Art moralischer Deklaration“ versage.2 Am eindringlichsten argumentierte der Vorsitzende Schmid gegen Seebohms Vorschlag. Das „Vertrauen“ 1 Ausführlicher dazu die von Thomas Würtenberger betreute Dissertation von Braun, Die Bundesversammlung, 1993, 65 ff. 2 Der Parlamentarische Rat 1948 – 1949. Akten und Protokolle, Bd. 14/1, 2009, 288.
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spreche man nur einer Regierung aus, der das Vertrauen auch wieder entzogen werden könne. Seebohm wolle „den Bundesrat praktisch zum Zensor der Bundesversammlung“ machen. Und hier wird Carlo Schmid geradezu pathetisch: „der Bundesversammlung, also der höchsten Gesamtvertretung des deutschen Volkes überhaupt, des deutschen Volkes in seiner schlichten Einheit und in seiner reichen Gliederung in Länder“. Schmid sieht die Gefahr, dass ein auf solche Weise, also mit Zustimmung des Bundesrats gewählter Bundespräsident, „oft ein Konzessionsschulze“, eine „Verlegenheitslösung“ sein würde. „Ein solcher Mann würde nicht die Autorität haben, die er braucht. Gerade die Wahl eines Bundespräsidenten ist, um ein Wort aus dem alten deutschen Reichsrecht zu nehmen, eine ,Kür‘, nicht eine Wahl im beliebigen Sinn des Wortes. Der Bundespräsident muss durch einen einmaligen Gesamtakt, der alle Elemente der Spontaneität in sich tragen muss, ,gekürt‘ werden. Darin liegt seine wahre Autorität. Wenn sich an diesen Akt ein zweiter Akt anschlösse, etwa die Genehmigung dieser Kür durch den Bundesrat, würde ein Element in den Vorgang gebracht, das der Würde der Institution notwendigerweise Abbruch tun müsste“.3 Nirgendwo wird der Rang der Bundesversammlung, die zunächst auch als „Nationalkonvent“4 bezeichnet wurde, schöner beschrieben als in diesen Worten von Carlo Schmid, der selbst – allerdings erfolglos – im Jahre 1959 für die SPD gegen den Christdemokraten Heinrich Lübke für das Amt des Bundespräsidenten kandidierte. Es stellt sich die Frage, warum die einzigartige Verfassungsinstitution Bundesversammlung so wenig gewürdigt und heute vielfach die Direktwahl des Bundespräsidenten gefordert wird – beispielsweise auch von Horst Köhler am Ende seiner ersten Amtszeit. Ein wesentlicher Grund ist wohl die parteipolitische Prägung der Bundespräsidentenkür. Während im Parlamentarischen Rat die „neutrale Gewalt“ (pouvoir neutre) des Bundespräsidenten5 stark betont wurde, diese also in der Sphäre der Überparteilichkeit schwebte, fügte sich seine Wahl von vorneherein in das parteipolitische Ringen um die Macht im Staate ein. Schon die erste Bundespräsidentenwahl war Teil der ersten Regierungsbildung der neugegründeten Bundesrepublik Deutschland. Konrad Adenauer, der eine kleine Koalition mit den Liberalen anstrebte gegen den Widerstand starker Kräfte in seiner Partei, die eine Große Koalition mit der SPD favorisierten, bot dem FDP-Vorsitzenden Theodor Heuss das Amt des Bundespräsidenten an. Die Gegenkandidatur des SPD-Vorsitzenden Kurt Schumacher unterstrich die parteipolitische Ausrichtung dieser Wahl. Schumacher, der sich wie Adenauer für eine klare Trennung von Regierung und Opposition entschieden hatte, wollte mit seiner polarisierenden Kandidatur nämlich eine „parteienübergreifende Sammelkandidatur für das Amt des Bundesprä-
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Parlamentarischer Rat (Fußn. 2), 290. Zum Beispiel von Dr. Greve (SPD); vgl. Parlamentarischer Rat (Fußn. 2), 289. 5 Vgl. auch Schmid, Erinnerungen, 1979, 383.
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sidenten“ verhindern, „aus der sich dann eine große Koalition entwickeln könnte“.6 Damit schmiedete er erst die Mehrheit für Heuss zusammen. Schumacher hatte zunächst durchaus an ein „pouvoir neutre“, an eine überparteiliche Persönlichkeit gedacht. In den Worten seines Biographen: „den Gedanken jedoch, dass ein ,gemäßigter‘ Sozialdemokrat die Gesetze einer von der SPD erbittert bekämpften Wirtschaftspolitik unterzeichnen könnte, findet er geradezu pervers. Ein Sozialdemokrat an der Spitze des Staates als Feigenblatt für den Kanzler einer besitzbürgerlichen Koalition, muss dies in einem demokratieentwöhnten Volk ohne Verständnis für die Rolle und Bedeutung von demokratischen Institutionen nicht zu Verwirrung führen?“7 Die koalitionspolitische Weichenstellung der Bundespräsidentenwahl war nicht unumstritten. Der große Mann des Parlamentarischen Rates, der Vorsitzende des Hauptausschusses Carlo Schmid (SPD), sah darin geradezu einen „Verfassungsbruch“, ähnlich Gebhard Müller (CDU), Staatspräsident von Württemberg-Hohenzollern.8 Noch kritikwürdiger waren im Jahr 1959 die Diskussion und der Entscheidungsprozess über die Nachfolge von Theodor Heuss: die „Präsidentschaftsposse“9, die sich ja eigentlich weniger um die Bundespräsidentenkür als um das Ende bzw. die Nachfolge der Kanzlerschaft Adenauers drehte. Die Wahl von Adenauers „Ersatzmann“ Heinrich Lübke10 sollte sich erst später, vor allem bei seiner auch von der SPD wegen Lübkes Vorliebe für die Große Koalition mitgetragenen Wiederwahl, als koalitionspolitisches Signal erweisen.11 Es waren sogar die Sozialdemokraten, die unter dem Einfluss von Herbert Wehner vorpreschten und die in der Wiederwahlfrage zerstrittene Union vor sich her trieben. Da die Liberalen Lübkes Wiederwahl ablehnten und die Union allein nicht über die Mehrheit in der Bundesversammlung verfügte, bedurfte Lübke für seine Wiederwahl einer „großen Koalition“.12 Von großer Symbolkraft war 1969 die Wahl des Sozialdemokraten Gustav Heinemann zum Bundespräsidenten mit Hilfe der Liberalen – die Fanfare für die Bildung der sozial-liberalen Koalition einige Monate später. Der neugewählte Bundespräsident selbst sprach nicht nur von einem „Machtwechsel“, sondern charakterisierte die vergangenen beiden Jahrzehnte in einer Weise, die nur als Kritik an den Unionsparteien interpretiert werden musste. „Der vom Grundgesetz vorgezeichnete Demokratisierungsprozess“ sei „nicht mit dem erforderlichen Schwung vorangetrieben worden“. Die CDU habe „mit dem Christlichen als Propagandainstrument in den 50er
6 Schwarz, Adenauer. Der Aufstieg: 1876 – 1952, 1986, 628. Ausführlicher noch Merseburger, Der schwierige Deutsche: Kurt Schumacher, 1995, 443 ff. 7 Merseburger (Fußn. 6), 449. 8 Schwarz (Fußn. 6), 627. 9 Schwarz, Adenauer. Der Staatsmann: 1952 – 1967, 1991, 502 ff. 10 Morsey, Heinrich Lübke, 1996, 254 ff. 11 Morsey (Fußn. 10), 391 ff. 12 Morsey (Fußn. 10), 396.
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Jahren viel Ungutes getan und sich viel Ungutes geleistet“.13 In seiner Einführungsrede nahm Heinemann wesentliche Gedanken der späteren Regierungserklärung von Willy Brandt vorweg: „Wir stehen erst am Anfang der ersten wirklich freiheitlichen Periode unserer Geschichte. Freiheitliche Demokratie muss endlich das Lebenselement unserer Gesellschaft werden. [… ] Nicht weniger, sondern mehr Demokratie – das ist die Forderung, das ist das große Ziel, dem wir uns alle und zumal die Jugend zu verschreiben haben“.14 Die Wahl von Walter Scheel 1974 als Nachfolger Heinemanns war eine Bestätigung der sozial-liberalen Regierung. Am deutlichsten kommt dies darin zum Ausdruck, dass eine der beiden Säulen der sozial-liberalen Koalition, der FDP-Vorsitzende, Vizekanzler und Außenminister, sich zur Wahl stellte. Scheel hebt noch heute (2012) hervor, dass es „wohl keinen ähnlich aktiven Realpolitiker“ gab, „der in das Amt des Bundespräsidenten gekommen ist“.15 Nicht viel weniger profiliert als aktiver Politiker war der 1979 zum Bundespräsidenten gewählte Karl Carstens. Bevor er 1976 Bundestagspräsident wurde, nahm er nämlich im Bundestag drei Jahre lang das Amt des scharfzüngigen und polarisierenden Oppositionsführers als Vorsitzender der CDU/CSU-Fraktion wahr. Als die Union, die in der Bundesversammlung über eine klare Mehrheit verfügte, ihn als Kandidaten nominierte und eine Wiederwahl Scheels unter Missachtung möglicher koalitionspolitischer Motive nicht unterstützte, begann von Seiten der Regierungsparteien eine regelrechte Schlammschlacht. Die sozial-liberale Koalition interpretierte Carstens’ Kandidatur als Signal einer konservativen Wende. Bundeskanzler Helmut Schmidt warf ihm vor, „die rechtskonservative Richtung unserer Gesellschaft zu repräsentieren“. Zum ersten Mal wurde ein Bundespräsident aus der Opposition heraus gewählt. Die Themen der Auseinandersetzung waren Carstens’ (ruhende) NSDAP-Mitgliedschaft und der Verdacht einer Falschaussage vor dem Guillaume-Ausschuss im Jahre 1974. Der Streit fand sein Ende, als bekannt wurde, dass auch der noch amtierende Bundespräsident Scheel (ruhendes) NSDAP-Mitglied gewesen war, und als Bundeskanzler Schmidt abwiegelte; schließlich musste er mit dem voraussichtlichen Staatsoberhaupt zusammenarbeiten.16 Karl Carstens erhielt im ersten Wahlgang die erforderliche Mehrheit der Stimmen. Gegenkandidatin war die Bundestagsvizepräsidentin Annemarie Renger (SPD). Das Gegenstück zu Carstens’ Nominierung war 1984 die Kandidatur Richard von Weizsäckers (CDU), die auch von der SPD mitgetragen wurde. Vorausgegangen war nicht ein Streit zwischen den Parteien, sondern ein recht lange währendes innerparteiliches Ringen der Union. Vor allem Helmut Kohl stemmte sich gegen eine Kan13
Gespräch Leo Bauers mit Gustav Heinemann, in: Die Neue Gesellschaft, Mai 1969, 7. Heinemann, Reden und Schriften, Bd. I, 1975, 16 f. Vgl. dazu Jäger, Wer regiert die Deutschen?, 1994, 142 f. 15 Interview mit Walter Scheel, in: Das Parlament, Nr. 11/12, 12. 3. 2012, 2. 16 Jäger, Die Innenpolitik der sozial-liberalen Koalition 1974 – 1982, in: Jäger/Link (Hg.), Republik im Wandel 1974 – 1982. Die Ära Schmidt, 127 ff.; Jäger (Fußn. 14), 156 f. 14
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didatur von Weizsäckers. Erst als der vom Bundeskanzler favorisierte niedersächsische Ministerpräsident Ernst Albrecht ablehnte und Kohl keinen anderen Kandidaten fand, schlug die Union den Berliner Regierenden Bürgermeister vor.17 Die Grünen stellten mit der Schriftstellerin Luise Rinser eine Gegenkandidatin auf. Weizsäcker wurde mit 80 Prozent der Stimmen der Bundesversammlung gewählt. Noch reibungsloser verlief seine Wiederwahl fünf Jahre später. Zum ersten und bisher einzigen Mal stand nur ein einziger Kandidat zur Wahl.18 Die Nachfolge von Weizsäckers löste dann wieder heftigen parteipolitischen Streit aus. Helmut Kohl nominierte den sächsischen Justizminister Steffen Heitmann, der jedoch mit unglücklichen Äußerungen zur multikulturellen Gesellschaft, zum Umgang mit der NS-Vergangenheit und zum Verständnis der Nation heftige Reaktionen in der Öffentlichkeit auslöste. Er warf schließlich das Handtuch. Da die Union in der Bundesversammlung nicht über die absolute Mehrheit verfügte und die FDP trotz ihrer Koalition mit der Union eine eigene Kandidatin, Hildegard Hamm-Brücher, aufstellte, brauchte sie einen konsensfähigen Kandidaten. Dieser wurde mit dem Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts, Roman Herzog, der als langjähriger Landesminister auch über politische Erfahrungen verfügte, gefunden. Er erzielte jedoch erst im dritten Wahlgang, nachdem die FDP-Kandidatin sich zurückgezogen hatte, die Mehrheit in der Bundesversammlung. Recht geräuschlos war 1999 die Wahl von Johannes Rau, den die SPD-Führung gleichsam als Kompensation für das Amt des nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten als Kandidaten vorschlug. Roman Herzog trat angesichts der Mehrheitsverhältnisse gar nicht mehr für eine zweite Amtszeit an. Anders wiederum waren fünf Jahre später die parteipolitischen Gewichte in der Bundesversammlung verteilt. Zusammen mit den Liberalen verfügte die Union wieder über die absolute Mehrheit. Die Bundeskanzlerin und CDU-Vorsitzende Angela Merkel hatte sich frühzeitig für den politisch nicht profilierten Direktor des IWF, Horst Köhler, und gegen den profilierten Parteipolitiker Wolfgang Schäuble entschieden. Der FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle unterstützte den Vorschlag Köhler mit Blick auf eine mögliche christlich-liberale Koalition. Die SPD nominierte die Präsidentin der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder), Gesine Schwan. Obgleich zum ersten Mal zwei Nicht-Politiker gegeneinander kandidierten, fand eine Art Wahlkampf statt. Auch diese Wahl war also parteipolitisch geprägt. Horst Köhler errang im ersten Wahlgang die notwendige Mehrheit. Dasselbe Kandidatenpaar stand sich 2009 wieder gegenüber und veranstaltete – ausgehend von Gesine Schwan – einen regelrechten Wahlkampf. Zum ersten Mal wurde ein amtierender Bundespräsident von der anderen Volkspartei herausgefor17 Interessant sind die unterschiedlich akzentuierten Berichte Weizsäckers und Kohls über den Prozess der Kandidatenfindung: Weizsäcker, Vier Zeiten. Erinnerungen, 1997, 193 ff.; Kohl, Erinnerungen 1982 – 1990, 2005, 244 ff. 18 Dokumente des Deutschen Bundestags zum Anlass der Wahl des Bundespräsidenten am 18. 3. 2012.
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dert, wenn auch nach internen Auseinandersetzungen der SPD. Mancher Analytiker sah dadurch das Amt sogar beschädigt.19 Nach dem überraschenden Rücktritt Köhlers im Jahr 2010 setzte Angela Merkel mit Christian Wulff wieder einen profilierten Parteipolitiker durch, der gegen den von der SPD und den Grünen nominierten Kandidaten, Joachim Gauck, Mühe hatte, eine absolute Mehrheit zu erringen. Sie wurde erst im dritten Wahlgang erreicht. Die Kandidatur und die Wahl des parteilosen Joachim Gauck nach dem Rücktritt Christian Wulffs 2012 waren nur scheinbar überparteilich. Das Verhalten der FDP, das die Bundeskanzlerin zur Annahme der von ihr abermals abgelehnten Kandidatur Gaucks zwang, wird zweifellos im Verhältnis von Union und FDP Spuren hinterlassen. Ansonsten dürfte das Signal von Gaucks Wahl die koalitionspolitische Offenheit der Parteien mit Ausnahme der Linken sein. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass alle Präsidentenwahlen mehr oder weniger parteipolitisch geprägt waren. Umso erstaunlicher ist die wenig parteipolitisch gefärbte Amtsführung der Präsidenten. Theodor Heuss wurden von Konrad Adenauer die verfassungsrechtlichen Grenzen des Amtes kanzlerdemokratisch nachgezogen. Die Versuche der Vollblutpolitiker Lübke und Scheel, ihre Spielräume auszuweiten, wurden von „ihren“ Bundeskanzlern rasch vereitelt. Und die folgenden Bundespräsidenten interpretierten ihre Kompetenzen auf eine Weise, dass sie mit der Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers nicht in Konflikt gerieten. Die meisten verstanden ihr Amt so, wie es Richard von Weizsäcker in seinen Erinnerungen formulierte: „Aufgabe des Präsidenten ist es, unabhängig und überparteilich Fragen zu stellen, Anregungen zu geben, den demokratischen Konsens zu fördern und vor allem zur langfristigen Orientierung in der Gesellschaft beizutragen.“20 Eine gewisse Ausnahme machte in den Jahren großer politischer Polarisierung Gustav Heinemann, der mit seiner Wahl auf den Machtwechsel und die demokratische Neugründung der Bundesrepublik abhob.21 Wie ist nun der Widerspruch zwischen der zumeist konflikt- und parteipolitisch geprägten Wahl und der überparteilichen Amtsführung zu erklären? Das Geheimnis liegt im Wesen der Bundesversammlung. Da sie parteipolitisch nur wenig zu disziplinieren ist, anders als eine Bundestagsfraktion, und auch dann nicht, wenn eine Partei über die Mehrheit verfügt, zwingt sie zur Mäßigung im Nominierungsprozess. Auch sehr profilierte Karrierepolitiker müssen mehrheits- bzw. konsensfähig sein. Das Risiko, dass selbst im eigenen Lager abweichende Stimmen abgegeben werden, ist hoch. Schließlich hängt nicht wie im Bundestag von der Mehrheit die Existenz der Regierung ab. Tatsächlich demonstrierten einige Zitterpartien, wie schwierig für einige Parteiführer die Mehrheitsbildung war. Immerhin wurde der Bundespräsident in 19
Gloe, Der Kampf um das höchste Amt im Staat. Die Wahl des Bundespräsidenten im Mai 2009, in: Gloe/Reinhardt (Hg.), Politikwissenschaft und Politische Bildung. Festschrift für Udo Kempf, 2010, 85 – 98. 20 Weizsäcker (Fußn. 17), 422. 21 Jäger (Fußn. 14), 142 ff.
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15 Bundesversammlungen in drei Fällen in zwei Wahlgängen und in ebenfalls drei Fällen erst im dritten Wahlgang gewählt, dabei einmal mit nur relativer Mehrheit (Heinemann). Diese Wahl war eine besonders markante Zitterpartie. Es ist bis heute bemerkenswert, wie die FDP-Spitze 1969 ihre Delegierten zugunsten des Sozialdemokraten Heinemann und nicht des Christdemokraten Gerhard Schröder überzeugen und zusammenschmieden musste.22 Schließlich ging es um eine Weichenstellung auf dem Wege zur sozial-liberalen Koalition. Jedes demokratische Gemeinwesen bedarf einer Balance von Konflikt und Konsens. Obgleich die Deutschen im politischen Prozess den Konflikt pflegen und kaum ein Thema ohne Streit diskutieren, lieben sie den Konflikt nicht. Daher wird Institutionen wie dem Bundesverfassungsgericht, das sich hinter den Kulissen intern auseinandersetzt und ex cathedra spricht, höchste Legitimität zugemessen. Dies gilt ebenso für den Bundespräsidenten. Hans-Peter Schwarz sieht einen Widerspruch zwischen der Konfliktbereitschaft und Polarisierung der Bürger einerseits und ihren Erwartungen andererseits, vom höchsten Repräsentanten „in vielen Grundsatzfragen, politischer, sozialer und wirtschaftlicher Ordnung bis hin zu diffizilen sozialethischen Problemen“ Orientierung zu erhalten. Er meint, dass man die „Eigentümlichkeiten unserer Bundespräsidentenwahlen, erst recht aber die Amtsführung der jeweils obsiegenden Bundespräsidenten nur dann angemessen“ verstehe, „wenn man auf die innere Spannung zwischen diesem verkappt monarchischen Element einerseits und dem demokratischen Gehalt der Präsidentschaft andererseits aufmerksam macht“. Die „Komponente des monarchischen Prinzips“ könne in einer „geistig oft öden politischen Landschaft“ durchaus reaktiviert werden.23 Aus der Perspektive eines notwendigen Gleichgewichts des politischen Systems erweist sich die Institution des Bundespräsidenten als ungemein wichtig. Nicht zuletzt die an Intensität nicht zu überbietende öffentliche Diskussion um Bundespräsident Wulff und seine Nachfolge ist dafür ein Indiz. Mir scheint, dass auch die Institution der Bundesversammlung angesichts dieser Bewertung unterschätzt wird. Die Bundesversammlung bildet eine Brücke zwischen Konflikt und Konsens. Der Zwang, den immer vorhandenen volatilen Teil der Mitglieder zu gewinnen, sorgt für Mäßigung bei der Kandidatenauswahl. Man denke an den Rückzug Heitmanns oder die Sensibilität (!) eines Helmut Kohl, der auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung um Karl Carstens dessen Nominierung – wie Carstens selbst in seinen Erinnerungen festhält – zurückziehen wollte.24 Die Bundesversammlung stellt zu den Institutionen der parlamentarischen Demokratie, die von Streit und Konflikt geprägt sind, einen Gegenpol dar, ja fast eine Reminiszenz an 22
Baring, Machtwechsel. Die Ära Brandt-Scheel, 1982, 113 ff. Schwarz, Von Heuss bis Herzog. Die Entwicklung des Amtes im Vergleich der Amtsinhaber, in: APuZ, B20/99, 3 – 13, hier 12 f. 24 Carstens, Erinnerungen und Erfahrungen, 1993. 23
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die romantische Idee des Parlamentarismus, die von der freien Abstimmung des Abgeordneten ausgeht. Allerdings fehlt in der Bundesversammlung das offene Räsonnement, der Austausch von Argumenten für und gegen eine Entscheidung. Aber in einem gewissen Ausmaß findet diese Diskussion ja im Vorfeld, insbesondere in der veröffentlichten Meinung, statt. Die Bundesversammlung ist die repräsentativste Institution unseres politischen Systems – ein wirklicher Nationalkonvent, in dem die politischen Kräfte der Zeit, nicht nur eines Moments, vertreten sind. Vielleicht sollte man erwägen, diese Institution auch für andere Aufgaben – beispielsweise für Verfassungsänderungen – aufzuwerten, unter Anreicherung mit einer diskursiven Funktion. Es wäre eine Alternative zum viel erörterten Plebiszit. Die Bundesversammlung würde einerseits eine breitere Legitimation liefern als der Bundestag und die Länderregierungen, andererseits die bekannten Nachteile von Volksabstimmungen ausschalten.
Verfassungstheorie als Referenz für Verfassungsanwendung, Verfassungsänderung und Verfassunggebung Von Matthias Jestaedt, Freiburg i. Br. I. Theorie als Praxisratgeber? Verfassungstheorie ist en vogue. Als solche zieht sie Hoffnungen und Erwartungen auf sich. Dies umso mehr, als sie gewissermaßen ein disziplinäres Unikat darstellt: Weder das Verwaltungsrecht noch das Privatrecht verfügen wie das Verfassungsrecht über eine eigene juridische Beobachterdisziplin mit dem Theorie-Suffix; selbst das notorisch theorieaffine, besser vielleicht: philosophiefreundliche Strafrecht kennt zwar Strafrechtstheorien im Plural, aber eigentlich nicht das disziplinäre Format der Strafrechtstheorie im Singular. Diese Sonderstellung wirft freilich auch Fragen auf. Einer dieser Fragen, nämlich jener nach dem praktischen Wert der Verfassungstheorie für das Verfassungshandwerk, sei im Folgenden nachgegangen. Darunter sei das rechtspraktische Hantieren mit Verfassungsrecht in seinen drei Erscheinungsweisen, der Anwendung von Verfassungsrecht, der (positiv)rechtlich gebundenen Setzung von Verfassungsrecht (der Verfassungsänderung) wie der (positiv)rechtlich ungebundenen Setzung von Verfassungsrecht (der Verfassunggebung), verstanden. Unsere Überlegungen müssen wir indes mit einer Enttäuschung beginnen: Wer sich von der Verfassungstheorie erhofft, sie könne auf Nachfrage der Verfassungspraxis eine glückende Verfassung liefern, wird rasch eines Besseren belehrt. Noch weniger ist die Verfassungstheorie eine Verfassungsgesetzgebungslehre, die die „road map“ einer glückenden Verfassunggebung schreibt. Schon auf sozusagen niedrigerem Niveau, d. h. bei Auslegung und Anwendung einer in Geltung stehenden Verfassung, überfordert jener die Verfassungstheorie, der ihr die Lösung konkreter Verfassungsrechtsfälle abverlangt. Das ist Sache und Zuständigkeit der Verfassungsdogmatik,1 nicht hingegen der Verfassungstheorie. Als Beobachterdisziplin ist sie gewissermaßen die falsche Adressatin für die Frage nach passgenauen praxisorientierenden Handlungsanweisungen; für die Aufgabe einer Teilnehmerdisziplin ist die Verfassungstheorie nicht gerüstet. Doch ist damit noch keine abschließende Antwort auf die Frage eines möglichen Beitrages der Verfassungstheorie zu Verfassungsanwen1 Näher zum hier zugrunde gelegten Verständnis von (Verfassungs-)Dogmatik: Matthias Jestaedt, Verfassungstheorie als Disziplin, in: Otto Depenheuer/Christoph Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, 2010, § 1 Rn. 13 ff., bes. 20 f. und 22 ff.
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dung, Verfassungsänderung und Verfassunggebung formuliert. In welche Richtung die Antwort zu suchen ist, kann ein Blick auf die vertrauteste, da alltäglichste Konstellation des Verfassungshandwerks, die Verfassungsanwendung, zeigen. Deren teilnehmerwissenschaftliche Bewältigung ist der Verfassungsdogmatik überantwortet. Für diese – die Dogmatik – aber kann die Verfassungstheorie sehr wohl einiges leisten. Sie ist deren spezifische Grundlagendisziplin, sie gibt der Verfassungsdogmatik sozusagen den Resonanzboden. Und als solche ist ihr Nutzen für die praktische Verfassungsarbeit, sprich: die Verfassungsanwendung eher von mittelbarem denn von unmittelbarem Wert. Lassen Sie uns sehen, ob sich das für die Verfassungsanwendung in nuce Erkannte auf die Verfassungserzeugung in ihren beiden Spielarten der Verfassungsänderung und der Verfassunggebung übertragen lässt.
II. Verfassungstheorie als multifunktionales Disziplincluster 1. Ungesicherter disziplinärer Status Doch bevor wir uns dieser Frage zuwenden können, bedarf es einiger Worte über Wesen und Wert der Verfassungstheorie. Dies gilt umso mehr, als die Verfassungstheorie alles andere als eine juridische Subdisziplin mit einem konsentierten, d. h. geklärten und gesicherten Status ist.2 Das einzig leidlich konsentierte ist: dass sie als disziplinäres Format überhaupt existiert. Wir haben es also nicht mit einem Wissenschaftsphantom zu tun. So weit, so gut. Bei jeder Folgefrage mehren sich indes die Unsicherheiten und/oder die Meinungsunterschiede. Auf die Verfassungstheorie passt jene Doppelfrage, mit der in jüngster Zeit in Deutschland ein populärphilosophisches Werk Furore gemacht hat: „Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?“3 Was genau verbirgt sich also hinter der Chiffre der „Verfassungstheorie“? Und lässt sich das, was zum Vorschein kommt, auf einen Nenner bringen? Oder fungiert die Verfassungstheorie als Kürzel für ein ganzes Bündel disziplinärer Perspektiven, sozusagen als Abbreviatur für ein Disziplincluster? Anders herum gefragt: Was macht das proprium der Verfassungstheorie aus? Was ist das Spezifische an ihr? Wo und wie lässt sich die Verfassungstheorie disziplinär – und das heißt: im Kreise der und in Bezug auf die anderen Wissenschaften – verorten? Gehört die Verfassungstheorie – um nur wenige Fragen aufzugreifen – als Subdisziplin zur Jurisprudenz oder zur Politikwissenschaft, ist sie gar Teil der Politischen Philosophie? Ist sie mit der älteren Allgemeinen Staatslehre identisch, und wie verhält sie sich zur Staatstheorie?4 Zielt ihre Arbeitsweise auf deskriptive oder aber auf prä2 Vgl. beispielsweise Peter Pernthaler, Allgemeine Staatslehre und Verfassungslehre, 2. Aufl. 1996, S. 27 f. Ebenso kennzeichnend für die Fragerichtungen wie diskursorientierend in den gegebenen Antworten: Martin Morlok, Was heißt und zu welchem Ende studiert man Verfassungstheorie?, 1988. 3 Richard David Precht, Wer bin ich – und wenn ja, wie viele? Eine philosophische Reise, München 2007. 4 Näher dazu: Jestaedt, Verfassungstheorie (o. Anm.1), § 1 Rn. 5 ff.
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skriptive Sätze? Fokussiert sie die reale, die geltende oder aber die ideale, nur gedachte Verfassung? Operiert sie verfassungsimmanent oder aber verfassungstranszendent? Gilt sie einer oder gilt sie allen Verfassungen? Für die arrivierte Schwester der Verfassungstheorie, nämlich die Verfassungsdogmatik als verfassungsbezogener Gebrauchsdisziplin, lassen sich die genannten Alternativen – zumindest ganz überwiegend – leicht und eindeutig entscheiden. Nicht so für die Verfassungstheorie. 2. Disziplinäre Erkennungszeichen der Verfassungstheorie Wenn wir uns von diesen Unsicherheiten nicht abschrecken lassen und genauer zusehen, lassen sich vielleicht doch erste disziplinäre Erkennungszeichen der Verfassungstheorie ausmachen. Damit könnte die erste der beiden Fragen – „Was bin ich?“ – wenigstens annäherungsweise und vorläufig beantwortet werden. Das böte die Grundlage, sich auch der zweiten Frage „… und wenn ja, wie viele?“ zuzuwenden. Ich denke, wenigstens vier Merkmale lassen sich – ganz überwiegend schon vom Begriff her – identifizieren, die in ihrem Ensemble das Spezifische der Verfassungstheorie ausmachen. a) Verfassungsorientierung Da ist zum ersten die Verfassungsorientierung. Gegenstand – obiectum quod – der Verfassungstheorie ist die Verfassung. Der Satz klingt einfach, birgt aber zahlreiche Untiefen. Etwa wäre hier der Frage nachzugehen, ob Verfassung notwendigerweise bezogen ist auf den Staat, oder ob auch in Bezug auf nicht-staatliche Träger öffentlicher Gewalt, auf Zusammenschlüsse von Staaten – zu denken wäre namentlich an die Europäische Union oder die Vereinten Nationen – gleichsinnig von Verfassung gesprochen werden dürfte.5 Des Weiteren wäre zu klären, welcher Verfassungsbegriff dem mit Konstitutionalisierung umschriebenen Phänomen zugrunde liegt. Doch mögen diese Begriff und Wesen der Verfassung problematisierenden Überlegungen zunächst zurückgestellt sein. b) Normwissenschaftliche Disziplin Das zweite Erkennungszeichen der Verfassungstheorie: Sie nähert sich der Verfassung aus normwissenschaftlicher Perspektive. Das bedeutet noch nicht, dass ihre Aussagen selbst normativ – also präskriptiv – zu verstehen sind oder verstanden werden müssen. Das bedeutet auch nicht, dass sie auf den Horizont des positiven Rechts beschränkt wäre. Das heißt zunächst „nur“, dass ihr Augenmerk der Verfassung als 5 Pars pro toto: Josef Isensee, Staat und Verfassung, in: ders./Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Bd. II, 3. Aufl. 2004, § 15 Rn. 1 ff., 177 ff.; ders., Die Staatlichkeit der Verfassung, in: Otto Depenheuer/Christoph Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, 2010, § 6 passim, bes. 44 ff. m. zahlr. Nachw.; Paul Kirchhof, Begriff und Kultur der Verfassung, in: Otto Depenheuer/Christoph Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, 2010, § 3, bes. Rn. 15 ff.
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normative Wirklichkeit, der Verfassung als Normzusammenhang gilt und nicht der Verfassung als historisches oder soziales oder auch sozialpsychisches Datum, welches sich mit empirischen Mitteln erheben lässt. Wie für die Verfassungsdogmatik, so bedeutet auch für die Verfassungstheorie Existenz der Norm primär deren Geltung6 – und nicht oder doch allenfalls sekundär die sozial-faktisch angestoßenen Motivations- und Steuerungszusammenhänge. Damit setzt sich die Verfassungstheorie nach der einen Seite hin von der Verfassungsgeschichte und nach der anderen Seite hin von der Verfassungssoziologie (und -psychologie) ab. c) Rechtswissenschaftliche Reflexionsdisziplin: „Theorie“ Sodann ist die Verfassungstheorie, drittens, „Theorie“. Das bedeutet (mindestens) zweierlei: Sie ist nicht Verfassungspraxis im Sinne der Erzeugung und Anwendung von Verfassung; und sie ist auch – anders als die Dogmatik, die ja just auf die Anleitung der Rechtsgewinnung zielt – nicht unmittelbar praxisbezogen. Sie ist insofern keine Teilnehmer-, sondern eine klassische Beobachter-, eine Reflexionsdisziplin.7 Mit Rücksicht auf die traditionelle Zweiteilung der juridischen Teildisziplinen in dogmatische und nicht-dogmatische, sprich: Grundlagenfächer, ist die Verfassungstheorie folglich eindeutig den Grundlagenfächern zuzurechnen. d) Die Verfassung hinter der Verfassung Damit im Zusammenhang steht ein weiteres, ein Viertes: Für die Verfassungsdogmatik steckt die in Geltung stehende Verfassung – sprich: die aktuelle positivrechtliche Verfassung – den Reflexionsrahmen ab. Gegenüber dem in Geltung stehenden Recht besitzt die Dogmatik weder Distanz noch Reserven. Sie fragt danach, was geltendes Verfassungsrecht und wie dieses anzuwenden ist, nicht hingegen danach, ob die bestehenden Verfassungsbestimmungen überhaupt vernünftig und legitim sind oder ob alternative Regelungen nicht problemangemessener erscheinen. Sie verhält sich der geltenden Verfassung gegenüber also strukturell affirmativ und habituell distanzlos. Anders die Verfassungstheorie. Ihr ist diese Positivitätsfixierung nicht eigen. Das positive Verfassungsrecht bildet für sie zwar regelmäßig den Ausgangs-, niemals aber den End- und Zielpunkt der Betrachtungen. Ihre Aufgabe ist es gerade, nicht bei den positivrechtlichen Regelungen stehen zu bleiben, diese vielmehr in ihrem Kontext und in ihrer Bedingtheit zu erkennen und zu bewerten. Die Verfassungstheorie arbeitet sich sozusagen an der Suprastruktur der positiven Verfassung(en) ab. Ihr geht es in diesem Sinne um die nicht-positivierte – oder meinetwegen auch: meta-positive – Verfassung „hinter“ der positivierten Verfassung.8 6
Richtungweisend zur Geltung als der spezifischen Existenz von Normen: Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. 1960, S. 7, 9 f., 22, 196, 215 u. ö. 7 Näher Jestaedt, Verfassungstheorie (o. Anm. 1), § 1 Rn. 10 ff., 26 f. 8 Monographisch ausgearbeitet in: Matthias Jestaedt, Die Verfassung hinter der Verfassung. Eine Standortbestimmung der Verfassungstheorie, 2009.
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e) Fazit: Verfassungsorientierte normwissenschaftliche Kontextualisierungsdisziplin Nimmt man die vier Erkennungszeichen zusammen, so lässt sich die Verfassungstheorie charakterisieren als eine verfassungsorientierte, normwissenschaftlich arbeitende Kontextualisierungsdisziplin. So viel lässt sich, bei aller gebotenen Kürze und damit bei aller damit einhergehenden Verkürzung, auf die Frage „Was bin ich?“ antworten. Will man das Vokabular der moderneren, nicht selten transatlantisch inspirierten Forschungsrichtungen aufgreifen, so ließe sich auch formulieren: Verfassungstheorie ist jene Disziplin, der es aus normwissenschaftlicher Sicht um „constitution in context“ geht. 3. Verfassungstheorie als hybrides disziplinäres Format Damit ist indes noch nichts oder doch nur sehr Undifferenziertes über den modus operandi der Verfassungstheorie, über ihre konkrete Fragerichtung, ihr genaues Erkenntnisinteresse gesagt. Sieht man hier näher zu, so wird man gewahr, dass Verfassungstheorie nicht nur ein – stets identisches – Erkenntnisinteresse bedient. Vielmehr werden unter dem disziplinären Dach der Verfassungstheorie unterschiedliche, zwar miteinander in Beziehung stehende, aber nicht ineinander überführbare Erkenntnisinteressen verfolgt. Mit gehöriger Vereinfachung lassen sich drei fundamentale Erkenntnisrichtungen unterscheiden. Jeder von ihnen lässt sich eine Frage zuordnen. a) Verfassungstheorie als Verstehenslehre Zunächst und – so viel kann vorweggenommen werden – auch zuvörderst verfolgt die Verfassungstheorie die Frage: Wie funktioniert Verfassung? Diese Grundfrage lässt sich in einer unabgeschlossenen Vielzahl von Unterfragen konkretisieren und variieren, wie etwa: Was hält die Vielzahl der im Verfassungsgesetz zusammengespannten Bestimmungen „im Innersten“ zusammen? Was macht sie zur materialen Einheit? Welches sind die Bauelemente und Baugesetze der Verfassung? Worin ist die Eigenrationalität der Verfassung zu erkennen? Was sind die für das Funktionieren der einzelnen Verfassungsrechtssätze notwendigerweise mitzudenkenden Suprastrukturen? Was ist, aus hermeneutischer Sicht formuliert, das Vorverständnis, mit dem man sich Auslegung und Anwendung der positivrechtlichen Verfassung nähern kann und gegebenenfalls sogar sollte? Verfassungstheorie hat hier einen stark analytischen, auf Beschreiben, und einen stark systematisierend-extrapolierenden, auf Erklären und Begreifen ausgerichteten Grundzug. Als Disziplin, die in besonderer Weise das Ganze der Verfassung im Blick hat, stellt sich ihr die Aufgabe, die Leitbilder der positivrechtlichen Verfassung zu (re)konstruieren und zu extrapolieren. In anderem Kontext habe ich die Verfassungstheorie insoweit als die Lehre von den Bewegungsgesetzen der Verfassung bezeich-
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net.9 Für unsere Zwecke scheint mir die Charakterisierung dieser Lesart der Verfassungstheorie als Verstehenslehre oder auch Kontextualisierungslehre einfacher und auch ausreichend. Und für die Hermeneutiker unter uns: Verfassungstheorie ist insoweit die Lehre vom Verfassungsvorverständnis. b) Verfassungstheorie als Rechtfertigungslehre Verfassungstheorie kann aber auch ganz anders fragen. Es ist nämlich das eine, dem Eigensinn und der Eigenfunktionalität einer bestimmten Verfassung nachzuspüren. Und es ist etwas davon deutlich zu Unterscheidendes, nach der Rechtfertigung, den für oder gegen diesen Eigensinn und diese Eigenfunktionalität sprechenden Gründen der Vernunft, der Politik, der Religion oder der Moral zu fragen. Hier wird die rechtsordnungsimmanente Perspektive verlassen und eine rechtsordnungstranszendente Position eingenommen. Hier wird gleichsam von außen auf die Verfassung geblickt. Man kann das auch anders ausdrücken: Hier wird die positivrechtliche – und insoweit reale – Verfassung an einer idealen Verfassung gemessen. Ist das verfassungsgesetzliche Grundsetting gemessen an der Idealverfassung überzeugend? Sind Grundanlage und Funktionsweise der geltenden Verfassung gerecht und vernünftig, freiheits- und gleichheitsfördernd, den sozialen Frieden sichernd und herstellend, ökologisch nachhaltig und ökonomisch zukunftsträchtig? Der Wert oder Unwert, die Legitimität oder Illegitimität von Verfassung kann auf diese Weise bestimmt werden. Die positivrechtliche Realverfassung wird kontrastiert mit der metapositiven Idealverfassung und erfährt durch diese ihre Rechtfertigung oder aber ihre Entwertung. Daher mag man diese Lesart der Verfassungstheorie auch als Rechtfertigungs- oder Kontrastierungslehre bezeichnen.10 Diese Lesart steht in enger Beziehung zu dem, was herkömmlich unter Rechts- und Staatsphilosophie verstanden wird. Man könnte die Verfassungstheorie daher insoweit auch als Verfassungsrechtsphilosophie bezeichnen. Nota bene: Wiewohl das positive Recht, hier: das Verfassungsrecht, an einem nicht-positivrechtlichen, in diesem Sinne außerrechtlichen Maßstab gemessen wird, handelt es sich im Rahmen der Rechtfertigungslehre zweifelsfrei um Aussagen, die mit normativem Anspruch, also einer Geltungsprätention, auftreten. Das mag an dem Paradigma einer demokratischen Rechtfertigungslehre, nämlich der Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes, demonstriert werden. In Zeiten, in denen die demokratische Legitimation öffentlicher Herrschaft weithin als alternativenlos betrachtet wird, hängt auch die Legitimität einer Verfassung als der rechtlichen Grundordnung des Gemeinwesens daran, dass sie sich auf das Volk als den pouvoir constituant zurückführen lassen kann. Viel Erzählkunst wird darauf verwendet, das demokratische Narrativ möglichst lebendig und kraftvoll erscheinen zu lassen, um solcherart der Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes Genüge zu 9
Jestaedt, Verfassungstheorie (o. Anm. 1), § 1 Rn. 33 ff. Näher entfaltet bei Jestaedt, Verfassungstheorie (o. Anm. 1), § 1 Rn. 29 ff.
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tun. Doch bei alledem bleibt es dabei, dass es sich bei ihr um eine – offenbar für notwendig gehaltene und weithin ja auch wirksame – verfassungstheoretische Sinn(vermittlungs)referenz handelt und nicht um reales Verfassungsrecht. Denn was ist das Volk vor der Verfassung, die es ja überhaupt erst von jenem her zu rechtfertigen gilt? In welchem Verfahren und mit welchen Mehrheiten wird entschieden? Wer ist zur „Einberufung“ des Volkes, wer zur Verfassungsinitiative befugt? Wer wider diese Erkenntnis die Lehre vom demokratischen pouvoir constituant für einen Geltungsmaßstab der positivrechtlichen Verfassung hält, der wird sich blamieren lassen müssen, das – wie Josef Isensee es einmal plastisch formuliert hat – „Klapperstorchmärchen für Volljuristen“11 für bare Münze genommen zu haben. c) Verfassungstheorie als Gestaltungslehre Neben der Verfassungstheorie als Verstehenslehre einerseits und als Rechtfertigungslehre andererseits ist noch eine dritte, mit den beiden erstgenannten durchaus verwandte Variante anzutreffen. Sie zielt nicht primär auf Verstehen und auch nicht auf Bewerten, sondern auf das Gestalten von Verfassung. Kennzeichnet man die erste Lesart als Verfassungsvorverständnislehre und die zweite als Verfassungsrechtsphilosophie, so bietet es sich an, die dritte und letzte als wissenschaftlichen Ableger der Verfassungsrechtspolitik oder auch als Verfassungserzeugungslehre zu charakterisieren. Hier dreht sich alles darum, den Prozess der Verfassungserzeugung mit den Mitteln einer Grundlagendisziplin vorzubereiten und im Rahmen des Möglichen auch anzuleiten. Das kann die Verfassungstheorie tun, indem sie ihren als Verstehenslehre gefüllten Wissensspeicher in Sachen Struktur und Funktionieren von Verfassung für die ratsuchenden Verfassungserzeuger öffnet. So kann sie insbesondere die unterschiedlichen Modellierungsoptionen für öffentliche Herrschaft präsentieren und die Konsequenzzwänge einmal getroffener Präferenzentscheidungen aufzeigen. Will sie sich jedoch nicht mit dieser Rolle begnügen, will sie vielmehr aktiv gestalten, so manövriert sie sich schnell in eine prekäre Situation: Als Grundlagendisziplin ist sie darauf ausgelegt, sogenanntes Orientierungswissen zu generieren, welches der Beobachtung Richtung und Struktur verleiht, nicht hingegen Verfügungswissen, welches dem Teilnehmer unmittelbar verwertbare Handlungsanleitungen vermittelt; das ist Sache namentlich der vom Anwendungsbezug lebenden Dogmatik. Das Menetekel der Gestaltungslehre: Je mehr die Verfassungstheorie Partei ergreift, je stärker sie also ihren Beobachterposten verlässt und in politicis „mitmischt“, desto weniger wissenschaftlich belastbare Aussagen kann sie machen, desto unbrauchbarer ist sie – als Wissenschaft.12
11 Josef Isensee, Das Volk als Grund der Verfassung. Mythos und Relevanz der Lehre von der verfassunggebenden Gewalt. Paderborn 1995, S. 73. 12 Vgl. bereits Jestaedt, Verfassungstheorie (o. Anm. 1), § 1 Rn. 65 f.
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d) Fazit: Verfassungstheorie zwischen Real- und Idealverfassung Schon diese drei Fragerichtungen – und ich behaupte keineswegs, dass Verfassungstheorie nicht noch andere Erkenntnisinteressen verfolgen könnte13 – lassen „die“ Verfassungstheorie als ein hybrides disziplinäres Format erscheinen, als eine multiple juridische Subdisziplin. So oszilliert sie zwischen der Real- und der Idealverfassung, ist mal mehr Sinnermittlungs- und mal mehr Sinnvermittlungsdisziplin. Wer über den Wert der Verfassungstheorie – namentlich für den juridischen Umgang mit Verfassung – sprechen möchte, wird diese Binnendifferenzierung, wird ihre „multiple Persönlichkeit“ im Auge behalten müssen. 4. Horizonte der Verfassungstheorie Die Kontextabhängigkeit verfassungstheoretischen Räsonnements lässt sich auch an der Troika von Verfassungsanwendung, Verfassungsänderung und Verfassunggebung belegen. Dabei lässt sich verdeutlichen, wie sich der Fokus verfassungstheoretischer Reflexion verschiebt und deren Wert verändert – je nachdem, welche Schwerpunktsetzung in puncto Gegenstand oder aber Perspektive in den benachbarten Verfassungsdisziplinen gewählt wird. Drei Begriffspaare mögen das ein wenig illustrieren. a) Im Horizont der Verfassungsdogmatik und der Verfassungsvergleichung Zunächst das Paar von Verfassungsdogmatik und Verfassungsvergleichung: Die Verfassungsdogmatik fragt bei der Verfassungstheorie um ein Deutungs- und Verständnisschema für eine konkrete, nämlich die in concreto anzuwendende positivrechtliche Verfassung – etwa das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949 oder die Verfassung der Fünften Französischen Republik vom 4. Oktober 1958 in ihrer jeweils aktuell geltenden Fassung – nach. Die Theorie gilt also einer konkreten, kontingenten Verfassung. Das schließt natürlich den Blick auf andere Verfassungsmodelle nicht aus, weist diesen Überlegungen aber akzessorischen und ancilliären Charakter zu: durch den Blick auf und den Vergleich mit dem Anderen soll das Eigene besser verstanden werden. Der Bezugspunkt des Verstehens ist hier also die eigene Verfassung. Anders stellt sich die Situation in der als Eigenzweck betriebenen Verfassungsvergleichung dar: Hier ist von vornherein ein die einzelne Verfassung übersteigender, in diesem Sinne trans- oder interkonstitutioneller Zugang gewählt. Die „eigene“ Verfassung spielt hier keine andere, insbesondere keine kraft Sache wichtigere Rolle, sondern ist ein Vergleichsobjekt unter mehreren. Der Anspruch an die Verfassungs13 Zur Rolle der Verfassungstheorie als Schnittstellen- und Relaisdisziplin zwischen Verfassungsdogmatik einerseits und sonstigen verfassungsbezogenen (Sub-)Disziplinen andererseits: Jestaedt, Verfassungstheorie (o. Anm. 1), § 1 Rn. 48 ff.
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theorie ist also ein trans- oder interkonstitutioneller. Das wirkt sich auch auf die theoretische Konzeptualisierung aus, die tunlichst nicht das Kategoriensetting und die Modellbildung einer einzelnen Verfassungsordnung und -kultur entlehnt, wenngleich sich Pfadabhängigkeiten niemals vollständig vermeiden lassen werden. Unbeschadet dessen ist das Arbeiten mit Modellen und Typen, ja mit Idealtypen, hier das Eigentliche. b) Im Horizont der Verfassungserkenntnis und der Verfassungserzeugung Wie unterschiedlich die Herausforderungen sind, die an die Verfassungstheorie adressiert werden, lässt sich auch an der Kontrastierung von Verfassungserkenntnis und Verfassungserzeugung demonstrieren: Bei der Verfassungserkenntnis oder auch Verfassungsauslegung erfüllt die Verfassungstheorie ihre Rolle als Verstehenslehre par excellence. Sie macht – um eine Wendung von Hans-Georg Gadamer aufzugreifen – das „applikative Vorverständnis“, welches aller Verfassungsinterpretation „voraus“-geht, explizit und damit allererst (in des Wortes mehrfacher Bedeutung) diskutabel.14 Auf ihrer Grundlage lassen sich Auslegungshypothesen formulieren, die allerdings zwei Vorbehalten unterliegen: sie sind nicht (rechts)verbindlich, haben also ihrerseits keinen positivrechtlichen Status, und sie können im Verlaufe des Interpretationsprozesses falsifiziert werden. Die dritte Lesart der Verfassungstheorie, sprich die Gestaltungslehre, ist hingegen primär gefragt, wenn und soweit es um die Verfassungserzeugung, d. h. um die Herstellung von Verfassungsrecht durch die dazu zuständigen Organe geht. Hier geht es nicht um – zumindest der Idee nach gebundene – Sinnfindung, sondern um mehr oder minder freie Sinngebung. c) Im Horizont der Verfassungsänderung und der Verfassunggebung Das lässt sich noch ein wenig präzisieren, wendet man sich dem dritten Begriffspaar, jenem von Verfassungsänderung und Verfassunggebung zu. In beiden Fällen geht es um Verfassungserzeugung; es gilt daher grundsätzlich das soeben im Kontrast zur bloßen Verfassungserkenntnis Gesagte. Doch lassen sich, gerade was Reichweite und Leistungsfähigkeit verfassungstheoretischer Aussagen anlangt, Akzentunterschiede in Bezug auf diese beiden Spielarten der Erzeugung von Verfassungsrecht feststellen: Während nämlich beim Akt der Verfassunggebung, also der verfassungsrechtlichen creatio ex nihilo, noch kein Verfassungssystem besteht, in welches sich die neuen Bestimmungen einfügen müssen, drängt sich bei der Verfassungsergänzung stets die Frage auf, ob und inwieweit die Änderungen zum Bisherigen passen, 14 Josef Esser schreibt diese Wendung Hans-Georg Gadamer (Wahrheit und Methode, 2. Aufl. 1965, S. XIX) zu: Josef Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 1970, S. 136 Fußn. 67; er selbst spricht in diesem Kontext vom „entscheidungsbezogenen Vorverständnis“ (a.a.O., S. 136).
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ob sie die in ihm zum Ausdruck gelangenden Grundgedanken und Grundstrukturen verstärken oder verletzen, ob sie den „sound“ der geltenden Verfassung aufgreifen und verstärken oder aber verändern und um neue Klangelemente anreichern. Hier treten neben Aspekte der Verfassungstheorie als Gestaltungslehre solche der Verstehenslehre, weil und soweit der Verfassungsbestand, der ja als solcher durch die mehr oder minder punktuelle Anpassung nicht angetastet werden soll, Pfadabhängigkeiten schafft und Konsequenzzwänge auslöst. Um Missverständnissen von vorneherein zu begegnen: Die beschriebenen verfassungstheoretischen Pfadabhängigkeiten und Konsequenzzwänge besitzen keine positivverfassungsrechtliche Qualität. Ein Verstoß gegen sie zieht nicht das Verdikt des Verfassungsverstoßes nach sich. Die Sanktion liegt auf anderem, nicht-rechtlichen Feld: Mit der inneren Konsistenz kann auch die Legitimität der Verfassung abnehmen. Und das kann für die Wirksamkeit der Verfassung erhebliche Bedeutung haben.15 Damit soll umgekehrt nicht zum Ausdruck gebracht werden, dass bei Prozess und Akt der Verfassunggebung Aspekte der Verfassungstheorie als Verstehenslehre keinerlei Rolle spielten. Das ist nämlich durchaus der Fall. Doch liegen diese auf einer anderen Ebene und knüpfen nicht an das – ja noch nicht bestehende – Verfassungsrecht an. Um dies ein wenig näher umschreiben zu können, muss etwas weiter ausgeholt werden. III. Verfassungstheorie im Horizont der Verfassunggebung 1. Scheinbares Prae der Gestaltungslehre Befragt man die drei beschriebenen Lesarten der Verfassungstheorie nach ihrem Beitrag zur Verfassunggebung, so möchte es vordergründig scheinen, als spiele die Gestaltungslehre die bedeutendste Rolle – denn sie gilt ja explizit der Konstellation der Verfassungserzeugung. Doch es ist bereits mehr als einmal angeklungen, dass die Verfassungstheorie zwar auch als Gestaltungslehre begriffen und eingesetzt wird, dass ihre spezifische Leistungsfähigkeit in dieser Lesart aber weit hinter dem eher analytisch ausgerichteten Pendant, der Verstehenslehre, zurückbleibt. Neigt man nicht dazu, das diskurstheoretische Ideal in seinem Realitätswert zu überschätzen, und gesteht man sich ein, dass mit Mitteln des rationalen Diskurses die „one right answer“16 auch in Sachen Verfassungserzeugung nicht zu erreichen ist, so ist damit bereits die Grundaussage getroffen, dass auch eine wissenschaftlich betriebene Verfassungsrechtspolitik nicht gleichsam wissenschaftlich-objektiv richtige Ergebnisse zeitigen kann. Man kann das sogar noch zuspitzen: Die Gestaltungslehre hat dort ihre stärksten Momente, wo sie sich der Erkenntnisse der Verstehenslehre be15
Am Fallbeispiel der Wiedervereinigung: Thomas Würtenberger, Wiedervereinigung und Verfassungskonsens, in: JZ 1993, S. 745 ff. 16 Dazu Ronald Dworkin, Taking Rights Seriously, 2. Aufl. 1978 (dt.: Bürgerrechte ernstgenommen, 1. Aufl. 1990, S. 143 ff., bes. 152 ff.).
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dient, wo sie sich sozusagen als deren Handelsvertreterin im Außendienst der Verfassungspraxis versteht. 2. Verfassung zwischen Konfektion und Maßanfertigung Wie aber kann die Verfassungstheorie in ihrem Premiumsegment – d. h. als Verstehenslehre – wirksam werden für die Situation der Verfassunggebung? Als verfassungsrechtliche creatio ex nihilo entwirft die Verfassunggebung ja just eine neue, sich von keiner anderen Verfassungsordnung ableitende, von keiner anderen Verfassungsordnung vorstrukturierte Rechtsordnung. Unter verfassungsrechtlichen (wie rechtstheoretischen) Auspizien ist diese Ansicht unanfechtbar: Verfassunggebung ist die revolutionäre, ihre Rechtserzeugungsermächtigung nicht von einer anderen, vorherigen Verfassungsordnung ableitende Schaffung einer neuen Verfassung. Verfassunggebung behauptet also eine tabula rasa von Rechts wegen. Alles andere ist bloße Verfassungsänderung, also Änderung der bestehenden Verfassung auf dem Boden und in den Bahnen der Änderungsbestimmungen der bestehenden Verfassung. Dies gilt unbeschadet der Quantität wie der Qualität der Änderungsvorschriften. Diesen – verfassungsrechtlich wie rechtstheoretisch – kategorialen Unterschied von Verfassunggebung und Verfassungsänderung vermag die Verfassungstheorie zwar abzubilden. Aber für ihren eigenen Bestand an Erklärungsmustern gibt es keine creatio ex nihilo. Jeder revolutionäre Akt der Verfassunggebung spielt sich heute vor dem Hintergrund einer langen und wechselvollen Geschichte von Verfassungen ab. Er vollzieht sich insbesondere angesichts einer überwiegend verfassungsstaatlich organisierten Staatenwelt und angesichts unterschiedlich sich darstellender, aber doch miteinander verwobener Konstitutionalisierungsprozesse. Diesem Konstitutionalisierungssog wird sich kaum ein potenzieller Verfassunggeber entziehen können. Gibt er ihm nach, so steht ihm das reiche Repertoire der Verfassungstheorie zur Verfügung, welches diese im Verbund mit der Verfassungsvergleichung erarbeitet hat.17 a) Der verfassungsvergleichende Standard Der Verfassungsschöpfer wird sehr schnell gewahr werden, dass es keine unerschöpfliche Vielfalt moderner Verfassungskonzeptionen im Allgemeinen und des staatsorganisatorischen wie des grundrechtlichen Settings im Besonderen gibt. Vielmehr handelt es sich im Wesentlichen um Variationen eines recht überschaubaren Grundbestandes an Konstruktionsbausteinen und an Kombinationsmöglichkeiten, aus denen er sich bedienen kann. Jede moderne Verfassung ist heute denn auch mindestens sosehr Konfektionsware wie Maßgewand. In Anbetracht der Verbreitung des Grundmusters US-amerikanisch-französischer Provenienz gibt es heute nicht mehr 17 Zum symbiotischen Verhältnis von Verfassungstheorie und Verfassungsvergleichung: Jestaedt, Verfassungstheorie (o. Anm. 1), § 1 Rn. 31 f.; Sebastian Müller-Franken, Verfassungsvergleichung, in: Otto Depenheuer/Christoph Grabenwarter (Hrsg.), Verfassungstheorie, 2010, § 26 Rn. 1 ff., bes. 19 ff.
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allzu viele präzedenzlose verfassungsgesetzliche Konzeptionen und Institutionen, Prozeduren und Garantien, so dass es für die meisten der geplanten Neuerungen bereits verfassungstheoretisch mehr oder minder detailliert und ausgreifend aufgearbeitete Erfahrungen gibt.18 Dabei wird die Verfassungstheorie Hilfe insbesondere dadurch leisten können, dass sie in Bezug auf die in Erwägung gezogenen Kombinationen auf Passfähigkeiten und Voraussetzungen, Unverträglichkeiten und Konsequenzzwänge aufmerksam macht. Darüber hinaus wird sie indirekt Werbung dadurch machen, dass sie das Dass und das Wie des erfolgreichen Funktionierens einzelner verfassungsstaatlicher Konzepte herausarbeitet. b) Die verfassungskulturellen Besonderheiten Das ist indes nur die eine Seite, auf der Verfassungstheorie einen Beitrag leisten kann. Als Lehre von den Bewegungsgesetzen einer konkreten Verfassung hat Verfassungstheorie eine besondere Kompetenz oder – genauer – eine besondere Sensibilität für die Frage, unter welchen – auch und gerade nicht-rechtlichen – Bedingungen eine Verfassung effektiv funktioniert – das heißt jene Steuerungseffekte tatsächlich erzielt, die in ihr normativ angelegt sind. Es geht also, wenn ich das einmal so ungeschützt formulieren darf, um die Rolle der Verfassung in der Rechtsordnung im Übrigen, im politischen Leben und im Alltag der Menschen. Als normwissenschaftlich arbeitende Disziplin kann sie kraft eigener Kompetenz nur für die Kontextabhängigkeit sensibilisieren und die normativen – die positivrechtlichen wie die nicht-positivierten – Faktoren einigermaßen verlässlich benennen; im Blick auf die sonstigen Faktoren wird sie – mit großer methodischer Vorsicht – Anleihen bei den Nachbarwissenschaften machen müssen. In Abwandlung des berühmten Diktums von Ernst-Wolfgang Böckenförde wird man formulieren dürfen: Die Verfassung lebt in ihrer Wirksamkeit von Bedingungen, die weder der Verfassunggeber vollauf kreieren noch ein Verfassungshüter – etwa in Gestalt eines Verfassungsgerichts – umfassend garantieren kann. Am Beispiel der Verfassungsgerichtsbarkeit: Sollte ein Verfassungsrechtsetzer ein Verfassungsgericht wie das Bundesverfassungsgericht in Funktionsweise und Bedeutung in der eigenen Verfassungsrechtsordnung implementieren wollen, genügte es nicht, die einschlägigen Bestimmungen des Grundgesetzes, des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes und gegebenenfalls noch der Geschäftsordnung des Bundesverfassungsgerichts zu rezipieren. Vielmehr hinge der Erfolg dieses „legal transplant“ von zahlreichen weiteren, politischen und ökonomischen, sozio-kulturellen und auch personellen Faktoren ab, die sich nicht einfach als Artefakte beliebig und in jedem Kontext herstellen lassen. Nicht zuletzt hinge der Erfolg dieses verfassungsgerichtlichen Modells vom Willen zum Recht im Allgemeinen und dem Willen zur Verfassung im Besonderen, also von der jeweiligen Rechtskultur ab, der Kultur der Rechtsauslegung, 18 Am Beispiel des Grundgesetzes: Thomas Würtenberger, Grundgesetz und Verfassungstradition, in: Nikolaos Alivizatos (Hrsg.), Essays in Honour of Georgios I. Kassimatis, 2004, S. 323 ff.
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des Rechtsanwendens und des Rechtsbefolgens.19 Doch damit ist der Zuständigkeitskreis der Verfassungstheorie bereits verlassen. Schließen möchte ich mit einem Hinweis auf einen letzten, aber aus meiner Sicht nicht zu unterschätzenden Beitrag der Verfassungstheorie für jeden Verfassungserzeuger: Die Verfassungstheorie schärft dadurch, dass sie sowohl die Bedingtheit als auch die Leistungsfähigkeit von Verfassung thematisiert, den Blick auf die Kopplung von Recht und Politik durch Verfassungsrecht. Sie vermittelt dadurch wichtige Leitlinien für eine Antwort auf die Frage, wie viel Verfassungsrecht von Nutzen ist und wo die Vorteile der Konstitutionalisierung durch deren Nachteile überwogen werden. Sieht man näher zu, so lassen sich die so gewonnen Maximen nicht nur auf den Sonderfall der Verfassunggebung tabula rasa anwenden, sondern überhaupt als idées directrices für den juridischen Umgang mit Verfassungsrecht, also der Verfassunggebung, der Verfassungsänderung und auch und gerade der Verfassungsanwendung, begreifen. Verfassungstheorie kann dergestalt eine Verfassungskultur des Maßes und mit Maß befördern – und damit bedeutsame Einsichten in die vom Jubilar bearbeitete Thematik von „Zeitgeist und Recht“20 vermitteln.
19 Dazu eingehend: Matthias Jestaedt, Phänomen Bundesverfassungsgericht. Was das Gericht zu dem macht, was es ist, in: ders./Oliver Lepsius/Christoph Möllers/Christoph Schönberger, Das entgrenzte Gericht. Eine kritische Bilanz nach sechzig Jahren Bundesverfassungsgericht, 2011, S. 77 ff. 20 Thomas Würtenberger, Zeitgeist und Recht, 2. Aufl. 1991.
Warum haben wir ein öffentliches Recht? Von Peter Krause, Trier Was das öffentliche Recht ist, sagt die formale oder die materielle modifizierte Subjektstheorie; es ist das Recht, das ausschließlich Träger öffentlicher Gewalt berechtigt oder verpflichtet, bzw. das Recht, das Träger öffentlicher Gewalt als solchen eine Pflicht auferlegt oder eine Befugnis einräumt. Wenn eine Definition durch Zuordnung zur nächsten Gattung und Angabe des artbildenden Unterschiedes erfolgt, wie wir seit der Scholastik wissen (definitio fit per genus proximum et differentiam specificam), liefern diese „Theorien“ weder eine Einsicht noch eine Definition. Nur dem Schein nach sollen sie die Entscheidung über den Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten ermöglichen, den eine Generalklausel für Streitigkeiten des öffentlichen Rechts eröffnet, tatsächlich sind sie nur kunstvoll zurecht geschnitten, um ein bestimmtes vorweggenommenes Ergebnis, etwa die Zuordnung der Bestimmungen über das gesetzliche Erbrecht des Fiskus zum Privatrecht zu erklären. Es bleibt nicht nur ungesagt, warum das angeführte Genus Recht das nächste ist, d. h. warum die erste Unterscheidung des privaten und des öffentlichen Recht an der Spitze aller Differenzierungen im Recht steht. Vor allem fehlt die Angabe der spezifischen Differenz, der Eigenart des öffentlichen Rechts und des Privatrechts, der sie prägenden Merkmale, Prinzipien und Strukturen. Wenn das öffentliche Recht nicht das als verbindlich bekanntgemachte, durch Autorität angeordnete Recht im Gegensatz zu dem sich jedermann einsichtigen vernünftigen Privatrecht sein soll,1 ist die Unterscheidung nicht denknotwendig, zumal es Rechtsordnungen gibt und gegeben hat, denen sie unbekannt ist. Ist sie aber historisch entstanden, ist sie auch nur aus dem historischen Prozeß ihrer Entstehung zu begreifen. Er ist merkwürdig kurz und unreflektiert, wie im Folgenden skizziert werden soll. Das römische ius publicum und ius privatum Die Antike kannte keine Träger der öffentlichen Gewalt und auch kein Sonderrecht für sie. Cicero sprach zwar in den Partitiones oratoriae (130) von einem ius privatum, das durch stipulationes, pacta und dergleichen von Privaten hervorgebracht, und von einem ius publicum das von den Magistraten durch leges, senatus consulta und foedera geschaffen wird. Doch ging es ihm lediglich um Unterschiede 1 Vgl. Peter Krause, Ein Druckfehler in Kants metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre oder von der Möglichkeit des reinen Naturrechts, in: Festschrift für Meinhard Schröder, 2012, S. 675 – 686.
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und Grenzen privatautonomer und hoheitlicher Rechtsschöpfung und Rechtsgestaltung, nicht um die Einteilung von Rechtsgebieten und Rechtsdisziplinen.2 Sie lag auch außer dem Horizont der Rechtsgelehrten der frühen Kaiserzeit, die von Cicero abweichend an unterschiedliche Zwecke der Regelungen anknüpften und dem Recht, das den Privatnutzen der Einzelnen im Auge hat, den Namen ius privatum gaben und ihm das ius publicum, in dem es – auch – um den status3 der Angelegenheiten Roms, die Verfassung, in der sich die gemeinsame Sache befindet, oder den Zustand des gemeinen Wohls gehe, gegenüberstellten4. Denn auch sie wollten damit nur auf die Besonderheiten der mit dem öffentlichen Interesse verbundenen Normen hinweisen, die anders als die des ius privatum nicht durch die Einzelnen geändert und hervorgebracht werden konnten, sondern sich deren Zugriff entzogen.5 Justinian hatte die „Definitionen“ der klassischen Rechtsgelehrten in das corpus iuris eingefügt, sie beherrschten vom Hochmittelalter bis zur Neuzeit den Sprachgebrauch der universitären Rechtswissenschaft6. Als die Juristenfakultäten des Heiligen römischen Reichs im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts begannen Speziallehrstühle für das ius publicum sacri imperii einzurichten, übertrugen sie diesen weder das ganze römische ius publicum noch engten sie den Begriff des ius publicum auf das Reichsstaatsrecht ein. Die Lehrer des römischen Zivilrechts nahmen das traditionelle ius publicum vielmehr bis zum Ende des 18. Jahrhunderts selbstverständlich in ihre Vorlesungen über die Institutionen, die Pandekten oder den Kodex auf. Die Vorstellung eines Sonderrechts für Träger der öffentlichen Gewalt lag der deutschen Rechtsgelehrsamkeit bis zum Jahr 1799 fern, als die Zivilrechtswissenschaft begann, sich auf Rechtsbeziehungen unter Privatpersonen einzuschränken. Recht und Herrschaft im Mittelalter Auch das Mittelalter wußte vom neuzeitlichen Staat nichts und hatte keinen Begriff von einem Träger öffentlicher Gewalt oder von einem besonderen öffentlichen Recht. Die weltliche Herrschaft kam ohne rechtliche Regelung der Kompetenzen, Befugnisse, Zuständigkeiten und des Verfahrens aus. Als sie – lange vor Wiederentdeckung des corpus iuris und der Gründung der ersten Universitäten – 2
Paul Jörs/Wolfgang Kunkel/Leopold Wenger, Römisches Recht, Heidelberg 1949, S. 51. Da der Staat als Institution dem Altertum fremd war, verbietet es sich, an das Staatsinteresse oder die raison d’état zu denken, es ging vielmehr um das gemein(sam)e Wohl, die res publica. 4 Domitius Ulpianus (~ 170 – 223): Publicum ius est, quod ad statum rei Romanae spectat, privatum, quod ad singulorum utilitate Dig. 1, 1, 1 § 2 g. A. Vgl. dazu Max Kaser, Ius publicum und ius privatum, SZ 103 (1986) S. 1 – 101. 5 Aemilius Papinianus (~ 150 – 212): Ius Publicum privatorum pactis mutari non potest Di. 2, 14, 38. 6 Karl Kröschel, Deutsche Rechtsgeschichte, Band 3. Seit 1650, Köln/Weimar/Wien 2005 S. 26 3
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entstand, war Herrschern und Völkern die Vorstellung einer rational konstruierten Herrschaftsordnung fremd und das corpus iuris mit seiner Unterscheidung von ius privatum und ius publicum, der lex regia, der Formel legibus solutus und der plenitudo potestatis unbekannt. Die Kirche hatte sich dagegen früh rechtlich konstituiert und nach Theodosius I. voll im Recht eingerichtet. In der Absicht, sie einer hierarchischen, monokratischen Ordnung zu unterwerfen, hatten die Päpste im 10. Jahrhundert die Regelung des römischen Rechts, wonach die Beamten nur über eine begrenzte Handlungsvollmacht – keine „plenitudo potestatis“ – verfügten, entdeckt, zunächst um den Bischöfen als „Dienern“ der Kirche die Autonomie abzusprechen, und dann, um für sich die höchste Machtvollkommenheit in der Kirche zu beanspruchen.7 Sie hatten der Formel „legibus solutus“, welche den Kaiser bei einem Testament von den gesetzlichen Formvorschriften freistellte, unterstellt, sie nähme ihn von jeder gesetzlichen Bindung aus und auf sich erstreckt, und aus der lex regia8 die Ermächtigung zur umfassenden Gesetzgebung herausgelesen. Die absolutistische Interpretation ging in die Dekretalien ein und wurde in die Lehre des weltlichen römischen Rechts übernommen, als die Universitäten entstanden, erlangte hier aber nur geringe praktische Relevanz. Als Friedrich Barbarossa Schwierigkeiten hatte, sich gegen die nach Selbständigkeit strebenden oberitalienischen Kommunen durchzusetzen, hatte die Universität Bologna gerade mit der Bearbeitung des corpus iuris begonnen. Es lag für den Kaiser daher nahe, auch zu den Mitteln des römischen Rechts zu greifen. Seine „Hausjuristen“ Bulgarus, Martinus, Hugo und Jacobus bestätigten nach den Vorarbeiten der Kirchenrechtler, ihm komme nach dem römischen Gesetzbuch die höchste Machtvollkommenheit und die alleinige und umfassende Befugnis zur Gesetzgebung zu. Doch als er versuchte, den Anspruch gegen die oberitalienischen Kommunen durchzusetzen, erlitt er eine militärische Niederlage. So sah sich die nächste Generation der Rechtsgelehrten gezwungen, zu erklären, daß ein eigenständiges partikulares Gesetzgebungsrecht mit der Majestät des Kaisers vereinbar war. Später stieß sie auch auf mannigfaltige andere Einschränkungen der kaiserlichen Machtfülle, unternahm aber nicht den Versuch aus dem corpus iuris ein Staatsrechtssystem zu konstruieren, das den Widerstreit in sich aufhob und so rezipiert werden konnte.9 Vielmehr hielt 7 Holger Erwin, Machtsprüche. Das herrscherliche Gestaltungsrecht „ex plenitudine potestatis“ in der Frühen Neuzeit. Köln 2009, S. 37 – 45. 8 D. I. 4. 1. Quod principi placuit, legis habet vigorem: utpote cum lege regia, quae de imperio eius lata est, populus ei et in eium suum imperium et potestatem conferat. vgl. auch Inst. I 2. 6. um den Sonderfall des Rechtsprinzip, daß der bevollmächtige Beamte des Kaisers kein plein pouvoir hatte, es 9 Römisch-rechtliche Einflüsse im „ius publicum“/„öffentlichen Recht“ des 18. und 19. Jahrhunderts in Deutschland, in: Index. Quaderni camerti di studi romanistici (Neapel) 16 (1988), S. 151 – 175; zit. nach: Historische Vergleichung im Bereich von Staat und Recht: Gesammelte Aufsätze von Heinz Mohnhaupt, Max-Planck-Institut für Europäische Rechtsgeschichte (Ius Commune/Sonderhefte 134), Frankfurt am Main 2000, S. 125 ff. (127 ff.).
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sie, ohne die Einschränkungen aus dem Lehnrecht, dem Wormser Konkordat, der confoederatio cum principis ecclesiasticis oder dem statutum in favorem Principum10 in Frage zu stellen, auch an der über Jahrhunderte lang aufrechterhaltenen These fest, der Kaiser sei nicht an die Gesetze gebunden, besitze die plenitudo potestatis und eine unbeschränkte Gesetzgebungsmacht. Sie nahm daher auch nicht Anstoß daran, daß der allmächtige und von der Einhaltung der Gesetze entbundene Kaiser nach der Goldenen Bulle wegen begangenen Unrechts angeklagt werden konnte. Das war nur möglich, weil sie nie durch rechtliche Auseinandersetzungen über Gebrauch und Grenzen der kaiserlichen Macht herausgefordert wurde. Auch der Pfalzgraf bei Rhein hatte, soweit zu sehen, nie über eine Anklage des Kaisers und römischen Königs nach Kapitel V [2] der Goldenen Bulle zu entscheiden. So mochte Kaiser Ludwig III. sagen, „nos, qui supra legem sumus et possumus velud legislator iura condere et interpretari“, wenn er nur von dem Recht keinen oder nur vorsichtigen Gebrauch machte. Und als er das Mißfallen der Fürsten erregte, traten sie ihm nicht unter Berufung auf die seiner Macht gesetzten rechtlichen Schranken entgegen, sondern wählten einfach Kaiser Karl IV. zum Gegenkönig, der die unbeschränkte kaiserliche Machtvollkommenheit weiter in Anspruch nahm. Wie gering das Bedürfnis war, die Machtausübung im Reich objektivrechtlichen Regeln zu unterwerfen, zeigen die Königswahlen. Jahrhunderte blieben Wahlberechtigung und Wahlverfahren ungeregelt.11 Falls es nicht bei einer bloßen Akklamation blieb, wurden die Stimmen nicht gezählt, sondern allenfalls gewogen. Um ein Herkommen zu begründen, hätten die Wahlen zureichend dokumentiert werden müssen.12 Die Mängel der Dokumentation beweisen, daß man eine gewohnheitsrechtliche Regelung nicht entbehrte. Was Sachsen-, Deutschen- und Schwabenspiegel und das Kaiserrechts über den Erwerb der königlichen und kaiserlichen Würde sagten, erlaubte es nicht, die Rechtsgültigkeit einer Wahl zu beurteilen. Der Wahlerfolg hing davon ab, daß sich der Kandidat durchsetzte, d. h. die Anerkennung derer erlangte, auf die es ankam. Juristische Argumente zählten dafür kaum. Keine Wahl wurde in Frage gestellt, weil ein Nichtstimmberechtigter teilgenommen hatte oder ein Wahlberechtigter ausgeschlossen worden war. Einer Wahlberechtigung berühmten sich ohnehin erstmals die Wähler Ottos von Braunschweig nach der Doppelwahl von 119813, aber auch sie ohne exakte Begründung und letztlich auch ohne Erfolg. Als die „Gewählten“ während des sogenannten Interregnum keine hinreichende Unterstützung fanden, nahmen sie zwar vermehrt zu Rechtsbehauptungen Zuflucht. Der Papst maß sich das Recht zur Entscheidung zu, machte aber 10 Sie wandte sich ihnen erst zu, als sie zu Beginn des 17. Jahrhunderts gedruckt (s. Arno Buschmann, Kaiser und Reich Teil I, 2. Aufl. 1994, S. 63, 67) vorlagen. 11 Hermann Schulze, Einleitung in das Deutsche Staatsrecht, 1867, S. 225: Vor dem 14. Jahrhundert bestand keine grundgesetzliche Regel über die Königswahl. 12 Die Unterlassung zeigt, daß die Bildung eines Gewohnheitsrechts – eines festen Reichsherkommens – nicht angestrebt wurde. 13 Die Doppelwahl dieses Jahres ist überdies bis zum Jahr 1273 die einzige Wahl geblieben, bei der Wähler und Kandidaten vollständig bekannt sind.
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bewußt keinen Gebrauch davon, nach dem Interregnum wurde es ebenso obsolet wie seine Behauptung, die Wahlberechtigung leite sich von ihm ab. Ihre Einschränkung auf sieben „Kurfürsten“ in den Jahren zwischen 1273 und 1298 ließ sich weder auf päpstliche Zuweisung noch auf eine Observanz gründen. Das Herkommen stiftete erst Albrecht von Habsburg, indem er seine Erhebung zum König sorgfältig ausgestaltete, minutiös aufzeichnete, die Verbindung der Kuren mit den Erzämtern feierlich sichtbar machte und alles in der Erinnerung festhielt.14 Von dem einmal gegebenen Vorbild konnte man bei den künftigen Wahlen nicht ohne Grund abweichen. Dauerhafte Wirkung hatte auch die von Albrecht vorgenommene Vereinigung der Kurfürsten zu einem Kollegium, das mit dem jeweiligen König die Regierung führen sollte.15 Der Widerspruch, den die Herzöge von Sachsen-Lauenburg erhoben, blieb letztlich ohne Erfolg, auch wenn sie noch zweimal an einer Wahl mitwirken konnten. Da die Wahlen Rudolfs und Albrechts von Habsburg ohne Gegenstimme geblieben waren, gaben sie keinen Anhalt für die Behandlung einer gespaltenen Wahl. Schließlich verpflichteten sich sechs Kurfürsten am 16. Juli 1338 in Rhens, den Kandidaten zu unterstützen, dem die Mehrheit der Stimmen zugefallen war, auch wenn sie für einen anderen gestimmt hatten. Karls VI.16 übertrug das Wahlrecht, die Einrichtung des Kurfürstenkollegiums und weitere Normen 1356 durch die Goldene Bulle in ausdrückliche gesetzliche Regelungen und leitete damit die Konstituierung des Reichs ein, die Rechtswissenschaft reagierte zunächst nicht darauf. Der Reichstag entstand erst lange nach dem Kurfürstenkolleg. Der König hatte stets Fürsten, Herren und Städte des Reichs und der Nachbarländer zu Hoftagen eingeladen, wenn er Rat und Unterstützung brauchte und bedeutende Entscheidungen zu treffen hatte. Mitwirkungsrechte gestand er weder der Versammlung noch einzelnen Fürsten zu, so kam es auch zu keiner Abstimmung. Die These, die Goldene Bulle beweise, daß Reichsgesetze von Reichstagen beschlossen wurden,17 ist unbegründet. Karl IV. erließ den ersten Teil als ewig gültiges Reichsgesetz im Januar 1356 aufgrund seiner kaiserlichen Gewalt und ganzen kaiserlichen Machtvollkommenheit, zwar in solempni curia nostra zu Nürnberg und in Anwesenheit aller Kurfürsten und einer großen Zahl von Fürsten, Grafen, Herren, Edlen und 14 Es handelt sich um eine im Heiligen römischen Reich nicht ungewöhnliche Form der „Rechtsetzung“. 15 Alle weltlichen Kurfürsten von 1198 waren Schwiegersöhne von Rudolf oder stammten von ihm ab. 16 Obwohl sein Haus nach dem Tod des Kurfürsten Balduin von Trier nur noch zwei Kurstimmen kontrollierte. Die Goldene Bulle trug dem Anteil an der Majestät, den sie den der Kurfürsten eingeräumt hatte, auch dadurch Rechnung, daß sie den Schutz gegen das crimen laesae majestatis auf sie erstreckte. 17 Vgl. aber Christian Friedrich Menger, Deutsche Verfassungsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1979, S. 17.
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Städten. Doch ist von einer Zustimmung der Fürsten keine Rede. Nur bei wenigen Verordnungen hatte er Rat und Zustimmung der Kurfürsten eingeholt (vgl. Kapitel III und XII). Den zweiten Teil „promulgierte“ er am Weihnachtstag 1356 auf der curia Metensi in Gegenwart aller Kurfürsten, ohne von einer Beteiligung zu sprechen. Ganz ohne eine curia zu befragen, erließ Friedrich III. am 14. August 1442 eine Landfriedensordnung und am 24. Oktober 1471 eine Kammergerichtsordnung. Daher sind der Ewige Landfriede18, die Reichskammergerichtsordnung, die Handhabung Friedens und Rechts19 sowie die Ordnung des Gemeinen Pfennig vom 7. August 1495 die ersten Gesetze, die nachweislich auf einer „gemain Versamblung des Hailigen Reichs“ erlassen wurden. Die Formeln weichen voneinander ab. Einzig der Vorspruch zur Ordnung des Gemeinen Pfennig nennt die Gesetzgeber, den König, alle Kurfürsten, fünf Fürstbischöfe, zwei weitere geistliche und neun weltliche Fürsten. Es ist schon deshalb zweifelhaft, daß die 1495 Versammelten generell die Zustimmung der Reichsfürsten zur Reichsgesetzgebung für erforderlich hielten. Maximilian hatte die Versammlung einberufen, um Unterstützung in Italien zu erlangen, und damit handfeste politische Gründe, die anwesenden Stände an der Reichsreform zu beteiligen, die sie zur Bedingung der Hilfe gemacht hatten und die sich nur mit ihnen zum Erfolg führen ließ. Daß er den Reichstag allenfalls an Gesetzen über das Reichsregiment beteiligen wollte, bezeugte er, indem er die Reichsnotarordnung am 8. Oktober 1512 nach Entlassung des Reichstags erließ. Die Institution „Reichstag“ ist dennoch ohne Maximilian I. nicht zu denken. Er hatte in § 1 und 2 der Handhabung Friedens und Rechts eine periodische Versammlung der „Churfürsten, Fürsten, Prelaten, Graven, Feyherrn und des Reichs Stende“ angekündigt, um mit ihnen zu „rathschlagen“, gab ihr bald darauf den Namen „des Heiligen Reichs Tag“ oder kurz „Reichstag“ und nannte die Versammlung von Worms im Jahr 1495 den „Ersten Reichstag“.20 Die Versammelten durften nicht von dannen ziehen, wenn sie der König nicht durch Reichs(tags-) abschied entlassen hatte. Der Reichsabschied hielt regelmäßig die Namen der Versammelten fest, darunter waren um die Mitte des 16. Jahrhunderts neben weltlichen und geistlichen Fürsten, noch schlichte Grafen, Prälaten und Freiherren.21 Doch bildete sich bald eine Observanz heraus, wonach bestimmte Gruppen von Prälaten
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Ergangen „mit ainmütigem zeytigen Rat“ der „Churfürsten, Fürsten, gaistlichen und weltlichen, auch Prelaten, Graven, Herren und Stende“. 19 Es handelt nicht um ein Gesetz, sondern um eine Verpflichtung, die der Königs für sich und seinen Sohn „mit zeytigem Rat und Willen der […] Churfürsten, Fürsten und anderer Stende des Reichs“ eingegangen ist. 20 Vgl. die Regimentsordnung Maximilians vom 2. Juli 1500: „alles laut ordnung des ersten Reichßtags zu Worms [gemeint ist die Versammlung von 1495], auch nachfolgender anderer Reichs=Täg“. 21 Peter Krause, Die Auswirkungen des westfälischen Friedens auf das Reichstaatsrecht, In: Meinhard Schröder (Hrsg.) 350 Jahre westfälischer Friede, Verfassungsgeschichte, Staatskirchenrecht, Völkerrechtsgeschichte, Berlin 2000 S. 9 – 42, s. 14 ff. mit w. Nachw.
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und Grafen gemeinsam einen Vertreter bestimmen durften (Kuriatstimme)22 und jeder regierende Fürst eine Virilstimme führte, zunächst gleichviel ob er mehrere Fürstentümer oder nur den Teil eines Fürstentums innehatte. Irgendwann nach 1582 aber23, endgültig erst nach dem dreißigjährigen Krieg24, wurde die Virilstimme zum Element des Territoriums, mit ihm – gegebenenfalls zusätzlich – erworben und bei seiner Aufteilung nicht vermehrt. Die konstitutive Mitwirkung der Städte wurde erst durch den Frieden von Osnabrück außer Streit gestellt. Die kontinuierliche Herausgabe der Reichsabschiede, die Peter Schöffer im Jahr 1500 begann, verschaffte dem Reichstag und seinen Verhandlungen eine öffentliche Aufmerksamkeit, die kein vorhergehender Hoftag je gehabt hatte. Die konfessionellen Kontroversen auf den Reichstagen von 1521, von 1530 oder 1555 steigerten das noch. Die Reichspolitik war damit zu einer öffentlichen Sache und zugleich zu einer Angelegenheit der Öffentlichkeit geworden, die an ihr durch Flug- und Zeitschriften teilnehmen konnte. Der Übergang zum Reichsstaatsrecht Die Reichsreformen Kaiser Maximilians und seiner Enkelsöhne hatten für das Reich eine Reihe neuer Entscheidungsträger (Organe) neben Kaiser und Kurfürstenkollegium geschaffen, wie das Reichskammergericht, das Reichsregiment, den Reichstag und die Reichskreise. Das war mit einer Vielzahl darauf bezogener objektiver geschriebener und ungeschriebener Rechtsregeln einhergegangen, für die sich erst langsam ein gemeinsamer Name fand. Schon die Reichsreformen waren durch einen grundlegenden politischen Wandel in der Auffassung über die Funktion des Rechts für die Obrigkeiten und Untertanen veranlaßt worden. Sie sollten dem Untertanen erstmals die reale Möglichkeit eröffnen, sein Recht selbst durchzusetzen, schärften das allgemeine Rechtsbewußtsein und veranlaßten die Territorien nicht nur dazu, ihre Justizverfassung der neuen des Reichs anzupassen, sondern auch den mannigfachen Zweifeln und Ungewißheiten über das materielle Recht, die einer geordneten Justiz entgegenstanden, durch mehr oder minder umfassende gesetzliche Klarstellung zu begegnen.25 Die Verbesserung der Rechts- und Friedenssicherung wiederum rückte andere – ebenso schwerwiegende Störungen und Gefährdungen der allgemeinen Sicherheit und 22
Die schwäbischen Prälaten waren ständig repräsentiert; die rheinischen Prälaten und die Reichsgrafen ließen sich ihr Recht durch von Kaiser Ferdinand III. (Dekrete vom 23. November 1640 und vom 3. Mai 1641, vom 28. März 1653 und vom 17. Januar 1654) „erneuern“. 23 Schulze (Fußn. 13), S. 235, 236. 24 Frühestens nach Entdeckung der Territorialbezogenheit der Herrschaft durch Andreas Knichen (vgl. dazu unten bei Fußn. 50). 25 Vgl. zu den Hemmnissen der Durchsetzung des Landfrieden s. Johann Stefan Pütter, Historische Entwickelung der heutigen Staatsverfassung des Teutschen Reichs. Erster Theil bis 1558. 2. unveränderte Auflage Göttingen 1786, S. 335 ff. zum Territorialjustizwesen ebd. S. 324 – 332.
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Ordnung in den Blick, für welche den Obrigkeiten auch die Verantwortung zugemessen wurde. Da sie sich mit den überkommenen Instrumenten nicht bewältigen ließen, erschienen ungewöhnliche Eingriffe in die wohlerworbenen Rechte und Freiheiten der Untertanen geboten, die ihrerseits Anlaß zu Mißvergnügen und Streitigkeiten gaben. Nicht zufällig findet das Wort „Polizei“ um die Wende zur Neuzeit Eingang in die deutsche Sprache26, das „vom 15. bis ins 17. jahrh. die regierung, verwaltung und ordnung, besonders eine art sittenaufsicht in staat und gemeinde und die darauf bezüglichen verordnungen und maszregeln, auch den staat selbst, sowie die staatskunst, politik“ bezeichnet.27 Der Buchdruck hatte es ermöglicht, Rechtstexte öffentlich zugänglich zu machen. Auch wenn die deutschen Länder erst im 19. Jahrhundert zur förmlichen Bekanntgabe der Gesetze übergingen, ließen sie bald jedes neue Gesetz drucken. Die Goldene Bulle war schon im 15. Jahrhundert vielfach gedruckt worden. Der Druck (1477) des Mainzer Reichslandfriedens vom August 1235 hatte auf die bereits im Gang befindliche Landfriedensdiskussion reagiert und ihr zusätzlich Auftrieb gegeben.28 Der „ewige“ Landfriede und die Reichskammergerichtsordnung erschienen sofort im Buchhandel. Die Reichsnotarordnung Maximilians I., die peinliche Halsgerichtsordnung Karls V. und die Reichspolizeiordnung29 sollten von vorneherein gedruckt werden, und auch ohne ausdrückliche Regelung ließen die Territorien ihre zahlreichen Konstitutionen, Rechtsreformationen, Landrechte und Polizeiordnungen drucken. Vermutlich kam die umfangreiche Gesetzgebung ab 1500 überhaupt durch den Buchdruck in Gang. Das geschriebene Recht wurde zum gedruckten Recht und erlangte in dieser Form seinen prinzipiellen Vorrang. Die Verbreitung des corpus iuris Justinians durch den Buchdruck hat weit mehr zur Durchsetzung des kanonischen Prozesses und zur Rezeption des römischen Rechts in Deutschland beigetragen, als die Eidesformel und die gelehrte Bildung der Reichskammergerichtsassessoren, zumal auch die Klag- und Laienspiegel, die auf es verwiesen, im Druck schnell ein breites Publikum erreichten,. Auch die Wissenschaften sollte der Buchdruck grundlegend verwandeln. Konnten die gelehrten Auseinandersetzungen bis dahin nur mündlich oder handschriftlich geführt werden, verlagerten sie sich plötzlich in gedruckte Dissertationen, Disputationen und Monographien, sie wurden damit auf dem offenen Markt vor einer tendenziell unbegrenzten Öffentlichkeit ausgetragen. Lehrbücher began26 Es erscheint z. B. 1476 in einer Verordnung des Fürstbischofs von Würzburg und 1530, 1548 und 1577 in den Reichpolizeiordnungen. 27 Deutsches Wörterbuch von Jakob und Wilhem Grimm, Bd. 13, Sp. 1981. 28 Buschmann (Fußn.10) S. 80, 105. Zu den frühen Drucken der Goldenen Bulle s. a. Timo Holzborn Die Geschichte der Gesetzespublikation: insbesondere von den Anfängen des Buchdrucks um 1450 bis zur Einführung von Gesetzesblättern im 19. Jahrhundert. Berlin 2003 S. 36. 29 Timo Holzborn (Fußn. 28) S. 38; Wilhelm Ebel, Geschichte der Gesetzgebung in Deutschland, Um Nachträge erweiterter Neudruck der 2. Auflage 1958, (= Göttinger Rechtswissenschaftliche Studien 24), Göttingen 1988, S. 60 – 68.
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nen die Vorlesungen zu ersetzen oder zu begleiten. Das hatte Folgen für die Wissenschaftsgeschichte. Kann sie die Gegenstände und Ergebnisse von Wissenschaft und Lehre für die Zeit zuvor nur mühsam aus einzelnen zufällig erhaltenen Handschriften rekonstruieren, sind sie seither leichter und in reicherem Umfang zugänglich. Darum sind sie aber nicht unbedingt neu. Für die Bücherwissenschaft Jurisprudenz gilt das in besonderem Maße.30 Zu Recht hat man bemerkt:31 „So lang man der Hilfe der Buschdruckerkunst […] entbehrte, konnte zweckmäßige Bearbeitung des allgemeinen Staats- und Völkerrechts kaum erfolgen.“ Da die Universitäten des Reichs zu Beginn des 16. Jahrhunderts aber in eine Krise gerieten und zeitweilig fast ganz verstummten,32 fingen sie allerdings nur „allmählich an, das teutsche Staatsrecht zu cultvieren“33, im katholischen Deutschland wegen der Zurückhaltung der Jesuiten gegenüber der Jurisprudenz noch stärker verzögert. Die Reformation hatte Kaiser und Landesobrigkeiten zusätzlich herausgefordert. Die Fürsten, Herren und Städte in den betroffenen Räumen standen vor der Entscheidung, sich ihren Untertanen anzuschließen und der neuen Kirche eine Ordnung zu geben oder die alte Kirche zu schützen. Die Probleme schwappten über die Grenzen der Territorien, es kam zu Streitigkeiten um kirchliche Besitz- und Hoheitsrechte vor dem Reichskammergericht,34 das mit seinen Entscheidungen allerdings keinen Frieden herstellen konnte, bis schließlich eine grundsätzliche Neuordnung durch den Augsburger Religionsfrieden und den Westfälischen Frieden folgte. Das Reichskammergericht wurde auch gegen die ausgedehnten polizeilichen Maßnahmen der Landesobrigkeiten in Anspruch genommen und mit Versuchen des Kaisers konfrontiert, seinen Entscheidungen und ihrer Durchsetzung unter Beru30 Vgl. die Literaturübersicht von Karl Friedrich Häberlin Handbuch des Deutschen Staatsrechts Erster Band. Zweyter Band. Frankfurt und Leipzig 1794; Dritter und lezter Band. Bamberg. Tobias Goebhardt, sel. Wittwe 1797. Bd. 1 S. 15 – 36. 31 Johann Ludwig Klüber, Oeffentliches Recht des teutschen Bundes und der Bundesstaaten, Frankfurt a. M. 1817, 3. Aufl. 1833 S. 18. 32 Vgl. Peter Krause Rechtswissenschaften in Trier. Die Geschichte der juristischen Fakultät von 1473 bis 1798. Köln u. a. 2007, S. 113; ders., Zu den Lektoralpräbenden der alten Universität Trier. In: Kurtrierisches Jahrbuch 47. Jahrgang 2007, S. 309 – 344. 33 Häberlin (Fußn. 30) Erster Band, S. 14. 34 Der Reichsabschied vom 1530 hatte in § 6 das Recht der Katholischen Kirche und deren Korporationen bestätigt, die Restitution entzogenen Kirchenguts zu fordern, auch wenn es im Zuge der Reformation von den evangelischen Gemeinden und Landesherrn umgewidmet worden war, und in § 59 die Reformation zum Landfriedensbruch erklärt. Das Reichskammergericht gab den Restitutionsansprüchen statt. Der Friede wurde 1555 in Augsburg politisch hergestellt. Doch hatte auch der Augsburger Religionsfriede Fragen offengelassen, die sofort zu neuen Prozessen führten. Wieder brachten die Entscheidungen des Reichskammergerichts nicht das Ende der Streitigkeiten, es wurde Revision eingelegt, der im Wege der Visitation nicht abgeholfen werden konnte, die Prozesse wurden erst nach dem dreißigjährigen Krieg abgeschlossen. Vgl. dazu Dietrich Kratsch, Justiz, Religion, Politik: das Reichskammergericht und die Klosterprozesse im ausgehenden sechzehnten Jahrhundert. Tübingen 1990, S. 26, 33 m. zahlr. Nachw.
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fung auf seine Machtvollkommenheit entgegenzutreten.35 Ohne ein Sonderrecht für Träger der Polizeigewalt zu erwägen, prüfte es, zunächst auf italienische Autoren gestützt,36 ob und unter welchen Voraussetzungen die Landesherren Rechte von Privaten aufheben, Konzessionen auf Kosten eines bestehenden Privilegs erteilen, und Anordnungen erlassen können, die vom ius divinum, ius naturale, ius civile oder ius gentium abwichen.37 Zudem setzte es sich mit der Zulässigkeit und Wirksamkeit kaiserlichen Gerichtsstands- und Exemtionsprivilegien auseinander. Grundsätzlich verlangte es für jeden Eingriff in bestehende Rechte, auch wenn er ex plenitudine potestatis oder unter Berufung auf die Polizeigewalt erfolgten, einen zureichenden Grund des gemeinen Wohls. Die Entscheidungen fanden schnell allgemeine Anerkennung und seine Erwägungen, welche seine Mitglieder im Druck verbreiteten, Beachtung weit über den einzelnen Fall hinaus.38 Nach der Mitte des Jahrhunderts begannen die Reaktionen in den Juristenfakultäten. Der Marburger Professor für römisches Recht Nicolaus Vigelius (1529 – 1600) legte im Jahr 1568 das erste Lehrbuch des ius publicum vor,39 es mochte sich noch weitgehend damit begnügen, „aus dem Corpus Iuris alles herauszugreifen und geordnet zusammenzustellen, was er nach der Definition Ulpians als zum ius publicum gehörend ansah“.40 Doch einige Jahre später räumte er in einer Übersicht über die Rechtsprechung den Erwägungen des Reichskammergerichts zum ius publicum bereits einen prominenten Platz ein.41 Zwar mußte er 1594 seine Professur nach einem Streit mit seinem Kollegen Hermann Vultejus (1565 – 1634) aufgeben, doch waren damit die Bemühungen um das ius publicum in Marburg nicht beendet. In den Vorlesungen und Disputation zum corpus iuris waren die dort aufgeführten Rechtsquellen (leges centuriatae, plebiscita, senatus consulta, principum placita und responsa prudentium) vorzustellen, angesichts der vielen Reformgesetze drängte sich die Frage auf, wer gegenwärtig als princeps zur Gesetzgebung befugt sei, wie er unter den veränderten Umständen dabei zu verfahren habe, insbesondere ob er der Zustimmung der Stände bedurfte und welche Grenzen ihm gesetzt waren. Durch die Erwägungen des Reichskammergerichts zusätzlich sti35 Daran war die universitäre Rechtslehre kaum beteiligt, nur einige Professoren wirkten – wie der Freiburger Rechtslehrer Ulrich Zasius – durch Gutachten mit. Erwin (Fußn. 7) S. 104 mit w. Nachw. 36 Vgl. Erwin (Fußn. 7) S. 112 ff. und seine Nachw. 37 Holger Erwin S. 107, 109. 38 U. a. Mynsinger von Frundeck und Andreas Gail. s. die Nachw. bei Erwin (Fußn. 7) S. 107 bis 110); vgl. Häberlin Bd. 1 S. 15. 39 Institutiones iuris publici Basel 1568, 1572, 1604. Pütter, Litteratur des teutschen Staatsrechts 1. Teil 1776 S. 151, vermutet zu Unrecht, sie seien in den ersten Teil seiner Methodus universi juris civilis absolutissima: in partes septem distribuata Basel 1565, 1576, 1580, 1586, 1601, 1609, 1616, 1628 eingegangen. 40 Martin Bullinger, Öffentliches Recht und Privatrecht, 1968, S. 17. 41 Nicolaus Vigelius, Methodus observationum camerae imperialis 1588, Lib. Prim. de legibus, magistratibus,& iudiciis publicis.
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muliert, machten Andreas Schepsius und Philipp Matthaeus 1596 in Marburg die schon seit dem 12. Jahrhundert im römischen Recht diskutierte „Quaestio, an princeps legibus solutus“ erstmals zum Gegenstand einer gedruckten Disputation, über ihre innovative Natur läßt sich wenig sagen. Auch Vultejus hatte als Professor des römischen Rechts bei Kommentierung der Institutionen auf die Gesetzgebungskompetenz des Kaisers einzugehen. Doch nahm er in seinem gedruckten Institutionenkommentar42 ausdrücklich Bezug auf Gail und dessen Berichte über das Reichskammergericht. Zudem führte er – Jahre vor Conring und Chemnitz – unter Rückgriff auf die Reichsgeschichte und mittelalterliche Zeugnisse den Beweis, daß die potestas absoluta des römischen Kaisers nicht auf die Kaiser des Heiligen römischen Reichs übergegangen war.43 Die Formeln des römischen Gesetzbuches über die plenititudo potestatis legibus solutae seien bloße Rechtsaltertümer, aus denen sich kein Schluß auf die gegenwärtige Verfassungsordnung ziehen, insbesondere keine unbegrenzte Rechtsetzungs- und Machtbefugnis des Kaisers herleiten lasse. Sein Fakultätskollege Gottfried Antonius (1571 – 1618) trat dem nach seinem Wechsel an die Nachbaruniversität Gießen mit äußerster Schärfe – namentlich aus konfessionspolitischen Gründen – entgegen,44 doch Vultejus und seine Schüler schlugen zurück.45 Sie waren offenbar erfolgreich, denn Antonius konnte nur seinen kurzzeitigen Fakultätskollegen Dietrich Reinking auf seine Seite ziehen, im Übrigen war sich die deutsche universitäre Rechtsgelehrsamkeit einig, daß die Herrschaftsordnung des Reichs nicht durch das ius publicum des corpus iuris bestimmt wurde,46 sondern durch ein Recht, das außerhalb des corpus iuris zu suchen,47 aber darum noch kein Sonderrecht für Träger öffentlicher Gewalt war. Dennoch fand sich für es bald ein Name. 1614 brachte der Kammerregistrator und Konsistorialsekretär Conrad Biermann in Hanau eine mehrbändige Sammlung wissenschaftlicher Monographien (Dissertationes Historico-Iuridico-Politicae)48 unter dem Titel S. Imperii Romani Ius Publicum. Hoc Est De Romani Imperatoris Electione, Vicaria Imperii Administratione, Principum Electorum sessione, suc42 Hermann Vultejus, Institutiones iuris civilis a Iustiniano compositas commentarius, Marburg 1598, 1600, 1605 etc. S. 24 ff. 43 Christoph Strohm, Calvinismus und Recht: weltanschaulich-konfessionelle Aspekte im Werk reformierter Juristen in der Frühen Neuzeit. Tübingen 2008, S. 321. 44 Vgl. insbesondere Gottfried Antonius, Disputatio apologetica de potestate Imperatoris legibus soluta, et hodierno Imperii statu […] adversus Hermannum Vultejum. Gießen 1608. 45 Christoph Strohm (Fußn. 43) S. 429 f. mit weiteren Hinweisen. vgl. ders., Calvinistische Juristen. In: Irene Dingel/Herman J. Selderhuis Hrsg.) Calvin und Calvinismus: Europaische Perspektiven. Göttingen 2011, S. 297 ff. (305). 46 Heinz Mohnhaupt, Römisch-rechtliche Einflüsse im „ius publicum“ / „öffentlichen Recht“ des 18 und 19. Jahrhunderts in Deutschland, in: Historische Vergleichung, a.a.O. (Fußn. 1) S. 123 – 149 (132). Die intentio fundata (vgl. Daniel, S. 187) sprach nicht für seine Heranziehung. 47 Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, 1. Bd., Reichspublizistik und Policeywissenschaft 1600 – 1800, 1988, Bd. 1, S. 336. 48 Soweit zu sehen erstmals.
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cessione, tutela, privilegiis, &c. De S. Caesareae Maiestatis, Camerae, Potentissimorum Imperii principum & Ordinum, aliorumque Magistratuum Iurisdictione. De Constitutionibus Imp. Praecipuis. De Contributionibus Imp. Modernis. Omnibus materiis, in Theoria, in praxi, in statu quovis, seculo nostro frequentissimis. heraus.49 Das ius publicum imperii sacri begriff nach dem Untertitel die Goldene Bulle, die Reichskammergerichtsordnung, die Gerichtsordnungen der Territorien, sowie die Regelungen über Reichsabgaben in sich. Vom Staatskirchenrecht, insbesondere dem Augsburger Religionsfrieden, sowie von den Schranken, die das Reichskammergericht der Machtvollkommenheit gesetzt hatte, war noch keine Rede. Auch ließen sich die Überlegungen des ehemaligen Professors der Institutionen in Heidelberg Andreas Knichen50, der 1600 den Bezug der Herrschaft auf ein Territorium herausgefunden und die Landesobrigkeit als eine auf ein Gebiet des Reiches bezogene teilselbständige Herrschaft beschrieben hatte, nicht unter das ius publicum imperii verorten. Auch konnte sich der Name ius publicum imperii sacri nicht sofort durchsetzen. Der Jenaer Professor der Geschichte und Poesie Dr. Quirinus Cubach (1589 – 1624), der 1617 unter dem Einfluß von Arumaeus die Goldene Bulle und das nachreformatorische (Staats-)Kirchenrecht behandelte,51 kannte ihn offenbar noch nicht und war auch nicht bereit, die Verbindung zum überkommenen ius publicum zu kappen. Denn nach der Rüge, Lehre und Studium hätten zu viel Gewicht auf die iuris privati materias gelegt und darüber das ius publicum vernachlässigt, antwortete er auf die Frage „Quod est ius publicum?“ noch mit Ulpian und Papinian: „Propie & stricte est, quod ad statum rei Romanae spectat hoc est Reipub.“ und: „Impropie vero & late & illa sunt juris publici, quae ob modum a lege praefinitum (ut qui omnino servandus nec per aequipollens adimpletur) non sunt in privatorum arbitrio; statum tamen Reipubl. nihil attingunt: quomodo videtur accipi in illo Papiniani ius publicum privatorum pactis mutari non potest, privatorum conventio juri publico non derogat, & alterum.“ Der seit 1619 in Trier als Professor der Pandekten tätige August Vischer (*1695, † nach 1674 ?52), der Cubach von seinem Studium in Jena gut kannte, wiederholte in der Zueignung einer seiner Arbeiten über die Goldene Bulle an die drei geistlichen Kurfürsten nur den Vorwurf, das ius publicum, dem er sich mit besonderer Anstrengung gewidmet habe,53 sei bisher kaum oder nur un49
Hanau 1614 bis 1618, 2. Aufl. 1620 – 1633. Andreas Knichen, De sublimi et regio territorii iure synoptica tractatio, in qua principum Germaniae regalia territorio subnixa, vulgo Landes Obrigkeit indigata, nusquam antehac luculenter explicantur Frankfurt 1600 (zahlr. Aufl.); dazu Schulze (Fußn. 13), S. 53; Dieter Willoweit, Rechtsgrundlagen der Territorialgewalt, Köln 1975, S. 122 – 127. 51 Iurisprudentiae germano publicae, hoc est constitutionum imperii sc. constitutionis religiosae, aureae bullae, ordinationis camerae, politicae, constit. de pace publ. de arestis L. diffamari etc. nude compendiose et methodice comprehensarum liber I 8. Halle 1617. Vgl. zu ihm Stolleis (Fußn. 47), S. 142. 52 Wenn er das Kayserlich Allergnädigste Rescriptum vom 28. Oct. 1674 noch herausgab. 53 Delineationum historico-politico-iuridicarum Pars Prior De Duello Proviso mit Ortholph Fomann, Ienae: Beithmannnus 1616; Tractatus duo juris duellici universi: quorum prior des 50
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genügend behandelt worden, obwohl seine Kenntnis für alle Rechtsgelehrten unverzichtbar sei, die den Dienst im Reich, bei Fürsten und Kommunen anstrebten.54 duello proviso, posterior de duello improviso, Ienae: Beithmann 1617, 20 + 712 Seiten; Gratulationsgedicht in: Oswald Hilliger (Praes.), Johannes Stoll (Resp.) Disputatio De Judices in Theses conjecta, Ienae: Beithmann 1617; Gratulationsgedicht in: Valentin Melasius, Personas tum quibus tum contra quas iuramentum praestetur, Ienae: Beithmann 1618; Resp. zu Dominicus Arumaeus, Discursus tertius ad Aureae Bullae Caroli Quarti Rom. Imp. Leges Imperii Fundamentales: Authoritate Maiorum Publico disputantium examini, & omnium publici iuris Indagatorum censurae Expositus, Ienae: Steinmann 1617; Resp. (mit Rudinger, Persaeus, Scheffer, Deien, Jacobi) zu Dominicus Arumaeus, Discursus accademici ad auream bullam Caroli quarti Romanorum imperatoris etc.: in quibus de conductu electoralibus praestando, Romanorum regis electione, sessione electorum, regis Bohemiae aliorumque electorum Privilegiis, regalibus, comitiis, confoederationibus, pfalburgeriis, diffidationibus unione principatuum electorum, et intergrate eorundem servanda, officiis electorum, et juribus officialium, aliisque materiis ad juris publici elucidationem pertinentibus tractatur, ed. 2. priore corr. et auct., Ienae 1619, 373 Seiten. Nach seiner Aufnahme in die Trierer Juristenfakultät erschienen: außer dem Diskurs über die Goldene Bulle: De conservatione familiarum per foedera et confoederationes, Luxemburg: Zech (Reulandt), 1620; De modis feudum constituendi & constitutum adquirendi, Trier: Immendorff 1621; Dissertatio politica iuridica de his quibus Regalia competunt quibus item modis Regalia aquiruntur et amittentur Trier: Immendorff 1621; Disputatio Canonica de Electione, eiusque Solemnitatibus, Trier: Immendorff 1623 (Respondent Johann Gottfried Hack); Iustitia extructionis Idumeae. Das ist, Deß Ersten Udenheimischen Wall: nunmehr Philippsburgischen Vestung Bawes; Oder wohlgegründte Confutation und Widerlegung eines nach vorgenommener Landfriedtbrüchigen demolition besagten Wallbaws, under dem Titul, Kurtze und gegründete Außführung, [&]c. außgegangenen und spargirten famôs scripti: Sampt darzu gehörigen Beylagen, verfertigt durch Augustum Fischerum I. V. D. Professorem publicum … Frankfurt Weiß 1625; Tractatus succinctus et exactus de electione regis sive imperatoris Romanorum ejusque requisitis et solemnitatibus ad aureae bullae Caroli IV. Romani Imperatoris legem Imperii fundamentalem, methodice conscriptus ab Augusto Vischero Dresda-Misnico, Jurisconsulto & in inclyta quondam [aus der Universität ausgeschieden]Treverorum Universitate Professore, Parisiis Moreau 1633; Aurea bulla Caroli IV. Romani Imperatoris unacum commentario methodico de electione regis et imperatoris Romanorum, eiuusque Solemnitatibus Trier: Immendorf 1636; Kayserlich Allergnädigstes Rescriptum An Dero Höchstansehentl. Käys. Commission zu Regensburg de dato 28. Oct. Anno 1674 wegen Schleuniger Anmarschirung der Reichsund Creiß-Völckern gegen den Festung Philippsburg, und würcklicher Blocquirung selbigen Platzes: Dictirt in der Reichsdictatur den 19/29, Octob. 4 Bl. 54 Discursus Historico-Politico-Iuridicus de Electione Regis et Imperatoris Romanorum Eiusque Solemnitatibus Ad Aureae Bullae Caroli IV. Romani Imperatoris Leges Imperii fundamentales methodice conscriptus et […] expositus ab Augusto Vischero Dresda-Misnico Iureconsulto & in incluta Trevirorum Universitate Professore Pandectarum Publico, Luxemburg: Zech (Reulandt), 1620, 4 + 128 Seiten (den Kurfürst-Erzbischöfen gewidmet); mit gleichem Titel und gleicher Seitenzahl: Frankfurt Zunnerus 1645. Dazu auch Stolleis, (Fußn. 47) S. 142, der auf ganz ähnliche Äußerungen von Ortolf Fomann (De Jure privilegiis Comitum Palatinorum Caesareorum, in: Arumaeus Discusus III Theil I h.) und von Georg Brautlacht (Epitome Jvrisprudentiae Publicae universae Eivsdem Methodum, Materiarum Sub Eadem Contentarum Dispositionem, Definitiones, Divisiones, &c. [prout pleniùs aliquantò pertractandae sunt] breviter & nervosè exhibens Conscripta & praemissa à Georgio Braudlacht Westph. Erfurdiae 1622). Fomann (* Schleusingen 23. 1. 1560, † Jena 19. 5. 1634) war noch vor Arumaeus Professor der Rechte und Hofgerichtsassessor in Jena geworden und Brautlacht las dort zeitweilig.
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Doch hätten beide Unsinn geredet, wenn das Reichsstaatsrecht in den ersten Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts bereits an allen deutschen Universitäten etabliert gewesen wäre.55 Da es an den Juristenfakultäten keine Lehrstühle für das ius publicum imperii sacri gab, hing es allein von dem persönlichen Interesse der für andere Rechtsgebiete zuständigen Professoren ab, inwieweit sie sich auch der Pflege des ius publicum zuwandten oder ihm wenigstens im Rahmen ihrer Vorlesungen und Schriften zum römischen Recht besonderes Augenmerk schenkten. Das überforderte die Juristenfakultäten offenbar, denn mit dem Reichsstaatsrecht war es nach kurzer Blüte, die nur einige Universitäten erfaßte, noch während des Dreißigjährigen Krieges, der die Universitäten erneut in eine Krise geraten ließ, wieder zu Ende. Der Pandektenprofesssor Dominicus Arumaeus (1579 – 1637) hatte in Jena zwar mehrere Schüler und Kollegen dafür gewonnen, mit ihm ab 1615 in Discursus academici de iure publico einzutreten, welche die Reichsgrundgesetze zum Gegenstand hatten, vom ius publicum imperii sacri sprach er aber auch nicht und mit seinem Tod war es in Jena mit dem Reichsstaatsrecht vorbei. An andere Universitäten, an die seine Schüler das ius publicum mitgebracht hatten kam es zum Erliegen, als sie ausschieden, so in Trier, als der erwähnte August Vischer um 1633 in die Dienste des Kurfürsten Philipp von Soetern56 trat, wie in Gießen und Rinteln.57 Der von 1621 bis 1636 in Straßburg als Professor der Institutionen und Geschichte tätige Joachim Cluten konnte die Lehre des Staatsrechts dort ebensowenig fest etablieren, wie der Pandektenprofessor Matthias Stephani (1576 – 1646) in Greifswald, wo er im Jahr 1624 einen zweibändigen Discursus academici ex iure publico tam ecclesiastico quam seculari vorgelegt hatte. Christoph Besold (1577 – 1638), der seine grundlegenden Werke zur Politik als Pandektenprofessor in Tübingen verfaßte, soll zwar 1636 in Ingolstadt Professor für den Kodex und das „öffentliche Recht“ [?] gewesen sein, doch fand er weder hier noch dort einen Nachfolger58. 55 So aber Horst Dreitzel, Protestantischer Aristotelismus und Absoluter Staat. Die ,Politica‘ des Henning Arnisaeus (ca. 1575 – 1636), Wiesbaden, 1970, S. 97, 157 f., 412. 56 Vgl. Michael Franz Joseph Müller, Trierer Gelehrte, in: Trierische Kronik 1824, S. 151 f.; Johann Nikolaus von Hontheim: Historia Trevirensis diplomatica et pragmatica inde a translata Treveri prafectura praetorio Galliarum ad haec usque tempora […] 3 Bde. Augustae Vindelicorum et Herbipoli 1750, Bd. III pag. 421 b. 57 Reinhard König (1583 – 1658), der auch in Jena studiert und 1620 von dort nach Gießen gegangen war. 1618 hatte bereits eine Disputation unter ihm in Jena stattgefunden: Dissertatio Politica De Oeconomia Principis, Sive De Aulae Constitutione, Jenae : Beithmann, 1618. In Gießen hat zwar Gottfried Antonius der erste Inhaber der Kodexprofessur, die 1607 bei Gründung der Universität errichtet wurde, Vorlesungen zum Lehnrecht und zur Goldene Bulle gehalten und darüber publiziert, einen Lehrstuhl für das ius publicum hatte Gießen aber damit noch nicht. 58 Karl Härter, Ius publicum und Reichsrecht in den juristischen Dissertationen mitteleuropäischer Universitäten der Frühen Neuzeit, in: Jacques Krynen / Michael Stolleis (Hrsg.), Science politique et droit public dans les facultés de droit européennes (XIII–XVIII siècle). Frankfurt 2008 S. 485 – 528 (S. 507).
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Die Six Livres de la République59 Jean Bodins60 hatten in der lateinischen Fassung in Deutschland große Aufmerksamkeit gefunden,61 zwischen 1591 und 1641 wurden sie in Frankfurt a. M. nicht weniger als sechsmal gedruckt. Dennoch konnte sich im Heiligen römischen Reich die Idee der Souveränität des Staates über das Recht nie durchsetzen, vielmehr hielt man wenigstens in der Rechtslehre durchgängig daran fest, daß die Herrschaft dem Recht zu dienen hatte und ihm unterworfen blieb. Das prinzipielle Nachdenken darüber, wie der Staat und seine rechtlichen Ordnung beschaffen sein sollte, hatte seinen Platz außerhalb der Juristenfakultäten bei den Philosophen, die im Rahmen der philosophia practica nach der „rechten“ Politik fragten. Die Auseinandersetzung mit der Souveränitätslehre Bodins übernahmen denn auch vornehmlich Philosophen wie Arnold Clapmarius, der auf dem Gymnasium in Altdorf lehrte, als dort noch keine Juristenfakultät bestand,62 oder Mediziner und Historiker. Rechtsgelehrte beteiligten sich häufig nur, weil sie ihren Platz außerhalb der Universität hatten. Henning Arnisaeus erklärte z. B. 1610 als Philosophieprofessor in Frankfurt a. d. O. (De jure majestatis libri tres) den Kaiser für souverän und meinte als Mediziner in Helmstedt 1615 (De republica seu relectionis politicae), das Reich habe eine gemischte Verfassung. Das Echo der methodisch arbeitenden Jurisprudenz blieb zunächst gering. Offensichtlich konnte sie mit der Behauptung einer unabhängigen, unbeschränkten, alleinigen und unteilbaren Gewalt, die sich über alle und jeden einzelnen Untertanen erhob, endgültig über alle Rechtsstreitigkeiten, die Begnadigung, die Bestellung und Abberufung der Beamten, die Besteuerung, das Münzrecht und Krieg und Frieden entschied und sich auch gegen die Kirche behauptete, wenig anfangen. Es mußte ihr befremdlich erscheinen, den König von Frankreich zum Souverän zu erklären, der am Ende des 18. Jahrhunderts keine hinreichende tatsächliche oder rechtliche Macht besaß,63 doch wußte sie seit Vultejus und Knichen, daß im Heiligen römischen Reich weder der Kaiser noch eine Vereinigung von Kaiser mit den Reichsfürsten (und Städten) noch die einzelnen Territorialherrschaften auf ihrem Gebiet eine Souveränität durchsetzen konnten. Viele der Schriften, die sich seit der Wende zum 17. Jahrhundert mit der Herrschaftsstruktur des Reichs und dem Reichsstaatsrecht auseinandersetzten, galten
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Six livres de la république 1576; De re publica libri sex 1586. Rudolf Hoke, Bodins Einfluss auf die Anfänge der Dogmatik des deutschen Reichsstaatsrechts. In: Horst Denzer: Verhandlungen der internationalen Bodin Tagung. München 1973. (Münchener Studien zur Politik. Band 18) S. 315 ff. 61 Zur Rezeption Bodins s. Utz Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, Tübingen 2004. S. 80. 62 Wolfgang Mährle, Academia Norica: Wissenschaft und Bildung an der Nürnberger Hohen Schule in Altdorf (1575 – 1623) Stuttgart 2000, S. 333 f. 63 Bekanntlich sollte ihm das, durch Richelieu und Mazarin gestützt, zeitweilig fast gelingen, auch wenn er sich spätestens 1789 als unfähig erwies, eine neue Ordnung der Staatsfinanzen durchzusetzen. 60
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jedenfalls nicht dem geltenden ius publicum64. Der Reichpublizistik ging es im Dreißigjährigen Krieg vornehmlich darum, das Reichsstaatsrecht im Sinne eine Konfession, einer Kriegspartei, eines Fürsten oder der – lutherischen, reformierten oder katholischen – Fürsten oder des Kaisers auszulegen, umzudeuten oder abzuändern. Ihre prominenten Vertreter – Johannes Limnäus, der das Problem der Souveränität durch die Unterscheidung von realer und personaler Majestät zu erledigen suchte, Bogislaw Philipp Chemnitz (Hippolithus a Lapide), der das Reich zu einer Aristokratie erklärte, oder Dietrich Reinking65, der dem Kaiser mit zäher Beharrlichkeit eine unbeschränkte Macht zusprach und sich erst nach 1648 davon abwandte – waren keine Professoren, sondern standen im Fürstendienst. Johann Stephan Pütter erkannte zwar, daß ihre Polemik mit dem Frieden von Münster und Osnabrück sinnlos geworden war, war aber doch der Meinung, Chemnitz habe durch den Beweis, daß die Verfassung des damaligen Heiligen römischen Reichs nicht mehr der des römischen Imperium zur Zeit Justinians entsprach, auf die Verhandlungen in Münster und Osnabrück eingewirkt.66 Von Vultejus ganz abgesehen, der Conring und Chemnitz um Jahre voraus gewesen war, maß er den Streitschriften damit jedoch einen übermäßigen Einfluß auf den Friedensprozeß zu. Keiner der am Frieden von Münster und Osnabrück Beteiligten wollte die bisher geltende Verfassung bewahren, jeder wollte vielmehr, daß das Reich eine Verfassung erhielt oder behielt, die seinen politischen Präferenzen entsprach und suchte das durchzusetzen. Selbst Pütter wußte genau, daß es unter anderen Konstellationen 1635 beinahe zu einem ganz anderen Frieden und einer anderen Verfassungsordnung gekommen wäre. Das Reichsstaatsrecht nach dem Westfälischen Frieden Durch den Westfälischen Frieden war das Imperium Romano-Germanicum zu einem ein durch ausdrückliche Regelungen und – verfestigtes Gewohnheitsrecht – konstituiertem Verfassungsgebilde geworden.67 Das instrumentum pacis hatte das nicht allein durch seine ausdrücklichen staatsrechtlichen Regelungen, sondern durch die Verfestigung des Reichsherkommens erreicht. Die Befugnisse des Kaisers waren seither klar begrenzt, die obrigkeitliche Gewalt war vom Reich weitgehend auf die Territorialherrschaften übergegangen. Doch obwohl ihnen auf ihren Gebieten die Landeshoheit (souveraineté) zukam, blieben sie bis zur Auflösung des
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Stolleis (Fußn. 47), S. 111 ff. Einzig Reinking war ein halbes Jahr als Nichtordinarius an einer Juristenfakultät tätig gewesen. 66 Pütter, Staatsverfassung (Fußn. 25) S. 41 ff. Pütter, Litteratur Bd. 1 (Fußn. 43), S. 207. 67 Krause, Die Auswirkungen des westfälischen Friedens (Fußn. 21), S. 14 ff. 65
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Reichs in dieses eingebunden und vor allem – sämtlich68 – der Reichgerichtsbarkeit unterworfen. Nun wurden an den Universitäten des Reichs, aber auch der endgültig verselbständigten Schweiz und der Generalstaaten, zunehmend eigene Lehrstühle des (Reichs-)Staatsrechts eingerichtet, der Prozeß war freilich am Ende 18. Jahrhunderts noch nicht abgeschlossen. Im Einzelnen ist vieles ungewiß, so bedarf es noch sorgfältiger Prüfung, ob an den Juristenfakultäten in Altdorf 1643, in Freiburg und in Kiel 1665, in Innsbruck 1671, in Tübingen 1681, in Jena und Helmstedt ab Mitte der achtziger Jahre des 17. Jahrhunderts wirklich dauerhaft eine Professur für das ius publicum entstand.69 Verschiedentlich hatte man nur einen traditionellen Lehrstuhl auch die Vertretung Reichsstaatsrecht übertragen, wie es vielleicht schon 1636 kurzfristig in Ingolstadt geschehen war. In Freiburg war Johann Georg Kieffer ab 1660 ordentlicher Professor S.S. Canonum et iuris publici,70 doch nach seinem Abgang war es damit wieder zu Ende. Verwechslungen liegen nahe. Samuel Pufendorf wurde z. B. als Magister der Philosophie 1661 an die philosophische Fakultät Heidelberg berufen, um das Natur- und Völkerrecht zu vertreten. In dieser Eigenschaft verfaßte er unter dem Pseudonym Severinus von Monzambano71 das erste umfassende Werk über den Zustand des Imperium Germanicum nach dem Dreißigjährigen Krieg. Später wurde er bei den Artisten Ordinarius, gelangte aber nie an die Juristenfakultät. Da sein Nachfolger (seit 1671) Heinrich Cocceji, der die erste selbständige systematische Darstellung des Staatsrechts vorlegen sollte,72 in Heidelberg nicht Professor der Rechte war, bleibt es zweifelhaft, ob die dortige Juristenfakultät wirklich 1673 ein Ordinariat für das „Verfassungsrecht“ erhalten hat, ein Wort, das in der damaligen Zeit ganz ungebräuchlich war. Wissenschaftlichen Rang gewann das Reichsstaatsrecht erst im 18. Jahrhundert, als viele deutsche Juristenfakultäten Professuren des ius publicum imperii erhielten und das ius pu68 Kein privilegium de non apellando et non evocando beseitigte die Zuständigkeit des Reichskammerherichts für Rechtsstreitigkeitenen der Territorialherren und ihren Untertanen und wegen Rechtsschutzverweigerung. 69 Eckhart Pick, Mainzer Reichsstaatsrecht. Inhalt und Methode. Ein Beitrag zum ius publicum an der Universität Mainz im 18. Jahrhundert (Recht und Geschichte Bd. VII). Wiesbaden 1977, S. 96. So ist auch die These Picks (S. 96), daß Gottfried Ferdinand von Buckisch und Löwenfels 1698 für einen Monat (???) professor publicus historiarum, auch iuris publici et feudalis gewesen (S. 44 f.) ebenso problematisch wie seine Bemerkung Pe(e)tz und Lieb (S. 44 und S. 97 Anm. 38) hätten wohl einen Lehrstuhl des öffentlichen Rechts gehabt. Daß Johann Valentin Strauß 1719 in Mainz als Professor für Codex und ius publicum auftrat (Pick, S. 100 ff.), unterscheidet ihn jedenfalls nicht von Besold, dessen Codexprofessur in Ingolstadt nicht auf das ius publicum erstreckt ist (so Pick, S. 92 ff.), sondern der sich nur so benannte. 70 Alexander Hollerbach, Jurisprudenz in Freiburg. Beiträge zur Geschichte der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität. Tübingen 2007 S. 84 ff. 71 Severinus de Monzambano Veronensis, De statu imperii germanici ad Laelium fratrem, dominum Trezolani, liber unus, 1667. 72 Erich Döhring, „Cocceji, Heinrich von, Freiherr von“, in: Neue Deutsche Biographie 3 (1957), S. 300 f.; s. a. Heinrich Cocceji, Juris publici prudentia, Frankfurt/O. 1695, 4. Aufl. 1723.
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blicum universale lehrten, dem im Verhältnis zum ius publicum particulare die gleiche ergänzende und legitimierende Funktion zugemessen wurde, wie sie dem gemeinen Recht im Verhältnis zum partikularen Recht zukam.73 Zu einem Sonderrecht wurde es damit nicht. Das Recht der Polizei im Justizstaat des 18. Jahrhunderts Die Verheerungen und Verwüstungen des Dreißigjährigen Krieges, die mit ihm verbundene Entwurzelung und Verarmung, aber auch die folgende schnelle Blüte der Wirtschaft hatten die gute Ordnung des Gemeinwesens abermals ins Wanken gebracht. Die Obrigkeiten sahen sich erneut herausgefordert, sie durch den Erlaß von Polizeiordnungen und polizeiliche Einzelmaßnahmen aller Art wiederherzustellen. Das forderte Wissenschaft und Rechtsprechung zusätzlich heraus. Lehrstühle der Kameral- oder Polizeiwissenschaften, die Friedrich Wilhelm I. an den Juristenfakultäten in Frankfurt an der Oder und in Halle an der Saale 1737 errichtete, entwickelten nur technisch-praktische Regeln, die zeigten, welche polizeilichen Maßnahmen unter bestimmten Umständen zum Gemeinwohl dienlich waren. Über die rechtlichen Voraussetzungen und die rechtlichen Folgen ihres Einsatzes hatte jedoch die Rechtslehre zu entscheiden. Sie schützte, auf die vom Reichskammergericht seit dem 16. Jahrhundert entwickelten Prinzipien gestützt,74 die Rechte und Freiheiten der Untertanen auch gegen die unbegrenzte Polizeigewalt des aufkommenden Staates.75 Das Reichskammergericht hatte die Rechte und Freiheiten des einzelnen zwar hinter das „ius eminens“ des Staaates zurückgestellt.76 Doch waren dessen Voraussetzungen eng. Der Professor des römischen Rechts Heineccius77 resümierte, es komme nur in Fällen extremen Notstandes zum Tragen; Christian Wolff erkannte darin ein Prinzip des Naturrechts: „Jus eminens tum demum locum habet, quando eius usus est medium u n i c u m salutis publicae
73 Thomas Karst, Das Allgemeine Staatsrecht im Rahmen der Kronprinzenvorträge, Hamburg 2000; Robert Schelp, Das Allgemeine Staatsrecht – Staatsrecht der Aufklärung, Berlin 2001. 74 Christoph Link, Herrschaftsordnung und bürgerliche Freiheit. Grenzen der Staatsgewalt in der älteren deutschen Staatsrechtslehre, 1979. 75 Johann Ulrich von Cramer, Wetzlarische Nebenstunden, Ulm 1755, Bd. I S. 88; Johann Stephan Pütter, Beyträge zum Teutschen Staats– und Fürstenrecht, Bd. 1, Göttingen 1777: Von der Bestimmung, welche die Landeshoheit mit jeder anderen höchsten Gewalt auch darinn gemein hat, daß einem jeden sein wohlerworbenes eigenthümliches Recht zu lassen ist, S. 351 ff. (361); eindringlich Samuel de Cocceji, Introductio ad Henrici de Cocceii Grotium illustratum, Lausanne 1751: Civitas juris tuendi causa congregatus (Diss. XII, § 613, S. 555). 76 Ein Obereigenthum verneint Svarez ausdrücklich: Kronprinzenvorträge Fol. 169v. 77 Gottlieb Heineccius, Elementa iuris naturae et gentium Lib. II. 1738 cap. VIII § 171 S. 511: „quando id extrema reipublicae necessitas exigit“.
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in casu emergente promovendae.“78 Die Rechte der Einzelnen hatten dem „bonum commune“ nur zu weichen, wenn es das Gemeinwohl, die „salus publica“, dringend erforderte und „rationes idoneas“79 erkennen ließen, daß das abgeforderte Opfer nicht außer Verhältnis zu den erstrebten Vorteilen und der Wahrscheinlichkeit ihres Eintritt stand.80 War der Eingriff danach gerechtfertigt, hatte der Betroffene dem Prinzip der Lastengleichheit zufolge den Anspruch auf Ausgleich. Im Verlauf des 18. Jahrhunderts hatte das Reichskammergericht den Schutz auf die allgemeine Handlungsfreiheit erstreckt und die Eingriffe und soweit sie nicht vom Träger der Landeshoheit vorgenommen wurden, vom Vorliegen einer zureichenden gesetzlichen Grundlage abhängig gemacht. Das Prinzip, jeder Mensch könne im Rahmen der Gesetze tun und lassen, was er wolle, war spätestens seit der Mitte des Jahrhunderts in Deutschland Gemeingut geworden und wurde nicht mehr ernsthaft bestritten. Der große Gelehrte des Naturrechts und römischen Rechts und preußische Großkanzler Samuel Cocceji hatte 1749 unter dem Namen des preußischen Königs ein – bald in die französische und englische Sprache übersetztes – Landrechtsprojekt drucken lassen, in dem es lange vor Jean Jacques Rousseau apodiktisch hieß: „Dann alle Menschen werden von Natur frei geboren, und sind keines anderen Eigenthum und Dominio unterworfen.“81
Die Rechtsfolge war klar: „Der Erste Status Hominum, das ist, die erste Condition und Qualitaet, welche alle Menschen von Natur erlangen, ist der Status Libertatis, weil alle Menschen von Natur freye Leute, das ist, keines andern Herrschaft und Eigenthum unterworfen sind.
78 Christian von Wolff, Jus Naturae 1748 VIII § 116 S. 78; wörtlich gleichlautend in den Institutiones § 1065 S. 663 f. Sperrung von mir. 79 Wolfgang Rüfner, Verwaltungsrechtsschutz in Preußen 1749 – 1842. 1962, S. 33; HansUwe Erichsen, Verfassungs- und verwaltungsrechtsgeschichtliche Grundlagen der Lehre vom fehlerhaften belastenden Verwaltungsakt und seiner Aufhebung im Prozeß, Frankfurt 1971, S. 64. 80 Svarez hatte das in den Kronprinzenvorlesungen immer wieder postuliert. 81 Project des corporis juris fridericiani, das ist Sr. Königl. Majestät in Preussen in der Vernunft und Landes=Verfassungen gegründete Land=Recht worinn das Römische Recht in eine natürliche Ordnung und richtiges Systema, nach denen dreyen Objectis Juris gebracht: Die General-Principia, welche in der Vernunft gegründet sind, bei einem jeden Objecto festgesetzet, und die nöthigen Conclusiones, als so viel Gesetze, daraus deduciret: Alle Subtilitäten und Fictiones, nicht weniger was auf den Teutschen Statum nicht applicable ist, ausgelassen: Alle zweifelhafte Jura, welche in denen Römischen Gesetzen vorkommen, oder von denen Doctoribus gemacht worden, decidiret und solchergestalt Ein Jus certum und universale in allen Dero Provintzen statuiret wird. Zweyte Auflage. Halle In Verlegung des Wäisenhauses, Anno 1750, (1. Aufl. 1749). Pars I. Lib. I. Tit. IV. Von dem ersten Objecto der Gerechtigkeit, nämlich de Statu Hominum seu De Jure Personarum §. 9. Übergegangen in § 83 Einl. ALR : „Die allgemeinen Rechte des Menschen gründen sich auf die natürliche Freyheit, sein eignes Wohl, ohne Kränkung der Rechte eines Andern, suchen und befördern zu können.“
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Vermöge dieses Status haben alle Menschen, von der Natur selbst, eine Macht und Gewalt, nach Anleitung der Landes=Gesetze zu thun und zu lassen, was sie wollen82, das ist, sie können von ihren Actionen und Vermögen nach Gefallen disponiren.“
Noch vor 1789 hatte die deutsche Rechtslehre die natürliche Handlungsfreiheit in den Schutz der wohlerworbenen Rechte einbezogen. Die Freiheit sei der höchsten Gewalt nur unterworfen, hieß es bei Johann Stefan Pütter,83 „sofern es das gemeine Beste erfordert“. „Einschränkungen“ müßten alle „in verhältnismäßiger Gleichheit treffen“. „Solange es irgend möglich ist, den Zweck der gemeinen Wohlfahrt ohne, oder doch mit einer geringern Einschränkung der natürlichen Freyheit zu erhalten; so ist es unrecht, diese ohne Noth oder über die Gebühr einzuschränken.“ Auch die Reichsgerichte setzten die natürliche allgemeine Handlungsfreiheit, unterstützt durch die Idee des Staatsvertrages, dem ius quaesitum gleich.84 Sie prüften, ob die Landeshoheit „wohl“ gebraucht oder mißbraucht worden sei,85 und fragten dabei nicht nur danach, ob sie die natürliche Handlungsfreiheit ohne zureichendenden Grund beschränkt oder die ihr dafür gesetzten Grenzen überschritten habe,86 sondern wogen konkret die Rechts- und Freiheitsbeschränkung gegen die beabsichtigte Förderung des Gemeinwohls nach dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit ab: „Es ist eine Pflicht des Gesetzgebers, daß er niemandes Recht und natürliche Freyheit einschränke, wenn das gemeine Beste dadurch nicht befördert wird.“87 Wie zur Beschränkung oder Entziehung von Eigentumsrechten (iura quaesita) bedürfe die Obrigkeit zur Einschränkung der natürlichen, allgemeinen Freiheit der Grundlage in Gestalt eines zuvor bekanntgegebenen wohlabgewogenen Gesetzes.88 Trug das Gesetz dem nicht Rechnung, behandelten sie es als ungültig. Die Landesgerichte durften zwar kein Polizeigesetz als ungültig behandeln,89 82
Hervorhebung nicht im Original. Pütter, Staats- und Fürstenrecht (Fußn. 75), S. 354. 84 Rüfner (Fußn. 79), S. 38 ff., der insbesondere auf Cocceji, dessen Project eines allgemeinen Landrechts zu ergänzen ist, und auf Gottlieb Hufeland und damit auf Immanuel Kant hinweist. 85 Rüfner (Fußn. 79), S. 33 ff. 86 Rüfner (Fußn. 79), S. 36 ff. 87 David George Strube, Rechtliche Bedenken, Fünfter Theil, Zweyter Theil Zweyte Aufl. Hannover 1774 XLVII. S. 164. 88 Der Begriff des Gesetzes hatte in der Naturwissenschaft den Charakter als allgemeiner Regelung aufgenommen, der ihm ursprünglich fremd war. Nicht umsonst hatte Kant im kategorischen Imperativ das allgemeine Naturgesetz in Bezug geommen. Svarez forderte in den Kronprinzenvorträgen durchgehend, die öffentliche Gewalt nur nach Allgemeinen Gesetzen als Ausdruck des Allgemeinwillens auszuüben. 89 Häberlin (Fußn. 30) 2. Bd. S. 567, Vgl. grundlegend und mit zahlreichen Nachweisen David George Strube, Gründlicher Unterricht von Regierungs– und Justiz–Sachen, worin untersucht wird: Welche Geschäfte ihrer Natur und Eigenschafft nach vor die Regierungsoder Justiz-Collegia gehören? Hildesheim 1733 ; wieder abgedruckt in: Rechtliche Bedenken, Fünfter Theil, Zwote Auflage, Hannover 1777), Sectio III § XXIV S. 89 f. – Nach Strube gilt 83
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konnten aber prüfen, ob überhaupt ein Gesetz vorlag, das unter den gegebenen tatsächlichen Voraussetzungen den Eingriff gestattete.90 Im Notfall stand den Untertanen gegen das Gesetz noch die Klage zu einem der beiden Reichsgerichte offen. Kein Kurfürsten war dagegen gefeit, von seinen Untertanen vor den Reichsgerichten verklagt zu werden. Nach dem Erfolg einer gegen den Kurfürsten von Brandenburg, den preußischen König Friedrich Wilhelm I., erhobenen Klage vorm Reichshofrat, griff dieser – unter Mißachtung des Reichsstaatsrechts – zwar zu polternden Strafdrohungen. Erfolg hatte das nur, weil er seinen Untertanen innerhalb des Landes Rechtsschutz bot.91 Eine Klausel, die auf Betreiben des Trierer (Sectio III): Die der Landesfürstlichen Cammergüther und Gerechtsame halber zwischen den Aemtern und Unterthanen entstandene Zwistigkeiten sind ordentlich von den Justitz–Collegiis […] zu entscheiden. Der Fürst ist an die Gesetze gebunden, im Reich unterliegt er der Reichsgerichtsbarkeit. Das hindert ihn nicht, sich vorab den ordentlichen Landesgerichten zu unterwerfen (für Brandenburg-Preußen m. Hinweis auf die Verordnung von 1713 die Verbesserung des Justizwesens betreffend, S. 41 Anm. h und S. 88 Anm. a). Gegen Polizeigesetze kann nur ein jus quaesitum eingewendet werden, doch gegen jede einzelne polizeiliche Maßnahme kann auch mit der Behauptung Rechtsschutz bei den ordentlichen Gerichten nachgesucht werden, es fehle gänzlich an einer gesetzlichen Eingriffsbefugnis (zum Vorbehalt des Gesetzes vgl. a. Rechtliche Bedenken, 5. Theil, Nr. III und XIII), der im Gesetz vorausgesetzte Tatbestand sei nicht erfüllt (quaestio facti) oder die Polizeibehörde habe das Polizeigesetz falsch interpretiert (quaestio juris). Anstelle der ordentlichen Richter können in solchen Fällen auch sonstige fürstliche Bediente entscheiden, vorausgesetzt, sie seien wie die ordentlichen Richter auf das Recht verpflichtet und von der Wahrnehmung des fürstlichen Interesses entbunden (vgl. S. 41 Anm. h, S. 43 Anm. m). 90 Strube, Gründlicher Unterricht (Fußn. 89) § XXVI S. 91. „Warum solte ein Richter nicht sowohl Policeyordnungen als andere Gesetze auf die vorkommenden Fälle appliciren?“ nachdrücklich darauf bestanden, „daß den Unterthanen auch diejenige Befugnisse ungeschmälert bleiben, welche ihnen die Policeyordnungen mittheilen“. 91 Friedrich Wilhelm I. wollte seine Interessen nicht auf Kosten des Rechts durchsetzen; vgl. Allgemeine Ordnung, die Verbesserung des Justitzwesens betreffend vom 21. Junii 1713 : „Verordnen wir wohlbedächtlich, 1) daß in allen Dingen und rechtlichen Handlungen zwischen unsern Fisco an einer und zwischen unseren Vasallen und Unterthanen an der anderen Seite, […] wann unser Interesse auf einerley Weise dabey waltet, unsre Judicia und Commissiones sich nicht an dasselbe binden, sondern lediglich die Justitz, als auf welche sie geschworen, und beeydiget sind, zum Augenmerk haben sollen, ohne an alle darwider laufende Verordnungen, als welche allezeit vor erschlichen, und mit dieser unserer ernstlichen Willens meynung streitend zu halten, im mindesten zu kehren, und ohne sich dadurch von denen Wegen der Gerechtigkeit ablenken zu lassen, massen ihnen solche Verordnungen so wenig, als unser vorgeschütztes Interesse zu keiner Entschuldigung in diesem und jenem Leben dienen mag und werden wir dergleichen unzulängliche Entschuldigungen, ohnegeachtet solche ungerechte Richter mit aller Strenge bestrafen, wenn sie nämlich überzeugt (= überwiesen) werden können, daß sie mehr auf unser, alsdann an sich nichtiges, und mit dem Nutzen, der aus rechtschaffener Administrierung der Justitz entspringet, nicht zu vergleichendes Interesse, als auf die Justitz und die Unschuld ihr Absehen Gott–Pflicht vergessener und Gewissenloser Weise gerichtet. Ja wir ruffen selbst den einzigen Herzenskündiger an, daß er die Thränen der Unschuldigen, welche solche abscheulichen Proceduren auspressen mögten, allein auf deren Uhrheber Kopf kommen lasse“ (vgl. Strube, Gründlicher Unterricht (Fußn. 89), S. 41). Ähnlich, allerdings primär zum Schutz des Adels, Friedrich II., Cabinetsordre v. 6. Februar 1745, vgl. (Fischbach) Historische politisch-geographisch-statistisch und
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Kurfürsten 1790 in Art. 19 § 6 der Wahlkapitulation eingerückt wurde: „Wenn auch Landstände und Unterthanen wider ihre Obrigkeiten in Privatsachen, welche die landesfürstliche Kammer betreffen Klage führen; sollen und wollen wir diese bey ihren ordentlichen Landesgerichten entscheiden lasse, weder den Reichsgerichten gestatten, über solche Klagen in letzter Instanz, wenn privilegia de non appellando vorhanden sind, und darin kein ausdrücklicher Vorbehalt enthalten, oder ein anderes durch Verträge mit den Landschaften und Obrigkeiten nicht bestimmt ist, zu urtheilen“92, wurde in ihre Wirksamkeit bestritten und ließ die Klage wegen Rechtsschutzverweigerung offen.93 Jedenfalls hinderte sie es nicht, daß die Trierer Landstände ihren Kurfürsten 1791 vor das Reichskammergericht zogen, weil er unter Mißbrauch des ihm vorbehaltenen Recht zur Außenpolitik den französischen Emigranten eine Plattform eröffne, die das Kurfürstentum in einen Krieg mit Frankreich zu verstricken drohe. Überdies verurteilte der Reichshofrat noch gegen Ende des 18. Jahrhunderts mehrere Landesherren zu langjährigen Freiheitsstrafen wegen Mißbrauchs der Landeshoheit, die der Kaiser auch vollzog.94 Die Rechtspraxis hatte keinen Anlaß, das Recht der Polizei aus dem Zivilrecht zu lösen.95 Sie rechnete selbstverständlich die angewendeten Grundsätze der Polizei wegen des Gemeinbezugs dem „ius publicum“ im überkommenen Sinne zu, ging aber nicht darüber hinaus. Da die Polizeigewalt ihre Grundlage nicht im positiven Recht fand, sondern aus der Natur oder der Idee des Staates hergeleitet worden war, lag es auf der Hand, daß die Normen über ihre Ausübung nicht aus dem ius particulare des Reichs oder eines Territoriums, sondern aus dem Natur- und Vernunftrecht, d. h. im ius publicum universale, geflosssen waren. Das Reich und die Landesherrschaften hatten zwar Polizeiordnungen erlassen, aber kein Bedürfnis gehabt, die Grundsätze in das positive Recht zu überführen, es genügte ihnen offenbar, daß sie jederzeit eine gesetzliche Grundlage schaffen konnten, nach dem allgemeinen Landfrieden zur Selbsthilfe berechtigt geblieben waren und ihre die Untertanen auch durch Strafandrohungen von gefährlichem Tun abhalten und zur Vorsorge antreiben konnten. Es hat weder die Polizei an der Erfüllung ihrer Aufgaben gehindert noch den „Schutz von Eigentum und Freiheit“96 gemindert, daß die Beziehung zwischen dem militärische Beyträge die Königlich Preußischen und benachbarten Staaten betreffend, Des zweeten Theils, erster Band, 1782, S. 593 ff. 92 Vgl. Rüfner (Fußn. 79), S. 48. 93 Häberlin (Fußn. 30), Bd. 2 S. 471 ff.; Rüfner (Fußn. 79), S. 46; Hans Kaden, Aufstieg und Niedergang der Kompetenzkonfliktsgerichtshöfe Saarbrücken 1970 S 23 m. w. Nachw. 94 Häberlin (Fußn. 30), Bd. 2 S. 13, 46, 69 verweist auf Klagen gegen den Bischof von Speyer, den Grafen Wittgenstein, den Wild und Rheingrafen, den Herren von Reus. 95 Es blieb einer späteren Polemik vorbehalten zu behaupten, man habe die als Privatrechte interpretiert. 96 Thomas Würtenberger hat den „Grundrechtsschutz im ausgehenden 18. Jahrhundert“ oder den „Schutz von Eigentum und Freiheit im ausgehenden 18. Jahrhundert“ auf dem Trierer Symposium zum 250. Geburtstag von Carl Gottlieb Svarez eingehend gewürdigt. In: Walther Gose/Thomas Würtenberger (Hrsg.) Zur Ideen- und Rezeptionsgeschichte des Preußischen Allgemeinen Landrechts Stuttgart/Bad Cannstadt 1999 (vgl. Inhalt: S. 5) S. 55 ff.
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Staat als Träger der Polizeigewalt wie ein Zivilrechtsverhältnis verstanden wurde. Den iuris publici periti genügte es, daß sich die Untertanen ohne Rücksicht auf ein privilegium de non appellando und non evocando97 gegen rechtswidrige Verkürzungen ihrer hergebrachten Rechte vor dem Reichskammergericht98 und vor dem Reichshofrat99 wehren konnten, auch gegen das ius eminens, das dem Staat zur Wahrung des Gemeinwohls zukam,100 und dabei in einem beschleunigten summarischen Verfahren, dem Mandatsprozeß, zu Entscheidungen kamen.101 Häberlin zog in seinem Handbuch des Deutschen Staatsrechts den Schluß102: „Unsere teutsche Landesherrn sind keine Despoten, die thun und lassen können, was sie wollen, und deren Befehlen die Unterthanen sich blindlings unterwerfen müssen, sondern sie können auch dagegen sowohl einzeln, als insgesammt Klage erheben, und der Fürst kann sich nicht weigern, die Recht- oder Unrechtmäßigkeit seiner Befehle, sie mögen nun unmittelbar von ihm selbst, oder von seinen Regierungs- und Kammer-Collegien herrühren, gerichtlich erörtern zu lassen.“ Die Erfindung des „öffentlichen Rechts“ Die Wendung „öffentliches Recht“ findet sich zwar schon 1723 in der deutschen Rechtssprache,103 doch blieb sie der Rechtswissenschaft noch bis zu Beginn des 19. 97
Eduard Kern, Geschichte des Gerichtsverfassungsrechts, München / Berlin 1954, S. 15. Vgl. Walter Jellinek, Verwaltungsrecht. Dritte Auflage. Unveränderter Neudruck 1948, S. 82. Edgar Loening, Gerichte und Verwaltungsbehörden in Brandenburg-Preußen, VerwArch 1894, S. 220, 225 ff. (den Aufsätzen im Verwaltungsarchiv entsprechen die Ausführun gen in: Loening, Edgar, Abhandlungen und Aufsätze, Bd. 1. Gerichte und Verwaltungsbehörden in Brandenburg–Preußen. Ein Beitrag zur preußischen Rechts- und Verfassungsgeschichte, Halle 1914); Erichsen aaO., S. 70. 99 Tatsächlich hatte der Reichshofrat noch gegen Ende des 18. Jahrhunderts Territorialherren wegen Mißbrauchs der Landeshoheit zu langjährigen Freiheitsstrafen verurteilt worden, die auch vollzogen wurden. vgl. Eduard Kern, Geschichte des Gerichtsverfassungsrechts, München und Berlin 1954, S. 15. 100 Christoph Link, Herrschaftsordnung und bürgerliche Freiheit. Grenzen der Staatsgewalt in der älteren deutschen Staatsrechtslehre, 1979. 101 Vgl. Rüfner (Fußn. 79), S. 24 f. 102 Häberlin (Fußn. 30), 2. Bd. S. 466 f.; vgl. Rita Sailer, Untertanenprozesse vor dem Reichskammergericht. Rechtsschutz gegen die Obrigkeit in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 33, Köln/ Weimar/Wien 1999. 103 Jacob Carl Spener, Teutsches ius publicum oder des Heil. Römisch=Teutschen Reichs vollständige Staats=RechtsLehre […] Frankfurt und Leipzig 1723, S. 16 ff. Auf die Fundstelle hat Heinz Mohnhaupt aufmerksam gemacht; vgl. Römisch-rechtliche Einflüsse im „ius publicum“/„öffentlichen Recht“ des 18. und 19. Jahrhunderts in Deutschland. In: Index. Quaderni camerti di studi romanistici (Neapel) 16 (1988), S. 151 – 175; wieder abgedruckt in: Historische Vergleichung im Bereich von Staat und Recht: Gesammelte Aufsätze von Heinz Mohnhaupt, Max-Planck-Institut für Europäische Rechtsgeschichte (Ius Commune/Sonderhefte 134), Frankfurt am Main 2000, S. 125 ff. 98
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Jahrhunderts fremd.104 Sie hielt an der lateinischen Bezeichnung fest, die ihr aus dem corpus iuris Justinians vertraut war, und bevorzugte für das ius publicum imperii sacri den deutschen Ausdruck „Reichsstaatsrecht“.105 Die Professoren für das „Reichsstaatsrecht an den Universitäten des Heiligen römischen Reichs“ nannten sich zumeist kurz Staatsrechtslehrer. Auch im allgemeinen Sprachgebrauch des 18. Jahrhundert setzte sich die Bezeichnung „Öffentliches Recht“ nicht durch. Weder das seit 1704 in zahlreichen Auflagen in Hamburg bei Johann Hübner erscheinende „Reale Staats-, Zeitungsund Conversations-Lexikon“106 noch Adelungs Wörterbuch107 kannten das Stichwort. Einzig in dem großangelegten Lexikon Johann Heinrich Zedlers108 konnte man unter „öffentliches Gesetz“, „öffentliches Recht“ und „Rechtsgelehrsamkeit (die öffentliche) oder Staats=Rechtsgelehrsamkeit oder die Lehre vom öffentlichen Recht“ nachschlagen. „Öffentliche Gesetze“ seien öffentlich kundbar gemachte Verordnungen. Das wich zwar vom klassischen Verständnis der lex publica als lex rogata109 ab, entsprach aber Ciceros „Definition“ des ius publicum. Beidem näherte sich Immanuel Kant an, der 1798 den Inbegriff aller Gesetze, die der allgemeinen Bekanntmachung bedürfen, um einen rechtlichen Zustand hervorzubringen,110 als öffentliches Recht bezeichnete und dem vorstaatlichen, aus der individuellen Einsicht erwachsenen, notwendig streitigen Privatrecht gegenüberstellte.111 Dem Stichwort „öffentliches Recht“ ordnete Zedler drei Bedeutungen zu. Es bezeichne erstens das verbindliche (d. i. zwingende) Recht, zweitens ein der Öffentlichkeit oder jedermann – quivis in publico – zustehendes Recht, und drittens 104
Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland Band 2: Staatsrechtslehre und Verwaltungswissenschaft 1800 bis 1914. 1992, S. 35. 105 Soweit zu sehen wird sie von Johann Jakob Schmauss, Johann Jakob Moser, Johann Stephan Pütter, August Ludik Schlözer und Karl Friedrich Häberlin nicht gebraucht. Carl Gottlieb Svarez spricht in den Kronprinzenvorlesungen (Herausgegeben von Peter Krause, Stuttgart/Bad Cannstatt 2000, Teil 1, S. 115) nur einmal vom „öffentlichen Staatsrecht“. Sebastian Adam Krafft, Juristisch practisches Wörterbuch Erlang(en) bey Johann Jacob Palm 1793, S. 224, kannte für das „ius publicum“ nur die Übersetzung „Staatsrecht“. 106 Vgl. etwa die Ausgabe von 1782. 107 Johann Christoph Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart Leipzig 2. Aufl. 1793 – 1838, in Bd. IV 180, S. 261 f. findet sich nur ein knappes Stichwort „Staatsrecht“. 108 Großes vollständiges Universal-Lexicon […] Fünf und Zwantzigster Theil, Leipzig und Halle 1740 Sp. 564. 109 Jochen Bleicken, Lex publica. Gesetz und Recht in der römischen Republik, Berlin/New York 1975, S. 56 ff., 93, 178 und passim. 110 Metaphysik der Sitten. Abgefaßt von Immanuel Kant. Erster Theil. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre. Königsberg, bey Friedrich Nicolovius, 1797. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre von Immanuel Kant. Königsberg, bey Friedrich Nicolovius. 1797. S. 161. 111 Vgl. Peter Krause (Fußn.1).
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das auf die „eigentliche“ Staatsverfassung bezogene Recht. Doch auch dieses war kein Sonderrecht. Zedler selbst behielt für es den Namen „Staatsrecht“ bei. Jede Republik habe ein eigenes – spezielles – Staatsrecht (ius publicum particulare)112 und sei zugleich – wie Johann Friedrich Horn (Politica Architectonica)113, Ulrich Huber (De iure civitatis mit Anmerkungen von Thomasius)114 und Justus Henning Böhmer (Introductione in Ius Publicum universale)115 gezeigt hätten – einem für alle Staaten gültigen allgemeinen Staatsrecht (ius publicum universale) unterworfen. Die deutschen Publizisten (iuris publici periti)116 konzentrierten sich allerdings auf das – partikulare – Staatsrecht des Heiligen römischen Reichs117 und der reichsständischen Territorien, wobei sie sich bei diesem regelmäßig auf die allgemeinen Prinzipien beschränkten.118 Rechtsquellen des Reichsstaatsrecht seien die Reichs-Fundamental-„Gesetze“ oder Vergleiche zwischen dem Kaiser und den (Kurfürsten und anderen) Reichsständen, die entweder in Reichsabschieden, Wahlkapitulationen, dem Land- und Religionsfrieden wie im instrumentum pacis osnabruggensis dokumentiert oder aus den observantiae imperiales (Reichsherkommen), abzulesen seien. „Eigentlich“ sei das „gemeine oder öffentliche kaiserliche Recht (ius publicum caesarea)“ nichts anderes als „die Reichsabschiede und Reichsordnungen und andere das gemeine Regiment und gute Polizei angehende Satzungen“.119 Angesichts dessen überrascht es, daß am Ende des 18. Jahrhunderts der Vorschlag laut wurde, das private Recht vom öffentlichen Recht zu trennen. Er ging von dem prominenten Lehrer des Zivilrechts Gustav Hugo, der den zivilistischen Kursus auf ein Gebiet, das ausschließlich die Rechtsverhältnisse der Privatpersonen untereinander und deren Mein und Dein zum Gegenstand habe beschränken wollte.120 „Die Begriffe und Sätze über die Verbindung des Ganzen und die Anstalten, bey welchen nicht blos auf Einzele gesehen wird“, sollten als „öffentliches Recht“ 112
Zeidler (Fußn. 108), Teil 39 Sp. 352. Joh. Frid. Horni[i] Politicorum Pars Architectonica De Civitate, Utrecht 1664. 114 Novam Juris Publici Universalis Disciplinam continentes; Insertis aliquot, de jure sacrorum & Ecclesiae, capitibus, Editio Qvarta, priore multo locupletior, Cum Novis Adnotationibus Et Novo Indice, in usum Auditorii Thomasiani, Frankfurt/Leipzig 1708. Vorauflagen in Franecker. 115 Halle 1710. 116 Zeidler (Fußn. 108), Teil 29 Sp. 1113. Das Stichwort kennt auch Hübner, Ausgabe 1782, Sp. 1978. der Gelehrte „der sich aufs Staatsrecht legt, dasselbe lehrt oder darüber schreibt“. Dort auch Sp. 2349: Staatsrecht, „Ius publicum, […] die Grundgesetze, welche im Regiment zu beobachten und auf was für einen Grund die Regierung soll gerichtet sein. Es ist entweder allgemein (universale), für alle Staaten, oder ein besonderes, für gewisse Staaten (particulare).“ 117 Zeidler (Fußn. 108), Teil 30 1740 Sp. 750. 118 Johann Jacob Moser ging bald darauf weit darüber hinaus. 119 Ebd. 120 Gustav Hugo, Lehrbuch eines civilistischen Cursus, Erster Band. Zweyter ganz von neuem ausgearb. Versuch, Berlin 1799, Seite 22. 113
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ausgesondert werden. Die vorgeschlagene Abgrenzung war neuartig, wie Hugo auch stets betonte.121 Er ordnete das zwingende Recht nicht mehr dem ius publicum zu und strebte ein geschlossenes System des Zivilrechts an, das Schicksal des ausgegrenzten Rechts war ihm gleichgültig. Deshalb lag eine Definition des öffentlichen Recht, die systematischen Gesichtspunkten folgte außerhalb seines Interesses, vielmehr begnügte er sich mit der Enumeration der Rechtsgebiete, die er nicht im Privatrecht haben wollte,122 vom Staats- und Verfassungsrecht über das Kirchenrecht, das Militär- und Völkerrecht, das Prozeßrecht, das Strafrecht und das Finanzrecht bis zum Polizeirecht. Die Frage, ob sie eine Einheit bildeten, ob und warum sie mit den überkommenen privatrechtlichen Methoden nicht zu begreifen waren und daher in einer speziellen Disziplin des öffentlichen Rechts behandelt werden müßten,123 ob für sie besondere Regeln galten, hatte sich ihm nicht gestellt. Die deutsche Zivilrechtslehre orientierte sich bald generell am sogenannten Pandektensystem124, das der Schüler Hugos Georg Arnold Heise 1807 als „Grundriß eines Systems des Gemeinen Zivilrechts zum Behufe der Pandektenvorlesung“125 aus den Ersten Titeln des Allgemeinen Landrechts ausgezogen hatte. Was das aus dem Zivilrecht verstoßene „öffentliche Recht“ auszeichnete, worin seine spezifischen Strukturen, Prinzipien und Merkmale bestanden, war nicht geklärt. Obwohl die Reichsstaatsrechtslehre mit der Auflösung des Reichs ihr angestammtes Hausgut, das ius publicum imperii, verloren und ein neues Betätigungsfeld brauchte, ließ sei sich auf die Frage nicht ein. Robert von Mohl meinte im nachhinein, „die neue Aufgabe für die Wissenschaft“ habe darin bestanden, „ein Bundesrecht an Stelle des Reichsstaatsrechts, ein öffentliches Recht souveräner Staaten anstatt des Rechtes der Landesfreiheit, ein konstitutionelles Recht anstatt des Rechtes ständischer Korporationen oder unbeschränkter Fürstenherrschaft und ein systematisches, fast überall auf neuer Grundlage stehendes, Verwaltungsrecht 121 Er betonte die Neuheit seines Begriffs in allen im 19. Jahrhundert erscheinenden Auflagen seines Lehrbuchs. 122 Hugo (Fußn. 120), 8. Aufl. 1835, S. 69 – 76. 123 Paul Laband meinte noch 1887 (Besprechung von Otto Mayer, Theorie des franz. VerwRs., AöR 2, S. 149 – 162, 156), das Verwaltungsrecht sei keine „spezifische Art von Recht“, sondern nur ein „Konglomerat“ aus dem Staats-, Privat-, Straf- und Prozeßrecht, und habe auch keine spezifischen, ihm eigenen Rechtsprinzipien. 124 Das System geht nicht auf die Pandekten oder Pandektisten, sondern auf das Naturrecht zurück; vgl. Christian Baldus, Export des Pandektensystems, Journal für Rechtspolitik Bd. 16, 2008, S. 23 – 36. 125 Georg Arnold Heise, Grundriss eines Systems des Gemeinen Civilrechts, Heidelberg 1807; hierzu Andreas Bertalan Schwarz, Zur Entstehung des modernen Pandektensystems, 1921, Wiederabdruck in: ders., Rechtsgeschichte und Gegenwart. Gesammelte Schriften zur Neueren Privatrechtsgeschichte und Rechtsvergleichung, Karlsruhe 1960, S. 1 ff.; Lars Björne, Deutsche Rechtssysteme im 18. und 19. Jahrhundert, Ebelsbach 1984, S. 131 ff., 186 ff.; Joachim Rückert, Heidelberg um 1804, oder: die erfolgreiche Modernisierung der Jurisprudenz durch Thibaut, Savigny, Heise, Martin, Zachariä u. a., in: Friedrich Strack, Heidelberg im säkularen Umbruch. Traditionsbewußtsein und Kulturpolitik um 1800, Stuttgart 1987, S. 83 ff.
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zu entwickeln“.126 Er hatte damit wohl das – nationalstaatliche wie konstitutionelle – Selbstverständnis der Staatsrechtslehre getroffen, auch wenn das Programm nicht erfüllt worden und es noch nicht ansatzweise zu der Ausbildung des Verwaltungsrechts gekommen war. Johann Ludwig Klüber 1808 bot ein Lehrprogramm für das Staatsrecht des Rheinbundes an127 und ließ ihm, nachdem auch der Rheinbund untergegangen war, ein entsprechendes Werk über den Deutschen Bund folgen. Er griff darin auf das Staatsrecht der souverän gewordenen deutschen Staaten über, ersetzte aber das Wort Staatsrecht im Titel durch „Oeffentliches Recht“.128 Darin hatte er zwar den Anspruch der Staatsrechtslehre zum Ausdruck gebracht, das öffentliche Recht zu behandeln, doch löste er ihn nicht ein, und bemühte sich auch nicht, den Begriff des öffentlichen Rechts weiter zu klären. Das Wort „Verwaltungsrecht“ begegnet in der deutschen Rechtssprache im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts kaum. Es ist allem Anschein als Lehnübersetzung von droit administratif entstanden. Das französische Wort hatte hatte durch den Code Administratif129, der alsbald nach den Kodifikationen des Zivil-, Zivilprozeß-, Handels-, Straf- und Strafprozeßrechtrecht ans Licht getreten war, eine gewisse Popularität erlangt. Indessen handelte es sich bei ihm nicht um ein Gesetzbuch, sondern um ein bloßes Recueil par ordre alphabetétique des matières, de toutes les Lois nouvelles et anciennes, relatives aux fonctions administratives et de Police, des Préfets, Sous-préfets, Maires et Adjoints, Commissaire de Police, et aux attributions des conseils de Préfecture, de Département, d’Arondissement Communal et de Municipalité, den der Bürochef im Innenministerium Maitre Fleurigeon ab 1806 allenfalls halboffiziell zusammengestellt hatte. So gewann droit administratif auch nur die Bedeutung einer Sammelbezeichnung für alles Recht, das für die angeführten Behörden maßgeblich und der Kontrolle durch die Gerichte entzogen war. Die Verwaltungsrechtsprechung, die nur für wenige und heterogene Streitigkeiten zuständig war, fördert kaum durchgehendende Grundstrukturen ans Licht. Das erklärt es wohl, daß es bis weit über die Mitte des Jahrhunderts hinaus dauerte, ehe man sich in Deutschland mit der Ausbildung eines Verwaltungsrechts beschäftig-
126 Robert von Mohl, Das positive deutsche Staatsrecht seit der Gründung des Bundes, Die Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften Band 2, 1856 S. 227 – 396 (237 ff.). Hervorhebungen von mir. 127 Johann Ludwig Klüber, Staatsrecht des Rheinbundes. Lehrbegriff Tübingen 1808. 128 Johann Ludwig Klüber, Oeffentliches Recht des teutschen Bundes und der Bundesstaaten, Frankfurt a. M. 1817; Johann Ludwig Klüber, Quellensammlung zu dem Oeffentlichen Recht des teutschen Bundes, 3. Aufl. Erlangen 1830. 129 Frankreich war zu jener Zeit kein demokratischer Staat, sondern ein Militärdiktatur, poblematisch deshalb Wilhelm Henke, Das subjektive öffentliche Recht, Tübingen 1968, S. 22.
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te130 und das Wort erst im Jahr 1856 durch Mohl und die Titel eines Lehrbuchs und eines vielbeachteten Aufsatzes eine gewisse Prominenz gewann.131 Die Staatsrechtslehre beschäftigte sich bis dahin fast ausschließlich mit dem Recht des Bundes und dem Verfassungsrecht der Länder, sie bemühte sich dabei durchaus, aus den Verfassungen gewisse – zumeist liberale – Prinzipien für die Beziehungen jedes Staats zu seinen Einwohnern abzuleiten, konnte aber auf die Verwaltungspraxis und die Gesetzgebung kaum einwirken. Sie war überwiegend der Überzeugung,132 „das positive deutsche Staatsrecht“ habe „sich zur Zeit des Reichs zur höchsten Ausbildung durchgearbeitet“, doch habe „der ganze seit einigen Jahrhunderten aufgespeicherte Vorrath von Wissen und Gedanken“ „mit dem Untergange des Reiches seine hauptsächliche Bedeutung, nämlich seine praktische Anwendbarkeit“ verloren und sei zur Makulatur geworden. Sie kam daher gar nicht auf die Idee, die Regeln und Grundsätze, die das Reichskammergericht seiner Rechtsprechung über die Ausübung der Polizeigewalt zugrundegelegt hatte, als subsidiarisches gemeines Verwaltungsrecht oder als Landesverwaltungsrecht aufrecht zu erhalten oder wenigstens den souverän gewordenen Staaten als Grundlage eines rechtsstaatlichen Verwaltungsrechts zu empfehlen. Das verband sich mit einer prinzipiellen Geringschätzung des allgemeinen Staatsrechtes und dem bis in die Gegenwart fortgesetzten Vorurteil, im 18. Jahrhundert hätten absolutistische Wohlfahrts- und Polizeistaaten ihre Untertanen ganz oder nahezu rechtlos gestellt und allenfalls eine Entschädigung angeboten, wenn sie ein wohlerworbenes Recht beeinträchtigten. Überlagert wurde das von der Überzeugung, daß die Rechtsbeziehungen zwischen dem Hoheitsträger und dem Einzelnen nicht nach dem Privatrecht beurteilt werden könnten. Eine exzesssive Gewaltenteilungslehre und die Sorge, die Einzelnen könnten ihre – antiquierten – iura quaesita den notwendigen Reformen entgegenstellen, begünstigten die Vorstellung, die zwischen 1806 bis 1814 zu souveränen Staaten gewordenen Territorien, die über das Recht herrschten, stünden zu ihren Untertanen in einem Gewaltverhältnis,133 in dem diesen kein subjektives Recht zukommen könne.134 Die Idee des souveränen absolutistisch-omnipotenten Staats war in Frankreich schon vor der Revolution Staatsdoktrin gewesen, die Revolution hatte sie ebenso 130 Peter Badura, Das Verwaltungsrecht des liberalen Rechtsstaates. Methodische Überlegungen zur Entstehung des wissenschaftlichen Verwaltungsrechts, 1967, S. 11 f., 13. 131 Josef Pözl, Lehrbuch des Bayerischen Verwaltungsrechts, München 1856; Friedrich Franz (von) Mayer, Über Verwaltungs-Recht und Rechtspflege, Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 12, 1856, S. 284 – 312, 461. 132 Robert von Mohl, Das positive deutsche Staatsrecht seit der Gründung des Bundes, Die Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften Band 2, 1856 S. 227 – 396 (237 ff.). 133 Otto Mayer, Zur Lehre vom öffentlichrechtlichen Vertrage AöR Bd. 3 (1888), S. 3 – 86 (S. 53). 134 In diesem Sinne noch Paul Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reichs 5. Aufl. 3. Bd. 1913 S. 207; und Rudolf von Gneist, 2. Aufl. 1879, S. 209.
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wie die Diktatur Napoleons noch verstärkt, weil sie dem ancien régime nicht fremd war, dauerte sie unter den Königen und im zweiten Kaiserreich fort. Auch die deutschen Staaten waren schnell davon angetan, daß ihre Untertanen ihnen als Hoheitsträgern kein subjektives Recht entgegenhalten könnten. Als Beispiel mag Preußen dienen. 1794 hatte das Allgemeine Landrecht gesetzlose Eingriffe in Freiheit und Eigentum verboten. 1797 hatte der König auf Vorschlag von Karl Gottlieb Svarez die Entscheidung in „Landes=Polizeyangelegenheiten“ in Neuostpreußen den ordentlichen Gerichten übertragen. Ausgenommen hatte er nur Klagen gegen die Ausübung eng definierter „würklicher Majestäts= und Hoheitsrechte“, „gegen allgemeine, in Gegenständen des Camme ralressorts ergehende Verordnungen“ und „über die Verbindlichkeit zur Entrichtung allgemeiner Anlagen und Abgaben, denen sämmtliche Einwohner, oder alle Mitglieder einer gewissen Classe derselben nach der bestehenden Landesverfassung unterworfen sind“. Überdies behielt er den Kammern vor, „Verfügungen, die keinen Verzug leiden, und wo die förmliche Erörterung und richterliche Entscheidung eines dagegen sich findenden Widerspruchs, ohne Nachtheil des Ganzen, nicht abgewartet werden kann“, […] „des Widerspruchs ungeachtet, zur Ausübung bringen“. Das schloß die Gerichte aber nicht von der Entscheidung aus; kamen sie zu spät, blieb es dem Betroffenen zudem „vorbehalten, die ihm dafür etwa gebührende Vergütung oder Entschädigung im ordentlichen Wege Rechtens“ einzuklagen.135 Die Regelung wurde schnell auf Ansbach und Bayreuth, die im Gefolge des Friedens von Luneville und des Reichsdeputationshauptschlusses Preußen zugefallenen Gebiete, die Provinzen Cleve und Mark136 und das alte Preußen erstreckt.137 Im April 1806 – noch vor der Auflösung des Reichs im August und der preußischen Niederlage im Oktober – hatte der Geheime Kriegsrat Friese den Auftrag erhalten, sie auf Westpreußen zu übertragen. Die Verordnung, die er am 9. September 1808 vorschlug, ging indessen – nach französischen Vorbild138 – dahin, nicht nur den Rechtschutz, sondern auch den Gesetzesvorbehalt für Eingriffe in Freiheit und Eigentum der Bürger zu beseitigen oder einzuengen.139 Friese unterschied – wie es scheint in Deutschland zum ersten Mal – zwischen dem Staat als Hoheitsträger, der in seiner gesamten Tätigkeit ungebunden sein müsse und nicht vor Gericht gezogen 135
Vgl. dazu Peter Krause, Gewaltenteilung und umfassender Rechtsschutz gegen die Verwaltung – Das Ressortreglement für Neuostpreußen 1797 in: Prace prawnicze wydane dla uczczenia pracy naukowej Karola Gandora. Katowice 1992. Prace Naukowe Uniwersytetu Slaskiego nr 1271 (Gesammelte Arbeiten der schlesischen Universität Nr. 1271) S. 19 – 49. 136 Patent vom 11. September 1803, NCC XI, 1881. 137 Ostpreuß. Ressortreglement v. 21. Juni 1804, NCC XI, 2603. 138 Vgl. Les tribunaux ne peuvent ni s’immisce dans l’exercice du pouvoir législatif, ou suspendre l’exécution de lois ne entreprendre sur les fonctions administratifs, ou citer devant eux les administrateurs pour raison de leur fonctions. Tit. III. Cap. 5 Art. 5 Constitution de 3. 9. 1791. 139 Otto Hintze, Gesammelte Abhandlungen zur Staats-, Rechts- u. Sozialgeschichte Preussens. Bd. III, S. 148; Rüfner (Fußn. 84), S. 124 ff.
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werden dürfe, und dem Staat als Vermögensträger (Fiskus)140. Obwohl die Vertreter der Justiz es für undenkbar hielten, den Kammern zu gestatten, die Bürger mit einschränkenden Verfügungen zu überziehen, „die auf keinem vorhandenen Polizeigesetz beruhen und also dem Allgemeinen Gesetz – ALR Einl. § 87 – direkt entgegenlaufen“141, stellte die Verordnung wegen verbesserter Einrichtung der Provinzial-, Polizei- und Finanzbehörden vom 26. Dezember 1808142 die preußische Verwaltung weitgehend von der gerichtlichen Kontrolle und dem Gesetzesvorbehalt für Eingriffe in Freiheit und Eigentum frei.143 Nach den Befreiungskriegen wurde das in den wieder- und neugewonnenen Gebieten noch verschärft. § 1 des Gesetzes über die Zulässigkeit des Rechtswegs in Beziehung auf polizeiliche Verfügungen vom 11. Mai 1842 (GS 192) bestimmte endlich:144 „Beschwerden über polizeiliche Verfügungen jeder Art, sie mögen die Gesetzmäßigkeit, Notwendigkeit oder Zweckmäßigkeit derselben betreffen, gehören vor die vorgesetzte Dienstbehörde.“ Nur über die Verhängung von Polizeistrafen entschieden noch die Gerichte, die dabei nach Erlaß des Preußischen Polizeiverwaltungsgesetzes vom 11. März 1850 (GS 265) auch die Gültigkeit von Polizeiverordnungen zu prüfen hatten.145 Auch die Staaten, welche sich in ihren Verfassungen zu Grund- und Bürgerrechten bekannten, gewährten dem Einzelnen damit keine Ansprüche. Die Staatsrechtslehre versuchte zwar die Garantien rechtspolitisch fruchtbar zu machen, doch blieb sie ohne Erfolg. Vielmehr blieb in der deutschen Staatsrechtslehre die Auf140
So die Fiskustheorie des 19. Jhs.; vgl. dazu Bullinger (Fußn. 40), S. 216; Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte (hrsgg. v. A. Erler, E. Kaufmann), Berlin 1971, Spalte 1138. 141 Vgl. Edgar Loening (Fußn. 98), Abhandlungen Bd. 1, S. 137 f. Daß der Gesetzesvorbehalt – auch nach Ansicht Frieses – der Rechtslage nach dem Neuostpreußischen Ressortreglement entsprach, zeigt dessen Äußerung, daß der Richter danach jede polizeiliche Verfügung aufheben würde, die keine gesetzliche Sanktion hat, vgl. bei Erichsen, S. 149. 142 Zu ihr außer Loening und Rüfner auch Erichsen eingehend Henning Schrimpf, Herrschaft, Individualinteresse und Richtermacht, München 1979, S. 393 ff., 399 ff. 143 Einem durch Polizeiverfügung in Freiheit oder Eigentum beeinträchtigten Bürger war es grundsätzlich nicht möglich, eine Aufhebung der Verfügung zu erreichen. Eine Ausnahme galt nur insoweit, als die Verfügung einem Gesetz zuwiderlief (Gesetzesvorrang) oder ihr ein spezieller rechtlicher Titel entgegenstand oder sie vorsätzlich oder grob fahrlässig die Rechte des Bürgers beeinträchtigte. Sonst blieb allein eine Klage auf Ersatz des durch die Maßnahme entstandenen Schadens. Die Einhaltung des Gesetzesvorbehalts für Eingriffe in Freiheit und Eigentum war gerichtlich nicht mehr zu erzwingen. Dies entsprach der Intention Frieses, der der Meinung war, daß die Behörden bis zu einem gewissen Grade ganz frei und unabhängig von aller Einmischung der Justiz nicht bloß in Rücksicht der Vollstreckung, sondern auch in Rücksicht der Dezision handeln können müsse, vgl. Loening (Fußn. 98), Abhandlungen Bd. 1, S. 131. 144 Vgl. Kaden (Fußn. 93) S. 279 ff. 145 Vgl. Peter Krause, Das Allgemeine Landrecht als Naturrechtssurrogat. Zur Behandlung des § 10 II 17 ALR in Rechtsprechung und Literatur im ausgehenden Konstitutionalismus. Die Kreuzbergurteile des Preußischen Oberverwaltungsgerichts. In: Bernd Schünemann (Hrsg.), Das Menschenbild im weltweiten Wandel der Grundrechte. Schriften zum Öffentlichen Recht, Bd. 889, 2002, S. 233 – 258.
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fassung unangefochten, der Einzelne könne dem Staat als Hoheitsträger grundsätzlich kein Recht entgegenhalten. Damit verloren alle Normen über die staatliche Tätigkeit die Außenwirkung, sie boten nur noch der Binnenkontrolle einen Anhalt, die auch das Monopol ihrer Auslegung behielt. Das Interesse der Rechtswissenschaft an ihnen sank, die Darstellungen beschränkten sich auf die akribische Nachzeichnung der Kompetenzordnungen146. Im Jahr 1852 fand Carl Friedrich Gerber147 indessen eine Konstruktion, die es dem Einzelnen erlaubte, Verstöße der Behörden gegen die gesetzlichen Regelungen der Verwaltungstätigkeit geltend zu machen und diesen Regelungen eine Außenwirkung zurückzugeben. Der Staat habe dem Einzelnen durch seine Rechtsordnung Bahnen zugewiesen, auf denen er sich frei bewegen könne. Werde er in seinem Lauf von einer staatlichen Behörde entgegen dem geltenden Recht gestört, könne ihn der Staat als Glied der Gemeinschaft dazu ermächtigen, den Verstoß förmlich zu rügen. Das kam der später von Rudolf von Gneist propagierten objektiven Kontrolle bereits nahe. Friedrich Franz (von) Mayer formte das Bild ein wenig um: Bei ihm waren es die staatlichen Behörden, die sich, wenn sie gebietend oder verbietend hervorträten, im Rahmen des objektiven Verwaltungsrechts oder auf den ihnen durch Verfassung und Gesetz gezogenen Grenzen zu bewegen hatten, weil die Betroffenen „mit eigenthümlichen Rechten in betreff ihres Verhältnisses zum Gemeinwesen ausgestattet sind“148. Auch ihm ging es, darum, daß der Einzelne von den Behörden die Einhaltung der Voraussetzungen und Formen fordern könne, welche ihnen die Gesetze für derartige Eingriffe vorschrieben. Die Verkürzung des subjektiven Rechts wurde damit zur Voraussetzung des „Anspruchs“ auf Rechtstreue und Rechtskontrolle, zu entscheiden war nicht über ihn, sondern über die Frage, ob die Behörden das für ihr Handeln maßgebliche Recht verletzt hatten. Weil es weder um einen Anspruch noch um ein Rechtsverhältnis zwischen dem Einzelnen und dem Staat ging, kam eine Entscheidung durch die ordentlichen Gerichte nicht in Betracht. Auch um die Gewaltenteilung nicht zu durchbrechen, nahmen die Staaten schließlich Zuflucht zu dem französischen Modell. Art. 4 des Gesetzes vom 28. Pluviôse VIII (17. Februar 1800) war seinerseits dem Muster Preußens gefolgt, das ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine Reihe von Streitigkeiten, an denen die Kammern (die späteren Bezirksregierungen) besonderes Interesse hatten, ausschließlich auf die Justiz verpflichteten und überwiegend mit Richtern besetzten, streng an das Prozeßrecht gebundenen Kollegialbehörden 146 Vgl. Ludwig von Rönne/ Heinrich Simon, Das Polizeiwesen des Preußischen Staates Erster Band, Breslau 1840. 147 Gerber, Ueber öffentliche Rechte, 1852, S, 27 – 29. 148 Mayer, Über Verwaltungs-Recht und Rechtspflege, In: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 12 1856 S. 284 – 312, 461. Vgl. Toshiyuki Ishikawa: Friedrich Franz von Mayer, Berlin: Duncker und Humblot, 1992; A. Hueber, Otto Mayer. Die „juristische Methode“ im Verwaltungsrecht, 1982.
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(Kammerjustizdeputationen) zugewiesen hatte, die bei den Kammern errichtet wurden. Die Kammerjustizdeputationen hatte Art. 4 durch einen weniger unabhängigen Präfekturrat, der bei den Präfekturen einzurichten war, ersetzt. Er hatte in bestimmten, einzeln aufgeführten, eng umschriebenen Streitfällen, die nach unserer Auffassung eher dem Zivilrecht zuzuordnen wären, in einem gerichtsähnlichen förmlichen Verfahren zu entscheiden. Baden war der erste deutsche Staat, der dem Beispiel folgte. § 5 des badischen Gesetzes betreffend die Organisation der inneren Verwaltung vom 5. Oktober 1863149 wies die „Streitigkeiten des öffentlichen Rechts“ in erster Instanz den „Bezirksräten“ und – anders als in Frankreich (Conseil d’état) – in letzter Instanz einem Verwaltungsgerichtshof zu.150 Es verzichtete auf eine Definition, sondern zählte die öffentlichrechtlichen Streitigkeiten einzeln auf,151 machte aber dennoch deutlich, wie sie sich von privatrechtlichen Streitigkeiten unterschieden.152 Das Privatrecht begründe primär Befugnisse, aus denen sekundär entsprechende Handlungs- und Unterlassungspflichten folgten, im Privatrechtsstreit gehe es um die Ansprüche und die korrespondieren Erfüllungspflichten. Das öffentliche Recht begründe ausschließlich Pflichten (der Behörden).153 In der öffentlichrechtlichen Streitigkeit werde nicht ein Erfüllungsanspruch geltend gemacht, sondern eine Pflichtverletzung gerügt. Da das öffentliche Recht und mit ihm alle öffentlichen Pflichten und Rechte ihre Entstehung ausschließlich dem Staat zu danken hätten, gälten sie nur mit und in ihm.154 Schon deshalb könne der Einzelne keine iura quaesita einklagen,155 sondern nur die Wahrung der Rechte geltend machen, die ihm dieser gewährt habe und die er jederzeit in den dafür geltenden rechtlichen Formen aufheben und verändern könne, dennoch sollten diese zugestandenen Rechte einen ebenso wirksamen Rechtschutz genießen wie private Rechte156. Nur dürfe das Verwaltungsrecht nicht in zivilistischer Weise gehandhabt, sondern der öffentliche Geist zu voller Anerkennung gelangen.157
149 Regierungsblatt Nr. 399, 1863. Vgl. dazu G(ideon Georg) Weizel, Das badische Gesetz über die Organisation der inneren Verwaltung vom 5. Oktober 1863 Karlsruhe 1864 S. 129 – 132. 150 Weizel (Fußn. 149), S. 104. 151 Weizel (Fußn. 149), S. 171 – 182. 152 Weizel (Fußn. 149), S. 121. Die Überzeugungskraft der Argumentation wurde noch geschwächt, weil die Verwaltungsrechtspflege nach § 5 in Streitigkeiten des öffentlichen Rechts zu entscheiden hatte, die nicht definiert (S. 104), sondern nur enumeriert (S. 171 – 182) waren. 153 Weizel (Fußn. 149), S. 122. 154 Weizel (Fußn. 149), S. 129 – 132. 155 Weizel (Fußn. 149), S. 107. 156 Weizel (Fußn. 149), S. 73. 157 Weizel (Fußn. 149), S. 122.
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Die meisten anderen Bundesstaaten schlossen sich dem badischen Beispiel an, sie hatten damit den Begriff der öffentlichrechtlichen Streitigkeit und des öffentlichen Rechts übernommen. Es war freilich nur abstrakt bestimmt, als das Recht, das der Verwaltung den Gang vorzeichnete. Wie das geschah oder zu geschehen hatte, hatten die Länder nur unzureichend geregelt. Es war erklärlich, daß die Rechtsprechung sich irgendwie zu helfen suchte. Außerstande aus der Verfassung eine Eingrenzung der Polizeigewalt herzuleiten, deutete das preußische Oberverwaltungsgericht eine Bestimmung des Allgemeinen Landrechts von beschränkter, längst obsoleter Bedeutung in eine Definition des Amts der Polizei um, unterwarf später ohne nähere Erklärung Eingriffe in Freiheit und Eigentum dem Gesetzesvorbehalt und fand schließlich in der landrechtlichen Bestimmung eine gesetzliche Ermächtigung zu polizeilichen Maßnahmen.158 Doch auch die Staatsrechtslehre bemühte sich – mit neidvollem Blick auf die Zivilrechtslehre, die im Begriff war, ihrem System eines einheitlichen bürgerlichen Rechts zur Geltung zu verhelfen – ein deutsches öffentliches Recht hervorzubringen. Sie befand sich weit im Hintertreffen, denn die Zivilrechtslehre hatte ihre bis in die Antike zurückreichende Tradition nie unterbrochen und nach dem Untergang des Heiligen römischen Reichs mit zahlreicher Beteiligung fast 100 Jahre an dem System des Privatrechts gearbeitet, auch hatte sie es nicht nötig es aus eigener Kraft zur Geltung zu bringen, sondern hatte das Deutsche Reich zur Seite, das seit 1873 die Gesetzgebungsbefugnis für das gesamte bürgerliche Recht besaß. Das öffentliche Recht war erst unmittelbar vor Beginn des Jahrhunderts vom Zivilrecht ausgestoßen worden, die Wissenschaft hatte es, vom Verfassungsrecht abgesehen, mehr als 50 Jahre lang vernachlässigt, ohne Tradition schien es zu einem Komplex von internen Regelungen der Staatstätigkeit geschrumpft, erst seit wenigen Jahren war es einer gerichtlicher Kontrolle unterworfen, die ihm ein gewisses Maß an Außenwirkung verlieh. Wenn es sich allein vom Staat ableitete und nur in ihm Geltung hatte, fächerte es sich in die öffentlichen Rechte der Einzelnen Staaten auf. Vor 1867 hatte es kaum ein gemeinsames deutsches öffentliches Gesetzesrecht gegeben. Für ein gemeines deutsches öffentliches Recht hatte es keine Ansatzpunkte gegeben. Einzig die Verwaltungsgerichtsgesetze wiesen ein gewisses Maß an Übereinstimmung auf. Die Gründung des Norddeutschen Bund bzw. des Deutschen Reich hatte ein Reichsstaatsrecht entstehen lassen, doch sonst nichts geändert, da die Bundesstaaten die Verwaltungskompetenz besaßen und dem Reich die Gesetzgebungskompetenz für das Verwaltungsrecht fehlte. Es bleibt ein Rätsel, wie angebliche Vertreter einer Wissenschaft des öffentlichen Rechts in deren Namen gleichwohl den Anspruch erheben konnten, sie habe als gleichberechtigte und eigenständige juristische Disziplin eigenständig neben
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ihre ältere Schwester, die Zivilrechtslehre, zu treten.159 Es war selbstverständlich, daß sie als Jurisprudenz an juristischen Methoden festhielt, nicht jedoch, daß sie sich von dem Zivilrecht absonderte. Eine Begründung dafür blieb aus. Daß schon das römische Recht ein eigenes System von Verwaltungsrechtsinstituten getrennt von den Privatrechtsinstituten entwickelt haben sollte, ließ sich nicht ernsthaft vertreten.160 Die Behauptung, das öffentliche Recht schließe den Rückgriff auf Rechtsinstitute des bürgerlichen Rechts aus, liest sich als Bannspruch und Beschwörungsformel, nicht als wissenschaftlicher Befund.161 Auf den Gipfel treibt es die den Gesetzesvorrang mißachtende Formel, kein Gesetz könne dem Untertanen ein öffentlichrechtliches vertragliches Mitwirkungsrecht einräumen.162 Die Geltendmachung naturrechtliche Sätze ist ohne eingehende Begründung haltlos.163 Über die Beschwörung der gottgewollten Differenz und die Tabuisierung der Grenzüberschreitung sind wir bis heute nicht hinausgekommen. Indessen ist mit der Ansicht, zwischen dem souveränen Staat und dem Einzelnen sei nur ein Gewaltverhältnis, aber kein Rechtsverhältnis denkbar, dem Einzelnen kämen keine eigenständigen Rechte und autonomen Rechtsgestaltungsmöglichkeiten gegen den Saat zu, er verfüge allenfalls über Befugnisse, die dieser ihm zur bestimmungsgemäßen Ausübung eingeräumt habe, aber jederzeit in den dafür vorgegebenen Formen zurücknehmen könne, ein Grund für die strikte Unterscheidung zwischen öffentlichem und privatem Recht hinfällig geworden. Die Praxis kommt ohne sie aus. Die mehr als hundertjährige Geschichte der Unterscheidung von öffentlichen und privaten Rechtsstreitigkeiten hat alle Zweifelsfälle erledigt, die Zuweisung einer Streitigkeit zu den Verwaltungs- und den Zivilgerichten stellt kein Problem mehr dar, zumal sie nicht mehr über das Ob, sondern nur noch über das Wie des Rechtsschutzes durch Gerichte entscheidet. Im übrigen hat es sich in einem arbeitsteiligen Wissenschaftsbetrieb durchgesetzt, sich in der Darstellung und Behandlung auf das Recht einzuschränken, das es nur mit dem Mein und Dein der Privatpersonen zu tun hat, und das Recht, das sich mit hoheitlichen Tätigkeiten befaßt, Spezialisten zu überlassen. Zu der Eingrenzung und Umschreibung der Zuständigkeitsbereiche sind keine strikten Kriterien notwendig. Es ist zwar nicht bestreitbar, daß Hoheitsträger Befugnisse haben, die nicht jedermann zustehen, in159
Heinrich De Wall, Die Anwendbarkeit privatrechtlicher Vorschriften im Verwaltungsrecht .Jus Publicum. Beiträge zum öffentlichen Recht Bd. 64 Tübingen 1999 S. 14 – 20, 29 – 31, 39, 55, 537 m. w. Nachw. 160 Otto Mayer, Zu Lehre vom öffentlichrechtlichen Vertrage AöR Bd. 3 (1888), S. 3 – 86 (S. 6). 161 Für den Willen eines Zivilrechtssatzes aber kann ein öffentlich-rechtliches Rechtsverhältnis nie etwas Rechtsähnliches sein. Es gibt keine dem öffentlichen und dem Privatrechte gemeinsamen Rechtsinstitute. Was man so nennt, sind meist privatrechtliche Rechtsinstitute, die man auf diese Weise in das jüngere öffentliche Recht hinüberschmuggeln will. Otto Mayer Deutsches Verwaltungsrecht, 3. Aufl. 1924 Bd. 1 S. 177 f. 162 Eugen Bucher, Das subjektive Recht als Normsetzungsbefugnis, 1965, S. 41 ff. 163 In der zweiten Auflage seines Deutschen Verwaltungsrechts Bd. 1, 1914, S. 276 ff.
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kommensurabel war aber auch die Rechtsmacht des römischen Magistrats oder gar des Kaisers im Vergleich zu der eines schlichten Römers oder Deutschen, und dennoch sind die römische Antike, das Mittelalter und das Heilige römische Reich ohne die Scheidung von öffentlichem und privatem Recht ausgekommen. Die Frage, ob die Anwendung eines Rechtssatzes oder Rechtsgedankens auf einen Sachverhalt auszuschließen ist, läßt sich mit der simplen Zuordnung zum öffentlichen oder privaten Recht indessen nicht beantworten, sie verlangt eine Begründung in der Sache selbst.
„Die richtige Meinung vom Schrecklichen“ Platon über das Staats- und Verwaltungsrecht Von Joachim Lege, Greifswald Es gibt wenige, deren fachliches Spektrum so breit gefächert ist wie das von Thomas Würtenberger. Es reicht im juristisch-Dogmatischen vom Verwaltungsprozessrecht über das Allgemeine und Besondere Verwaltungsrecht bis zum Staatsrecht – mit dem „Zippelius/Würtenberger“1 als Flaggschiff. Darüber hinaus hat der Jubilar immer wieder gewichtige Beiträge zu den sogenannten „Grundlagenfächern“ geleistet: zur juristischen Methodenlehre2, zur Rechtsgeschichte3, zur Rechts- und Staatsphilosophie – die Stichworte „Zeitgeist und Recht“4 und „Legitimität und Akzeptanz von Recht und Staat“5 mögen genügen. Es sei daher erlaubt, Thomas Würtenberger zum 70. Geburtstag eine kleine Skizze zu Platon zu überreichen: Was sagt dieser in seiner „Politeia“6 zum Staats- und Verwaltungsrecht, insbesondere zum Recht der inneren Sicherheit7 ? I. Platons Politeia: Vorbemerkungen Zunächst einmal, und selbstverständlich: explizit gar nichts. Denn zum einen ist der heutige Verfassungsstaat mit seiner rechtsstaatlichen Bindung von Regierung und Verwaltung nur bedingt vergleichbar mit den Verfassungen der griechischen Stadtstaaten (póleis) – deren berühmteste die Verfassung Solons für Athen ist (594 v. Chr.). Erst recht nicht gab es für Staat und Verwaltung im einfachen Recht die Gesetzesflut, die wir heute kennen. Zum anderen schwebt Platon in seiner „Politeia“ offenbar kein rational organisierter Staats- und Verwaltungsapparat mit Zuständigkeits- und Verfahrensnormen vor, demnach auch kein sprödes Organisationsrecht. Oder vielleicht, der Idee nach, doch? 1
Zippelius/Würtenberger, Deutsches Staatsrecht, 32. Aufl. 2008. Auch durch die Herausgabe von Karl Engisch, Einführung in das juristische Denken, 11. Aufl. 2010. 3 Gose/Würtenberger (Hg.), Zur Ideen- und Rezeptionsgeschichte des Preußischen Allgemeinen Landrechts, 1999. 4 Würtenberger, Zeitgeist und Recht, 2. Aufl. 1991. 5 Unter Beschränkung auf die selbständigen Schriften: Würtenberger, Die Legitimität staatlicher Herrschaft, 1973; ders., Die Akzeptanz von Verwaltungsentscheidungen, 1996. 6 Platon, Politeia/Der Staat, griechisch/deutsch, 2. Aufl. 1990. 7 Würtenberger/Heckmann, Polizeirecht in Baden-Württemberg, 6. Aufl. 2005. 2
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Platons „Politeia“, entstanden um 370 v. Chr., ist bekanntlich eines der wichtigsten, wenn nicht das wichtigste Werk der abendländischen Philosophie überhaupt – nicht nur der Rechts- und Staatsphilosophie. Dies liegt daran, dass die „Politeia“, wie man sagen kann,8 ein einziges großes Argument ist. Ausgangspunkt ist die Frage nach der Gerechtigkeit – deshalb auch der Untertitel perì dikaíou (Über das Gerechte), und zwar der Gerechtigkeit des Menschen, des Einzelnen. Um diese Frage zu klären, lässt Platon seinen Lehrer Sokrates und dessen Gesprächspartner allerdings große Umwege und Seitenwege gehen, wobei die Hauptidee diese ist9: Der Gerechtigkeit im Einzelmenschen entspricht, sozusagen analog, die Gerechtigkeit in der Polis, dem (Stadt-)Staat. Wenn man daher geklärt hat, was in der Polis gerecht ist, dann kann man a maiore ad minus prüfen, inwieweit dies auf den Einzelmenschen übertragbar ist. Aber um zu klären, was in der Polis gerecht ist, dafür greift Platon wieder zurück auf die Psychologie des Menschen,10 und um zu klären, wie die Gerechtigkeit der Polis erkannt und verwirklicht werden kann, entwirft er seine Wissens- und Erkenntnistheorie11, ferner seine Vorstellungen zu Bildung und Erziehung (paideía)12. Alles schließlich ist vielfältig ineinander verwoben und verschränkt. Ein Wort noch zum Titel des Werks: Die deutschen Übersetzungen der „Politeia“ tragen so gut wie alle den Titel „Der Staat“. Das ist unglücklich, denn das Wort für Staat oder Stadtstaat ist im Griechischen nicht Politeia, sondern Polis. Politeia bezeichnet hingegen die Verfassung einer Polis, Verfassung allerdings im vorneuzeitlichen Sinn. Gemeint ist also nicht ein Verfassungsgesetz, das die wesentlichen staatsrechtlichen Entscheidungen trifft und Vorrang vor dem sonstigen Recht hat (Prototyp: die amerikanische Verfassung von 1787). Gemeint ist vielmehr die gute oder schlechte „Verfassung“, in der sich eine Polis befinden kann – ebenso wie der menschliche Körper (Platon gibt immer wieder Anspielungen auf die Medizin13) oder eben der ganze Mensch. II. Die herrschaftsfreie Polis Die „Politeia“ umfasst zehn Bücher mit unterschiedlich vielen Abschnitten. Der Weg zu den Abschnitten, die uns hier interessieren, beginnt im Zweiten Buch, dort, wo die Parallele zwischen der Gerechtigkeit im Einzelmenschen und in der Polis gezogen wird. 8
Ich beziehe mich auf ein Gespräch mit Kay Waechter. Politeia II 10 (368e ff.). 10 Insbesondere Politeia IV 11 – 15 (434d ff.). 11 Insbesondere Politeia VI 20 ff. (509d ff.) – Liniengleichnis –; VII 1 ff. (514a ff.) – Höhlengleichnis. 12 Vor allem Politeia III 1 ff. (386a ff.) – Erziehung der Wächter –; VII 6 ff. (521c ff.) – Bildung der Herrscher/Philosophen. 13 Z.B. Politeia I 15 (341c ff.); I 18 (346b ff.); III 3 (389b f.); vor allem III 13 – 16 (405a ff.), IV IV 18 (444c-e) – Analogie von Gerechtigkeit und Gesundheit. 9
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Das Argument beginnt mit der gedanklichen Konstruktion einer Modell-Polis, die vor allem eines ist: herrschaftsfrei. Es ist eine Polis, in der sich „die Gesellschaft“ selbst organisiert, und zwar arbeitsteilig. Anfangs braucht man nur vier oder fünf Bürger, die gegenseitig die Grundbedürfnisse erfüllen: einen Bauern, einen Baumeister für Haus und Hof, einen Weber und einen Schuster für die Kleidung. Später verfeinern sich die Bedürfnisse und die Spezialkenntnisse, so dass ein Schmied für die Geräte, ein paar Viehzüchter und manch andere dazukommen, ferner Außenhändler, die im Auftrag der Polis in der Fremde das eintauschen, was daheim nicht produziert werden kann, schließlich noch Kleinhändler und Lohnarbeiter.14 Die Verteilung der Güter innerhalb der Polis stellt sich Platon ebenfalls herrschaftsfrei vor: Sie geschieht durch den Markt (agorá) und das Geld (nómisma).15 Dass dieser Markt irgendwie organisiert werden muss, wird zunächst überhaupt nicht thematisiert. An späterer Stelle heißt es allerdings, die Organisation dieses Bereichs – in heutigen Kategorien: des privaten Schuld- und Wirtschaftsrechts – solle nicht Aufgabe der Gesetze der Polis sein. Vielmehr setzt Platon insoweit auf Selbstregulierung, einschließlich der Einsetzung von (Schieds-)Gerichten: Es sei unter der Würde „schöner und guter Männer (andrási kaloı˜s kagathoı˜s)“, sich die notwendigen Regeln über Vertragsabschlüsse, Mängelgewährleistung und so weiter durch („staatliches“) Gesetz vorschreiben zu lassen.16 III. Das Bedürfnis nach Herrschaft Das Bedürfnis nach Herrschaft beginnt, so meint Platon, erst dann, wenn die Bedürfnisse weiterwachsen, wenn die Menschen nicht nur Butter und Brot, sondern auch „Zukost“ haben wollen – Platon nennt dies die „üppige“ oder auch „aufgeschwemmte“ Polis.17 Interessanterweise sucht Platon nun die Schuld für die Entstehung von Herrschaft nicht bei anderen, sondern in der Polis selbst: Der Sündenfall, der ein Bedürfnis nach Kriegern und „Wächtern“ weckt, ist die eigene Aggressionspolitik. Weil die Polis die vielen überflüssigen Bewohner, die für Entstehung und Befriedigung der vielen überflüssigen Bedürfnisse sorgen, nicht mehr ernähren kann, versucht sie, etwas vom Acker- und Weideland der Nachbar-Polis zu erobern. Aber natürlich kann die Aggression auch von der Nachbar-Polis ausgehen, so dass in jedem Fall Krieg (pólemos) entsteht.18 Mit dem Krieg entsteht nun das Bedürfnis nach einem Heer – und nach Leuten, die sich ganz ebenso auf die Kriegführung spezialisieren, wie sich die anderen Bürger der Polis auf ihren jeweiligen Beruf konzentrieren müssen.19 Platon nennt diese 14
Politeia II 11 – 12 (368b – 371e). Politeia II 12 (371b). 16 Politeia IV 4 (425c f.). 17 Politeia II 13 (372e). 18 Politeia II 14 (373d ff.). 19 Politeia II 14 (374c). 15
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Leute bekanntlich die Wächter (phy´lakes) – und vielleicht sollte man das, was Platon mit ihnen meint, heute am besten mit „der Staat“ übersetzen: „Staat“ im Sinne eines Herrschaftsapparats, dessen Aufgabe zunächst der Schutz nach außen ist, dann aber auch die Aufsicht über „die Gesellschaft“, das heißt darüber, dass die Bürger im Inneren die Gesetze einhalten.20 IV. Die Zähmung von Herrschaft Das Hauptanliegen von Platons „Politeia“ ist nun, diesen Machtapparat der Wächter – und Wächterinnen21 – zu bändigen, zu zähmen. Sie sollen schließlich nur gegen die äußeren und inneren Feinde vorgehen, nicht die eigenen Mitbürger unterwerfen oder berauben. Dass eine solche Zähmung nicht unmöglich ist, meint Platon, sieht man an edlen Hunden, die er ausdrücklich als „philosophisch“ bezeichnet: Sie können unterscheiden, nämlich Bekannte und Unbekannte, und sie können lernen, nur gegen die Feinde aggressiv zu sein.22 Konkret ist es nun die Erziehung (paideía), von der Platon sich die nötige Zähmung der Wächter erhofft. Diese Erziehung wird im Dritten Buch geradezu lustvoll ausgemalt: Welche Literatur und welche Musik darf man den zukünftigen Wächtern, solange sie noch Kinder sind, zumuten? Wie ist der Sportunterricht zu gestalten? Dies muss hier im Einzelnen nicht interessieren, auch nicht, dass die Wächter von Anfang an kaserniert werden, kein Eigentum oder Geld haben dürfen und von den Bürgern der Polis alles, was sie brauchen, in Naturalien erhalten23 – wenn man will, eine radikale Fassung des beamtenrechtlichen Alimentationsprinzips. Vielmehr soll der Gedanke betont werden, dass die künftigen Wächter während der gesamten Erziehung ständig auf die Probe gestellt werden – indem man sie Gefahren und Strapazen, aber auch Einflüsterungen und Bestechungsversuchen aussetzt. Nur wer aus diesen Prüfungen heil hervorgeht, ist schließlich ein Wächter „im wahrsten Sinne“, und nur diese Elite soll Herrscher sein.24 Die übrigen Wächter, die nicht ganz so vertrauenswürdig sind, will Platon an dieser Stelle25 lediglich als Hilfs- und Einsatztruppe der Herrscher bezeichnen. V. Die vollkommen gute Polis Wir können kurz innehalten. Platon hat nunmehr, am Anfang des Vierten Buchs, das konstruiert, was er wollte: eine Polis, in der die Gerechtigkeit – nein, nicht 20
Z.B. Politeia III 22 (415d-e). Zur Gleichstellung der Frauen bei den Wächtern: Politeia V 1 ff. (449a ff.). 22 Politeia II 16 (376a-b). 23 Politeia III 22 (416e), IV 1 (420a). 24 Politeia III 20 (413e ff.). 25 Politeia III 20 (414b); Platon ist terminologisch häufig nicht ganz konsequent.
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„herrscht“, auch nicht „sich verwirklicht“, sondern: in der sie sich zeigt, in der man sie entdecken kann.26 (Dass dies nur geschieht, um danach auf die Gerechtigkeit des einzelnen Menschen zurückzukommen,27 sei der guten Ordnung halber nochmals angemerkt.) Etwas unvermittelt behauptet Platon nun, seine wohlgegründete, vollkommen gute (teléo¯s agathós) Polis sei durch vier Eigenschaften gekennzeichnet: Sie sei weise (sophós), tapfer (andreíos), besonnen (so¯´phro¯n) und gerecht (díkaios).28 Und sie besteht offenbar aus drei „Klassen“ oder „Ständen“ (génous): erstens den Herrschern, das heißt, den Wächtern im wahrsten Sinn; zweitens den übrigen (Hilfs-)Wächtern – beide zusammen könnte man aus heutiger Sicht, wie gesagt, auch „den Staat“ nennen. Die dritte „Klasse“ bezeichnet Platon, allerdings erst am Ende des nun folgenden Gedankengangs,29 als Klasse der chre¯matiste¯´s. Dies wird meist mit „Geschäftsleute“ übersetzt,30 was die Sache aber nicht ganz trifft, denn es gehören eben auch die Lohnarbeiter dazu31. Deshalb sollte man unter Platons „drittem Stand“, unter dem génos chre¯matistikós, am besten das verstehen, was wir heute die Privatwirtschaft nennen: denjenigen Bereich der Gesellschaft also, der die Güter (chre¯mata) erzeugt und verteilt, die in der Gesellschaft gebraucht (chre˜sthai) werden. Und von dem die ersten beiden Stände letztlich abhängen, weil sie ja von ihm, und zwar in Naturalien, bezahlt werden. VI. Weisheit und Tapferkeit Wir hatten gesagt: In der vollkommen guten Polis, so wie Platon sie entworfen hat, lässt sich die Gerechtigkeit entdecken – aber wie? Platon schlägt vor: Weil die genannten vier Eigenschaften – weise, tapfer, besonnen, gerecht – in der vollkommen guten Polis eine Einheit, ein Ganzes bilden, könne man zunächst die drei ersten herausgreifen. Dann ist das, was übrig bleibt, die Gerechtigkeit.32 Platon beginnt mit der Weisheit – wo findet sich diese? Die Antwort ist einfach: bei den Herrschern, also den Wächtern im wahrsten (oder auch genauesten33) Sinn
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Politeia IV 19 (432b ff.). Politeia IV 11 ff. (434d ff.). 28 Politeia IV 6 (427e). 29 Politeia IV 11 (434c). 30 Gängig ist ferner die Übersetzung mit „Erwerbsstand“; durchaus treffend auch Jantzen, in: Volpi/Nida-Rümelin, Lexikon der philosophischen Werke, 1988, Artikel „Politeia“: „die gesamte ,zivile‘ Bevölkerung“. 31 Siehe oben bei Fußn. 14. 32 Politeia IV 6 (428a). 33 Politeia VI 15 (503b), wo es heißt, als „genaueste Wächter“ sollten die Philosophen eingesetzt werden. 27
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des Wortes. Nur sie haben das wahrhafte Wissen (episte´¯ me¯), das dazu befähigt, die Polis zu leiten.34 Tapferkeit? Auch diese Eigenschaft der Polis ist bei einem einzigen „Stand“ zu verorten, nämlich dem der (einfachen) Wächter. Und nun heißt es über diese Tapferkeit etwas kryptisch: Sie bestehe in der Kraft (dy´namis), die richtige Meinung vom Schrecklichen (orthe´¯ dóxa tou˜ deinou˜) zu bewahren (so´¯ zein), das heißt, an ihr festzuhalten auch in Kummer (ly´pe¯) und Furcht (phóbos), in Freude (he¯done¯´) und Gier (epithymía).35 VII. Insbesondere: „Die richtige Meinung vom Schrecklichen“ Die „richtige Meinung vom Schrecklichen“ – was mag damit gemeint sein? Zunächst: Unter „Meinung“ (dóxa) versteht Platon eine bestimmte Form der Erkenntnis – hier im Gegensatz zur episte¯´me¯. Die episte¯´me¯ bezeichnet wirkliches, wahres – darf man sagen: selbst erarbeitetes? – Wissen: das Wissen der „Philosophen“. Demgegenüber ist dóxa das Wissen der „Techniker“, der, wenn man so will, angewandten Wissenschaft. Platon wird dies an späterer Stelle genauer herausarbeiten.36 Sodann: „das Schreckliche“. Interessanterweise bezeichnet Platon als „schrecklich“ diejenigen Dinge, bei denen der Gesetzgeber (nomothéte¯s) verkündet hat, dass und inwieweit (taúta te kaì toiaúta) sie schrecklich sind. Mit anderen Worten: Hinsichtlich dessen, was „schrecklich“ ist, überlässt er dem Gesetzgeber die Definitionsmacht. Schließlich: Eine „richtige“ (orthós) Meinung vom Schrecklichen kann nur durch Bildung (paideía) vermittelt werden, so dass Sklaven oder Tiere nicht wirklich tapfer sein können.37 Es fehlt ihnen offenbar die Einsicht38 darein, dass die Festlegungen des Gesetzgebers „richtig“ sind – aber auch die Möglichkeit des Zweifels, sie könnten falsch sein. Deshalb ist es bei Sklaven und Tieren wohl auch keine besondere Leistung, Befehle zu befolgen. Sie bedürfen nicht, wie die Wächter, in Gestalt der Tapferkeit einer Kraft (dy´namis), die „richtige Meinung vom Schrecklichen“ zu retten und zu bewahren (so¯´zein). Mit Kant zu sprechen: Sie mögen zwar Mut haben, aber nicht Mut aus Pflicht.39
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Politeia IV 6 (428b-c). Politeia IV 7 (429b-d, 430a-b). 36 Politeia VI 20 ff. (509d ff.) – Liniengleichnis –. 37 Politeia IV 7 (430b). 38 Mit anderen Worten: Tapferkeit hat ein Element des Wissens (um das, was richtig ist) und ein Element des Wollens (den Mut, dafür einzustehen). 39 Vgl. Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht (1798), Werke XII, 1977, § 74 am Ende. 35
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* Es fällt nicht schwer, in Platons Konzeption der Tapferkeit des Wächterstandes das zu entdecken, was heute ein Kernstück des Rechtsstaats ist: die Bindung der Exekutive, der „vollziehenden Gewalt“, an die Gesetze, d. h. an das einfache Recht (Art. 20 Abs. 3 GG: „Gesetz und Recht“). Allein die Gesetze definieren, was „schrecklich“ ist und was nicht (tá deiná kaì me´¯ )40 – frei übersetzt: was böse und gut, rechtmäßig oder rechtswidrig ist. Zugestanden sei: Die Wortwahl „schrecklich“ spricht dafür, dass Platon hier vor allem an das gedacht haben wird, was wir heute Strafrecht nennen – und man könnte tá deiná kaì me¯´ auch übersetzen mit: was Verbrechen sind und was nicht. Nichtsdestoweniger wird man die Parallele zur heutigen Zeit etwas großzügiger ziehen dürfen: Platon spricht hier von der Gesetzesbindung der staatlichen Verwaltung – und übrigens auch von der besonderen Treuepflicht der Beamten. Sie müssen die Gesetze so in sich aufsaugen, wie ein gut vorbereitetes Stück Stoff den Farbstoff aufsaugt, nämlich so, dass sie nicht mehr ausgewaschen werden können – nicht einmal durch Bestechung, die stärker ist als jede Lauge.41 Zieht man die Parallele in dieser Weise, drängt sich die nächste Frage von selbst auf: Wer garantiert eigentlich, dass die Gesetze das „Schreckliche“, also Gut und Böse, richtig definieren? So dass die „richtige Meinung“ über Gut und Böse, die die Wächter aufsaugen, wirklich eine richtige Meinung ist? Nun, das müssen dann wohl die „Wächter im wahrsten Sinn“ sein: Sie als Gesetzgeber garantieren die gute Verfassung (politeía), aus der auch die richtigen Gesetze entspringen. (Ähnlich formuliert Art. 20 Abs. 3 GG: „Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung gebunden.“) Deshalb wird Platon später, und sozusagen in einem zweiten Durchgang, entfalten, wie man die Wächter im wahrsten Sinn durch weitere Bildung zu dem macht, was Herrscher sein sollten: Philosophen42, die das Gute und Gerechte „als solches“ erkennen (Bücher 6 und 7).43 VIII. Besonnenheit: Gegenseitige Akzeptanz von Staat und Gesellschaft Aber bleiben wir im Vierten Buch! Denn es bleiben in der vollendet guten Polis noch zu entdecken die Besonnenheit (so¯phrosy´ne¯) und die Gerechtigkeit (dikaiosy´ne¯). 40
Vgl. Politeia IV 7 (430b). Vgl. Politeia IV 7 (430a-b); dort heißt es allerdings nicht Bestechung, sondern he¯done´¯ , wörtlich: Freude, Lust. 42 Politeia V 18 (473c-d); VI 15 (503b). 43 Politeia VI 16 ff. (504a ff.). 41
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Etwas überraschend ordnet Platon die Besonnenheit – man könnte wohl auch übersetzen: Vernünftigkeit, im Sinn von: sei doch vernünftig! – nicht wie zuvor einer einzigen der drei „Klassen“ zu, sondern allen drei gemeinsam. Besonnenheit ist eine Art Zusammenklang (sympho¯nía) und Harmonie (harmonía) aller drei „Stände“,44 ja man wird sagen dürfen: ein Konsens (homónoia, wörtlich: Eintracht) über die Legitimation der politischen Herrschaft. „Wir nennen“, sagt Platon, „diese Eintracht Besonnenheit, wenn der von Natur (phy´sei) Bessere und der von Natur Schlechtere darin übereinstimmen (sympho¯nía), wer von ihnen herrschen soll.“45 Im Klartext bedeutet dies: Es muss die dritte Klasse, die, wenn man so will, „bürgerliche Gesellschaft“, den Löwenanteil der Akzeptanzleistung aufbringen. Sie muss akzeptieren, sich von den ersten beiden Klassen, dem „Staat“ in Gestalt von Regierung (Herrscher) und Verwaltung (Wächter), beherrschen zu lassen. Es spricht nicht sehr für Platons diplomatisches Geschick, dass er dies mit der Anforderung verknüpft, der dritte Stand müsse obendrein akzeptieren, von Natur aus schlechter zu sein. Immerhin spricht einiges dafür, dass Platon auch von den Wächtern – allen Wächtern, denen im engeren und im weiteren Sinn – so etwas wie eine Akzeptanz der „zivilen“ Bevölkerung verlangt, ja mehr noch: Achtung und Dankbarkeit. Was die Achtung betrifft, heißt es in einer schönen Formulierung im Dritten Buch, dort, wo die Ausführungen über die Erziehung der Wächter beginnen: Die Wächter sollten sich ausschließlich einem einzigen, ganz spezifischen Geschäft widmen, nämlich der Freiheit der Polis (eleuthería te´¯ s póleo¯s).46 Damit ist zum einen der Schutz nach außen gemeint, aber wohl auch, innenpolitisch, die Forderung, die Freiheit der (Mit-)Bürger „zu achten und zu schützen“ (vgl. Art. 1 Abs. 1 GG). Die Dankbarkeit schließlich kommt zum Ausdruck, wenn Platon den Unterschied seiner Verfassung zu den anderen wie folgt auf den Punkt bringt: „Wie nennen die Regierenden in den anderen Poleis ihr Volk (de¯´mos)?“ „Knechte (doúlous).“ „Und bei uns, wie nennen sie es hier?“ „Arbeitgeber (misthodóte¯s)47 und Ernährer (tropheús).“48 IX. Gerechtigkeit: Wahrung der Kompetenzordnung Was ist nun schließlich in der vollendet guten Polis, als letzte in der Quadriga ihrer guten Eigenschaften, die Gerechtigkeit? Platon knüpft hier an einen Gedanken an, den er schon beim Entwurf der Miniatur-Polis formuliert hatte und der auch angeklungen war, als er das Bedürfnis nach Wächtern ins Spiel brachte: Jeder Mensch
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Politeia IV 8 (430e). Politeia IV 9 (432a-b). 46 Politeia III 8 (395b-c). 47 Wörtlich: Lohngeber. 48 Politeia V 11 (463a-b). 45
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kann nur einen einzigen Beruf (epite´¯ deuma) wirklich perfekt ausüben.49 Deshalb sollte sich jeder Einzelne auf den seinen konzentrieren. Und deshalb besteht die Gerechtigkeit in der vollendet guten Polis darin: tà hautou˜ práttein kaì me´¯ polypragmoneı˜n – das Seine tun und sich nicht in Vieles einmischen. Untermauert wird dies mit dem Argument, auch bei Gericht gehe es immer darum, dass niemand sich Fremdes aneignen darf und niemand des Seinen beraubt wird.50 Übertragen auf die Polis ist daher ganz klar, was Gerechtigkeit bedeutet: Alle drei „Klassen“ (génous) müssen sich auf ihre Aufgaben beschränken: die Herrscher, die Wächter und die „Privatwirtschaft“ (chre¯matiste¯´s). Wenn sie es tun, ist dies Gerechtigkeit, tun sie es nicht, Ungerechtigkeit. * „Das Seine tun und sich nicht in Fremdes einmischen“ – dies lässt sich, wie ich meine, ganz zwanglos in heutige staatsrechtliche Kategorien übersetzen: „Gerechtigkeit“ in diesem Sinn wäre dann nichts anderes als die Einhaltung der Kompetenzordnung. Die Regierung hat sich in ihrem Zuständigkeitsbereich zu halten, ebenso die Exekutive, aber auch die Privatwirtschaft. Ungerecht ist es hingegen, wenn sie sich in den Bereich der jeweils anderen einmischen – etwa die Wirtschaft in staatliche Angelegenheiten oder der Staat in die Wirtschaft. (Nebenbei: Auch die Grundrechte können ja als negative Kompetenznormen begriffen werden, als Gewährung von Freiheitsbereichen, in die sich der Staat „nicht einmischen“ darf.) Mit ein wenig Übertreibung kann man daher sagen: Platons Verfassung der besten Polis – eben die politeía – und die modernen Verfassungen mit dem Prototyp der amerikanischen von 1787 haben in Sachen Gerechtigkeit ihren Hauptpunkt darin, im Staat klare Kompetenzen zu schaffen. Das quis iudicabit, das „Wer“ der Entscheidung ist vorrangig gegenüber dem „Wie“. Allerdings: Während Platon hinsichtlich der materiellen Gerechtigkeit des „Wie“ auf die Philosophen vertraut, bleibt uns heute – faute de mieux – nur das Vertrauen auf einen vernünftig strukturierten demokratischen Prozess.51 (Das Problem der Verfassungsgerichtsbarkeit bleibe außen vor.) X. Die gerechte Polis und der gerechte Mensch Erinnern wir uns: Das Hauptthema von Platons „Politeia“ ist im Grunde gar nicht die Gerechtigkeit der Polis, sondern die Gerechtigkeit des Einzelmenschen. Oder mit ein wenig Übertreibung: Die „Politeia“ ist primär gar kein Werk über den Staat, sondern ein Werk über die conditio humana, über die Verfassung des Menschen. 49
Z.B. Politeia III 7 (394e). Politeia IV 10 (433a ff.). 51 Würtenberger, Zeitgeist und Recht (Fußn. 4), S. 191 ff.; Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 16. Aufl. 2010, § 17 III; ders., Rechtsphilosophie, 6. Aufl. 2011, §§ 11 II 4, 32 I und II. 50
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Sieht man die Dinge so, wird man einige der „anstößigen“ Passagen des Werks, insbesondere über die Eugenik und die nützlichen Lügen seitens der Regierung,52 vielleicht in milderem Licht sehen können – als Mythen, die den Blick auf uns selbst verfremden und uns dadurch freier machen, offener für die Paradoxien zum Beispiel der Selbstbeherrschung53 oder Selbsttäuschung54. Und man kann Platon ja auch nicht vorwerfen, er überschätze die Möglichkeiten derer, die in den real existierenden historischen Verfassungen „gerecht“ sein und bleiben wollen. Das gesamte Achte Buch handelt davon, wie sie, die Gerechten, immer wieder scheitern müssen, wenn die real existierende Polis den geradezu zwangsläufigen Weg von der besten Verfassung – Aristokratie oder Königtum – zur schlechtesten, der Tyrannis, beschreitet. Der „Zauber Platons“ scheint mir daher auch weniger darin zu bestehen, dass er Elitenherrschaft oder gar totalitäre Staatsformen verherrlicht.55 Er dürfte vielmehr in dem großen Bekenntnis der „Politeia“ liegen, dass dennoch und trotz alledem der gerechte Mensch glücklicher ist als der ungerechte – eben weil er über sich selbst in Freiheit herrscht. XI. Schlussbemerkung Wobei die Betonung auf dem „herrscht“ liegt. Denn man sollte nicht übersehen, dass Platon gerade nicht mit einer Utopie endet,56 sondern mit einer Utopie beginnt: mit einer herrschaftsfreien Polis, die geradezu ur-liberal einem Markt vertraut, der von niemandem reguliert wird (und die damit fast schon wieder in das andere Extrem umschlägt,57 in den Kommunismus). Demgegenüber ist Platon klar, dass es ohne Herrschaft nicht geht. Es ist ihm sogar klar, dass es keine perfekte Herrschaft gibt, und wenn es sie gäbe, dann müsste sie auch wieder zerfallen.58 Was das heutige Staats- und Verwaltungsrecht angeht, so konnte er von ihm natürlich noch nichts wissen. Wir wollen trotzdem festhalten, dass in seiner „Politeia“ in nuce zweierlei angelegt ist: Gerechtigkeit ist zuvörderst eine klare Kompetenzordnung; und was inhaltlich richtig und falsch ist – was die „richtige Meinung vom Schrecklichen“ ist –, insoweit ist die Exekutive an die Gesetze gebunden.
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Insbesondere Politeia V 8 (459a ff.). Vgl. Politeia IV 8 (430e). 54 Vgl. Politeia II 20 (382a), II 21 (383a-c) zur sogenannten „Lüge in wahrhafter Weise“ (ale¯thõs pseu˜dos). 55 So der bekannte Vorwurf von Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde I: Der Zauber Platons, 6. Aufl. 1980. 56 So die gängige Interpretation. 57 Zu diesem Gedanken: Politeia VIII 15 (564a). 58 Politeía VIII 3 (545c ff.). 53
Staatszielbestimmungen und Lebensordnungen Zur Entstehung der Verfassung des Freistaats Thüringen Von Hans-Peter Schneider, Hannover I. Einleitung Nach der Wiedervereinigung bildete der Freistaat Thüringen mit seiner Verfassung vom 25. Oktober 1993 das „Schlusslicht“ im Konstitutionalisierungsprozess der neuen Länder. Dies hatte sowohl Vor- als auch Nachteile. Einerseits konnte man bei den Beratungen nicht nur auf Erfahrungen mit Verfassungsreformen in den alten Ländern zurückgreifen, sondern verfügte auch über die gesamte Breite des Spektrums von Regelungsmöglichkeiten und -alternativen in den vier bereits vorhandenen Verfassungen von Sachsen, Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern. Gerade dieser Vorzug eines reichen Erfahrungsschatzes mit Fragen der Verfassunggebung erwies sich aber zugleich auch als Hindernis für zielstrebige, lösungsorientierte Debatten, weil damit die gesamte Vielfalt und Komplexität einer bestimmten Materie stets präsent war. Es gab praktisch zu jedem Vorschlag immer auch ein „ja, aber dort …“, mit dem just auf eine abweichende oder manchmal geradezu konträre Vorschrift anderswo hingewiesen werden konnte. Bisweilen erinnerten die teils überaus zähen Debatten im Verfassungsausschuss des Landtages, dem der Jubilar und ich als Sachverständige angehörten, an Gorbatschows Wort vom „zu spät Kommenden“, den das Leben bestraft. Rückblickend erscheinen jedoch die Vorgänge von Erfurt in einem etwas milderen Licht. So würde ich heute sagen: „Gut Ding will Weile haben“ oder besser: „Ende gut, alles gut“. II. Vorgeschichte und kultureller Hintergrund Die Verzögerung der Verfassungsarbeiten in Thüringen hatte aber auch noch einen anderen, tieferen Grund, der mit ihrer Vorgeschichte nach der Wiedervereinigung sowie mit der besonderen Mentalität von Thüringern zusammenhängt und deshalb einer etwas ausführlicheren Darstellung bedarf. Beginnen wir mit der Mentalität, über die ich mir, selbst Thüringer, durchaus ein Urteil erlauben kann. Sie ist mit der geographischen Lage Thüringens, seinen waldreichen Hügeln und Landschaften, seiner wechselvollen Historie und nicht zuletzt mit seiner großen kulturellen Vergangenheit zu erklären. Dass Thüringen mitten in Deutschland liegt, weiß jeder, nicht aber dass es keinerlei Außengrenzen zu europäischen Nachbarn hat, sondern von fünf anderen deutschen Ländern umgeben ist, mit denen es nicht selten im Streit
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lag. Dass gilt insbesondere für Sachsen, das sich im 15. Jahrhundert einen Großteil Thüringens einverleibt hatte. Es beredtes Zeugnis davon findet sich in Lessings „Minna von Barnhelm“. Als die Titelheldin sich in einem Gasthaus einquartieren will, wird sie vom Wirt befragt: DER WIRT: Einen kleinen Augenblick Geduld! – Er schreibt. „Dato, den 22. August a.c. allhier zum Könige von Spanien angelangt“ – Nun Dero Namen, gnädiges Fräulein? DAS FRÄULEIN: Das Fräulein von Barnhelm. DER WIRT schreibt. „Gütern aus Sachsen“ – Aus Sachsen! gnädiges Fräulein? DAS FRÄULEIN: Von meinen Gütern aus Sachsen. DER WIRT schreibt. „von Barnhelm“ – Kommend? woher, Ei, ei, aus Sachsen, gnädiges Fräulein? aus Sachsen? FRANZISKA (die Zofe): Nun? warum nicht? Es ist doch wohl hier zu Lande keine Sünde, aus Sachsen zu sein? DER WIRT: Eine Sünde? behüte! das wäre ja eine ganz neue Sünde! – Aus Sachsen also? Ei, ei! aus Sachsen! das liebe Sachsen! – Aber wo mir recht ist, gnädiges Fräulein, Sachsen ist nicht klein, und hat mehrere, – wie soll ich es nennen? – Distrikte, Provinzen. – Unsere Polizei ist sehr exakt, gnädiges Fräulein. – DAS FRÄULEIN: Ich verstehe. Von meinen Gütern aus Thüringen also. DER WIRT: Aus Thüringen! Ja, das ist besser, gnädiges Fräulein, das ist genauer. – Schreibt und liest. „Das Fräulein von Barnhelm, kommend von ihren Gütern aus Thüringen“.
Es versteht sich daher, dass die Thüringer nicht gut auf die Sachsen (und umgekehrt) zu sprechen sind. Aber auch von den übrigen Nachbarn, den Hessen, Niedersachsen, Anhaltinern und Bayern, halten sie nicht viel. Sie sind stolz auf ihren eigenen Dialekt und in vielen Dingen des Lebens sich selbst genug. Typisch für Thüringen ist auch die Landschaft mit ihren ausgedehnten Wäldern, malerischen Tälern und sanften Hügeln, auf denen zumeist noch Ruinen ehemaliger Burgen stehen. Nicht zu Unrecht wird das Land daher als „grünes Herz Deutschlands“ bezeichnet – ein Begriff, der mir seit Kindheit vertraut ist. Es lädt vor allem zu Wanderungen oder Spaziergängen ein und hat sich zu einer Art „Mekka“ für diejenigen entwickelt, die abseits der großen Touristenzentren Erholung suchen. Auch die Thüringer selbst, so offenherzig und gastfreundlich sie sind, verbringen ihren Urlaub, genannt „Sommerfrische“, lieber in der Heimat, als auf Reisen zu gehen oder gar ferne Kontinente zu besuchen. Und es ist für jeden Thüringer, der etwas auf sich hält, ein Gebot der Selbstachtung, einmal in seinem Leben den 170 km langen „Rennsteig“ durchlaufen zu haben – ein Wanderweg auf der Kammlinie des Thüringer Waldes, der sich in Höhen von 500 bis 970 m von Nordwest nach Südost zieht, beginnend im Eisenacher Stadtteil Hörschel an der Werra und endend in Blankenstein an der Saale. Die Thüringer wissen, über welche Naturschönheiten sie verfügen, und werden darin durch einen immer stärkeren Zustrom von Feriengästen tagtäglich bestätigt.
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Dieses gefestigte Selbstbewusstsein der Thüringer reicht weit in die Geschichte zurück und hat alle territorialen Abspaltungen, Teilungen und Zersplitterungen in der Zwischenzeit unbeschadet überstanden. Beginnend mit dem Königreich Thüringen (Thoringia, vermutlich abgeleitet aus dem Germanischen: „Söhne Thors“), das im Jahr 531 n. Chr. von den Merowingern unterworfen und in das Frankenreich eingegliedert wurde, erlebte das Land als eigener Staat seine Hochblüte zur Zeit der Ludowinger von 1131 bis 1264. Danach fiel die Landgrafschaft Thüringen im Wege der Erbfolge an die sächsischen Wettiner und wurde mit der Leipziger Teilung 1485 in zwei Herrschaftsbereiche aufgespalten: die ernestinischen und albertinischen Lande. Durch weitere Teilungen zerfiel Thüringen in eine Vielzahl von Zwergstaaten. Zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert waren es nicht weniger als 38, im 19. Jahrhundert 14 und bis ins 20. Jahrhundert hinein immerhin noch 8 Fürstentümer – das Paradebeispiel für deutsche Kleinstaaterei. Aber selbst innerhalb dieser „Länder“ gab es bisweilen ein hohes Maß an Vielfalt. So betrieben um das Jahr 1890 im größten Einzelstaat Thüringens, dem Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach, 15 verschiedene Gesellschaften eigene Eisenbahnen. Man wird daher nicht umhinkommen, den Thüringer auch einen gewissen Hang zur Nabelschau und Eigenbrötelei zu attestieren. Erst 1920 kam es durch Vereinigung verschiedener Gebietsteile wieder zur Gründung des Landes Thüringen. Die stärkste Klammer unter den Thüringern und den größten Aktivposten im öffentlichen Ansehen des Landes bildet zweifellos die einzigartige kulturelle Tradition. Luther hatte in Erfurt studiert und lebte während seiner Verbannung als Junker Jörg in der Wartburg bei Eisenach. Johann-Sebastian Bach wurde in Eisenach geboren und fand seine erste Anstellung in Arnstadt. In Weimar wirkten Goethe und Schiller, an der Universität Jena Fichte, Schelling und Hegel. Zur selben Zeit begründeten Dichter wie Novalis, Clemens Brentano und Friedrich Schlegel die deutsche Romantik. Von den Jenaer Burschenhaften gingen die ersten Impulse zur nationalen Einigung und zur Schaffung liberaler Verfassungen aus. Unter dem Pädagogen Friedrich Fröbel, dem „Erfinder“ des Kindergartens, entstand 1817 in Rudolstadt mit der Allgemeinen Deutschen Bildungsanstalt die erste moderne Schule. Mit der Gothaer Versicherung von 1820 legte Ernst-Wilhelm Arnoldi den Grundstein für das deutsche Versicherungswesen. Am 1. März 1882 eröffnete Oskar Tietz in Gera das Warenhaus Tietz, aus dem später der Hertie-Konzern hervorging. In Jena entwickelte Ernst Abbe das Mikroskop und begründete mit Carl Zeiß ein Weltunternehmen. In Thüringen stand schließlich auch die Wiege der Sozialdemokratie: 1869 gründeten August Bebel und Wilhelm Liebknecht in Eisenach die Sozialdemokratische Arbeiterpartei, die 1875 mit dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein Ferdinand Lassalles in Gotha fusionierte. Das Gothaer und das Erfurter Programm wiesen der Sozialdemokratie für Jahrzehnte die Richtung. Kein Wunder, dass die Thüringer ganz besonders stolz auf diese reiche kulturelle Vergangenheit sind und sich höchst ungern von anderen belehren oder gar schulmeistern lassen.
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III. Verfassungsentwürfe Damit sind wir wieder beim Geschäft der Verfassunggebung in Thüringen mit ihrer besonderen Vorgeschichte, in der sich all die beschriebenen Eigenschaften und Mentalitäten der Thüringer wie in einem Prisma widerspiegeln und niedergeschlagen haben. Denn das Verfahren belegt zum einen, wie schnell sich gebildete Laien mit den schwierigen Materien des Verfassungsrechts haben vertraut machen können, zum anderen aber auch, dass diese in ihrem Eigensinn nicht frei von Dünkel, ja sogar von einer gewissen Überheblichkeit waren. Im ersten Thüringer Landtag gab es nur drei Juristen, von denen jedoch keiner in den Verfassungsausschuss entsandt wurde. Man glaubte vielmehr zunächst, mit den beiden bereits vorliegenden Entwürfen des „Politisch-Beratenden Ausschusses zur Bildung des Landes Thüringen“ (PBA) und des Jenaer Professors für öffentliches Recht und Rechtsphilosophie, Gerhard Riege, aus dem Jahre 1990 ohne zusätzlichen juristischen Sachverstand auskommen zu können. In diese noch weitgehend offene Situation platzte (und patzte) der rheinland-pfälzische Justizminister Peter Caesar (FDP) am 5. Oktober 1990 mit einem eigenen Entwurf, der sich stark an das Grundgesetz anlehnte und den er, obwohl sich die thüringische CDU zuvor öffentlich davon distanziert hatte, in einer Pressekonferenz als die neue Thüringer Verfassung vorstellte. Die Verärgerung über diesen unsensiblen Vorstoß war groß. Da half es auch nicht mehr, dass man die Vorlage dadurch zu retten versuchte, dass man sie rasch in „Eisenacher Entwurf“ umbenannte. Sie wurde als „Wessi-Entwurf“ betrachtet, als Bevormundung empfunden und somit als Einmischung in die inneren Angelegenheiten Thüringens fraktionsübergreifend abgelehnt. Leider hatte es mit dieser kompromisslosen Zurück- und Zurechtweisung nicht sein Bewenden. Die Skepsis keineswegs nur gegenüber jedem fremden Rat, sondern namentlich gegenüber Juristen überschattete auch die Verfassungsberatungen. Noch im Dezember 1990 kündigten alle fünf Fraktionen des 1. Thüringer Landtages (CDU, SPD, FDP, Linke Liste-PDS und Neues Forum/Grüne/Demokratie Jetzt) eigene, selbst konzipierte Entwürfe an und vereinbarten, nicht dem Justizausschuss des Landtages oder gar einer aus Nicht-Parlamentariern bestehenden Enquête-Kommission die Erarbeitung der Verfassung zu überlassen, sondern zu diesem Zweck einen speziellen Ausschuss einzurichten, der möglichst neutral und allein mit führenden Abgeordneten der einzelnen Fraktionen besetzt werden sollte. So geschah es dann auch. Bei der ersten Lesung der inzwischen vorliegenden Fraktionsentwürfe im Landtag am 12. September 1991 wurde ein „Verfassungs- und Geschäftsordnungsausschuss“ bestellt, an den alle fünf Entwürfe einstimmig überwiesen wurden. Von einer Hinzuziehung externer Sachverständiger oder gar von deren unmittelbarer Beteiligung an den Verfassungsberatungen war zu diesem Zeitpunkt noch überhaupt keine Rede. Als erste hatte die CDU-Fraktion am 10. April 1991 ihren Entwurf vorgelegt. Es folgten am 25. April die FDP-Fraktion, am 9. Juli die SPD-Fraktion, am 23. August die Fraktion NF/Grüne/DJ und am 9. September 1991 schließlich die Fraktion LL-
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PDS. Alle fünf Entwürfe sahen Vollverfassungen mit den klassischen Grundrechten sowie mit ökonomischen, ökologischen und sozialen Staatszielbestimmungen vor. Der CDU-Entwurf enthielt darüber hinaus Grundsätze für die Ordnung des Gemeinschaftslebens und umfangreiche Vorschriften über die Kirchen und Religionsgemeinschaften. Dagegen legte der SPD-Entwurf besonderen Wert auf die Gleichstellung der Geschlechter, die Selbstbestimmung der Frau mit der Möglichkeit eines Schwangerschaftsabbruchs bis zum dritten Monat und den Schutz nichtehelicher Lebensgemeinschaften. Der FDP-Entwurf sprach sich für ein Grundrecht auf Datenschutz und für eine kommunale Gebietsreform in Thüringen aus. Die Fraktion NF/G/DJ setzte sich für ein Verbot von Geheimdiensten und für eine weitreichende Teilhabe der Bürger an der politischen Willensbildung ein. Im Entwurf der Fraktion LL-PDS waren die sozialen Rechte auf Arbeit, Bildung, Wohnung und Existenzsicherung ähnlich wie in der brandenburgischen Verfassung durch Individualansprüche auf entsprechende staatliche Förderungsmaßnahmen konkretisiert worden. Auf dem Gebiet der Staatsorganisation wichen die Entwürfe nur unwesentlich voneinander ab; alle enthielten plebiszitäre Elemente mit mehr oder weniger hohen Verfahrenshürden. IV. Beratungen im Verfassungsausschuss Der neu eingesetzte Verfassungsausschuss des Landtages, dem nunmehr die Aufgabe oblag, diese verschiedenen Entwürfe zu einem in sich konsistenten und konsensfähigen Verfassungstext zusammenzuführen, begann mit seinen Beratungen am 19. September 1991. In seiner 2. Sitzung am 29. Oktober wurde beschlossen, einen Unterausschuss zu bilden, dem jeweils ein Vertreter der fünf Fraktionen, ein juristischer Berater aus der Staatskanzlei sowie ein Mitarbeiter der Landtagsverwaltung angehören sollten. Er hatte den Auftrag, die Sitzungen des Verfassungsausschusses vorzubereiten, ihm bei Unklarheiten Formulierungshilfe zu leisten und ihn mit konsensfähigen Textvorschlägen zu versehen. Im Laufe der Zeit hat sich diese verschachtelte Konstruktion für die Arbeit im Verfassungsausschuss als großes Hindernis erwiesen, weil dieser sich immer wieder mit Textfassungen des Unterausschuss beschäftigen musste, die Korrekturen oder Änderungen erforderten, welche dann wiederum im Unterausschuss zu behandeln und danach dem Verfassungsausschuss erneut vorzulegen waren. Bei solchen „Kreisläufen“ wurde viel Zeit verloren, was sich schon daraus ergibt, dass der Verfassungsausschuss von September 1991 bis September 1993 insgesamt 26 mal tagte, während der Unterausschuss in dieser Zeit 29 Sitzungen benötigte. Trotz aller Vorbehalte gegenüber Fremdeinflüssen auf die Verfassunggebung in Thüringen stellte sich schon in der 2. Sitzung des Verfassungsausschusses die Frage nach der Einbeziehung professionellen Sachverstandes, weil sich die Mitglieder als juristische Laien offenbar doch ein wenig überfordert fühlten. Es wurde vorgeschlagen, in der nächsten Sitzung am 29. November 1991 eine Anhörung von Verfassungsrechtlern durchzuführen, diese Absicht aber rasch wieder aufgegeben mit der Begründung, der Ausschuss müsse sich zunächst selbst an die Arbeit machen
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und darüber klar werden, was er eigentlich wolle. Mitten in der Abstimmung meldete sich jedoch der Abgeordnete Frieder Lippmann (SPD) zu Wort und fragte ganz „unschuldig“, ob „bei dieser Ausschusssitzung dann die Sachverständigen der Fraktionen doch dabei sein können?“ Etwas konsterniert wiederholte der Ausschussvorsitzende Dr. Pietzsch (CDU): „Dabei sein können“. Hierauf wieder Lippmann: „Wir machen es also so wie beschlossen und wie gehabt, die einzelnen Mitarbeiter oder Sachverständigen der Fraktionen sind dabei“, und fügte listig hinzu: „Das war nur zur Präzisierung“. Pietzsch fühlte sich offenbar überfahren und bemerkte nur noch: „Herr Lippmann, das ist ja eine Festlegung, die wir auf Antrag des NF/G/ DJ bestätigt haben, dass sie teilnehmen können. Das können sie nicht nur am 29.11., sondern auch das übernächste und so weitere Mal“. Zu diesem Zeitpunkt war sich indes kaum jemand im Raum der Tatsache bewusst, dass mit jenem kurzen Wortwechsel die ständige Teilnahme von Verfassungsrechtlern als „Sachverständige der Fraktionen“ zumindest de facto akzeptiert war. Lippmann nannte auch gleich meinen Namen und den meines Kollegen Rudolf Steinberg von der Universität Frankfurt am Main. Uns beide hatte er vorher gefragt, woraus sich ergibt, dass sein Überraschungscoup genau geplant und gut vorbereitet worden war. Zu den weiteren Sachverständigen gehörte auch der Jubilar, der später einem breiteren Publikum durch seine „Einführung“ in die von der Thüringer Landeszentrale für politische Bildung publizierte Textausgabe von 1994 bekannt geworden ist. Wie sich an einigen ausgewählten Beispielen zeigen lässt, hatte er maßgeblichen Einfluss auf die Beratungen im Verfassungsausschuss und deren Ergebnisse. Zu seinen wohl größten „Erfolgen“ gehörte der Name des Landes selbst. Zunächst hatten alle Fraktionsentwürfe übereinstimmend nur vom „Land Thüringen“ gesprochen. Als die CDU-Fraktion kurz vor Ende der Beratungen überraschend beantragte, das Wort Land durch „Freistaat“ zu ersetzen, kam es in der 26. Sitzung am 28. Januar 1993 darüber zu einer heftigen Auseinandersetzung. Die Gegner verwiesen auf die geringe Akzeptanz dieser Bezeichnung in der Bevölkerung, auf deren antirepublikanische Tendenz und auf die zusätzlichen Kosten einer Umbenennung. Dem hielt der Jubilar entgegen, dass nach seiner Auffassung Republik und Freistaat, historisch gesehen, sehr nahe beieinander lägen und zwischen beiden Prinzipien keine Unterschiede bestünden. Vielmehr sei der Freistaat ein Staat, der nicht durch ein autoritäres monarchisches System geprägt werde. Mit diesem Argument, dass das Wort „Freistaat“ nichts anderes als der Gegenbegriff zur Monarchie sei, setzte er sich schließlich durch und kann daher als einer der Väter des Thüringer Staatsnamens betrachtet werden. Bei einer weiteren Kontroverse in der 5. Sitzung am 5. März 1992 ging der Jubilar ebenfalls als „Sieger“ hervor. Bei der Frage, wem das in Artikel 9 garantierte „Recht auf Mitgestaltung des politischen Lebens im Freistaat“ zustehen sollte, bestand im Ausschuss aufgrund der Erfahrungen mit der Wende die Tendenz, es möglichst weit zu fassen und alle an der politischen Willensbildung beteiligten „intermediären Kräfte“ (Steinberg), also auch Vereine, Verbände, Interessengruppen und Gewerkschaften, einzubeziehen. Der Jubilar wandte sich dagegen. Verbände und Vereini-
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gungen müssten die Chance haben, sich staatsfern und staatsfrei zu bilden und auch zu entfalten, ohne einen politischen Auftrag wahrnehmen zu müssen. Er wies weiter darauf hin, dass die Gewährleistung eines Rechts, sich in Verbänden und Vereinigungen politisch zu betätigen, zu einer „Politisierung des Verbands- und Vereinswesens“ führen könne, die vermutlich nicht beabsichtigt sei. Dies überzeugte die Mehrheit im Verfassungsausschuss. Es blieb daher bei einer Beschränkung der Rechtsträgerschaft auf Parteien und Bürgerbewegungen. Der Jubilar war es auch, der dem Vorschlag, die Vereinigungsfreiheit auch Ausländern zuzugestehen, entgegenhielt, dadurch könne bei wirtschaftlichen Vereinen das Arbeitserlaubnisrecht unterlaufen werden, womit praktisch grundrechtlich etwas gegeben würde, was nach einfachem Recht nicht einzulösen sei. Gelegentlich fochten wir auch gemeinsam. Der Streit betraf den öffentlichen Dienst und das auch in Sachsen ausführlich erörterte Anstellungsverbot von Personen, die in der DDR für das frühere Ministerium für Staatssicherheit (Stasi) tätig gewesen sind. Obwohl zunächst nur im Entwurf der SPD-Fraktion eine entsprechende Regelung vorgesehen war, fand dieser Eignungsvorbehalt, wie er in Artikel 96 Abs. 2 enthalten ist, im Verfassungsausschuss sofort breite Zustimmung. Mich erinnerte die Klausel eher an das „Berufsverbot“ für Kommunisten und radikale Linke in der Bundesrepublik aus den siebziger Jahren, wobei jetzt noch verschärfend hinzukam, dass hier jemand nicht etwa für gegenwärtiges, sondern sogar für vergangenes Tun nachträglich haftbar gemacht werden sollte. Ich empfahl daher mit Nachdruck, erstens nicht einfach schematisch auf der Grundlage eines Dienstvertrages mit dem MfS oder einer bloßen Verpflichtungserklärung zu verfahren, sondern jeden Einzelfall sorgfältig zu prüfen, und zweitens dabei den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu beachten. Denn es war mir und anderen Sachverständigen nur schwer zu vermitteln, dass beispielsweise der Minister oder dessen Führungspersonal in dieser Hinsicht genauso behandelt und von einer Beschäftigung im öffentlichen Dienst ausgeschlossen werden sollte wie die Chauffeure oder Hausmeister. Nur mit Unterstützung des Jubilars gelang es schließlich, die Rigidität der Vorschrift abzumildern. Zwar zeigte er Verständnis dafür, dass „eine gewisse politische Akzentsetzung in die Verfassung hineingenommen werden“ solle. Diese Akzentuierung müsse aber „so formuliert werden, dass sie beamtenrechtlich durch Interpretation ausfüllbar bleibt“. Im Ergebnis wurde daraufhin mit Bezug auf die fehlende Eignung das Wort „grundsätzlich“ eingefügt. V. Soziale Lebenswelten als Markenzeichen der Verfassung Das eigentliche Markenzeichen der thüringischen Verfassung war und ist der Aufbau des Grundrechtsteils, der nach Lebensordnungen gegliedert ist und in den die Staatsziele integriert sind. Demgemäß erhielt der erste Teil die Überschrift „Grundrechte, Staatsziele und Ordnung des Gemeinschaftslebens“. Damit unterscheidet sich Thüringen deutlich von Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern, die den
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Staatszielen jeweils einen eigenen Unterabschnitt widmen, aber auch von Sachsen, wo die Staatsziele den „Grundlagen des Staates“ zugeordnet sind, und nähert sich Brandenburg, das in seiner Verfassung Grundrechte und Staatsziele in einem Kapitel zusammengeführt hat. Kein anderes Land hat jedoch die sozialen Lebensordnungen so stark in den Mittelpunkt seiner Grundrechtssystematik gestellt und zum zentralen Strukturprinzip erhoben wie der Freistaat Thüringen. Fast fühlt man sich ein wenig an die Weimarer Verfassung erinnert, deren zweiter Hauptteil die Grundrechte enthielt und ebenfalls nach Lebensordnungen gegliedert war. Dabei lagen in dieser Frage die Entwürfe der fünf Fraktionen noch weit auseinander. Die PDS hatte einen umfangreichen, nicht weniger als elf Artikel umfassenden Katalog sozialer Grundrechte aufgenommen, der etwa beim Recht auf Arbeit von dessen Schutz durch den Staat bis hin zu einem Verbot der Aussperrung und zum Anspruch auf staatliche Lohnersatzleistungen im Falle von Streiks reichte. Die FDP widmete den Staatszielen einen eigenen Unterabschnitt. Die Entwürfe der SPD und von NF/GR/DJ verbanden ähnlich wie in Brandenburg und Sachsen die Staatsziele mit den Staatsgrundsätzen. Der Endfassung am Nächsten kam schließlich der CDU-Entwurf, dessen zweiter Teil mit „Grundrechte und Ordnung des Gemeinschaftslebens“ überschrieben war und im ersten Abschnitt neben Grundrechten und staatsbürgerlichen Rechten „weitere Staatsziele“ enthielt. Darüber, dass die Verfassung Staatsziele enthalten sollte, war man sich also von Anfang an parteiübergreifend einig. Dennoch versuchte die Landesregierung, die Normierung solcher Staatsziele zu verhindern oder zumindest in ihrer Rechtswirkung abzuschwächen, und löste damit eine Grundsatzdebatte aus, die überwiegend im Unterausschuss geführt wurde. Nachdem klar war, dass es Staatszielbestimmungen in der Verfassung geben werde, ging es nur noch um ihre Stellung und ihr Verhältnis zu den Grundrechten im engeren Sinn. Obwohl fast alle Redner im Verfassungsausschuss betonten, dass Grund- und Bürgerrechte einerseits deutlich von den Staatszielen andererseits abgesetzt und getrennt werden müssten, wurden letztere im Ergebnis doch mit den Grundrechten verbunden, weil die Gliederung nach sozialen Lebensbereichen eine solche Kombination nahezu unausweichlich machte. So finden sich das Gleichstellungsgebot der Geschlechter im allgemeinen Gleichheitssatz; die Pflicht des Landes, mit dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk die Grundversorgung sicherzustellen, im Anschluss an die Rundfunkfreiheit; die Sorge für ausreichenden und angemessenen Wohnraum unweit des Grundrechts auf Unverletzlichkeit der Wohnung; die Förderung von Kindertagesstätten im Abschnitt über „Ehe und Familie“; die Aufgabe des Landes, ein ausreichendes und vielfältiges öffentliches Schulwesen zu gewährleisten sowie die Erwachsenenbildung und den Sport zu fördern, im Kapitel „Bildung und Kultur“; das Staatsziel, die natürlichen Lebensgrundlagen zu schützen, im Teil über „Natur und Umwelt“, der auch das Grundrecht auf Datenauskunft enthielt; und schließlich die Pflicht des Landes und der Kommunen, die Möglichkeit einer frei gewählten und dauerhaften Erwerbstätigkeit durch Maßnahmen der Wirtschafts- und
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Arbeitsförderung sowie der beruflichen Weiterbildung und Umschulung zu sichern, im Abschnitt über „Eigentum, Wirtschaft und Arbeit“. So hatte die Gliederung des Grundrechtsteils nach sozialen Lebensbereichen eine Zuordnung der Staatsziele zur Folge, die eigentlich niemand wollte. Erleichtert wurde die Zustimmung zu dieser Inkonsequenz dadurch, dass man sich auf gemeinsame Bestimmungen für alle Grundrechte und Staatsziele verständigte, in denen hinsichtlich ihrer Bindungswirkung zwischen beiden deutlich unterschieden wurde. Einerseits bestimmt Artikel 42 Abs. 1 im Anschluss an Artikel 1 Abs. 3 GG, dass die in der Verfassung niedergelegten Grundrechte die drei Gewalten Gesetzgebung, Vollziehung und Rechtsprechung als unmittelbar geltendes Recht binden. Andererseits begründet Artikel 43 für den Freistaat „die Pflicht, nach seinen Kräften und im Rahmen seiner Zuständigkeiten die Verwirklichung der in dieser Verfassung niedergelegten Staatsziele anzustreben und sein Handeln danach auszurichten“. Die Formulierung ging auf einen, in zahlreichen Sitzungen mehrfach wiederholten Vorschlag des stellvertretenden Ausschussvorsitzenden Frieder Lippmann (SPD) zurück, dem ich geraten hatte, sich an einer entsprechenden, ebenfalls von mir initiierten Vorschrift in der sächsischen Verfassung zu orientieren. Ich selbst war mir zunächst nicht ganz sicher, ob diese Vermischung von Grundrechten und Staatszielen als besonders geglückt betrachtet werden kann, zumal ich als Sachverständiger im Verfassungsausschuss von Sachsen-Anhalt noch für eine klare Trennung plädiert hatte. Inzwischen muss ich allerdings zugeben, dass ich im Nachhinein, vor allem durch meine spätere Tätigkeit als Verfassungsrichter in Sachsen, eines Besseren belehrt worden bin. Denn auf diese Weise gewinnt der gesamte Grundrechtsteil ein hohes Maß an politischer Dynamik und Flexibilität, die auch auf die klassischen Grundrechte „abfärben“ und den Gerichten zusätzlichen Interpretationsspielraum verschaffen. Mein Kollege Steinberg vervollständigte schließlich den Kompromiss mit der Empfehlung, die Staatsziele „hochzuzonen“ und in die aus dem CDU-Entwurf entnommene Überschrift des gesamten ersten Teils der Verfassung einzufügen, die seither lautet: „Grundrechte, Staatsziele und Ordnung des Gemeinschaftslebens“. Im Ergebnis hatten damit auch die Fraktionen, die bei den Staatszielen zunächst von weitergehenden Forderungen ausgegangen waren, einen kleinen Sieg errungen. VI. Verabschiedung im Landtag Über das weitere Schicksal des Verfassungsentwurfs, den der Verfassungsausschuss in 20 Sitzungen erarbeitet und am 20. März 1993 beschlossen hatte, ist schnell berichtet. Seine Beschlussempfehlung an den Landtag lautete jedoch nicht auf die Annahme, sondern auf Rücküberweisung an den Ausschuss „zwecks Durchführung von Anhörungen und um der Bevölkerung Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben“. So geschah es auch. Zwar stellten in der zweiten Lesung am 21. April 1993 die einzelnen Redner noch einmal die verschiedenen Konzepte und Ziele
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ihrer Fraktionen vor. Sämtliche Änderungsanträge wurden jedoch abgelehnt und der Entwurf – wie erbeten – gleichlautend an den Verfassungsausschuss mit der Maßgabe zurückverwiesen, auf der Grundlage des Entwurfs öffentliche Anhörungen durchzuführen. Nach gründlicher Vorbereitung in drei Sitzungen des Unterausschusses am 31. August sowie am 13. und 16. September 1993, wertete der Verfassungsausschuss in zwei weiteren Sitzungen am 16. und 17. September die zahlreichen Eingaben und Zuschriften aus der Öffentlichkeitsbeteiligung aus und nahm am Verfassungsentwurf in einigen wenigen Vorschriften noch teils redaktionelle, teils eher marginale inhaltliche Veränderungen vor. Der endgültige Verfassungstext wurde schließlich nach der dritten Lesung am 22. Oktober 1993 in namentlicher Abstimmung mit 66 Stimmen von Abgeordneten aus den Fraktionen der CDU, SPD und FDP gegen 12 Stimmen aus den Fraktionen der LL-PDS und von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN verabschiedet. Bei einer „Festsitzung“ des Landtages am 25. Oktober auf der geschichtsträchtigen Wartburg bei Eisenach wurde die dritte Lesung fortgesetzt und die Abstimmung noch einmal feierlich wiederholt, indem die Abgeordneten, die der Verfassung zustimmten, sich von ihren Sitzen erhoben – ein etwas seltsamer Vorgang, der durchaus mit dem Vergnügen der Thüringer an spektakulären Inszenierungen zu tun hat, die ich im Kleinformat auch aus meiner Familie kannte. Nach kurzer Pause wurde die Verfassung sodann im Burghof vom Landtagspräsidenten öffentlich ausgefertigt, d. h. unterzeichnet. Verkündet wurde sie im Gesetz- und Verordnungsblatt am 29. Oktober 1993 und trat einen Tag später vorläufig in Kraft. Die abschließende Bestätigung durch Volksentscheid am 16. Oktober 1994 war nur noch Formsache. Aus heutiger Sicht hat sich die Thüringer Verfassung hervorragend bewährt. Sie ist bisher nur viermal geändert worden, zuletzt am 11. Oktober 2004. Zwei Änderungen betrafen die Abgeordnetenentschädigung, eine den Wahltermin für die 5. Wahlperiode. Die einzig gravierende Neuerung hatte den Bürgerantrag und das Verfahren der Volksgesetzgebung zum Gegenstand, nachdem in den neunziger Jahren zwei Volksbegehren an den – auch schon im Verfassungsausschuss als zu hoch kritisierten – Unterschriftenquoren gescheitert waren. Beim Bürgerantrag nach Art. 68, der das Recht vermittelt, dem Landtag im Rahmen seiner Zuständigkeit bestimmte Gegenstände der politischen Willensbildung zu unterbreiten, wurde das Unterschriftenquorum von 6 v.H. der Stimmberechtigten auf 50 000 Unterschriften reduziert (was etwa 2,5 v.H. der Stimmberechtigten entspricht). Beim Volksbegehren, mit dem Gesetzentwürfe eingebracht werden können, wurde ein Zulassungsquorum von nur 5000 Unterschriften eingeführt und sein Zustandekommen an die Zustimmung von 8 v.H. der Wahlberechtigten in zwei Monaten (statt bisher 14 v.H. in vier Monaten) geknüpft. Das Zustimmungsquorum für Volksbegehren wurde bei einfachen Gesetzen von 33 auf 25 v.H., bei Verfassungsänderungen von 50 auf 40 v.H. der Stimmberechtigten abgesenkt. In der Folgezeit kam es daher immerhin zu vier Volksbegehren, von denen zwei vom Verfassungsgerichtshof für unzulässig erklärt wurden, zwei weitere aber insofern erfolgreich waren, als der Landtag sich die Anliegen zu eigen machte und selbst entsprechende Gesetze beschloss.
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Ich persönlich habe die Berufung zum Sachverständigen des Thüringer Verfassungsausschusses stets als besonderen Glücksfall im meinem Leben, ja geradezu als eine unverhoffte Gunst des Schicksals empfunden. Ich fühlte mich wieder zurückversetzt in meine alte Heimat, in das Land meiner Geburt und meiner frühen Kindheit, an dessen neuer Verfassung ich nunmehr mitarbeiten durfte. Auch wenn der Jubilar, dessen Vater ich das Zweitgutachten zu meiner Freiburger Dissertation verdanke, nicht in ähnlich enger Weise mit Thüringen verbunden war wie ich, mag er diese Zeit als ebenso produktiv, innovativ und prägend empfunden haben. Ich jedenfalls denke noch gern an unsere zweijährige Zusammenarbeit in Erfurt zurück und wünsche dem Jubilar zu seinem 70. Geburtstag viele weitere Gelegenheiten, bei denen er sein profundes Wissen und seine reichen Erfahrungen im In- und Ausland dem allgemeinen Wohl widmen kann.
Die Entwicklung der Sozialversicherungsgesetzgebung in Deutschland und die europäische Sozialunion Von Christian Starck, Göttingen I. Die Anfänge der Sozialversicherung nach der Reichsgründung Zu Beginn der Industrialisierung gab es in den deutschen Staaten ebenso wenig wie in den anderen Staaten umfassende Sozialversicherungen. Es existierten Fürsorge- und Versicherungseinrichtungen auf genossenschaftlicher, berufsständischer, kommunaler und kirchlicher Basis.1 Dabei handelte es sich nicht nur um Armenfürsorge, sondern bereits um Versorgungssysteme für ehemalige Berufstätige. Beamte und Soldaten erhielten Pension, mit der sie der Staat alimentierte. Zu erwähnen sind auch soziale Hilfseinrichtungen von Unternehmen für ihre Mitarbeiter, z. B. der Essener Firma Krupp oder der Stuttgarter Firma Bosch. Nach der Gründung des Deutschen Reiches im Jahre 1871 ging es im Rahmen der Rechtsvereinheitlichung, der so genannten „inneren Reichsgründung“2, auch um Sozialversicherung. Dabei kam es zur Kontroverse zwischen Wirtschaftsliberalen und Sozialreformern, zu denen auch die Sozialdemokraten gehörten. Mit dem Sozialistengesetz vom 21. Oktober 1878 versuchte Bismarck „die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“ einzudämmen. Auf die Dauer siegte jedoch in Deutschland der Gedanke der Sozialreform. Zu Beginn der 1880er Jahre war eine Änderung der Reichspolitik zu beobachten, die in der Ersten Kaiserlichen Botschaft zur sozialen Frage vom 17. November 1881 zum Ausdruck kam. Dort heißt es:3 „Schon im Februar dieses Jahres haben Wir Unsere Überzeugung aussprechen lassen, dass die Heilung der sozialen Schäden nicht ausschließlich im Wege der Repression sozialdemokratischer Ausschreitungen, sondern gleichmäßig auf dem der positiven Förderung des Wohles der Arbeiter zu suchen sein werde.“ Der Kaiser hofft, „dereinst das Bewusstsein mitzunehmen, dem Vaterlande neue und dauernde Bürgschaften seines inneren Friedens und 1 Dazu und zum Folgenden vgl. Manfred G. Schmidt, Sozialpolitik in Deutschland, 2. Aufl. 1998, S. 23 f.; zu den europäischen Staaten vgl. Eberhard Eichenhofer, Geschichte des Sozialstaats in Europa, 2007, S. 37 ff. 2 Michael Stolleis, „Innere Reichsgründung“ durch Rechtsvereinheitlichung 1866 – 1880, in: Starck (Hrsg.), Rechtsvereinheitlichung durch Gesetze, Göttingen 1992, S. 15 ff. 3 Abgedruckt, in: Ernst Rudolf Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte Bd. II, 1964, S. 398.
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den Hilfsbedürftigen größere Sicherheit und Ergiebigkeit des Beistandes, auf den sie Anspruch haben, zu hinterlassen.“
Kurz darauf erklärte Bismarck im Reichstag:4 „Wir wollen dahin streben, dass es im Staate wo möglich niemanden oder doch so wenige wie möglich gebe, die sich sagen, wir sind nur dazu da, um die Lasten des Staates zu tragen, wir haben aber kein Gefühl davon, dass der Staat um unser Wohl und Wehe sich irgendwie bekümmert … Es gehört zu den Traditionen der Dynastie, der ich diene, sich des Schwachen im wirtschaftlichen Kampfe anzunehmen.“
Das ist in den Worten von Lorenz vom Stein „soziales Königtum“. Sozialpolitische Gesetze dienten ohne Zweifel aber auch der Sicherung vor sozialen Unruhen. Durch Sozialreform von oben sollte der neue Staat stabilisiert und vor revolutionären Bestrebungen geschützt werden. Hierbei war das Deutsche Reich, das in der Industrialisierung durchaus hinter den westlichen Staaten hinterherhinkte, sehr fortschrittlich. Deutschland war Pioniernation der Sozialpolitik in der Welt vor Dänemark, Belgien, Österreich, Großbritannien und Frankreich.5 Zur inneren Reichsgründung gehörten die verschiedenen Zweige der Sozialversicherung. Das war der Beginn der deutschen Sozialstaatlichkeit.6 II. Die Sozialversicherungsgesetze der 1880er Jahre Betrachtet man die verschiedenen Gesetze der Sozialversicherung, so sind in den 1880er Jahren drei große Sozialversicherungen zu unterscheiden: Krankenversicherung der Arbeiter, Unfallversicherung der Arbeiter und Rentenversicherung. Diese sind folgendermaßen einheitlich konstruiert: – Es sind Arbeitnehmerversicherungen, die zur Pflicht gemacht sind, das heißt öffentlich-rechtliche Zwangsversicherungen. – Es geht stets um nachträglichen Sozialschutz, nicht um Prävention. – Auf die Leistung besteht bei Vorliegen der gesetzlichen Tatbestandsmerkmale ein Rechtsanspruch. – Die Finanzierung erfolgt durch Beiträge der Arbeitnehmer und der Arbeitgeber. Soweit eine Sozialversicherung verpflichtet wird, versicherungsfremde Leistungen zu erbringen, werden ihr diese vom Staat erstattet oder er zahlt einen pauschalen Zuschuss. Darüber hinaus gehende Staatszuschüsse waren umstritten zwi4
A.a.O., S. 399. Vgl. Gerhard A Ritter, Der Sozialstaat. Entstehung und Entwicklung im internationalen Vergleich, 2. Aufl. 1991, S. 62; Schmidt (Fußn. 1), S. 28 ff., Tabelle S. 180 mit Erläuterungen S. 181 ff. 6 Vgl. Ernst Rudolf Huber, Rechtsstaat und Sozialstaat in der modernen Industriegesellschaft, in: ders., Nationalstaat und Verfassungsstaat, 1965, S. 249, 254 ff.; Ritter (Fußn. 5), S. 69 ff. m.w.N. 5
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schen Liberalen und Interventionisten. In der Praxis wurden aber Staatszuschüsse gezahlt. – Die vom Staatshaushalt getrennten Versicherungssysteme mit ihren vom Staatshaushalt getrennten Sonderhaushalten sind jeweils gesetzlich geregelt und unterstehen einer demokratisch gewählten Selbstverwaltung. Am 15. Juni 1883 erging das Gesetz betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter.7 Dieses Gesetz bewirkte, dass fast alle Lohnabhängigen in einer der schon bestehenden oder neu errichteten Krankenkasse zwangsversichert wurden und Arzt-, Arznei- und Krankenhauskosten sowie 60 % des Lohnes für 13 Wochen, später für 26 Wochen als Krankengeld erhielten. Die Krankenversicherung wurde zu zwei Dritteln von den Arbeitnehmern und zu einem Drittel von den Arbeitgebern finanziert. Dem entsprach die prozentuale Zusammensetzung der Selbstverwaltungsgremien. Die gesetzlich normierte Zwangsmitgliedschaft führte zu einer starken Vermehrung der Versicherten, die sich zusammen mit den Familienangehörigen auf fast zwei Drittel der Bevölkerung belief. Öffentliche Krankenversicherungen wurden in Großbritannien 1911 eingeführt, Italien folgte 1919 und Frankreich 1930. Am 6. Juli 1884 wurde die Unfallversicherung eingeführt. Das Gesetz verdrängte die zivilrechtliche Haftung, die nicht mehr zu den Unfallgefahren in den Fabriken passte, und führte für betriebliche Unfälle eine Zwangsversicherung ein, die nach dem sozialen Prinzip der Gefährdungshaftung mit Risikostreuung funktionierte.8 Die Finanzierung der Unfallversicherung oblag den Arbeitgebern, die die Beiträge zu zahlen hatten. Die Verwaltung unter Einschluss von Rechtsprechung geschah durch Versicherungsämter, an der Spitze stand das Reichsversicherungsamt. Die Leistungen waren: Unfallrente ab der 14. Woche und medizinische Heilbehandlung. Öffentliche Unfallversicherungen wurden 1894 in den nordischen Staaten eingeführt, 1898 in Frankreich und Italien. Als drittes großes Versicherungsgesetz trat am 22. Juni 1889 das Gesetz betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung in Kraft, auf dessen Grundlage der Versicherte bei Invalidität eine Invaliden- und vom 70. Lebensjahr an eine Altersrente beanspruchen konnte.9 Der Invalide musste mindestens 5 Jahre, der 70-jährige mindestens 30 Jahre Beiträge gezahlt haben. Die Rente garantierte nicht den Lebensstandard, sondern war ein Sicherheitszuschuss zum Lebensunterhalt. Die Beiträge wurden je zur Hälfte von den Arbeitnehmern und den Arbeitgebern aufgebracht. Der Staat zahlte von Anfang an Zuschüsse zur Rentenversicherung, und zwar 50 Reichsmark für jede Rente. Da die meisten Arbeiter vor ihrem 70. Geburtstag starben, brauchten nicht viele Altersrenten bezahlt zu werden. Rente für die Witwe gab es noch nicht.
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Vgl. Michael Stolleis, Geschichte des Sozialrechts in Deutschland, 2003, S. 76 ff. Stolleis (Fußn. 7) S. 81. 9 Stolleis (Fußn. 7) S. 84 f. 8
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III. Die Entwicklung der Sozialversicherungsgesetze 1. Vor dem Ersten Weltkrieg Nachdem die Sozialversicherung in den 1880er Jahren eingeführt worden war, wurde sie im Laufe der Zeit ausgebaut, d. h. der versicherte Personenkreis erweitert und der Schutz der Krankenversicherung verlängert sowie die Hinterbliebenen in die Unfallversicherung eingeschlossen. Bei Tod des Versicherten vor Erreichung des Rentenalters wurden die Beiträge erstattet, wodurch die Hinterbliebenen besser gestellt wurden. 1911 erging ein Versicherungsgesetz für Angestellte. Im selben Jahre wurden die verschiedenen Sozialversicherungen in der Reichsversicherungsordnung zusammengefasst, die 80 Jahre lang galt. Dieser Kodifikation lag eine wissenschaftliche Durcharbeitung zugrunde, die im Allgemeinen Teil und den sechs speziellen Büchern zum Ausdruck kam. Das Sozialversicherungsrecht wurde zu einem eigenständigen Rechts-, Forschungs- und Lehrgebiet, das den Staat als Sozialstaat auswies. 2. Weimarer Demokratie Nach dem Ersten Weltkrieg und der Revolution galt das Sozialversicherungsrecht unter der Weimarer Verfassung weiter und passte besonders gut in die sozialpolitischen Ziele der neuen demokratischen Verfassung (vgl. Art. 151 ff.).10 Die Krankenversicherung wurde auf die Familienangehörigen erweitert. Auch die Arbeitslosen hatten Ansprüche an die Krankenversicherung. Insgesamt gesehen wurde die Sozialversicherung in all ihren Zweigen eine Volksversicherung. Die Unfallversicherung wurde auf weitere Personenkreise erstreckt (z. B. auf Schauspieler und Krankenpfleger) und räumlich ausgedehnt auf den Weg von und zur Arbeitsstätte. Eine Rolle begann auch die Unfallprävention zu spielen. 1927 wurde die Arbeitslosenversicherung eingeführt durch das Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung vom 16. Juli 1927. Hier war Großbritannien 1911 vorangegangen. Diese neue Versicherung umfasste die Versicherten der einzelnen Versicherungszweige. Finanziert wurde die Arbeitslosenversicherung je zur Hälfte von Arbeitnehmern und Arbeitgebern. Arbeitslosenunterstützung wurde ein halbes Jahr gezahlt. Danach gab es Krisenfürsorge oder allgemeine Fürsorge. Kaum eingeführt, erwies sich die Arbeitslosenversicherung als extrem defizitär wegen des enormen Anstiegs der Arbeitslosigkeit zu Beginn der 1930er Jahre. Im Jahre 1932 waren 6,2 Mio. Menschen arbeitslos. Über dem politischen Streit der Sanierung der Arbeitslosenversicherung zerbrach die Große Koalition zwischen Deutscher Volkspartei, Deutscher Demokratischer Partei, Zentrum und SPD, weil diese ihren Kanzler, Hermann Müller, im Stich ließ und den Kompromiss, den die anderen Parteien gefunden hatten, ablehnte. Das war der Anfang vom Ende der Weimarer De-
10
Werner Abelshauser (Hrsg.), Die Weimarer Republik als Wohlfahrtsstaat, 1987.
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mokratie, begleitet vom Wachstum der Nationalsozialistischen Arbeiterpartei und der Kommunistischen Partei. 3. Nationalsozialistische Diktatur Während der Zeit der nationalsozialistischen Diktatur blieb das dargestellte Versicherungssystem im Wesentlichen intakt.11 Allerdings fanden typische nationalsozialistische Eingriffe statt: Die Selbstverwaltung musste dem Führerprinzip weichen. Kassenzulassungen von jüdischen, sozialistischen und „staatsfeindlichen“ Ärzten wurden entzogen. Aber es gab auch Fortschritte: Allgemein gesagt wurde der Versichertenkreis erweitert, neue Leistungen wurden eingeführt und traditionelle Leistungen erhöht. In der Unfallversicherung wurde die Liste der Berufskrankheiten erweitert. Unfälle in Berufs- und Fachschulen wurden dem Versicherungsschutz unterstellt. Ein weiterer Fortschritt war der Übergang vom Betriebsunfall zum Arbeitsunfall. Dies bedeutete eine Anpassung an die personal geprägten Strukturen der übrigen Sozialversicherungen.12 Die Rentenversicherungen mussten finanziell stabilisiert werden, was unter anderem dadurch gelang, dass die Rentenversicherungen für alle Deutschen unter 40 Jahre geöffnet wurden. Die Handwerker wurden in der Angestelltenversicherung pflichtversichert, soweit sie nicht anderweitig versichert waren. Administrativ wurde in den Versicherungssystemen vieles vereinfacht. IV. Bundesrepublik Deutschland 1. Wiederaufbau und Kontinuität Die Zeit unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg ist für die Entwicklung des deutschen Sozialversicherungsrechts untypisch. Es bestand große Not. Die Sozialversicherungssysteme waren zahlungsunfähig, weil das untergegangene Regime die Rücklagen, d. h. den Kapitalstock, für den Krieg verwendet hat. Viele Rentner litten Not. Hinzu kamen die Kriegshinterbliebenen, die Witwen und Waisen. Nach der Währungsreform im Sommer 1948, dem Inkrafttreten des Grundgesetzes mit der Sozialstaatsgarantie im Jahre 1949 und dem wirtschaftlichen Aufschwung in den frühen 1950er Jahren wurden die Sozialversicherungssysteme Kontinuität wahrend wieder aufgebaut.13 Dies wurde dadurch erleichtert, dass die Fachleute der Sozialversicherung aus der Weimarer Zeit nach der zwölfjährigen nationalsozialistischen Diktatur weiter aktiv waren. Es gab Reformvorschläge, über die diskutiert wurde, vor allem die Einheitsversicherung nach russischem Muster. Solche Vorschläge setzten sich aber nicht durch. 11
Volker Hentschel, Geschichte der deutschen Sozialpolitik 1880 – 1980, 1983, S. 136 ff.; Schmidt (Fußn. 1), S. 63 ff. 12 Stolleis (Fußn. 7), S. 200. 13 Zum institutionellen Wiederaufbau der Sozialversicherung siehe Stolleis (Fußn. 7), S. 268 ff.
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Die weitere Darstellung könnte nach den einzelnen Epochen der letzten 60 Jahre vorgehen und die einzelnen Änderungen verzeichnen. Da im I. Teil die einzelnen Versicherungssysteme dargestellt worden sind, bietet es sich an, hier genauso vorzugehen. Ich beginne aber mit der Alters- und Invalidenrente (2), behandele dann die weitere Entwicklung der Krankenversicherung (3) und die Unfallversicherung (4). Es folgt die Arbeitslosenversicherung (5). Am Schluss steht die 1994 eingerichtete Pflegeversicherung (6). Die Wiedervereinigung im Jahre 1990 hat nicht zu einer Änderung der Systeme der Sozialversicherung, sondern nur zu einer extremen finanziellen Belastung geführt, auf die ich hier nicht besonders eingehen kann. 2. Alters- und Invalidenrenten Nach der Währungsreform von 1948 wurde ein „Gesetz über die Anpassung von Leistungen der Sozialversicherung an das veränderte Lohn- und Preisgefüge und ihre finanzielle Sicherstellung“ erlassen.14 Das Gesetz erhöhte die Beiträge und die Renten, führte die Witwenrente ein. Immer noch blieben aber die Renten hinter der Lohnentwicklung zurück. Spätere Angleichungen führten zu einer Dynamisierung der Rente. Dafür wurden Staatszuschüsse benötigt, die in Art. 120 Abs. 1 Grundgesetz vorgesehen waren. Der bis heute (jetzt Art. 120 Abs. 1 Satz 4) geltende Passus lautet: „Der Bund trägt … die Zuschüsse zu den Lasten der Sozialversicherung mit Einschluss der Arbeitslosenversicherung und der Arbeitslosenhilfe.“ In den 1950er Jahren wurde das Rentensystem vor dem Hintergrund des Zusammenbruchs 1945 gründlich diskutiert. Es wurde erkannt, dass man nicht mit einem dauerhaft stabilen Geldwert rechnen kann, also die Bildung eines Kapitalstocks aus Beiträgen, aus dem später die Rente gezahlt wird, nicht in Frage kam. Die Lösung war auf Betreiben des Bundeskanzlers Adenauer der sog. Generationenvertrag. Danach wurden die Renten aus den Beiträgen der heute arbeitenden Generation bezahlt. Außerdem wurde die Rente nicht mehr als Hilfe zum Lebensunterhalt, sondern als Lohnersatz konzipiert und damit an das Lohnniveau gekoppelt.15 Obwohl Versicherungen, Volkswirte und Arbeitgeber vor diesem Weg warnten, setzte Adenauer sich mit dem Rentenreformgesetz von 1957 durch. Die Beiträge und die Renten richteten sich nach dem Arbeitsverdienst, und zwar ging man für die Berechnung der Rente vom Lohn aus, den der Versicherte bei Eintritt des Versorgungsfalls gehabt hätte, wenn er den Durchschnitt seines Einkommens in seinem ganzen Arbeitsleben, angehoben auf das Lohnniveau zur Zeit des Versicherungsfalls, verdient hätte. Abgestellt wurde zudem auf die Dauer der Versicherung. Damit setzte sich das Leistungsprinzip als Grundlage für die Höhe der Rente durch. Allerdings gab es eine Beitragsbemessungsgrenze, die zugleich die spätere Rente begrenzte.
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Vom 17. 7. 1949 (WiGBl. 1949, S. 99). Vgl. dazu die Grundgedanken von Wilfried Schreiber, Existenzsicherung in der industriellen Gesellschaft, 1955. 15
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Die Rentenreform von 1957 hat die Rentner teilhaben lassen am „Wirtschaftswunder“ und Adenauer und der CDU bei der Wahl 1957 die absolute Mehrheit der Stimmen gebracht. Langfristig war die Dynamisierung der Rente, die sich aus dem Generationenvertrag gewissermaßen automatisch ergab, eine wichtige Grundbedingung für die Integration der Gesellschaft. Mit der Rentenreform von 1957 ist eine dauerhafte Lösung gelungen, fern von einer liberalen marktorientierten Sicherung einerseits und andererseits einer allgemeinen Volksversicherung. Später wurden Randänderungen vorgenommen, die hier nicht interessieren. Wichtig war die Erweiterung des Kreises der Versicherten. Im Laufe der Zeit kamen zu den Industriearbeitern die Arbeiter in der Landwirtschaft, die Handwerker und die Angestellten, die Angehörigen der freien Berufe und die Selbständigen, zum Schluss noch die Künstler und Publizisten. Die berufsständischen Versicherungen blieben selbständig. Soweit es an Arbeitgebern fehlte, wurde bei den Künstlern die Künstlersozialabgabe eingeführt und durch einen Bundeszuschuss verstärkt. Die seit den 1980er Jahren auftretenden Probleme der Rentenversicherung folgen aus der demographischen Veränderung. Es treffen zwei Veränderungen zusammen. Es werden weniger Kinder geboren und die Menschen werden immer älter. Auf Grund des so genannten Generationenvertrages müssen immer weniger Berufstätige für immer mehr Rentner aufkommen. Hinzu kamen hohe Arbeitslosigkeit und Frühverrentungen, die relativ leicht zu erreichen waren. Gesetzliche Änderungen des Jahres 1972 wirkten darüber hinaus belastend: Flexible Altersgrenze, Verbesserung der Rente für Geringverdiener, Anrechnung von Kindererziehungszeiten, Gleichstellung von Witwern und Witwen. Gelöst wurde das Finanzierungsproblem durch Beitragserhöhung und Erhöhung der Bundeszuschüsse. Auf die Dauer wird man die Bundeszuschüsse wohl erhöhen müssen, um soziale Unruhen bei den Beitragszahlern zu vermeiden. Das könnte auf eine Grundrente hinauslaufen, die aus Steuereinnahmen finanziert wird, und eine ergänzende Leistungsrente, die sich nach den Beiträgen zur Rentenversicherung richtet, die nach dem Arbeitslohn bemessen werden. Der heutige Beitragssatz zur gesetzlichen Rentenversicherung beträgt ab 1. 1. 2011 19,9 % des Bruttolohnes des Arbeitnehmers. Davon trägt der Arbeitgeber die Hälfte, also 9,95 %. Die gesetzliche Rentenversicherung hat im Jahre 2009 Beiträge in Höhe von 181,6 Mrd. E eingenommen und Bundeszuschüsse in Höhe von 63,3 Mrd. E erhalten und diesen Gesamtbetrag von 246 Mrd. E verausgabt. 3. Krankenversicherung Auch die Anfänge der Krankenversicherung nach 1945 waren schwer. Als Hauptstrukturproblem erwies sich das komplizierte Interessengeflecht von Beitragszahlern (Arbeitnehmer und Arbeitgeber), Patienten, Kassenärzten, Apothekern, Krankenhäusern und ihren Trägern sowie den Krankenkassen. Nachdem das Bundesverfassungsgericht 1960 die Zulassungsbeschränkung der Kassenärzte als Verstoß gegen
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das Grundrecht der Berufsfreiheit für nichtig erklärt hatte16, führte das zu einem vermehrten Zugang von Studenten in den medizinischen Fakultäten, die Zulassungsbeschränkungen verhängten. Die Erhöhung der Zahl der Ärzte und Apotheker führte zu Kostensteigerungen, die die Krankenkassen bewältigen mussten. Kosten steigernd wirkten auch die Erweiterung des Kreises der Versicherten und die Verbesserung der Leistungen, was hier im Einzelnen nicht dargestellt werden kann.17 Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts sollten Kranke so früh wie möglich und so umfassend wie nötig erhalten, was sie brauchen. Rechtsfortbildung durch Begriffsausdehnungen hat die Kosten der Krankenversicherung erhöht.18 Zahlreiche Kostendämpfungsgesetze haben Einhalt versucht, aber nicht erreicht. Immer wieder werden neue Diagnose- und Heilmethoden entwickelt, die extrem teuer sind und großzügig in Anspruch genommen werden. Der Medikamentenverbrauch in Deutschland ist einer der höchsten der Welt. Derzeit belaufen sich die Beiträge für die Krankenversicherung auf 14,6 % des Bruttolohnes, wovon der Arbeitgeber die Hälfte trägt. Zu den 7,3 %, die der Arbeitnehmer zu tragen hat, kommen 0,9 % dazu, also 8,2 % seines Bruttolohnes. Diese kommen zu den 9,95 % für die Rentenversicherung dazu: Das sind 18,15 % des Bruttolohnes. Die gesetzliche Krankenversicherung hat im Jahre 2009 172,2 Mrd. E an Beiträgen eingenommen. 4. Unfallversicherung Auch bei der gewerblichen Unfallversicherung blieben die alten Strukturen erhalten. Die Flüchtlinge und Vertriebenen mussten in die Unfallversicherung eingegliedert werden, die Liste der Berufskrankheiten wurde erweitert. Die Leistungen wurden verbessert und dynamisiert. Neu einbezogen in die Unfallversicherung wurden ehrenamtlich Tätige, Entwicklungshelfer, Schüler, Studenten, Kinder in Kindergärten. Von allen Versicherungszweigen ist die seit 1884 bestehende Unfallversicherung derjenige, der bis heute am wenigsten politische Probleme verursacht hat und dessen Finanzen am solidesten geordnet sind.19 Die Finanzierung der Unfallversicherung obliegt allein der Arbeitgeberseite und da, wo es keinen Arbeitgeber gibt, dem Staat.
16
BVerfGE 11, 30, 39 ff. im Anschluss an das Apothekenurteil BVerfGE 7, 377, 397 ff. Siehe zusammenfassend Stolleis (Fußn. 7), S. 289 – 294. 18 Dazu Walter Ecker, Sozialgerichtliche Rechtsfortbildung, in: Entwicklung des Sozialrechts. Aufgaben der Rechtsprechung, 1984, S. 299 ff.; dazu kritisch Christian Starck, Die Bindung des Richters an Gesetz und Verfassung, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer, Bd. 34 (1976), S. 43, 83 ff. = Starck, Der demokratische Verfassungsstaat, 1995, S. 58, 93 ff.; Beispiele aus der Rechtsprechung BSGE 35, 10; 35, 105; 39, 167. 19 So Stolleis (Fußn. 7), S. 299 unter Berufung auf W. Gitter, Unfallversicherung, in: B.v. Maydell/F. Ruland (Hrsg.), Sozialrechtshandbuch, 2. Aufl. 1996, S. 821 ff. 17
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5. Arbeitslosenversicherung Im Jahre 1952 wurde die Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung gegründet. Das Gesetz von 1927 über die Arbeitslosenversicherung galt weiter. Mit dem Aufschwung der Wirtschaft wuchsen die Zahlungen an die einzelnen Arbeitslosen, deren Zahl sich zunächst kontinuierlich verminderte. Die Beiträge wurden stufenweise reduziert. Erst 1967 kam es zu einer Störung des Marktes und einer Vermehrung der Arbeitslosigkeit. Das 1969 beschlossene Arbeitsförderungsgesetz versuchte das Problem der Arbeitslosigkeit durch bessere Ausbildung zu bewältigen und war adressiert an die Arbeitssuchenden und die Arbeitgeber. Auf die zweite Rezessionsphase reagierte der Gesetzgeber erneut. Die Arbeitslosigkeit ist ein Strukturproblem Deutschlands geworden. Die hohen Löhne und Lohnnebenkosten (=Anteile der Arbeitgeber an den Versicherungsbeiträgen) führen zur Verlagerung von Produktionen in Länder, wo die Löhne niedriger sind. Die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung betragen derzeit 3 % des Bruttolohns, wovon der Arbeitgeber die Hälfte zahlt. 6. Pflegeversicherung Die Zahl der alten Menschen, die nicht eigentlich krank, aber pflegebedürftig sind, nimmt zu. Pflegebedürftige wurden früher regelmäßig in den Familien betreut, das gilt auch heute noch. Viele Pflegebedürftige leben heute aber in Heimen. Wenn der Pflegebedürftige die Kosten nicht selber übernehmen konnte, trat die öffentliche Fürsorge (Sozialhilfe) dafür ein. Auf die Dauer war die Sozialhilfe überfordert. In die Krankenversicherung passten die Pflegefälle nicht, weil Pflegebedürftige nicht krank sind. 1994 ist die Volksversicherung für den Pflegefall geschaffen worden, und zwar in Anlehnung an die Krankenversicherung, in der ca. 92 % der Bevölkerung versichert ist. Für den Rest der Bevölkerung gibt es private Pflegeversicherungen. Die Leistungen der Pflegeversicherung bestehen je nach Pflegestufe in häuslicher Pflege, Sachleistungen, Pflegegeld, stationäre Pflege. Die Pflegeversicherung erhebt 1,95 % des Bruttolohns, wovon die Hälfte der Arbeitgeber bezahlt. Arbeitnehmer ohne eigene Kinder zahlen zusätzlich 0,25 %. Da die Pflegeversicherung defizitär ist und es immer mehr wird, wird überlegt, ob die Pflege aus den allgemeinen Steuereinnahmen finanziert wird. In den nächsten Jahren steht eine Entscheidung an. 7. Individuelle Belastung und Gesamtaufkommen – Es ist zu unterscheiden zwischen Sozialleistungen, die aus dem Staatshaushalt finanziert werden (diese waren nicht Gegenstand der Ausführungen) und Leistungen aus den verschiedenen Sozialversicherungssystemen. Soweit zu einzelnen Sozialversicherungen Staatszuschüsse gezahlt werden, ändert das nicht ihren Charakter als Versicherungsleistung, die auf Beiträgen beruhen und in Sonderhaushalten verwaltet werden.
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– Die hier erörterten Sozialversicherungen belasten seit 1. 1. 2011 den Arbeitnehmer mit zusammen 20,65 % des Bruttoarbeitslohns und den Arbeitgeber mit 19,73 % des Gesamtarbeitslohnes seiner Mitarbeiter. Hinzu kommen noch die Beiträge zur Unfallversicherung, die allein der Arbeitgeber trägt. – Das Aufkommen der gesetzlichen Rentenversicherung betrug 2009 246 Mrd. E. Davon sind 181,6 Mrd. E Beiträge und 63,4 Mrd. E Bundeszuschüsse. Die Beträge sind vollständig ausgegeben worden. Das Aufkommen der gesetzlichen Krankenversicherung betrug im Jahre 2009 172,2 Mrd. E. Die Ausgaben liegen 2 Mrd. E niedriger. Zum Vergleich: Der Bundeshaushalt 2010 umfasste Ausgaben von 327,7 Mrd. E bei einer Neuverschuldung von 86 Mrd. E. Die Hälfte ist Sozialhaushalt, also 160 Mrd. E. Rechnet man die Renten- und Krankenversicherung ohne Bundeszuschüsse dazu, kommt man auf ca. 500 Mrd. E Sozialausgaben jährlich, die durch Steuern und Sozialversicherungsbeiträge aufgebracht werden. – Die einzelnen Zweige der Sozialversicherung sind inzwischen alle im sog. Sozialgesetzbuch geregelt. Dieses ist eine Zusammenfassung aus mehreren Gesetzen, zur Zeit 12 Bücher. Die einzelnen Bücher des Sozialgesetzbuches (SGB) enthalten Versicherungsrecht, Fürsorgerecht, Verfahrensrecht und einen allgemeinen Teil. Die hier behandelten Versicherungen sind wie folgt ins Sozialgesetzbuch eingeordnet: Gesetzliche Rentenversicherung (SGB VI), Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V), Unfallversicherung (SGB VII), Arbeitslosenversicherung (SGB III) und Pflegeversicherung (SGB XI).
V. Europarat und Europäische Union20 1. Europäische Sozialcharta Die Europäische Sozialcharta vom 18. Oktober 196121 enthält in Art. 12 Verpflichtungen der Vertragsstaaten, Systeme sozialer Sicherheit einzuführen, auf einem befriedigenden Stand zu halten und fortlaufend zu verbessern. Neben dieser nach innen weisenden Verpflichtung sollen zwischenstaatliche Vereinbarungen geschlossen werden, die die Gleichbehandlung der Staatsangehörigen anderer Vertragsstaaten mit ihren eigenen Staatsangehörigen gewährleisten hinsichtlich der Leistungsansprüche aus den Systemen der sozialen Sicherheit. So sollen die Ansprüche auf Alters- und Hinterbliebenenrente errechnet werden z. B. durch Zusammenrechnen von Versicherungs- und Beschäftigungszeiten, die nach den Rechtsvorschriften jeder der Vertragsparteien, in denen Arbeit geleistet worden ist, zurückgelegt wurden.
20 Christian Starck, Soziale Rechte in Verträgen, Verfassungen und Gesetzen, in: Gedächtnisschrift für Tettinger, 2007, S. 761 f., 772 ff. 21 BGBl. II, S. 1262.
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2. Unionsrecht Was die Sozialcharta des Europarats anregt, ist durch die Gemeinschaftsverträge (jetzt Art. 48 AEUV, Art. 34 ChGrEU) verbürgt und in Verordnungen näher ausgeführt.22 Dabei geht es nicht um die Harmonisierung oder Vereinheitlichung des Sozialversicherungsrechts, sondern um Koordinierung der Anwendung der in den Mitgliedstaaten verschiedenen sozialversicherungsrechtlichen Regelungen als zwingende Folge der Freizügigkeit der Arbeitnehmer (Art. 45 ff. AEUV), der Dienstleistungsfreiheit (Art. 56 ff. AEUV) und der Niederlassungsfreiheit (Art. 49 ff. AEUV). Der Ausgangspunkt ist klar. Der Zugang zu den Systemen sozialer Sicherheit ist nicht von der nationalen, sondern von der sozialen Zugehörigkeit des Individuums abhängig,23 die sich nach dem Wohnsitz richtet. Im Einzelnen bestehen Probleme, weil die soziale Sicherheit in den Mitgliedstaaten verschieden geregelt ist. Neben den reinen Versicherungssystemen gibt es egalitäre Volksversicherungen,24 die allein aus dem Staatshaushalt, also aus Steuern finanziert werden, aber auch Mischsysteme. Wer in diesen Ländern als Ausländer arbeitet, zahlt Steuern. Wer in Ländern mit Sozialversicherungssystemen arbeitet, der zahlt außer Steuern auch Beiträge zur Sozialversicherung Daraus ergeben sich die einzelnen Regelungen, die sich in den zitierten Verordnungen finden:25 Bei Krankheit eines Arbeitnehmers und seiner Familienangehörigen aus einem anderen Mitgliedstaat richten sich die Leistungsvoraussetzungen nach den Bestimmungen des Wohnsitzstaates. Die Leistungen sind vom dortigen Sozial (versicherungs)träger zu erbringen. Entsprechendes gilt im Prinzip für Arbeitsunfälle und je nach der konkreten Konstellation für Berufskrankheiten. Für Alters- und Hinterbliebenenrenten wird die insgesamt zu zahlende Rente verteilt auf die beteiligten Sozial(versicherungs)träger nach dem Verhältnis der in ihrem Zuständigkeitsbereich zurückgelegten Zeiten. Zu allen hier dargestellten Regelungen gibt es Ausnahmen und Besonderheiten, die zum Verständnis des Regelungsprinzips nicht erforderlich sind. Leistungen für Krankheit und Unfall erbringt der Sozial(versicherungs) träger, in dessen Zuständigkeitsbereich das Ereignis eintritt. Alters- und Hinterbliebenrenten beziehen sich auf den gesamten Zeitraum des Arbeitslebens und werden auf die verschiedenen Sozial(versicherungs)träger pro rata temporis verteilt. Die Systeme der sozialen Sicherheit in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union unterscheiden sich vor allem in der Art ihrer Finanzierung so stark, dass eine Rechtsangleichung nach Maßgabe der Art. 114 ff. AEUV nicht in Betracht zu ziehen ist. Zur Sicherung der Freizügigkeiten dient die möglicherweise noch ausbaufähige Koordinierung der Leistungsansprüche aus den verschiedenen Systemen, wenn der Berufstätige von einem System ins andere wechselt. 22
VO EWG 1408/71, ABl. EG Nr. I 149 v. 5. 7. 1971; VO EG 873/2004. Eichenhofer (Fußn. 1), S. 98. 24 Eichenhofer (Fußn. 1), S. 120. 25 Siehe Fußn. 22.
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Das Volk und Gegenstände und Formen direkter Demokratie Von Rudolf Steinberg, Frankfurt Seit Stuttgart 21 hat das Thema der Stärkung direktdemokratischer Elemente in der Verfassung wieder Konjunktur. So werden Volksentscheide auch auf Bundesebene von einem Richter des Bundesverfassungsgerichts gar als Rezept gepriesen, um der großen Frustration über das politische System zu begegnen und Platz für die in der deutschen obrigkeitsstaatlichen Tradition als Störung empfundenen Selbstbestimmung des Volkes zu schaffen.1 Im Folgenden geht es weniger um ein weiteres Plädoyer pro oder contra derartiger Entscheidungsformen. Stattdessen soll die Analyse verschiedener Aspekte helfen, die Konsequenzen direktdemokratischer Entscheidungen bewusster einzuschätzen. So wird zunächst das Phänomen in den Blick genommen, das als „das Volk“ umschrieben wird (I.), bevor dann die unterschiedlichen Entscheidungen dargestellt werden, die Gegenstand von Volksentscheiden sein können (II.). Die Ergebnisse der Untersuchung werden abschließend zusammengefasst und bilanzierend Leistungen und Risiken bestimmter Formen direkter Demokratie gewürdigt. (III.). I. Das Volk 1. „Das Volk“ als Fiktion „Das Volk“ existiert als handlungsfähige Einheit nur als Fiktion. Dass dies die Staatsrechtslehre nicht in den Blick nimmt, lässt sich auf zwei Ursachen zurückführen: Bestimmend ist zum einen die Auffassung der rechtspositivistischen Staatslehre, die die realistischen und empirischen Lehren ausdrücklich ablehnt und das Volk ausschließlich zu einem juristischen Konstrukt als Staatsvolk erklärt.2 Die andere Ansicht – vertreten von C. Schmitt – behauptet im Anschluss an Rousseau „die Homogenität und Identität des Volkes mit sich selbst“.3 Jede Demokratie beruhe auf der vorausgesetzten, unmittelbaren Homogenität, die die Grundlage der Identität der Herrscher und Beherrschten sei. Daraus ergibt sich die Qualität der Entscheidungen des so verstandenen Volkes: Schmitt zitiert Rousseau beifällig: „Was das Volk will, 1
So Huber, Selbstbestimmung wird als Störung empfunden, FAZ v. 20. 12. 2011, S. 4; ähnlich die Empfehlungen des Schweizerischen Nationalrats Gross, Heilung durch direkte Demokratie, FAZ v. 2. 12. 2010, S. 8. 2 Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., Neudruck 1960, S. 144, 158 ff. 3 Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 229.
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ist eben deshalb gut, weil es will …“.4 Das in sich homogene Volk stellt so eine Garantie der Gerechtigkeit und Vernünftigkeit des von ihm geäußerten Willens dar.5 „Die Stimme des Volkes [ist] in der Tat die Stimme Gottes“, bemerkt Rousseau.6 Das ungerührte Festhalten an dieser Homogenitätsthese wirkt umso erstaunlicher, als schon ihr Ahnherr Rousseau ebenso wie dessen Adept C. Schmitt einräumen, dass diese Homogenität und Identität in der Praxis unmöglich sei. Damit wird auch die Möglichkeit der Existenz „echter Demokratie“ ausgeschlossen. Doch anstatt nach dieser Erkenntnis über die Möglichkeiten von Demokratie unter den Bedingungen eines pluralistischen Volkes nachzudenken, wird an einem mythischen Volksbegriff festgehalten und gefordert, die fehlende Homogenität durch entsprechende Maßnahmen herzustellen. Dabei erscheint es offensichtlich, dass „das“ Volk als identitäres, homogenes Phänomen nicht existiert. Das Volk besteht vielmehr aus einer Vielzahl von Gruppierungen regionaler, ethnischer, ökonomischer, politischer, religiöser bzw. weltanschaulicher sowie vielfach sozial differenzierter (Geschlecht, Alter, Bildung, Interessen) Gruppierungen, die durch das einigende Band der Geschichte, der Kultur und auch der Verfassung zu einer stets aufgegebenen Einheit zusammengefügt sind. Schon Aristoteles unterschied die verschiedenen Gruppierungen des Volkes, das in der überschaubaren Athenischen Polis vergleichsweise homogen war.7 Das Volk der Demokratie erweist sich somit nicht nur in Athen angesichts seiner vielfältigen Differenziertheit „als politische Chimäre“.8 Das heißt aber auch, dass unreflektiert verwandte Begriffe wie „Wille des Volkes“ oder „wahrer Wille des Volkes“ bloße Fiktionen sind.9 Stattdessen ist die realphysische Gestalt der „das Volk“ ausmachenden Einzelnen stärker in den Blick zu nehmen. Denn müsste nicht derjenige bekannt sein, dem die maßgebliche Entscheidung politischer Fragen neben oder anstelle repräsentativer Institutionen angesonnen wird? 2. Schichtenabhängigkeit der Beteiligung „des Volkes“ Das Ausmaß politischer Beteiligung ist in der Gesellschaft keinesfalls gleichmäßig verteilt, sondern hängt von einer Reihe von Faktoren ab. Eine höhere Partizipation ist – wie immer wieder empirisch nachgewiesen wird10 – positiv korreliert u. a. 4
Schmitt (Fußn. 3),. S. 229. Ebenso Schmitt, Legalität und Legitimität, jetzt in: Verfassungsrechtliche Aufsätze, 1958, S. 281. 5 Schmitt (Fußn. 4), S. 281. 6 Rousseau, Politische Ökonomie, hrsg. v. Schneider/Schneider-Pachaly, 1977, S. 35. 7 Aristoteles, Politik, hrsg. v. Gigon, 10. Aufl., München 2006, S. 143. 8 So Balke, Figuren der Souveränität, München 2009, S. 136. 9 So Weber, zit. bei Mommsen, Max Weber. Gesellschaft, Politik und Geschichte, Frankfurt am Main 1974, S. 46. 10 Das betont etwa der Bericht der Enquete-Kommission Bürgerschaftliches Engagement 2002, BT-Drs. 14, 8900, S. 48; Ähnliches zeigt die 16. Shell-Jugendstudie, Jugend 2010,
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mit Einkommen und Bildung, beruflicher Position, Alter, Verwurzelung in der örtlichen Gemeinschaft, Familienstand und Zugehörigkeit zu einer Assoziation.11 Insbesondere letzteres, die Zugehörigkeit zu gesellschaftlichen Vereinigungen, stellen offensichtlich einen ganz bedeutsamen Mechanismus auch zur politischen Integration der Bürger dar.12 Voraussetzungen für eine politische Beteiligung sind Informationen und politisches Interesse. Beides ist schichtenabhängig. So haben Angehörige der Mittelund insbesondere der Oberschicht weitaus mehr den Eindruck, dass sie Informationen besser verstehen und behalten, wenn sie sie gelesen haben.13 Behalten kann man aber nur, was man gelesen oder sonstwie gehört oder gesehen hat. Und so unterscheidet sich ebenso die Informationsaufnahme, etwa die Lektüre von Büchern, der Besuch von Buchhandlungen oder die Nutzung politischer Angebote auch im Internet. Und dies widerspiegelnd, ist insbesondere auch bei den Jüngeren das Interesse an Politik, Wirtschaft und kulturellen Themen steil abgesunken.14 Je schwächer diese für die Partizipation positiven Faktoren ausfallen, umso mehr steigt das Maß an Apathie und sinkt auch die Beteiligung an Volksabstimmungen. So zeigt sich bei dem Hamburger Volksentscheid „Wir wollen lernen“ im Sommer 2010 eine deutliche negative Korrelation zwischen dem Anteil an Sozialleistungsempfängern und der Wahlbeteiligung. Das bedeutet, dass in den Bezirken mit vielen sozial Schwachen, deren Interessen das neue Hamburger Schulgesetz vor allem dienen sollte, nur sehr wenige am Volksentscheid teilgenommen haben. Und umgekehrt: In Bezirken mit auffallend wenig Armen lag die Wahlbeteiligung bei über 60 Prozent. Dasselbe Bild war bei der Volksabstimmung über Stuttgart 21 im November 2011: In Freiburg lag die Wahlbeteiligung im Problemviertel Weingarten bei 25,6 %, im Vauban-Viertel – einem neuen Stadtteil mit nahezu ausschließlich „grünen“ Bewohnern – bei 65,7 %.15 Und diese stärkere Neigung und Nutzung von Formen bürgerschaftlicher Partizipation durch privilegierte Schichten findet sich auch auf anderen Arenen unmittelbaren demokratischen Engagements. So wird etwa auch beim Protest gegen Stuttgart 21 gefragt, ob es sich hierbei um einen Protest
S. 150 ff. Selbst in Sportvereinen – so berichtet eine allerdings wenig repräsentative Untersuchung – kommt die Mitgliedschaft überwiegend aus der Mittelschicht und der oberen Mittelschicht, vgl. Zimmer/Basic/Hallmann, Sport ist im Verein am schönsten? Analysen und Befunde zur Attraktivität des Sports für Ehrenamt und Mitgliedschaft, in: Zimmer/Rauschenbach (Hrsg.), Bürgerschaftliches Engagement unter Druck, 2011, S. 348. Ob das etwa auch für Fußballvereine gilt, wäre zu untersuchen. 11 s. Lipset, Political Man, Garden City (Anchor Books), 1963, S. 189. 12 Dazu Steinberg, PVS 14 (1973), S. 27 ff., 37 ff. 13 So die Untersuchung des Instituts für Demoskopie Allensbach, vgl. Köcher, FAZ v. 17. 8. 2011, S. 5. 14 Ebd. 15 FAZ v. 3. 12. 2011, S. 12.
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der Privilegierten handele.16 Dasselbe Bild findet sich in dem Musterland der direkten Demokratie, der Schweiz. Auch hier „singt der Chor der schweizerischen direkten Demokratie mit einem eindeutigen Mittel- und Oberschichtenakzent“. Die Erweiterung der Volksrechte führe „nicht notwendig zu grösserer Demokratiequalität, mit hoher Wahrscheinlichkeit aber zu mehr Mittelschichtsdemokratie.“17 Für andere Länder gilt nichts anderes.18 Demgegenüber wird bei Wahlen kein Effekt der Diskriminierung unterer sozialer Schichten beobachtet, bei ihnen handelt es sich offenbar um ein einfacheres Verfahren.19 3. Das begrenzte politische Engagement des Bürgers Die mehr oder weniger starke politische Beteiligung des Volkes ist Realität. Hierbei scheint in vielen Ländern die Politik- und Parteiverdrossenheit eine wichtige Rolle zu spielen. Dieser Begriff stellt jedoch ein Schlagwort dar, das die wahren Ursachen nicht erklärt, sondern eher verdunkelt. So ist die politische Apathie zum einen sicherlich Ausdruck der vom Bürger empfundenen Unübersichtlichkeit der sein Leben in diffuser Weise betreffenden und bedrohenden, aus der Globalen Welt herrührender Probleme und des sich daraus ergebenden Gefühls der Machtlosigkeit in politischen Angelegenheiten. Der „reduzierte Wirklichkeitssinn“ des Bürgers erklärt nicht nur – so Erich Fromm, der auch hier ausführlich Joseph A. Schumpeter zitiert – ein reduziertes Verantwortungsgefühl, sondern auch den Mangel an wirksamer Willensäußerung. Beides wiederum erklärt seinerseits den Mangel an Unwissenheit und Urteilsvermögen des gewöhnlichen Bürgers in Fragen der inneren und äußeren Politik, ungeachtet oder heute geradezu wegen der unübersehbaren und leicht zugänglichen Menge an Informationsmöglichkeiten.20 So lässt das eingeschränkte Verantwortungsbewusstsein des Einzelnen als Ergebnis weitgehend fehlender Entscheidungsmöglichkeiten und geringer Informiertheit den Rückzug aus der Politik durchaus als rationale, jedenfalls nachvollziehbare Strategie erscheinen. Eine geringere politische Beteiligung ist aber auch dadurch begründet, dass es Lebensumstände – z. B. Situationen beruflichen Scheiterns – gibt, in denen sich der Einzelne „nach innen wendet“.21 Möglicherweise spielen auch Konzepte wie Gesell16 So Kraushaar, Protest der Privilegierten? Oder: Was ist wirklich neu an den Demonstrationen gegen „Stuttgart 21“, Mittelweg 36, H. 3/2011, S. 4 ff. Zustimmend Leggewie, Mut statt Wut. Aufbruch in eine neue Demokratie, 2011, S. 30. 17 Linder, Schweizerische Demokratie, 2. Aufl., 2005, S. 289 f. 18 Ebd., S. 290, 347 ff. 19 So Linder (Fußn. 17), S. 290, 320 f., 350. Er weist ebd., S. 350 auf die paradoxe Situation hin, dass die linken Parteien, die für eine Ausweitung der Volksrechte einträten, damit die Interessen ihrer Klientel schwächten, während Umgekehrtes für die konservativen Parteien gelte. 20 Fromm, The Sane Society, New York 1990, S. 188 f. 21 So Sennet, Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus, 1998, S. 177, 180 ff.
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schaft und Gemeinschaft im Leben eines Teils der Gesellschaft eine immer geringere Rolle.22 Schließlich mag die „Nachfrage“ nach Politik durch andere „Angebote“, z. B. des Infotainment, das die knappe Ressource Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt, verdrängt werden.23 Schließlich können Zeit und Energie durch andere, in der konkreten Lebenssituation als wichtiger empfundene Fragen beruflicher oder persönlicher Art erschöpft werden. Hierzu gehört sicherlich auch die Inanspruchnahme durch alle möglichen Formen des Konsums24 und der Freizeitgestaltung mit Sport, Spiel und Urlaub. Einem Jeden steht aber frei, wie er seine Prioritäten setzt. Die in der freiheitlich-demokratischen Grundordnung gewährleistete Freiheit der politischen Betätigung schließt nämlich auch die Freiheit ein, die bestehenden demokratischen Mitwirkungsrechte nicht in Anspruch zu nehmen. Dem Vordenker eines liberalen Staatswesens, Benjamin Constant, ist der Hinweis zu verdanken, dass gerade diese Freiheit die Grundlage des modernen freiheitlichen Gemeinwesens auszeichnet: „Die Fortschritte der Gesittung, der Handelsgeist unseres Zeitalters und der Verkehr zwischen den Völkern haben die Möglichkeiten persönlichen Lebensglücks unendlich vermehrt und vermannigfacht. Um die Menschen glücklich zu machen, genügt ihnen die völlige Unabhängigkeit in allem, was ihre Beschäftigungen, ihre Unternehmungen, ihren Tätigkeitsbereich, ihre Liebhabereien betrifft.25 Constant sieht hierin den deutlichen Unterschied zu dem politischen Leben der „Alten“ (sc. „den Völkern des Altertums“), die mehr Genuss in ihrem öffentlichen und weniger in ihrem privaten Leben fanden. Demgegenüber fänden sich die Freuden der Modernen fast alle innerhalb ihres privaten Daseins. „Die große Mehrheit, die stets von der Macht ausgeschlossen bleibt, bringt notwendig ihrem öffentlichen Leben nur vorübergehendes Interesse entgegen.“26 Das wird aber nicht etwa als Mangel gesehen. Denn gerade das aber mache die Freiheitlichkeit des modernen Gemeinwesens aus, dass der Mensch im Unterschied zur Antike, in der er im Staatsbürger aufgegangen sei und nur als solcher Rechte gehabt habe, einen durch die Grundrechtsnormen geschützten Rechtsraum gewonnen habe. Die eigentliche Freiheit des modernen Menschen bestehe deshalb in der Freiheit vom Staate, in der „jouissance paisible de l’indépendance individuelle“ und der „liberté civile“ und nicht in der „participation active au pouvoir collectiv“ oder der „liberté participation“, die im
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So der Anthropologe Miller, Der Trost der Dinge, 2010, S. 203. So Pelinka, Demokratieentwicklung in Österreich. Zur Ambivalenz politischer Apathie, Vortrag 22. 5. 2006, www.demokratiezentrum.org, S. 3. 24 So Fromm, To Have or to Be?, London/New York 1997, S. 161: „Today the empty life of consumption is that of the whole middle class, which economically and politically has no power and little personal responsibility.“ Er fügt allerdings hinzu, dass eine wachsende Zahl diese Situation als unbefriedigend empfände und entdeckte, dass das „Haben“ nicht zum Wohlbefinden führe. 25 Constant, Über die Gewalt. Vom Geist der Eroberung und von der Anmaßung der Macht (1814), hrsg. v. H. Zbinden, 2. Aufl., 1963, S. 83. 26 Ebd. 23
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Grunde die Freiheit des Gemeinwesens, des Kollektivs gewesen sei.27 Allerdings hat die Verwirklichung dieses negativen Rechts politischer Mitwirkung seinen Preis und gefährdet – übermäßig in Anspruch genommen – das Funktionieren und die Stabilität eines demokratischen Regierungssystems. Auch Constant sieht die Gefahr der modernen Freiheit, dass der Genuss der privaten Freiheit und die Verfolgung der partikularen Interessen dazu führe, dass „nous ne renoncions trop facilement à notre droit de partage dans le pouvoir politique“. Dieser Gefahr könne man nur entgehen, wenn man den Menschen in der Erziehung klar mache, dass mit dem Recht zur freien Selbstbestimmung auch die Plicht verbunden sei, sich für die freiheitliche Ordnung zu engagieren.28 Ein nur begrenztes politisches Engagement wird damit zum konstituierenden Prinzip der modernen Demokratie erklärt. Das Durchschlagen der „liberté participation“ zu Lasten der „liberté civile“ in Gestalt einer totalen Politisierung der Gesellschaft ist in totalen Staaten der Vergangenheit, dem Despotismus, vor dem Constant warnt,29 Realität geworden. Ein begrenztes politisches Engagement gilt somit als begleitendes, ja sogar in Maßen als notwendiges Phänomen aller Formen einer freiheitlichen Demokratie. II. Die Entscheidungen 1. Sachentscheidungen Die erste Gruppe von Entscheidungen, die „das Volk“ treffen kann, sind Sachentscheidungen. Es erscheint bemerkenswert, dass der Apologet des allmächtigen Volkes, C. Schmitt, diesem die Kompetenz nur bei den von ihm „spezifisch politisch“ genannten Fragen zuerkennen will, d. h. bei Entscheidungen für Freund oder Feind.30 Im Übrigen könne das Volk nur akklamieren.31 Demgegenüber müssten „technische Spezialinformationen und Details technischer Sachkunde von den zuständigen und verantwortlichen technischen Sachverständigen erledigt werden; sie können nicht von der Masse der Stimmberechtigten behandelt werden“.32 Die Widersprüchlichkeit dieser Bemerkungen kann hier dahinstehen. Der Hinweis auf die „dem Volk“ allein mögliche Akklamation bedarf jedoch vertiefter Betrachtung. Hierzu gehört die Tatsache, dass das Volk immer nur über fremdgestellte Fragen entscheiden kann. Diese stammen entweder von den repräsentativen 27 Dazu eingehend Gall, Benjamin Constant. Seine politische Ideenwelt und der deutsche Vormärz, Wiesbaden 1963, S. 112 ff. 28 Vgl. ebd., S. 117. 29 Vgl. ebd., S. 113 ff. Zu demselben Ergebnis kommt der Soziologe Lipset (Fußn. 11), S. 14, 151, 226 ff. Dagegen die scharfe Kritik von Schattschneider, The Semisovereign People, New York 1960. 30 Schmitt (Fußn. 3), S. 279. 31 Ebd.; Schmitt, Volksentscheid und Volksbegehren, 1927, S. 34. 32 Vgl. Schmitt (Fußn. 3), S. 279 f.
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Institutionen, wenn das Volk mittels eines Referendums die von diesen beschlossene verfassungsrechtliche oder gesetzliche Regelung approbieren oder ablehnen kann. Fremdgestellt ist die Frage jedoch auch bei Volksinitiativen; denn auch hier stimmt „das Volk“ über eine Frage ab, die nicht von „dem Volk“, sondern von einer kleinen Gruppe formuliert wurde, die über keinerlei Repräsentativität verfügt und niemandem gegenüber verantwortlich ist. C.J. Friedrich zählt deshalb zu Recht auch plebiszitäre Entscheidungsformen zu einer Variante repräsentativer Verfahren, da auch hier eine beschränkte Zahl von Bürgern im Namen der Gesamtheit und diese verpflichtend maßgeblichen Einfluss auf die Staatsgeschäfte hat.33 Zu Recht werden deshalb derartige Verfahren direkter Demokratie auch als Formen „halbdirekter“ oder „halbrepräsentativer“ Demokratie bezeichnet. Niemandem, weder „dem“ Volk noch einer Idee der guten Ordnung des Gemeinwesens verpflichtet, agiert und entscheidet eine mehr oder weniger kleine Gruppe, die unter dem Mantel des Volkswillens ihren Vorstellungen Geltung zu verschaffen vermag. Eine kleine Gruppe tritt aber auch auf den Plan, wenn sie die Möglichkeit besitzt, mittels eines Referendums eine gesetzliche Regelung zu Fall zu bringen. Bei der Initiative bedeutsam wird oftmals auch die Formulierung der Frage, deren Präzisierung schon die Antwort präjudiziert.34„Das Volk“ kann ferner – anders als das Parlament – nicht diskutieren. Und da die vorgelegte Frage nur mit „Ja“ oder „Nein“ beantwortet werden kann, fehlt die Möglichkeit zur Beratung und zum Austausch von Meinungen, zu einer differenzierten Beurteilung des Problems und schließlich zum Kompromiss.35 Gefährdet wird jedoch auch ein anderes Grundprinzip der freiheitlichen Ordnung des Gemeinwesens: die Gewaltenteilung; denn wenn „das Volk“ entschieden hat, wird das in der repräsentativen Ordnung existierende System von „checks and balances“ überspielt. Der Gedanke der rationalen Diskussion stellt aber die Grundlage der freiheitlichen Demokratie dar, so dass es nicht überrascht, dass vor allem Liberale seit dem 19. Jahrhundert immer Verfechter einer repräsentativen Demokatie gewesen sind, die allein in der Lage sei, mit ihrem Element 33 Friedrich, Der Verfassungsstaat der Neuzeit, 1953, S. 648 f. Ähnlich Böckenförde, Demokratie und Repräsentation, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, 2. Aufl., 1992, S. 379 ff., 385: „der direkt-demokratische Mantel verhüllt die versteckte Repräsentativstruktur, die sich dabei entfaltet.“ 34 Schmitt (Fußn. 31), S. 37: Der Frage, ob man den Frieden wolle oder die Verständigungspolitik billige, würde zustimmend akklamiert. Die Antwort würde aber anders ausfallen, wenn ein konkreter Vertrag zur Abstimmung gestellt würde. 35 Hiervon zu unterscheiden sind die Einwirkungsmöglichkeiten, die eine referendumsfähige Gruppe während der Beratungen eines Gesetzes besitzt und die durchaus zu Kompromissen mit den formellen Akteuren führen kann. Dazu vgl. Linder (Fußn. 17), S.313 ff. Über eine „Vereinbarung“ zwischen der SPD und dem Landeselternausschuss Kindertagesbetreuung im Januar 2011 vor den Wahlen zur Hamburger Bürgerschaft berichtet Landfried, FAZ v. 17. 2. 2011, S. 10. Darin verspricht die SPD bestimmte finanzielle Vergünstigungen im Falle einer Regierungsbeteiligung, während der Elternausschuss seine Bereitschaft erklärt, „für die Dauer der nächsten Legislaturperiode keine weitergehenden grundlegenden Veränderungen für den Krippen- und Elementarbereich der Hamburger Kitas mit den Mitteln der direkten Demokratie“ zu verlangen.
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der Gewaltenteilung jedwedes Machtmonopol zu verhindern und dadurch Freiheit und Eigentum zu sichern.36 Die Problematik des Sachentscheids verschärft sich angesichts der wachsenden Komplexität der heute anstehenden Sachfragen. Angesichts der heutigen Undurchschaubarkeit vieler Themen der globalisierten Wirtschafts-, Finanz- und Sicherheitspolitik erfordern Lösungen durchweg erheblichen Sachverstand, der jedenfalls „dem“ Volk als solchem nicht eigen ist, wohl aber von kleinen Gruppen im Volk mobilisiert werden kann. Mit wachsender Komplexität der Sachfragen wächst aber auch die soziale Selektivität der Beteiligung.37 In dieser Situation ist der Einzelne in hohem Maße angewiesen auf Orientierungen durch Dritte, Parteien, Verbände oder die Presse. Einfache Rezepte mögen so Anklang finden. Und möglicherweise wird die Entscheidung für das „Ja“ oder „Nein“ dann weniger nach sachlichen Kriterien als vielmehr nach diffusen Befindlichkeiten getroffen. Abgestimmt wird dann über eine „hidden agenda“ – die Parlamentsmehrheit, die Regierung, die Parteien, die Politik … Am ehesten Volksentscheidungen zugänglich sind Entscheidungen auf lokaler Ebene.38 Hier sind die Probleme auch für den einzelnen Bürger noch überschaubar. Es geht um Fragen, die durchaus im Sinne der kommunalen Selbstverwaltung ihn unmittelbar betreffen. Wenig überzeugend wirkt der Hinweis, die Erfahrungen in den Bundesländern mit Volksentscheiden seien doch gut. Die Länder sind nach der föderalen Kompetenzordnung in Deutschland von der Gesetzgebung weitgehend ausgeschlossen; sie sind überwiegend Verwaltungsstaaten. Nur sehr wenige Angelegenheiten wie Schulfragen können hier deshalb durch Volksgesetzgebung geregelt werden. Nur wegen der Komplexität des Gegenstandes lässt sich auch der Haushaltsvorbehalt für Volksentscheide rechtfertigen. Denn warum soll sonst „dem Volk“ die Entscheidung über die besonders wichtigen Themen wie Steuern, Abgaben und Ausgaben entzogen werden? Hier wird insbesondere um die Zulässigkeit „ausgabenwirksamer“ Volksgesetzgebung vor den Verfassungsgerichten vieler Bundesländer gestritten. Lässt sich doch nachweisen, dass ein Ausbau der Volksrechte gar zu einer signifikant geringeren Steuerbelastung und einer niedrigen Staatsverschuldung führt.39 Abgesehen davon, dass dies nicht notwendig einen Ausweis größerer staatlicher Effektivität, sondern das Ergebnis einer – je nach Standpunkt positiv oder negativ einzuschätzenden – Beschränkung staatlicher Aktivitäten darstellt,40 sind bei derartigen Entscheidungen unabsehbare Auswirkungen auf die Wahrnehmung ande36 Vgl. Koselleck, Vom Sinn und Unsinn der Geschichte, 2010, S. 207 f.; deutlich auch bei Dahrendorf, Lebenschancen, 1979, S. 177 ff. 37 Vgl. Linder (Fußn. 17), S. 278 f., 339. 38 Vgl. Steinberg, Die Verwaltung, (16) 1983, S. 465 ff. 39 So Kirchgässner, Schweiz. Zeitschrift für Volkswirtschaft und Statistik, 2002, S. 411 ff. Noch viel eindrücklicher erscheint das Beispiel Kaliforniens: Hier ist „das Volk“ so sparsam, dass viele Bereiche der staatlichen Tätigkeiten empfindlich eingeschränkt sind. 40 So führt Linder (Fußn. 17), S. 263 f. die vergleichsweise langsame Entwicklung des Sozialstaats in der Schweiz auf die Volksrechte zurück.
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rer staatlicher Aufgaben, auf die Fiskalpolitik, die Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik, ja die Währungspolitik nicht auszuschließen. Es ist deshalb gut verständlich, dass der Hamburger Bürgermeister Olaf Scholz auf das Scheitern der Volksinitiative „Unser Hamburg – unser Netz“ hofft, die einen vollständigen Rückkauf des Hamburger Energienetzes für geschätzte 2,2 Mrd. Euro betreibt.41 2. Personalentscheidungen Diese Bedenken greifen offensichtlich erheblich weniger, wenn „dem Volk“ die Möglichkeit gegeben wird, nicht Sachfragen zu entscheiden, sondern Personen zu wählen bzw. auszuwählen. Letzteres wird bei der Wahl der Bürgermeister und Landräte nach dem Vorbild der süddeutschen Länder mittlerweise in allen Flächenländern praktiziert. Die Erfahrungen sind durchweg positiv. Diese Verfahren führen zu einer Öffnung starrer parteipolitischer Verhältnisse. Maßgeblich sind eher die Persönlichkeit der Bewerber und deren Beurteilung durch die Wähler. Dennoch lässt sich nicht pauschal von einer Schwächung der Parteien sprechen. Die Kandidaten um diese Ämter werden auch jetzt in den meisten Fällen von den Parteien aufgestellt und bei ihrem Wahlkampf unterstützt. Verändert hat sich jedoch bei ihrer Aufstellung das Kalkül: Es kommt nicht mehr entscheidend darauf an, dass und ob der Kandidat/die Kandidatin der Partei, deren Basis oder deren Fraktion in der Vertretungskörperschaft genehm ist; gefragt ist stattdessen die mutmaßliche Reaktion der Wähler. Allerdings ist vielerorts ein Rückgang der Wahlbeteiligung festzustellen. So verwundert es wenig, dass auf Bundesebene immer wieder die Frage der Direktwahl des Bundespräsidenten auf die Tagesordnung gesetzt wird. Eher mag es erstaunen, dass dies in jüngster Zeit von zwei Bundespräsidenten geschehen ist, die bekanntlich in dem „indirekten“ Verfahren durch die Bundesversammlung gewählt bzw. wiedergewählt wurden. So gibt Richard von Weizsäcker zu erwägen, ob sich „das parteiunabhängige, direkt von der Bevölkerung gegebene Mandat“ als Mittel gegen die von ihm beklagte Machtversessenheit und Machtvergessenheit der Parteien einsetzen ließe. Immerhin weist er auf die Gefahr hin, dass es im Wahlkampf zu polemischen Konfrontationen kommen könnte, welche die überparteiliche Aufgabe des Wahlsiegers erschwerte.42 Deutlicher wurde sein Nachfolger, Horst Köhler. So sprach er sich in der letzten Talkshow von Sabine Christansen am 24. Juni 2007 dafür aus, „mehr Elemente direkter Demokratie in Deutschland“ zu ermöglichen. Dies bezog er auch auf sein eigenes Amt, das des Bundespräsidenten: „Es wäre kein schlechtes Modell, den Bundespräsidenten direkt zu wählen.“ Und am Tage nach seiner Wiederwahl am 23. Mai 2009 forderte er erneut eine Stärkung der direkten Demokratie in Deutschland, um die Distanz zwischen Bürger und politischen 41
FAZ v. 27. 12. 2011. v. Weizsäcker im Gespräch mit Hofmann und Perger, 1992, S. 163; zustimmend Glotz, Entscheidungsteilung. Gegen das Hindenburg-Syndrom in der deutschen Politik, in: Die Kontroverse. Weizsäckers Parteienkritik in der Diskussion, hrsg. Hofmann/Perger, 1992, S. 170 ff., 174 ff. 42
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Entscheidungsträgern zu vermindern. Dabei sollte auch die Direktwahl des Bundespräsidenten kein Tabu sein. Dies wolle er jedoch nicht als Vorschlag verstehen. Aber es sei der Ausdruck, dass er den Bürger ernst nehme. Es stelle sich außerdem die Frage, wie sich durch eine Direktwahl des Staatsoberhaupts die „Machtstruktur zur Bundeskanzlerin“ verändern würde. Zwar seien die Erfahrungen von Weimar zu berücksichtigen. Doch sei der sofortige Hinweis auf Hindenburg,43 wie er ihn erlebt habe, verfehlt. Deutschland sollte heute freier sein.44 Die einmütige Ablehnung durch die Parteien überrascht nicht. Oder doch ein wenig bei der SPD,45 die ja sonst für die Zulassung von Realplebisziten auf Bundesebene eintritt. Doch stellt sich schon die Frage, ob eine Direktwahl des Bundespräsidenten tatsächlich „die gesamte Statik des deutschen Staatsaufbaus massiv verändern“ würde, wie die Bundeskanzlerin Angela Merkel meint.46 Käme es nicht mehr auf die Ausgestaltung der Kompetenzen des direktgewählten Bundespräsidenten an? Müssten die denn überhaupt erweitert werden?47 Auch Richard von Weizsäcker denkt wohl nur an die Schaffung von „presidential commissions“, die seiner Ansicht nach als Beitrag zur demokratischen Bürgergesellschaft beim überparteilichen Präsidentenamt gut aufgehoben wären.48 Ein Blick in die österreichische Nachbarrepublik zeigt, dass die „Unwucht“ in der Verfassung (H. Heil) bei einem direktgewählten Präsidenten nicht zwangsläufig eintreten muss. Zwar spricht man in Österreich seit der Verfassungsänderung von 1929, durch die die Direktwahl eingeführt wurde, von einem „parlamentarischen Regierungssystem mit präsidentiellem Einschlag“.49 Die weitgehende Bindung des österreichischen Bundespräsidenten an den Vorschlag oder die Gegenzeichnung der Bundesregierung hat ihn zum „Gefangenen der Bundesregierung“ gemacht. Darüber hinaus haben die meisten Bundespräsidenten von 43 Dass die „Lehren aus Weimar“ auch an dieser Stelle den Parlamentarischen Rat bei der Ausgestaltung der Stellung des Bundespräsidenten bestimmt haben, ist unbestritten, vgl. nur Nettesheim, Amt und Stellung des Bundespräsidenten, in: Handbuch des Staatsrechts, Bd. 3, 3. Aufl., 2005, § 61 Rn. 27. 44 Welt-online v. 24. 5. 2009; Langguth, Horst Köhler. Biographie, 2007, S. 333 mit Anm. 1059 nennt die Äußerungen Köhlers zu Elementen direkter Demokratie „merkwürdig unsicher“. 45 So der damalige Generalsekretär Heil, n-tv v. 25. 5. 2009. 46 Merkel, ebd. 47 Das behauptet etwa Badura, Staatsrecht, 3. Aufl. 2003, Rn. E 71, wonach es als praktische Folge der Direktwahl angesehen werden müsse, „daß dem Präsidenten auch wesentliche Befugnisse der Staatsleitung zukommen, soweit diese in den Bereich der Exekutive fällt.“ Ähnlich auch Herzog, in: Maunz/Dürig/Herzog, GG-Kommentar, Stand: Jan. 2009, Art. 54 Rn. 11, wonach eine Volkswahl ohne kräftige Erweiterung der präsidialen Befugnisse ein Widerspruch in sich wäre; zustimmend Nettesheim, Die Bundesversammlung und die Wahl des Bundespräsidenten, in: Handbuch des Staatsrechts (Fußn. 43), § 63 Rnr. 1, 3. 48 v. Weizsäcker, a.a.O., S. 163. 49 Öhlinger, Verfassungsrecht, 8. Aufl., 2009, Rn. 347; ähnlich Berka, Lehrbuch Verfassungsrecht, 2. Aufl., 2008, Rn. 32, 142: „parlamentarisch-präsidiales Regierungssystem“. Für die Österreichische Lösung Glotz (Fußn. 42), S. 175. Für die Direktwahl des Bundespräsidenten jetzt auch Voscherau, FAZ v. 14. 1. 2012. S. 10.
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den ihnen zustehenden wenigen selbständigen Kompetenzen nur zurückhaltend Gebrauch gemacht.50 Auch bei der Direktwahl des deutschen Bundespräsidenten brauchte sich deshalb die Kompetenzordnung, die sich bekanntlich drastisch von den Befugnissen des Reichspräsidenten unterscheidet,51 nicht notwendig zu ändern. Auch würde die Bedeutung der Parteien kaum vermindert; ihr Einfluss würde sich allerdings – wie die Parallele zur Direktwahl des Bürgermeisters zeigt – verändern. Dienten die Wahlen der bisherigen zehn Bundespräsidenten nicht zuletzt der Vorbereitung und Sicherung von Regierungskoalitionen, waren also höchst parteipolitisch geprägt,52 so würde in Zukunft die Popularität der Kandidaten wichtiger werden. Ob dies allerdings die „besseren“ Persönlichkeiten in das Amt bringt, über die am Ende – wie es Richard von Weizsäcker andeutet – der öffentliche Fernsehwettbewerb die Wahl entscheidet, mag dahinstehen. Hier wird auch die Gefahr populistischer Bewerber sichtbar. Dass so gewählte Bundespräsidenten einen bonus als Gewählte des Volkes besitzen, dürfte unbestritten sein.53 Letztlich hinge es bei im Wesentlichen unveränderten Kompetenzen weitgehend von dem Amtsverständnis seines Inhabers ab, ob von einer Direktwahl des Bundespräsidenten eine Stärkung der Demokratie in Deutschland zu erwarten wäre. Er könnte ein Stück der symbolischen Integration des Gemeinwesens bewirken, gestützt auf seine eigenständige Autorität auch ohne einen Zuwachs an Macht, unabhängiger von den Parteien. Allerdings sind Konflikte mit der Bundesregierung nicht auszuschließen. Solche gab es aber auch immer schon im Verhältnis der bisherigen Bundespräsidenten zur jeweiligen Bundesregierung. Wenn aber schon nach der Nicht-Ausfertigung von zwei Bundesgesetzen durch den Bundespräsidenten Köhler wegen dessen verfassungsrechtlichen Zweifeln in Berlin „ein Hauch von Weimar“ verspürt wurde,54 so erforderte es schon ein höheres Maß an Gelassenheit, um ein gewisses Maß an Eigenständigkeit auch im Amte des Bundespräsidenten akzeptieren zu können. Zur Vorsicht mahnt aber auch die Einschätzung eines anderen ehemaligen Bundespräsidenten – Roman Herzog –, durch den parteigetragenen bundesweiten Wahlkampf werde die Integrationsfunktion des Amtes leiden. Gerade angesichts der Politisierung, die auch Auswirkungen auf das Naturell der Kandidaten haben würde, müsste die Direktwahl bei unveränderten Kompetenzen vor allem zur „ewigen Unzufriedenheit (,Frustration‘) der Inhaber und damit wohl auch zur ständigen Versuchung der parakonstitutionellen Kompetenzerweiterung führen.“55 Aber 50
So Berka (Fußn. 49), Rn. 679, 684. Im Einzelnen Herzog (Fußn. 47), Rn. 8 ff. 52 So anschaulich die Darstellung bei Langguth (Fußn. 44), S. 201 ff., 233 ff., 321, 332. 53 Allerdings hätten wohl alle bisherigen Bundespräsidenten bei ihrer direkten Wiederwahl deutliche Mehrheiten erzielt, für die Wiederwahl Köhlers 2009 hätte sich 70 % der Bevölkerung ausgesprochen. Ob er allerdings bei seiner ersten Wahl 2004 in einer Direktwahl seiner Konkurrentin Schwan vorgezogen worden wäre, erscheint fraglich. Ganz sicher hätte bei einer Direktwahl 2010 Gauck den von der Bundesversammlung gewählten Wulf geschlagen. 54 So der Politikwissenschaftler Leggewie, zit. bei Langguth, a.a.O., S. 277 f., 322. 55 Herzog (Fußn. 47), Art. 54 Rn. 11. 51
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haben wir nicht bereits mit der Kandidatur von Gesine Schwan und Joachim Gauck eine Art Wahlkampf erlebt, stilvoll und zurückhaltend? Wäre mit ihnen – direkt gewählt – Hindenburg durch die Hintertür gekommen? 3. Verfassungsfragen Zum Kern der Tradition des westlichen demokratischen Verfassungsstaates gehört die maßgebliche Beteiligung des Volkes an der Verfassungsgebung und bei Verfassungsänderungen, für die sich drei – hier nicht näher zu behandelnde – Formen herausgebildet haben.56 In Anbetracht dessen erscheint es schon bemerkenswert, dass zentrale Ereignisse der Verfassungsgebung bzw. -änderung bei der Gründung der Bundesrepublik Deutschland, der Herstellung der deutschen Einheit und schließlich auch der Übertragung von Hoheitsgewalt auf die Europäische Union ohne die Mitwirkung des Volkes zustande gekommen sind. Es wäre Zeit, dass die Bundesrepublik auch an dieser Stelle in den westlichen Verfassungskonsens zurückkehrt. Das Plädoyer, wonach „das Volk“ eine besondere, auch formell zum Ausdruck kommende Mitverantwortung für die Verfassung und deren Änderung besitzen sollte, bedarf der Begründung, gelten doch auch hier viele der oben aufgeführten allgemeinen Bedenken gegenüber plebiszitären Instrumenten. Der Unterschied gegenüber „normalen“ Realplebisziten liegt vor allem im Gegenstand der Regelung von Grundfragen der politischen Existenz in der Verfassung. Es spricht vieles dafür, dass diese Fragen, weniger als komplexe Sachentscheidungen, mit den diesen eigenen Technizitäten die Einsichts- und Urteilsfähigkeit des Bürgers überbeanspruchen, ihn vielmehr erkennbar in seiner politischen Existenz als Bürger des Gemeinwesens berühren. Das erleichtert seine Beteiligung, aber Entscheidenderes kommt hinzu. Der Grund für den Beruf des Bürgers zur Verfassungsgebung liegt in der Eigenart der Verfassung als „rechtlicher Grundordnung des Gemeinwesens“,57 die mehr bedeutet als „ein System rechtstechnischer Kunstgriffe zur Gewährleistung gesetzlicher Freiheit“.58 „Sie bestimmt“ – so definiert K. Hesse ihren Gehalt – „die Leitprinzipien, nach denen politische Einheit sich bilden und staatliche Aufgaben wahrgenommen werden sollen. Sie regelt Verfahren der Bewältigung von Konflikten innerhalb des Gemeinwesens. Sie ordnet die Organisation und das Verfahren politischer Einheitsbildung und staatlichen Wirkens. Sie schafft Grundlagen und normiert Grundzüge rechtlicher Gesamtordnung.“59 Und als rechtliche Grundordnung des Gemeinwesens wirkt sie über die Ordnung des staatlichen Lebens hinaus, insofern sie 56 Vgl. Böckenförde, Die verfassungsgebende Gewalt des Volkes – Ein Grenzbegriff des Verfassungsrechts (1986), in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie (Fußn. 33), S. 90 ff., 102 ff.; Loewenstein, Verfassungslehre, 3. Aufl., Tübingen 1975, S. 138 ff. 57 So Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl., Heidelberg 1995, Rn. 17. 58 So Forsthoff, Die Umbildung des Verfassungsgesetzes (1959), in: M. Friedrich (Hrsg.), Verfassung, 1978, S. 117 ff., 151. 59 Hesse (Fußn. 57), Rn. 17.
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die Voraussetzungen der Schaffung, Geltung und Durchsetzung der übrigen Normen herstellt und deren Inhalt weitgehend mitbestimmt.60 Damit die Verfassung aber ihre Normativität, d. h. ihre Wirksamkeit in Staat und Gesellschaft entfalten kann, bedarf sie der Annahme durch die Normadressaten und eines grundsätzlichen Konsenses über ihre Geltung.61 Nur in dem Maße, in dem es ihr gelingt, den Geltungsanspruch zu realisieren, vermag sie normative Kraft zu gewinnen. Das gelingt ihr dann, wenn die Entschlossenheit vorhanden ist, diese Ordnung gegenüber aller Infragestellung und Anfechtung durchzusetzen, „wenn also im allgemeinen Bewußtsein und namentlich im Bewußtsein der für das Verfassungsleben Verantwortlichen nicht nur der Wille zur Macht, sondern vor allem auch der Wille zur Verfassung lebendig ist.“62 Dieser Wille zur Verfassung verweist freilich im Sinne des „plébiscite de tous les jours“ (Renan) auf einen ständigen Prozess der Annahme und Aktualisierung der Verfassung im Gemeinwesen, der über den punktuellen Moment der Annahme der Verfassung oder einer Verfassungsänderung hinausgeht. Dies macht jedoch den förmlichen Akt der Befragung und Zustimmung nicht überflüssig. Er zwingt die Initiatoren der Verfassung oder Verfassungsänderung zum Dialog mit „dem Volk“, indem es die vorgeschlagene Regelung erläutert und ihre Notwendigkeit rechtfertigt. Das Plebiszit dokumentiert die politische Entscheidung, welche den Inhalt der Verfassung ausmacht.63 Es verhindert jedoch auch, dass die Verfassungsänderung zur kleinen Münze des (partei-)politischen Alltagsgeschäfts wird, bei dem Fragen des Tagesgeschäfts auf die Verfassungsebene gehoben werden. Die Akteure vergessen dabei, „dass sie bei der Verfassungsänderung in einer anderen Eigenschaft tätig werden als bei der Gesetzgebung: Sie nehmen ,pouvoir constituant‘ wahr und ändern somit selbst die ihnen der Idee nach vom Volk gesetzten Bedingungen ihres Handelns.“64 So ist das Grundgesetz zunehmend befrachtet worden mit einer Vielzahl technischer Details, die zum Zwecke praktischer Problemlösungen hilfreich sein mögen, die aber den Charakter der Verfassung als grundlegenden Strukturplan für das Gemeinwesen verwässern. Auf der anderen Seite enthalten die Verfassungsänderungen aber auch elementare politische Entscheidungen, die – wie etwa der neue Art. 23 GG – mit der 1992 „neu eingeführten(n) Grundnorm des deutschen Europaverfassungsrechts“65 dem Volk in gewisser Weise aufoktroyiert wurden. Der Preis für eine derartige tief in die grundlegende Ordnung eingreifende Verfassungsänderung ist ersichtlich hoch: Offensichtlich läuft seit vielen Jahren die Europäische Integration ohne die Zustimmung „des 60
Ebd. Rn. 18. So Heller, Staatslehre, Leiden 1963, S. 278 f., der an dieser Stelle zustimmend auf Schmitt, Verfassungslehre, 3. Aufl. 1957, S. 87 verweist. 62 Hesse, Die normative Kraft der Verfassung (1959), in: ders., Ausgewählte Schriften, Heidelberg 1984, S. 3 ff., 9 f. 63 Schmitt (Fußn. 3), S. 84. 64 Grimm, Ändert das Grundgesetz!, FAZ v. 29. 12. 2010, S. 6. 65 Pernice, in: Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 2, Tübingen 1998, Art. 23 GG, Rn. 17. 61
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Volkes“ ab. Alle von den politischen Eliten betriebenen „großen Grundsatzentscheidungen der europäischen Einigung der letzten 20 Jahre“ – so zeigen einschlägige Meinungsbefragungen – sind „gegen den Willen der deutschen Bevölkerung durchgesetzt worden: Die Einführung des Euro, die Aufnahme der neuen Mitgliedsländer in Osteuropa, die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei – dies alles wurde von den Deutschen mit sehr deutlichen Mehrheiten abgelehnt.“66 Trotzdem hätten die Deutschen in ihrer Einstellung zur europäischen Integration in all diesen Jahren positiv regiert. Allerdings sei in jüngster Zeit als Folge der Finanzkrise das Ansehen der Europäischen Union auf einen Tiefstand gesunken. So sei die Zahl derjenigen, die ein „nicht so großes“ oder „kaum, gar kein Vertrauen“ in die Europäische Union hatten, in wenigen Monaten 2010 von 51 auf 63 Prozent gestiegen, umgekehrt sei der Anteil derjenigen, die der Union das Vertrauen aussprachen, von 37 auf 26 Prozent gesunken. Und auf die Frage, ob Europa unsere Zukunft sei, antworteten nur noch 41 Prozent mit ja, während dieser Anteil im April 2010 noch bei 53 Prozent gelegen habe. Hier drängt sich die Frage auf, wie lange die Politik in einem zentralen Bereich Politik ohne, ja gegen die Mehrheit der Bürger machen kann. Es sollte zu denken geben, dass 80 Prozent der Bevölkerung vor einer Übertragung von weiteren Kompetenzen auf die EU eine Volksabstimmung verlangt.67 Es erscheint bemerkenswert, dass jetzt das Bundesverfassungsgericht als „letzte Rettung … in einer Art Stellvertreterfunktion in einem defizitären politischen Prozess“68 auf Art. 146 GG hinweist, der die äußerste Grenze der Mitwirkung der Bundesrepublik an der europäischen Integration markiere: „Es ist allein die verfassungsgebende Gewalt, die berechtigt ist, den durch das Grundgesetz verfassten Staat freizugeben, nicht aber die verfasste Gewalt.“69 Dies aber bedeutet eine maßgeblich Mitwirkung „des Volkes“ in einem Verfahren der Verfassungsänderung.70 Die Mitwirkung des Volkes bei Verfassungsänderungen setzt aber eine Reflexion über die Funktion der Verfassung und der Angemessenheit von verfassungsrechtlichen Regelungen voraus. Die Verfassung stellt nicht das Grundbuch der Nation dar,71 in das tagespolitische Kompromisse zwischen den politischen Parteien zu dem Zweck eingetragen werden, sie der politischen Auseinandersetzung zu entziehen. Ist aber nicht vielleicht die Verfassungsgebung bzw. -änderung durch Volksentscheid deshalb ausgeschlossen, weil auch hier ja – wie oben beschrieben – nicht „das Volk“, sondern Minderheiten entscheiden. Das gilt aber nicht nur für Verfas66 Vgl. auch zum Folgenden Petersen, Das gemeinsame Interesse an Europa ist in Gefahr, FAZ v. 26. 11. 2011, S. 5. 67 So die Zahlen von infratestdimap im ARD-Deutschlandtrend vom 6. 10. 2011. 68 So zutreffend Graf Kielmannsegg, Letzte Rettung, FAZ v. 24. 2. 2011, S. 8. 69 BVerfGE 123, 267 (332). 70 Vgl. auch Dreier, in: ders., (Hrsg.), GG-Kommentar, Art. 146 Rn. 52. 71 So Hennis, Verfassung und Verfassungswirklichkeit. Ein deutsches Problem, Tübingen 1968, S. 17.
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sungsplebiszite, sondern auch für das als menschliche Wirksamkeit existierende plébiscite de tous les jours. Denn auch hier „ist es immer nur eine kleine Minderheit innerhalb des Staatsvolkes, für die das Sein und Sosein des Staates täglich von neuem in eine Sollensentscheidung ausmündet, die also mit bewußter Aktivität an der Erhaltung und Gestaltung des Staates teilnimmt.“72 Es kommt also im alltäglichen, den Staat hervorbringenden und erhaltenden politischen Leben wie auch bei der punktuell herausgehobenen Entscheidung über die Form der Verfassung auf die – so H. Heller –„ausschlaggebende Minderheit“73 an. Deren Bedeutung erscheint systemisch und ist in jüngerer Zeit wohl noch gewachsen. III. Schluss Ausgangspunkt ist die Erkenntnis, dass eine Entscheidung des als Einheit verstandenen oder mit dem Staat identisch gedachten Volkes nicht in Betracht kommt, da es sich hierbei um ein ideologisches Konstrukt ohne Realitätsgehalt handelt. Ganz wesentlich erscheint deshalb die Feststellung, dass Volksentscheide regelmäßig nicht Instrumente „des“ Volkes sind, sondern – je nach Ausgestaltung – das Werkzeug einer mehr oder weniger kleinen Minderheit „im“ Volk. Auch bei den durch diese angestoßenen Volksentscheiden entscheidet selten die Mehrheit des Volkes.74 Damit verdeckt aber auch das Bild der „Selbstbestimmung des Volkes“ die Realität direkter Demokratie. Möglicherweise liegt die Rousseau’sche Annahme der Göttlichkeit der Stimme des Volkes unausgesprochen immer noch der höheren moralischen Qualifizierung direktdemokratischer Entscheidungen zugrunde. Demgegenüber ist festzuhalten: Direktdemokratische Entscheidungen sind nicht als solche „besser“ oder „schlechter“ als die repräsentativer Organe. Und sie sind nicht das geborene Instrument „fortschrittlicher“ Kreise, sondern können auch von weniger „sympathischen“ Randgruppen oder auch der vermeintlich „schweigenden Mehrheit“ genutzt werden.75 Sie kommen lediglich in einem anderen Verfahren unter anderen Beteiligungen zustande und können möglicherweise bei den repräsentativen Entscheidungen ausgeblendete Vorstellungen und Interessen berücksichtigen. Es stellt eine Illusion dar anzunehmen, es befänden sich die kleinen Minderheiten außerhalb des üblichen Spiels der politischen Kräfte. Im Gegenteil: Instrumente direkter Demokratie werden in aller Regel von Parteien und Interessenverbänden genutzt.76 Vor allem diese wie auch andere finanzkräftige Gruppierungen werden in der 72
Heller (Fußn. 51), S. 216. Ebd. 74 Linder (Fußn. 17), S. 283 nennt für eine positive Volksentscheidung eine Zahl von 13 % der Bevölkerung. 75 Darauf hat wiederholt Gross aufmerksam gemacht, vgl. FAZ v. 18. 12. 2009, S. 35; FAZ v. 17. 12. 2010, S. 33. 76 Vgl. Linder (Fußn. 17), S. 269, 275 f., 326 f., 338 f.; ders./Lutz/Bollinger/Hänny, Switzerland, in: Nohlen/Stöver, Elections in Europe. 2010, S. 1879 ff., 1884. Das belegt auch die materialreiche Arbeit von Hornig, Die Parteiendominanz direkter Demokratie in Westeuropa, 73
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Lage sein, eine bundesweite aufwendige Kampagne zu organisieren und zu finanzieren.77 Allerdings können sich auch andere minoritäre Gruppierungen oder auch spontane Bewegungen in Stellung bringen. Eine Chance der wirkungsvollen Beteiligung wird so auch solchen Gruppierungen geboten, die nicht Teil der maßgeblichen Entscheider sind. Das Problem der Minderheiten wie auch ihre mangelnde partizipatorische Neutralität sollte bei der Ausgestaltung von direktdemokratischen Verfahren bedacht werden. So können Gruppierungen, die die Initiative zu einer Volksgesetzgebung betreiben, – über ihren eigenen Anspruch hinaus – kaum von sich behaupten, in irgendeiner Weise normativ auf das gemeine Wohl verpflichtet, in irgendeiner Weise legitimiert und insoweit repräsentativ zu sein. Anders sieht es aus, wenn „das“ Volk aufgerufen wird, vom parlamentarischen Gesetzgeber getroffene Entscheidungen zu bestätigen. Die kann für bestimmte Entscheidungen vorgeschrieben werden – so im Falle des obligatorischen Verfassungsreferendums. Hier dient die maßgebliche Mitwirkung des Volkes der Stärkung der demokratischen Legitimation der Entscheidung. Für wesentliche – die politische Existenz des Volkes betreffende – Entscheidungen wird ein Zusammenwirken von Parlament und Volk verlangt. Demgegenüber stellt das fakultative Referendum ein Instrument einer Gruppe von Bürgern dar, die sich gegen ein Parlamentsgesetz stellt, oder aber auch den Versuch der im Parlament überstimmten Minderheit, die Mehrheitsentscheidung zu Fall zu bringen; anders als im vorgenannten Fall soll es den Dissens zwischen Parlament und „Volk“ markieren. Wie bei der Initiative bieten sich hier für Gruppierungen „aus“ dem Volk Möglichkeiten, von der Parlamentsmehrheit ihrer Meinung nach vernachlässigte Aspekte zur Geltung zu bringen und das Parlament zu korrigieren. Einen Sonderfall stellte das Referendum in Baden-Württemberg zu Stuttgart 21 dar, bei dem die Regierung „das Volk“ zum Schiedsrichter bei einem – konstruierten – Dissens zwischen ihr und dem Parlament aufrief. Es ist deutlich geworden, dass die beschriebenen Bedenken gegenüber direktdemokratischen Verfahren am stärksten durchgreifen bei Volksinitiativen, in geringerem Maße aber auch bei aus dem Volk initiierten Gesetzesreferenden. Vor allem bei diesen beiden Formen bedarf die Ausgestaltung der Verfahren gründlicher Überlegungen, um einen zu einfachen Durchgriff kleiner und kleinster Minderheiten zu vermeiden. Das zwischen den Bundesländern zu beachtende „race to the bottom“ hinsichtlich der Quoren erweckt durchaus Bedenken. Am ehesten verspricht einen demokratischen Mehrwert das obligatorische Verfassungsreferendum, bei dem die repräsentativen Organe mit „dem Volk“ zusammenwirken müssen. Und auch der personelle Volksentscheid über die Wahl des Bundespräsidenten erweckt erheblich ge2011. Auch für das Ergebnis der Volksentscheids zu Stuttgart 21 am 27. 11. 2011 war wesentlich durch die Mobilisierung der Parteien bestimmt, so FAZ v. 3. 12. 2011, S. 12. 77 So sollen in Kalifornien 2006 für verschiedene Volksentscheide 330 Mio. US-Dollar ausgegeben worden sein.
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ringere Bedenken bezüglich der Entscheidungsfähigkeit „des Volkes“ als der Volksentscheid über Sachthemen, jedenfalls soweit diese über den örtlichen, für den Einzelnen überschaubaren Bereich hinausgehen. Ob und inwieweit durch die Direktwahl des Bundespräsidenten das überkommene Gleichgewicht zwischen den Obersten Staatsorganen gefährdet ist, wird allerdings unterschiedlich eingeschätzt. Es ist durchaus möglich, dass die Ergebnisse von Volksentscheiden zur Stärkung der Legitimität des politischen Systems und zur Befriedung in einer politisch kontroversen Situation führen. Sie können auch Minderheiten einbinden, die sich im politischen Spektrum nicht hinreichend berücksichtigt fühlen.78 Diesen kann es gelingen, Missstände und Fehlentwicklungen zu erkennen und zu benennen, die im Gestrüpp politisch-bürokratischer Verkrustungen ausgeblendet werden, und eine ausschließlich bürokratisch-technokratisch-industrielle Legitimation von staatlichen Entscheidungen infrage zu stellen.79 Instrumente der direkten Demokratie vermögen so als Ventil zu wirken, das die Offenheit der demokratischen Willensbildung zu sichern hilft. Werden diese Instrumente allerdings von Eliten oder von politischen Parteien für ihre Zwecke instrumentalisiert, so ist die Vertiefung politischer Spaltungen nicht ausgeschlossen.80 So birgt die Einführung plebiszitärer Entscheidungen auf Bundesebene Chancen wie auch Risiken, die für die verschiedenen Themenbereiche und die unterschiedlichen Formen differenziert einzuschätzen sind. Auf jeden Fall wäre es ratsam, die offenkundigen Schwächen der Responsivität der staatlichen Repräsentanten wie auch der politischen Parteien, z. B. durch eine Reform des Wahlrechts, eine Öffnung der Parteien und eine bessere Ausgestaltung der Planung von Infrastrukturanlagen81 anzugehen. So ließe sich die Autorität der repräsentativen Institutionen wieder festigen, die durch den Einsatz bestimmter plebiszitärer Instrumente – weiter – geschwächt werden kann. Auch diese Erwägungen mahnen zur zurückhaltenden und klugen Ausgestaltung des Einsatzes derartiger Instrumente. Als Mittel zur Bekämpfung empfundener politischer Frustration taugen sie wenig. Denn die wahren Herausforderungen, denen sich das Gemeinwesen und dessen Bürger heute gegenüber sehen, werden auch durch die Möglichkeit von Volksentscheidungen nicht geringer. So beruht denn auch die verbreitete Einschätzung in Deutschland, von ihnen geradezu ein Allheilmittel aller politischen Krankheiten zu erwarten, auf einem erheblichen Maß an Wunschdenken, wenn nicht gar an Gedankenlosigkeit.
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So BremStGH, NVwZ-RR 2001, 1 f. Instrumente direkter Demokratie ähneln in ihrer Wirkweise insoweit durchaus der Versammlungsfreiheit des Art. 8 GG, dem das BVerfG (E 69, 315, 346 f.) zu Recht direktdemokratische Züge zuschreibt. 79 Dazu Steinberg, Der ökologische Verfassungsstaat, 1998, S. 197, 387 ff. 80 So Linder, FS Ismayr, 2010, S. 600 ff., 607 ff. 81 Dazu Steinberg, ZUR 2011, 340.
Gemeinschaft, Recht und Souveränität in der Politischen Theorie des Johannes Althusius Von Dieter Wyduckel, Dresden I. Die Politische Theorie des Althusius und ihre Wiederentdeckung Das Zusammenleben der Menschen, seine Organisation und Ordnung ist seit jeher Thema der Rechts-, Politik- und Sozialwissenschaft. Die großen Griechen, insbesondere Aristoteles und Plato, haben zusammen mit den Römern, vor allem Cicero, Maßstäbe gesetzt, die über die Jahrhunderte hinweg für das politische Denken prägend geworden sind. Im Rahmen der politisch-sozialen Veränderungen, die für den Übergang vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit kennzeichnend sind, erinnert man sich des überkommenen Wissens, nimmt es auf und passt es im Zeichen von Renaissance, Humanismus und Reformation gewandelten geistig-religiösen, politisch-sozialen und rechtlichen Bedingungen an. Die Lehre von der Politik tritt dabei als zugleich altes und neues Fach hervor, das Grundfragen des politischen Zusammenlebens der Menschen zum Thema und Problem macht, nach neuen Antworten auf drängende Fragestellungen der Zeit sucht und all dies vor dem Hintergrund einer komplexer werdenden Welt, die nicht mehr nur eine Antwort auf sich allenthalben stellende Fragen gelten lassen will. Hierzu hat im Gefolge der Reformation eine bislang so nicht gekannte religiöse Pluralität beigetragen, die zunehmend auch politisch-soziale Kontexte in neuem Licht erscheinen lässt. Im Rahmen der unterschiedlichen politisch-sozialen Positionen wird dabei in steigendem Maße auch der religiöse Kontext thematisch und Herrschaft von Menschen über Menschen nicht länger als schlechthin gottgegeben hingenommen, sondern zunehmend nach der Berechtigung politischer Ordnung unter legitimatorischem Aspekt gefragt. Der Jubilar hat sich diesem übergreifenden Themenkreis in verschiedenen Publikationen zugewandt und dabei vor allem die Legitimation, d. h. die Berechtigung und Rechtfertigung politisch-staatlicher Macht und Herrschaft ins Blickfeld gerückt1. 1 Siehe Würtenberger, Die Legitimität staatlicher Herrschaft. Eine staatsrechtlich-politische Begriffsgeschichte, 1973, 13 ff., 45 ff.; ders., Legitimation und Legitimität, in: Ergänzbares Lexikon des Rechts, Gruppe 2/310, 1 ff.; ders., Zur Legitimation der Staatsgewalt in der
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Je nach Standort und Maßstab werden im historischen Kontext und Ablauf in der Tat unterschiedliche Richtungen in Politik und Recht identifizierbar: Zum einen zwischen Macht und Recht vermittelnde spätscholastische Lehren, die, an Thomas von Aquin, zugleich aber auch an Aristoteles anknüpfend, in der Begegnung von Theologie und politischer Philosophie das Verhältnis von Herrschaft und Herrschaftsgewalt, von Befehl und Gehorsam sowie allgemeiner von Macht und Recht ins Licht wissenschaftlicher Reflexion rücken. Auch der Neo-Aristotelismus protestantischlutherischer Prägung lässt Fragen der Machtbegründung und -begrenzung zum Gegenstand wissenschaftlicher Auseinandersetzung werden, die den Ausgangspunkt vor allem herrschafts- und herrscherorientierter Überlegungen bilden. Hinzutritt im Umkreis calvinischer Traditionen ein signifikant modifizierter Problemhorizont, in dem die politisch-rechtlichen Akzente noch anders gesetzt werden, nicht zuletzt deshalb, weil die Interessenkonstellationen unterschiedlich sind und zugleich die politisch-theologischen Positionen differieren. Will man dies mit Namen und für die genannten Positionen charakteristischen Denkrichtungen belegen, so lassen sich für die erstere Richtung beispielhaft die Spanische Spätscholastik2, für die zweite der Protestantische Aristotelismus3 und für die dritte die im Rahmen calvinischer Lehren angesiedelte Politiktheorie nennen, wie sie vor allem mit dem Namen des Johannes Althusius verbunden ist4. Die genannten politisch-theoretischen Strömungen weisen auch Überschneidungen auf, lassen sich aber von Ansatz und Durchführung her unterscheiden und bestimmten Denkern und Denkschulen zuordnen. All dies wird begleitet von der Entstehung und Entwicklung eines Ius publicum, das sich als Herrschafts- und Machtfragen gewidmete, spezifisch juristische Disziplin seit der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert entfaltet und für das die Jenaer Schule des Dominicus Arumaeus und Johannes Limnaeus beispielhaft zu nennen sind5. Das politiktheoretische Werk des Althusius lässt einen ausgeprägt systematischrationalen Ansatz erkennen, wie er im calvinisch bestimmten Denken nicht eben selten ist und schon im Titel der Politica angesprochen wird6. Er zielt darauf ab, den zu politischen Theorie des Johannes Althusius, in: Politische Theorie des Johannes Althusius, hrsg. von Karl-Wilhelm Dahm (u. a.), 1988 (Rechtstheorie, Beih. 7), 577 ff. 2 Seelmann, Theologie und Jurisprudenz an der Schwelle zur Moderne. Die Geburt des neuzeitlichen Naturrechts in der iberischen Spätscholastik, 1997. 3 Dreitzel, Protestantischer Aristotelismus und absoluter Staat. Die Politica des Henning Arnisaeus (ca. 1575 – 1636), 1969, 87 ff. 4 Wyduckel, Einleitung, in: Althusius, Johannes, Politik. Übers. von Heinrich Janssen. In Auswahl hrsg., überarb. u. eingel. von D. Wyduckel, 2003, XV ff. 5 Vgl. Wyduckel, Kaiserliche und ständische Positionen im Ius publicum des Reiches, in: Die Anfänge des öffentlichen Rechts, 3, Auf dem Wege zur Etablierung des öffentlichen Rechts zwischen Mittelalter und Moderne, hrsg. von Gerhard Dilcher und Diego Quaglioni. Bologna/Berlin 2011, 725 ff. 6 Politica Methodicè digesta atque exemplis sacris et profanis illustrata; Cui in fine adjuncta est Oratio panegyrica De necessitate, utilitate et antiquitate scholarum.Editio tertia, duabus prioribus multo auctior, Herborn 1614, 2. Neudr. der 3. Aufl. Herborn 1614, Aalen: Scientia 1981, zuerst Herborn 1603.
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behandelnden Gegenstand, d.i. das Zusammenleben der Menschen in Gemeinschaft, methodisch angeleitet zu präsentieren – Politica methodice digesta! – mit der Folge, dass der gesamte Stoff entsprechend aufbereitet und gegliedert wird. Diesem Ziel dienen auch die den einzelnen Kapiteln in der dritten, endgültigen Auflage der althusischen Politik vorangestellten Übersichten sowie die nach Paragraphen geordnete Präsentation des Gedankengangs. Verdeutlichende Schaubilder und Schemata tragen dazu bei, die inhaltliche Konzeption systematisch durchsichtig und nachvollziehbar zu machen. Wie sehr Althusius an der Gliederung und Durcharbeitung des Stoffs gelegen ist, erhellt auch daraus, dass er von der ersten Auflage der Politica 1603 bis zur endgültigen Fassung 1614 sowohl formal als auch inhaltlich an der aus seiner Sicht optimalen Präsentation weiter arbeitet und um die jeweils richtige Darstellung und Präsentation des zu behandelnden Stoffs ringt. So zeugt die Genese seines politischen wie seines rechtlichen Werks von einem systematisch-methodischen Bemühen, dem es darum zu tun ist, den Stoff immer wieder neu zu gliedern und zu durchdenken und so einem dynamischen Erkenntnisprozess zu folgen, der sich bei aller Strenge im Grundsätzlichen auch inhaltlichen Modifikationen nicht verschließt7. Die Politica des Althusius war schon zu seiner Zeit nicht unumstritten und gerät seit der Mitte des 17. Jahrhunderts weitgehend in Vergessenheit, bis sie gegen Ende des 19. Jahrhunderts durch Otto von Gierke im Rahmen seiner genossenschaftsrechtlichen Untersuchungen neu entdeckt wurde. Gierke erkannte den politiktheoretischen Ansatz des Althusius durchaus, vereinnahmte die Politica jedoch zu einseitig juristisch, die er dem naturrechtlich-staatstheoretischen Kontext zuordnete8. Dies vorausgeschickt ist zunächst der Blick auf Leben und Wirken des Althusius zu richten, um daran Überlegungen zur Bedeutung und Wirkung seines politiktheoretischen Werks anzuschließen. II. Leben und Wirken des Althusius im Horizont seiner Zeit Althusius ist, einer bäuerlichen Familie entstammend, im Jahre 1563 in Diedenshausen in der Grafschaft Wittgenstein-Berleburg geboren. Gefördert durch seinen Landesherrn Graf Ludwig d. Ä. von Sayn-Wittgenstein besucht er zunächst das Pädagogium zu Marburg, wo er im Sommer 1577 eingeschrieben ist9. Der weitere Aus7 Siehe Odermatt, Erst- und Drittausgabe der Politica im Vergleich. Zu den Entstehungsbedingungen politischer Theorie, in: Subsidiarität als rechtliches und politisches Ordnungsprinzip in Kirche, Staat und Gesellschaft, hrsg. von P. Blickle (u. a.), 2002 (Rechtstheorie, Beih. 20), 291 ff.; Scattola, Von der maiestas zur symbiosis. Der Weg des Johannes Althusius zur eigenen politischen Lehre in den drei Auflagen seiner Politica methodice digesta, in: Politische Begriffe und historisches Umfeld in der Politica des Johannes Althusius, hrsg. von E Bonfatti (u. a.), 2002, 211 ff. 8 Otto von Gierke, Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien (zuerst 1880), 7. Auflage, Aalen 1981. 9 Holzhauer, Hat Althusius in Marburg studiert?, in: Politische Theorie des Johannes Althusius (Fußn. 1), 109 ff.
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bildungs- und Studiengang liegt im Dunkeln. Sicher ist, dass Althusius in Köln studiert hat, wo seine Anwesenheit für das Jahr 1581 verbürgt ist10. Über den weiteren Fortgang der Studien des Althusius ist Genaueres nicht bekannt. Spätestens seit 1585 hält er sich in Basel auf, wo er Eingang in den Humanistenkreis um den Juristen Basilius Amerbach gefunden zu haben scheint. Ein Studienaufenthalt in Genf im Winter 1585/86 mit Kontakten zu den bedeutenden französischen Juristen Dionysius Gothofredus und François Hotman ist möglich, aber nicht nachgewiesen. Althusius schließt seine Studien in Basel mit der Promotion zum Doktor beider Rechte ab, indem er Ende Juni/Anfang Juli 1586 46 Thesen über die Erbfolge ohne Testament vorlegt und verteidigt11. Noch im Laufe des Jahres 1586 erhält er einen Ruf an die Hohe Schule zu Herborn. Diese war 1584 von Graf Johann VI. (d. Ä.) von Nassau-Dillenburg, einem Bruder Wilhelms von Oranien, als calvinische Akademie gegründet und 1587 um eine juristische Fakultät erweitert worden12. Althusius wird als erster Jurist nach Herborn berufen. Die Berufung ist wohl nicht zuletzt dem Umstand zu verdanken, dass er inzwischen sein erstes größeres Werk, die seit der zweiten Auflage als Jurisprudentia Romana bezeichneten Iuris Romani libri duo abgeschlossen und 1586 in Basel publiziert hatte13. Althusius schien offenbar wie kein anderer geeignet und in der Lage, die theologisch-calvinistische Zielsetzung der Hohen Schule, wie sie zunächst von den Theologen Caspar Olevian und Wilhelm Zepper, darauf namentlich von Johannes Piscator vertreten wurde, in juristische und politiktheoretische Kategorien zu übertragen. Er nimmt seine Lehrtätigkeit Ende des Jahres 1586 auf, unterrichtet die Institutionen des Römischen Rechts, hält aber auch philosophische Lektionen ab. Althusius avanciert bald darauf, wahrscheinlich 1588, zum Professor juris und wird ein weiteres Jahr später zugleich zum gräflichen Rat ernannt14. 1592 folgt Althusius einem Ruf an die 1588 durch Graf Arnold IV. von Bentheim ins Leben gerufene calvinische Hohe Schule in (Burg-)Steinfurt im Münsterland, die für die Grafschaft und weit darüber hinaus eine der Herborner Hohen Schule vergleichbare Funktion hatte15. Althusius ist wohl bis Mitte 1596 in Steinfurt geblieben, wo er offensichtlich nicht nur mit großem Erfolg lehrte, sondern von Fall zu Fall auch
10 Vgl. die eigenhändige Eintragung auf dem Titelblatt seines Exemplars der Parva Naturalia des Aristoteles, Köln 1514 (heute in der Bibliothek des Theologischen Seminars Herborn). 11 Die sog. Intestaterbfolge: De successione ab intestato. Neuausgabe von Hans Thieme, Die Basler Doktorthesen des Johannes Althusius, in: FS Liermann, hrsg. von Obermayer, 1964, 297 ff. 12 Vgl. Menk, Die Hohe Schule Herborn in ihrer Frühzeit (1584 – 1660), 1981, 22 ff. 13 Althusius, Iuris Romani Libri duo, Basel 1586, ab1588 u.d.T. Jurisprudentia Romana 14 Vgl. im Einzelnen Carl Joachim Friedrich, Johannes Althusius und sein Werk im Rahmen der Entwicklung der Theorie von der Politik, 1975, 24 f. 15 Oskar Prinz zu Bentheim, Graf Arnold IV. von Bentheim und die Gründung der Hohen Schule zu Steinfurt, in: FS 400 Jahre Arnoldinum, 1988, 31 ff.
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in Rechts- und Verwaltungsangelegenheiten beratend beigezogen wurde16. Auf Drängen Johanns d. Ä. von Nassau-Dillenburg, der ihn nur ungern nach Steinfurt hatte ziehen lassen, kehrt Althusius an seine alte Wirkungsstätte zurück. Diese war inzwischen von Herborn in das größere Siegen verlegt worden, wo er seine Tätigkeit wohl im Sommer 1596 wiederaufnimmt. 1599 wird er in Siegen zum Rektor gewählt17. Im Zuge der Rückverlagerung der Hohen Schule von Siegen nach Herborn zieht auch Althusius im Frühjahr 1600 nach Herborn um, wo er 1602 erneut das Rektoramt bekleidet. In den Jahren nach seiner Rückkehr erlebt Althusius die wohl fruchtbarste Phase seiner wissenschaftlichen Tätigkeit. In dieser Zeit entsteht, geprägt von seinem politisch-rechtlichen und religiösen Umfeld, sein Hauptwerk, die Politica methodice digesta, deren erste Auflage in Herborn 1603 erschienen ist. Im Sommer des Jahres 1604 gibt Althusius seine Tätigkeit als Professor an der Hohen Schule zu Herborn auf, um Syndikus in Emden, dem Genf des Nordens, zu werden, einer Stadt, die an der Wende vom 16. zum 17 Jahrhundert im politischen Kräftefeld der um ihre Selbständigkeit ringenden Niederlande einerseits, des lutherischen Grafenhauses andererseits, steht18. Althusius tritt sein Amt in Emden im August 1604 an. Er steht als erster Beamter der Stadt zwischen Magistrat, dem er ohne eigenes Stimmrecht angehört, und den übrigen städtischen Amtsträgern. Seine Aufgaben als Syndikus sind vielfältig. Sie umfassen neben der allgemeinen Beratung des Magistrats insbesondere die rechtliche und politische Vertretung der Stadt. Althusius ist zudem zuständig für den gesamten Schriftverkehr des Magistrats. 1617 wird er Mitglied und Ältester des Emder Kirchenrats. Ihm fällt damit eine Machtstellung zu, die nicht von ungefähr mit der Calvins in Genf verglichen worden ist19. Als Syndikus setzt Althusius sich im Innern für eine Stärkung des Emder Magistrats ein. Im Verhältnis zur Kirche und ihren Institutionen hat er bei prinzipieller Betonung des christlich-calvinischen Elements auch in politischen Fragen praktisch einer Vermengung geistlicher und weltlicher Ämter und Interessen vorzubeugen gesucht, indem er sich kirchlichen Tendenzen, auf das Stadtregiment Einfluss zu nehmen, widersetzte. Was die Außenbeziehungen Emdens angeht, erweist sich Althusius als energischer Vorkämpfer einer weitgehend unabhängigen und freien Stadtrepublik. 16
Vgl. Warnecke, Althusius und Burgsteinfurt, in: Politische Theorie des Johannes Althusius (Fußn. 1), 147 ff. 17 Friedrich, Althusius (Fußn.14), 25 f. 18 Vgl. Antholz, Die politische Wirksamkeit des Johannes Althusius in Emden, 1955; Kappelhoff, Geschichte der Stadt Emden, Bd. 2: Emden als quasiautonome Stadtrepublik 1611 bis 1749, Leer 1994, 160 ff., sowie den Forschungsbericht von Malandrino, Il Syndikat di Johannes Althusius a Emden. La ricerca, in: Il pensiero politico 28 (1995), 359 ff. 19 Kappelhoff, Emden (Fußn. 18), 439 f.; Antholz, Die politische Wirksamkeit (Fußn. 18), 81.
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Im Rahmen des ostfriesischen Ständekampfes tritt Althusius zum einen als Sachverwalter spezifisch Emder Interessen hervor, insbesondere auf den Gebieten des Finanz-, Gerichts- und Landtagswesens, zum anderen als Verteidiger ständischer Interessen schlechthin, die er mit Blick vor allem auf den zweiten und dritten Stand der Städte und Bauern gegen Übergriffe sowohl des Grafen als auch des Landadels zu behaupten sucht. Die auf der Unabhängigkeit und Selbständigkeit der Stadt Emden abzielende Politik des Althusius orientiert sich vor allem an den im Freiheitskampf gegen Kaiser und Reich stehenden niederländischen Generalstaaten. Sie sind die Garantiemacht der Emder Verfassung. Umgekehrt ist Emden eine der wichtigsten niederländischen Außenbastionen. Auf zahlreichen Gesandtschaften hat Althusius im Haag die Emder Interessen nicht ohne Probleme, im Ganzen jedoch erfolgreich vertreten20. Es ist nicht zuletzt sein Verdienst, wenn Emden von den Wirren und Leiden des Dreißigjährigen Krieges weitgehend verschont blieb. Neben der Bewältigung praktisch-politischer Aufgaben treibt Althusius sein wissenschaftliches Werk voran und bringt es zum Abschluss. Im Jahre 1610 publiziert er die zweite Auflage seiner Politica, in der die politischen Erfahrungen der Emder Zeit, namentlich in den Passagen über die Territorialverfassung, ihren Niederschlag gefunden haben. Dieser Ausgabe ist ein neues Schlusskapitel über das Widerstandsrecht hinzugefügt, das vor dem Hintergrund des Ständekampfes besondere Aktualität besitzt und überdies zeigt, wie Althusius theoretische Reflexion und praktische Politik – mitunter nicht ohne Rigorismus und Eigensinn – miteinander zu verbinden wusste21. Eine dritte, endgültige Auflage, die Korrekturen und Ergänzungen, vor allem aber weiteres Schrifttum und zusätzliche Belege enthält, erscheint 161422. Auch die Jurisprudentia Romana, die er bereits in früheren Jahren mehrfach überarbeitet hatte, erfährt eine erneute Umgestaltung. Althusius baut sie zu einer Allgemeinen Rechtslehre auf römischrechtlicher Grundlage aus, die 1617 unter dem Titel Dicaeologica publiziert wird23. Althusius scheint bis ins hohe Alter tätig gewesen zu sein. Ein Landtagsbesuch ist letztmalig für 1635 verbürgt. Seine Geschäfte in der Stadt hat er offenbar bis zum
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Antholz, Die politische Wirksamkeit (Fußn. 18), 123 f., 218. Zur nicht unumstrittenen Beurteilung seiner Leistung für Emden und Ostfriesland siehe Antholz, Johannes Althusius als Syndicus Reipublicae Embdanae. Ein kritisches Repetitorium, in: Politische Theorie des Johannes Althusius (Fußn. 1), 67 ff., sowie Deeters, Geschichte der Stadt Emden von 1576 bis 1611, in: Geschichte der Stadt Emden, Bd. 1, 1994, 271 ff. (317 ff.) einerseits Behnen, „Status regiminis provinciae“. Althusius und die „freie Republik Emden“ in Ostfriesland, in: Konsens und Konsoziation in der politischen Theorie des frühen Föderalismus, hrsg. von Giuseppe Duso (u. a.), 1997 (Rechtstheorie, Beih. 16),139 ff., andererseits. 22 Siehe Fußn. 6 23 Dicaeologicae Libri Tres, Totum et universum Jus quo utimur, methodice complectentes, Herborn 1617, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1649, Neudruck 1967. 21
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Ende des Jahres 1637 weitergeführt24. Am 12. August 1638 ist er in Emden gestorben. III. Das politiktheoretische Werk des Althusius: Die Gemeinschaft als Ausgangspunkt und Grundlage des politisch-rechtlichen Zusammenlebens Zentralbegriff der politischen Theorie des Althusius ist der sperrige, nicht eben leicht ins Deutsche zu übersetzende Begriff der consociatio25. Der Wiederentdecker des Althusius, Otto von Gierke, stieß im Rahmen seiner genossenschaftsrechtlichen Forschungen nicht zufällig auf die Lehre des Althusius. In der Tat weist die althusische Politica ebenso genossenschaftsrechtliche und korporative wie gesellschaftsvertragliche Anknüpfungspunkte auf26, auch ist die bürgerliche Gesellschaft als societas civilis Althusius durchaus nicht fremd27. Doch ist das wissenschaftliche Vorhaben des Althusius weit umfassender angelegt und verfolgt ein politiktheoretisches Ziel, in dem die Gemeinschaft (communio) und die Vergemeinschaftung (communicatio) zentral sind28. Gierke hat das in seiner Beschäftigung mit Althusius sehr wohl gesehen und auf den durchgehenden und die Argumentation tragenden Aspekt der Gemeinschaft hingewiesen, der zudem durch die Vorstellung eines gleichsam naturwüchsigen symbiotischen Zusammenlebens gestützt und unterfangen wird29. Nicht von ungefähr bezeichnet Althusius die Glieder der Gemeinschaft gleich zu Beginn der Politica als Symbioten – symbiotici –, die als politisch in wechselseitiger Teilhabe Zusammenlebende identifiziert werden30. Dem steht im Hinblick auf die Würdigung der Politischen Theorie des Althusius auch Carl Joachim Friedrich nahe, der der Althusius-Forschung seit den dreißiger Jahren von Harvard aus Auftrieb gegeben31 und in den fünfziger Jahren ausgehend von Heidelberg die deutsche Politikwissenschaft unter Einschluss des althusischen Gemein-
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Vgl. Antholz, Die politische Wirksamkeit (Fußn. 18), 218. Siehe zur Begrifflichkeit Cornel Zwierlein, Consociatio, in: Politisch-rechtliches Lexikon der Politica des Johannes Althusius, hrsg. von Corrado Malandrino u. D. Wyduckel, 2010, 175 ff. 26 So z. B., wenn er die politische consociatio als aus einem ausdrücklichen oder stillschweigenden Vertrag der Einzelnen hervorgegangen ansieht (Politica [Fußn. 6], Kap. I, § 2). 27 Althusius, Politica (Fußn. 6), Kap. I § 13. 28 Althusius, Politica (Fußn. 6), Kap. I §§ 7 ff. 29 Siehe z. B. Gierke, Althusius (Fußn. 8), 18 ff. (19, 21) sowie Malandrino, Symbiosis, in: Politisch-rechtliches Lexikon (Fußn. 25), S. 339 ff. (342). 30 Althusius, Politica (Fußn. 6), Kap. I §§ 2 ff, 6. 31 Politica Methodice digesta of Johannes Althusius (Althaus). Reprinted from the Third Edition of 1614. Augmented by the Preface of the First Edition of 1603 and by 21 hitherto Unpublished Letters of the Author. With an Introduction by Carl Joachim Friedrich, Cambridge: Harvard University Press 1932. (Harvard Political Classics, Vol. 2). 25
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schaftsdenkens befruchtet hat, ohne dabei allerdings den Genossenschafsbezug ganz ausschließen zu wollen32. Es geht Althusius nach allem um nichts weniger als eine Neubegründung der Politik als Wissenschaft im Spannungsfeld der Disziplinen, insbesondere um ihre Abgrenzung von Jurisprudenz, Theologie und Philosophie. Methodenfragen kommt damit eine gesteigerte Bedeutung zu. Wollte man von bisherigen Denkgewohnheiten abweichen, so bedurfte es einer Auseinandersetzung vor allem mit dem tradierten Aristotelismus, der im Wandel begriffen war und sich als Neu- oder Spätaristotelismus der Frage nach der Eigenständigkeit politischen Handelns zuwandte, wie sie etwa sein Helmstedter Zeitgenosse Henning Arnisaeus gestellt hatte33. Die Politik des Althusius stellt hierzu einen Gegenentwurf dar34. Dies darf nicht im Sinne eines prinzipiellen Gegensatzes zur Politik des Aristoteles missverstanden werden. Alle Politikwissenschaft ist insoweit aristotelisch, als sie vom Menschen als einem auf Gemeinschaft angelegten Wesen ausgeht. Die Wendung gegen den politischen Neuaristotelismus ist für Althusius vielmehr in erster Linie eine methodologische, die dem Formalismus der scholastischen Syllogistik mit einem neuen Wissenschaftsverständnis zu begegnen sucht. Die Methode steht dabei mit der inhaltlichen Darstellung in engem Zusammenhang, ja geht ihr systematisch voraus. Unter den Methodenansätzen der Zeit kommt seit der Mitte des 16. Jahrhunderts der ramistischen Logik als Gegenentwurf eine besondere Bedeutung zu. Der reformierte Philosoph Petrus Ramus hatte den tradierten aristotelischen Syllogismus angegriffen und durch eine neue dialektische, sich mehr an Platon orientierende Logik des Definierens und dichotomischen Zergliederns ersetzt35. Diese Methode findet schnell Anklang und Verbreitung und führt zur Revolutionierung des tradierten Wissenschaftsverständnisses36. Ramisten verbinden ein hohes Interesse an definitorischer Klarheit mit dem Willen zur Durchsichtigkeit des begrifflich-systematischen Zusammenhangs, der sich nicht zuletzt darin äußert, dass den betreffenden Werken regelmäßig umfangreiche Tabellen und Gliederungsschemata vorangestellt werden. Im ramistisch geprägten Denken kommt so eine sezierende Vernunft37 zum Vor32 Friedrich in der Introduction zu Politica Methodice digesta of Johannes Althusius (Fußn. 31); XV ff. (LXXIV) und ders., Althusius (Fußn. 14), siehe insbes. die Überschrift zu Kap. V, 90. 33 Dreitzel, Protestantischer Aristotelismus (Fußn. 3), 116 ff. 34 Althusius ist also anders, als Horst Denzer meint, nicht dem Spätaristotelismus zuzurechnen (Pipers Handbuch der politischen Ideen, hrsg. von Fetscher u. Münkler, Bd. 3, 1985, 242). 35 Vgl. Strohm, Theologie und Zeitgeist. Beobachtungen zum Siegeszug der Methode des Petrus Ramus am Beginn der Moderne, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 110 (1999), 352 ff. (358). 36 Siehe Ong, Ramus. Method, and the Decay of Dialogue. From the Art of Discourse to the Art of Reason. With a new Foreword by Adrian Johns, Chicago, Ill. 2004, 296 ff., sowie Robinet, Aux sources de l’esprit cartésien. L’axe La Ramée-Descartes de la Dialectique de 1555 aux Regulae, 1996 (De Pétrarque à Descartes, 60), 11. 37 Strohm, Theologie und Zeitgeist (Fußn. 35), 358.
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schein, die die recta ratio im ciceronischen Verständnis hinter sich lässt oder dieser doch einen neuen, ganz anderen, formalen Sinn verleiht. Althusius legt die ramistische Methode sowohl seiner Politik- als auch seiner Rechtslehre in expliziter Weise zu Grunde. Dabei wird der Ramismus im Allgemeinen viel weniger konsequent durchgeführt als programmatisch vorgegeben. Dies war auch schwierig, weil die ramistische Logik selbst uneindeutig blieb, wozu ihre mehrfache Umgestaltung nicht unerheblich beitrug38. Jedoch kommt es darauf eben so wenig entscheidend an wie auf die Frage, ob die neue Methode der hergebrachten Syllogistik wirklich überlegen war (was aufgrund ihres starren Schematismus füglich zu bezweifeln ist), da sie jedenfalls die Möglichkeit bot, sich von bisherigen Denkweisen zu lösen und damit zugleich neue Inhalte zu vermitteln. Dem Ramismus fällt so, auch wenn er mehr Überleitungscharakter hat und sich nicht dauerhaft behaupten konnte, für Politik, Jurisprudenz und Theologie eine wichtige Schlüsselfunktion zu. Es ist aber nicht das Zergliederungsinteresse allein, das den Ramismus kennzeichnet. Das ihm darüber hinaus eigene systematische Moment zielt darauf ab, verschiedene wissenschaftliche Materien möglichst trennscharf unterschiedlichen Fachdisziplinen zuzuordnen, so deren Eigenständigkeit zu erweisen und sie zugleich voneinander abzugrenzen, um nicht, wie Althusius betont, „in einer fremden Ernte zu mähen“39. Auch wenn man Althusius in einzelnen Zuordnungen nicht immer folgen wird, so tritt das methodisch-systematische Anliegen in seinem Werk doch deutlich hervor, das sowohl für seine Politik als auch für seine Rechtslehre charakteristisch ist. Gewiss trägt die Politica deutlich die Handschrift des professionellen Juristen, jedoch legt Althusius gesteigerten Wert darauf, die politikwissenschaftliche Argumentation von juristischen – ebenso übrigens wie von theologischen – Vor- und Spezialfragen zu entlasten, indem er im Rahmen seiner Darlegungen kenntlich macht, wann und inwieweit es sich um spezifische Probleme eben jener anderen Disziplinen handle, auf die deshalb vorliegend nicht näher einzugehen sei. Der systematisch angeleitete Zugriff hat zugleich zur Folge, dass die zahlreich angeführten Beispiele mehr dienende Funktion haben, d. h. nicht wie in den zeitgenössischen Exemplasammlungen, mehr oder minder geordnet aneinandergereiht sind, sondern in den argumentativen Zusammenhang einbezogen werden. Der Gedankengang gewinnt so an Stringenz, da die Beispiele im Wesentlichen der Illustration dienen – exemplis illustrata! – ohne ihn zu hemmen oder zu stören. Ist so wissenschaftssystematisch zwischen Politik, Jurisprudenz, Philosophie, insbesondere Ethik und Theologie zu trennen, so fragt sich, wie die Abgrenzung im Einzelnen vorzunehmen ist. Althusius leugnet nicht, dass Theologie und Philosophie als gleichsam vor die Klammer gezogene Disziplinen wichtige Vorfragen zu klären haben, die sich ihm im Hinblick auf die göttliche Offenbarung und das natürliche Sittengesetz in jeder praktischen Wissenschaft stellen, doch bleibt die Umsetzung 38 39
Ong, Ramus (Fußn. 36), 299. Althusius, Politica (Fußn. 6), Vorwort zur Ausgabe von 1603, Bl. 3 v.
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auf Fragen des Gemeinschaftslebens ganz Aufgabe der Politik40. Die fachsystematische Zuständigkeit fällt insoweit der Politikwissenschaft zu, die die Ordnung des Gemeinschaftslebens der Menschen mit Recht als den ihr eigentümlichen Gegenstand betrachtet. Die von Althusius mit den theologischen Fachkollegen Johannes Piscator, Wilhelm Zepper und Matthias Martinius in Herborn im Laufe des Jahres 1601 geführte Auseinandersetzung über die Geltung und Bedeutung des göttlichen Rechts im politischen Gemeinwesen lässt auf diesem Hintergrund deutlich werden, dass er bei aller Konzilianz offenbar nicht bereit war, in politicis eine theologischbiblizistische Position hinzunehmen und zwar nicht nur deshalb, weil dies seinen wissenschaftssystematischen Grundsätzen widersprochen hätte, sondern auch, weil damit die Deutungshoheit in politischen Fragen zu einem erheblichen Teil der Theologie zugefallen wäre41. Die Politica des Althusius ist auf diesem Hintergrund nicht theologisch gemeint oder gar der politischen Theologie zuzuordnen, sondern ein genuin politiktheoretisches Werk. Es geht ihm gerade nicht um die Vermengung, sondern die Abgrenzung der Perspektiven, die ein Grundanliegen seiner Rechts- und Politiklehre darstellt, ohne dass dabei auf die notwendige Kooperation der Disziplinen verzichtet werden müsste42. Dies gilt auch für die überbordenden Bibelzitate, die nicht politisch-theologisch, sondern politiktheoretisch gemeint sind. IV. Herrschaftliche Gewalt, Recht und Souveränität Auch die althusische Gemeinschaft bedarf der Herrschaft, um ein geordnetes Zusammenleben ihrer Glieder zu gewährleisten. Dabei bleibt die Gemeinschaft als Inbegriff des politischen Zusammenlebens Ausgangs- und Zurechnungspunkt der weiteren Überlegungen. Glieder der Gemeinschaft sind sowohl Einzelne (singuli) als auch private und öffentliche Korporationen, so dass es sich eher um eine Souveränität der Gemeinschaft als um eine solche des Volkes handelt. Letztere ist zwar an- und mitgedacht, aber nicht aus- und durchgeführt, weil sie durch den Gemeinschaftsaspekt überlagert wird. Die Gemeinschaft findet ihre politisch-rechtliche Struktur im Gemeinwesen, der Respublica. Konstitutiv für das Insgesamt des Gemeinwesens ist der Konsens eng miteinander verbundener Glieder, der seinen Niederschlag wiederum in ausdrücklichen oder stillschweigenden Vereinbarungen und Versprechen findet43. Dieser sozialstrukturelle Zusammenhang ist stufenförmig von den kleineren zu den größeren 40
Siehe ebd. Vgl. P. Münch, Göttliches oder weltliches Recht? Zur Kontroverse des Johannes Althusius mit den Herborner Theologen (1601), in: Stadtverfassung, Verfassungsstaat, Pressepolitik. FS Naujoks, hrsg. von Quarthal u. Setzler1980, 16 ff. 42 Wyduckel, Einleitung (Fußn. 4), XXXIV ff.; ders., Konfession und Jurisprudenz bei Althusius, in: Konfessionalität und Jurisprudenz in der frühen Neuzeit, hrsg. von Christoph Strohm u. Heinrich de Wall, 2009, 167 ff. (182 ff.). 43 Althusius, Politica (Fußn. 6), Kap. IX § 7. 41
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Gliedern in eine Herrschafts-, Regierungs- und Verwaltungsstruktur eingelagert, die dem Ganzen im politischen Sinn Leben gibt. Alle Gemeinschaften, selbst die kleinsten, die Althusius in den Blick nimmt, sind politischer Natur44. Die Seele und das verbindende Moment der umfassenderen öffentlichen politischen Gemeinschaft ist die einheitsstiftende Souveränität, die im Konsens der Glieder Ausdruck findet, d. h. darin, ein Reich unter einem Recht zu begründen45. Althusius nimmt den Souveränitätsbegriff als entscheidende Kategorie des Gemeinwesens also auf, betont die Unveräußerlichkeit und Unteilbarkeit der Souveränität und nimmt ihr so nichts von ihrer grundsätzlichen Schärfe46, ja macht sie zum zentralen Punkt des politischen Gemeinwesens, spricht sie allerdings anders als sein älterer Zeitgenosse Jean Bodin nicht einem Einzelnen, also nicht dem Herrscher, sondern allen gemeinsam zu47. Er kommt damit der Vorstellung einer Souveränität des staatlichen Gemeinwesens nahe und zwar sehr viel näher als Bodin. Dass unter diesen Voraussetzungen der Herrscher nicht Inhaber souveräner Gewalt sein kann, leuchtet ein und wird von Althusius immer wieder betont. Lediglich ihre Ausübung kann dem Herrscher überlassen werden, den Althusius jedoch nicht personalisierend, sondern im abstrahierenden Begriff des obersten Magistrats (summus magistratus) erfasst48. Er wird von der Gesamtheit bzw. deren Vertreter aufgrund der Gesetze hierzu bestellt49. Seine Einsetzung geschieht durch einen Rechtsakt, der die Modalitäten sowie die Art und Weise der Herrschaft festlegt. Dieser Rechtsakt hat vertraglichen Charakter, ist jedoch nicht ohne weiteres mit dem herkömmlichen Herrschaftsvertrag gleichzusetzen, sondern stellt ein Auftragsverhältnis (pactum sc. contractus mandati) dar mit der Folge, dass die Gesamtheit stets Inhaberin der Herrschaftsgewalt bleibt, d. h. frei darüber verfügen kann50. Die magistratische Regierung bezieht ihre Legitimation also nicht aus eigenem, sondern aus fremdem Recht51. Unter diesen Voraussetzungen kann eine absolute Herrschaftsgewalt nicht in Betracht kommen. Anders als in der rechtlichen und politischen Lehre des Absolutismus ist jegliche Herrschaftsgewalt für Althusius eine immer schon gebundene und rechtlich vorgeformte (potestas limitata, potestas alligata)52. Absolut kann die Herrschaftsgewalt deshalb nicht sein, weil in jedem Gesetz etwas von der unveränderlichen natürlichen und göttlichen Gerechtigkeit enthalten ist, so dass eine rechtliche 44
Althusius, Politica (Fußn. 6), Kap. III § 42. Althusius, Politica (Fußn. 6), Kap. IX §§ 15 ff. 46 Althusius, Politica (Fußn. 6), Kap. IX § 19, Kap. XXXVII § 52, XXXVIII § 127, XXXIX § 36. 47 Althusius, Politica (Fußn. 6), Kap. IX § 18. 48 Althusius, Politica (Fußn. 6), Kap. XXV. 49 Althusius, Politica (Fußn. 6), Kap. XIX §§ 1 ff., 24 ff. 50 Althusius, Politica (Fußn. 6), Kap. XIX §§ 6, 12. 51 Althusius, Politica (Fußn. 6), Kap. XIX § 4. 52 Althusius, Politica (Fußn. 6), Kap. XVIII § 106. 45
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Entbundenheit nicht in Betracht kommen kann53. Althusius steht damit in doppeltem Gegensatz zu seinem älteren Zeitgenossen Bodin, der die souveräne Gewalt als eine von den Gesetzen gelöste (legibus soluta potestas) definiert hatte, die er zudem nicht der Gesamtheit, sondern dem mit dem Gemeinwesen weitgehend identifizierten Herrscher zuerkannte54. Doch leugnet auch Althusius die Notwendigkeit einer souveränen Gewalt im Gemeinwesen keineswegs, konzipiert sie aber als eine rechtliche. Er spricht deshalb nicht von Souveränität schlechthin, sondern vom Recht der Souveränität (jus regni, jus majestatis)55. Dieses kommt im Gemeinwesen regelmäßig nicht unmittelbar zum Ausdruck, sondern ist ihm als eine statuierende bzw. konstituierende Gewalt (potestas juris regni statuendi) gleichsam vorgelagert56. Es steht den Gliedern des Gemeinwesens zu und ist für seinen Bestand und seine rechtliche Ordnung grundlegend. Darin klingt ein Verfassungsmoment an, das aller Herrschaftsgewalt eine Grundlage gibt. Die nähere Bestimmung des Verhältnisses von Herrscher und Volk ergibt sich aus grundlegenden rechtlichen Regelungen, die der Sache nach schon der spätmittelalterlichen Herrschaftstradition bekannt sind und sich seit Ausgang des 16. Jahrhunderts im Begriff des Fundamentalgesetzes, der lex fundamentalis, verdichten. Althusius nimmt diese, zu seiner Zeit bereits eingeführte Terminologie auf, gibt den Fundamentalgesetzen aber eine entschiedenere, begriffsschärfende Bedeutung als Inbegriff der die Herrschaft zugleich begründenden und begrenzenden rechtlichen Regeln. Im Zeichen dieses grundlegenden Gesetzes ist die umfassende Gemeinschaft im Gemeinwesen des Reichs eingerichtet, auf dieses stützt sie sich wie auf ein Fundament (tanquam fundamento nititur)57. Das Fundamentalgesetz ist aber nicht nur rechtliche Grundlage der Herrschaftseinsetzung, sondern hat zugleich eine föderale Funktion. Die lex fundamentalis ist nämlich Inbegriff von Verträgen, die die regionalen Gliederungen des Reichs – das sind vor allem Städte und Provinzen – mit dem erklärten Ziel eingehen, ein und dasselbe Gemeinwesen zu bilden und dieses mit Rat und Tat, Schutz und Hilfe aufrechtzuerhalten und zu verteidigen. So gelingt es, hierarchisch-vertikale und föderal-horizontale Gemeinschaftsbildung im Zeichen einer für das gesamte Reich grundlegenden Fundamentalnorm rechtlich miteinander zu verknüpfen. Auf diese Weise kann das Souveränitätspostulat aufrechterhalten und in modifizierter Form sowohl mit dem Ansatz einer gegliederten Ordnung als auch mit dem Gedanken rechtlicher und fundamentalgesetzlicher Bindung vereinbart werden. Hier, und nicht im Souveränitätskonzept Bodins, sind die Anfänge 53
Althusius, Politica (Fußn. 6), Kap. IX § 21. Jean Bodin, De Republica libri sex, ed. Frankfurt a.M. 1594, I 8, 123. Dazu näher Quaritsch, Staat und Souveränität, 1970, 243 ff. 55 Althusius, Politica (Fußn. 6), Kap. IX § 18. 56 Althusius, Politica (Fußn. 6), Kap. IX § 16. Siehe dazu Scupin, Demokratische Elemente in Theorie und Praxis des Johannes Althusius, in:. A Desirable World. Essays in Honor of Professor Bart Landheer, hrsg. von A.M.C.H. Reigersman (u.a), 1974, 67 ff. (75). 57 Althusius, Politica (Fußn. 6), Kap. XIX 49. 54
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eines spezifisch verfassungsrechtlichen Denkens zu suchen58. Hier werden zugleich die rechts- und politiktheoretischen Voraussetzungen eines föderalen Konzepts formuliert, das es ermöglicht, die verschiedenen Gemeinschaftsbildungen strukturell einzufangen und sowohl rechtlich als auch politisch einzuordnen59. Althusius schöpft bei alldem aus einer Vielzahl von Quellen. Präsent ist das einschlägige Wissen der Zeit unter Einschluss der antiken und mittelalterlichen Überlieferung60. Hinzu kommen zahlreiche Belege aus dem römischen und deutschen Recht. Althusius erweist sich hier als kenntnisreicher Jurist, dem die Legistik ebenso vertraut ist wie die Kanonistik61. Der Umgang mit dem überbordenden Material ganz unterschiedlicher Provenienz lässt eine Unbefangenheit der Argumentation erkennen, die sich keineswegs nur an Vertretern des eigenen Bekenntnisses orientiert, sondern weit darüber hinausweist, sofern es die politisch-rechtliche Zielsetzung erfordert. So bezieht Althusius sich zentral auf die Spanische Spätscholastik, vor allem Diego Covarruvias und Fernando Vázquez, denen er, wie zuerst die Forschungen Ernst Reibsteins gezeigt haben, in besonderer Weise verpflichtet ist62. Aber auch dem politischen Neustoizismus steht Althusius nahe, wie sein wiederholter Rekurs auf die Politica des Justus Lipsius zeigt63. Er bezieht darüber hinaus aber auch Autoren ein, die ihm konfessionell eher fern stehen, wie den – freilich moderaten – katholischen Juristen und politischen Philosophen Petrus Gregorius Tholosanus64, dies jedoch nur insofern, als sein eigenes politisch-theoretisches Ziel – das Zusammenleben der Menschen in Gemeinschaft und seine Begründung – hierdurch gefördert wird.
58
Wyduckel, Einleitung (Fußn. 4), S. XXIV. Thomas Hüglin, Sozietaler Föderalismus. Die politische Theorie des Johannes Althusius, 1991. Dazu meine Rezension in: Ius Commune 20 (1993), 429 ff. Siehe ferner Malandrino, Federalismo. Storia, idee, modelli, Rom 1998, 25 ff. 60 Siehe hierzu die Aufteilung und Gliederung der Literaturtypen bei Friedrich, Althusius (Fußn. 14), 40 ff. u. Frederick S. Carney, Translator’s Introduction, in: Althusius, Politica. An abridged translation, ed. by F. Carney, Indianapolis 1995, XXIV ff. 61 Von einer radikalen Verwerfung des gesamten kanonischen Rechts kann daher nicht die Rede sein. So aber Gierke, Althusius (Fußn. 8), 57. Siehe demgegenüber Friedrich, Althusius (Fußn. 14), 57 f. 62 Reibstein, Althusius als Fortsetzer der Schule von Salamanca, 1955, 17 ff., 209 ff., 216 ff. 63 Justus Lipsius (1547 – 1606), niederländischer Philologe, Humanist und Politiklehrer des Neustoizismus. Siehe seine: Politicorum sive civilis doctrinae libri sex, Lyon 1589 u. ö. 64 Petrus Gregorius Tholosanus (Pierre Grégoire de Toulouse), De Republica libri 26, Pont-à-Mousson 1596 u. ö. 59
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V. Das Recht zum Widerstand gegen tyrannische Gewalt Als Schlussstein seiner politischen Theorie sieht Althusius für den Fall, dass der Herrscher tyrannisch wird, ein Widerstandsrecht vor. Dieses Rechtsmittel gegen unrechtmäßige Ausübung herrschaftlicher Gewalt gehört zu den zentralen Partien seiner Politiktheorie, die der Politica jedoch erst seit der zweiten Auflage von 1610 hinzugefügt worden sind. Nicht zu Unrecht gilt die Diskussion um Grund und Grenzen legitimen Widerstandes als eine Domäne der sog. Monarchomachen, d. h. einer Gruppe von Autoren, die der in Frankreich lehrende schottische Jurist William Barclay in seiner 1600 erschienenen Schrift De regno et regali potestate in dieser Weise polemisch überzeichnend zusammengefasst und denen gegenüber er die monarchische Herrschaft zu verteidigen gesucht hatte65. In der Tat wird in der monarchomachischen Lehre ein Widerstandsrecht grundsätzlich bejaht, jedoch sind die Ansichten darüber, wann es zum Zuge kommt, wem es zusteht und wie weit es reicht, sehr unterschiedlich. Ausgangspunkt ist stets die Frage nach der Rechtmäßigkeit der Herrschaftsausübung, genauer: nach den Voraussetzungen, unter denen der Herrscher bei Überschreitung seiner Machtbefugnisse zum Tyrannen wird. Liegt ein derartiger Fall vor, so sind zunächst alle zu Gebote stehenden rechtlichen Mittel auszuschöpfen. Führen diese nicht zum Erfolg, so kann die – u. U. auch gewaltsame – Absetzung des Herrschers bis hin zur Tötung erlaubt sein66. Entscheidend für die Auslösung des Widerstandsrechts ist das zwischen Herrscher und Volk bestehende Vertragsverhältnis. Damit gewinnen die Fundamentalgesetze zentrale Bedeutung. Da der Herrscher dem Volk die Beachtung der leges fundamentales versprochen hat, wird die Rechtmäßigkeit der Herrschaftsausübung zur wesentlichen Legitimitätsbedingung67. Genau hier setzt Althusius an, indem er die Beachtung der Fundamentalgesetze anmahnt mit der Begründung, dass ihre Missachtung und Aufhebung notwendigerweise zur Tyrannis führt68. Das althusische Widerstandsrecht soll grundsätzlich nicht Individuen, sondern nur bestimmten Amtsträgern, i. d. R. Ständen und Magistraten zustehen, die bei Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen zur Ausübung berechtigt sind und von Althusius, reformiertem und monarchomachischem Sprachgebrauch folgend, als Ephoren, d.s. Wächter und Hüter des Gemeinwesens, bezeichnet werden69. Aber auch Privatleuten kann es erlaubt sein, vom Widerstandsrecht Gebrauch zu machen, 65
Wyduckel, Althusius und die Monarchomachen, in: Politische Begriffe (Fußn. 7), 133 ff. Althusius, Politica (Fußn. 6), Kap. XXXVIII §§ 63, 78. 67 Strohm, Ethik im frühen Calvinismus. Humanistische Einflüsse, philosophische, juristische und theologische Argumentationen sowie mentalitätsgeschichtliche Aspekte am Beispiel des frühen Calvin-Schülers Lambertus Danaeus, 1996, 363 ff. 68 Althusius, Politica (Fußn. 6), Kap. XXXVIII §§ 2, 5 f., 76. Siehe hierzu im Einzelnen Wyduckel, Althusius und die Monarchomachen (Fußn. 65), 142 ff. 69 Althusius, Politica (Fußn. 6), Kap. XXXVIII §§ 28 f. Dazu Saffo Testoni Binetti, Ephori, in: Politisch-rechtliches Lexikon (Fußn. 25), S. 201 ff. 66
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dies i. d. R. jedoch nur dann, wenn ein Aggressor als Tyrann ohne Rechtstitel in das Land einfällt70. Im Zweifel gilt auch hier, dass hinsichtlich der Untertanen ein gewisser Leidensdruck hinzunehmen ist und alle anderen Mittel der Abhilfe ausgeschöpft sein müssen71. Doch vermag Althusius dem niederländischen Politiklehrer Justus Lipsius, den er ansonsten sehr schätzt, nicht zuzustimmen, wenn dieser sagt, es sei weniger schlimm, einen Tyrannen zu ertragen, als ihn zu richten72. VI. Althusius und die Althusius-Forschung: Rückblick und Ausblick Nachdem die politische Lehre des Althusius im Zuge des aufsteigenden Absolutismus weitgehend in Vergessenheit geraten war, wird sie gegen Ende des 19. Jahrhunderts durch Otto von Gierke wieder aufgenommen73. Seitdem kommt die Althusius-Forschung nach und nach in Gang. In den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts wird dank der Initiative um den Kreis der Staatsrechtslehrer Hans Ulrich Scupin (1903 – 1990), Westfälische Wilhelms-Universität/Münster, und Ulrich Scheuner (1903 – 1981) Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, in Verbindung mit interessierten Kollegen, vor allem dem Historiker, Mitbegründer und langjährigen Mitherausgeber der Zeitschrift Der Staat, Gerhard Oestreich (1910 – 1978)74, die Johannes-Althusius-Gesellschaft e.V. gegründet75. Sie ist von Anfang an international und interdisziplinär ausgerichtet und beginnt ihre Arbeit mit einer bibliographischen Bestandsaufnahme76. Die Althusius-Gesellschaft fördert seither die internationale Althusius-Forschung mit wissenschaftlichen Projekten, Symposien und Tagungen. Inzwischen liegt dank der verdienstvollen Arbeit des Politikwissenschaftlers Corrado Malandrino und seiner Kollegen an der Università del Piemonte Orientale „A. Avogadro“ eine Lateinisch-italienische Gesamtausgabe der Politica des Althusius vor77. Seitens der Johannes-Althusius-Gesellschaft ist eine Lateinischdeutsche Gesamtausgabe der Politica in Vorbereitung, die demnächst erscheinen wird.
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Althusius, Politica (Fußn. 6), Kap. XXXVIII § 68. Althusius, Politica (Fußn. 6), Kap. XXXVIII §§ 53, 65, 28 f. 72 Althusius, Politica (Fußn. 6), Kap. XXXVIII § 70 73 Siehe oben unter Punkt I a.E. 74 Universität Hamburg, später Philipps-Universität Marburg. 75 Gesellschaft zur Erforschung der Naturrechtslehren und der Verfassungsgeschichte des 16. bis 18. Jahrhunderts. 76 Althusius-Bibliographie. Bibliographie zur politischen Ideengeschichte und Staatslehre, zum Staatsrecht und zur Verfassungsgeschichte des 16. bis 18. Jahrhunderts, hrsg. von Hans Ulrich Scupin und Ulrich Scheuner, bearb. von D. Wyduckel. 1973, 2 Bde. 77 Althusius, La Politica. Elaborata organicamente con metodo, e illustrata con esempi sacri e profani. A cura e con un saggio introduttivo di Corrado Malandrino, Torino: Claudiana 2009, 2 Bde. 71
III. Akzeptanzforschung und Mentalitätsgeschichte
Frühe Bürgerbeteiligung und Vorhabenakzeptanz Von Ivo Appel, Hamburg I. Einleitung Nicht erst seit „Stuttgart 21“ steht die Frage, wie Verfahren der Bürgerbeteiligung verbessert werden können, um mit Blick auf die zu treffenden Entscheidungen ein hinreichendes Maß an Akzeptanz zu schaffen, wieder weit oben auf der Tagesordnung.1 Nahezu einhellig wird eine angemessene und nicht zuletzt auch Akzeptanz schaffende Beteiligung der Bürger zu den maßgebenden Bausteinen und zum Gradmesser eines modernen Verfahrensrechts für Großprojekte gezählt.2 Gerade bei solchen größeren Projekten, die nicht nur eine Vielzahl politischer und wirtschaftlicher Interessen berühren, sondern auch in erheblichem Umfang in private Lebensverhältnisse und die Umwelt eingreifen, sollen Verfahren nicht nur so ausgestaltet sein, dass Konflikte minimiert und die Verfahren in angemessener Zeit abgeschlossen werden, sondern die Ergebnisse auch auf möglichst breite Akzeptanz stoßen. Damit knüpft die aktuelle Diskussion in vielfacher Weise an frühere Untersuchungen und Überle-
1
Vgl. nur Guckelberger, Formen der Öffentlichkeitsbeteiligung im Umweltverwaltungsrecht, VerwArch 2012, 31 ff.; Groß, Stuttgart 21: Folgerungen für Demokratie und Verwaltungsverfahren, DÖV 2011, 510 ff.; Schink, Bürgerakzeptanz durch Öffentlichkeitsbeteiligung in der Planfeststellung, ZG 2011, 226 ff.; ders., Die Wahrnehmung von Beteiligungsund Klagemöglichkeiten durch die Umweltverbände – Erfahrungen und Entwicklungsmöglichkeiten, ZUR 2011, 296 ff.; Steinberg, Die Bewältigung von Infrastrukturvorhaben durch Verwaltungsverfahren – eine Bilanz, ZUR 2011, 340 ff.; Wulfhorst, Konsequenzen aus „Stuttgart 21“: Vorschläge zur Verbesserung der Bürgerbeteiligung, DÖV 2011, 581 ff.; Durner, Möglichkeiten der Verbesserung förmlicher Verwaltungsverfahren am Beispiel der Planfeststellung, ZUR 2011, 354 ff.; Gärditz, Angemessene Öffentlichkeitsbeteiligung bei Infrastrukturplanungen als Herausforderung an das Verwaltungsrecht im demokratischen Rechtsstaat, GewArch 2011, S. 276 ff.; Böhm, Bürgerbeteiligung nach Stuttgart 21: Änderungsbedarf und -perspektiven, NuR 2011, 614 ff.; Schmehl, „Mitsprache 21“ als Lehre aus „Stuttgart 21“? Zu den rechtspolitischen Folgen veränderter Legitimitätsbedingungen, in: Festschrift für Hans-Peter Bull, 2011, S. 347 ff.; Wittreck, Demokratische Legitimation von Großvorhaben, ZG 2011, 209 ff.; Schönenbroicher, Irritationen um „Stuttgart 21“, VBlBW 2010, 466 ff.; Stüer/Buchsteiner, Stuttgart 21: Eine Lehre für die Planfeststellung?, UPR 2011, 335 ff.; Burgi, Das Bedarfserörterungsverfahren: Eine Reformoption für die Bürgerbeteiligung bei Großprojekten, NVwZ 2012, 277 ff.; Franzius, Stuttgart 21: Eine Epochenwende?, GewArch 2012, 225 ff.; Hien, Partizipation im Planungsverfahren, UPR 2012, 128 ff. 2 Auf umweltrelevante Projekte bezogen Guckelberger (Fußn. 1), 31 ff. mit weit. Nachw.
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gungen an, wie die Akzeptanz von Verwaltungsentscheidungen verbessert und Akzeptabilität als Leitlinie des Verwaltungshandelns rechtlich gestärkt werden kann.3 Eine frühzeitige(re) Bürgerbeteiligung zählt zu den Aspekten, die in der Diskussion um eine verbesserte Bürgerbeteiligung und die Schaffung von Akzeptanz immer wieder erörtert und angemahnt werden. Gerade die frühe Einbeziehung der Bürger soll dazu führen, dass sich Betroffene und Interessierte zu einem Zeitpunkt informieren und äußern können, zu dem einerseits über ein hinreichend konkretes Projekt gesprochen werden kann und andererseits noch keine grundlegenden (Vor)Entscheidungen getroffen wurden, so dass die Verwaltung glaubhaft unvoreingenommen und neutral gegenüber der Öffentlichkeit und dem Vorhabenträger auftreten kann. Unter dieser normativen Perspektive geht es zwar nicht um die Herstellung von Akzeptanz, wohl aber um die Verbesserung der Akzeptabilität des Verfahrens der Entscheidungsfindung und damit auch der in der Folge zu treffenden Sachentscheidung.4 Auch der Gesetzgeber, der trotz einer Vielzahl von Anregungen lange Zeit keinen Handlungsbedarf gesehen hatte, hat die frühe Bürgerbeteiligung mittlerweile aufgegriffen und zum Gegenstand seiner Reformgesetzgebung gemacht.5 Zu diesem Zweck soll die Verwaltung verpflichtet werden, auf eine frühzeitige Bürgerbeteiligung durch den Vorhabenträger hinzuwirken.6 3
Thomas Würtenberger hat frühzeitig und kontinuierlich an dieser Diskussion teilgenommen und sie durch eine Vielzahl von Anregungen geprägt. Vgl. nur Würtenberger, Akzeptanz von Recht und Rechtsfortbildung, in: Eisenmann/Rill (Hg.), Jurist und Staatsbewusstsein, 1987, S. 79 ff.; ders., Akzeptanz durch Verwaltungsverfahren, in: NJW 1991, S. 257 ff.; ders., Konfliktlösung durch Akzeptanz-Management, in: Zilleßen/Dienel/Strubelt (Hg.), Die Modernisierung der Demokratie, 1993, S. 72 ff.; ders., Konfliktschlichtung im Erörterungstermin, in: Kroeschell (Hg.), Recht und Verfahren, 1993, S. 183 ff.; ders., Entwurf einer Empfehlung zur Verbesserung der Akzeptanz von Verwaltungsentscheidungen, in: Verwaltungsreform in Baden-Württemberg, Anlagenband zum Ersten Bericht der Regierungskommission Verwaltungsreform, hrsg. vom Staatsministerium Baden-Württemberg, 1993, Anl. 8, S. 1 ff.; ders., Akzeptanz als Leitlinie des Verwaltungsermessens, in: Pichler (Hg.), Rechtsakzeptanz und Handlungsorientierung, 1998, S. 287 ff.; ders., Gemeinschaftsrecht als Akzeptanz-Neuland, in: Pichler (Hg.), a.a.O., S. 307 ff.; ders., Die Akzeptanz von Gesetzen, in: Soziale Integration, Sonderheft 39 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 1999, S. 380 ff.; ders., Die Akzeptanz von Gerichtsentscheidungen, in: Hof/Schulte (Hg.), Wirkungsforschung zum Recht III, 2001, S. 201 ff.; ders., Akzeptanzmanagement von Verwaltungsentscheidungen mittels Mediation, in: Ferz/Pichler (Hg.), Mediation im öffentlichen Bereich, 2003, S. 31 ff.; ders., Die Akzeptanz von Verwaltungsentscheidungen als verfahrensrechtliches Prinzip in der Europäischen Union, in: Planung – Steuerung – Kontrolle, FS Bartlsperger, 2006, S. 233 f. 4 Zur Unterscheidung von Akzeptanz und Akzeptabilität Pitschas, Maßstäbe, in: Hoffmann-Riem/Schidt-Aßmann/Voßkuhle (Hg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. II, 2. Aufl. 2012, § 42 Rn. 201 ff.; Franzius (Fußn. 1), 228. 5 Dies ist eine kleine Revolution, wenn man bedenkt, dass sich die Diskussion um die Bürgerbeteiligung bei Großverfahren seit Jahrzehnten an verschiedenen Großvorhaben entzündet hat und Ergebnisse umsetzungsbereit vorliegen. Vgl. Durner, Möglichkeiten der Verbesserung förmlicher Verwaltungsverfahren am Beispiel der Planfeststellung, ZUR 2011, 354 (356 f.). 6 Näher zu dieser Reformgesetzgebung und insbesondere zu § 25 Abs. 3 VwVfG unten IV.
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Vor diesem Hintergrund besteht aller Anlass, Bedeutung und Funktion einer frühen Bürgerbeteiligung in Verwaltungsverfahren und ihren Beitrag zur Steigerung von Vorhabenakzeptanz näher in den Blick zu nehmen und kritisch zu hinterfragen.7 Mit diesem Ziel sollen zunächst Bedeutung und Funktion der Öffentlichkeitsbeteiligung skizziert (unten II.) und sodann Faktoren benannt werden, die der Akzeptabilität von Verwaltungsverfahren gerade bei Großprojekten entgegenstehen können (unten III.). Anschließend soll die frühe Öffentlichkeitsbeteiligung als gegenwärtig wohl am stärksten diskutierter Baustein für eine Verbesserung der Bürgerbeteiligung nachgezeichnet und auf ihre Tragfähigkeit nicht zuletzt unter dem Gesichtspunkt der Akzeptabilität von Verwaltungsentscheidungen hin befragt werden (unten IV.). II. Bedeutung und Funktion der Bürgerbeteiligung in Verwaltungsverfahren Das Verwaltungsverfahrensgesetz unterscheidet mit Blick auf die Bewältigung von Großverfahren im Wesentlichen8 zwei auf den Erlass eines Verwaltungsakts gerichtete Verfahrenstypen. Das Standardverfahren nach §§ 35 ff. VwVfG sieht bislang zwar grundsätzlich keine Öffentlichkeitsbeteiligung vor. Sofern es jedoch bei umfangreicheren Genehmigungsverfahren – wie beispielsweise im immissionsschutzrechtlichen Anlagenzulassungsverfahren – in starkem Umfang durch die Vorschriften von Fachgesetzen wie dem Bundesimmissionsschutzgesetz modifiziert wird,9 ist regelmäßig auch die Beteiligung der Öffentlichkeit wesentlicher Bestandteil des Verfahrens. Von besonderer Relevanz für Großvorhaben ist das Planfeststellungsverfahren als gesetzlich vorgesehenes Regelverfahren für die Entscheidung über die Zulassung raumbeanspruchender Vorhaben.10 Kennzeichnend hierfür sind die Entscheidung im Wege der Abwägung und die strenge Formalisierung des Verfahrens, zu dessen maßgebenden Anforderungen auch eine förmliche Öffentlichkeitsbeteiligung zählt. In diesen Fällen ist die Öffentlichkeitsbeteiligung zentraler Bestandteil der einschlägigen Verwaltungsverfahren. Bedeutung und Funktion, die der Öffentlichkeitsbeteiligung in Verwaltungsverfahren zugeordnet werden, sind allerdings vergleichsweise heterogen. Völker- und europarechtliche Einflüsse11, aber auch allgemeinere Überlegungen zur Funktion 7
Die folgenden Ausführungen stützen sich in wesentlichen Zügen auf Überlegungen in Appel, Staat und Bürger in Umweltverwaltungsverfahren, in: Gesellschaft für Umweltrecht (Hg.), Dokumentation zur 35. Wissenschaftlichen Fachtagung der Gesellschaft für Umweltrecht e.V. Berlin 2011, 2012. 8 Nahezu bedeutungslos geblieben ist das einem Gerichtsverfahren angenäherte förmliche Verwaltungsverfahren (§§ 63 ff. VwVfG). 9 Vgl. nur §§ 10 ff., 19 BImSchG. 10 Sparwasser/Engel/Voßkuhle, Umweltrecht, 5. Aufl. (2003), § 4 Rn. 63. 11 Insbesondere die völkerrechtlich vereinbarte Aarhus-Konvention, die auch Deutschland und die EU ratifiziert haben, hat die Perspektive stark verändert; vgl. Aarhus-Konvention,
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von Öffentlichkeit in Verwaltungsverfahren haben nicht nur zu Forderungen nach mehr Öffentlichkeit und Öffentlichkeitsbeteiligung geführt, sondern auch die Erwartungen und die Funktionszuschreibungen für die Einbindung der Öffentlichkeit in Verwaltungsverfahren erweitert. Sichtet man die einschlägigen Veröffentlichungen, lässt sich ein Katalog unterschiedlicher, mehr oder weniger gesicherter Funktionen der Öffentlichkeitsbeteiligung zusammenstellen:12 – Informationstransferfunktion: Die Beteiligung der Öffentlichkeit dient in erster Linie dem Informationstransfer zugunsten der Entscheidungsträger. Die materiellen Voraussetzungen sollen auf einer möglichst umfassenden Erkenntnisgrundlage geprüft und die Sachentscheidungen unter Berücksichtigung aller relevanten Belange getroffen werden können.13 – Richtigkeitsgewährleistungsfunktion: Durch Sicherstellung einer angemessenen Entscheidungsgrundlage soll die Beteiligung nicht zuletzt dort, wo das materielle Recht zurückgenommen regelt und Spielräume belässt, eine erhöhte Gewähr für die Richtigkeit von Verwaltungsentscheidungen bieten. – Ausgleichsfunktion: Der Beteiligung wird auch eine Ausgleichsfunktion in dem Maße zugeschrieben, in dem sie ein gewisses Gegengewicht zur oft starken Position des Antragsstellers bzw. Vorhabenträgers schaffen kann. – Legitimationsfunktion: Die Beteiligung soll es den Bürgern ermöglichen, sich über das Verfahren und die Planung zu informieren und Einwände zu äußern. Indem die potenziell Betroffenen in die Entscheidungsfindung einbezogen und ihre Einwände bei der Entscheidungsfindung nachvollziehbar berücksichtigt werabrufbar unter: http://www.bmu.de/umweltinformation/downloads/doc/2875.php (Stand: 15. Juni 2012). 12 Eine Auflistung einzelner Funktionen der Öffentlichkeitsbeteiligung findet sich beispielsweise im jüngst vom Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (BMVBS) veröffentlichen Handbuch für gute Bürgerbeteiligung (BMVBS, Handbuch für gute Bürgerbeteiligung (Entwurf), abrufbar unter: http://www.bmvbs.de/SharedDocs/DE/Artikel/ UI/handbuch-buergerbeteiligung.html, Stand 15. Juni 2012); vgl. aber auch Roßnagel, Der Bürger im umweltrechtlichen Anlagenzulassungsverfahren, in: Dolde (Hg.), Umweltrecht im Wandel, 2001, 997 ff.; Schmidt-Aßmann/Ladenburger, Umweltverfahrensrecht, in: Rengeling (Hg.), Handbuch zum europäischen und deutschen Umweltrecht, Band I, Allgemeines Umweltrecht, 2. Aufl. 2003, § 18 Rn. 23 ff.; Schink (Fußn. 1), 230 f.; allgemein zu den Funktionen des Verwaltungsverfahrens Pünder, Verwaltungsverfahren, in: Erichsen/Ehlers (Hg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 15. Aufl. 2011, § 13 Rn. 14; Trute, Die demokratische Legitimation der Verwaltung, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts Bd. I, 2. Aufl. 2012, § 6 Rn. 47 ff.; zusammenfassend zu den Funktionen in der hier wiedergegebenen Zusammenstellung Appel (Fußn. 7), Manuskript S. 7 ff. 13 Die konkrete Ausgestaltung der gegenwärtigen Regelung in § 73 VwVfG ist auch und vor allem darauf gerichtet, das für die abschließende Abwägungsentscheidung erforderliche Wissen bei der Planfeststellungsbehörde zu generieren, insbesondere, die abwägungserheblichen Belange zu ermitteln (Kopp/Ramsauer, VwVfG, 11. Aufl. (2010), § 73 Rn. 5). Dies zeigt sich schon daran, dass § 73 Abs. 4 S. 1 VwVfG nur denjenigen als einwendungsbefugt betrachtet, „dessen Belange durch das Vorhaben berührt werden“ und nicht etwa jedermann (vgl. dagegen § 10 Abs. 3 S. 4 BImSchG).
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den, soll der Beteiligung auch eine legitimierende Funktion für das Entscheidungsergebnis unabhängig davon zukommen, ob die Einwände im Ergebnis auch Erfolg haben. – Effektivierungsfunktion: Gerichtliche Auseinandersetzungen sollen durch das frühzeitige Erkennen von Konflikten und entsprechende (Plan)Anpassungen vermieden werden. Verfahrensverzögerungen durch etwaige nachträglich erforderlich werdende Änderungen sollen auf diese Weise reduziert werden. – Kontrollfunktion: Die Beteiligung soll Transparenz herstellen und den Bürgern die Möglichkeit gewährleisten, den Planungs- und Entscheidungsprozess nachzuvollziehen und zu kontrollieren. – Rechtsschutzfunktion: Als Individualrechtsfunktion soll die Öffentlichkeitsbeteiligung einen vorhabenbezogenen Grundrechtsschutz gewährleisten und präventiven Grundrechtsschutz ermöglichen. Mittels Information durch die Behörden sollen potenziell betroffene Bürger ihre Belange möglichst frühzeitig geltend machen, so dass Konflikte nach Möglichkeit ohne Verwaltungsprozesse gelöst werden können. – Integrationsfunktion: Die Bürger sollen in das Verfahren und den Planungs- und Entscheidungsprozess integriert werden, um eine Grundlage für die Zustimmung zum Vorhaben zu schaffen und Ablehnung vorzubeugen. – Akzeptanzsicherungsfunktion: Durch Einbeziehung der Bürger sollen nicht zuletzt auch die Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass das Verfahren akzeptanzfördernd wirkt und die an seinem Ende zu treffenden Sachentscheidungen sowohl von den Betroffenen als auch der Öffentlichkeit besser akzeptiert werden können. – Stärkung demokratischer Teilhabe: Schließlich soll die Öffentlichkeitsbeteiligung auch zur demokratischen Teilhabe des Bürgers und zur Transparenz des Verwaltungshandelns beitragen, indem Möglichkeiten der Mitwirkung und Einflussnahme eröffnet werden. Dieser kurze Überblick zeigt, dass der Einbeziehung der Öffentlichkeit in Verwaltungsverfahren über den Beitrag zur Verwirklichung des materiellen Rechts hinaus zahlreiche weitergehende Funktionen zuerkannt werden, die zwar nicht in jeder einzelnen Ausprägung konsentiert, in ihrer grundsätzlichen Bedeutung aber überwiegend anerkannt sind.14 Zu diesen Funktionen und Zielen zählen – als wesentliche Errungenschaft der in den letzten Jahrzehnten geführten Diskussion – nicht zuletzt auch die Förderung öffentlicher Akzeptanz15 sowie die Herstellung von Transparenz und 14
Vgl. nur Morlok, Die Folgen von Verfahrensfehlern, 1988, S. 518 ff.; Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 7. Aufl. 2008, § 45 Rn. 11; Pünder, Verwaltungsverfahren, in: Erichsen/Ehlers (Hg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 14. Aufl., 2010, § 13 Rn. 1. 15 Vgl. u. a. Schmitt Glaeser, Anspruch, Hoffnung und Erfüllung. Das Verwaltungsverfahren und sein Gesetz – eine einleitende Bemerkung, in: ders. (Hg.), Verwaltungsverfahren, FS Richard-Boorberg-Verlag, 1977, S. 1 (37 ff.); Brohm, Beschleunigung der Verwaltungsver-
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Nachvollziehbarkeit16 als Ausprägungen der demokratischen Funktion des Verfahrens. III. Akzeptanzhemmende Faktoren Gerade die Herstellung öffentlicher Akzeptanz wird in Großverfahren jedoch in letzter Zeit wieder als zunehmend problematisch wahrgenommen. Nach verbreiteter Ansicht werden die gegenwärtigen Regelungen des Verwaltungsverfahrens- und Fachplanungsrechts den Erfordernissen einer funktionsgerechten Aufgabenerfüllung nicht mehr ohne weiteres gerecht. Dies gilt nicht nur für moderne Funktionsbeschreibungen, sondern auch für das klassische Ziel, die Legitimationskraft der abschließenden Verwaltungsentscheidung zu erhöhen. Ein Grund für dieses Unbehagen mag darin liegen, dass das Normenregime in starkem Maße bei der rechtsstaatlichen Funktion verharrt, eine individuell-rechtswahrende und auch sonst beständige Entscheidung herbeizuführen. Im Fachplanungsrecht zeigt sich dies bereits darin, dass die Betroffenenbeteiligung im Vordergrund steht,17 die bestenfalls eine gesteigerte Legitimation nachfolgender Rechtseingriffe herbeiführen, nicht jedoch für eine generelle Akzeptanz in der nicht selbst betroffenen, aber interessierten Öffentlichkeit sorgen kann. Aufgrund ihrer restriktiven Ausgestaltung können die Regelungen in den Fachgesetzen und im Verwaltungsverfahrensgesetz die in neuerer Zeit an die Öffentlichkeitsbeteiligung gerichteten Erwartungen oft nicht erfüllen. Der Planungsprozess ist für Laien in weitem Maße unverständlich. Wo Raum für Mitwirkung im Verfahren eröffnet ist, ist dieser Raum in aller Regel stark begrenzt. Die Regelungen sind nur in dem Maße offen gestaltet, wie es erforderlich ist, um die abschließende und gestattende Entscheidung zum Vorhaben in seiner beabsichtigten Gestalt vorzubereiten. Sichtet man die Flut an Beiträgen im Anschluss an problematische Großprojekte der jüngeren Zeit,18 lassen sich einige akzeptanzhemmende Faktoren zusammenfassend benennen:19
fahren – Straffung oder konsensuales Verwaltungshandeln?, NVwZ 1991, 1025; Bredemeier, Kommunikative Verfahrenshandlungen im deutschen und europäischen Verwaltungsrecht – zugleich ein Beitrag zur Europäisierung des Verwaltungsverfahrensrechts, 2007, S. 285 f.; Schmitz, in: Stelkens/Bonk/Sachs (Fußn. 14), § 9 Rdnr. 66; grundlegend zu diesen Verfahrenszielen Luhmann, Legitimation durch Verfahren, 3. Aufl. 1993, S. 33; aus steuerungstheoretischer Perspektive Franzius, Modalitäten und Wirkungsfaktoren der Steuerung durch Recht, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts Bd. I, 2. Aufl. 2012, § 4 Rdnr. 67 ff. 16 Vgl. dazu vor allem den dritten Erwägungsgrunds der Richtlinie 2003/35/EG (Richtlinie über die Beteiligung der Öffentlichkeit bei der Ausarbeitung bestimmter umweltbezogener Pläne und Programme und zur Änderung der Richtlinie 85/337/EWG und 96/61/EG des Rates in Bezug auf die Öffentlichkeitsbeteiligung und den Zugang zu Gerichten – Erklärung der Kommission) vom 26. Mai 2003 (ABl. L 156/17 vom 25. 6. 2003). 17 Vgl. § 73 Abs. 4 S. 1 VwVfG. 18 Vgl. dazu die Hinweise oben Fußn. 1.
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– Oft findet keine frühzeitige und vor allem auch keine kontinuierliche Information und Kommunikation über den jeweiligen Verfahrens- und Planungsstand statt. Medien, die für die Kommunikation genutzt werden, sind gerade in modernen Zeiten, die auf Medienvielfalt ausgerichtet ist, nicht immer öffentlichkeitstauglich. – In vielen Fällen besteht keine ausreichend frühzeitige Beteiligung zu einem Zeitpunkt, in dem eine influenzierende Mitwirkung noch möglich ist. Die Beteiligung findet im Gegenteil zu einem Zeitpunkt statt, in dem das Vorhaben fast entscheidungsreif, die Planung jedenfalls weit fortgeschritten ist. Die Unterlagen, die sich im Laufe der Planung angesammelt haben, sind in vergleichsweise fortgeschrittenen Planungsstadien oft so umfangreich, dass sie ohne sachverständige Hilfe kaum mit Aussicht auf Ertrag gesichtet oder gar kritisch beurteilt werden können. Aus Sicht des Bürgers entsteht nicht selten der Eindruck weitgehend vollendeter Tatsachen, für die sein Beitrag keine maßgebende Rolle mehr spielt. – Als Problem erscheint in einer Reihe von Verfahren die (Un)Ausgewogenheit der Interessen im Sinne kontinuierlicher, detailliert geregelter und gerichtlich kontrollierter Einflussmöglichkeiten für alle Interessierten. Die damit verbundene Problematik bezieht sich zum einen darauf, dass die Beteiligungsmöglichkeiten oft auf Betroffene beschränkt sind und nicht für alle Interessierten geöffnet werden. Sie gilt zum anderen aber auch einer Ausgestaltung von Verfahren, die nur punktuelle, nicht aber kontinuierliche und entsprechend abgesicherte dauerhafte Informations- und Mitwirkungsmöglichkeiten vorsehen. – In der Sache folgt der Gesetzgeber immer noch weitgehend dem überkommenen Dogma vom individualrechtswahrenden Verwaltungsverfahren, obwohl supraund internationale Entwicklungen wie die Aarhus-Konvention und die Richtlinie über die Umweltverträglichkeitsprüfung ein Konzept längst überholt haben, das die Reichweite der Beteiligung auf den effektiven Rechtsschutz Betroffener beschränkt. – Ein wesentlicher Grund für Einschränkungen der Beteiligungsmöglichkeiten im Verfahren wird auch in der vergleichsweise starken Vorprägung des Verfahrensgegenstandes durch den Vorhabenträger gesehen. Diesem kommt die originäre Planungskompetenz und insgesamt eine dominante Stellung im Verfahren zu. Die (Planfeststellungs)Behörde kontrolliert lediglich nachvollziehend seine planerische Abwägungsentscheidung.20 Bereits von der gesetzlichen Ausgestaltung her ist das Vorhaben in seinen wesentlichen Zügen durch den Vorhabenträger bestimmt. Aus Sicht der Betroffenen und der Öffentlichkeit verbleibt oft kein ausreichender Raum für eine ergebnisoffene Beteiligung.
19 Ein ausführlicherer Katalog der Defizite des Staat-Bürger-Verhältnisses in (Umwelt) Verwaltungsverfahren, die auch die hier skizzierten einschließt, findet sich bei Appel (Fußn. 7), Manuskript S. 22 ff. 20 Hoppe/Schlarmann/Buchner/Deutsch, Rechtsschutz bei der Planung von Verkehrsanlagen und anderen Infrastrukturvorhaben, 2011, Rn. 77.
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– Damit verbunden ist ein Problem der Neutralität bzw. Unvoreingenommenheit der handelnden Verwaltung, die sich nach ihrem Grundverständnis an sich nicht zum Sachwalter einzelner Interessen machen