Pathos: Zur Geschichte einer problematischen Kategorie 9783050062242, 9783050046075

Spricht man heute von Pathos, dann meint man meist peinlichen Gefühlskitsch. Diese Abwertung ist das Ergebnis einer Begr

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Pathos: Zur Geschichte einer problematischen Kategorie
 9783050062242, 9783050046075

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PATHOS Zur Geschichte einer problematischen Kategorie

Zur Geschichte einer problematischen Kategorie

PATHOS Herausgegeben von Cornelia Zumbusch

Akademie Verlag

Gedruckt mit Hilfe der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim an der Ruhr sowie des Programms LMU Mentoring an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN 978-3-05-004607-5 © Akademie Verlag GmbH, Berlin 2010 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Fotokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Einbandgestaltung: Petra Florath, Berlin Druck und Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer", Bad Langensalza Printed in the Federal Republic of Germany

Inhaltsverzeichnis

CORNELIA ZUMBUSCH Probleme mit dem Pathos. Zur Einleitung JOACHIM KNAPE Rhetorischer Pathosbegriff und literarische Pathosnarrative JULIANE VOGEL Ergreifung und Ergriffenheit. Der Raub der Sabinerinnen MARTIN DÖNIKE Antikes Pathos und seine modernen Transformationen in der Ästhetik des Weimarer Klassizismus HEIDE VOLKENING Schrei, verbissen. Zu Ethos und Pathos bei Lessing und Schiller ALEXANDER HONOLD Pathos-Transport um 1800. Modelle tragischer Bewegung in Theaterdiskurs und Briefkultur ANNETTE KECK Groteskes Begehren und exzentrische Deklamationen. Zur Eskamotage des Pathos in der Literatur des bürgerlichen Realismus YVONNE WÜBBEN Pathos und Pathologie. Ewald Heckers psychiatrische Brieflektüren (1871)

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INHALTSVERZEICHNIS

MARTIN VON KOPPENFELS Brennende Söhne. Die Szene des kranken Kindes bei Stendhal, Flaubert und Thomas Mann

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SYLVIA SASSE Pathos und Antipathos. Pathosformeln bei Sergej Ejzenstejn und Aby Warburg

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ROBERT BUCH Das Pathos des Realen: Francis Bacon

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CHRISTIAN SCHMITT Hollywoodpathos. Ideologie und Spektakel in Michael Bays Pearl Harbor

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AUTORINNEN UND AUTOREN

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CORNELIA ZUMBUSCH

Probleme mit dem Pathos. Zur Einleitung

1. Neue Probleme Das Pathos ist ein zweischneidiges Phänomen. Zwar verzeichnet man in der zeitgenössischen Kunst unter dem Titel „Pathos" eine „Rückkehr der großen Gefühle", 1 allerdings scheint dort, w o heute von Pathos die Rede ist, die Distanzierung von einem peinlich gewordenen Pathetischen zu überwiegen. In Analysen politischer Rhetorik hat man das Pathos längst verworfen und muss sich dort, w o es als Möglichkeit einer leidenschaftlich betriebenen Politik in Aussicht gestellt werden soll, explizit von ,hohlem' Pathos distanzieren. 2 Rezensenten empfehlen zeitgemäße Klassikereinspielungen eher als „Klassiker ohne Pathos", während der Großhandel durchaus für „Musik mit Pathos" 3 wirbt. Eine ganz ungehemmte Pathoslust scheint sich offenbar nur in der Populärkultur ausleben zu lassen. Symptomatisch für diesen Registerwechsel ist, dass spätestens seit den großen Filmmelodramen der 1940er und 1950er nicht mehr das Theater, sondern das publikumswirksame Kino als Ort des Pathos und der großen Emotionen gilt.4 Das aktuelle Problem mit dem Pathos entzündet sich nun nicht so sehr am Phänomen der Gefühle und Leidenschaften, sondern am diskreditierten Begriff des

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So die Sommerserie 2005 des ORF mit dem Titel Pathos - die Rückfahr der großen Gefühle, in der neueste Pathosphänomene in der Musik, Literatur und bildenden Kunst diskutiert wurden. Beteiligt waren bzw. besprochen wurden u.a. Thomas Meinecke, Ulrike Ottinger und Jonathan Meese. Zum negativ konnotierten Pathos in der Politik vgl. Albert Betz, „Pathos zwischen Ästhetik und Politik", in: Französisches Pathos. Selbstdarstellung und Selbstinszenierung, Würzburg 2002, S. 7-15. Hubertus Heil hingegen schwenkt in einem Interview („Es geht mir nicht um hohles Pathos", Tagesspiegel, 12.02.2006) nach einer korrigierenden Erläuterung der Grundbedeutung des Pathos durchaus positiv auf die Kategorie ein: „Sind Sie ein Anhänger von mehr Pathos in der Sozialdemokratie? Nein, es geht mir nicht um hohles Pathos. Pathos heißtauf Deutsch Leidenschaft. Politik braucht Leidenschaft und Verstand". „Musik mit Pathos" bietet amazon an. (www.amazon.de/Musik-mit-Pathos). Im Gegensatz dazu will der Hörspieldramaturg Klaus Schmitz gerade Klassiker ohne Pathos (Gespräch mit Nicolai Vialkowitsch, Dezember 2006, http://www.swr.de/swr2/hoerspiel/klassik-jetzt). Hermann Kappelhoff, „Tränenseligkeit. Das sentimentale Genießen und das melodramatische Kino", in: Kinogefühle. Emotionalität und Film, hg. von M. Brütsch, V. Hediger u.a., Marburg 2005; Adrienne Braun, „Vom Pathos zur Lüge. Anmerkungen zum Verhältnis von Oper und Film", in: Medium. Zeitschrift für Hörfunk, Fernsehen, Film, Presse, 24 (1994), Nr. 1, S. 62-64.

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CORNELIA ZUMBUSCH

Pathos. Pathos scheint für die meisten gleichbedeutend mit übertriebenem Gefühlskitsch, und das Pathetische als dessen Erscheinungsform hält man für schwülstig oder hohl, verlogen oder gar manipulativ. Wo sich hingegen ein neues Interesse am Pathos abseits der massenmedialen Vermitdung abzeichnet, da will man unter Pathos meist ganz generell „große" oder „intensive Gefühle" verstanden wissen.5 Ein positives Verhältnis zum Pathos scheint also nur entwickeln zu können, wer auf dessen Grundbedeutung zurückgeht und das Pathos als anderen Namen für besonders eindrückliche Gefühle verwendet. Die Literatur- und Kulturwissenschaft hat die Darstellung von Affekten und Emotionen in der Literatur und den Künsten längst als Forschungsgegenstand entdeckt. Als Konsens kann dabei gelten, dass die Leidenschaften, obwohl von ,der Vernunft' naturalisiert oder sogar pathologisiert,6 keineswegs als natürlich gegeben, sondern als sozial konstruiert gelten müssen. Das jüngere Interesse speist sich daher gerade aus der Spannung zwischen anthropologischer Konstanz und historischer sowie kultureller Variabilität der Gefühle.7 Zwar scheint die ästhetische Kategorie des Pathos auf den ersten Blick in der Rede vom Affekt einbegriffen zu sein, allerdings bestehen zwischen Affekten, Leidenschaften und Gefühlen im Allgemeinen und dem Pathos im Besonderen wichtige Unterschiede. Im Griechischen bezeichnet pathos sowohl das plötzlich eintreffende Ereignis als auch die durch dieses Reizereignis erzeugte Gefühlsreaktion. Im Gegensatz zum ethos, das als dauerhaft eingeprägte Spur den sittlichen Habitus formiert, wird das pathos auf die passiv erlittenen, flüchtigen Eindrücke und vorübergehenden Affekte bezogen. Die Rede vom Pathos umfasst damit zugleich weniger und auch mehr als die Begriffe Affekt und Gefühl. Pathos meint zunächst einmal weniger, weil es sich nicht auf alle, sondern nur auf die besonders schmerzlichen Gefühle bezieht. Pathosszenen in der antiken Epik, Dramatik und der bildenden Kunst entzünden sich an leidenden Helden und schmerzhaften Gefühlen.8 Auf Affektzustände bezogen sind es vor allem die mit der Tragödie assoziierten Leidenschaften, die unter dem Begriff des Pathos gruppiert werden. So unterscheidet Quintilian zwischen Pathos und Ethos, indem er die mores, also das Ethos,

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So in der Ankündigung der Ausstellung Pathos/ Geßhk. Verlust, Schmerç und Sehnsucht in der zeitgenössischen Videokunst, die vom 14. November bis 4. Dezember 2004 in Frankfurt gezeigt wurde. Stellvertretend sei hier auf Fink-Eitels These verwiesen, die Geschichte der Affektphilosophie zeichne sich durch ihre Negation und Verdrängung aus, sei es im stoischen Ideal der Apathie oder in der Assoziation des Pathos als Leiden und Leidenschaft mit Schmerz und Krankheit. Hinrich Fink-Eitel, „Affekte. Versuch einer philosophischen Bestandsaufnahme", in: Zeitschriftfür philosophische Forschung, 40 (1986), S. 520-542. Reingard M. Nikisch, Lädenschaften literarisch. Texte %ur Weltliteratur, Konstanz 1998; Claudia Benthien, Anne Fleig und Ingrid Kasten (Hg.), Emotionalität. Zur Geschichte der Gefühle, Köln/Weimar 2000; Klaus Herding und Bernhard Stumpfhaus, Pathos, Affekt, Gefühl. Die 'Emotionen in den Künsten, Berlin/New York 2004; Burkhard Meyer-Sickendiek, Affektpoeük. Eine Kulturgeschichte literarischer Emotionen, Würzburg 2005. Zur Affektdarstellung in der griechischen Tragödie vgl. Andreas Zierl, Affekte in der Tragödie, Berlin 1994; Nietzsches Einspruch aufnehmend hat Bohrer kürzlich den Vorschlag gemacht, gegen Aristoteles und Hegel die „Pathosformen der Tragödie" - und besonders die Sprechform der Klage - zur zentralen Analysekategorie der griechischen Tragödie zu machen. Karl Heinz Bohrer, Das Tragjsche. Erscheinung Pathos, Klage, München 2009, S. 13.

PROBLEME MIT DEM PATHOS

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der Komödie zuordnet, zu den tragischen Affekten hingegen lediglich gewaltsame und unangenehme Gefühl wie „Zorn, Haß, Furcht, Abscheu und Mitleid" zählt.® Die Affinität zu den negativen Gefühlen verstärkt sich im Zuge der Aneignung des antiken Pathosbegriffs im 18. Jahrhundert. Unter Pathos sind diejenigen Leidenschaften zusammengefasst, „die das Gemüt mit Furcht, Schrecken und finsterer Traurigkeit erfüllen", so bestimmt Sulzer in der Allgemeinen Theorie der schönen Künste und fährt fort: „In einem Werke der Kunst ist Pathos, wenn es Gegenstände schildert, die das Gemüt mit jenen finstern Leidenschaften erfüllen".10 Wie sich hier andeutet, handelt es sich beim Pathos um einen Begriff mit wirkungsästhetischem Potential. Indem sich schon die wörtliche Bedeutung des griechischen pathos sowohl auf ein Ereignis als auch auf das von diesem Ereignis provozierte Gefühl bezieht, sind im Pathos Verletzung und Schmerz, Anstoß und Effekt, Gefühlserreger und erregtes Gefühl semantisch zusammengezogen. Nicht zuletzt deshalb kann das Wort pathos in der tragödientheoretischen Tradition seit Aristoteles neben dem schweren Leiden des Helden auch das Mitleiden des Publikums, also sowohl das dargestellte Leiden als auch die zu reinigenden Affekte, meinen." Die antike Rhetorik nutzt die affektive Wirkung des Pathos, indem sie es als eines von drei Überzeugungsmittel neben ethos und pragma einordnet. Als Grundlage für eine Technik, „den Zuhörer in eine bestimmte Gefühlslage zu versetzen",12 erarbeitet Aristoteles im zweiten Buch der Rhetorik einen empirisch gesättigten Affektkatalog, mit dessen Hilfe der Redner unterschiedliche Leidenschaften gezielt erzeugen können soll. Aristoteles sieht hier unter anderem auch den Fall vor, dass „der Zuhörer stets dem mit Pathos Sprechenden in seinen Emotionen folgt".13 Diesen automatischen Übertragungseffekt, bei dem die zur Schau getragenen Emotionen des Redners die gleichen Gefühle im Hörer hervorrufen sollen, erklärt Quintilian zum Königsweg der Redekunst.14 Rhetorisches Pathos bezieht sich damit sowohl auf das Pathos des Redners — im Gegensatz zum Ethos als seiner sittlichen Haltung und seinem Charakter — als auch auf den zu persuasiven Zwecken im Hörer erregten Affekt. Diese bei Quintilian auf ausgefeilten Techniken der Selbstaffektation beruhende Wirkungspsychologie rückt in dem Longin zugeschriebenen Traktat peri hypsos in eine Fassung der inspirierten Rede ein, in der sich poetischer Enthusiasmus und Ekstase mit dem Stilideal des Erhabenen verbinden. Das vorzugsweise an poetischen Beispielen herausgearbeitete Pathos stellt bei Longin ein emotionalisierendes Prinzip dar, das sowohl den von göttlicher Begeisterung erfüllten Dichter als auch den Hörer erfasst und sich zudem in einer besonderen Stilform durchsetzt Die rhetorisch-poetische Bewegungstechnik, und darin besteht ein weiterer Unterschied zwischen Pathos und Affekten, verdankt sich einer besonderen Redeweise. In der antiken 9

Quintilian, Ausbildung des Redners, übers, und hg. von Helmut Rahn, Bd. 1, Darmstadt 1995, S. 705.

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Johann Georg Sulzer, „Pathos", in: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Erster/Zweyter Teil, [Leipzig

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Aristoteles, Poetik, übers, und hg. von Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1982, S. 11 bzw. S. 38.

1773-75], Hildesheim 1967, Bd. 3, S. 660. 12

Aristoteles, Rhetorik, übers, und hg. von Gernot Krapinger, Stuttgart 1999, S. 12.

13

Ebd., S. 166.

14

Die Gabe des Pathos, so Quintilian, mache „die Beredsamkeit zur Königin". Quintilian, Ausbildung des Redners, S. 698/699.

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CORNELIA ZUMBUSCH

Rhetorik soll Pathos durch Stilfiguren wie gewagte Metaphern, Epitheta, Aposiopesen, Aponen oder Steigerungen provoziert werden. In der Rezeption der antiken Rhetorik löst sich vom Pathos der Begriff des Pathetischen ab, der nicht den Affekt des Redners und des Hörers, sondern eine zur Erregung von Leidenschaften geeignete Stilqualität bezeichnet. Gottsched beschreibt diese Pathos erzeugende Schreibweise im Versuch einer Critischen Dichtkunst unter dem Stichwort der „pathetischen Schreibart", die „voller Figuren" und „verwegenen Ausdrückungen" zu sein habe.15 Breitinger übersetzt in seiner Critischen Dichtkunst àie pathetische zwar schlicht in eine „herzrührende Schreibart", die sich gerade durch ihren möglichst ungekünstelten Stil auszeichne. Trotz dieser Divergenzen verstehen beide unter dem Pathetischen eine besondere „Art des Ausdrucks",16 und beide bestimmen diese Ausdrucksform als eine ausnehmend „bewegliche", die darauf abzielt, den Rezipienten zur Rührung zu bewegen.17 Im Zuge der bekannten Umprägung der rhetorischen genus-hehxe in poetologische Gattungsbegriffe18 bindet er den derart festgeschriebenen pathetischen Stil zudem gattungstypologisch ein und weist der pathetischen Rede ihren Ort in der Ode, der Elegie und den Affektszenen der Tragödie an. Die Kategorie des Pathos geht somit nicht in den dargestellten Emotionen auf, sondern formuliert zugleich ein emotives Prinzip, eine Ausdrucksweise und deren stilistische wie gattungsspezifische Ausprägungen. Unter dem Pathos ist nicht nur die Repräsentation von Gefühlen zu verstehen, sondern zugleich auch ein besonderer Stil der Darstellung sowie dessen Effekt auf den Rezipienten. Damit verfügt der Begriff des Pathos über Bedeutungsdimensionen, die in der allgemeinen Vorstellung von Gefühlen und Leidenschaften in der Kunst zwar nicht ausgeschlossen, aber auch nicht explizit adressiert sind. Seine expressive, referentielle und appellative Mehrfachfunktion, durch die sich die Kategorie des Pathos von verwandten Begriffen wie Affekt, Gefühl oder Leidenschaft unterscheidet, macht sie aber für ästhetische wie poetologische Fragestellungen besonders geeignet: Unter dem Namen des Pathos lässt sich die Frage nach den dargestellten Leidenschaften als Frage nach den Modi ihrer künstlerischen Darstellung und Funktionalisierung präzisieren. Allerdings - und hier ist zuletzt wohl der prekärste Unterschied anzusetzen — ist der Begriff des Pathos weit extremeren historischen Konjunkturen ausgesetzt als die Gefühle, Affekte und Leidenschaften. Die Geschichte des Pathos präsentiert sich zunächst als Aufstiegsgeschichte. Von der pathematon katharsis im Tragödiensatz der aristotelischen Poetik wandert das Pathetische über die enthusiasmierte pathetische Rede des Rhetorikers Longin, die es mit dem genus sublime assoziiert, in die neuzeitliche Poetik ein. Auf dieser Grundlage kann Schiller das Pathetische in seine Tragödientheorie einrücken und damit an die Spitze der traditionellen Gattungshierarchie setzen. Im 19. Jahrhundert durchläuft das Pathos jedoch eine wichtige Transformation. Von Hegels Bestimmung des Pathos als Triebkraft des in sich ungebrochenen Helden, der 15 16 17

Johann Christoph Gottsched, Versuch einer critischen Dichtkunst, Leipzig "1751, S. 371. Ebd., S. 375. Ebd., S. 371; Johann Jacob Breitinger, Critische Dichtkunst. Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1740, hg. von Wolfgang Binder, Stuttgart 1966, S. 352-373.

18

Vgl. Klaus Dockhorn, Macht und Wirkung der "Rhetorik. Vier Aufsätze Berlin/Zürich 1968, S. 54ff.

3ur Ideengeschichte

der

Vormoderne,

PROBLEME MIT DEM PATHOS

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nur im „heroischen Weltzustand" denkbar ist,19 Nietzsches Auffassung vom Pathos als euripideischer Schwundform des Dionysischen20 bis hin zum kunsthistorischen Interesse am antikisierenden Pathos der Renaissancekunst, das Aby Warburg auf den Begriff der „Pathosformel" bringt,21 wird Pathos vom zeitlosen Ideal der Kunst zur seiner historischen Entwicklungsstufe. Pathos erscheint aus der Perspektive des 19. und 20. Jahrhunderts als Spezifikum der antiken griechischen Kultur, an dem sich die Modernen in verschiedener Weise abarbeiten. Versuche einer Reaktivierung des Pathosbegriffs, wie etwa Stefan Zweigs Forderung eines „neuen Pathos" im Zeichen expressionistischer Ästhetik,22 setzen sich gegen die modernen Versachlichungstendenzen nicht durch, vielmehr wird das Pathos im Verlauf des 20. Jahrhunderts mehr und mehr mit Übertreibung, Kitsch und Trivialität assoziiert und wandert in die Populärkultur ab. Den Bedeutungsverfall kann auch die Wiederkehr der großen Gefühle in Kino und Musik nicht aufheben, denn solange der Rede vom Pathetischen der Beiklang des falschen, übersteigerten und hohlen statt hohen Gefühlstons anhängt, bleibt das derart diskreditierte Pathos ein ambiges Phänomen. So findet die Karriere des Pathos im 18. Jahrhundert einen Höhepunkt, der den Abstieg der Kategorie einleitet. In dem hier vorliegenden Band geht es nicht darum, die „Aktualität des Pathos" als einer zu Unrecht „vergessenen Kategorie" zu behaupten, indem man dieses als Proprium der Dichtung auszuweisen versucht.23 Angesichts der nachhaltigen „Krise" des Pathos ist, so hat Gerburg Treusch-Dieter festgehalten, eine derartige „Rettung" kaum angebracht.24 Das von ihr herausgegebene Sonderheft Pathos. Verdacht und Versprechen analysiert deshalb 19

Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik III, Werke, Bd. 15, hg. von E. Moldenhauer und K.M. Michel, Frankfurt a.M. 1970, S 539. Unter der Überschrift Die konkrete Entwicklung der dramatischen Poesie und ihrer Arten bestimmt Hegel die Tragödie bei Aischylos und Sophokles als Form, deren Voraussetzung der „heroische Weltzustand" bilde. Nur hier finde sich das mit sich unentzweite „einfache Bewußtsein" und damit auch „das individuelle Pathos, das die handelnden Charaktere mit sittlicher Berechtigung zu ihrem Gegensatze gegen andere antreibt und sie dadurch in Konflikt bringt". Diese „Individuen des Pathos" sind im Wortsinn In-dividuen, denn sie sind in sich ungeteilt und kollidieren erst mit anderen ebenfalls vom Pathos getriebenen Figuren. In dieser unproblematischen Ungebrochenheit bilden die pathosgesteuerten heroischen Helden das „Gegenteil der heutigen Ironie". Ebd., S. 540.

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Mit Euripides, so Nietzsche in der Tragödienschrift, seien „kühle paradoxe Gedanken - an Stelle der apollinischen Anschauungen - und feurige Affecte - an Stelle der dionysischen Entzückungen" getreten. Pathos sei bei dieser Ersetzung der „dionysischen Entzückungen" durch „feurige Affecte" zentral: „Zum Pathos, nicht zur Handlung bereite Alles vor: und was nicht zum Pathos vorbereitete, das galt als verwerflich." Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, Kritische Studienausgabe, Bd. 1, hg. von G. Colli und M. Montinari, München 31993, S. 84 und 85. Aby Warburg, „Dürer und die italienische Antike", Gesammelte Schriften. Studienausgabe, hg. von H. Bredekamp, M. Diers, K. W. Forster, N. Mann, S. Settis und M. Warnke, Bd. 1.2 (Reprint der Ausgabe Leipzig, Berlin 1932, hg. von G. Bing, F. Rougemont), Berlin 1998, S. 446. Stefan Zweig, „Das neue Pathos", [1909], wieder abgedruckt in: Expressionismus. Manifeste und Dokumente spr deutschen Literatur 1910-1920, hg. von Th. Anz und M. Stark, Stuttgart 1982, S. 575-581. So die titelgebenden Stichworte der Monographie von R. Dachselt. Rainer Dachselt, Pathos. Tradition und Aktualität einer vergessenen Kategorie der Poetik, Heidelberg 2003. Gerburg Treusch-Dieter, „Editorial", in: Pathos. Verdacht und Versprechen, Ästhetik KeHO HanoMHHaTb eme ο ΤΟΜ, ΗΤΟ τερΜΗΗ 3TOT He cAeAyeT noHHMaTb npHMHTHBHO, ΠΟΠΙΛΟ, ByAtrapHO, CraTHHHO H MexaHHHeCKH, HO Β TOM AHHaMHHeCKOM OCMHCAeHHH, Β KaKOM ΜΗ CTapaeMCd noKa3hiBaTb ero b AEÑCTBHH Η AEÑCTBEHHO nepe3 Bee crpaHnma 3TOH paGora."

5

Das Auffädeln, die Aneinanderreihung (nanizanie, nanizyvanie) ist einer der zentralen Begriffe der russischen Formalisten fur die futuristische Poetik. Nach Roman Jakobson folgen Chlebnikovs Texte der Methode des „freien Auffádelns verschiedenartigster Motive" (svobodnogo nanizyvanija raznoobraznych motivov), die nicht inhaltlich logisch miteinander verbunden sind oder aus einander hervorgehen, sondern dem Prinzip der formalen Übereinstimmung oder des formalen Kontrastes „ohne rechtfertigenden Verbindungsstrang" folgen (Vgl. Roman Jakobson, „Novejsaja russkaja poézija [Die neueste russische Poesie]", in: Texte der russischen

Formalisten,

Bd. 2, hg. von Wolf-Dieter Stempel, München 1972,

S. 59. Bachtin (Medvedev) kritisiert 1928 die formale Methode für ihre Bevorzugung der Aneinanderreihung, weil diese Literatur wie eine anorganische, chemische Substanz bzw. wie ein mechanisches Werk behandle. Vgl. Pavel N. Medvedev: „Formal'nyj metod ν Literaturovedenii", in: Michail masfaj, 6

M. Bachtin

pod

hg. von I. V O N Peskov, Moskva 2000, S. 195-348.

Sergej M. Eisenstein, „Bauformen des Pathetischen" (1932/33), in: ders., Schriften 4, Das Alte und das Neue (Die Generallinie),

hg. von Hans-Joachim Schlegel, aus dem Russ. von Lothar Feldbusch, mit den Notaten

eines Vertonungsplanes, München 1984, S. 218-230, hier S. 219f.; Sergej M. Éjzenstejn, „Rezissura. Iskusstvo mizansceny", in: ders., I^brannje

proi^vedenija,

tom 4, Moskva 1966, S. 239-248, hier S. 240:

„CeeT .BbrxoAHT H3 ce6fl' H nepexoAHT Β UBCT, naHTOMHMa a ABKHceHHe, ,ΒΜΗΑΑ H3 ce6»', nepexoAHT Β 3ByK Η CAOBO, CAOBO ,ΒΗΟΙΛΟ H 3 C e 6 n ' H n e p e i U A O Β My3MKaABHl>m 3 B y K . "

174

SYLVIA SASSE

Isstuplenie, das Außer-sich-Geraten, ist ein Merkmal von Pathos, es ist aber auch das Verfahren, mit dem sich nach Éjzenstejn Pathos herstellen lässt. Ejzenstejn versteht Pathos ganz generell als Außer-sich-Geraten des künstlerischen Materials, das dadurch erreicht wird, dass ein Einzelelement, ein Merkmal eines künsderischen Werkes „aus einer Qualität in eine andere" (iz kacestva ν kacestvo)7 sprunghaft übergeht, meistens in deren Gegenteil. Autonomie der Form und Absicht der Wirkung sind bei Ejzenstejn kein Widerspruch. Aber auch hier gilt das Prinzip des Umschlags bzw. Umschaltern und der Verschiebung, des sdvig. Éjzenstejn interessiert sich nicht mehr für eine Montage von einander gleichberechtigten Attraktionen und Reizerregern, sondern für das Umschalten, das er dem Kabuki-Theater entnimmt. Dort beobachtet er das Umschalten von einer Einwirkungsintention in eine andere, von einer Reizerreger-Kategorie in einen andere. Éjzenstejn bezieht sich, indem er mit seiner Pathosformel einen Umschlagprozess anzeigt, im Grunde auf die Aristotelische Auffassung von Pathos, nach der, wie Aristoteles im vierten Buch der Metaphysik schreibt, eine Qualität bezeichnet wird, die zu einer Veränderung fähig ist oder den aktuellen oder potentiellen Vollzug einer Veränderung anzeigt. Bei Éjzenstejn ist diese Veränderung mit einem Sprung (skacok) verbunden, mit dem das Umschlagen von einer Qualität oder einer Dimension in eine andere oder von einem Zustand in einen anderen, ihm entgegengesetzten Zustand erkennbar wird.8 Diesen Umschlagprozess vergleicht Ejzenstejn einmal mit einer „Kettenreaktion in der Physik (Spannungssteigerung, Explosion, Sprung von Explosion zu Explosionen)".9 An einer anderen Stelle bezeichnet er diesen Vorgang als emotionalen Zickzacklauf, vergleicht ihn mit einem aufgescheuchten Känguruh oder, auf seine eigenen Werke bezogen, mit der kontrapunktischen Montage, dem antithetischen Parallelismus von Ton und Bild im Film oder einem Montage-Ragtime, also einem Tanz mit zwei parallelen rhythmischen Linien, die sich am Ende kreuzen und zu einer künstlerischen Explosion führen. Dass die Vergleiche aus ganz unterschiedlichen Bereichen stammen, zeigt vor allem Éjzenstejns Anspruch, die von ihm entdeckte Gesetzmäßigkeit als eine universale geltend machen zu wollen. Er betrachtet die von ihm aufgefundene Pathosformel unabhängig von historischen, nationalen oder sozialen Zusammenhängen (vneistoriceskij, vnenacional'nyj, vnesocial'nyj), sie ist für ihn vielmehr ein immanentes Merkmal pathetischer Konstruktion, das unabhängig von Zeit und Raum gilt.10 Diese Gesetzmäßigkeit betrifft nach Éjzenstejn nicht nur künstlerische Werke, er geht vielmehr davon aus, dass diese Gesetzmäßigkeit auch und bereits in der Natur anzutreffen sei, dass die Natur selbst pathetisch sei.11

7

8 9 10 11

Sergej M. Eisenstein, „Separator und Gralskelch", in: Schriften 4, Das Alte und das Neue (Die Generallinie), hg. von Hans-Joachim Schlegel, aus dem Russ. von Lothar Feldbusch, mit den Notaten eines Vertonungsplanes, München 1984, S. 194-218, hier S. 194; Éjzenstejn, „Pafos", S. 72. Vgl. Eisenstein, „Separator und Gralskelch", S. 208; „Pafos", S. 83. Vgl. Ebd., S. 201; S. 77. Éjzenstejn, „Pafos", S. 199. Ejzenstejn, „Pafos", S. 217: „IlocAeAHee cooôpaHceime Β 3Ty rioAMy KacaeTc«, oAHaKo >κε, eme H το oôcTOHTeAbCTBO, Ητο 3a CTpyKTypHMH n p o o 6 p a 3 naTenraecKoro n o c r p o e i m a B3HTa (JjopMyAa, corAacHO KOTOpOH npOHCXOAHT CaMO ABKDKeHHe H B03HHKH0BeHHe HBAeHHH IipiipO.V'I."

PATHOS UND ANTIPATHOS

175

Éjzenstejn kann Natur und Pathos u.a. deshalb miteinander verbinden, weil er, wie viele andere zu dieser Zeit, einen organischen Kunstbegriff vertritt, der aufbauend auf Friedrich Engels Dialektik der Natur zunehmend die marxistische Kunstphilosophie bestimmen wird.12 Das Organische wird, so lässt sich beobachten, vielfach als Argument gegen die formalistische Kunsttheorie ins Feld geführt, die als mechanisch und anorganisch gilt. Nicht so bei Éjzenstejn: Indem er die Ideen von Verkettung (nanizanie), Kennzeichen anorganischer Strukturen, und Korrelation und Durchdringung (vzaimootnosenie), Kennzeichen des Organischen, miteinander verbindet, vertritt er eher eine Art .organischen Formalismus'. Die Idee, dass „in einem organischen Kunstwerk diejenigen Elemente, die dem ganzen Werk zugrunde liegen, jeden einzelnen Zug des Werkes durchdringen" (pronikajut ν kazduju certu),13 ist für ihn nicht nur in Bezug auf den Inhalt relevant, sondern gilt vor allem für formale bzw. strukturelle Gesetzmäßigkeiten. Diese ließen sich geradezu in Formeln, die der Natur abgeschaut sind, entdecken, dazu gehöre u.a. die Formel vom „spiralförmigen Wachstum", die in der Kunst zur Regel vom „Goldenen Schnitt", der Sectio aura, wie Leonardo da Vinci die „harmonische Teilung eines Segments"14 nannte, transformiert worden ist. Auch in seinen Filmen Potemkin und Das Alte und das Neue komme es „irgendwo in der Mitte der Teile", beim Verhältnis 2:3, zu einem solchen Umschlag, einem goldenen Schnitt, bei dem das alte Pathos in das neue überspringt.15 Éjzenstejn nennt diese Verhältnismäßigkeit das „Geheimnis des Organischen und seiner Komposition".16 Am Ende des Films Das Alte und das Neue lässt Éjzenstejn sogar eine ganze Reihe von Traktoren, den Symbolen des industrialisierten Stalinismus (Traktoren werden in Stalingrad gebaut), im Kreis fahren, so dass sie am Ende in den Acker eine immer größer werdende Spirale hineinfahren. Deutlicher als in dieser metapoetischen Szene hätte er sein ästhetisches Prinzip nicht in den Film bzw. in den sowjetischen Boden einschreiben können. (Vgl. Abb.l) 12

Éjzenstejn hat sich ausgiebig mit Engels Dialektik der Natur (geschrieben 1873-1883, veröffentlicht dt. und russ. 1925) beschäftigt, in der Engels, sich auf Hegel berufend, die dialektischen Gesetze, das Gesetz vom Umschlagen der Quantität in Qualität und umgekehrt, aus der Natur selbst ableitet: „Es ist also die Geschichte der Natur wie der menschlichen Gesellschaft, aus der die Gesetze der Dialektik abstrahiert werden. Sie sind eben nichts andres als die allgemeinsten Gesetze dieser beiden Phasen der geschichtlichen Entwicklung sowie des Denkens selbst. Und zwar reduzieren sie sich der Hauptsache nach auf drei: das Gesetz des Umschlagens von Quantität in Qualität und umgekehrt; das Gesetz von der Durchdringung der Gegensätze; das Gesetz von der Negation der Negation." Friedrich Engels, „Dialektik der Natur", in: Karl Marx, Friedrich Engels, Werke, Bd. 20, Berlin 1962, S. 348-353, hier S. 348.

13

Sergej Eisenstein, „Das Organische und das Pathos (1939)", in: ders., jenseits der Einstellung, hg. von Felix Lenz und Helmut H. Diederichs, Frankfurt a.M. 2006, S. 202-237, hier S. 202; Sergej M. Éjzenstejn, „Organicnost' i pafos ν kompozicii fil'ma ,Bronenosec Potemkin' 1938", in: lybrannye stat'i, Moskva 1956, 243-251, hier S. 243. (Der Artikel im russischen Original, erschienen 1956, umfaßt nur den ersten Teil des Aufsatzes). Der Organismusbegriff entsteht zudem in enger Auseinandersetzung mit David W. Griffiths Verfahren der organischen Komposition und Montage, vgl. dazu Gilles Deleuze, Das Bewegungs-Bild, Kino 1, aus dem Franz. von Ulrich Christians und Ulrike Bokelmann, Frankfurt a.M. 1997, S. 53f.

14 15

Ebd., S. 211. Eisenstein, „Separator und Gralskelch", S. 208, „Pafos", S. 83.

16

Eisenstein, „Das Organische und das Pathos", S. 218.

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SYLVIA SASSE

Das Pathos und das Organische sind bei Éjzenstejn eng miteinander verbunden, Pathos betrachtet er sogar als höchste Form des Organischen. Der Sprung in eine neue Qualität erfolge - zumindest sei dies in Potemkjn der Fall - nach den Prinzipien des „Goldenen Schnittes", sowohl in der Makro- als auch in der Mikrostruktur des einzelnen Werkes. Der von ihm beobachtete Sprung von einer Qualität in eine andere als Grundformel des Pathetischen sei zugleich, hier wird die Verbindung von Pathos und Organischem präzisiert, die „Formel eines Wachstums" und zwar die einer spezifischen Evolution, die nicht auf die Natur beschränkt bleibt, sondern ebenfalls in gesellschaftlichen oder künstlerischen Entwicklungsprozessen anzutreffen sei.17 Worauf Éjzenstejn anspielt ist überdeutlich, es handelt sich, und auch da wird die Verbindung zu Engels wieder deutlich, um die dialektische Entwicklung: „Sprung: Übergang aus der Qualität in die Quantität. Übergang ins Entgegengesetzte. Das sind alles Elemente des dialektischen Aufbaus einer Entwicklung, wie sie zum Begriff der materialistischen Dialektik gehören."18 Deleuze macht darauf aufmerksam, dass Pathos und Organisches bei Éjzenstejn jedoch nicht miteinander verwechselt werden dürfen, denn das Organische bezeichne die „Ausbildung und Progression der Gegensätze nach Vorgabe der Spiralwindung", das Pathetische „den Übergang von einer Entgegensetzung zur anderen"19 bzw. in eine andere. Éjzenstejn selbst formuliert diesen Unterschied nicht so explizit, vielmehr unterscheidet er Wachstum (rosi) — das Organische — und Entwicklung (ra^yitie) bzw. Evolution — das Pathetische. Für Éjzenstejn aber sind Pathos und Pathosformel nicht nur als kulturelle und organische Konstanten von Interesse. Éjzenstejn versucht vor allem als Künstler zu ergründen, wie man Pathos anhand dieser von ihm auf den Punkt gebrachten Formel im Film herstellen kann. Stehen dem Film, so seine Frage, im Unterschied zum Theater, zur bildenden Kunst oder zur Literatur andere Mittel zur Herstellung von Pathos zur Verfügung? Dies diskutiert er an seinen eigenen Filmen, und er unterscheidet dabei altes und neues Pathos. Das alte Pathos 17 18 19

Vgl. ebd., S. 234. Ebd., S. 235. Vgl. auch Sergej Eisenstein, „Dramaturgie der Film-Form", in: Schriften 3, Oktober. Mit den Notaten %ur Verfilmung von Marx',Kapital', hg. von Hans-Joachim Schlegel, München 1975, 200-225. Deleuze, Das Bewegungs-Bild, Kino I, S. 56. Deleuze interessiert an diesem Prozess vor allem das „Umschlagen, in dem der zweite Augenblick eine neue Macht erlangt, weil der erste in ihn eingegangen ist: Von der Trauer zur Wut, vom Zweifel zur Gewißheit, von der Resignation zur Revolte... Dem Patherischen sind beide Aspekte zuzurechnen: es ist zugleich der Übergang zu einem anderen Aspekt, von einer Qualität in eine andere, und das plötzliche Auftauchen einer neuen Qualität, die aus dem Vollzug des Übergangs entsteht." Vgl. zu diesem Punkt auch Valerij Podoroga. „Cislo massy. S. Éjzenstejn i teorija pafosa" [Zahl der Masse. Sergej Éjzenstejn und die Theorie des Pathos], in: Media i sovetskaja vlast', hg. von ine Hänsgen und Hans Günther, St. Peterburg 2005, S. 278-299, hier S. 297. Podoroga analysiert Éjzenstejns Pathos-Theorie vor allem am Material von Panzerkreuzer Potemkin. Podorogas These ist, dass bei Éjzenstejn das Organische und damit auch die „Natur durch den ,Sprung' historisiert wird (priroda istorizuetsja cerez ,skacok)" und dadurch Natur und Geschichte im ,Sprung' zusammenfallen, ihr Dualismus wird aufgehoben bzw. neutralisiert zugunsten von etwas Drittem, das der Entgegensetzung von Natur und Kultur nicht immanent ist, dieses Dritte ist nach Podoroga das Überorganische (sverchorganicnost'). Umgekehrt verwandelt sich Geschichte in Materie, in Energie, Bewegung, Rhythmus.

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sei theatralisches Pathos, also Pathos, das durch die darstellerischen Mittel der Protagonisten, durch deren Gestik und Mimik, zum Ausdruck kommt. In seinem Film Όas Alte und das Neue aber will Èjzenstejn die Pathosformel kinofizieren (kinoficirovat'), d.h. zusätzlich zum alten ein neues, spezifisch filmisches Pathos produzieren. Diese Wende bezeichnet er wiederum selbst schon als Sprung von einer Dimension in eine andere, aus der darstellenden Dimension des theatralischen Films in die Dimension des, wie er schreibt, „reinen" Films. Bevor ich aber auf dieses „neue Pathos" eingehe, ein paar kurze Bemerkungen zum Film Das Alte und das Neue. Das Alte und das Neue steht nicht nur für eine Gegenüberstellung von altem und neuem Pathos, sondern bezieht sich auf alte und neue Formen der landwirtschaftlichen Produktion in der Sowjetunion. Der Film handelt vom sogenannten „Kampf um die Erde", der ab 1927 mit einer zumeist gewaltsam ablaufenden Massenkollektivierung und Industrialisierung des Dorfes einherging. Dass Èjzenstejn ein brisantes Thema behandelt, zeigt sich u.a. darin, dass dieser Film mehrmals umgeschnitten und sogar der Titel geändert werden musste. Stalin selbst hatte den Titel Das Alte und das Neue im Frühjahr 1928 bei einer Unterredung mit Èjzenstejn anstelle des alten Titels, Die Generallinie (General'naja linija), vorgeschlagen — ein Titel, der sich auf die von Stalin auf dem 16. Parteitag vorgegebene politisch-ökonomische Generallinie bezog, Stalin selbst aber nun nicht mehr zeitgemäß schien. In Das Alte und das Neue nimmt Èjzenstejn Szenen aus dem Leben eines sowjetischen Dorfes auf, er verfilmt, wie er schreibt, die von der Partei- und Staatsleitung entwickelte Strategie des Kampfes für den Sozialismus. Die Unterscheidung von altem und neuem Pathos wird besonders in zwei Szenen deutlich, der alten, religiösen Bittprozession und der neuen, sowjetischen' Separatorszene. In der Szene, die das alte Pathos zeigt, bitten Dorfbewohner um Regen für die von der Dürre ausgetrockneten Felder. Èjzenstejn konzipiert diese Bittprozession als, wie er schreibt, Szene einer „rasenden, fanatischen Religionsekstase": „Man schleppt sich auf Knien voran, bricht unter der Last der Ikonen zusammen, wühlt sich in den Staub der ausgetrockneten Erde und fleht mit vergeblich an den Himmel gerichteten Sendschreiben um das Wunder eines von dort herabgeschickten Regens."20 Èjzenstejn schreibt, dass er für diese Szene vor allem darstellerisches Pathos einsetzte, „Pathos der agierenden Personen", deren Gestik und Mimik, das Flehen und Bitten, die jahrhundertealte Tradition des Bittrituals in sich tragen. (Vgl. Abb. 2 und 3) Die der Bittprozession in Das Alte und das Neue entgegengesetzte Szene zeigt das neue Pathos, Èjzenstejn nennt die Szene die „Separator-Szene" und das entsprechende Pathos „Separatorpathos" (pafos separatora). (Der Separator ist eine Maschine, die in der Lage ist, durch zentripetale und zentrifugale Kräfte, Rahm von Milch zu trennen.) Beim neuen Pathos handelt es sich im Unterschied zum alten um eine Pathetisierung absolut nicht-pathetischen Materials. Èjzenstejn pathetisiert unpathetische Themen und

20

Eisenstein, „Separator und Gralskelch", S. 207; „Pafos", S. 82: „3Aecb,

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unbelebte Dinge, Molkereimaschinen, Nähmaschinen, Getreidefelder - und vor allem den Separator. In Potemkin hingegen habe gerade die Pathetik des Themas die Pathetisierung des Materials behindert.21 „Die Pathetisierung der Separator-Szene" aber, so Èjzenstejn, „stützt sich vor allem auf komposiüonelle Ausdrucksmittet\ nicht auf die „schauspielerische Exaltierung der agierenden Figuren".21 Von einer „Montage-,Raserei"' (montaznoe neistovstvo), einem „Montagewirbel" (montaznoj drobi), vom „Explodieren der Metapher" (metafora vzryvaetsja), von „unwillkürlich hochschießenden Vergleichen" (nevol'no sryvajusciesja sravnenija) ist bei Èjzenstejn die Rede.23 Das neue Pathos sei das Pathos der Form, der Ausdrucksmittel und des Materials. In den Kategorien der Affektrhetorik gesprochen sind die rhetorischen Figuren nicht mehr nur das Mittel, Affekte beim Rezipienten herzustellen, sondern sind selbst einer Pathetisierung unterworfen: Das künsderische Material ist zugleich Ausdruck und Ziel der Pathetisierung. Ahnliches gilt für die bildende Kunst. Affekte werden nicht mehr nur dargestellt und im kulturellen Repertoire körperlicher Gestik und Mimik sichtbar gemacht, sondern werden auf eine poetische Gestik, eine Montier- bzw. Filmweise übertragen, die zu jener rhythmischen Intensivierung führt, die Èjzenstejn als isstuplenie (Außer-sich-Geraten) beschrieben hatte. Als ein technisches Mittel der Herstellung von Pathos dient Èjzenstejn beispielsweise das Objektiv 28, das die gefilmten Dinge aus ihrer „naturgegebenen Dimension und Form"24 heraustreten lässt. So ist es auch kein Wunder, dass Èjzenstejn bei der Bittprozession, der Schlüssel-Szene für das alte, vor allem darstellerische Pathos, keine Endadung folgen lässt. Er zeigt sogar szenisch, dass es nicht zur Endadung kommt: es regnet nicht, die Wolke, auf die alle sehnsüchtig warten, zieht vorüber. Im Unterschied dazu gipfelt die Separatorszene, als Szene des neuen, filmischen Pathos, in jenem Außer-sich-Geraten und dem „Sprung von einer Dimension in eine andere" (skacok iz odnogo izmerenija ν drugoe), 25 den Èjzenstejn als Merkmal filmischer Pathos-Konstruktion beschrieben hatte. Der Sprung von einer Dimension oder einer Qualität in eine andere ist in der Separatorszene nicht zu übersehen, Èjzenstejn zeigt ihn sowohl inhaltlich darstellerisch durch das Sämigwerden der Milch, als auch formal filmisch durch das Hineinschneiden von Milchfontänen (Metaphorisierung) oder durch das Hineinschneiden eingeblendeter Zahlen (Begriffwerdung), die das Anwachsen der Mitglieder der Milchgenossenschaft anzeigen soll. Wo aus der Milch Rahm wird, werden aus Bauern Kolchozniki, die - so betrachtet - einen „gigantischen QualitätsSprung auf dem Terrain gesellschaftlicher Entwicklungsformen" vollbringen.26 (Vgl. Abb. 4 und 5)

21

22 23 24 25 26

Vgl. auch Hans-Joachim Schlegel, „Eisensteins filmische Konstruktion des revolutionären Pathos. Eine Einführung in den ,Panzerkreuzer Potemkin'", in: Sergej M. Eisenstein, Schriften 2, München 1973, S. 7-22; ders., „Altes und Neues in der ideoästheüschen .Generallinie' S. M. Eisensteins. Eine Einführung in JDie Generallinie'" in: Sergej M. Eisenstein, Schriften 4, München 1984, S. 7-30. Eisenstein, „Separator und Gralskelch", S. 198; „Pafos", S. 75. Ebd., S. 211, 212, 210; S. 85, 86, 84. Ebd., S. 204; S. 80. Ebd., S. 208; S. 83. Ebd., S. 205; S. 80: „mraHTCKHÖ KaHecTBeHHHH cKanoK ΠΟ Λ Η Η Η Η φορΜ oömecrBeHHoro P A 3 B N T H N " .

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2. Éjzenstejn und Warburg: Sprünge und Kreislaufvorgänge Im Unterschied zur Pathosformel bzw. zum Pathosbegriff bei Éjzenstejn, der in der Forschung bislang wenig Beachtung fand, ist der Begriff der Pathosformel bei Warburg detailliert untersucht und kontextualisiert. Mir wird es deshalb vor allem darauf ankommen, Unterschiede und mögliche gemeinsame Interessen zu markieren, die sich aus dem Gebrauch des Terminus „Pathosformel" bei Warburg und Éjzenstejn ergeben. Bei Warburg taucht der Begriff „Pathosformel" erstmals in dem 1906 erschienenen Vortrag Dürer und die italienische Antike auf. Warburg beschreibt dort, wie sich in Künstlerkreisen, u.a. bei Dürer und vor ihm bei einem anonymen italienischen Künstler „dieselbe lebenskräftige archäologisch getreue antike Pathosformel", vorgefunden in der antiken Kunst, „eingebürgert" und „unmittelbar stilbildend" in deren eigene Werke eingegriffen habe.27 Der Begriff der „Pathosformel" referiert in diesem Aufsatz auf eine „zugrundeliegende", wiedererkennbare Ausdrucksform, die sich in späteren Epochen, hier in der Renaissance, durch wiederholte Rezeptionsprozesse „zur typisierten Form herausbildet".28 Warburg zeigt, wie Dürer in einer Handzeichnung, dem Tod des Orpheus, die „typische pathetische Gebärdensprache" 29 der antiken Kunst aufgreift. Zwar konzentriert sich Warburg vor allem auf die in Bildwerken sich darstellende und dargestellte Pathosformel, verweist aber zugleich auf Analogien zur Rhetorik der Pathosformeln im Drama der italienischen Renaissance, in dessen Stil auf ähnliche Weise antike Formeln „gesteigerten körperlichen und seelischen Ausdrucks" „einwandern".30 Die Pathosformel der Antike kehrt also in künsderischen Werken der Renaissance wieder und lässt, wie Warburg schreibt, „Kreislaufvorgänge im Wechsel künsderischer Ausdrucksformen" 31 kulturhistorisch und kulturgeographisch erkennbar werden. Auch Warburg geht es, wie Éjzenstejn zuvor, um Umwandlungsprozesse, jedoch um stilgeschichtliche Umwandlungsprozesse, die auch eine „stilpsychologische" Fragestellung berühren. „Stilpsychologisch" deshalb, weil es sich nicht nur um die „Einwanderung", den „Wiedereintritt" oder das „Eingreifen" antiker Formeln und Rhetoriken in die Kultur der Renaissance handelt, sondern auch um die Frage, wie bewusst oder unbewusst diese Rezeptionsprozesse vonstatten gegangen sind.32 Zur Unbewusstheit der Rezeption bei Dürer gibt Warburg in seinem Vortrag einen Hinweis. Dürer habe zwar das „Erbe der Vergangenheit durch Neuerwerb zu seinem eigensten Besitz gemacht", dabei aber dennoch „diesem Neuerwerb den instinktiven Widerstand seiner Nürnbergischen Gelassenheit entgegengesetzt, die

27

Aby Warburg, „Dürer und die italienische Antike", in: Aby M. Watburg, Ausgewählte Schriften und Würdigungen, hg. von Martin Wuttke, Baden-Baden 1992, S. 125-130, hier S. 126.

28

Cornelia Zumbusch, Wissenschaft in Bildern. Symbol und dialektisches Bild in Aby Warburgs Mnemosyne-Atlas und Walter Benjamins Passagen-Werk, Berlin 2004, S. 24. Zumbusch zeigt in ihrer Studie u.a., wie Warburg die körperliche Ausdrucksbewegung auf die Ebene der stilistischen Ausdrucksweise transponiert.

29 30

Ebd. Warburg, „Dürer und die italienische Antike", S. 127.

31 32

Ebd. Vgl. Zumbusch, Wissenschaft in Bildern, S. 23ff.

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sich seinen antikisch gestikulierenden Figuren wie ein Oberton ruhiger Widerstandskraft mitteilt[e]".33 Warburg sieht hinter oder inmitten der Geste der Aneignung der Antike bei Dürer sowohl einen bewussten Neuerwerb als auch eine instinktive Bewegung der Abwehr, die einen Oberton erzeuge. Dieser Oberton bleibt in der neuerworbenen und übernommenen Geste der antiken Pathosformel hörbar bzw. sichtbar, er schwingt darin mit. Mit anderen Worten: Der Körperhaltung der von Dürer dargestellten antikisch gestikulierenden Figuren ist der Gestus ihrer widerständigen Aneignung selbst als Oberton erhalten geblieben, er hat sich ihnen, den Figuren, Warburg zufolge, mitgeteilt und ist nun Teil ihrer Ausdrucksform. Auch wenn es sich bei Warburg und Éjzenstejn um unterschiedliche Pathosformeln handelt, so haben ihre Ansätze doch auch einiges gemeinsam. Warburgs Pathosformel beschreibt den Archetypus einer leidenschaftlichen Ausdrucks form, des Ausdrucks von Leid, Freude oder Zorn, der aufgegriffen, weitergegeben und dabei stets transformiert, aber auch intensiviert wird. Éjzenstejn hingegen beschreibt eine Konstante in der künstlerischen Ausdruckgeste, die er aber gleichwohl als eine Steigerungsfigur, als ein Intensivierungsverfahren begreift, welches er allerdings unabhängig von Genre und Epoche zur Evozierung von Pathos beobachtet. Beide versuchen einen Rezeptionsprozess sichtbar oder bemerkbar zu machen, sowohl in ihrer analytischen Arbeit als auch in ihrer eigenen Ausdruckspraxis, Éjzenstejn in der Montage von Filmen, Warburg in der Montage des Mnemosyne-Atlas, der, hätte Warburg ihn fertig stellen können, 80 Tafeln mit insgesamt 1160 Abbildungen von „Superlativen" des menschlichen Ausdrucks umfasst hätte. Beide interessiert, auf ganz unterschiedlichen Ebenen, was passiert, wenn zu einem Element ein anderes hinzutritt, wie sich dieses Ausgangselement dabei selbst verändert und zugleich das Hinzugetretene transformiert. Der „Eintritt eines fremdstämmigen Ausdrucks", so Warburg in der Einleitung zum Mnemosyne-Atlas, „könne auch die Intensifikation der ursprünglichen Bedeutung bewirken".34 Bei beiden ist die Frage nach der gegenseitigen Einwirkung einzelner Teile aufeinander sowohl Untersuchungsgegenstand als auch Teil ihrer wissenschaftlichen bzw. künstlerischen Praxis der Montage, die, wie noch zu sehen sein wird, nach einem ähnlichen Muster funktioniert. Nicht umsonst spricht Warburg davon, dass die „aufzeichnende Wissenschaft", und damit könnte auch seine eigene gemeint sein, „das rhythmische Gefüge behält und weitergibt".35Unterschiedlich ist hingegen, wie und über welche Übertragungswege sich Warburg und Éjzenstejn diesen Rezeptionsprozess vorstellen. Warburg, um das Beispiel aus dem Düreraufsatz wieder aufzugreifen, untersucht die Weitergabe der Pathosformeln von Kunstwerk zu Künstler als stilbildenden Prozess. Er hat also ein kulturgeschichtliches und kulturpsychologisches Anliegen. Éjzenstejn hingegen interessiert vor allem die direkte Weitergabe von leidenschaftlichem Ausdruck auf den jeweiligen Rezipienten des Kunstwerks.

33 34

35

Warburg, „Dürer und die italienische Antike", S. 128. Aby Warburg, „Einleitung", in: ders., Gesammelte Schriften: Studienausgabe, hg. von Horst Bredekamp, Michael Diers, Kurt W Forster, Nicholas Mann, Salvatore Settis und Martin Warnke, Abt. 2, Bd. 1, Der Hilderaths Mnemosyne, Berlin 2000, S. 3-6, hier S. 3. Ebd.

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Er entwirft entlang seiner Pathosformel eine Wirkungsästhetik. Das zeigt sich insbesondere in der Definition, Pathos sei das, was den „Zuschauer „außer ácb geraten"36 lasse. In diesem Kontext spricht übrigens auch er von Obertönen. Und zwar von einer Obertonmontage, und dies genau zu dem Zeitpunkt, als er seine Theorie der Pathosformeln entwickelt. Die Obertonmontage löst bei Éjzenstejn die Dominantenmontage ab: Anstelle nur eines dominanten Reizes lässt die Obertonmontage ein Mitschwingen bzw. Nebenschwingen verschiedener weiterer Reizerreger, die auf die Rezipienten einwirken sollen, zu.37 In diesem Sinn spricht Éjzenstejn auch von einer Polyphonie der Reizerreger, wiederum zur gleichen Zeit, 1929, als Michail Bachtin von einer Polyphonie der Stimmen bei Dostoevskij schreibt, also von jenem dialogischen Prozess, der die fremde Stimme in der eigenen nicht usurpiert, sondern als andere bestehen lässt.38 Auch bei Éjzenstejn hat die Polyphonie der Reizerreger, wie bei Bachtin die Polyphonie der Stimmen, eine antidogmatische Funktion, die durch die Obertonmontage erreicht werden soll. Die Obertonmontage betrachtet Éjzenstejn als das Prinzip der Demokratie, während die Dominantenmontage, die er bislang verwendete, dem Prinzip der Aristokratie entspreche. Bei Éjzenstejn soll der Oberton in der Filmmontage eine Polyphonie der Reizerreger ermöglichen und diese Polyphonie der Reizerreger wiederum soll beim Rezipienten eine polyphonische Wahrnehmung bewirken, die durch unterschiedliche Reize (Ton, Licht, Schnittrhythmus) erzeugt wird. Das Ansprechen unterschiedlicher Sinne ist zugleich verbunden mit einer Streuung der Sinnbildungsprozesse durch physische Reize. Aber auch hier gilt das Prinzip des Umschlags, des sdvig. Éjzenstejn interessiert sich nicht mehr für eine Montage von einander gleichberechtigten Attraktionen und Reizerregern, sondern für das Umschalten von einer Einwirkungsintention in eine andere, von einer Reizerreger-Kategorie in einen andere. Die Rede vom widerständigen Oberton oder von der „Intensifikation der ursprünglichen Bedeutung durch Hinzutreten eines fremdstämmigen Ausdrucks" sind jedoch nur zwei Beispiele dafür, wie Warburg und Éjzenstejn die von ihnen in den Blick genommenen Rezeptionsprozesse als Umwandlungsprozesse erklärbar machen. Darüber hinaus verwenden beide in ihrer Pathosforschung und Pathospraxis weitere Termini, die auf ganz unterschiedliche Theorien und Modelle vor allem des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts zurückgreifen. Es handelt sich vor allem um Forschungen aus der Psychologie, Physiologie und Ethnologie. 36 37 38

Eisenstein, „Das Organische und das Pathos", S. 224. Éjzenstejn bezieht Obertöne sowohl auf auditive als auch auf visuelle Reizerreger — in Analogie zu Erscheinungen aus der Musik und der Optik. Vgl. auch Schlegel, „Altes und Neues", S. 21 f. Im Zusammenhang mit dem Dialogischen schreibt Bachtin seit den 1930er Jahren übrigens auch selbst wiederum von Obertönen, von Lach-Obertönen bzw. von karnevalesken Obertönen im Zusammenhang mit seiner Analyse von Dostoevskijs Romanen und Rabelais' Gargantua und Pantagruel, oder von dialogischen Obertönen im Zusammenhang mit der Kategorie der Äußerung: Michail M. Bachtin, „Problema recevych zanrov", in: ders., Sobrante sofinenij ν semi tomach, Bd. 5, Moskva 1995, S. 159-206, hier S. 197: „Die Äußerung ist voller dialogischer Obertöne (napolneno dialogiceskimi obertonami), ohne deren Berücksichtigung der Stil nur unvollständig verstanden werden kann." Bachtin spricht im selben Kontext auch von Obertönen der Weltanschauung, der Gesinnung, des Stils, individueller Umgangsformen und Gesten. Ebd., S. 279.

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So spricht 2um Beispiel Warburg in den 1920er Jahren von einer „energetischen Inversion", dann auch von einer „Einwanderung", ein Begriff den auch Wilhelm Wundt verwendet, um Sprachkontakterscheinungen bei archaischen Völkern zu beschreiben. An anderer Stelle ist von einer „symptomatischen Lektüre" der Pathosformeln der Antike die Rede oder von der Pathosformel als „Engramm", dann wieder von der „reaktiven Energie" der Pathosformeln oder von einem „Nacherleben", das durch sie provoziert wird. Während die symptomatische Lektüre auf Freud verweist und den Eintritt der Antike in die Renaissance als „Wiederkehr des Verdrängten" deutbar macht, bezieht sich die Rede vom Engramm,39 also von einer physiologischen Spur, die eine Reizeinwirkung als dauernde strukturelle Änderung im Gehirn hinterlässt, auf eine Theorie, die der Zoologe Richard Semon Ende des 19. Jahrhunderts ausgearbeitet hat.40 Warburg beobachtet, so könnte man vielleicht sagen, ganz unterschiedliche Reiz-Reaktions-Schemata, die er in der Rezeptionsgeschichte der antiken Pathosformeln vorfindet. Èjzenstejn hingegen verwendet vor allem solche Reiz-Reaktions-Schemata, die seine eigene Wirkungstheorie wissenschaftlich untermauern sollen. Mit dieser Absicht beruft sich Èjzenstejn vor allem auf reflexologische Untersuchungen Ivan Pavlovs, auf Lev Vygotskijs Studien zur ästhetischen Reaktion, aber auch auf Wilhelm Wundts, Lucien Lévy-Bruhls und Frank Hamilton Cushings ethnologische Studien sowie auf Ludwig Klages Theorie der Ausdrucksbewegung, auf die sich im Übrigen auch Warburg bezieht.41 Èjzenstejn geht es 39

Auch Èjzenstejn verwendet den Begriff des Engramms (etwas widersprüchlich) und zwar im Zusammenhang mit seinen Beobachtungen zum Tanz in Mexiko: „Dem Tanz der Hände entspringt der Gedankenfluß - der Fluß, der sich nicht formenden, sich nicht im Gehirn ablagernden und der nicht Konturen schaffenden Zeichen der Engramme, welche sich im Bewusstsein ablagern." (TamieM ργκ npOXOAHT ΠΟΤΟΚ M H C A e Ü

Β MHCAH H e ( | ) O p M H p y i O m H X C H , H e OTKAaAMBaiOIHrotCfl Β M 0 3 r y , H e n p H -

KomypoB 3HaKOB S H r p a M M , O T K A a A u B a i o m H x c H β c o 3 H a H H H . ) Zitiert nach: Vjaceslav V. Ivanov, Olerkipo istorii semiotiki ν SSSR, Moskva 1976, S. 31. Zum Engramm bei Dziga Vertov vgl. auch Deleuze, Das Bewegungshitd, Kino I, S. 119f., wobei Deleuze unter Engramm das „Entstehungselement eines Wahrnehmungsbildes" versteht, das „untrennbar mit dynamischen Strukturen (Immobilisierung, Schwingung, Beschleunigung, Verlangsamung)" verbunden ist (ebd., S. 322). 40 Zumbusch stellt das Nacherleben in Bezug zu Warburgs Lektüre von Richard Semons Theorie der Engramme, zumal Warburg in der Einleitung zum Mnemosyne-Atlas, die Pathosformeln als Engramme leidenschaftlicher Erfahrung bezeichnet. Semon definiert das Engramm als eine „beantwortete Reizerscheinung". Nach der Auffassung von Semon ist die Reizsubstanz des Körpers nach einer affektiven Einwirkung dauerhaft verändert. Er nennt das eine engraphische Wirkung, die verbunden ist mit dem Einschreiben des Reizes in die organische Substanz. Diese bleibt dem Körper erhalten und kann unter erneuter Reizeinwirkung wieder freigesetzt werden. Zumbusch hält diese, wie sie schreibt, Vorstellung von einer „sich erhaltenden und instanten reaktivierbaren Gedächtnisenergie" für das, was Warburg mit der Pathosformel verbindet. Vgl. Zumbusch, Wissenschaft in Bildern, S. lOlf.; Vgl. auch: Stefan Rieger, „Richard Semon und/oder Aby Warburg: Mneme und/oder Mnemosyne", in: Deutsche Vierteljahresschrift fir Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Bd. 72 (1998), Sonderheft Gedächtnis, hg. von Aleida Assmann u.a., S. 245-263. 41 Mit Klages beschäftigt sich Èjzenstejn bereits Anfang der 20er Jahre, zunächst anlässlich eines Aufsatzes zur Ausdrucksbewegung, den er gemeinsam mit Sergej Tret'jakov verfasst. Für diesen Aufsatz liest er die Schriften Bodes und rezipiert über Bode auch Klages, dessen Schriften er allerdings erst 1924 liest oöpeTaionmx

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anders als Warburg um eine filmische Affektrhetorik, die, wie das Aristoteles in seiner Rhetorik gefordert hatte, beim Zuschauer gezielt Affekte hervorrufen soll. Warburg spricht zwar an einigen Stellen auch von einem direkten „Nacherleben", etwa wenn er schreibt, dass die Bildsprache der Gebärde „durch die Wucht ihrer Ausdrucksprägung zum Nacherleben der gesehenen Affekte zwinge", er konzentriert sich im Grunde aber doch eher auf stilgeschichtliche Umwandlungsprozesse.42 Èjzenstejn findet vor allem in Klages' Buch Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft von 1923 und dem darin beschriebenen Carpenter-Effekt ein Modell für seine Wirkungsästhetik. Nach Carpenter, einem englischen Arzt, der Mitte des 19. Jahrhunderts praktizierte, löst das Sehen einer Bewegung die Tendenz zur Ausführung dieser Bewegung aus. Es handelt sich dabei ebenfalls um ein Nacherleben, allerdings verstanden als ideomotorisches Phänomen, also um ein Nacherleben, das durch die physische Bewegung angeregt wird. Nach Klages ist der körperliche Ausdruck so beschaffen, dass sein Abbild ihn, also den Ausdruck, beim Beobachter wieder hervorrufen könne.43 Das implizit zugrundliegende Modell ist dasjenige eines Schauspielers, der eine Bewegung vollzieht, die den Zuschauer anstecken soll, wobei die physische Bewegung dazu bestimmt ist, den gewünschten Affekt auszulösen. Das Gefühl wird erst durch die Bewegung geweckt, nicht umgekehrt, d.h. „die Emotion entsteht aus einer ausdrucksstarken Äußerung heraus".44 Ähnliche Phänomene beschreibt auch Wilhelm Wundt in seinen Studien zur Gebärdensprache, auch darauf hat sich Èjzenstejn direkt bezogen. Im übrigen gilt als gesichert, dass auch Warburg diese Studien von Wundt kannte. Aber nicht nur hinsichtlich der Beschäftigung mit Rezeptions- und Wirkungsmechanismen gibt es Parallelen zwischen beiden Forschern. Eine der offensichtlichsten Analogien ist die Verwendung des Prinzips Montage. Philippe-Alain Michaud schreibt in seiner Studie Aby Warburg and the Image in Motion, der einzigen mir bekannten Studie, die Èjzenstejn und Warburg nebeneinander stellt, dass Warburgs Bildsequenzen der visuellen Syntax denen von Èjzenstejn gleichen. Michaud weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Warburg während seiner Amerikareise 1895/96 in Verbindung mit seinen ethnologischen Studien bei den Pueblo Indianern eine Sprachform, eine Gebärdensprache, entdeckt habe, „that proceeded stricdy from images and acted through images". 45 Warburg habe bei den Hopi

42

43 44 45

und dessen Konzept der Ausdrucksbewegung Èjzenstejn in seinem Aufsatz Montage der Attraktionen reformuliert. Vgl. dazu ausführlich Oksana Bulgakowa, „Bruch und Methode. Eisensteins Traum von einer absoluten Kunst", in: Sergej Eisenstein, Das dynamische Quadrat. Schriften %um Film, hg. und übers, aus dem Russischen von Oksana Bulgakowa und Dietmar Hochmuth, Leipzig 1988, S. 262-324. Warburg, „Einleitung", S. 5: „Die Bildersprache der Gebärde, häufig durch Inschriften um die Sprache des Wortes, die sich auch ans Ohr wendet, verstärkt, zwingen durch solche gedächtnismäßige Funktion auf Architekturwerken (z.B. Triumphbogen, Theater) und Plastik (von Sarkophag bis zur Münze) durch die unzerstörbare Wucht ihrer Ausdrucksprägung zum Nacherleben menschlicher Ergriffenheit." Eisenstein, „Separator und Gralskelch", S. 173. Sergei Eisenstein, Über mich und meine Filme, hg. von T.illi Kaufmann, Berlin 1975, S. 39. Philippe-Alain Michaud, Aby Warburg and the Image in Motion, New York 2004, S. 237.

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ein Montagekonzept beobachtet, das Einzelbilder so zueinander in Beziehung setzt, dass sie wie beim Film in eine Bewegung übergehen. Warburg selbst übrigens äußert sich nicht über sein Montageverfahren, weder über dessen Ursprung, noch über die damit verbundenen Ausdrucksgesten. Auf ein ähnliches Phänomen weist Michaud bei Ejzenstejn hin, wenn dieser als Ursprungssystem die Hieroglyphensprache nennt. Allerdings scheint Michaud nicht zu wissen, dass Ejzenstejn selbst sich nicht nur auf die Hieroglyphensprache, sondern auch auf die Gebärdensprache, und zwar die Gebärdensprache bezieht, die er wiederum in den Schriften Wilhelm Wundts beschrieben fand. Diese Gebärdensprache betrachtet Ejzenstejn als zugrundeliegendes Prinzip seiner Montagetheorie.46 Bei Warburg hat man es weitgehend, wenn vielleicht auch nicht so geplant, mit der „Idee einer kommentarlosen Materialmontage"47 zu tun, die in keiner Theorie gipfelt, bei Ejzenstejn aber stand die Montage immer im Mittelpunkt sowohl praktischer Experimente als auch theoretischer Überlegungen (Montage der Attraktionen, die intellektuelle Montage, die Obertonmontage etc.). Ausgehend von Warburgs Beschreibung der Rezeption der Antike bei Dürer, könnte man den Mnemosyne-Aâ&s selbst mit seiner Montage als eine Art Obertonmontage interpretieren. Warburg macht, so ließe es sich vielleicht formulieren, mit seiner Montage jene Obertöne sichtbar, die in der Rezeption der Antike wie ein Widerstand fungieren. In seiner Rede auf der Konferenz der Filmschaffenden von 1935 bezieht Ejzenstejn eine die Gebärdensprache der Ewe kennzeichnende asyntaktische Bildserie auf die Montageweise seiner Filme. Bei dieser asyntaktischen Bildserie der Gebärdensprache, so erklärt er mit Wundt, entstehe ein neuer Begriff durch einfache Agglutination bereits vorhandener Bildworte, so dass man das Sprechen als fortschreitende formelhafte Verkürzung der Bildserien auffassen könne. Ejzenstejn schreibt: Uns verwundert diese lange Reihe anschaulicher Einzel-Bilder, die einer asyntaktischen Reihe nahekommt. Aber angenommen, wir stellen uns diese beiden Zeilen der Situation, die den Ausgangsgedanken impliziert, auf der Bühne oder auf der Leinwand in Bewegung vor, dann werden wir zu unserer Verwunderung sehen, daß wir begonnen haben, etwas zusammenfügen, was mit dem Beispiel einer Buschmann-Konstruktion gegeben ist (dano kak obrazec busmenskogo postroenija). Und dieses etwas, zwar asyntaktisch, aber mit fortlaufenden Nummern ausgestattet, erscheint uns als etwas wohl bekanntes, als Montageblatt, d.h. als Rückübertragung eines zum Begriff abstrahierten Faktums in eine Kette konkreter Einzelhandlungen, was dem Prozeß der Übersetzung der Regieanweisungen in Taten gleichkommt (process perelozenija remarok ν postuplti).48 46

47 48

Warburgs Mnemosyne-Atlas wurde in der Forschung in den Kontext jener Montagetechniken gestellt, die zu Beginn der 20er Jahre populär waren, etwa die Collage-Technik im Dadaismus und Suprematismus. Zumbusch vergleicht Warburgs Montagetechnik zudem mit der literarischen Montagepraxis Walter Benjamins im Passagenwerk. Vgl. Zumbusch, Wissenschaft in Bildern, S. 3. Wolfgang Kemp, „Walter Benjamin und die Kunstwissenschaft II: Walter Benjamin und Aby Warburg", in: Kritische Berichte 3 (1975), S. 5-25, hier S. 11. „Hac nopaacaeT 3 Τ 0 Τ ΑΛΗΗΗΗΗ ΡHA Η^ΛΗΛΗΜΧ Ε Α Ο Ώ Ώ Ο Ω o6paaoB, 6ΛΗ3ΚΗΧ Κ acHHTaicnraecKOMy

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Èjzenstejn (und möglicherweise auch Warburg, folgt man Michaud) verwenden also, Èjzenstejn im Film, Warburg im Mnemosyne-AÙas, selbst eine archaische, pagane Sprache, die, mit Warburg gesprochen, stilbildend eingreift und zwar stilbildend in das, was zu zeigen versucht wird. Die Geste der Präsentation als archaische wird so zum Bestandteil der Gebärdensprache, die im Adas oder im Film zu sehen ist. Èjzenstejn hat diesen Punkt explizit zum Zentrum seiner Theorie erhoben und mit dem filmischen Pathos sogar eine Gebärdensprache des Films geschaffen.

3. Antipathos Dies wäre eigentlich ein guter Schlusspunkt, wenn man vor dem Hintergrund des Films Das Alte und das Neue nicht noch auf folgende Besonderheit im Pathoskonzept Ejzenstejns aufmerksam machen müsste — eine Besonderheit, die tatsächlich nur Ejzenstejn betrifft: die Verbindung von Pathos und Komik. Auch wenn Èjzenstejn behauptet, die Pathosformel sei unabhängig von Zeit und Raum, Nation und Geschichte aufzufinden, so stellt er seine Überlegungen doch in der Epoche des Stalinismus, d.h. dem aufkommenden Sozialistischen Realismus und der totalitären Ästhetik an, deren Ausdrucksweisen und -formen selbst von pathetischen Themen bestimmt sind. Und dennoch unterscheiden sich Èjzenstejn und die Vertreter der totalitären Ästhetik in einem wesentlichen Punkt. Èjzenstejn problematisiert die direkte Beziehung von Sinn und Sinnlichkeit, Bedeutung und Reiz. Seine somatische Ästhetik ist auf eine Verschiebung des Sinns durch den Angriff auf die Sinne ausgerichtet. Damit unterscheiden sich Ëjzenstejns Pathetisierungen so deutlich von denen der totalitären Jubelästhetik der 30er Jahre, dass sogar den Zensoren beim Betrachten von Oos Alte und das Neue der Verdacht kam, es handle sich bei Ëjzenstejns Pathetisierungen nicht um ernstgemeinten Enthusiasmus, sondern um ein komisches und zudem - wie in der Separatorszene — höchst sexualisiertes, das sozialistische Aufbaupathos und zugleich die von Wilhelm Reich erreichte Hypertrophierung des Sexuellen49 höchst verfremdendes Stilmittel. Auch Viktor áklovskij bringt in seiner Analyse des Films das Komische ins Spiel. Er hält Das Alte und das Neue für einen heiteren Film, der mit Elementen des Scherzes arbeite. Und zwar handele es sich um einen Scherz, der durch einen Überfluss erzeugt werde. „Der Über-

49

pHAy. Ho ecAH τολβκο mbi B3AyMaeM npeACTaeirn» β achctbhh Ha cueHe hah Ha 3KpaHe Te ABe ςτροικΗ CHTyaiWH, KOTOpyiO 3aKAK>HHAa HCXOAHaX MHCAB, MM, Κ CBOeMy yAHBAeHHIO, yBHAHM, HTO MH HaiHeM CTpo^HTb HenTO oneHb 6AH3Koe κ TOMy, Tro AaHO KaK o6pa3eii 6ymMeHCKoro nocrpoemui. Η i t o sto HeHTO, CTOAB me acHHTaKoraecKoe, ho ληππ> CHa6»eHHoe... ποραΑκοΒΗκαι HOMepaMH, οκίϋκετοβ B c e M HaM xopomo H3BecrawM... mohtïukhhm ahctom, to ecn. tcm nepeBOAOM φ ϊ Κ Ί ΐ , a5crparapoBaHHoro β noHfrrae, oôpaTHO β iienb KOHKpeTHHx eAHHHHHMX AeñcTBHH, HeM HBAfleToi nponecc nepeAoxceHHH peMapoK β nocrymoi". Zitiert nach Anna Bohn, Film und Macht. ZurKmsttbeorie Sergej M. Eisensteins 19301948, München 2003, S. 223-234, hier S. 230. Seigej M. Eisenstein, „Das Sexuelle und der Film. Ein Briefwechsel mit Wilhelm Reich", in: ders., Schriften 4, Das Alte und das Neue (Die Generallinie), hg. von Hans-Joachim Schlegel, München 1984, S. 256.

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fluß", so schreibt er, „ernährte die Kunst, er ließ Kühnheit und Spott aufkommen."50 Den Grund für den Überfluss sieht Sklovskij nicht nur in einer künsderischen Absicht, sondern in einer pragmatischen. Éjzenstejn musste seinen Film mehrmals rechtfertigen, nicht nur vor der Partei, sondern auch vor der Bank, also vor Ökonomen und Buchhaltern, die neues Geld bereitstellen sollten. Sklovskij schreibt: „Da klebte Éjzenstejn aus etlichen Schnipseln einen karnevalistischen Streifen über den Uberfluß zusammen. Ein Bulle besprang eine Kuh, Kälber kamen zur Welt, Milch flöß in Strömen, verwandelte sich in Butter."51 Dass die Kritiker hinsichtlich der Komik nicht falsch lagen, zeigen auch Éjzenstejns eigene Kommentare: Wenn man sich den Film heute ansehe, bemerkt er in den 40er Jahren, dann könne man auf die Idee kommen, dass der Film nur deshalb gedreht wurde, um die Natur pathetischer Konstruktion bloßzulegen (obnazat') bzw. aufzudecken (razkryt').52 Legt man hier die Betonung auf „bloßlegen" oder „aufdecken", dann wird deutlich, dass Éjzenstejn seine Pathosformeln von Beginn an möglicherweise als Parodie eines anderen Pathos verstanden wissen wollte, das oft genug in Bathos, also ins Lächerliche abglitt. Denn einzelne Szenen und Montageelemente lassen sich nicht anders als endarvend und ironisch interpretieren - so das Einflechten der Schafsgesichter in die Bittprozession, die Montage der Kuhhochzeit oder die ironische Entlarvung der bürokratischen Maschinerie durch einen gigantischen über die ganze Leinwand projizierten Schreibmaschinenwagen, der „direkt auf die Kamera zufahrt und sich dabei in endarvender Absicht wie der Kran einer riesigen Industrieanlage ausnimmt".53 Man hat es also zugleich mit einer Bloßstellung durch Pathetisierung, aber auch mit einer Bloßstellung der Pathetisierung zu tun. Éjzenstejn nennt diese bloßlegenden Momente Antipathos (Antipafos).54 Im Unterschied zum Pathos, bei dem alle kontrapunktischen Elemente dialektisch organisch zu einer Einheit 50

51 52 53

Viktor Schklowski, Ej^enitejn. Komanbiographie, aus dem Russischen von Oksana Bulgakowa und Dietmar Hochmuth, Berlin 1986, S. 236. Sklovskij bezeichnet Éjzenstejns Film an anderer Stelle auch als „pathetisches Lustspiel" (Viktor Schklowski, Schriften %um Film, aus dem Russischen von Aleksandr Kaempfe, Frankfurt a.M. 1966, S. 117). Ebd. Eisenstein, „Separator und Gralskelch", S. 205, „Pafos", S. 81. E b d . , S. 2 0 3 ; S. 7 9 : „Hae3HcaBinaH Ha a n n a p a T h AO pa3o6Aa«ieHHH Ka3aBniaHcn KpaHOM K a K o r o - τ ο r p a H A H 0 3 H o r o H H A y c r p H a A b H o r o COOpyHCeHHH."

54

Mit Antipathos ist bei Éjzenstejn nicht bathos gemeint, das er selbst als „übermäßige Aufgeblasenheit" bezeichnet („Das Organische und das Pathos", S. 227). Bathos wäre eher das unfreiwillig schlechte, in Lächerliche abgleitende Pathos des Sozialistischen Realismus. Aristoteles hat Bathos als die komische Wirkung der missglückten Wahl einer Stilebene, die entweder zu hoch oder zu niedrig für ihren Gegenstand ist, bezeichnet. Bathos wird jedoch im Laufe seiner Verwendung immer wieder anders nuanciert. Bezeichnet das Verfahren in der Antike den Übergang vom Erhabenen ins Lächerliche, eine Antiklimax, verwendet Alexander Pope den Begriff in Peri Bathous, Or The Art of Sinking in Poetry (1728) auch als bewusstes Verfahren zur Schaffung einer regelrechten Anti-Rhetorik, die die Kunst des schlechten Stils, des verfehlten Pathos demonstriert. Vgl. „Bathos", in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. von Gert Ueding, Bd. 1, Tübingen 1992, S. 1366-1372. Eine solche entlarvende, sarkastische Demonstration von Pathos als Bathos - wie bei Pope - kommt dem Éjzenstejnschen Antipathos sehr nahe, auch wenn Éjzenstejn dies selbst nicht so sieht.

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zusammenfließen, ist beim Antipathos das „Auseinanderklaffen von Zeichen und seinem Sinn" (raspad mezdu znakom i ego smyslom) gerade das Ziel und der Effekt.55 Zwar gibt es auch beim Antipathos einen Zusammenstoß der Elemente, eine isstuplenie, d.h. eine strukturelle Analogie zum Pathos, doch dieses Außer-sich-Geraten ist wie beim Witz bzw. in der Komik mit einer Endadung verbunden, die jedoch eine gespannte Erwartung in ihr Gegenteil verkehrt oder in ein Nichts stürzt. Es findet nicht wie beim Pathos ein Sprung von einer Dimension in eine andere bzw. von Quantität in Qualität statt, sondern eher ein Absturz und eine damit einhergehende .Erniedrigung' der Elemente. In seinen ausfuhrlichen in den 30er und 40er Jahren verfassten Analysen zum Komischen wird Èjzenstejn noch einmal auf diese Absturzfigur zurückkommen und die strukturelle Analogie zwischen Pathos und Komik an zahlreichen Beispielen aus der Geschichte der Kunst und der Philosophie (u.a. Bergson und Freud) zu belegen versuchen.56 Auch in seinem Kino-Tempel (siehe Abb. 6) bilden das Pathos und das Komische zwei der tragenden Säulen, die auf dem Sockel der Dialektik und Ausdruckshaftigkeit des Menschen stehen. Èjzenstejn greift die Idee des Pathos zu einer Zeit auf, als diese vom Sozialistischen Realismus vereinnahmt wird, gegen die sich Èjzenstejn mit seinem Antipathos und dem filmischen Pathos wendet. Indem Èjzenstejn ein spezifisch filmisches Pathos, also ein „Pathos der Ausdrucksmittel" schafft, stellt er sich gegen jenes Pathos, das in der Kunst des Sozialistischen Realismus verwendet wird: das bloß darstellerische Pathos. Es handelt sich um jenes Pathos, das Èjzenstejn auch in der religiösen Bittprozession gezeigt hatte. Bittprozession und sozialistisches Pathos auf einer solchen Ebene zusammenzubringen ist schon Entblößung genug, doch dabei bleibt es nicht. Èjzenstejn schneidet das alte Pathos, dem auch das sozialistische Pathos entspricht, als Montageelement in den Film Das Alte und das Neue hinein und macht es zur Form, zu einem Ausdruckselement, das von den anderen, ihn umgebenden Elementen verfremdet wird.

55

Ebd., S. 213; S. 87.

56

Vgl. Sergej M. Èjzenstejn, „Rezissura. Iskusstvo mizansceny", in: ders., l^brannyeproivj/edenija ν Sesti tomacb, Bd. 4, Moskva 1966, S. 448-535; „K voprosu nadystoricnosti", in: ders., J^brannyeproi^yedenija ν Sesti tomach, Bd. 3, Moskva 1964, S. 212-233. Im Archiv sind zudem Entwürfe zu einem Buch mit dem Titel Das Komische (Komileskoe) aus den 1930er und 1940er Jahren erhalten.

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Abb. 1

Abb. 2

Abb. 3

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Abb. 1-5: Sergej M. Éjzenstejn, Starve i novoe {Das Alte und das Neue, 1929).

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Abb. 6: Sergej M. Éjzenstejn, „Zdanie kinoteorii" (Risunok, 10.3.1939) zit. aus: Sergej M. Éjzenstejn, Neravnoduhajapriroda, Bd. 1, Moskva 2004, S. 2.

ROBERT BUCH

Das Pathos des Realen: Francis Bacon

Wenige Künstler haben in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts einen so ikonischen Status erreicht wie Francis Bacon. Die unmittelbare Wiedererkennbarkeit von Bacons Arbeiten ist zum einen auf ein bestimmtes Repertoire an Bildelementen und -dispositiven zurückzufuhren, die von einem Werk zum anderen wiederholt und variiert werden: Ein oft monochromatischer Bildhintergrund, unterteilt und gegliedert durch Linien, die Innenräume und bühnenartigen Strukturen suggerieren, und im Zentrum dieser Arrangements sich in Schmerz windende Figuren. Was Bacons Malerei darüber hinaus jedoch ihre unverwechselbare Signatur verleiht, ist das einzigartige Zusammentreffen scheinbar widersprüchlicher Richtungen der Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts: Abstraktion und Figürlichkeit, virtuose Technik und Materialbeherrschung kombiniert mit Verfahren, die dem action painting abgeschaut zu sein scheinen, der bewusste Rückgriff auf die Tradition, von Velazquez bis zu van Gogh, und Anleihen bei der Pop Art, die Gleichzeitigkeit von Serialität und Singularität, und schließlich die Mischung aus Kitsch und Erhabenheit.1 Die folgenden Überlegungen situieren die Malerei Bacons im Spannungsfeld zweier Begriffe, die selten zusammengedacht werden, aber die gegenstrebigen Tendenzen dieser Kunst, wie ich meine, auf exemplarische Weise erfassen. Die Rede ist von den Begriffen des Pathos und des Realen. Vereinfacht gesagt, steht ersterer für Bacons Traditionsbewusstsein - die „Pathosformeln", auf die der Maler bei seinen Inszenierungen von Schmerz und Gewalt immer wieder zurückgreift —, der zweite dagegen für den Ikonoklasmus seiner Kunst, also das fortwährende Bemühen, die Konnotationen jener Formeln, von der Würde und Nobilität des Leidens, zu durchkreuzen. Dabei ist, wie zu sehen sein wird, die Apathie des Realen, mit der Bacons Bilder den Betrachter konfrontieren, selbst von einem eigentümlichen Pathos getragen. In einem ersten Abschnitt rekapituliere ich im Anschluss an Alain Badiou und Jacques Lacan einige Merkmale des Realen. Obgleich der 1

Zum Thema Kitsch bei Bacon vgl. John Berger, „Bacon and Disney" (1972), in: Selected Essays, New York 2001, S. 315-319. Die Kombination von Kitsch und Erhabenheit ergibt sich auch aus Bacons Vorliebe für die Tradition abendländischer Ölmalerei, in die er seine Arbeit ganz bewusst stellt (man denke an die Goldrahmen), und sein Interesse an der Ikonographie moderner Medien, insbesondere Fotografie und Film. Vgl. zu ersterem Francis Bacon und die Bildtradition, hg. von Wilfried Seipel, Barbara Steffen und Christoph Vitali, Wien 2003, zu letzterem Martin Harrison, In camera: Trancis bacon. Photography, Film and the Practice of Painting New York 2005.

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Begriff bis heute vor allem in seiner psychoanalytischen Ausprägung verwendet wird, beginne ich mit Badious durchaus eigenwilliger Aneignung des Realen und seiner Anwendung auf die Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts. In einem zweiten Abschnitt wird Bacons Malerei in Absetzung von Badious Sicht dann unter den Titel des Pathos des Realen gestellt.

1. In einem provokativen kleinen Buch, das sich nichts weniger vornimmt, als das zwanzigste Jahrhundert auf den Punkt zu bringen, hat Alain Badiou die Jahre zwischen 1914 und 1989 ins Zeichen einer Leidenschaft gestellt: der Leidenschaft des Realen, la passion du réel.? Dem Philosophen zufolge, versteht das Jahrhundert falsch, wer es mittels seiner „großen Erzählungen" oder über die es scheinbar prägenden Ideen und Ideologien zu fassen sucht. Stattdessen betrachtet er es als leidenschaftlich dem Realen verschrieben. Die beiden Gebiete, auf denen Badiou diese Leidenschaft am Werk sieht, sind die des Politischen und der Kunst. Die künstlerische und literarische Avantgarde und die revolutionären Bewegungen sind die Träger dieser Passion, aber auch die beiden Weltkriege bezieht Badiou darauf. Das Leitmotiv der „Leidenschaft des Realen" ist gleichermaßen suggestiv und vage. Es verbindet das Affektive mit dem Faktischen, das Subjektive mit dem Objektiven, Komplexität und Reduktion. In der Tat ist es sowohl ein reduktiver und polemischer Begriff als auch ein relativ komplexer Versuch, ein vermeintlich verlorenes Erbe wieder zu gewinnen. Die widersprüchlichen Konnotationen der Formel machen ohne Zweifel ihren Reiz aus. Sie verbindet Passion, im Sinne des Engagements und der Hingabe für eine Sache, mit einem Begriff, der trotz seiner vermeintlichen Vertrautheit schwer fassbar ist. Schwankend zwischen Abstraktion und Konkretheit lässt es sich als abstrakter ontologischer Terminus ebenso auffassen wie als dessen Gegenteil, nämlich als Inbegriff von Faktizität (das Reale im Gegensatz zum „Schein" von Ideologie und Diskurs beispielsweise). Insofern man mit dem Realen im Gefolge Lacans den Horror und Ekel assoziiert, die uns beim Anblick von Wunden, geschundenem Fleisch, körperlicher Tortur, etc. erfassen, so scheint Badious Bild des zwanzigsten Jahrhunderts sich nicht wesentlich von anderen Interpretationen des Jahrhunderts zu unterscheiden, die das unerhörte Ausmaß an Gewalt und Zerstörung in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen stellen. Zwar konzediert Badiou stellenweise, wenn auch zumeist eher indirekt, dass das, was er die „Leidenschaft für das Reale" nennt, die düstersten Aspekte des 20. Jahrhunderts zu verantworten hat, aber generell tendiert er dazu, diese Leidenschaft eher positiv, nämlich als treibende Kraft hinter den ambitioniertesten Bestrebungen des Jahrhunderts anzusehen, und sich ihrer tragischen Dimension weitgehend zu verschließen. Das Reale wird im Gegenteil geradezu mobilisiert gegen eine zeitgenössische Geschichtsschreibung, die das Jahrhundert einzig in Hinblick auf seine vermeintlich pathologischen Exzesse zu lesen vermag. Gegen eine solche Sichtweise 2

Alain Badiou, Le nick, Paris 2005.

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ist es Badiou darum zu tun, die ursprünglichen Impulse der künstlerischen und politischen Avantgarden erneut ins Bewusstsein zu rücken und radikale Veränderung überhaupt wieder denkbar zu machen in einer Gegenwart, welcher der Sinn für das Reale gänzlich abhanden gekommen zu sein scheint. Badiou fasst das Zeitalter der Extreme, wie Eric Hobsbawm es genannt hat, an seinem extremsten Punkt. Der Philosoph übernimmt den Begriff des Realen von Lacan, gibt ihm allerdings eine etwas andere Wendung, ohne deshalb jedoch auf die mit Lacan gegebenen Assoziationen ganz zu verzichten. Bei Lacan gehört das Reale bekanntlich ins dreiteilige Modell von Realem, Imaginärem und Symbolischem, das eine wichtige Rolle in der psychoanalytischen Subjekttheorie spielt.3 Zu den auffälligsten Charakteristiken dieses Realen zählen sein paradoxer und leicht ominöser Anstrich. Das Reale ist unzugänglich, eine Abwesenheit oder Lücke, die sich der Darstellbarkeit widersetzt, und zugleich wird es häufig als gewaltsam und exzessiv vorgestellt. Wo es sich manifestiert, bricht es ein, durchschlägt die Oberfläche der Erscheinungen, sprengt die Realität und ihre Repräsentationen. Seine Wirkung ist unmöglich zu ertragen, aber auch unmöglich zu ignorieren. Die Beschreibungen des Realen stellen es einerseits als Dimension dar, die immer schon vorauszusetzen ist, aber notwendig unerkennbar bleiben muss, hierin dem Kantschen Ding an sich vergleichbar. Andererseits erscheint es immer wieder als gewaltsame „Eruption", als traumatische Begegnung und widerspenstiger Rest, die vom psychischen System nicht assimiliert werden können. Häufig ist es mit organischer Materie assoziiert, dem, was in den Blick gerät, wo Körper zerrissen werden. Es steht für unsere stofflich-körperliche Verfasstheit, vor der wir, wo immer wir ihrer ansichtig werden, zurückschrecken wie vor unserer eigenen Endlichkeit, dem unergründlichen Ursprung und unbestimmbaren Ende unseres kontingenten Daseins. Als Faktum von Geburt und Tod markiert es die Grenzen des Symbolischen. Bei anderen Gelegenheiten erscheint das Reale dagegen von geisterhafter Gegenwärtigkeit, immateriell und doch von gleichsam tödlicher Effizienz: etwas, das die Ordnung der Dinge durchschneidet, durcheinander bringt, verstört. Der Begriff bezieht sich jedenfalls ungeachtet seiner vermeintlichen Abhängigkeit von den anderen beiden Registern auf eine irreduzible Dimension. Es gibt nichts jenseits oder hinter dem Realen. Genau genommen ist eine solche Ausdrucksweise sogar irreführend, insofern das Reale gerade dort erscheint, wo die anderen beiden Register aufhören, zu funktionieren, mit anderen Worten, in den Rissen unserer symbolisch-imaginären Wirklichkeit. Das Reale ist dasjenige, was verloren geht, indem das Subjekt in die Ordnung des Symbolischen eingewiesen wird, aber es kehrt wieder, wo diese Ordnung zusammenbricht und wir mit der Dimension unserer unhintergehbaren und ungeschützten Körperlichkeit konfrontiert sind. Während bei Lacan das Reale ein Moment einer dreiteiligen topologischen Struktur ist, ist es bei Badiou vor allem eine Kategorie der Situation, der Handlung und des kairos. Das 3

Es gibt bei Lacan keinen locus classicus, an dem alles über das Reale nachzulesen wäre. Es nimmt einen relativ prominenten Raum ein in Les quatre concepts fondamentaux de la psychanalyse. Le Séminaire de Jacques Lacan, Livre XI, Paris 1973 und in UEtbique de la psychanalyse. Le Séminaire de Jacques Lacan, Livre VII, Paris 1986.

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Reale bezeichnet für Badiou jenen Moment, in dem eine gegebene Ordnung durch etwas Anderes, Unvorhergesehenes ersetzt wird. Entscheidend ist hierbei, dass mit einem Mal einer Möglichkeit Raum gegeben wird, die innerhalb des bis dahin geltenden begrifflichen Rahmens undenkbar war. Das Reale ist sowohl der blinde Fleck und die Einsatzstelle fur einen Neuanfang, von denen aus eine Situation, die als unabänderlich erachtet wurde, radikal rekonfiguriert werden kann. Man könnte auch sagen, das Reale ist bei Badiou Chiffre für das emanzipatorische Potential eines gegebenen symbolischen Feldes, ob im Bereich des Politischen oder der Kunst, und die „Leidenschaft für das Reale" ist die Bereitschaft, dieses Potential und diese Gelegenheit zu „realisieren", wenn nötig auch mit gewaltsamen Mitteln. Häufig erscheint es in der Tat als nichts anderes als der Name für die Entschlossenheit, äußerste Maßnahmen zu ergreifen. Daher der Beiklang von Dringlichkeit, Dezisionismus und Gewalt, die dem Begriff bei Badiou anhaften. Das Reale signalisiert eine unerwartete Öffnung, einen Riss in der Ordnung der Wirklichkeit, bezieht sich aber auch auf das rasche Auffassungsvermögen und die Unbeirrbarkeit, die für den zu vollziehenden Sprung ins Unbekannte erforderlich sind. Es ist ein Geschehen, das Subjekte überrascht und überwältigt. Es tritt auf als Anspruch und Herausforderung, das sich diejenigen, die es trifft, unterwirft, aber das sie auch ermächtigt und mit einem neuen Gefühl der Bestimmung versieht: die Ordnung des Gegebenen im Hier und Jetzt und ohne Rücksicht auf Verluste umzustürzen. Immer wieder betont Badiou, dass dies nicht ohne Gewalt vonstatten gehen kann. Die Leidenschaft, die im Namen des Realen zur Tat schreitet, schreckt vor Gewaltanwendung nicht nur nicht zurück, sondern beweist sich in ihr: kompromissloser Durchsetzungswille und Verachtung für die vermeintlichen Sentimentalitäten des modernen Humanismus werden so geradezu zum Ausweis des ominös Realen. Die Stoßrichtung von Badious polemischer Rekapitulation des zwanzigsten Jahrhunderts ist unschwer zu erkennen. Die Passion des Realen steht gegen eine Gegenwart, die allen Sinn für Leidenschaft verloren hat, die in einer Welt von Schein und Spektakel dahindämmert, und die angesichts der Exzesse der beiden Weltkriege und der Vernichtungslager nicht nur jeglicher Gewalt, sondern auch der Vorstellung alternativer politischer und sozialer Ordnungen abgeschworen hat. Die Berufung auf das Reale ist der trotzige Versuch, die Begeisterung und den Elan, kurz das emanzipatorische Potential des zwanzigsten Jahrhunderts für die Gegenwart zurückzugewinnen, gegen seine Verurteilung als proto-totalitär. Zwar ist Badiou bemüht, zwischen einem falschen (Stalinismus und Nazismus) und einem richtigen Gebrauch des Realen zu unterscheiden (dies vor allem in seinem Buch zur Ethik),4 aber im Grunde interessiert er sich eher für den aus nichts ableitbaren Anfang, den radikalen Neubeginn, als für das Leid und die Zerstörung, die sich in seinem Gefolge eingestellt haben. Für seine Überlegungen bezieht Badiou sich einerseits auf Nietzsche, Lenin und Mao, andererseits, und dies eher unerwarteterweise, auf eine Reihe moderner Lyriker, darunter Fernando Pessoa, Ossip Mandelstam, Saint-John Perse, Brecht, Mallarmé und Celan, die seine Thesen indes nur auf sehr vermittelte Weise illustrieren. Das Reale erscheint in diesen 4

Vgl. Alain Badiou, L'éthique. Essai sur la conscience du Mal, Paris 1993.

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Beispielen de facto weitaus undramatischer als im Rest des Buchs. Es präsentiert sich weniger als eine Dimension radikalen Umbruchs, sondern vielmehr als ein nie vorhersehbares und schwer bestimmbares Manöver der Absetzung, von Badiou „Substraktion" genannt, mittels dessen die genannten Autoren den Raum künstlerischer Kreativität neu bestimmen. Ungeachtet seiner Polemik, die vor Zynismus und Frivolität durchaus nicht zurückschreckt, und ungeachtet der von ihm selbst angeführten Paradigmen trifft Badious Rede vom Realen, wie ich meine, durchaus einen zentralen Faszinationskomplex der Kunst des 20. Jahrhunderts. Allerdings ist diese Faszination, dies sei vorweggenommen, keineswegs so unzweideutig, wie es bei Badiou den Anschein hat. Sie ist geprägt von widersprüchlichen Impulsen und verbunden mit unterschiedlichen Ambitionen. Am offensichtlichsten ist der Bezug auf das Reale, selbst wenn es nicht unter diesem Namen auftritt, überall dort, wo Schmerz und Gewalt ausdrücklich zum Thema gemacht werden und zwar gerade in ihrer Exzessivität. (Man denke beispielsweise an Georges Bataille oder an Ernst Jünger.) In einem etwas abstrakteren Sinne ist es auch in Beziehung zu setzen, wie dies bei Badiou der Fall ist, mit der Erfahrung des Totalitarismus und der Weltkriege. Sie gehören zur Ordnung des Realen, nicht nur weil sie überhaupt stattgefunden haben und nicht mehr ungeschehen zu machen sind, mit anderen Worten nicht nur in ihrer irreduziblen Faktizität, sondern auch aufgrund ihrer absoluten Inkommensurabilität. Sie übersteigen und lähmen das Fassungsvermögen und die Vorstellungskraft; sie bleiben symbolisch und imaginär unassimilierbar. Es ließe sich eine ganze Reihe von Autoren nennen, deren Werke um Erfahrungen kreisen, die nie zu vollständiger Erfahrbarkeit gelangen und darum nur umso unabweisbarer, umso realer zu sein scheinen. Man denke an Claude Simons in fast jedem seiner Romane wiederholte minuziöse Beschreibung einer Scharfschützenattacke auf freiem Feld oder an Peter Weiss' beharrliche und dabei auch selbstquälerische Versuche, sich das Massensterben vorzustellen bzw. eine dafür angemessene Form zu finden. Aber das Reale figuriert nicht allein als Gegenstand, sei's in der konkreten Schilderung kreatürlichen Schmerzes, sei's in der Reflexion auf traumatische Erfahrung, die sich jeder Darstellung notwendig entzieht, es impliziert auch das Phantasma einer Schöpfung, die selbst real werden würde, weniger im Sinne simulierter Wirklichkeit als vielmehr im Sinne quasi physischer Wirksamkeit. Es ist das Phantasma eines Werks, das die Virtualität der Darstellung durchbrechen würde, um dem Betrachter, Leser, Zuschauer unmittelbar auf die Haut zu rücken, unabweisbar zu werden, bedrohlich und verstörend. Seinen programmatischsten Ausdruck hat diese Ambition vielleicht in Artauds Manifest zu einem Theater der Grausamkeit gefunden und sie wirkt nach bei seinen Erben wie z.B. Heiner Müller. Das Engagement im Zeichen des Realen, für Badiou Inbegriff eines unserer Gegenwart nicht mehr zur Verfügung stehenden Enthusiasmus, ist, wie bereits angedeutet, fast immer ambivalent. Zwar findet sich durchaus das Moment der Exaltation und der emphatischen Hingabe, man denke, wie gesagt, an Bataille oder Jünger, aber das Reale kann ebenso gut eine Reihe dysphorischer Reaktionen auslösen, die von Schrecken, über Ekel, bis zu Fassungslosigkeit und Trauer reichen. Die Ästhetik des Realen, wenn es sie gibt, kalkuliert mit beidem, Steigerung und Transgression sowie Schock und Ohnmacht.

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2. Ich möchte im folgenden anhand der Malerei Francis Bacons zeigen, inwiefern Badious Rede von der Leidenschaft des Realen zu kurz greift, obgleich sie auf den ersten Blick den Impetus dieser Kunst durchaus zu treffen scheint, insbesondere in Hinblick auf Bacons eigene Aussagen über seine Malerei. Treffender scheint mir indes Bacons Projekt, stellvertretend für die künsderische Auseinandersetzung mit dem Realen im 20. Jahrhundert, unter einen anderen Titel zu stellen, den des Pathos des Realen. Gemeint ist damit sowohl der emphatische Anspruch dieser Malerei eine Wirkung jenseits, oder besser noch: diesseits des Symbolischen, diesseits der Dimension des Sinns zu entfalten, aber auch die Theatralik und Suggestion ominöser Bedeutsamkeit, die Bacons Bilder nie ganz loswerden. Nicht nur das, sie verdanken, so meine ich, ihre Wirksamkeit just der Spannung zwischen dem Ehrgeiz, Werke zu schaffen, denen es, wie der Maler immer wieder betont hat, nicht um Darstellung zu tun ist, sondern darum, den Betrachtern einen Schock zu versetzen, und den mythologischen und ikonographischen Bezügen, die sie in einem Fort herstellen, und durch die das Werk einrückt in die Tradition pathetischer Darstellung. Auf eine Formel gebracht könnte man die folgenden Überlegungen folgendermaßen pointieren. In seiner Berufung auf das Reale nimmt Bacon einerseits Stellung gegen Pathos, im Sinne der möglichen Verklärung der Gewalt und des Leidens, die so ostentativ das Sujet dieser Malerei bilden, andererseits erzeugen die Visionen des Realen, wenn man die Bilder so nennen kann, ein ihnen eigenes Pathos, diesmal gerade im Sinne der unauflösbaren Enigmatik ihrer Inszenierungen von Schmerz und Agonie. Die Kunst Francis Bacons ist in den Augen vieler ebenso bezwingend wie suggestiv. Bezwingend im Sinne der formalen und technischen Meisterschaft, die in ihr am Werk ist, suggestiv in ihrem vermeintlichen Symbolismus und Anspielungsreichtum. Der Künstler selbst hat indes seine Bewunderer immer wieder gewarnt, nicht zu viel in die Bilder hineinzulesen. Besonders verwahrt hat er sich gegen solche Interpretationen, die sich an die scheinbar offensichtlichsten Themen seiner Malerei gehalten haben: Gewalt, Schmerz, Schrecken. Sich ausdrücklich gegen die Unterstellung von symbolischer Bedeutung oder Sinntiefe wendend hat er in den Interviews mit David Sylvester auf diese Weise die naheliegendsten Zugänge zu seinen Arbeiten verbaut. So behauptet er beispielsweise, dass das, was ihn am Thema der Kreuzigung interessiere, vor allem damit zu tun habe, wie der menschliche Körper am Kreuz erscheine, er betrachte das Kreuz also in erster Linie als eine Art Gerüst zur Ausstellung des Körpers. Mythologische Bezüge wie z.B. auf die Orestie, ein Werk, das er erklärtermaßen bewundert, oder T.S. Eliots Sweeney Agonistes seien mehr oder minder zufällig. Fast routinemäßig distanziert sich Bacon von allen Versuchen, seine Werke zu entschlüsseln, sie auf die in ihnen vermeintlich angelegte Botschaft hin zu lesen. Kunst, die solchen Erwartungen entspricht, kritisiert er als illustrativ. „Illustration" und „Erzählung" gehören überhaupt zu den in den Interviews am häufigsten bemühten Begriffen, von denen er seine eigenen Absichten abzusetzen sucht. Der Maler beharrt darauf, dass es in seinen Arbeiten nicht um irgendetwas im herkömmlichen Sinne ginge. Es geht in ihnen nicht um die condition moderne, le mal du siècle oder, mit Lukács gesprochen, unsere „transzendentale Obdachlosigkeit", noch

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um transgressive Sexualität und Tod, die Spannung zwischen Thanatos und Eros.5 Bacon hat besonders nachdrücklich jene Interpretationen zurückgewiesen, die versucht haben, die Gewalt, die auf so prominente Weise den Gegenstand seiner Arbeiten bildet, auf die desaströsen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts zu beziehen, obgleich er auch eingeräumt hat, dass der Krieg die für seine Generation prägende Erfahrung gewesen sei. (Interessanterweise stammen die ersten beiden Bilder, die in den Augen des Malers Bestand haben sollten, Three Studies for Figures at the Base of a Cruafixion, 1944, und Painting 1946, 1946, vom Ende des Krieges.) Die Weigerung, den Erwartungen an Darstellung und Erzählung zu entsprechen, geht einher mit dem Rückgriff auf ein anderes Vokabular, das die Aufmerksamkeit von Fragen des Gehalts und der Motivik auf solche des Schaffensprozesses und der Wirkung verschiebt. In den Interviews mit Sylvester vermeidet Bacon Kommentare zu Intention und Bedeutung immer wieder, um stattdessen über die Rolle von Zufall und Instinkt und den sich daraus ergebenden Resultaten in seinem Arbeitsprozess zu sprechen. Anstelle der Überlegungen zu möglichen Deutungsversuchen eines Betrachters treten Reflektionen über Begriffe wie „poignancy", „immediacy", „energy" und „intensity". Bacon erklärt, was ihn interessiere sei „sensation", Empfindung und Gefühl, die direkt auf das Nervensystem des Betrachters treffen sollten unter Umgehung der begrifflichen und symbolischen Raster, „screens", mittels derer wir die Welt wahrnehmen. Wiederholt nennt er als Absicht seiner Malerei, nicht den Verstand oder die Imagination eines Betrachters anzusprechen, sondern vielmehr eine körperliche Wirkung zu entfalten, und die „veils", die Schleier, die die Wirklichkeit verdecken, herunterreißen zu wollen. In seinen programmatischen Äußerungen entwirft der Maler eine quasi-physiologische Ästhetik, die dem Betrachter an die Nerven und Eingeweide gehen soll (er spricht immer wieder von den „visceral effects", die er zu erzeugen hofft). Es geht, wie gesagt, nicht um Darstellung, sondern vielmehr um die Übertragung von Empfindungen und Gefühlen vom Nervensystem des Malers auf dasjenige des Betrachters. Die Gewalt, die seiner Arbeit so häufig zugeschrieben würde, sei nicht diejenige der Katastrophen des 20. Jahrhunderts, sondern allgemeiner und abstrakter die Gewalt der Wirklichkeit selbst. Bacon führt, was hiermit gemeint ist, in der Regel nicht weiter aus. Aber aus einigen seiner Bemerkungen kann man schließen, dass er an eine Art animalische Ur-Kraft, eine raubtierhafte Vitalität denkt, die das Leben sowohl trägt als auch bedroht, an die Tatsache, dass Leben Leben verschlingt, „one thing living off another", wie er in einem der Interviews erklärt hat.6 Auch wenn der Begriff als solcher kaum eine Rolle spielt, lässt sich doch behaupten, dass das Programm, das Bacon entwirft, um die Dimension des Realen kreist, eine Dimension jenseits, 5

Michel Leiris hat Bacons Malerei als Ausdruck des mal du siècle gelesen. Michel Leiris, Francis bacon, full face and profile, übers, von John Weightman, New York, 1983, S. 19. Gegen derartige Lesarten hat O. K. Werckmeister Einspruch erhoben in einem Essay, der auch Bacons eigene Priorisierung der Form kritisiert. Otto K. Werckmeister, Zitadellenkultur. Die schöne Kunst des Untergangs in der Kultur der achtziger ]ahre, München 1989, S. 63-81. Werckmeister liest Bacons Kunst dagegen autobiographisch vor dem Hintergrund der Selbstmorde von Peter Lacey (|1962) and George Dyer (1934-1971), der beiden Geliebten des Künstlers - zweifelsohne das zentrale Thema, zumal der Triptychen.

6

David Sylvester, The Brutality of Fact. Interviews with Francis Bacon, New York 1988, S. 46.

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oder vielleicht besser noch: diesseits des Symbolischen. Es verbinden sich darin ein Interesse an Materialität, Gewalt und quasi-physiologischer Wirksamkeit. Dabei sind dieses Programm und das darin enthaltene Versprechen, die Brutalität des Faktischen freizusetzen, „to unlock the brutality of fact", selbst nicht frei von Pathos. Aber wie steht es nun genauer um dessen thematische Präsenz? Und in welchem Sinne lässt sich die Wirkung dieser Malerei als eine des Pathos bezeichnen? So greifbar die affektive Aufladung von Bacons Bildern ist, so schwierig ist sie zu bestimmen. Am offensichtlichsten ist sie vielleicht in der Serie der schreienden Päpste, obgleich sich die bemerkenswerte Wirksamkeit der Bilder auch hier nicht auf eine einfache Formel bringen lässt. Bekanntlich war es lange Zeit eine von Bacons zentralen Obsessionen, den Schrei zur Darstellung zu bringen. Inspiriert hat ihn dabei nicht Edvard Münchs gleichnamiges Gemälde, sondern ein Detail aus Poussins Massaker der Unschuldigen sowie die berühmte Nahaufnahme des blutenden Gesichts einer Kinderschwester in Eisensteins Panzerkreuzer PotemkJn. Die Serie der Päpste, inspiriert durch Velázquez Porträt von Papst Innozenz X, wird begleitet und ergänzt durch Bilder von schreienden Männern in dunkelblauen Geschäftsanzügen sowie von Primaten, einem Pavian und einem Schimpansen, die ihre Fangzähne blecken. Nicht anders als die Päpste sind diese Figuren alle in ähnlichen käfig-artigen, klaustrophobisch wirkenden Räumen platziert. In seiner typischen Zurückhaltung in puncto Deutung hat Bacon erklärt, dass es ihm nicht darum gegangen sei, den Schrecken zu malen als vielmehr den offenen, schreienden Mund. Es ist in der Tat nicht zuletzt die Abwesenheit jeglichen Hinweises auf die Ursache oder den Auslöser der Panik, die die Figuren erfasst hat, welche die beunruhigende Wirkung dieser Bilder ausmacht. Das Schreien der Figuren nimmt allen Raum ein, es übertönt, obgleich natürlich unhörbar, alles andere. Aufheulend im Angesicht einer unsichtbaren Bedrohung scheint es, als würden die Figuren von ihrem eigenen Aufschrei verzehrt, im übertragenen wie im buchstäblichen Sinne. Ein anderer Aspekt verstärkt die erstaunliche Effektivität der schreienden und heulenden Figuren oder vielmehr Kreaturen. Ihre Kreatur- oder Tierhaftigkeit wird unterstrichen durch die oft kauernde Haltung und ihr Urschrei (wenn man ihn so bezeichnen kann) geht einher mit einer merkwürdigen Geisterhaftigkeit. Die Gestalten sind vage und undeutlich und scheinen sich gleichsam mit ihrem Schrei aufzulösen. In vielen Fällen ist kaum entscheidbar, ob sie schreien, weil sie sich auflösen oder umgekehrt. Doch trotz des Schleiers, der ihre Gesichtszüge verschwimmen lässt und ihnen ein gespenstisches Aussehen verleiht, bewahren ihre Gesichter ein hohes Maß an Expressivität. Die Päpste und Geschäftsmänner scheinen einer unbestimmten Seinsordnung anzugehören, aus dem Nichts zur Existenz beschworen scheinen sie sich am Rand der Auflösung in den dunklen Hintergrund zu befinden, ebenso real wie unwirklich. Darüber hinaus sind es in vielen Fällen nicht nur die Figuren, die von Auflösung bedroht erscheinen, sondern der Raum selbst. Bacons „Studien" nach Velázquez sind offensichtlich dem Modell des Staatsporträts verpflichtet. Sie zeigen Würdenträger umgeben von allen Insignien ihrer Macht. Aber die Abgeklärtheit der Autorität ist äußerster Panik und Angst gewichen. Der Gleichmut und die Gefasstheit des Repräsentanten der Macht ist aus der Fassung gebracht, aufgestört durch eine

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unbeherrschbare Unruhe. Bacons Bilder „infizieren" das erhabene Pathos höchster Autorität mit der animalischen Angst des in die Enge getriebenen Tiers. Wenn das Merkmal der Souveränität das Recht über Leben und Tod ist, so scheint diese Macht hier selbst Opfer dessen geworden zu sein, worüber sie einst verfügte: Giorgio Agambens nacktes Leben und souveräne Macht fallen auf diesen Bildern zusammen.7 Die Überblendung solcher Souveränität mit der Vision kreatürlicher Angst macht die beunruhigende und halluzinatorische Wirksamkeit der frühen Porträts aus. Die affektive Aufladung der späteren Arbeiten ist schwieriger zu beschreiben. Auf den ersten Blick scheint die Angst der Agonie gewichen zu sein, obgleich die Art des Erlittenen unklar bleibt, das Geschehen scheint zu schwanken zwischen äußerstem Schmerz und äußerster Lust, zwischen Tortur und Ekstase. Die merkwürdig transparente Qualität der Figuren der früheren Bilder, ihre undeutliche Gegenwart und ihre scheinbare Immaterialität, hat einer unübersehbaren Körperlichkeit Platz gemacht. Die Figuren im Mittelpunkt dieser Arbeiten sind oft nicht mehr als eine Masse pulsierenden Fleisches, sich verrenkende und zuckende Körper, wobei der Eindruck von Dichte und Volumen ebenso sehr Ergebnis des Farbauftrags ist wie ein Merkmal dieser Körper, die gewissermaßen wie in Fleisch skulptiert erscheinen. Der Schrei ist von den Gesichtern gewichen, die zum Ort einer ausgesprochenen Verheerung geworden sind. Es bleibt nur ein schwacher Zug der vormaligen Ausdruckshaftigkeit, der stumme Blick, der unter oder hinter der Zerstörung herauslugt - ein Blick, der merkwürdig unempfindlich erscheint in Hinblick auf das, was seinem Träger widerfährt. Die weitgehende Abwesenheit jeglicher Anzeichen von Expressivität, die Stummheit der Blicke bilden einen auffälligen Kontrast zu der Erregung, welche die Körper erfasst hat. Was den Figuren zugestoßen ist, bleibt unbestimmt. Ahnlich wie in der Serie der schreienden Männer aus den fünfziger Jahren ist unklar, wo der Auslöser für die Unruhe, die die Leinwand selbst ergriffen zu haben scheint, zu suchen ist. In vielen Fällen hat es den Anschein, als sei der Kampf, in den die Figuren verstrickt sind, einer, den sie mit sich selbst ausfechten. Wie Gilles Deleuze, Bacons ingeniösester Kommentator, bemerkt hat, gewinnt man oft den Eindruck, die Körper versuchten, sich selbst zu entrinnen, sich von ihrer eigenen Hülle zu befreien, um eine weniger fixierte Form einzunehmen.8 Man denke an die Pfützen, in die einige der Figuren sich zu entleeren scheinen oder die mysteriösen Verflüssigungsvorgänge, denen sie anheim fallen. Häufig erscheinen die Körperformen nicht mit sich selbst übereinzustimmen, sie sind merkwürdig versetzt in Bezug auf ihren Mittelpunkt. Eindeutig geht es Bacon darum, die Symmetrie und Geschlossenheit des klassischen Körpers aufzulösen, nicht in kubistischer Manier durch Zergliederung des Gegenstandes in unterschiedliche Ansichten, sondern durch Teleskopierung, Vergrößerung und Verdichtung einer Reihe von Bewegungen ineinander, „in der Hoffnung", wie es in einem

7 8

Giorgio Agamben, Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, übers, von Hubert Thüring, Frankflirt a.M. 2002. Gilles Deleuze, Francis Bacon. Logique de la sensation, Paris 1981, S. 16-18.

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der Interviews heißt, „die dargestellten Menschen zur Ähnlichkeit zu entstellen".9 Es ist, als habe der Maler Muybridges Photographien des bewegten menschlichen Körpers übereinander geblendet. In der Folge werden wir Zeugen einer merkwürdigen biomorphen Mutation, auf halbem Weg zwischen Geburt und Kontraktion, eine ungewisse Metamorphose, in der die menschliche Gestalt bis an die Grenzen der Erkennbarkeit getrieben worden ist. Wie Deleuze im Zusammenhang mit diesen monströsen Metamorphosen, dem TierWerden, wie er es nennt, bemerkt hat, haftet der Agonie der Figuren etwas Unpersönliches an. Die extremen Affekte, deren Opfer sie sind, scheinen genau genommen gar nicht ihre eigenen zu sein. Es besteht ein eigentümlicher Zwiespalt zwischen den Kräften, die die Körper befallen haben, und der Haltung der Figuren, ihrer Geistesabwesenheit, den introvertierten Blicken, die uns nur aus großer Entfernung zu erreichen scheinen, und der Gewalt, die aus dem Nichts hervorzubrechen scheint, um wahllos anzufallen, was ihr in den Weg kommt. Es ist gewiss kein Wunder, dass die augenscheinliche Nonchalance, mit der Leiden und Gewalt hier geschildert werden, Kritiker veranlasst hat, den Künsder des Pessimismus zu bezichtigen. Obgleich er bekanntermaßen jede Absichtsunterstellung, ob positiv oder negativ, von sich weist, hat Bacon auf diese Kritik erwidert, dass sein Werk aus dem Geist „heiterer Verzweiflung" entstanden sei. Und Deleuze hat den angeblichen Fatalismus der Bilder als Zeichen ihrer außergewöhnlichen Vitalität eher denn als Beweis einer tragischen Weltsicht verteidigt.10 Angesichts seiner allgegenwärtigen Präsenz ist Bacon häufig als Maler des Fleisches bezeichnet worden, eines Fleisches, das scheinbar um seiner selbst willen ausgestellt wird, als organische Elementarsubstanz des Lebens, vor Augen gestellt in all seiner Plastizität und konvulsivischen Schönheit. Er selbst hat einmal vom Fluss des Fleisches gesprochen, „the river of flesh", dem seine Figuren zu entsteigen scheinen.11 Das Pathos des späteren Werks erscheint somit vor allem als Pathos dieses Fleischs. Es bildet den eigentlichen Gegenstand von Bacons Mitgefühl und erscheint in einer Vielzahl von Gestalten: geschunden, verwundet, von Erschöpfung geschwächt, in Zuckungen verkrampft, ob aus Schmerz oder in erotischer Verklammerung, skulptiert wie der Körper eines Athleten (oder einer von Michelangelos beeindruckenden Sklaven), aber mitunter auch eigentümlich diaphan, wie auf einer Röntgenaufnahme. Diesem Spektrum der Erscheinungsformen des Fleisches entsprechen die Variationen in seiner formalen Behandlung. In vielen Fällen erscheint das Fleisch buchstäblich als Gegenstand der Gewalt der Malerei, der auf die Leinwand geworfenen Farbe, verschmiert und in groben Zügen verteilt, aber es gibt auch Beispiele einer sachteren Behandlungsweise, mit sanfterer Hand ist dort die Unruhe, die im Zentrum vieler Bilder steht, in eine Art Dunst gehüllt. Das Pathos von Bacons Auseinandersetzung mit dem Realen spannt sich von der drastischen Expressivität der schreienden Päpste zu der stummen Agonie der Figuren auf den 9 10 11

"I'm always hoping to deform people into appearance." Sylvester, The Brutality of Fact, S. 146. Deleuze, Frauds Bacon, hogique de la sensation, S. 42. Ebd., S. 83.

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späteren Bildern, zumal den Triptychen. Während in den früheren Arbeiten die Dignität und das Pathos des Staatsporträts durch animalischen Schrecken aus der Fassung gebracht werden, wird das Pathos des Fleisches im Spätwerk konterkariert durch die eigentümliche Haltung der Figuren, ihr merkwürdig affektloses Leiden. Wie wir gesehen haben, erscheinen viele der Gestalten der späteren Arbeiten eigentümlich taub, als seien sie gegen die ihnen angetane Gewalt unempfindlich, und die weitgehende Abwesenheit von Tiefe oder Reflexivität auf Seiten der Figuren durchkreuzt die quasi instinktive Reaktion des Mitleids, auf die die Bilder dennoch Anspruch zu erheben scheinen. Wenn Pathos bedeutet, im Leiden über das Leiden hinauszuwachsen, sich bis zu einem gewissen Grad im Leiden vom Leiden frei zu halten, und dafür das Mitgefühl der Betrachter zu gewinnen, so könnte kaum etwas den späteren Arbeiten Bacons fremder sein. Die scheinbare Unempfindlichkeit der Figuren ist in keiner Weise erhebend, sie ist kein Zeichen heroischer Größe, sondern bleibt unauflösbar oder vielleicht sollte man sagen: unerlöst. Insofern Pathos impliziert, Leiden mit Würde auszustatten, es zu verklären oder ihm ein Moment der Versöhnung einzuschreiben, formiert sich Bacons Kunst gerade gegen ein solches Anliegen. Die Rede von der Brutalität des Faktischen, einer Dimension diesseits des Symbolischen, und der Widerstand des Malers gegen „Erzählung" und andere Formen der Sinnstiftung, richten sich gegen jegliche Versuche, die Gewalt der Bilder aufzulösen oder abzumildern. Auf paradoxe Weise steht so auf der einen Seite das Pathos des Fleisches, das trotz allem an unser Mitgefühl für kreatürliches Leiden appelliert, und auf der anderen Seite das Pathos der Unmöglichkeit des Mitgefühls, wenn man es so bezeichnen kann, das deutliche Gefühl, mit einem Geschehen konfrontiert zu sein, dass uns die unzweideutige affektive Antwort versagt. Anders als Badious exaltierte „passion du réel", von der diese Überlegungen ihren Ausgangspunkt genommen haben, bezeichnet das Pathos des Realen ein weitaus ambivalenteres und in sich selbst durchaus widersprüchliches Programm. In Bacons Ästhetik steht das Reale gegen einen sei's mitleidigen, sei's bewundernden Blick auf das Schauspiel der Gewalt,12 gegen dessen moralische Überhöhung und damit gegen das Pathos, auch wenn dieser Anspruch sich seinerseits, wie bereits bemerkt, nicht ohne ein gewisses Pathos geltend macht. Komplizierter erscheint die Frage in Bezug auf die Ausführung dieses Programms in Bacons Bildern. So offensichtlich es in diesen Werken um die Faktizität physischen Leidens geht — und dies ist eine der basalsten Bedeutungen von Pathos —, so schwer bestimmbar bleibt die affektive Wirksamkeit der Bilder. In seinen Kommentaren hat Bacon selbst, wie schon erwähnt, die erwünschten Effekte immer in relativ drastischer, aber auch reduktiver Manier beschrieben, so wenn er vom „impact" auf das Nervensystem spricht oder von den „visceral effects", die er zu erzeugen hofft. Die tatsächliche Wirkung ist demgegenüber weitaus komplexer. Sie ergibt sich aus den widersprüchlichen Tendenzen, die in den Bildern am Werk sind. Es sind

12

Zur Indifferenz gegenüber der moralischen Perspektive vgl. Christoph Menke, „Der ästhetische Blick. Affekt und Gewalt, Lust und Katharsis", in: Auge und Affekt, hg. von Gertrud Koch, Frankfurt a.M. 1995, S. 230-246.

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einerseits immer wieder Subjekte, die von unsichtbaren Kräften überwältigt werden,13 und die gegenüber diesem Geschehen eine befremdliche Indifferenz an den Tag legen. Dabei bringen die Bilder jene ominöse Gewalt, von der die Figuren erfasst werden, nicht bloß zur Darstellung, sondern sind selbst Ausdruck dieser Gewalt. Das erklärt das Schwanken zwischen der Radosigkeit angesichts eines scheinbar affektlosen Leidens und dem Gefühl der heimlichen Komplizität angesichts der Faszination, die die Gewalt dieser Malerei ausübt. Andererseits suggerieren die Bilder, trotz aller Beteuerung des Gegenteils, eine verborgene Sinnhaftigkeit. Dies wird besonders deutlich, wenn man sich einen Aspekt von Bacons Bildern vor Augen hält, der in der kritischen Literatur meist zu kurz kommt: den Inszenierungscharakter seiner Darstellungen. Denn ungeachtet der Betonung von Instinkt, Intensität, Energie, usw., ist die affektive Aufladung und Wirksamkeit der Gemälde in vielen Fällen, besonders in den Triptychen, nicht zuletzt der unübersehbaren Dramatik der Bilder geschuldet. Und insofern wir Pathos mit Theatralität assoziieren, ist auch dies Teil ihres Pathos. Die Spannung von Pathos und Anti-Pathos, Expressivität und Ausdruckslosigkeit, die ich bisher nachgezeichnet habe, wird hier auf einer anderen Ebene fortgesetzt: in der Suggestion tragischer Verstrickung und ihrer gleichzeitigen Unauflösbarkeit. Der Eindruck von Inszenierung basiert nicht allein auf den bühnenartigen Strukturen, die das Geschehen erhöhen und fokussieren, sondern allgemeiner von dem szenischen Anstrich, der vielen der auf den Bildern dargestellten Situationen eignet. Eine große Anzahl der Bilder erinnert an Tatorte oder evoziert Schauplätze eines grauenerregenden und gleichzeitig undurchschaubaren Verbrechens. Spiegel, Fenster, Jalousien, Türschwellen und andere Ein- oder Ausgänge unterstreichen diesen szenischen Aspekt und scheinen auf einen voyeuristischen Blick zu rechnen. Manchmal ist ein Zuschauer oder eine Zeugenfigur auf dem Bild selbst miteingeschlossen, was das Gefühl des Betrachters verstärkt, selbst Einblick gewährt zu bekommen in ein irgendwie verbotenes oder illegitimes Geschehen. Indem er bestimmte Gesichts- oder Körperpartien umzirkelt und vergrößert, wie bei Röntgenphotographien, oder mit kleinen roten Pfeilen Stellen hervorhebt, erweckt der Maler den Eindruck, er wolle Hinweise geben, Anhaltspunkte für eine mögliche Geschichte, aber diese Geschichte selbst bleibt unverfügbar. Wir blicken lediglich auf ihre verdichtete, verkürzte Form ohne Hoffnung auf Auflösung oder Entlastung. Die Arrangements auf diesen Bildern, von undefinierbaren, sterilen Interieurs, spärlich ausgestattet mit einigen Requisiten des Alltagslebens, menschlichen und manchmal auch tierischen Gestalten, suggerieren ein kompliziertes Gewebe von Beziehungen: Paare in tödlicher Umarmung, ringend oder kopulierend, mitunter eingerahmt von neugierigen Zuschauern, oder verdoppelt und gespiegelt von anderen Figuren, die merkwürdige Verrenkungen ausführen. Es herrscht ein Gefühl der Spannung und des Konflikts, aber die Bedeutung der Beziehungen bleibt enigmatisch. Dies gilt auch für die Bilder, die einzelne Gestalten zeigen. In eine Leere gestellt, die abwechselnd ominös und banal erscheint, machen sie den Eindruck, irgendetwas bezeugen zu sollen, Figuren eines stummen Mementos,

13

Eine der zentralen Thesen Deleuze' über Bacon besagt, dass es in dieser Malerei vor allem um die Sichtbarmachung solch unsichtbarer Kräfte ginge. Deleuze, Francis Bacon, hagique de la sensation, S. 39-43.

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wobei dem Betrachter jedoch jede Enthüllung, jede Aufdeckung ihres Leidens, ob Verzweiflung oder ennui, vorenthalten wird. Die Kargheit des Hintergrunds bildet einen deutlichen Kontrast zu der Unruhe der Figuren, ja sie wird verstärkt durch diesen Gegensatz. Und die Leere lädt dazu ein, imaginäre Szenarien zu entwerfen, die helfen würden, das Dargestellte zu verstehen, aber sie durchkreuzt auch immer wieder unsere Versuche, die dem Geschehen zugrunde liegende Geschichte zu eruieren. Gewiss entsprechen diese Merkmale dem Widerstand des Malers gegen jegliche Form von Geschichten und die Banalität, wie er es nennt, von Erzählung und Illustration. Gleichzeitig verstärkt der unübersehbare Inszenierungscharakter der Bilder die Vorstellung, dass das Dargestellte, so erratisch und mysteriös es auch erscheinen mag, mit irgendeiner Absicht verbunden ist und so den Betrachter auffordert, den symbolischen Gehalt des Bildes zu entschlüsseln. Bacons Ästhetik des Realen oszilliert zwischen dem emphatischen Pathos dramatischer Offenbarung und der Apathie, in die dieses Pathos immer wieder zurückgenommen wird.

CHRISTIAN SCHMITT

Hollywoodpathos. Ideologie und Spektakel in Michael Bays Pearl Harbor

Pathos kennt man heutzutage vor allem aus dem Kino, das, etwas überspitzt, auch als „das letzte Reservat für Pathos" bezeichnet worden ist.1 Pathetische Filme haben nach wie vor Konjunktur und sind nicht selten besonders erfolgreich. Wenn Graf Almásy in The English Patient (Der englische Patient, USA 1996, R: Anthony Minghella) seine geliebte Katharine im Leichentuch über die Wüste fliegt; wenn Jack und Rose auf der Reling der Titanic (Titanic, USA 1997, R: James Cameron) dem Sonnenuntergang entgegenschweben; oder wenn der Gladiator (Gladiator; USA 2000, R: Ridley Scott) nach seinen letzten Worten im blütenbedeckten Sand des Kolosseums zusammenbricht: das sind nur einige pathetische Momente der jüngeren Filmgeschichte. Auffällig oft bezieht man sich, wenn in der Presse und andernorts von .pathetischen Filmen' die Rede ist, auf Produktionen, die im gleichen Zuge auch abfällig unter den Stichworten .Blockbuster' oder,Hollywood' verhandelt werden. Pathos scheint vor allem zum ,Hollywood-Kino' - was immer man darunter zu verstehen hat — zu gehören wie sonst kaum etwas.2 Zu diesem ,Hollywood-Kino' sind auch die Produktionen des US-Amerikaners Jerry Bruckheimer zu rechnen, die sich in den Augen der Kritik so sehr ähneln, dass man sogar von einer „Bruckheimer formula" sprechen könne.3 In seiner Besprechung des Films Pearl Harbor (USA 2001, R: Michael Bay), der die Geschichte vom amerikanischen Kriegseintritt in den Zweiten Weltkrieg erzählt, stellt ein deutscher Rezensent die entscheidenden Momente eines echten .Bruckheimers' heraus. In Filmen dieser Art werde 1 2

3

Barbara Schweizerhof, „Pathos und Film", in: Pathos. Verdacht und Versprechen (= Ästhetik & Kammunikation 35, H. 124), 2004, S. 43-46; hier: S. 43. Ein solcher Bezug wird etwa auch dann hergestellt, wenn ein,deutscher' Film einmal merklich die engen, selbstgesetzten Grenzen nationaler Filmgepflogenheiten überschreitet und sich an die Geschichten und Verfahren dieses ,Hollywood-Kinos' anlehnt. Das war beispielsweise der Fall bei Sönke Wortmanns Das Wunder von Bern (D 2003), der äußerst kritisch besprochen wurde, unter anderem aufgrund seiner Orientierung am amerikanischen Mainstream. „Wortmann, der das Pathos liebt und weiß, daß die besten Pathosformeln immer aus Hollywood-Epen stammen", so ein Rezensent, „bedient sich reichlich. Die Kamera steigt in die Luft, während die Musik orchestral anschwillt - doch statt Hollywood kommt da bloß die Heimatfilmoptik der Fifties heraus." Peter Körte, „Ordnung und Pathos", in: Frankfurter Allgemeine Sonntagsyeitung 41,12.10.2003, S. 34. A. O. Scott, „War Is Hell, but Very Pretty", in: The New York Times, 25.05.2001.

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von der ersten Sekunde in jeder Szene, in jedem Dialog und in jeder Kameraeinstellung so dick aufgetragen, als wolle es den Kinozuschauer niederwalzen. Jede noch so kleine Einzelheit ist überladen, jede Emotion tiefer, jede Geste pathetischer, jedes Desaster größer, jedes Heldentum noch heroischer, aufrechter und ehrenhafter als in vergleichbaren Filmen zuvor.4 Obgleich hier explizit nur die Gestik im Film als ,pathetisch' bezeichnet wird, lassen sich doch auch die anderen Beobachtungen des Kritikers dem zuschlagen, was Filmpathos in seiner bekanntesten zeitgenössischen Form ausmacht. Der Eindruck des Pathetischen beruht, so meine für die folgenden Überlegungen gültige Minimaldefinition, auf einer bestimmten Art der Darstellung, genauer: einer bestimmten Art der filmischen Zeichenartikulation, die in Pearl Harbor ebenso zur Anwendung kommt wie in den eingangs geschilderten Szenen. Für diese Art der Artikulation scheint ein sinnliches Moment besonders wichtig zu sein, das in Pietschs Hinweis auf die .Kameraeinstellungen' und das ,dicke Auftragen' anklingt. Ein kurzer Blick in den Film selbst zeigt, worum es hier geht: Jene Sequenz, in der vom Überfall der japanischen Kampfflieger auf den amerikanischen Flottenstützpunkt Pearl Harbor erzählt wird, bietet weniger eine Erzählung als vielmehr ein Feuerwerk visueller und akustischer Eindrücke: Flugzeuge schieben sich durch schwarze Rauchschwaden, Feuersbrünste flammen auf, die Kamera stürzt im Gefolge einer Bombe zu Boden und bohrt sich tief in den Schiffsrumpf, Schreie von Verwundeten mischen sich in das Röhren der Flugzeugrotoren und die dumpfen Laute unzähliger Explosionen. Es knirscht, knistert und dröhnt; der Blick gleitet, wackelt und springt von einer visuellen Attraktion zur nächsten. Die Geschichte kommt in solchen Sequenzen fast völlig zum Erliegen, was besonders im langatmigen Mittelteil des Films auffällig ist, der einer Verfolgungsjagd über den Wolken gehört. Um den entscheidenden Begriff nachzureichen, der die Diskussionen über den Film der 1990er Jahre bestimmt hat wie kein anderer: PearI Harbor bietet in solchen Sequenzen vor allem ein ohrenund augenbetäubendes Spektakel.5 Es liegt nahe, diese spektakuläre Dimension, die in Pearl Harbor besonders deutlich (und durchaus wörtlich) ins Auge fällt, zu dem in Bezug zu setzen, was ich im Folgenden den pathetischen Mechanismus' des Films nennen möchte. Dieser Mechanismus, wie er sich einer semiotischen Analyseperspektive darbietet, beruht auf einer ganz besonderen Dynamik von

4 5

Johannes Pietsch, „Pearl Harbor", unter www.filmfacts.de, zuletzt abgerufen am 01.03.2008. Die Spektakel des Films fanden ihre Fortsetzung in dessen öffentlicher Inszenierung. Die Premiere von Pearl Harbor stellte die Relevanz des historischen Geschehens für die Gegenwart augenfällig heraus, fand sie doch im Sommer 2001, also sechzig Jahre später, genau dort statt, wo das historische Ereignis sich abgespielt hatte: im hawaiianischen Pearl Harbor. An Bord eines Flugzeugträgers wurde eine gigantische Leinwand errichtet; Feuerwerke und Flugformadonen rundeten ein Spektakel ab, das offensichtlich im Dienste einer aktuellen, nationalen Interessen äußerst konformen Erinnerungspolitik stand. Vgl. Michael Kirner, „Pathos, Pomp und Patrioten", in:

Rheinsgitung,

22.05.2001. Als „Kino des reinen Spektakels"

will auch Thomas Willmann Michael Bays Film(e) begriffen wissen: „Das Erblühen von Feuerbällen, die rasante Bewegung, das Zerstieben von Materie in ihre Einzelteile, das ist Bays eigentliches Metier." Thomas Willmann: „Pearl Harbor", unter: www.artechock.de, zuletzt abgerufen am 01.03.2008.

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Sinn und Sinnlichkeit, die ich als grundlegendes Merkmal filmischer Pathetdk verstehe.6 Pathetische Artikulationen im Film - und an diesen sind eben nicht allein sprachliche Zeichen beteiligt7 — vermitteln zwischen sinnlich-affektiven Eindrücken einerseits und dem, was man gemeinhin als .große Bedeutungen' bezeichnet, andererseits. Filmpathos ist in diesem Sinne als semiotischer Transformator zu verstehen. In Pearl Harbor manifestiert sich diese Dynamik als Miteinander von größtmöglichem (visuell-akustischem) Spektakel und dessen Rückführung in einen ideologischen Diskurs. Anders gesagt: Pathetische Artikulationen machen in Bruckheimers/Bays Film das allgegenwärtige Spektakel sinnvoll, indem sie es auf Bedeutungshorizonte wie ,das Nationale' ausrichten. Auf der anderen Seite werden diese Abstrakta im Spektakel sinnlich evident gemacht. In besonders eindringlicher Weise lassen sich dem Film also jene Verfahren ablesen, die man unter dem Schlagwort einer ,Ideologie des Pathetischen' ansprechen muss. Weit davon entfernt, ,Bedeutsamkeit'8 im Sinne einer offenen Bedeutung zu generieren oder das dem audio-visuellen Spektakel inhärente exzessive Moment subversiv zu nutzen, vollzieht Pearl Harbor immer wieder eine semantische Schließung, die sich am Ende auch auf der Ebene der Narration manifestiert. In genau dieser Doppelung zeigt sich Kinopathos in seiner bekanntesten zeitgenössischen Form, der Form jener Hollywoodfilme, für die Pearl Harbor hiet einstehen soll: als ideologischer Mechanismus, der sinnenbetäubende Spektakelbilder für seine Zwecke zu nutzen weiß.

1. Die blutende Nation Pearl Harbor erzählt die Geschichte des Freundespaares Danny (Josh Hartnett) und Rafe (Ben Affleck), die der Prolog des Films mittels einer Szene aus ihrer Kindheit einführt. Einige Jahre später: Nach der Ausbildung zum Kampfpiloten beschließt Rafe, als Freiwilliger in Europa zu kämpfen, wo inzwischen der Krieg ausgebrochen ist. Er lässt nicht nur Danny zurück, sondern auch die Krankenschwester Evelyn (Kate Beckinsale), die er inzwischen kennen- und 6

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Ausführlich habe ich diesen Mechanismus in meiner Dissertation entwickelt, ausgehend vom pathos als Überzeugungsmittel der antiken Rhetorik und unter Einbezug von Roland Barthes' Überlegungen zum .Mythos' und zur .Rhetorik des Bildes'. Wie der Barthes'sche Mythos beruht das pathetische Zeichen auf einer inhärenten Doppelstruktur. Vgl. Christian Schmitt, Kinopathos. Groß Gefühle im Gegenwartsfilm, Berlin 2009. Aufgrund ihrer spezifischen Medialität stehen Filmen, um pathetisch zu artikulieren, eine Vielzahl von Zeichensystemen zur Verfugung, so dass eine Untersuchung filmischer Pathetik sich die Frage zu stellen hat, welche Art von Artikulationen Filmen, im Unterschied zu Texten, möglich ist und welche Rolle etwa Musik, Bild und Dialog bei der pathetischen Semiose spielen. Die spezifischen „Sinn-Sinne-Konstellationen" (71), wie sie das filmische Medium ermöglicht, hat etwa Jochen Hörisch, Oer Sinn und die Sinne. Eine Geschichte der Medien, Frankfurt a.M. 2001, prägnant beschrieben. Vgl. zum Begriff der .Bedeutsamkeit' die Überlegungen von Peter Christoph Kern, „Pathos. Vorläufige Überlegungen zu einer verpönten Kommunikationshaltung", in: Texttyp, Sprechergruppe, Kommunikationsbereich. Festschrift för Hugo Steger, hg. von Heinrich Löffler u.a., Berlin 1994, S. 396-411. Kern entwickelt ein äußerst produktives Modell der pathetischen Semiose, das meinen Überlegungen zugrunde liegt; allerdings berücksichtigt er die Spezifität des filmischen Mediums nicht.

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lieben gelernt hat. Während Rafe in England heldenhaft kämpft, werden Danny und Evelyn nach Hawaii versetzt, wo sie die Nachricht vom Tode Rafes erreicht. Aus der gemeinsamen Trauer der beiden Hinterbliebenen entsteht eine neue Liebe, die problematisch wird, als der totgeglaubte Rafe auf Hawaii eintrifft und sich von Freund und Frau verraten fühlt. Die Situation wird insofern aufgelöst, als nun der Überfall auf den Pearl Harbor stattfindet und eine lange Sequenz einleitet, in der Danny und Rafe gemeinsam ihren Mut unter Beweis stellen, wenngleich ihre waghalsigen Flugmanöver die Katastrophe nicht verhindern können. Als Reaktion auf den Angriff der Japaner, dem unter anderem ein komplettes Schiff - die USS Arizona, mitsamt ihrer Besatzung - zum Opfer fällt, planen die Militärstrategen der Regierung einen Gegenschlag, der Tokyo treffen soll und als Selbstmordkommando angelegt ist. Rafe und Danny kämpfen wiederum Seite an Seite, doch Danny überlebt den Einsatz nicht. In zwei abschließenden Sequenzen zieht der Film zunächst ein Fazit der Ereignisse, um dann noch einmal in einem Epilog, der die Motive des Prologs aufgreift, das Idealbild der glücklichen Familie - Rafe, Evelyn und Danny junior - heraufzubeschwören. Der pathetische Mechanismus ist in Pearl Harbor durchwegs zu beobachten. Besonders deutlich lässt er sich an einer zentralen Szene ablesen, die kurz nach dem Angriff der Japaner im hawaiianischen Krankenhaus spielt: Rafe und Danny haben sich dazu bereit erklärt, Blut zu spenden. Und diese Blutspende fließt, offenbar in Ermangelung anderer Möglichkeiten, in Coca-Cola-Flaschen. Die einzelne Einstellung enthält die doppelte Figuration der pathetischen Semiose in a nutshell·. Das Bild der Flaschen erinnert an ein Stilleben und ist als Großaufnahme von einer eindringlichen Materialität bestimmt; das durch die Schläuche rinnende Blut bringt ein eindringlich visuelles Moment ins Spiel. Auf der anderen Seite enthält dasselbe Bild schon jene Zeichen, welche die sinnliche Dimension in einen sinnvollen Diskurs überführen. Die Blutspende der beiden Freunde wird so augenfällig zum Akt der Aufopferung für das gesamte Vaterland - und dieses Vaterland ist präsent im banalen und alltäglichen Zeichen der CocaCola-Flaschen, vielleicht dem naheliegendsten und in globalisierten Zeiten verständlichsten Zeichen der »Amerikanizität'. Mehr noch: Der abstrakte Begriff der Nation wird in diesem Bild mithilfe der alltäglichen Dinge präsent gemacht— so wie zugleich das Opfer konkretisiert wird. Bemerkenswert ist dabei auch die realistische Motivierung der Flaschen, und diese Motivierung durch den Rahmen der Narration fungiert als zusätzliches Alibi: Im Chaos der Situation muss man eben auf das zurückgreifen, was gerade vorhanden ist; man muss improvisieren. An der pathetischen Semiose haben in der Sequenz noch andere Zeichen teil. Zeitgleich segnet ein Priester im Nebenraum einen Sterbenden, und der Film montiert beide Geschehnisse parallel. Dergestalt unterliegen auch die Segnungsworte der Szene der Blutspende und fugen dem Geschehen religiöse Konnotationen hinzu. Dass der Sterbende durch eine blutverschmierte Scheibe — im point of view von Danny und/oder Rafe - zu sehen ist, rückt wiederum die sinnliche Dimension des Geschehens in den Fokus der Aufmerksamkeit. Doch dieser Verweis auf die Bedingungen des Sehens steht hier nicht im Dienste einer distanzierenden Funktion. Es verhält sich vielmehr genau wie vorher bei jenen Szenen im Krankenhaus, die in einer Parallelmontage mit den Kriegsspektakeln im Pearl Harbor verschränkt waren und wie die Kriegsspektakel selbst vor allem dazu da waren, um gesehen zu werden und zu beeindru-

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cken. Die Schauwerte der verwundeten, taumelnden Gestalten, die der Film durch den grauen, schlierigen Schleier eines Filters zeigt, sind wichtiger als kritische Dimensionen - im Falle der Blutspende wird dieser Schauwert von den Worten des Priesters sogleich kontrolliert auf ein christliches Märtyrerpathos verpflichtet: „Remember, pain is temporary, but glory is forever." Dem Schmerz, den die bewegten Bilder ausdrücken mögen, wird der Ruhm als überzeitlicher Wert entgegengestellt. Dieselbe Funktion erfüllt die Szene im Nebenraum hinsichtlich der Blutspende von Danny und Rafe. Die Vergänglichkeit des filmischen Mediums selbst kann das alles nur beglaubigen, denn tatsächlich folgen auf die Bilder des Schmerzens und Leidens andere Bilder: Bilder des Ruhms. In dieser Weise ist hier auch die Montage noch einmal in die Dynamik der pathetischen Semiose eingebunden.

2. Die gelähmte Nation Man mag dem Bild der blutspendenden Protagonisten darüber hinaus auch ein Moment der Passivität ablesen, das der Film immer wieder ausgestaltet und durchweg kritisch perspektiviert.9 Im Grunde ist diese (erzwungene) Passivität — und die Reaktion darauf — der eigentliche narrative Motor des Films, und sie dient insbesondere zur Charakterisierung der amerikanischen (Opfer-)Rolle. Besonders deutlich wird das in zwei Sequenzen, welche die ,Lähmung der Nation' nach dem erlittenen Angriff ganz wörtlich als Lähmung zeigen, somit auf einen Begriff bringen und dabei zugleich auf jene sinnlichen Evidenzeffekte zurückgreifen, um die es mir hier in erster Linie geht.10 Anschaubar wird die (abstrakte und konfuse) nationale Situation in Form einer Szene, in der Präsident Roosevelt als (naheliegender) Repräsentant füngiert. Trotz seiner Lähmung - die der historische Roosevelt tatsächlich, man beachte die realistische Motivierung, infolge einer neurologischen Erkrankung zu erleiden hatte - erhebt sich dieser Präsident aus seinem Rollstuhl, und das gleich zweimal.11 Der Film inszeniert diese Aktion als bedeutsamen Akt 9

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Als Ausdruck einer dem Film eingeschriebenen latenten homosexuellen Dimension, die immer wieder gekontert werden muss, hat Claudia Liebrand dieses Moment zu fassen versucht. Vgl. Claudia Liebrand, „Hitlers Hintern. Liebe, Krieg, Penetration in Michael Bays Pearl Harbor (2001)", in: Dies., GenderTopographien. Kultunvissenschaflüche Lektüren von Hollywoodfilmen der Jahrhundertwende, Köln 2003, S. 161-196; zur ,Blutspendeszene' v.a. S. 190. Auf solche Evidenzeffekte (und ihr Überzeugungspotenzial im Sinne des Überzeugungsmittels pathos) reflektieren mit dem Begriff der evidentia bereits die antiken Rhetoriker. Vgl. dazu A. Kemmann, „Evidentia, Evidenz", in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. von Gert Ueding, Bd. 3, Tübingen 1996, S. 33-47. Als sinnliches rAlibi' liegt der Evidenzeffekt auch dem Barthes'schen Mythosmodell zugrunde. Hier verdankt sich die „Evidenz" (S. 43) dem ersten Zeichen in der für den Mythos konstitutiven Doppelstruktur, das zum Signifikanten eines zweiten Zeichens wird. Ideaüter ist das erste Zeichen dabei ein Ikon - wie es die Überlegungen Barthes' zur Fotografie als Botschaft nahelegen. Roland Barthes, Mythen des Alltags, Frankfurt a.M. 1964. Vgl. auch Roland Barthes, „Die Fotografie als Botschaft", in: Ders., Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III, Frankfurt a.M. 1990, S. 11 -27. Das erste Mal vor dem Kongress (2:02:00); das zweite Mal vor der kleineren Beraterrunde (2:06:00).

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und ermöglicht somit ihre Übertragung auf die nationale Situation. Der pathetische Mechanismus zeigt sich in der Verwendung eines einprägsamen Bildes, genauer einer ,Szene', wie wir sie auch aus antiken Rhetoriken kennen.12 Der gelähmte Präsident, der sich aus seinem Rollstuhl erhebt, liefert die sinnliche Evidenz für die damit verbundene Aussage, die der Film gleichzeitig mitliefert: „Do not tell me it can't be done." Was der Präsident an dieser Stelle mit Wort und Gestik vorführt, hatte der Film zuvor schon mit seinen eigenen Mitteln erreicht, den Mitteln der Parallelmontage. Geschickt wurden dabei zwei Arten von Bildern verkoppelt, zwischen denen die Narration hin und her springt. Auf der einen Seite stehen Bilder, die mit sinnlicher Wucht dem erfahrenen Leid Ausdruck verleihen, etwa eine blutverkrustete Schüssel im Krankenhaus. Für sich selbst bedeuten diese Bilder wenig genug. Kommentiert werden sie hier weder von einer Aufschrift im Barthes'schen Sinne,13 noch von Indices, die dem Bild selbst inhärent wären, sondern von den parallel montierten Bildern der großen Politik: Während Präsident Roosevelt den Eintritt der Vereinigten Staaten in den Weltkrieg erklärt (wiederum stehend), liefern parallel dazu die Bilder von blutigen Einzelheiten die Legitimation dafür. Und diese Bilder leben von sinnlich-spektakulären Qualitäten. Es lohnt durchaus, diese Verkettung im Einzelnen zu betrachten: Die Sequenz beginnt mit dem Tod jener Männer, die noch im Rumpf des Schiffes Arizona eingeschlossen sind. Zu sehen ist nicht dieser Tod selbst, sondern der Film zeigt (indexikalisch) die Hände der Eingeschlossenen, die sich hilfesuchend ihren Rettern entgegenstrecken. Doch es ist zu spät: Die Öffnung des Schiffes gelingt nicht. Die Schauwerte der Szene werden dabei bereits von Konnotationen der Kameradschaft überlagert, die sich in den einander greifenden Händen manifestieren. Die folgende Einstellung ist als unmittelbare Reaktion darauf zu lesen: Ein Fuß berührt den Boden. Die nächsten Einstellungen schneiden zwischen der Verzweiflung der Helden und dem sich aus dem Rollstuhl erhebenden Präsidenten hin und her. Wieder ist es eine Hand, die Roosevelt gereicht wird, um ihn beim Aufstehen zu unterstützen. Die Hände der Opfer erlahmen dagegen in Bewegungslosigkeit. Nicht so der gelähmte Präsident: Er tritt vor die Augen und Kameras der Presse und beginnt zu spre12

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Quintilian und Cicero berichten etwa vom Fall des Konsuls Manius Aquilius, den sein Verteidiger, der Redner Antonius, am Ende seiner Rede dazu auffordert, den Richtern seine Wunden zu zeigen (vgl. Quint. II 15,7). Ein anderer berühmter Fall dieser Art ist der Prozess der Hetäre Phryne, die mit .nackten Tatsachen' die Richter von ihrer Unschuld überzeugt (vgl. Quint. II 15, 9). In seinem Aufsatz zur Fotografie als Botschaft (der Überlegungen seiner umfassenderen Rhetorik des Bildes variiert) führt Roland Barthes eine ganze Anzahl von Verfahren an, mittels derer das fotografische Analogon (ein Ikon) konnotiert werden kann, darunter eben die Aufschrift. Die Dynamik, die Barthes dem fotografischen Bild zugesteht, ist auch für die pathetische Artikulation grundlegend - deswegen gelingt Pathos so gut ,im Bild'. Im Falle der .Aufschrift' ist die doppelte Struktur auf zwei unterschiedliche Medien (Bild und Schrift) verteilt, was aber nicht zwangsläufig der Fall sein muss. Vgl. Roland Barthes, „Fotografie als Botschaft" sowie „Rhetorik des Bildes", in: Ders., Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn. Kritische Essays III, Frankfurt a.M. 1990, S. 28-46. Die These, dass Pathos heutzutage ,nur noch im Bild' gelänge, hat jüngst (ohne das genauer auszuführen) Norbert Bolz formuliert: Norbert Bolz, Sebastian Brants, Christina von Braun und Christian Petzold, „Wohin mit dem vielen Gefühl?", in: Pathos. Verdacht und Versprechen (= Ästhetik & Kommunikation 35, H. 124), 2004, S. 38-41, hier: S. 41.

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chen: „Yesterday, December 7, 1941, a date which will live in infamy, the United States of America was suddenly and deliberately attacked by naval and air forces of the Empire of Japan." Noch während er spricht, überfuhrt der Film diese Rede in das Medium des Radios, dem die Helfer und Helden der Schlacht lauschen. Auf diese Weise wird die Parallelmontage wiederum realistisch motiviert. Diese Helferbilder zeigen schwelende Feuer, dunkle Rauchschwaden, zerfurchte und geschwärzte Gesichter — und sind dergestalt auf ihre spektakuläre Dimension festgelegt. Wir sehen im Wasser treibende Leichenhaufen, die von einem Priester gesegnet werden, und ein Fischernetz, aus dem Gesichter und Hände von Leichen hervorragen, während als voice over immer noch die Stimme des Präsidenten zu hören ist („I regret to tell you that over 3000 American lives have been lost."). Die entscheidende Botschaft des Präsidenten schließt daran an und geht dem Bild aus dem Krankenhaus voraus: „No matter how long it may take us to overcome this premeditated invasion, the American people in their righteous might will win through to absolute victory." Die elegische Musik, die der gesamten Sequenz unterlegt war, schwillt in diesem Moment zu voller Lautstärke an, während ein Schnitt zu einem Bild überleitet, das wiederum die abstrakten Worte sinnlich evident macht: Die Hand einer weißen Frau legt sich auf die Hand eines schwarzen Mannes. Die nun folgende Kriegserklärung des Präsidenten kann folglich nur noch bejubelt werden. Die Sequenz fuhrt nicht nur die für das Pathetische entscheidende Dynamik von sinnlich eindrucksvollen Bildern und sinnvollem Diskurs vor Augen.14 Für diese gilt, dass die visuellen und auditiven Spektakel, die Pearl Harbor bietet, nicht dazu da sind, um als Attraktionen betrachtet zu werden, sondern sie werden von den pathetischen Artikulationen, in die sie eingebunden sind, immer wieder auf einen sinnvollen Diskurs verpflichtet — und dienen diesem zugleich als Evidenzlieferant. Darüber hinaus lassen sich der Sequenz noch zwei weitere Aspekte des pathetischen Mechanismus ablesen, die mit dem genannten eng verbunden sind. Das Motiv der Lähmung weist darauf hin, dass die pathetische Artikulation (zweitens) immer wieder eine Brücke von lähmender Passivität zu befreiender Aktion schlägt. Im Grunde folgt in Pearl Harbor die gesamte narrative Makrostruktur diesem Trajekt: Auf das erlittene Leid beim Überfall der Japaner, den großen Mittelteil des Films, folgt die Vergeltungsaktion als heldenhafter Akt des Widerstandes, ein abschließender Teil, der von 14

In seiner Lektüre von Roland Emmerichs Independence Day (USA 1996) beschreibt Oliver Jahraus ganz ähnliche Mechanismen des Ineinandergreifens von Bild und einer im Film gezeigten Rede, die er als Beleg für die Plausibilität einer genuinen Filmrhetorik wertet. Auch in diesem .Blockbuster' werden „Bilder der Zerstörung genutzt, um ihren ästhetischen Reiz in eine weitergehende persuasive Struktur einzubinden" (S. 22). Genauer leistet in der von Jahraus analysierten Szene die intradiegeüsche Rede eine „minimale Verbalisierung dessen [...], was die Bilder schon längst ausgedrückt haben" (S. 24). Bezeichnenderweise fällt das Wörtchen .pathetisch' dabei an keiner Stelle, so dass mein Modell des pathetischen Mechanismus weitaus präziser in der Lage ist, anzugeben, was in solchen Szenen genau passiert. Trotz seines Anspruchs, „genau auf die Medienspezifik persuasiver Strukturen zu achten" (S. 14), macht Jahraus nicht recht deutlich, worin die spezifische Leistung von Bildern in solchen persuasiven Strukturen bestehen kann. Vgl. Oliver Jahraus, „Bild-Film-Rhetorik. Medienspezifische Aspekte persuasiver Strukturen und die Eigendynamik einer bildgestützten Konzeption von Filmrhetorik", in: Rhetorik und Film, hg. von Hans-Edwin Friedrich, Tübingen 2007 (= Rhetorik, Bd. 26), S. 11-28.

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der Kritik oft als überflüssiger Appendix wahrgenommen wurde, aber in der Logik des Films Sinn macht. Drittens schließlich bezieht die pathetische Artikulation das Individuelle (die Lähmung des Präsidenten) auf einen größeren Rahmen (die Lähmung der Nation) - und macht ein Abstraktum auch dergestalt noch einmal evident.

3. Prolog, Epilog: Widersprüche und Schließungen In der diskutierten Sequenz sind es vor allem die kommentierenden Worte, welche die sinnlichen Bilder auf Sinn verpflichten, und das gilt noch in gesteigertem Maße für jenen ersten Epilog, der mit Überdeutlichkeit noch einmal den gesamten Film in diese Perspektive einrückt und seine semantische Schließung vorbereitet. Der Epilog kommentiert mithilfe eines voice overs den gesamten Film und insbesondere die vorausgehende Vergeltungsaktion der Amerikaner, deren Opfer (darunter auch Danny) er rechtfertigt. Zugleich wird er selbst durch einen zweiten Epilog ergänzt und beglaubigt, der das Resultat im privaten Rahmen zeigt — und damit die abstrakte Weltgeschichte wieder auf den über- und anschaubaren Boden der familiären Konstellation zurückführt. Der Kernsatz dieses ersten Epilogs ist hinreichend deutlich: „America suffered, but America grew stronger" — das ist die schon angesprochene Figuration der Passivitäts- und Leidensüberwindung. Ihre Evidenz erlangt die abstrakte Aussage mithilfe verschiedener Techniken. Erstens ist die Stimme des voice overs mit der Stimme von Evelyn identisch. Zweitens wird dieses ^Amerika' insofern konkretisiert, als die gezeigten Protagonist/-innen noch einmal deutlich als Vertreter/innen einzelner Bevölkerungsgruppen erkennbar werden. Als deren Repräsentanten nehmen sie die militärischen Auszeichnungen in Empfang: Dorie Miller fur die afroamerikanische Bevölkerung; Evelyn für die Frauen; Rafe fur die Männer.15 Auch einzelne filmische Techniken stehen im Dienste der pathetischen Semiose, die das Individuelle auf den nationalen Rahmen zu projizieren sucht, sei es mithilfe von unzähligen Flaggen, sei es mithilfe von Zeitlupen und Froschperspektiven, welche die überindividuelle Größe der Heldenfiguren ganz traditionell in Bilder übersetzen. Am Ende steht dann eine an Titanic gemahnende Kamerafahrt in das Wrack jenes Schiffes, das der Film als Repräsentationsobjekt aller (amerikanischen) Kriegsopfer wählt: die USS Arizona. Wer das Gehörte immer noch nicht glauben mag, dem zeigen hier wiederum die Bilder, worum es geht. Die sinnliche Präsenz des Schiffes, die von der Kamerafahrt hier evoziert wird, beglaubigt die Aussage auf der Tonspur auf kaum zu überbietende Weise. Und der Name des Schiffes kann auf ebenso einleuchtende und synekdochische Weise für das große Ganze der Nation stehen, wie es am Anfang des Films die Ortsangabe ,Tennessee' tut.16

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Die political correctness der Jahrtausendwende erfordert hier offensichtlich den Einbezug möglichst vieler ethnischer und geschlechtlicher Facetten - obwohl zuvor eigentlich lediglich die weißen Männerfiguren einigermaßen Beachtung gefunden hatten.

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Die Tatsache, dass der gesamte Film zunächst auch diesen Titel tragen sollte, bestätigt die synekdochische Lesart zusätzlich.

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Zu diesem Anfang schlägt der zweite Epilog, der auf die Bilder des Schiffswracks folgt, auch über diese Namensparallele einen Bogen. Er verzichtet nun aber auf kommentierende Worte, sondern überlässt die Arbeit allein den Bildern und Tönen. Wir befinden uns wieder in jenem Setting, mit dem der Film eröffnet hatte. Der voice ow-Kommentar der vorhergehenden Szene hatte mit den Worten geendet: „The times tried our souls, and through the trial we overcame." Mit dem Einsatz des musikalischen Themas vom Anfang fuhrt die nächste Einstellung nun das Ergebnis dieser Anstrengung in Zeitlupe vor Augen: ein Kind, der Sohn von Danny/Rafe und Evelyn, steht inmitten von Blumen und wird von seinen Eltern, die die nächste Einstellung zeigt, dabei beobachtet. Erst ein re-establishing shot einige Einstellungen später zeigt, wobei es sich bei diesem Blumenfeld handelt: Es ist das Grab des leiblichen Vaters Danny, auf dem der Junge herumläuft. Die Totale zeigt nun auch den Ort des Geschehens und stellt den Zirkelschluss zum Anfang des Films her. Die kleine Familie befindet sich auf genau jener Farm, wo alles begonnen hatte. Der Film endet mit einem gemeinsamen Flug von (Adoptiv-) Vater und Sohn in der Abenddämmerung, in goldenen Bildern inszeniert, die Harmonie und Glück zum Ausdruck bringen. Das Flugzeug wird, nach all den Vernichtungsspektakeln, abschließend noch einmal als ästhetisches Objekt zelebriert, das die Gemeinschaft von Vater und Sohn ermöglicht. Obgleich ein Generationenwechsel stattgefunden hat, hat sich eigentlich nichts geändert. Das Kriegstrauma von Dannys Vater, von dem im Prolog die Rede war, wird nicht wieder aufgegriffen; Rafe hat offensichtlich kein solches zurückbehalten. Wenn der Epilog des Films den Prolog thematisch wie ikonografisch wieder aufgreift, so weist das auf einen strukturellen Faktor hin, der dem Film auch in semantischer Hinsicht eingeschrieben ist. Von der Narration her gesehen vollzieht diese letzte Sequenz eine strukturelle Schließung in Form eines happy end. Damit einher geht eine Anzahl von semantischen Schließungen, die das Resultat der pathetischen Semiose sind. Deutlich wird dabei die Rolle pathetischer Artikulationen bei der Bearbeitung semantischer Widersprüche, die sich aus unterschiedlichen Konnotatoren zwangsläufig ergeben. Die ideologische Funktion des Pathetischen wird von hierher noch einmal greifbar in Form jener ,letzten axiologischen Konnotation', die Umberto Eco als Ideologie definiert.17 Bereits das Flugzeug, von dem schon die Rede war, unterliegt dieser Dynamik, wenn es im Epilog all jener negativen Konnotationen entledigt wird, die im Film eine Rolle gespielt hatten. Im Prolog hatte das Spiel der Kinder das Kampfgerät in ein Spielobjekt verwandelt; der Epilog löst den Widerspruch, dass Flugzeuge gut (Objekt des Abenteuers) aber auch schlecht (Vernichtungsmaschinen) sein können - ein Widerspruch, der sich sogar in identischen Bildkompositionen niederschlägt - , zugunsten der ersten Bedeutung auf, mithilfe seiner Einbindung in die pathetische Semiose, die die sinnliche Evidenz gleich mitliefert. Ganz ähnlich funktioniert das für die Figur des Vaters, die im Prolog noch äußerst ambivalent geblieben war und im weiteren Verlauf verschiedene Reformulierungen erlebt. Am problematischsten ist wohl die Aufspaltung in zwei Vaterfiguren, wie sie sich im Film ergibt. Die erste Auflösung dieser Spannung — Familien mit zwei Vätern sind nicht denkbar und 17

Vgl. Umberto Eco, Einführung in die Semiotik, München '2002, S. 168.

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subvertieren tendenziell den Wert der Familie überhaupt — vollzieht Pearl Harbor in jener Sequenz, die vom Tode Dannys erzählt. Pathetisch artikuliert, inszeniert der Film hier eine symbolische Übergabe der Vaterrolle von Danny an Rafe. Die Totale des Epilogs enthält die problematische Konstellation dann in einem einzigen Bild und löst sie zugleich auf: Wenn Danny nun nur noch im Zeichen des Grabsteins im Bild anwesend ist, der am rechten Rand zu sehen ist, dann erfährt die problematische Konstellation insofern eine Auflösung, als ein toter zweiter Vater die Kernfamilie der linken Bildhälfte nicht mehr wirklich stören kann. Im Gegenteil: Über das Gedenken konstituiert sich eine neue Familie. Um es schärfer zu formulieren: In der Logik des Films muss Danny sterben, damit die Kernfamilie leben kann. Damit aber machen die letzten Bilder des Films auch noch einmal sinnfällig alle anderen Opfer des Kriegsgeschehens zu sinnvollen Opfern. Die pathetische Artikulation ist das entscheidende Bindeglied, um solche Synthesen widersprüchlicher Aussagen herzustellen. Die wichtigste dieser Synthesen bringt schon das voice over des ersten Epilogs zum Ausdruck, während die Bilder des zweiten Epilogs dann das gleiche noch einmal in den Termen der erneuerten Familie reformulieren: Einerseits ist r Amerika nicht mehr dasselbe'. Andererseits zeigen die Bilder, dass eigentlich sehr wohl noch alles beim Alten ist, die alten Werte sind weiterhin gültig. Als Lösung und Bindeglied fungiert die Idee der Läuterung. Der Krieg wird als Prüfung gedeutet, die es zu erdulden gilt, um die alte Ordnung zu bewahren. In den letzten Bildern des Films gibt sich der Reaktionismus dieses filmischen Entwurfs mit aller Deutlichkeit zu erkennen, während die Evidenz der Bilder der Aussage sinnfällig Gestalt verleiht. Der Tod von Danny war nicht sinnlos, sondern sinnvoll: ein Opfer, ohne das die Dreierkonstellation, die das Bild zeigt, gar nicht möglich gewesen wäre. Analog dazu war das Leiden all der anderen notwendig, damit die Nation wie Phönix aus der Asche wiederauferstehen kann.

4. Und Action! Kino der A(ttra)ktionen Die Beobachtungen zum Film Pearl Harbor lassen sich an dieser Stelle engführen mit einer Reflexion auf das Genre des Films. Im Grunde ist die Kategorie des Spektakulären, die in der Diskussion um eine spezifisch postmoderne Filmästhetik eine so prominente Rolle spielt, insbesondere dem Genre des Actionfilms inhärent. Und in dem Maße wie sich spektakuläre Effekte in Pearl Harbor in den Vordergrund drängen, wäre der Film in erster Linie als Vertreter dieses Genres anzusprechen. ,Action', das kann im Grunde zweierlei bedeuten: Auf der einen Seite leitet sich das Genre aus jener Frühzeit eines ,Kinos der Attraktionen' ab, „das die Ausstellung von Schauwerten über das Erzählen von Geschichten stellt".18 Der Attraktionswert des Gezeigten betrifft dabei insbesondere das Moment der Bewegung und ist mit den Nummern im Sinne des Varietés vergleichbar. Ob es sich um 18

Michael Gruteser, „Actionfilm", in: 13-15, hier: S. 13.

2 2007,S.

Reclams Sachlexihon des Films, hg. von Thomas Koebner, Stuttgart

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Explosionen handelt, die Bewegung von Fahrzeugen oder den Körper in akrobatischer Aktion: ,Action' entspricht in dieser Perspektive jenen Attraktionen, die Sergej M. Eisenstein für das Theater (und dann auch für den Film) als eigenständige und -wertige Einheiten zu entwickeln versucht hat, um den Primat der Handlung, wie ihn die abendländische Theatertheorie (und -praxis) seit Aristoteles festschreibt, mindestens zu relativieren. Eisenstein ist demgegenüber stärker an der Wirkungsdimension von Theater und Film interessiert, und seine Definition der .Attraktion' führt daher direkt zu den pathos-Definitionen der antiken Rhetorik zurück.19 Bei einem reinen Wirkungselement bleibt die Definition - im Unterschied zu dem so ähnlich gelagerten ,Theater der Grausamkeit' von Antonin Artaud, das hier im Attribut .aggressiv' anklingt - allerdings nicht stehen: Eine Attraktion (bezogen auf das Theater) ist jedes aggressive Moment des Theaters, das heißt jedwedes seiner Elemente, das den Zuschauer einer sinnlichen oder psychologischen Einwirkung aussetzt, welche ihrerseits experimentell erprobt und mathematisch auf bestimmte emotionale Erschütterungen des Rezipierenden hin durchgerechnet wurde, wobei diese in ihrer Gesamtsumme einzig und allein die Möglichkeit einer Wahrnehmung der ideell-inhaltlichen Seite des Vorgeführten — der letztendlichen ideologischen Aussage - bedingen. (Der Weg der Erkenntnis ,über das lebendige Spiel der Leidenschaften' ist für das Theater spezifisch.)20 Und für den Film, möchte man hinzufügen. Eisenstein geht es also keineswegs um eine reine Spektakularität, sondern er unterstellt die Attraktion der Ideologie. Je stärker die Wirkung, desto besser geeignet ist die Attraktion, um die ideologische Botschaft ,an den Mann' (oder die Frau) zu bringen. Eisensteins Überlegungen nehmen im Grunde schon das vorweg, worum es mir hier im Falle von Pearl Harbor vor allem geht, wenn sie das spektakuläre 19

Vgl. zum pathos als rhetorischem ,Überzeugungsmittel' Rainer Dachselt, Pathos. Tradition und Aktualität einer vergessenen Kategorie der Poetik, Heidelberg 2003. An einer Verbindung von Rhetorik und Film versucht sich Helmut Schanze, „Pathos. Zur Rhetorik des Films", in: Mit allen Sinnen. Gefühl und Empfindung im Kino, hg. von Susanne Marshall und Fabienne Liptay, Marburg 2006, S. 272-280. Seine Überlegungen bleiben aber — sowohl was den Pathos-Begriff der Rhetorik als auch was dessen Übertragbarkeit auf den Film angeht - einigermaßen vage und sind offenbar eher als Aufruf zu verstehen, eine die pathos-Dimension der Rhetorik berücksichtigende Filmrhetorik zu etablieren (vgl. S. 280), denn als eigenständiger Vorstoß in eben diese Richtung.

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Sergej M. Eisenstein, „Montage der Attraktionen", in: ders., Jenseits der Einstellung. Schriften aytr Filmtheorie, hg. von Felix Lenz und Helmut H. Diederichs, Frankfurt a.M. 2006, S. 9-14, hier: S. lOf. Den Unterschied von Theater und Film bestimmt Eisenstein in einem Aufsatz zur Montage der Filmattraktionen als Unterschied der Mittel, und auch hier geht es ihm darum, die Filmsprache von der Fixierung auf „streng handlungsbezogene[ ] Aufgaben" (S. 16) zu befreien. Vor allem die Möglichkeiten der Montage — genauer: der Montage von Indices — stellt Eisenstein dabei heraus (vgl. S. 17). Durch diese erst wird es möglich, Attraktionen als Summe von einzelnen Einstellungen zu denken, deren Wirkung in der Gesamtheit der Sequenz umso stärker ist. Sergej M. Eisenstein, „Montage der Filmattraktionen", in: Ders., Jenseits der Einstellung. Schriften %ur Filmtheorie, hg. von Felix Lenz und Helmut H. Diederichs, Frankfart a.M. 2006, S. 15-40.

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und das ideologische Moment in ein bestimmtes Verhältnis zu bringen und das eine nicht ohne das andere zu begreifen suchen. Das, was man die erste Disposition zum Pathetischen nennen kann, liegt in Actionfilmen also in der Ausrichtung auf Attraktionen begründet, die (wie in den Analysen bereits gezeigt) ideologisch nutzbar gemacht werden können, indem sie als sinnlicher Evidenzlieferant dienen. Aber auch jenes andere, in der Analyse bereits angesprochene Moment der Aktivität ist dem Genre inhärent. Diese zweite Dimension von ^Action' spricht der bereits zitierte Lexikonartikel unter dem Begriff der „zu erwartende[n] Aktion" an.21 Tatsächlich bringt der deutsche Begriff ,Aktion' zum Ausdruck, dass Action immer auch mit Handeln zu tun hat. Aufschlussreich ist hier der kurze Seitenblick auf jene audio-visuellen Spektakel, die Gilles Deleuze in seiner Taxonomie des Filmbilds als „rein optische und akustische Bilder"22 im europäischen Kino der Nachkriegszeit entdeckt und als Beleg für einen kinematografischen Paradigmenwechsel zu profilieren sucht. Mit dieser Form von ,Zeitbildern' haben die Spektakel des Actionfilms, wie wir ihnen in Pearl Harbor begegnen, im Grunde nicht viel zu tun. Bei diesen Bildern werde, so Deleuze, „die Aktion von einem Kino des Sehenden ersetzt".23 In einem solchen, wie es Deleuze in Filmen des italienischen Neorealismus zu finden meint, sind beeindruckende Bilder in erster Linie dazu da, um gesehen (bzw. Töne/gehört) zu werden — und nicht darauf angelegt, zu Aktionen zu führen, sich in diesen fortzusetzen.24 Gerade letzteres ist aber beim Actionfilm der Fall, der somit auf der anderen Seite, der Seite des ,Aktionsbildes', zu stehen kommt. Eine Unterform dieses Bildtypus, den Deleuze im ersten seiner Kino-Bücher beschreibt, zeichnet sich dadurch aus, dass eine Situation zu einer Aktion führt, die ihrerseits eine neue Situation zur Folge hat. Aktionsbilder inspirieren in diesem Sinne „ein Kino des Verhaltens"25, und die Figuren, denen wir in diesen Bildern begegnen, sind gleichermaßen wahrnehmende Figuren wie agierende. Deleuze spricht in diesem Zusammenhang auch vom ,sensomotorischen Schema', ein Begriff, der die in diesem Bildtypus angelegte Koppelung von Sinnesreiz und Bewegungsimpuls zu fassen sucht. Das Aktionsbild enthält immer beides: ,,[E]inerseits muß die Situation den Protagonisten unaufhörlich und in jeder Faser durchdringen, und andererseits muß die ganz von der Situation geprägte Gestalt in unregelmäßigen Abständen ,agieren', das heißt in Handlung ausbrechen".26 Genau in dieser Doppelung wird man leicht das Konstruktionsprinzip von Actionfilmen im Allgemeinen und Pearl Harbor im Besonderen erkennen. Wenn der Film einerseits, wie in den Schlachtszenen, mit visuellen und akustischen Attraktionen arbeitet, so bleiben diese andererseits doch immer auf die Aktionen der Protagonisten bezogen. Sie sind zudem in der Großstruktur des Films verankert, die ebenfalls ganz deutlich das Reiz-Reaktions-Schema ausgestaltet: Die Bombardierung des Perlenhafens bedingt letztlich den Vergeltungsschlag gegen die Japaner. Die 21 22 23 24 25 26

Gruteser, Actionfilm, S. 13. Gilles Deleuze, Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt a.M. 1997, S. 29. Ebd., S. 22. Vgl. Deleuze, Zeit-Bild, S. 12. Gilles Deleuze, Das Bemgungs-Bild. Kino 1, Frankfurt a.M. 1997, S. 211. Ebd., S. 211.

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spektakulären Bilder der Actionfilme setzen sich in Aktionsbildern fort und beharren so stets darauf, dass es möglich ist zu handeln, zu agieren. Die Attraktionsbilder des Actionfilms sind immer auch Aktionsbilder - und in dieser Ausrichtung auf Aktionen liegt dessen zweite Disposition zum Pathetischen begründet.

5. Das Pathos der Postmoderne Die Diskussion des postmodernen Kinos hat sich in auffälliger Weise an der Differenz von Spektakel und Narration orientiert, die sich allerdings - so legen es die Überlegungen zum Zusammenhang von Aktion und Attraktion schon nahe — nicht in solcher Deutlichkeit ziehen lässt, wie es manche Kritiker gerne hätten. 27 Der Blick auf diese Diskussion gestattet es an dieser Stelle, eine These über die Rolle pathetischer Mechanismen im Rahmen einer postmodernen Ästhetik zu formulieren. Um ,den postmodernen Film' auf den (stilistischen) Punkt zu bringen und von seinen Vorgängern abzugrenzen, wurde insbesondere die Kategorie des Spektakels stark gemacht. Die amerikanischen Filme der Gegenwart, die oft auch unter dem Schlagwort ,New Hollywood' subsumiert werden, 28 stellen sich in dieser Optik als Teil eines Kinos der Effekte dar, das sich adäquat in eine Kultur integriere, die in ungeahntem Ausmaß erlebnis- und konsumorientiert sei. Und diese Konzentration auf das Spektakuläre gehe einher mit einer Vernachlässigung der (komplexen und elaborierten) Narrationen. 29 Besonders entschieden hat sich Thomas Elsaesser gegen diese Position ausgesprochen und stattdessen auf die Selbstreflexivität aktueller Filme hingewiesen, um einen eher fließenden

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Zum Spektakel als Brennpunkt einer postmodernen Filmästhetik vgl. insbesondere Jens Eder, „Die Postmoderne im Kino. Entwicklungen im Spielfilm der 90er Jahre", in: Oberflächenrausch. Postmoderne und Postklassik im Kino der 90er Jahre, hg. von Jens Eder, Münster 2002, S. 9-61; v.a. S. 18ff. Sowie: Ernst Schreckenberg, „Was ist postmodernes Kino? Versuch einer kurzen Antwort auf eine schwierige Frage", in: Die Filmgespenster der Postmoderne, hg. von Andreas Rost und Mike Sandbothe, Frankfurt a.M. 1998, S. 119-130; v.a. S. 122ff. Für den Begriff ,New Hollywood' im weitesten Sinne (der nicht nur die gleichnamige Bewegung der späten 1960er Jahre umfasst) plädiert Geoff King, New Hollywood Cinema. An Introduction, New York 2002. King wählt den größtmöglichen zeitlichen Rahmen, der von den 1950er Jahren bis heute reicht, und betont, dass es drei Faktoren mitsamt ihrem oft komplexen Zusammenwirken zu beachten gelte: stilistische Merkmale, industrielle Rahmenbedingungen der Filmproduktion und -distribution sowie sozio-historische Kontexte. Eine unterschiedliche Gewichtung dieser Faktoren lässt sich anderen Begriffen ablesen. Konzeptionen eines ,postklassischen' Kinos etwa richten das Augenmerk vor allem auf stilistische Kontinuitäten beziehungsweise Unterschiede, während beim ,Blockbuster' und dem sogenannten ,high concept' die Gegebenheiten der Filmindustrie, der Produktion, Distribution und Vermarktung von Filmen, stärker ins Gewicht fallen. Der Vorteil des Begriffs ,New Hollywood' ist, dass er über eine solche Gewichtung zunächst noch keine Aussage macht, sondern die Inderdependenzen der Faktoren in den Blick zu nehmen geeignet ist. Das Primat der Narration ist bekanntlich ein Kennzeichen des ,klassischen' Hollywoodfilms, wie ihn die einflussreiche Studie David Bordwell, Janet Staiger und Kristin Thompson, The Classical Hollwood Cinema. Film Style and Mode of Production to 1960, London 1991 [zuerst 1985] analysiert und kanonisiert hat.

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Übergang zu begründen. Als Untersuchungsgegenstand dient ihm dabei bezeichnenderweise ein Actionfilm: Die Hard (USA 1988, R: John McTiernan). In seiner luziden .Analyse des Films zeigt Elsaesser auf, dass alle formalen Merkmale des klassischen Hollywoodkinos weiterhin ihre Gültigkeit haben und dass insbesondere der Vorwurf der narrativen Naivität für das Kino der Gegenwart nicht zutrifft.30 Die durchaus festzustellenden Momente des Spektakulären - wie sie paradigmatisch in der Explosion einer gewaltigen Glasfläche zum Ausdruck kommen - versteht Elsaesser als Moment einer Ästhetik der Oberfläche und der semantischen Pluralität, das Ausdruck einer selbstreflexiven Besinnung auf die eigene rhetorische Verfasstheit sei: [W]e have to regard the category of spectacle less in the sense of visual excess, or as indexed by physical violence and spectacular display of technology, and maybe not even as the moments where ,showing' overpowers the (narrative) reason to show. Rather [...] it connotes a different kind of self-display or ,knowingness', a special sort of awareness of the codes that govern classical representation and its genre conventions, along with a willingness to display this knowingness and make the audience share it, by letting it in on the game.31 Elsaesser richtet sich damit insbesondere gegen neoformalistische Positionen, die aufgrund ihrer Fokussierung der Narration alle Elemente eines Films, die sich dieser nicht unterordnen lassen, als deren Gegenpol begreifen.32 Elsaesser dagegen versucht, das Spektakel als Indikator einer narrativen Gewitztheit zu begründen, wie sie die Filme auszeichne. Aber gilt das auch für jene Spektakel des Films Pearl Harbor, die mit pathetischen Artikulationen verbunden sind? Meine Analyse scheint eher auf das Gegenteil zu deuten: Die bisher diskutierten Bilder dienten der pathetischen Semiose lediglich als Material und machten ideologische Aussagen evident. Das hieße dann nichts anderes, als dass die von Elsaesser behauptete „awareness of the codes", wie sie die Filme vor Augen führen, nicht zwangsläufig Teil einer kritischen Einstellung sein muss. Und darüber hinaus auch, dass die für das postmoderne Kino vielbeschworene „Lust an der Überwältigung der Sinne"33 keineswegs jenseits des Sinns steht — selbst wenn das auf den ersten Blick so scheinen mag. Das gilt, wenngleich in anderem Maße, auch für jene Szenen in PearI Harbor, in denen sich eine solche Selbstrefiexivität besonders deutlich zu erkennen gibt: die Liebesszenen. Sie manifestiert sich dort in drei Formen: in Bildern, die der Kategorie des Spektakels durch eine aufdringliche Oberflächlichkeit nahestehen; in vielfältigen intertextuellen Zitaten und Querverweisen; und schließlich, am deutlichsten, in Szenen, die komische Untertöne haben 30 31 32

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Vgl. Thomas Elsaesser, „Classical/Post-Classical Narrative (Die Hard)", in: Warren Buckland und Thomas Elsaesser, Studying Contemporary American Film. A Guide to Movie Analysis, London 2002, S. 26-79. Elsaesser, „Classical/Post-Classical", S. 78. Insbesondere Kristin Thompsons wirkmächtiges Konzept des .cinematic excess' ist hier zu nennen. Kristin Thompson, „The Concept of Cinematic Excess", in: Film Theory and Critirísm. Introductory Readings, hg. von Leo Braudy und Marshall Cohen, Oxford/New York 1999, S. 487-498. Schreckenberg, „Was ist postmodernes Kino?", S. 122.

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- letzteres ein Faktor, der von der Kritik sogar explizit als unerlässlicher Bestandteil der ,Bruckheimer formula' gewertet wurde. 34 Tendenziell wird der pathetische Mechanismus in solchen M o m e n t e n ausgesetzt, und man kann mit Claudia Liebrand vermuten, dass dies ein Ausdruck einer skeptischen Haltung ist, die der Film insgesamt dem Sinn- und Wertehorizont der Liebe entgegenbringt. 35 Genauer gesagt: Solche Liebesszenen müssen d e m Film in d e m Maße verdächtig sein, in d e m sich hier erneut Konnotationen einer lähmenden Passivität einfinden. Eine solche aber lässt Pearl Harbor, wie bereits gezeigt, in keinem Falle gelten, sondern setzt ein Pathos der heldenhaften Aktion dagegen. Während (mindestens heterosexuelle) Liebe d e m Film suspekt bleiben muss — gerade auch weil hier die passiven Tendenzen, das Leiden im Zweifelsfall die Uberhand gewinnen mag —, steht dieses Pathos für ein Wertefeld ein, das v o m Film durchgängig bestätigt wird.

6. Das (Pathetisch-)Erhabene: Bay, Schiller, Lyotard Wenn Actionfilme wie PearI Harbor in der beschriebenen Weise Spektakel und Ideologie, Sinnlichkeit und Sinn zusammenbringen u n d mit der aktiven Überwindung von Leiden kombinieren, so liest sich das wie die adäquate Umsetzung jener Forderung, auf die Friedrich Schiller u m 1800 dramatische Leidensdarstellungen zu verpflichten suchte und deren Nachwirkungen bis heute kaum zu überschätzen sind. Das Paradigma des Erhabenen, das sich in Schillers K o n z e p t des ,Pathetisch-Erhabenen' mit dem Pathos verbindet, erlaubt es an dieser Stelle, abschließend den Z u s a m m e n h a n g von Sinn u n d Sinnlichkeit, der für die pathetische Artikulation im Film so grundlegend ist, noch einmal historisch zu verorten. Das entscheidende M o m e n t dieser Konstellation, die Schiller in verschiedenen seiner ästhetischen Schriften entwickelt hat, fügt d e m Pathetischen etwas hinzu, das bis heute als konstitutiver Bestandteil von Pathos gilt. Anders gesagt: Was in der heutigen Wahrnehmung als pathetisch gilt, ist es zu einem gewissen Grade immer auch — und vielleicht in erster Linie - im Schillerschen Sinne. Das neue M o m e n t besteht in jener Koppelung, die im Begriff des Pathetisch-Erhabenen z u m Ausdruck kommt. Bei dieser Koppelung handelt es sich um eine bestimmte Konstellation von Leiden und einem darauf bezogenen Distanzierungsversuch. 36 Dabei geht es immer u m dargestelltes Leiden, also Darstellungen von Leiden auf der

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Vgl. A.O. Scott, „War Is Hell": „According to the time-tested Bruckheimer formula, each heartfelt utterance must be soothed by a little joke; a moment of light-heartedness must resolve into a muffled choke of pathos." Vgl. Liebrand, „Hitlers Hintern", S. 182: „An das ,echte' Pathos dieser Flugästherik reicht die plagiatsverdächtige Visualisierung des heterosexuellen Liebespaares bei weitem nicht heran." Vgl. auch die treffende, die systemtheoretische Figur eines re-entry aufgreifende Formulierung von Norbert Bolz, „Das Pathos der Deutschen", in: Das Pathos der Deutschen, hg. von Norbert Bolz, München 1996, S. 13-25, hier: S. 13: „Leiden ist unterschieden von Freiheit. Sobald man aber nun diesen Unterschied Leiden versus Freiheit in eines der Unterschiedenen, nämlich Leiden, hineinkopiert, hat man es mit Pathos zu tun."

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Bühne, und dies natürlich insbesondere im Rahmen der Tragödie. Schillers Überlegungen sind einem normativen Impetus verhaftet, wie er für die Ästhetik seiner Zeit typisch ist. Seine Grundannahme ist daher auch eher als Imperativ denn als neutrale Feststellung zu lesen: Die „Darstellung des Leidens - als bloßen Leidens - ist niemals Zweck der Kunst, aber als Mittel zu ihrem Zweck ist sie derselben äußerst wichtig."37 Stattdessen verpflichtet Schiller diese ,Kunst' auf ein weiteres, und zwar rationales Moment, das auf ein dualistisches Menschenbild bezogen bleibt, welches die „moralische Independenz von Naturgesetzen im Zustand des Affekt" zu behaupten sucht und „die Intelligenz im Menschen als eine von der Natur unabhängige Kraft" (P, 512). Leiden heißt immer passives Erleiden und steht auf Seiten der Natur, welcher der Mensch sich ausgesetzt sieht. Dagegengesetzt wird von Schiller nun die Freiheit des Menschen von solchen Zwängen, die sich im Widerstand gegen das Leiden manifestiert. Es entsteht eine Doppelkonstruktion, die Leiden auf Handeln, das Sinnliche auf das Ubersinnliche zu beziehen sucht: „Das Sinnenwesen muß tief und heftig leiden·, Pathos muß da sein, damit das Vernunftwesen seine Unabhängigkeit kundtun und sich handelnd darstellen könne." (P, 512) Diese doppelte Figur auszugestalten, ist dann Aufgabe der Kunst, im Sinne jener pädagogischen Ästhetik, wie sie Schiller vor Augen schwebt. Im Anschluss an Kant meint .erhaben' bei Schiller die grundsätzliche humane Möglichkeit, sich über die Naturmacht und die von ihr überwältigten Sinne zu erheben.38 Und in dieser Möglichkeit, beziehungsweise in den Akten solcher ,Erhebungen', kann der Mensch sich in seiner relativen Unabhängigkeit erfahren, die rational bedingt ist. Im Unterschied zu Kant sieht Schiller nun aber die Möglichkeit erhabener Erfahrung nicht nur in der Natur, sondern auch und gerade in der Kunst gegeben. Für diese versucht Schiller eine Art Balance zwischen den beiden Polen seiner ästhetischen Maxime herzustellen. Das eine Extrem macht er am Beispiel der französischen Tragödie seiner Zeit fest, deren Helden wir das Leiden gar nicht abnehmen, so Schiller, „denn er läßt sich über seinen Gemütszustand heraus wie der ruhigste Mensch" (P, 513). Im Gegensatz dazu beharrt Schiller auf der Notwendigkeit der Leidensdarstellung; der Künstler dürfe, ja müsse „seinem Helden oder seinem Leser die ganze volle Ladung des Leidens geben" (P, 513); allerdings nur aufgrund eines einzigen Arguments, denn je stärker das dargestellte Leiden, desto stärker muss auch der Widerstand dagegen ausfallen. Letzten Endes bleibt das Bühnengeschehen genau auf diesen Widerstand hin ausgerichtet, ist es doch dem Künstler nur erlaubt, „die Darstellung des Leidens so weit zu treiben, als es, ohne"Nachteilfür seinen letzten Zweck, ohne Unterdrückung der moralischen Freiheit, geschehen kann" (P, 513). Das andere Extrem, die Extremdarstellung von Leiden ohne weitere Begründung, ist demgegenüber tabu. In Vom Erhabenen fasst Schiller noch einmal die beiden Komponenten zusammen, die für die pathetisch-erhabene Darstellung notwendig sind:

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Friedrich Schiller, „Über das Pathetische", in: Ders., Sämtliche Werke, hg. von Peter-André Alt u.a., Bd. 5, München 2004, S. 512-537, hier: S. 512. Im folgenden mit Seitenangabe im Text zitiert als P. Vgl. zu Kant und Schiller den Überblick bei Carsten Zelle, Ästhetik des Erhabenen. Von Longin bis Lyotard, Hagen 1999, S. 121 ff. Sowie die Studie von Ulrich Port, Pathotformeln. Die Tragödie und die Geschichte exaltierter Affekte (1755-1888), München 2005.

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Zum Pathetischerhabenen werden also zwei Hauptbedingungen erfodert. Erstlich eine lebhafte Vorstellung des Leidens, um den mideidenden Affekt in der gehörigen Stärke zu erregen. Zweitens eine Vorstellung des Widerstandes gegen das Leiden, um die innre Gemütsfreiheit ins Bewußtsein zu rufen. Nur durch das erste wird der Gegenstand pathetisch, nur durch das zweite wird das Pathetische zugleich erhaben,39 Wo Idealismus und Tragödientheorie dergestalt zusammenkommen, entsteht nun allerdings ein Darstellungsproblem, das Schiller selbst auf den Punkt bringt: Ideen sind nicht darstellbar, weil sie keine sinnliche Existenz haben. Das Theater ist, andererseits, durch und durch ein sinnliches Geschehen. Gerade hier kommt nun Schillers Konfiguration des Pathetisch-Erhabenen zum Tragen, meint die spannungsvolle Figur doch auch die Kombination von sinnlichen und sinnvollen Aspekten. Die sinnlichen Aspekte sind durch das dargestellte Leiden gleichsam zwangsläufig gegeben. Die sinnvollen Aspekte müssen allerdings auch evoziert werden, und das geht Schiller zufolge dann, „wenn in der Anschauung etwas gegeben wird, wozu wir die Bedingungen in der Natur vergebens aufsuchen. Jede Erscheinung, deren letzter Grund aus der Sinnenwelt nicht kann abgeleitet werden, ist eine indirekte Darstellung des Ubersinnlichen." (P, 518) Was gemeint ist, veranschaulicht Schiller an einem Beispielobjekt, das eine berühmte Vorgeschichte hat und geeignet ist, auch die medialen Spezifika der Schillerschen Definition des Pathetisch-Erhabenen noch einmal zu bedenken: Es ist die Laokoon-Grappe, an der die beiden Arten der Darstellung zunächst verhandelt werden. Schiller zitiert ausführlich den Kunsttheoretiker Johann Joachim Winckelmann, der die Statue in einzelne Teile zergliedert und einigen die sinnliche Darstellung des Leidens, anderen die Darstellung der Idee zugesteht. Die Leidensdarstellung finden Winckelmann/Schiller unter anderem in den Muskeln, den Nerven, dem seufzenden Mund, dem Unterleib und der verwundeten linken Seite des Priestervaters verwirklicht. Auf die Idee verweisen beispielsweise Brust, Beine, Stirn und die nach oben gerichteten Augen. Im Ergebnis entstehe, so Schiller, die Darstellung eines Leidens, die den Widerstand gegen dieses Leiden ebenfalls ausgestalte: eine pathetischerhabene Darstellung. Wenngleich man dieser anatomischen Zergliederung nicht in allen Einzelheiten folgen mag, so weist Schillers Beispiel doch auf die Möglichkeiten der einzelnen Filmeinstellung voraus, wie sie in Pear/Harbor etwa für das Beispiel der Coca-Cola-Flasche gegeben war. Mir scheinen vor allem die (potenziell spektakuläre) Wunde, die indexikalisch das Leiden bezeugt, und die nach oben gerichteten Augen, die eine höhere Instanz anzurufen scheinen, treffend im Sinne der doppelten Figuration des Pathetischen charakterisiert. Den synchronen Darstellungsmöglichkeiten der Skulptur stellt Schiller nun den sprachlichen Text gegenüber. Die Zweiheit von sinnlich-eindringlicher Leidensdarstellung / Darstellung des Ideals gestaltet sich

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Friedrich Schiller, „Vom Erhabenen", in: Ders., Sämtliche Werke, hg. von Peter-André Alt u.a., Bd. 5, München 2004, S. 489-512, hier: S. 512. Für das Folgende vgl. ebd. Ursprünglich bildeten beide Texte, „Vom Erhabenen" und „Über das Pathetische", eine Einheit; deren gesamten ersten Teil („Vom Erhabenen") Schiller jedoch für den Neudruck in den Kleineren prosaischen Schriflen (1801) gestrichen hatte.

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hier anders als im Falle der Lôo&ww-Skulptur. Sie ergibt sich bei Schiller aus den diachronen Möglichkeiten der Narration, die Begründungen nachschieben oder vorwegnehmen kann. Das sichtbare Leiden wird von der Narration - also von Zeichen im Rahmen der Narration - moralisch legitimiert. Das bringt besonders deutlich Schillers taxonomische Kategorie des .Erhabenen der Handlung' zum Ausdruck: Hier ergibt sich das Leiden (wie immer eindringlich es dargestellt sein mag) erst aus einer aufrechten Gesinnung. Es hat „einen moralischen Grund" (P, 528) - und das beste Beispiel ist wohl der christliche Märtyrer, der sich bewusst für seine Ideale aufopfert. Unabdingbar bezogen bleibt diese Form des Pathetisch-Erhabenen auf die Dimension der Zeit, während Schillers zweite Kategorie, das .Erhabene der Fassung', sich anschauen lasse. Hier behauptet sich der moralische Geist angesichts widriger Umstände, statt, wie im anderen Falle, das Leiden bewusst zu wählen. Die Ausführungen zum Schillerschen Theorem mögen an dieser Stelle genügen, um den Bezug zu Pearl Harbor und zur Dynamik von Spektakel und Ideologie herzustellen. Jene Szene am Ende des Films, in der Danny sich bewusst für den Freund Rafe aufopfert, lässt sich mühelos Schillers Paradigma des .Erhabenen der Handlung' zuordnen: „Die Vorstellung der Pflicht bestimmt ihn in diesem Falle als Motiv, und sein Leiden ist eine Willenshandlung' (P, 528), so Schillers treffender (Film-)Kommentar. Aber auch das .Erhabene der Fassung' manifestiert sich im Film, am deutlichsten in jenen Szenen, die zeigen, wie die überraschten Soldaten der amerikanischen Marine trotz all des Schreckens nicht aufgeben.40 Besonders auch in Einzelbildern, die das sinnlich-spektakuläre Moment enthalten und gleichzeitig auf einen sinnvollen Diskurs zu überführen suchen, manifestiert sich dieses Erhabene der Fassung — überdeutlich etwa in jenen Bildern nach dem Ende der Schlacht, die derart eng motivisch an Théodore Géricaults berühmtes Gemälde Das Floß der Medusa (1818) angelehnt sind, dass man schon wieder von einem selbstbewussten Gestus ausgehen kann. Man kann sich Schiller nur schlecht als Ausgestalter eines solchen grenzwertigen Stoffes vorstellen.41 Seine eigenen Dramen scheinen seine Theorie der pathetisch-erhabenen Darstel-

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Vor diesem Hintergrund lassen sich auch noch einmal jene Szenen von Pearl Harbor lesen, die von einer Überwindung der Passivität erzählen. Wenn das Leiden im Sinne Schillers ein Ausdruck von Passivität und eingeschränkter Handlungsfreiheit ist, so entwirft Pearl Harbor diese Passivität auch in geschlechtsspezifischen Termen, wie Claudia Liebrand in ihrer Studie zu Pearl Harbor herausgearbeitet hat (Vgl. Liebrand, „Hitlers Hintern"). Die latente Homosexualität, die ebenso passiv konnotiert ist wie die heterosexuellen Liebesbeziehungen, muss in dieser Logik von waghalsigen Aktionen gekontert werden. Die Lähmung und Krise der Nation ist in Pearl Harbor immer auch eine Krise der Männlichkeit, und diese gilt es durch den körperlichen Aktionismus des Actionfilms zu überwinden. Als „leibhaftige Konfiguration der Verzweiflung" liest etwa Monika Steinhauser, „Im Bild des Erhabenen", in: Das Erhabene — nach dem Faschismus (= Merkur 43, 1989), S. 815-832, hier: S. 825, das „spektakuläre und politisch brisante" Gemälde Géricaults, dessen grausamen ,,anatomische[n] Blick" (S. 828) sie auch bei Georg Büchner - einem weiteren ,Radikaldramatiker' - wiederfindet. Die „Spannung zwischen sinnlicher Anschauung und Reflexion" (S. 828) wird hier mit der spektakulären Wiedergabe der kannibalistischen Szene zu einem Extrem getrieben, dessen Sinnhorizont allerdings (im Bild ganz wörtlich als die Schiffbrüchigen rettendes Schiff am Horizont sowie übertragen als politische Utopie) nach wie vor mitgeliefert wird.

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lung nicht wirklich in die theatrale Praxis umgesetzt zu haben oder bezeugen doch jedenfalls den Primat der ideellen Seite der Doppelkonfiguration. Die „ganze volle Ladung des Leidens" (P, 513) gibt Schiller seinen Figuren selten mit - jedenfalls nicht in jenem körperlich-sinnlichen Sinne, wie ihn die Bilder von Pearl Harbor bezeugen. Erst Schillers ,radikaldramatische' Nachfolger, allen voran Heinrich von Kleist, haben das in gewissem Maße nachgeholt, dabei aber auch die idealistische Verankerung des Leidens teilweise aufgegeben. Die Hollywoodfilme der Gegenwart scheinen demgegenüber die Balance von beidem, sinnlicher Dimension des Leidens und seiner ideellen Überformung, verwirklicht zu haben. Dass sie damit quer zu ihrer eigenen Gegenwart zu stehen kommen, ist offensichtlich, genießen doch idealistische Positionen keinen guten Ruf mehr - und das gilt auch für die damit verbundenen Erhabenheitsgesten.42 Als Reaktion auf die mit dem Erhabenen verbundenen Vorbehalte - die vor allem mit der Verengung des Konzepts im Dienste einer Idee, eines Ideals, einer Ideologie zu tun haben - kann man den Entwurf eines neuen Erhabenen werten, wie ihn Jean-François Lyotard unternommen hat.43 Lyotard versucht in seinen Überlegungen, ein irritierendes Moment der erhabenen Erfahrung starkzumachen, wie es schon bei Kant als widersprüchliche Affektreaktion angelegt ist. Bei Lyotard wird daraus eine Form der Inkommensurabilität, die mit der sinnlichen Erfahrung einhergeht und eben nicht mehr von einem intellektuellen Akt gekontert werden kann, der sie auf den Begriff zu bringen vermag. Hinter seinen Überlegungen stehe, so Carsten Zelle treffend, „eine Ethik der Ästhetik, die im Erhabenen das Andere, Unverständliche, Fremde, Individuelle bestehen läßt, und gerade nicht an das Eigene, Verständliche, Bekannte oder Ganze assimiliert."44 In der Paraphrasierung von Martin Seel kann erhaben dann auch „ein Bewußtsein heißen, dem schockierend zur Anschauung kommt, daß die für verbindlich gehaltenen ästhetischen oder politischen oder biographischen Grundgleichungen, sei es: nicht stimmen, sei es: daß sie ganz anders aussehen könnten".45 Eine solche Erfahrung aber würde sich Akten der ideologischen Vereinnahmung gerade in den Weg stellen. 42

Vgl. zur (post-)modernen Rückkehr und Kritik des Erhabenen den Sammelband Das Erhabene. Zwischen Gren^eifahrung und Größenwahn, hg. von Christine Pries, Weinheim 1989; sowie das Themenheft des Merkur 43 (1989): Das Erhabene — nach dem Faschismus. Eine filmanalytische Operarionalisierung des Erhabenen (nach Kant) hat Cynthia Α. Freeland, „The Sublime in Cinema", in: Passionate Views. Film, Cognition, and Emotion, hg. von Carl Plantinga und Greg M. Smith, Baltimore/London 1999, S. 65-83, entwickelt. Ihr Begriff gründet auf „cognitive shifts" (S. 73), also kognitiven ,Sprüngen', die erhabene Filme anstoßen, genauer „a shift from sensory, emotional involvement in the object to aesthetic enjoyment and cognitive appreciation" (S. 74). Die erhabene Erfahrung wäre dann als selbstreflexives Moment zu fassen, das sich der sinnlichen Überwältigung in den Weg stellt — gerade andersherum als mein pathetischer Mechanismus.

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Vgl. Jean-François Lyotard, „The Sublime and the Avant-Garde", in: Postmodernism. A Reader, hg. von Thomas Docherty, New York u.a. 1993, S. 244-256. Ferner auch: Jean-François Lyotard, „Beantwortung der Frage: Was ist postmodern?", in: Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion, hg. von Wolfgang Welsch, Weinheim 1988, S. 193-203. Zelle, Ästhetik des Erhabenen, S. 146. So Lyotard paraphrasierend Martin Seel, „Gerechtigkeit gegenüber dem Heterogenen? Ein neuer Sammelband über das Erhabene", in: Das Erhabene — nach dem Faschismus (= Merkur 43,1989), S. 916-922, hier: S. 922.

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Wie die Analysen gezeigt haben, lässt sich Pearl Harbor auf derlei Erfahrungen nicht ein. Immer wenn die Bild- und Tonspektakel sich zu verselbständigen drohen, kommt der pathetische Mechanismus zum Tragen, der sie in einen sinnvollen Diskurs zu überführen sucht. Anders gesagt: Die meisten dieser Spektakel stehen von vornherein in Diensten dieses Mechanismus. Das bedeutet aber auch, dass die pathetische Artikulation nicht für eine erhabene Erfahrung im Lyotardschen Sinne einstehen kann, sondern eine solche gerade verhindert: Pathos ist genau auf jene „Versöhnung von Begriff und Sinnlichkeit"46 aus, der sich Lyotards Konzept zu widersetzen sucht. Ob das für andere Filme (und Filmgenres) der Gegenwart im gleichen Maße gilt, kann an dieser Stelle nicht beantwortet werden.47 Für Pearl Harbor und vergleichbare Actionfilme US-amerikanischer Provenienz jedenfalls gilt: kein Spektakel ohne (ideologische) Re-Diskursivierung, keine Passivität ohne Re-Aktion, kein Leiden ohne Sinn; umgekehrt aber auch kein Sinn ohne (evidenzverleihende) Sinnlichkeit. ***

Es birgt, soviel sei am Ende noch hinzugefügt, sehr wohl Risiken, Filmpathos als semiotischen Mechanismus zu lesen, insofern diese Lesart die historisch je spezifischen Ausformungen von Pathos-Konzepten nur am Rande berücksichtigen kann und keinerlei Auskunft über die Wege gibt, die Pathosbegriffe durch unterschiedliche Diskursformationen nehmen.48 Sehr wohl in den Blick gerät demgegenüber allerdings ein Moment, das in vielen dieser Pathos-Konzepte - vom pathos als affektivem Uberzeugungsmittel der Rhetorik, über Schillers ästhetische Konfiguration des Pathetisch-Erhabenen, bis zu Eisensteins ideologischer Attraktion angelegt ist. Trotz aller historischer Transformationen ist ,das Pathetische' (im Sinne einer .pathetischen Artikulation') selbst immer schon ein wirkmächtiger Transformator, der eine sinnlich-affektive Seite von Artikulations- und Kommunikationsprozessen mit einer ideologisch-rationalen zu vermitteln in der Lage ist. Die Analyse jener Zeichenprozesse, die den Eindruck des Pathetischen auslösen, ist damit in einem Forschungskontext anzusiedeln, der über die Klammer der Rhetorik so unterschiedliche Artikulationsformen wie Literatur, Film oder auch politische Rede gleichermaßen in den Blick zu nehmen geeignet ist. Die hier vorgeschlagene (semiotische) Perspektive beharrt somit auf der Notwendigkeit, das Pathetische selbst als Transformator zu begreifen und im gleichen Zuge medienspezifisch zu analysieren, statt die Transformationen von Pathoskonzepten durch Diskurs- und Medienformationen alleine zu verfolgen.

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Lyotard, „Beantwortung der Frage", S. 203. Vgl. da2u Schmitt, Kinopathos. Diese Wege haben etwa Port, Vathosformeln, und Dachselt, Pathos, in vorbildlicher Weise für die Literatur untersucht, während fur den Film eine solche Studie nach wie vor aussteht.

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Abb. 1-8: Pearl Harbor 1: Spektakuläre Szenen der Vernichtung 2: Blutspenden für die Nation 3-6: Spektakel und Ideologie / Die Überwindung der Lähmung 7, 8: Opfer, Helden und Väter

Autorinnen und Autoren

ROBERT BUCH Assistant Professor am Department of Germanic Studies der University of Chicago. Arbeitsschwerpunkte: Literatur und Ästhetik des 20. Jahrhunderts. 2010 erscheint The Pathos of the Real. On the Aesthetics of Violence in the Twentieth Century. ,„Death to the Enemies of the Revolution!' Heiner Müller's Versuchsreihe,", in: Te/os 144, Fall 2008; „Métaphores et métamorphoses chez Claude Simon", in: Transports. Les métaphores de Claude Simon, hg. von Wolfram Nitsch und Irene Albers, Frankfurt 2006; Figures and Figurations of the (Un-)Dead, hg. gem. mit Johannes Türk, Germanic Review, Vol. 82, No. 2, 2007, darin: „Seeing the Impossibility of Seeing or the Visibility of the Undead. Giorgio Agamben's Gorgon". Weitere Ausätze zu Georges Bataille, Kafka, WG. Sebald.

MARTIN DÖNIKE Wissenschaftlicher Mitarbeiter beim SFB Transformationen der Antike, Humboldt-Universität zu Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Literatur und Kunst der Zeit um 1800 sowie der klassizistischen Moderne; Ästhetik und Kunsttheorie des europäischen Neoklassizismus; Wissenschaftsgeschichte der Philologie und Kunstgeschichte. Publikationen (in Auswahl): „Antonio Canovas Herakles und Lichas oder die Unmöglichkeit des Schlachtendenkmals", in: Schlachtfelder. Codierung von Gewalt im medialen Wandel, hg. von Steffen Martus u.a., Berlin, 2003, S. 93-115; Pathos, Ausdruck und Bewegung. Zur Ästhetik des Weimarer Klassizismus 17961806, Berlin/New York 2005; „Heroisch-pathetische Geschichte(n) in Schillers Schreiben An den Herausgeber der Propyläen (1800)", in: Etudes Germaniques 60 (2005), Nr. 4, S. 613-629;

ALEXANDER HONOLD Ordinarius fur Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Basel. Zahlreiche Aufsätze, Zeitungsartikel und Literaturkritiken. Jüngste Buchveröffentlichungen: „Die andere Stimme". Das Fremde in der Kultur der Moderne (Mhg), Köln/Weimar: Böhlau Verlag 1999; DerLeser Walter Benjamin. Bruchstücke einer deutschen Uteraturgeschichte, Berlin: Vorwerk 8 2000; Das Fremâ. Reiseeifahrungen, Schreibformen und kulturelles Wissen (Mhg), Berlin: P. Lang 2000; 2. Aufl., Berlin 2003;

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AUTORINNEN UND AUTOREN

Nach Olympia. Hölderlin und die Erfindung der Antike, Berlin: Vorwerk 8 2002; Koloniaäsmus als Kultur. Literatur, Medien, Wissenschaft in der deutschen Gründerzeit des Fremden (Mhg.), Tübingen: Francke 2002; Mit Deutschland um die Welt. Eine Kulturgeschichte des Fremden in derKolonial^eit (Mhg.), Stuttgart: Metzler 2004; Hölderlins Kalender. Astronomie und"Revolutionum 1800, Berlin: Vorwerk 8 2005.

ANNETTE KECK Professorin für Gender Studies, Kulturtheorie und neuere deutsche Literatur am Institut für deutsche Philologie der Ludwig-Maximilians-Universität, München. Forschungsschwerpunkte: literarische Anthropologie, Figurationen des Grotesken, Literatur- und Kulturtheorie, deutsche Literatur des späten 18., des 19. und 20. Jahrhunderts. Publikationen: Avantgarde der Lust". Autorschaft und sexuelle Relation in Döblins früher Prosa, München: Fink 1998; Buchstäbliche Anatomien. Vom Lesen und Schreiben des Menschen - Literaturgeschichten der Moderne, Würzburg: Königshausen & Neumann 2007; Aufsätze zur Konstruktion und Produktivität der Figur des ,Kanaken' in Gegenwartsliteratur und Populärkultur, zu Transsexualität und Experiment in der Literatur 1880/2000, zur Vampirin als poetologischer Reflexionsfigur und zu genealogischen Figuren der Ankunft im 20. Jahrhundert.

JOACHIM KNAPE Professor für Allgemeine Rhetorik an der Universität Tübingen. Forschungsschwerpunkte: Rhetoriktheorie, deutsche Rhetorikgeschichte, Geschichte der älteren deutschen Sprache und Literatur, Renaissance-Humanismus und Ästhetiktheorie. Ausgewählte Buchpublikationen: Allgemeine Rhetorik. Stationen der Theoriegeschichte, Stuttgart 2000 (= Reclams UB); Medienrhetorik (Hg.), Tübingen 2005; Aristotelische Rhetoriktradition, hg. gem. mit Thomas Schirren, Stuttgart 2005 (= Philosophie der Antike 18); Poetik und Rhetorik in Deutschland 1300-1700, Wiesbaden 2006 (=Gratia 44); Bildrhetorik (Hg.), Baden-Baden 2007 (= Saecvla Spiritalia 45); Rhetorik und Stilistik/Rhetoric and Stylistics. Ein internationales Handbuch historischer und systematischer Forschung. An international Handbook of historical and systematic research, hg. gem. mit U. Fix und A. Gardt, 1. Halbband/Volume 1. Berlin/New York 2008.

MARTIN VON KOPPENFELS Professor für Allgemeine & Vergleichende Literaturwissenschaft (mit romanistischem Schwerpunkt) an der Universität Bielelfeld, seit 2009 Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Forschungsschwerpunkte: Emotionsforschung, Erzählforschung, Literatur und Psychoanalyse. Ausgewählte Veröffentlichungen: Einführung in den Tod. Garcia Lorcas New Yorker Dichtung und die Trauer der modernen Lyrik (1998); Übersetzung und Edition von Garcia Lorca, Poeta en Nueva York (2000, Paul-Scheerbart-Preis für Lyrikübersetzung 2001); Immune Erzähler. Flaubert und die Affektpolitik des modernen Romans (2007, Anna-Krüger-Preis des Wissenschaftskollegs 2009).

AUTORINNEN UND AUTOREN

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SYLVIA SASSE Professorin für Slavistische Literaturwissenschaft an der Universität Zürich. Forschung zur Literatur- und Theatertheorie im 20. Jahrhundert, zur Wechselbeziehung von Theater und Gericht, Beichte und Geständnis in der russischen und bosnisch/kroatisch/serbischen Literatur. Wichtigste Veröffentlichungen: Τ exte in Aktion. Sprech- und Sprachakte im Moskauer Kon^eptualismus, München 2003; Kunst als Strafe. Zur Ästhetik derDis^iplinierung, hg. mit Gertrud Koch und Ludger Schwarte, München 2002; Wortsünden. Beichten und Gestehen in der russischen Literatur, München 2009.

CHRISTIAN SCHMITT Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Exzellenzcluster ,Religion & Politik' an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Forschungsschwerpunkte: Theorie und Geschichte der Rhetorik, Film- und Literatursemiotik, Literatur der Romantik, Diskurse des Nationalen, Gender/Queer Studies, Gegenwartsliteratur. Veröffentlichungen (Ausw.): Kinopathos. Große Gefühle im Gegenwartsfilm, Berlin 2009; „Hermannspathos oder: Wie man ,Deutschland' erweckt. Zur rhetorischen Konstruktion der Nation um 1813/18", in: Hermanns Schlachten. Zur Literaturgeschichte eines nationalen Mythos, hg. von Martina Wagner-Egelhaaf, Bielefeld 2008, 285-305; Hg. (zus. mit genus - Münsteraner Arbeitskreis für Gender Studies): Von schönen und anderen Geschlechtern. Schönheit in den Gender Studies, Frankfurt a.M. 2004.

JULIANE VOGEL Professorin für Deutsche Literatur und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz. Permanent Visiting Professor an der Princeton University. Arbeiten zur Literatur der Jahrhundertwende und zur österreichischen Gegenwartsliteratur, zur Montage und zu den Grundlagen europäischer Dramaturgie. Forschungsprojekt (Exzellenzcluster): gem. mit David Levin und Christopher Wild: „Kulturelle Poetiken des Auftretens". Buchveröffentlichungen u.a.: Elisabeth von Osterreich. Momente aus dem Leben einer Kunstfigur, Frankfurt a.M. 1992/ 1998. Die Furie und das Geset^. Zur Dramaturgie der,großen S%ene" in der Tragödie des 19.Jahrhunderts, Freiburg im Brg. 2002. Weiß. Ein Grundkurs, hg. gem. mit Wolfgang Ullrich. Frankfurt a.M. 2003.

HEIDE VOLKENING Wissenschaftliche Assistentin am Institut für deutsche Philologie der Ludwig-MaximiliansUniversität München. Forschungsschwerpunkte: Literatur vom 18. bis 20. Jahrhundert, Literaturtheorie, Gender Studies, Cultural Studies, Autobiographie, Working Girls, TV Serien, Charakterologie, Literatur und Arbeit. Ausgewählte Veröffentlichungen: Am Rand der Autobiographie. Ghostwriting - Signatur - Geschlecht, Bielefeld 2006; Working Girls. Zur Ökonomie von Liebe und Arbeit (Mhg.), Berlin 2007; Gren^überschreibungen. „Feminismus"und „Cultural Studies"

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AUTORINNEN UND AUTOREN

(hg.), Bielefeld 2001; „Der helle Raum des Privaten", in: Räume der Romantik, hg. v. Inka Mülder-Bach und Gerhard Neumann, Würzburg 2007; „Sex and the City - Wenn Chick Lit ins Fernsehen kommt", in: Lust? Darstellungen von Sexualität in der Gegenwartskunst von Frauen, hg. von Bettina Bannasch und Stephanie Waldow, München 2008.

YVONNE WÜBBEN Promovierte Ärztin und Literaturwissenschaftlerin, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Deutsche und Niederländische Philologie der Freien Universität Berlin. Forschungsschwerpunkte: Geschichte der Psychiatrie und Hirnforschung, Deutsche Literatur des 18. Jahrhunderts und der Klassischen Moderne; Verhältnis von Wissen und Literatur. Derzeit Projekt zur literarischen Geschichte der Schizophrenie (1835-1914). Wichtigste Publikationen: „Ein Bluff für den Mittelstand. Gottfried Benn und die Hirnforschung", in: Text & Kritik 44 (2006), Gottfried Benn, hg. v. Heinz Ludwig Arnold, S. 77-82; Gespenster und Gelehrte. Georg Friedrich Meiers ästhetische hehrprosa, 2007; Johann Georg Suero: Versuche in Lehrgedichten und Fabeln, hg. und mit einem Nachwort versehen, Hannover 2008; Phantome im Labor. Reflexe in Flirnforschung, Kunst und Technik, hg. gem. mit Margarete Vöhringer, 2009, (=Berichte zur Wissenschaftsgeschichte).

CORNELIA ZUMBUSCH Wissenschaftliche Assistentin am Institut für deutsche Philologie der LMU München. Forschungsschwerpunkte: Literatur der Klassik, Romantik und des Realismus; Kultur- und Bildtheorien; Literatur und Wissensgeschichte. Ausgewählte Publikationen: Wissenschaft in Bildern. Symbol und dialektisches Bild in Aby Warburgs Mnemosyne-Atlas und Walter Benjamins Passagen-Werk, Berlin: Akademie-Verlag 2004 (Wissenschaftspreis der Aby-Warburg-Stiftung); Utopische Körper. Visionen künftiger Körper in Geschichte, Kunst und Gesellschaft, gemeinsam mit Kristiane Hasselmann und Sandra Schmidt. München 2004; Die Immunität der Klassik. Reinheit, Schutζ und Unempfindlichkeit bei Schiller und Goethe. (Habil-Manuskr.) München 2009.