Obszön : Geschichte einer Entrüstung

Das Buch »Obszön. Geschichte einer Entrüstung« will dreierlei. Zunächst eine kulturhistorische Darstellung, die man unte

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German Pages [411] Year 1962

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Obszön : Geschichte einer Entrüstung

Table of contents :
Umschlag
Titel
Impressum
Inhalt
Obszön: seit Jahrhunderten steckbrieflich verfolgt - und nicht gefaßt
Jena 1799: Hundertundfünfzig Jahre deutscher Entrüstung
Paris 1857: Emma Bovary und andere Blumen des Bösen
New York 1873: Anthony Comstock, eine Kreuzung aus Barnum und McCarthy
Berlin 1920: Sex, Politik und Kunst — im Reigen
London 1960: D. H. Lawrence oder purissimus penis (Kaiser Augustus über Horaz)
Los Angeles 1962: Der obszönste Schriftsteller der Welt-Literatur
Sieben Thesen zur Abrüstung der Entrüstung
Namen-Register

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Ludwig Marcuse

obszön Geschichte einer Entrüstung

List

LUDWIG MARCUSE

OBSZÖN Geschichte einer Entrüstung

PAUL LIST VERLAG MÜNCHEN

Umschlag und Einband von Wolfgang Dohmen

6,-10. Tausend

© Paul List Verlag München 1962. Alle Rechte Vorbehalten. Printed in Germany. Schrift: Garamond Linotype.

Gesamtherstellung: Graphische Kunstanstalt

Jos. C. Huber KG., Diessen vor München

Inhalt

Obszön: seit Jahrhunderten steckbrieflich verfolgt — und nicht gefaßt

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Das Wort: Verwandtschaft, Ton, Herkunft

Der Papst, der amerikanische Supreme Court und ein deutscher Candidatus philosophiae definieren Zwei Griffe: das Obszöne zu packen

Die vier unanständigen Literaturen

Ein Beischlaf, von Rembrandt gezeichnet, ist ein moralisches Kunstwerk?

Ein Viertel-Jahrtausend Feigenblatt

Das Gespenst auf dem Operationstisch

Jena 1799 Hundertfünfzig Jahre deutsche Entrüstung Um Achtzehnhundert gab es in Deutschland ...

Friedrich Schlegels »lüsterner* Roman »Lucinde*

Jedes verschriene Buch hat seine Stellen Von den Dichtern des Barock bis zum sogenannten Heiden Goethe

Die Aufnahme im engsten Kreis Das Ärgernis

Siebzig Jahre später nahm Wilhelm Dilthey Anstoß Der große Fürsprecher: Pastor Schleiermacher

Die Ehe ä quatre und höhere Zahlen

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Paris 1857

Emma Bovary und andere Blumen des Bösen

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Achtundfünfzig Jahre nach Frau Lucinde erregte Madame Bovary die Gemüter Der Staat kümmert sich nicht um die unscheinbaren Ehebrüche kleiner Provinzlerinnen, aber um Flauberts und Baudelaires Glorifizierungen Monsieur Senard, ein alter Freund des Vaters, verteidigte

Die unio mystica und die unio physica »Madame Bovary* freigesprochen, Madame Bovary verurteilt

Vier Monate nach dem Freispruch der »Madame Bovary* er­ schienen Charles Baudelaires Gedichte »Die Blumen des Bösen*

New York 1873 Anthony Comstock, eine Kreuzung aus Barnum und McCarthy Die lustigste wilde Jagd auf das Obszöne ist jüngeren Ameri­ kanern kaum noch bekannt

Wer dem seltsamen Phänomen mit dem Namen obszön psy­ chologisch nachgeht, hat in Anthony Comstock den Glücksfall Sein Aufstieg begann in einer Epoche des Katzenjammers

Auf der Flucht vor der Eva, heiratete er Maggie In der Blüte seines Lebens und seiner Saat war noch nicht vorauszusehen, daß er einmal als Anachronismus dahingehen werde Er hatte keine glückliche Hand in seinen Feldzügen gegen die Damen

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Vom blutigen Jäger zum unpersönlichen, aber nicht weniger blutigen Gesetz

Viele Comstocks der letzten hundertundfünfzig Jahre ver­ suchte man in Schach zu halten, indem man ihnen das magische Wort »Kunst* entgegenstreckte — wie dem Teufel das Kruzifix

Berlin 1920 Sex, Politik und Kunst — im Reigen

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Der dreiundzwanzigste Dezember 1920 war ein denkwürdiger Tag in der Geschichte der Entrüstung

Schnitzlers »Reigen* hat zehn Vorher-und-Nachher Szenen Er war schon der zweite Mann aus Wien, der eine schamhafte Welt in Harnisch brachte. Der erste ist Freud gewesen

Das besondere Schamgefühl, das, verletzt, seine Wunde vor­ weist, indem es öffentlich Krach schlägt, muß organisiert werden

Der Schmutz-Brunner oder das organisierte Ärgernis Auf der andern Seite: auf Seiten des Dichters, seines Stüdes, der Weimarer Republik und der offiziellen Liberalität

Man hatte sich auf ein Wagnis eingelassen, das man — nicht wagte

London 1960 D. H. Lawrence oder purissimus penis (Kaiser Augustus über Horaz) Die Sensation war groß, wenn auch nicht so sensationell wie das, was nicht zur Sprache kam

Die Handlung der »Lady Chatterley* kann in jedem konser­ vativen Mädchen-Pensionat erzählt werden, wenn man das Entscheidende ausläßt: die »Stellen* Die beiden »gelehrten Freunde*, der Staatsanwalt und der Verteidiger, hatte wegen ein paar Seiten des Buches voll mo­ bilisiert

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Ein vertrautes Muster im Streit der Parteien wurde sichtbar. Die Einen versteiften sich auf die These: zweimal zwei ist Drei, die Andern: ist Fünf

Die Stars, zur Erhellung des Literarischen bestellt, waren weni­ ger Stemen-klar als Nachtlicht-funzlig Wes wäre geschehen, wenn einige hochangesehene Herrschaften die Wahrheit über die Moral des Waldhüters und seines Schöp­ fers gesagt hätten? Die zwölf Richter, Geschworene genannt

Wo war der Dreizehnte? Oscar Wtlde, 1895 vor Gericht über Kunst und Schmutz be­ fragt, redete sich nicht auf die brave, unzerstörbarste Phrase hinaus: wenn etwas Kunst ist, dann ist es rein; und wenn es unrein ist, dann ist es nicht Kunst

Los Angeles 1962 Der obszönste Schriftsteller der Welt-Literatur Mit diesem Meisterschafts-Titel zeichnete der englische KunstKritiker Herbert Read den Amerikaner Henry Miller aus

Man verwechsle ihn nicht mit der vernünftigen Entblößung im Zeitalter der Aufklärung. Damals begann Amerika, sich an Europa anzulehnen: in der Philosophie, in den Künsten, in der Pornographie Er ist nicht nur ein Pornograph, der viel Neuland beschrieben hat, er ist mehr: eine obszöne Existenz

Entmythologisierung des Sexus Welche Realität wurde selbst im klassischen Realismus ausge­ klammert?

Los Angeles, Chicago, Philadelphia, Cleveland, Atlanta, Miami, Dallas, Houston, Seattle, St. Louis, Buffalo, Phoenix, Oklahoma City und, und, und . .. halten im Jahre 1962 eine Koexistenz ihrer Stadt und des Buchs »Wendekreis des*Krebses* für unmöglich Die Jury bestand aus neun Frauen und drei Männern.

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Auch die Rasse der Verteidiger zeigt durch die Zeiten den einen Verwandtschaftszug: vom Pastor Schleiermacher, dem bedeu­ tendsten, bis zu den ebenso wohlmeinenden, ambivalenten Juristen, Geistlichen und Professoren auf Seiten der Obszöni­ tät 1962 Henry Miller ist der Erste in der langen Reihe der Opfer dieser Entrüstung, der sich eine Schönheits-Operation, exeku­ tiert von den ängstlichen Seinen, nicht gefallen läßt

Wie souverän ist ein souveränes Volk, das sich in seinem Spruch gegen die Freiheit wendet, die ihm von der Verfassung geschenkt worden ist?

Sieben Thesen Zwecks Abrüstung der Entrüstung Eins: Entrüstung: ein menschliches Wesen in Alarm Zwei: Der Imperativ: rüste ab! trägt nichts zur Abrüstung bei Drei: Der innerste Wäll jeder Entrüstung: Ich bin die Wahrheit. Der innerste Wall dieser Wahrheit: hie, Gott und Kultur — dort, der Erdenrest, zu tragen peinlich Vier: Jede runde Antwort auf die Frage: Was ist der Mensch! ist falsch

Fünf: Neben dem Factum hrutum: dem Nicht-aus-der-Welt-Wollen, neben dem göttlichen Überschuß: den Lüsten, das Factum humanum: Mit-Leid, Mit-Freude

Sechs: Obszön ist kein Faktum, sondern eine brauchbare Scheuche. Contra Obscoenum ist die jüngste Phase im Feldzug gegen den ältesten Gegner: den unverkrüppelten Adam Sieben: Es gibt keine feinen oder weniger feinen Amores, aber un­ humane. Oder: L’affaire Sade

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Obszön: seit Jahrhunderten steckbrieflich verfolgt und nicht gefaßt

»Priapeia« (eine berühmte lateinische Anthologie): Sehr unanständig,

obwohl für ein gebildetes Publikum geschrieben. Wörterbuch der Antike

D as

lehrt die lange Geschichte: obszön ist, wer oder was irgendwo irgendwann irgendwen aus irgendwelchem Grund zur Entrüstung getrieben hat. Nur im Ereignis der Entrü­ stung ist das Obszöne mehr als ein Gespenst. Die Identität ist noch nicht komplett. Die spezielle Ent­ rüstung, die einen ihrer beliebtesten Namen im Schimpfwort Obszön hat, richtet sich gegen den Bereich des Sexuellen und benachbarte Gebiete. Und weil dies Obszöne eine Gleichung mit mindestens sechs Unbekannten ist, seufzen die Juristen noch heute: daß es keine Definition gibt, mit denen man Gesetze machen kann ... und machen sie dennoch.

Das Wort: Verwandtschaft, Ton, Herkunft Der zweisilbige Laut Obszön ist die Königin im Schwarm der Synonyme. Sie heißen, sehr allgemein: pikant, unschick­ lich, ungebührlich, frech, verdorben; etwas enger: unanstän­ dig, unzüchtig, unrein, unkeusch; sehr aggressiv: schmutzig, schlüpfrig, unflätig, schamlos. Alle diese Vokabeln und noch viele mehr sind schon einmal füreinander gesetzt und gegen­ einander gesondert worden. Die Sprache war sehr erfinde­ risch in der Verlautbarung dieser Abneigung. Bisweilen auch grotesk irreführend. Die stärksten jener Ab­ wertungen sind die erstaunlichsten: »tierisch«, »schweinisch«. Übernehmen sich eigentlich Tiere sexuell? Haben Schweine das große Reich sexueller Vergröberungen und Verfeinerun­

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gen (auch Perversionen genannt) entdeckt — wie sie im indi­ schen Kamasutra geschildert sind, an den Wänden der römi­ schen Villen in Pompeji und in der unsterblichen LiebesTechnik, die der Dichter Ovid verfaßt hat? Wie man auch diese Früchte menschlicher Phantasie und phantasievoller Praxis einschätzen mag, die Tiere im allgemeinen und die Schweine im besonderen pflegen nicht ihre Einbildungskraft in den Dienst von Steigerung und Differenzierung der Lüste zu stellen; das ist ein Privileg der menschlichen Kultur. Die Linguistik hat diese Kultivierung kaum beachtet. Das Vokabular rund um das Obszöne ist nicht arm; doch ist die Geschichte der verfemenden Worte ebensowenig aufgehellt wie das, was sie bezeichnen. Im Achtzehnten Jahrhundert redete man gern von »Libertinage« und, galanter, von »Ga­ lanterie«. Sie benannte einmal etwas Lockeres; Christian Thomasius empörte sich, daß sie »bei uns Teutschen so gemein und sehr mißbraucht worden ist«. Unfreundlicher klingt heute das damalige Wort Frivolität; es war wohl schon immer (wenn auch nicht immer so böse) die zynische Vari­ ante der unanständig-galanten Tändelei. Wer studierte den Bedeutungswandel ? Die Gelehrten, deren Pflicht es ist, den Wortschatz zu regi­ strieren, blank zu putzen und dem Ursprung nach zu be­ stimmen, lassen das Obszöne seinen schlechten Ruf entgelten. In einem programmatischen Brief an Lachmann erlaubte Jacob Grimm nur jenen unanständigen Wörtern Eintritt in sein Wörterbuch, welche Schriftsteller im Affekt nicht entbeh­ ren können und ein guter Komiker nötig habe. Der größere Rest, den die Menschheit nicht entbehren will, kümmerte ihn nicht. Das Wort Obszön kam nicht zur Darstellung. Wann und in welchem Sinn hielt es seinen Einzug ins Deutsche? Man sollte ein Lexikon der gemiedenen Sprachen schaffen. Ethnologen hätten in Erfahrung zu bringen, ob es auch außer­ halb der Hoch-Kulturen Vokabeln gibt, die privat mit Ge­ nuß gebraucht, deren öffentliche Preisgabe aber bestraft wird. Klassische Philologen sollten mitteilen, ob dies »Naturalia 14

non turpia« sagt: daß es in der Antike keine bemakelten Worte gegeben hat; ob der berüchtigte Pomograph Sotades aus Thrazien eine Ausnahme gewesen ist oder nur einer der wenigen Überbleibsel eines blühenden Zweigs der Schrift­ stellerei. Die Sprachforscher aber sollten eine Universal-Geschichte der linguae obscoenae schreiben: der alltäglichen und der literarischen. Wer auf der Suche nach der Identität eines Begriffs ist, pflegt, wenn er sich keinen Rat mehr weiß, dem Ursprung des Wor­ tes nachzugehen. Der verliert sich bei solchen Existenzen nicht selten im Dunkel. So ist es auch mit unserem Helden Obszön. In welchem Land ist er zur Welt gekommen? Bei den Rö­ mern? Die Etymologie ist eine der fruchtbarsten Stätten der Phantastik; sie hat auch auf der Suche nach dieser Geburt Üppig geblüht. Haben die Osker, die Ureinwohner Latiums, dies Zukunfts­ reiche hervorgebracht? Ihre Sprache starb schon zu Beginn der römischen Kaiserzeit aus; nicht günstig für die Fahndung nach dem oskischen Erzeuger. Vor allem muß man daran denken, daß ein Wort mehr als einen Vater haben kann. War einer die scena: was einem vor der Bühne bewußt wurde, erhielt von ihr den Namen? Vielleicht am populären Feste der Flora, wo es hoch herging — und doch besuchte an diesem Tag selbst der strenge Cato das Theater? Während jener unpolitischen Mai-Feier gürteten die Schauspieler ihre Lenden mit Phallen aus Leder — und trieben einen Schaber­ nack, den man obszön nannte? Der englische Sexual-Forscher Havelock Ellis, auf denselben etymologischen Spuren, fand das genaue Gegenteil; und übersetzte Obszön mit »off the scene«, hinter den Kulissen — ein Wort für etwas, was nicht im Rampenlicht erscheinen konnte. Heute wird es von caenum abgeleitet: Schmutz, Schlamm, Kot, Unflat. Auch wurde caenum für Schamglied gebraucht, der Plural sowohl für Schamteile als auch für den Hintern. Im römischen Schrifttum drückte obscenum eine ästhetische Aver­ sion aus (scheußlich), eine moralische (unsittlich) und eine ij

vitale (eklig). Bei Cicero, Ovid, Livius, Tacitus trat es bis­ weilen auch recht unspezifisch auf: im Sinne von pöbelhaft, garstig. Im Kern aber war fast immer das Sexuelle. »Obsceno verbo uti« bedeutete: eine Zote reißen. Das Wort zotig ist auf der Grenze zwischen moralischer und ästhetischer Abwertung.

Der Papst, der amerikanische Supreme Court und ein deutscher Candidatus philosophiae definieren Kommt man auf der Suche nach dem Ahn eines Findlings wie Obszön nicht weiter, so wendet man sich an die Geschichte der Definitionen, die er erhalten hat. Viele sehen in solchen Produkten ein hartes Stück konzentrier­ testen Denkens: hergestellt von strengen Gelehrten für strenge Gelehrte in strengem Bemühen. Schaut man genauer hin, so ist das Geschäft des Begriff-bestimmens bei solchen Windhunden von Worten viel lustiger; es handelt sich nur um Emotionen, die auf akademisch stilisiert worden sind. In den definitorischen Antworten auf Fragen wie: was ist Glück? was ist obszön? hat man die epigrammatischen Autobiogra­ phien von Zeiten, Schichten, Persönlichkeiten. Dies Obszön ist immer recht passioniert definiert worden. Denn im Verhalten zur Sexualität hat man eine noch leiden­ schaftlichere Anteilnahme gezeigt als im Verhalten zu Gott und zum Staat — heute, in unserem Klima, heiße Eisen zweiten und dritten Ranges. Ja, ein schlechtes Benehmen in sexualibus war immer auch eine Beleidigung des Herrn im Himmel, des Landesfürsten und des Mitmenschen. Es ist noch nicht lange her, daß ein englischer Richter (im Oscar WildeProzeß) sagte: ein Mord-Fall wäre ihm nicht so zuwider wie diese Verhandlung über die Liebes-Briefe, welche der ange­ klagte Dichter an seinen Freund Lord Douglas geschrieben hatte. Und es geschah im Jahre 1962, in einem bayrischen Mord-Prozeß, daß der Vorsitzende, der die Angeklagte zu

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Geständnissen ermutigen wollte, breit verkündete: »Eine unverheiratete Frau, die Beziehungen erotischer Natur hat, braucht deshalb noch keine Mörderin zu sein.« Da ist es kein Wunder, daß dem Obszön durch die Jahr­ hunderte immer wieder einmal ein Steckbrief nachgesandt wurde: auf daß man es endlich dingfest mache, wo immer man es träfe. Das Resultat ist beängstigend. Es ist wie im »Sommernachtstraum«: im Irrgarten der Entrüstung glaubt man hier und da den Bösewicht gepackt zu haben — und hat ihn dann doch nicht. So beschlossen die Amerikaner, Goyas »Maya« nicht mit der Post zu befördern (ihre Form der Zen­ sur); während die Spanier diese Obszönität als Briefmarke benutzten. Das katholische Spanien sah nichts Unzüchtiges in einem Bild, das in dem Land, in dem (wenigstens der Ver­ fassung nach) Staat und Religion getrennt sind, als obszön betrachtet wurde. Bei diesen Verfolgungen handelt es sich ganz offenbar um einen der rätselhaftesten Banditen. Es gibt zwei Gruppen, die an seiner Identifizierung schon professionell interessiert sind: die Juristen und die MoralPhilosophen; die Rechtsprecher noch mehr, weil die ewigen Probleme auf Lösung warten können (die wichtigsten warten schon Jahrtausende), die Verbrecher aber nicht. Sie sterben weg, bevor man das zuverlässige Gesetz gemacht hat, nach dem sie ihre verdiente Strafe erhalten. So klagten Staats­ anwälte, eingestandenermaßen, mit schlechtem Gewissen an. Aber lieber Gesetze, an die man nicht glaubt, als gar keine. Schon Paulus sagte: »Wo kein Gesetz ist, wird die Sünde nicht registriert.« Um dieser Registrierung willen hat man Obszönitäts-Paragraphen in die Welt gesetzt — und zu glei­ cher Zeit gestanden, daß man nicht weiß, was das eigentlich ist: obszön. Unter den Gesetzgebern ist einer der ältesten die katholische Kirche. Allerdings war sie in manchem Jahrhundert nicht so sehr interessiert, wie man meint. Ihr erster Katalog Verbote­ ner Bücher stammt aus dem Jahre 496 und verzeichnet vor allem, was auch späteren Indices immer das Wichtigste war:

die Schriften der Häretiker. Nur selten wurde auch einmal Unflätiges aufgenommen. So setzte Pius II., mit seinem Schriftstellernamen Aeneus Silvius de’Piccolomini, die Erotica, die er in seinen frühen Jahren verfaßt hatte, auf die Verbots-Liste. Neunzehnhundert erschien die endgültige Redaktion: »Der Index der Verbotenen Bücher, neu bearbeitet und herausge­ geben auf Geheiß und im Namen Leo XIII.«. Hier heißt es: »Bücher, welche schmutzige und unsittliche Dinge planmäßig (ex professo) behandeln, erzählen oder lehren, sind streng verboten.« Dies »planmäßig« war bereits eine alte, aufklä­ rerische Einschränkung und hatte außerdem eine große Zu­ kunft; wenn Unanständiges nicht »planmäßig« dargestellt wurde, war offenbar kein Einwand. Das öffnete eine Tür, sperrangelweit. Der amerikanische Supreme Court sagt es heute ganz ähnlich. Vielleicht unterstreicht er stärker das Erlaubte: »Die Dar­ stellung von Sexuellem, zum Beispiel in den bildenden Kün­ sten, der Literatur und wissenschaftlichen Werken, genügt noch nicht, um die konstitutionelle Rede- und Presse-Freiheit zu verweigern.« Im übrigen arbeiten die Juristen des Staats, der keine Religion hat, mit ähnlichem Wort-Schaum, wie die Juristen jenes Staats, der nichts als Religion hat. Das amerikanische Law Institute, eine Vereinigung von Rich­ tern und Anwälten, welche neue Gesetze präparieren, defi­ niert: etwas ist obszön, wenn es vor allem der Unzucht dient — zum Beispiel einem schändlichen, morbiden Interesse am Nackten, am Geschlecht oder am Exkrement. Der päpst­ liche Gesetzgeber ging nicht ins Detail und sagte trotzdem nicht weniger; aber das ist auch gar nicht möglich. Die amerikanischen Gelehrten machen mit Floskeln wie »schänd­ lich« und »morbid« das Unbekannte nicht bekannter. Doch steckt hinter den Nichtsen aus Buchstaben eine Meta­ physik, die den Tautologien einen Sinn gibt (wenn auch nicht einen lebenden). Die christliche, mit dem Wert-Dualismus von Leib und Seele, ist bekannt; in vielen Schattierungen

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wird der Körper ein wenig oder noch weniger zugelassen. Die amerikanischen Rechtslehrer, in einer nicht so glücklichen Lage, weil sie nicht mehr eine massive Philosophie vorfinden, auf der sie ihre Gesetze errichten können, müssen bei Sozio­ logie und Tiefen-Psychologie kurzfristige Anleihen machen, um die große gefürchtete Unbekannte Obszön streng wissen­ schaftlich zu exorzieren. Die Kirche tut es mit dem schlichte­ ren Requisit: Sünden-Fall. Der moderne Mythos ist viel wackliger, weil er nicht so ehr­ würdig ist. Er steht im Falle der amerikanischen Theoreti­ ker auf zwei Thesen. Erstens: jeder ist zwei einander ent­ gegengesetzten Trieben unterworfen: dem sexuellen (inklu­ sive der geschlechtlichen Neugierde) — und der Furcht vor der Gesellschaft, die ihn kontrolliert. These Zwei: diese Unter­ drückung bringt Schamgefühl, schlechtes Gewissen und Ver­ legenheit hervor, wenn Sexus aktiviert wird. Die Anklage lautet: Leute, die Geld damit machen, daß sie jenen Kon­ flikt noch verschärfen, indem sie Salz in die Wunde streuen, sind jenseits der Grenze des Erlaubten. Der Garten Eden leuchtet ein. Auch der Grund, weshalb Adam und Eva ihn wahrscheinlich verlassen mußten: der Teufel entrüstete sich noch obendrein. Diese Juristen aber, unsere Zeitgenossen, reden Kauderwelsch. Frage Eins: also ist etwas Fragwürdiges dann obszön, wenn es für Geld her­ gestellt worden ist? Dann müßte man Shakespeare darauf hin untersuchen, bei welchen unflätigen Sätzen Gewinnsucht im Spiele war. Und wenn jemand nun zu seinem PrivatVergnügen höchst Riskantes offenbart? Frage Zwei: das Ob­ szöne streut Salz in die »Wunde« (eine pathetische Methapher für Konflikt)? Ist dies Obszöne wirklich eine Verschärfung der Spannung? Nicht vielleicht für den, der es schafft, und für die, welche es genießen, eine Entspannung? Wagt man sich heraus aus dem Schutz der Metaphysik vom »Gefängnis« Leib und der himmlisch-freien Seele — so verliert man den Boden, auf dem allein man dem Obszönen begegnen kann: mit dem platonisch-christlich-deutschidealistischen Dogma.

I?

Die päpstlichen und demokratischen Definitionen sind Zwil­ linge in einem charakteristischen Zug: sie leiten gern die Armut von der pauverté her, das Obszöne von der Schweinerei. Das Ganze paßt ihnen nicht: theologisch oder wissenschaftlich be­ gründet. Das Zeughaus für ihre Argumente steht schon eine ganze Weile. Im Jahre 1688 schrieb ein Leipziger Doktorand seine Dissertation unter dem Titel »De libris obscoenis«: so seien alle Schriften zu nennen, »deren Verfasser sidi in deut­ lich unzüchtigen Reden ergehen und frech über die Ge­ schlechtsteile sprechen oder schamlose Akte wollüstiger und unreiner Menschen in solchen Worten schildern, daß keusche und zarte Ohren davor zurückschrecken«. Dieser Johannes David Schreber aus Meißen hat bereits alles gesagt, was in den letzten Jahrhunderten von der Kirche, der Moral-Philo­ sophie und der Jurisprudenz wieder und wieder repetiert — und nie aufgeklärt worden ist. Er hat einen Teil des Vokabulars der Entrüstung ausge­ spien — kam man je weiter?

Zwei Griffe: das Obszöne zu packen Unser X gehört zu jenen Rätseln von erheblicher Lebens­ dauer, die zwar nie gelöst — aber doch im Laufe der Zeiten in ihrer Rätselhaftigkeit etwas erhellt wurden. Die beiden Königswege zur Erhellung zeichneten sich schon bei dem Kandidaten von 1688 ab. Der eine führt zum obszö­ nen Menschen und seiner bösen Absicht: Reizung der Sinnlich­ keit. Der andere führt zur bösen Wirkung: obszön ist, was reizt, beabsichtigt oder nicht. Die beiden Methoden gehören zwei verschiedenen Moral-Systemen an: die eine dem prote­ stan tisch-kan tischen: der Sünder rechnet, nicht die Sünde; die andere dem katholisch-gesellschaftlichen: was einer wirkt, ist entscheidender als, was er will. In den Rechtshändeln rund um das Obszöne hat man sich bald auf den subjektiv-moralischen, bald auf den objektiv-

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pragmatischen Standpunkt gestellt. Kläger und Verteidiger obszöner Kunst haben von beiden Maßstäben Gebrauch ge­ macht — je nachdem, was ihnen gerade günstig zu sein schien. Diese Schrift hier ist nicht im Dienste irgendeines bestimm­ ten Streits. Kein Individuum und kein Werk wird an­ geklagt oder in Schutz genommen. Beide Wege, zum Obszö­ nen zu gelangen, werden abgeschritten, um zu zeigen, daß sie Holzwege sind. Die Frage nach dem Schöpfer des Obszönen hat (unter ande­ rem) auch eine liberalisierende Wirkung gehabt: das unzüch­ tige Wort, die unzüchtige Wendung, das unzüchtige Bild, das unzüchtige Thema ist noch nicht — unzüchtig; alles kann züch­ tig werden, wenn der Urheber eine anima candida ist. In diesem Sinne liebten angeklagte Obszöne und ihre An­ wälte den Römer-Brief XIV 14 zu zitieren: »Ich weiß und ich bin des Herrn Jesus gewiß, daß nichts an sich gemein ist; nur dem, der es rechnet für gemein, dem ist’s gemein.« Aber diesem Gemein ist immer wieder der Inhalt gegeben worden, den sogar der liberale Sexual-Forscher Iwan Bloch so formulierte: produziert »zum Zweck der geschlechtli­ chen Erregung«. Die Gleichung: Obszön gleich beabsichtigte sexuelle Stimulierung gleich niedrig beherrschte und be­ herrscht die Gedanken. Als im Jahre 1933 das NewYorker Bezirksgericht entschied: James Joyce’s »Ulysses« dürfe in den Vereinigten Staaten verkauft werden, schrieb der Richter John M. Woolsey als Begründung: das Werk sei zwar in man­ chen Passagen eine starke Dosis für einen empfindsamen nor­ malen Menschen; »doch nach langer Überlegung bin ich der wohlbegründeten Überzeugung, daß der >UlyssesCoeur humain devoilé< je ge­ sehen oder davon gehört? Ich habe es nun gelesen und unge­ achtet alles Widerwärtigen, Platten und Revoltanten mich sehr daran ergötzt. Denn eine so heftig sinnliche Natur ist mir nicht vorgekommen und die Mannigfaltigkeit der Ge­ stalten, besonders weiblicher, durch die man geführt wird, das Leben und die Gegenwart der Beschreibung, das Charakte­ ristische der Sitten und die Darstellung des französischen Le­ bens in einer gewissen Volksklasse muß interessieren. Mir,

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der so wenig Gelegenheit hat, von außen zu schöpfen und die Menschen im Leben zu studieren, hat ein solches Werk einen unschätzbaren Wert.« Ist diese Selbst-Interpretation seines Ergötzens korrekt? Ver­ mittelte der Franzose ihm nur eine unbekannte Wirklichkeit, nicht vielleicht auch Lust? Tausend Ernsthafte waren sich nie im klaren, was sie an einem Buch genossen, wenn sie sich zu genießen erlaubten, was sie eigentlich nicht genie­ ßen wollten. Weshalb sie auch immun waren gegen die ernst­ haftesten Sätze der »heftig sinnlichen« Schriftsteller. Rétif de la Bretonne schrieb: »Die Moral hat alle Übel in die Liebe gebracht.« Schillers Lehrer, Kant, hätte sagen können: die Liebe hat alle Übel in die Moral gebracht. Aber die Berüh­ rung mit dem Unanständigen wurde erst problematisch, wenn es ums Theoretisieren ging. Und leider besitzen wir mehr davon als Kenntnis vom Genuß der Poeten an Dar­ stellungen, die zu geben sie sich verboten. Haben ihre sublimeren, weniger »heftig sinnlichen« Schöp­ fungen vielleicht dieselbe Quelle? Haben die großen Künstler nie aus Wollust geschaffen und ihren Lesern nie Wollust ver­ schafft? Jedenfalls haben sie die »Reaktionsfähigkeit« immer gereizt. Generationen von Lesern Shakespeares und Schillers und Byrons und Dostojewskis danken den Meistern unge­ heure Steigerungen der Emotionen. Mit Ausnahme der sexu­ ellen? Indem die sogenannten Liberalen leugneten, daß die große Literatur die erotische Phantasie stachle, verdeckten sie höchst illiberal einen ihnen unbequemen Zustand der Dinge. Sie wollten unter keinen Umständen den Boden der Tradition verlassen, die vorschrieb: das Geschlechtliche ist nur zugelas­ sen, wenn es im poetischen Äther verdunstet. Es gibt herr­ liche Auflösungen des Irdischen in eine Musik aus Wor­ ten. Wer aber die Verdampfung des Irdischen als KunstKanon etabliert, vor allem im Zusammenhang mit der vital­ sten Sphäre, leugnet die lebendige Herkunft aller erregenden Schöpfungen, weil sie in einer Sphäre weiterleben, die fälsch­ lich die ideale genannt wird. 42

So war die Liberalität der Verteidiger angeklagter Künstler nur Fortschritt auf einem Boden, der das Fortschreiten eng begrenzte. Alles, was diese gefeierten Sieger gesetz­ geberisch zustandebrachten, ist dies: daß man außerordent­ liche ästhetische und wissenschaftliche Qualitäten gegen die (nie bestrittenen und immer mißbilligten) obszönen abwog. Als im Jahre 1960 Jean Genets »Notre-Dame-des-Fleurs« vor den großen Straf-Senat des Hamburger Landgerichts kam, wurde verfügt: »Es soll Beweis erhoben werden über die Frage: überwiegen in >Notre-Dame-des-Fleurs< die Obszöni­ täten oder umgekehrt? durch Einholen einer gutachtlichen Analyse.« Die Gutachter waren Kunst-Experten. Die mora­ lische Verurteilung im Worte »obszön« wurde gar nicht in Frage gestellt. So benahm man sich durch die Jahrhunderte: der Moral-Kodex verstand sich von selbst; der Fortschritt bestand nicht darin, daß man ihn untersuchte, sondern nur darin, daß mehr und mehr andere Aspekte auf das Werk als mildernde Umstände zugelassen wurden. Und dieses »Über­ wiegen«, dies Mehr oder Weniger, angewandt auf zwei inkom­ mensurable Größen, dieses Aufrechnen unmoralischer Ele­ mente gegen andere, kulturell wertvolle (vor allem ästheti­ sche) wurde nie zum Problem. Die Anerkennung des ästhetisch und wissenschaftlich und pädagogisch Bedeutsamen als Kompensation für den Mangel an Moral war auch eine Barriere gegen die Gefahr: womög­ lich die Bibel und Shakespeare vor Gericht ziehen zu müssen. Die kühnste Ideologie zwecks Unsichtbarmachung des Ob­ szönen holten sich die Liberalen aus der Antike: das berühmte Kaloskagathos. In diesem Sinne verkündeten sie: Kunst ist immer moralisch. Wie immer die Griechen diese zwillinghafte Verbundenheit von Gut und Schön gemeint haben mögen — die schlichte Partnerschaft, als handle es sich um zwei be­ rühmte Kompagnons einer weltberühmten Firma: der Halske ist ohne den Siemens nicht zu denken ... ist schlichter Aber­ glaube. Wer nicht bereit ist, diese traurige Einrichtung der Welt: die 43

Möglichkeit einer Diskrepanz von Schön und Gut zu akzep­ tieren, denke wenigstens über Thomas Manns Worte nach: es sei eine »vorgefaßte Meinung«, zu behaupten, »Literatur und Fortschrittlichkeit seien identisch«; er fügte hinzu, »daß man mit dem größten Talent, mit dem erdenklichsten Witz und Glanz den Lobredner der Inhumanität, des Hen­ kers, des Scheiterhaufens, der Inquisition, kurz dessen machen könne, was Fortschritt und Liberalismus das Reich des Unter­ gangs nennen.« Mit dieser Einsicht sollte der Versuch, ästhe­ tisch zu retten, was man moralisch verurteilt, erledigt sein. Das Dogma: Kunst macht moralisch ... ist Teil der Theorie: die ästhetische Distanz sublimiere jeden irdischen Vorgang, beraube ihn seiner vitalen Kraft. Der Maler Emil Orlik fand für diese Illusion den stärksten Satz: »Ein Beischlaf, von Rembrandt gezeichnet, ist ein moralisches Kunstwerk.« Man ist verblüfft und fragt: wie hat der Maler ihn moralisch ge­ macht — und was war er vorher? Diese Transsubstantion wird auch Veredelung genannt. Sogar Freud, dessen ästhetische Arbeiten nie die Herkunft der Künste aus dem Trieb-Bereich verleugneten, sah nur ihr Dämpfendes. Und seltsamerweise war es gerade der Idealist Platon gewesen, der mehr die Triebstärkung der Kunst beachtete. Er wollte Homer in der »Republik« nicht zulassen, weil seine Götter nicht Päd­ agogen, sondern schlechte und außerdem noch wirksame Vor­ bilder seien. Die Heutigen, mindestens ebenso streng wie Platon, haben nicht mehr die Courage, mit den Enkeln und Urenkeln Homers anzubinden. Kunst distanziert — oder rückt näher, je nachdem; pazifiert oder aktiviert — je nachdem. Künstler dämpften ... und steigerten Affekte ins Ungemessene: nicht nur in der Tra­ gödie, in der sich Ödipus die Augen ausreißt, Othello im Rausch der Eifersucht mordet, Penthesilea aus Enttäuschung ihre Zähne in die Brust des Achilles gräbt, im Bunde mit ihren Hunden. Kein Don Juan hat soviele Menschen verliebt gemacht wie Werther; kein Liebesbund so die Sehnsucht ge­ steigert wie Romeo und Julia, Tristan und Isolde ... sie be44

ruhigten nicht, sie sind die großen Quellen des Aufruhrs der Sinne. Die Macht der Kunst kommt auch dem Morden zugute, das Shakespeare und Dostojewski wirksamer dargestellt ha­ ben als die Kleineren, von den Kleinsten nicht zu sprechen. Und die wirksamsten Werke der Pornographie sind vom Range der »Lady Chatterley« — gerade weil das Obszöne hier auch noch große Kunst ist. Die Pornographie der Künstler hat eine Eindringlichkeit, die kraftloseren Darstellungen fehlt. Das Fremd-machen, in dem Novalis das wesentliche Element des Romantischen, ja aller Poesie sah, die Verfrem­ dung, die Brecht als wichtigstes Mittel seines anti-emotionalen Kunst-Willens proklamierte, haben nur an der Oberfläche eine Ähnlichkeit mit den -w’taZ-feindlichen Lehren des epigo­ nalen Idealismus. Trotz der liberalen Vermummungs-Versuche, deren popu­ lärster die Schein-Identität von Moral und Kunst ist ... das liberalisierende Element in der Frage nach dem guten Willen des Schöpfers und dem ästhetisch-kulturellen Wert moralisch­ fragwürdiger Produkte darf nicht übersehen werden. Die so etablierte Praxis: daß ein Wort, eine Wendung, ein Thema noch nicht an sich als obszön zu verurteilen ist, änderte zwar nicht die Sexual-Moral, engte aber den Machtbereich der Engstirnigkeit wesentlich ein.

Ein Viertel-Jahrtausend Feigenblatt Die Geschichte der Entrüstung über das Obszöne ist wohl nicht älter als zweihundertundfünfzig Jahre — und vielleicht nicht verbreiteter gewesen als die europäisch-amerikanische Gesellschaft, deren Vorstellungen allerdings die Welt erober­ ten. Japan war eins der Länder, das durch die Jahrhunderte recht frei von dieser Entrüstung war: bedeutende Künstler haben das Unanständige in Holzschnitten, Kunst-Gegenstän­ den, Bildern und Versen dargestellt, die Lust erzeugen sollten.

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Seit der amerikanischen Besetzung nach dem letzten Krieg hat auch dies Land sein Obszönitäts-Gesetz und seine Sittlich­ keits-Streifen, mit allen Paraphernalia. Die Vorgeschichte des »Lady-Chatterley«-Prozesses 1960 geht also nicht weiter zurück als bis zum Beginn des Acht­ zehnten Jahrhunderts. 1708 machte die englische Krone den ersten Versuch, ein Buch als obszön zu verdammen: »Die fünfzehn Plagen einer Jungfernschaft«. Etwas später wurde die erste Bestrafung zelebriert. Ein Pornographie-Verleger kam an den Schandpfahl in Charing Cross. Der Verbrecher wurde aber nicht, wie üblich, mit Dreck beworfen, sondern, als er wieder frei war, von der Menge im Triumph in die nächste Taverne getragen. Nur selten sah man später so deut­ lich die lichte Seite der dunklen Medaille Obszön: die dank­ baren Empfänger. Weil zwischen die Spender des Vergnügens und die Be­ schenkten die Kontrolleure traten; sie mäkelten an der Bibel herum und an Shakespeare, sperrten noch 1927 das »Satyri­ con« des Petronius aus und 1930 sowohl Brantömes »Les Vies des dames galantes« als auch Huysmans’ »La Bäs«. Und ein Chirurg, W. Acton, schrieb in seinem Buch »Funktionen und Störungen der Geschlechtsorgane«: die »Unterstellung«, daß Frauen sexuelle Gefühle hätten, sei eine »gemeine Verleum­ dung«. Die Liste jener Welt-Literatur, die in England Schwie­ rigkeiten hatte und verboten wurde, ist stattlich. Der deutsch-katholische Erotiker Franz Blei tat alles, um seine Kirche von dem Vorwurf zu reinigen, an dieser Ent­ rüstung schuld zu sein; erst die moderne Aufklärung habe sie in die Welt gebracht. Und er zitierte den Kirchenvater Kle­ mens von Alexandrien, als Muster der Liberalität: »Warum soll ich mich schämen, jene Körperteile zu nennen, die zu er­ schaffen Gott sich nicht geschämt hat?« Ein isoliertes Zitat hat wenig Gewicht vor einer kontinuierlichen Praxis. Doch liegt eine große Wahrheit in der Anklage gegen die nur ein biß­ chen aufgeklärte Aufklärung. Franz Blei gehörte zu den Seltenen, die den überalterten, 46

lächerlich strapazierten Gegensatz Heidentum-Christentum unter die Lupe nahmen. Die Christenheit lebte auch recht heidnisch, unbehelligt von den Theologen, welche den Blick auf die Wirklichkeit verstellten; Ideologen funktionierten immer auch als Verhüller der Realität. Vor allem allerdings als Apologeten. Thomas von Aquino, der Systematiker des Katholischen, kam zu folgendem Schluß: da Gott das Fortbestehen der Menschen-Rasse wolle, da er die Erzeugung von Nachkommenschaft an den Geschlechtstrieb gebunden habe, wäre der Kampf gegen ihn eine Rebellion gegen den Herrn im Himmel. Der hohe Klerus war, wie man weiß, noch weniger rebellisch. Im Fünfzehnten Jahrhundert liebten Martin V. und seine Kardinäle die Obszönitäten des italienischen Humanisten Poggio sehr. In der berühmtesten geht es um »Eine junge Frau, die ihren Mann anklagte, unzulänglich gerüstet zu sein«: weil das Werkzeug des Esels, eines Tieres nur, doppelt so lang sei. Über diese und ähnliche Geschichten unterhielten sich die hohen Herren des Vatikan. Es darf aber der Einfluß sexual-feindlicher christlicher Theo­ logien nicht unterschätzt werden. Paulus sah in der Ehe einen Schutz gegen noch größere Unzucht. So riet er der Gemeinde von Korinth: »Um der Unzuchtsünder willen soll jeder seine eigene Frau und jede ihren eigenen Mann haben.« Aus einer Negation heraus war auch Tertullian fürs Heiraten: es sei besser als in Brand stehen. Und Augustinus meinte: der Königsweg zur vollkommenen Ehe sei die Entsagung. Er hatte bereits eine Einsicht, die dann leider verloren ging: daß die Verdammung des Sexuellen und der Sprache, die es be­ zeichnet, gleichen Ursprungs sei; ohne Sündenfall gäbe es auch keine obszönen Worte. Luther genießt zu Unrecht das Prestige, das Geschlechtliche zu Ehren gebracht zu haben. Er bezeichnete die Ehe als ein »Spital der Siechen«: »Gutt ist nicht freyen, es sei denn nott.« Eine Not aber bestehe überall, wo Gott die seltsam edle Gabe der Keuschheit nicht gewährt habe. Da die Ehe also eine Pro47

tektion gegen Hurerei sei, fand der Reformator auch noch den Beischlaf während der Schwangerschaft gerechtfertigt. Calvinisten und Puritaner waren dann strenger, erkannten nur noch den Fortpflanzungs-Akt an, nicht die begleitende Wollust und nahmen so dem ehelichen Vergnügen die letzte Rechtfertigung: daß es wenigstens nicht ganz so vergnüglich sei wie der Harem ... Diese Lehren können nicht ohne Folgen geblieben sein. Es ist wohl eine autobiographische Rechtfertigung katholi­ scher Erotiker wie Blei, wenn sie die Feindseligkeit der christ­ lichen Kirche gegen das Sexuelle schlicht zu leugnen suchen und philosophieren: »Alle Religionen integrieren sich das Sexuelle, indem sie es sublimieren und sanktifizieren.«Tatsächlich hat das Christentum kaum sublimiert und sanktifiziert — außer vielleicht im Marienkult und der spirituell-sexuellen Nonnen-Mystik. Vielmehr hat die Kirche getan, was alle diplomatischen Utopisten taten: sie hat das Soll und das Ist hübsch separiert gehalten ... und in ihren großen Jahrhun­ derten nicht noch durch Entrüstung die Aufmerksamkeit auf das Nebeneinander gelenkt. So drang die Unzucht unbehelligt in die offiziellsten Kund­ gebungen ein — in die Ausschmückung der Kathedralen, in die Literatur der Geistlichen. Eines der ältesten anglo-sächsischen Denkmäler, das sogenannte Exeter-Buch, ist eine Sammlung von Äußerungen der Frömmigkeit, der Reue, erzieherischer Ideen. Der Herausgeber war ein Mönch. Aufgenommen wur­ den auch die gesalzensten Charaden: Etwas Seltsames hängt dem Mann zwischen den Beinen Unter seiner Kleidung. Es ist vorn gespalten, Ist steif und hart, hat einen guten festen Platz. Wenn der Mann seine Kleidung aufmacht Über dem Knie, wünscht das Ding zu besuchen Mit dem Kopf des herunterhängenden Werkzeugs das bekannte Loch, Das es, wenn es hineinpaßt, schon oft vorher gefüllt hat.

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Auflösung: der Schlüssel. Auf vielfältige Weise drang das Anzügliche in alle Gattungen der Literatur ein. Es gibt einen Briefwechsel zwischen Lawrence Durrell und Alfred Perles, in dem die Frage auftaucht: »Petronius, Rabe­ lais ... haben sie wohl ihre Zeitgenossen schockiert?« Man möchte weiter fragen: wer hat einst Ovids kräftige Anlei­ tung zum Zusammenschlafen gelesen? Hat man sich entrüstet? Das Gerücht, daß ihn der Kaiser wegen seiner Unanständig­ keiten ins ferne Tomi verbannt habe, ist nichts als welthisto­ rischer Klatsch. Durrell fuhr fort: »Man wird sich nicht klar darüber, ich möchte wohl annehmen, daß die Zivilisation, mit der sie es zu tun hatten, nicht leicht für Entrüstung in unserem Sinne empfänglich war.« Und erst recht waren nicht empfänglich für Entrüstung jene Orientalen, deren Hand­ buch für alle Lagen im Bett das »Kamasutra« war, mit seinen Kapiteln: »Arten der Liebesvereinigung nach den körper­ lichen Dimensionen«, »Uber das Beißen, Umarmen, Küssen, Sich-drücken oder Bearbeiten mit den Fingernägeln«, »Von den Geräuschen, die für die verschiedenen Weisen des Zu­ sammenkommens geeignet sind«. Die Frage Durrells muß erweitert werden. Weshalb konnten im Vierzehnten Jahrhundert erscheinen: Boccaccio und Chaucer ... im Fünfzehnten: die dreihundert »Facetiae« des Poggio, Sekretär der apostolischen Kirche, dann Kanzler von Florenz, und die Cent Nouvelles Nouvelles, deren Autor vielleicht Ludwig XL von Frankreich war ... im Sechzehn­ ten: Aretinos »Gespräche«, Rabelais’ und Brantömes »Leben der galanten Damen«, »Simplicius Simplicissimus« und Da­ niel Defoes »Glück und Unglück der berüchtigten Moll Flan­ ders, die in New-Gate das Licht der Welt erblickte und von sechzig Jahren eines wechselvollen Lebens zwölf als Dirne lebte, zwölf das Handwerk einer Diebin trieb, acht als Straf­ gefangene in Virginia zubrachte, schließlich aber zu Reichtum gelangte, nachdem sie fünfmal verheiratet gewesen, darunter einmal mit dem eigenen Bruder, ein ehrenhaftes Leben führte und bußfertig starb«? 49

Noch zu Beginn des Achtzehnten Jahrhunderts erschienen kräftige Barock-Verse auf die »Kunst zu küssen« und ver­ wandte Künste, ohne daß sich die Zeitgenossen sonderlich entrüsteten. Dann bekamen griechische und Renaissance-Sta­ tuen Feigenblätter. Dann wagten die Hüter der Gesellschaft nicht, den unverschämten Casanova herauszugeben. Dann waren die deutschen Klassiker und Romantiker sehr brav, ebenso die englischen, französischen und russischen Realisten des Neunzehnten Jahrhunderts. Seine Kultur stand im Zei­ chen des Feigenblatts. Sieht man den Strom der Welt-Literatur zurück — dorthin, wo das Feigenblatt zum erstenmal in Erscheinung trat, in der Genesis, dann fällt die enorme Kluft zwischen zwei Sätzen auf. Der erste lautet: »Und die beiden, der Mensch und sein Weib, waren nackt und schämten sich nicht.« Der zweite: »Und sie hefteten Feigenblätter zusammen und machten sich Schurze.« Was lag zwischen Unbefangenheit und Scham: nicht gemäß der biblischen Mythologie, sondern in dem Vorgang, den sie nur verhüllt? Die Geburt der Entrüstung! Etwas Ähn­ liches muß sich um die Wende des Siebzehnten und Achtzehn­ ten Jahrhunderts zugetragen haben. Im Siebzehnten Jahrhundert führte ein hoher Beamter des englischen Marine-Ministeriums, Samuel Pepys, ein zwei­ tausendfünfhundert Seiten langes Tagebuch, das besonderes Augenmerk auf das geheime und weniger geheime Treiben seines geheimsten Gliedes richtete. Im Jahre 1775 entwarf ein Mann, auf dem Wege, ein hoher Beamter des Staates SachsenWeimar zu werden, der sechsundzwanzigjährige Goethe, eine Farce »Hanswursts Hochzeit«, die nicht damit zu erklären ist, daß er (wie ein bekannter Goethe-Forscher meint) eins über den Durst getrunken hatte. Vielmehr war ihm das Schweben im reinen Äther des un­ geduldigen Faust über. So schuf er, in Besinnung auf die andere Hälfte seines Daseins, diese Karikatur: den ungedul­ digen Bräutigam. Der hat die langen Hochzeits-Vorbereitun­ gen satt (wie Faust das Studieren), die Gäste sind ihm wurscht,

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er will zu »des Lebens grünem Baum« (wie der Dichter später sagte), in diesem Falle zur Braut Ursel Blandine — und sagt es mit der Deutlichkeit einer schwindenden Epoche: Ich mögt wohl meine Pritsche schmieren Und sie zur Tür hinausformieren, Indeß was hab ich mit den Flegeln Sie mögen fressen und ich will vögeln.

Der Goethe-Forscher nennt die Namen der dramatis personae »Ekelnamen«: Hans Arsch von Rippach, Matzfoz von Dresden, Nichte Schmuckfözgen, Loch König, Peter Sau­ schwanz, Hosenscheiser, Leckarsch, Spritzbüchse, Farzpeter. Sie ekeln Professoren und die gute Gesellschaft, von wel­ cher der Dichter damals mehr als genug hatte. Ihn ekelten die Ekelnamen nicht. In dem Maße, in dem man sie öffent­ lich verpönte, wurden sie ein mächtiges Ventil der Befreiung von gesellschaftlichem Druck. Goethe lebte im Saeculum des Rokoko und der noch sitt­ sameren Klassik; so blieb sein literarischer Aufstand in der Skizze stecken. Er begann mit einem Geheim-Archiv, einem »Bündelchen verschnürter Schreibereien«, wie es Thomas Mann nannte; und endete sehr schnell mit dem Geheim-Rat, der in einem langen Leben nur wenige Stücke für das GeheimArchiv verfaßte. Das aber gehört weniger ins Kapitel Goethe und mehr in die Geschichte des Feigenblatts im letzten Viertel-Jahrtausend. Audi die Epoche des großen Realismus sparte die Ereignisse der vitalen Sphäre weitgehend aus; in seinen Tagen fanden die großen Prozesse gegen Obszön statt, wie schon ein be­ scheidener Hinweis auf die Wirklichkeit des Sexus bezeich­ net wurde. Was die Gesellschaft damals schockierte, war be­ reits sehr zensuriert zur Welt gekommen — vergleicht man es mit den unbekümmerten Ahnen. Woher die wachsende Ent­ rüstung? Es gibt, vor so umfänglichen Rätseln, immer mehr als eine einzige Auflösung. Vor allem soll man das Wort »Puritanis­

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mus« (als Abstractum) aus dem Spiel lassen; es klärt nichts auf und ist selbst erklärungsbedürftig. Auch das Anschwellen der unanständigen Straßen-Literatur ist keine Begründung; vielleicht eher eine Folge der Tatsache, daß die große Litera­ tur so zurückhaltend wurde. Mit dem Zeitalter der Aufklärung verstärkte sich (das wird kaum bemerkt) die Angst vor den dunklen Kräften unter­ halb der erhellten Welt. Damals schrieb Schiller: Und der Mensch versuche die Götter nicht, und begehre nimmer und nimmer zu schauen, was sie gnädig bedecken mit Nacht und Grauen.

Die frohe Botschaft: mehr und mehr Licht... verdeckte auch die steigende Angst vor mehr und mehr Dunkel. So kam mit dem Zeitalter der Vernunft die rigoroseste Moral ins Dasein. Als in England die Vice Societies, die Ge­ sellschaften gegen das Laster, ins Kraut schossen, blühte in Deutschland der unerbittlichste, der Kategorische Impera­ tiv — und wohl aus demselben Grund: die schwach ge­ wordenen himmlischen Autoritäten mußten durch starke irdische ersetzt werden. Kant und Fichte, des Atheismus an­ geklagt, produzierten als neue Sicherheit einen SittlichkeitsRigorismus, den die christlichen Jahrhunderte vorher kaum gekannt hatten. Die Dynastie Gott war stark genug gewe­ sen, um manches durchzulassen; sie hatte genug Autorität ge­ habt, um auch milde zu sein. Die Dynastie Vernunft, auf weniger solidem Boden, mußte strikter sein. Es war die Auf­ klärung, welche die Epoche der deftigen sexuellen Literatur des Sechzehnten und Siebzehnten Jahrhunderts beendete. Gott Ratio zeigte der Göttin Venus die kalte Schulter. So verkündete der amerikanische Aufklärer Benjamin Franklin: »Kein Liebesgenuß: außer aus Gründen der Gesundheit oder der Nachkommenschaft.« Und der große aufklärende Lessing wurde ein Ahn der späteren liberal-illiberalen Verteidiger obszöner Kunst: indem er das Unanständige preisgab — und den Künstler, dem es vorgeworfen wurde, gegen den Vor­

wurf in Schutz nahm. In solcher Apologie zeigte sich auch bei ihm die Moral-Pusseligkeit. Er stellte sich zwar auf die Seite des Epigrammatikers Martial — aber eben mit einem Argument, das eine große und nicht sehr helle Zukunft haben sollte: der Poet habe das Obszöne nur durchgelassen, um es zu tadeln, »mit Spott und Verachtung«. Und wo diese Ver­ teidigung beim besten Willen nicht möglich war, wo Martial selbst sich als indezent porträtierte, half sich Lessing mit der Bemerkung: wenn ein Dichter in der ersten Person von sich spreche, meine er nicht immer sich. So intolerant in Eroticis war der Verfasser des »Nathan«, dem Deutschland viel Licht verdankt: daß er Martial nicht verziehen hätte, wenn er wirklich derjenige gewesen wäre — der er offenbar war. Die Grenzen der Aufklärung sind noch nicht recht erforscht wor­ den; vor allem nicht ihre Intoleranz contra obscoenum. Immerhin konnte im Zeitalter kleiner Leser-Schichten ihre Bildung noch als Regulativ in Betracht gezogen werden, ein Motiv zur Nachgiebigkeit. Je weniger man aber auf den ge­ bildet-disziplinierten Käufer des Buchs rechnen konnte, um so mehr mußte kontrolliert werden. Solange die Autoritäten, die äußeren und die inneren, selbstverständlich funktio­ nierten, war die Angst vor der Anarchie nicht zu mächtig. Die Entrüstung über das Obszöne wurde um so größer, je mehr man sich vom sexuellen Chaos bedroht fühlte: der Ursprung aller Unordnung. Kein Zufall, daß Hebbels »Rühre nimmer an den Schlaf der Welt« im Zusammenhang mit dem heimlichen Entkleiden der Ehe-Frau vor dem Frem­ den ausgesprochen wurde. Sexuelle Entfesselung ist Auflö­ sung aller gesellschaftlichen Bande. Ein Dr. Soper schrieb in diesen Tagen: »Das Mädchen, dem man Mut macht, nichts Schlimmes darin zu sehen, daß sie sich mit dem Körper eines andern vergnügt, wird auch nichts Böses darin sehen, daß sie sich mit dem Geld eines andern amüsiert.« Nicht immer wird es so naiv gesagt. Aber immer wird es so empfunden. So wuchs durch das Jahrhundert der Toleranz die Intoleranz gegen die sexuelle Lust. Im Jahre 1806 war im Lande Shake­

speares über den Dichter zu lesen: »Freche Obszönitäten, niedrig Vulgäres und übelmachende Laster kommen so oft vor, und beschmutzen die Seiten, daß man nur die unglückliche Stunde bedauern muß, in weldier er ein Stückeschreiber wur­ de.« Und bei Coleridge heißt es: »Shakespeares Worte sind zu indezent, als daß man sie übersetzen kann ... nur in den elend­ sten Tavernen hört man so etwas.« Die Entrüstung über das Eindringen des »Grobtierischen« entzündete sich bereits am Walzer. Es entstand eine Rühr-mich-nicht-an Empfindlichkeit — schon lange vor dem Regierungs-Antritt der Queen Victoria, die wenigstens am Victorianischen nicht schuld war. Überhaupt wurde die »Engländerei« (wie man bereits um die Wende des Neunzehnten Jahrhunderts sagte) als Quelle der Entrüstung überschätzt. Gewiß rühmte sich Dickens in der Einleitung zum »Oliver Twist« (1841), daß »er noch dem niedrigsten Charakter seines Buchs nur die Sprache erlaubte, die keinen Anstoß erregen könne.« Aber das internationale Klima der Zimperlichkeit auf Britannien zurückzuführen, ist ebenso al­ bern wie jede aggressive Völker-Psychologie. Während der Regierung Victorias fanden in Paris die Prozesse um »Ma­ dame Bovary« und »Die Blumen des Bösen« statt. Und in Deutschland entrüstete man sich, durch das ganze Neunzehnte Jahrhundert, über Friedrich Schlegels »Lucinde«, später dann auch noch über Sigmund Freud. Obszön ist einer der großen Affekte der nach-christlichen Jahrhunderte. England natürlich eingeschlossen. Ein besonders schönes Do­ kument stellt die Londoner Saturday Review vom 5. April 1856 dar. Man glaubt zunächst, sie sei in den Tagen des Paradieses erschienen. Sie macht sich lustig über die Leute, welche denken: es sei die wichtigste Aufgabe des Poeten, Kin­ der zu unterhalten. Sie wirft den Erwachsenen vor, daß sie eine entkräftete Literatur mit Reinheit verwechseln. Sie weist auf die Statistik hin, auf den nächtlichen Anblick der Stra­ ßen, auf die Berichte aus Gerichts-Sälen. Man hat den Ein­ druck, hier sollen die Dichter ermuntert werden, etwas blut­ 54

voller ihre Zeit zu zeichnen. Ach, hier wird die Literatur nur deshalb getadelt, weil sie nicht genug die sündige Wirklich­ keit abstraft. Hier wird auf die Zeitgenossen von Dickens mit dem Zeigefinger gewiesen, weil sie nicht besser sind als die Zeitgenossen Fieldings, obwohl Dickens soviel gesitteter schrieb. Und in derselben Nummer wird über »Madame Bovary«, die gerade unter Anklage stand, der Stab gebrochen. England war ebenso victorianisch wie der Rest dieser Feigen­ blatt-Kultur.

Ein Gespenst auf dem Operationstisch Die Obszönitäten, die wir im Zusammenhang mit Anklagen gegen eine Reihe von literarischen Werken betrachten wer­ den, sind chronologisch gereiht, zwischen 1800 und unseren Tagen. Ist an dieser Reihe eine Entwicklung abzulesen? Eine Abrüstung oder Aufrüstung der Entrüstung? Mancher Leser wird den Eindruck gewinnen: er und sein Nachbar und dessen Nachbar denken freier als die Zeitgenos­ sen der Aufregungen von einst. Wird nicht gerade jetzt ein Buch angekündigt, das seit fast einem Jahrhundert ein Glanz­ stück der geheimen Literatur war: Mark Twains »1601«? Daß kein Irrtum entstehe! Es gibt einen Gestaltwandel des Victorianischen, der eine Wandlung nur vortäuscht. Was wandelte sich? Es ging in den letzten Jahrhunderten vom matteren zum stärkeren Vokabular. Es ging von der seltener zur häufiger verbreiteten Unanständigkeit. Es ging auch von lauteren zu leiseren Protesten: in Ehrfurcht vor den KunstExperten. Die Entrüstung ist dieselbe geblieben, wie jeder erken­ nen kann, der die Reaktion auf den Freispruch der »Lady Chatterley« beachtet hat. Die öffentliche Sexual-Moral hat sich kaum geändert — auch wenn sie weniger pathetisch ge­ worden ist, etwas eingeschüchtert vor einer Wirklichkeit, die sie vorsintflutlich erscheinen läßt.

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Aber zur Wirklichkeit gehören auch jene Gespenster, die sie nicht anerkennen und zu maßregeln suchen, wo immer sie können. Das Gespenst Obszön geht unter uns um wie eh und je: von Los Angeles bis Wladiwostock, von dem Oslo, das sich gegen Henry Millers »Wendekreis des Krebses« wendete, bis Japan, das endlich auch die Segnungen des Feigenblatts ge­ nießt. Es wandelte sich die sexuelle Gesellschaft; es wandelte sich nicht die Einschätzung sexueller Lust. Man hat nicht mehr den Mut, den Kultur-repräsentierenden Sachverständi­ gen so laut zu widersprechen, wie man es noch in den Tagen der Angriffe auf den liberalen Pastor Schleiermacher wagte. Aber zeigt die Macht der Experten und ihrer Gutachten einen Wandel des sexual-moralischen Klimas an? Der Kampf ge­ gen das Obszöne ist kleinlauter geworden — dort, wo es von Kultur-Trägern als Kultur-Träger gefeiert wird. Aber die verborgene Antipathie, welche auch die Fortschrittlichen ge­ gen das Unanständige hegen, tritt zum Beispiel in einem snobistischen Naserümpfen zutage: wie langweilig! Eifernd oder hochmütig: die alte Aufregung ist sehr am Leben und wert, gründlich untersucht zu werden. Sie wird hier angeschaut, nicht nur abstrakt-theoretisch ana­ lysiert. So wird in diesem Buch ein paar klassischen Ent­ rüstungen die Farbe ihrer Zeit gelassen, auch das Cachet des Individuellen. Es kommen also auch zufällige Züge ins Bild, die eine begrifflich systematische Erörterung ausschalten könnte. Das Moral-philosophieren innerhalb konkreter Si­ tuationen hat den Vorteil, daß man sich nicht in den Himmel nichtiger Allgemeinheiten versteigen kann. Auf diesen Seiten herrscht die Absicht, nah bei den Dokumenten zu bleiben. An sie werden viele Fragen gerichtet — und manche beant­ wortet. Zwei machen besondere Schwierigkeiten: woher stammt der Trieb zur Darstellung des Obszönen: vom Ex­ hibitionismus in Person bis zum Exhibitionismus im Ton, im Bild, im Wort? Und woher der andere Trieb, das Obszön zu brandmarken und das Gebrandmarkte zu verfolgen? Die Verfolger, die wir bei Namen kennen, sind nicht nur Staats­

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anwälte und Polizisten, welche diese Jagd beruflich betrie­ ben; wie einer Bank-Beamter wird, so ein anderer Anklä­ ger. Es sind bisweilen die erlauchtesten Gelehrten, welche die ordinärsten Hetz-Jagden veranstalten, auf akademisch. Lei­ der entziehen sich diese Herren und Damen der Autopsie. Was wir von ihnen wissen, ermöglicht noch nicht, die Ent­ rüstungs-Bazillen unters Mikroskop zu legen. Doch existierte, am Ende des Neunzehnten Jahrhunderts, ein klassischer Entrüster, dessen Tagebücher einen großartigen Einblick in das Werden dieses Affekts gewähren. Er hieß An­ thony Comstock; ein Amerikaner, der so lebendig war wie Barnum und zu seiner Zeit ebenso berühmt. Ein Schüler Freuds, der Engländer Ernest Jones, schrieb über ihn, ohne es zu ahnen: »Die Menschen, die sich insgeheim zu verschie­ denen Versuchungen hingezogen fühlen, sind emsig bemüht, anderen Menschen diese Versuchungen aus dem Wege zu räu­ men. In Wirklichkeit schützen sie sich selbst unter dem Vor­ wand, andere zu schützen; denn im Innersten fürchten sie sich vor ihren eigenen Schwächen.« Diese psychologische Hypo­ these von der Flucht vor der eigenen, für sündhaft gehalte­ nen Sexualität als Motiv des Detektivs hinter dem unan­ ständigen Verbrecher wird hier verifiziert an einem der lei­ denschaftlichsten Obszönitäts-Jäger. Es ist nicht jeder Fall so gewichtig. Es gab unter den JagdGenossen dieses Typs manchen, den die Freude am Jagen von Menschen nur zufällig auf sexuelle Jagdgründe verschlagen hatte. Es gab auch die, welche das Nackte nur deshalb ver­ folgten, weil sie (wie die meisten, meinte Montaigne) nackt nicht sehr erfreulich anzusehen sind. Es gibt viele Ursprünge des Jagens von Obszönem. Nicht der geringste ist der Stolz, der in der Sexualität (und gar in ihrer Reizung durch Be­ nennen) eine Minderung der Herrschaft des Menschen über sich selbst sieht. Es war dieser Stolz auf die Souveränität der regierenden Vernunft, der Augustinus dazu brachte, zu schrei­ ben: die Nachkommenschaft sollte mit der Hand gesät wer­ den wie das Korn in die Erde; auch brauche die Jungfernhaut

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nicht verletzt zu werden, da der Samen durch denselben Duktus eingeführt werden könne, durch den das Menstrua­ tionsblut austräte. Hinter vielen krausen Vorstellungen, wel­ che die künstliche Befruchtung vorwegnahmen, steckte auch der Widerstand gegen die Stunden, in denen der Mensch am wenigsten sich gebieten kann. Woher aber das Verlangen stammt: literarisch-sexuell zu reizen, kann wahrscheinlich nicht am lebenden Objekt nach­ gewiesen werden — und kämmte man die Lebens-Geschichten der Künstler noch so gründlich aus. Denn gerade dieser Hang ist des Teufels, wie man meint: und wird als schmutzige GeldGier motiviert (als ob es eine saubere gäbe); auch mit der Wendung »Dirt for dirt’s sake«, eine amerikanische Albern­ heit. Denn wie jemand Schmutz hervorbringt im Interesse des Schmutzes, kann ebensowenig erklärt werden wie L’art pour l’art: wie jemand Kunst hervorbringt im Interesse der Kunst; denn die beiden ganz groß Geschriebenen sind nichts als Gespenster. Auf der Suche nach der Herkunft des Triebs zur literarisch­ sexuellen Exhibition wird man wohl nicht weiterkommen als bis zur Theorie. Und man darf nicht vergessen, daß dieser Drang nicht nur eine einzige Wurzel haben wird. Das Be­ mühen, hier zu erhellen, war immer mühsam; die moralischen Verurteilungen ließen es gar nicht erst zum Nachdenken kommen. So begann ein höchst zweifelhafter Forscher un­ serer Zeit seine Definition der Zote, eines Ursprungs der indezenten Literatur, mit dem Satz: »Zote bedeutet immer etwas ethisch Minderwertiges« — ein Ansatz, der dann auch zur gewünschten Lehre führt, die in ihr »geistige Notzucht« sieht. Wohingegen Freud, ein Entdecker, zunächst einmal in­ teressiert war an der Geburt der Zote aus dem Trieb. Er suchte, wie immer, den Ursprung eines ästhetischen Phäno­ mens in der vitalen Funktion, der es seine Entstehung ver­ dankt. Er konstruierte die Zote als sprachliches Losgehen auf den Geschlechts-Partner, mit Hilfe der obszönen Wendung; es wird »die angegriffene Person zur Vorstellung des betref­

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fenden Körperteils« gezwungen und so in »korrespondie­ rende Erregung« versetzt. Dann habe sich die Zote verselb­ ständigt, als ihr Transitorisches aus äußeren Gründen (zum Beispiel wegen der Gegenwart eines Dritten) nicht zu etwas führte. Von diesem Dritten leitete Freud die gesellschaftliche Bedeutung der Zote ab. Hier mag eine von mehreren Quellen der obszönen Literatur gefunden sein. Doch bringt die Zote, wenn auch das Muster für einen breiten Bereich innerhalb der Welt-Literatur, nur ein begrenztes Verhältnis zur sexuell-analen Welt an den Tag. Hämisch-plebejisch oder behaglich oder vehement gegen das feine Vertuschen: eine Zote hat nie Verliebtes und nie Trauriges und nie die Aufsässigkeit gegen das moi haissable. Die sehnsüchtigen und verzweifelten Obszönitäten haben an­ dere Herkünfte. Der Stellenwert innerhalb der Persönlichkeit, die das In­ dezente herausstellt, bestimmt erst das Woher. Bei Luther heißt es: »Du sollst kein Buch schreiben, ohne auf den Furz einer alten Sau gehört zu haben — der Du Deinen Mund weit öffnen und sagen sollst >Dank Dir, liebe Nachtigall. Ist Dein Text für mich?Warum bist Du nicht züchtig und läßt mich nicht schlafen?< Da sprach das Kind: >Ich will Dich nicht schlafen lassen, Du mußt mich zu Dir nehmens So nahm ich es mit Begierden und mit Freuden aus der Wiege und stellte es auf meinen Schoß. Da war es ein leibhaftiges Kind. Da sprach ich: >Küsse mich, so will ich es vergessen, daß Du mir die Ruh benommen hast!< Da umfing es mich mit seinen Armen und halste und küßte mich. Da­ nach verlangte ich von ihm, zu wissen um die heilige Beschnei-

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düng, das wird mir nicht von ihm kundgetan.« Auf alten Holzschnitten der Wiener Bibliothek, die aus diesem Jahr­ hundert stammen, zieht Christus der minnenden Seele die Kleider ab. Ein Vers gibt die Erklärung: Willst du dich freuen mein So mußt du ganz entblößet sein.

Flaubert ist, im Jahrhundert der psychologischen Verdächti­ gungen, nicht soweit gegangen. Aus dem Fünfzehnten Jahrhundert hätte Senard diese SchlußVerse eines Jesus-Lieds anführen können: Meines Liebsten Arme Stehen weite ausgebreitet: Adi könnt ich darin rasten, So vergaß idi all mein Leid! Er hat zu mir geneiget, Seinen edlen roten Mund: Ach könnt ich ihn küssen, Meine Seele, die würde gesund.

Und ein »Badelied« aus derselben Epoche endet: Ihr Fräulein insgeheime, Dies Badeliedli reine Wünsch ich Euch alle Stund. Daß Euch Gottes Gnad erwärme, Nehmt Jesus in die Arme, Daß er sich schier erbarme Und mach die Seel gesund!

Eine weniger aufgeklärte Zeit als das Neunzehnte Jahrhun­ dert durfte noch schlicht-»unschuldig« dies Ineinander von Trieben und Aufschwüngen aussprechen, ohne daß Gutes und Böses auseinandersortiert wurde. Das begann erst in der Zeit, in der Schiller dichtete: Adi, zu oft nur drückt der Gottesliebe Aphrodite ihren Stempel auf.

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Nach dem Dreizehnten, Vierzehnten und Fünfzehnten Jahr­ hundert: das Sechzehnte. Aus ihm stammen die Lieder des Heiligen François de Sales, die durch die Jahrhunderte von der weiblichen Bevölkerung Frankreichs gesungen wurden: Vive Jesus, lorsque sa bouche D’un baiser amoureux me touche.

Und Zeitgenossen der Herren Pinard und Senard, die Gebrü­ der Goncourt, notierten in ihren Tagebüchern: Religion ist ein Teil des weiblichen Geschlechtslebens. In den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts beschrieb der Katholik Franz Blei ein Manuskript der Münchener Biblio­ thek, eine Bilderfolge Liebeswerke und Einung, wie folgt: Jesus tritt in das Schlafgemach seiner Braut, der Seele, und geht an ihr Bett, sie zu beschauen, die eine Magd ist. Auf dem nächsten Bilde ergötzt sich das Paar an reicher Tafel. Die Standhaftigkeit wird auf dem dritten geprüft, da Jesus die Braut ganz entblößt und mit Ruten schlägt. Nun wendet er ihr wieder seine Liebe zu und reicht ihr den Becher mit dem Minnetrank. Die nackte Magd umfaßt ihren Geliebten, fes­ selt ihn und schießt ihm den Pfeil der Liebe ins Herz. Das letzte Bild stellt beide trunken von Liebe dar: ChristopherOrpheus singt seiner Braut Liebesworte ins Ohr.

Die unio mystica und die unio physica, religiöse und sexuelle Inbrunst, zwei Ekstasen, zwei Aufschwünge aus dem Alltag heraus, aus dem Individuum heraus, aus der Zeit heraus ... in welchem ursächlichen Zusammenhang sie auch stehen mö­ gen: sie hatten immer die Neigung, ineinander zu fließen. Der Herr Senard aber hatte entweder nicht die Kenntnis oder nicht den Mut, um das dem Staatsanwalt deutlich zu machen. Wie lahm war es, Bossuets »Unerlaubte Vergnügungen« als Kronzeugen heranzuholen! Bossuet schilderte die Illusionen, die von den Sinnen ausgebrütet werden. Flaubert hingegen sah (wie der Staatsanwalt sehr gut erkannte) das Glück, das

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aus der Sinnlichkeit kommt. Versuchte der Verteidiger, zu täuschen oder täuschte er sich selbst? Unter heftigstem Feuer stand Flauberts außerordentliche Schilderung der letzten, mit Wollust empfangenen Ölung, die der Selbstmörderin zuteil wird. Senard hätte aus der Geschichte des christlichen Epikuräismus den christlichen Phi­ losophen Malebranche, der zur Kongregation der Väter des Oratoriums Jesu gehörte, zitieren können: »Wir gehorchen Gott, wenn wir dem Instinkt nachgeben, der uns treibt, un­ sere Sinne und Leidenschaften zu befriedigen.« Auch hätte Senard darauf hinweisen können, was später der Graezist Usener so umschrieb: »Das ganze Heidentum zog in das Chri­ stentum ein.« Mußte einziehen, hätte der Advokat hinzu­ fügen dürfen, weil es sonst nur die Geister, nicht auch die dazugehörigen Körper erobert hätte. Ach, der Liberale zog sich, wie dann jeder seiner Kollegen in ähnlicher Situation, hinter das Lob auf die poetische Gestaltung zurück. Und schob, ein ewiges Muster, das Ästhetische vor, um sich vor dem Moralischen zu drücken. Der Staatsanwalt hatte besonders die folgenden Sätze Flau­ berts auf die Anklagebank verwiesen: »Der Priester erhob sich und ergriff das Kruzifix. Sie reckte den Hals wie jemand, den es dürstet, und preßte auf den Leib des Gottmenschen mit dem letzten Rest ihrer Kraft den innigsten Liebeskuß, den sie jemals gegeben hatte. Dann sprach der Geistliche das Misereatur und das Indulgentiam, tauchte seinen rechten Daumen in das öl und begann die heilige Handlung; zuerst salbte er die Augen, die so begehrlich nach allen Herrlich­ keiten der Welt geschaut hatten; dann die Nasenflügel, die so gern die lauen Lüfte und die Düfte der Liebe eingesogen, dann den Mund, der so oft zu Lügen sich aufgetan, in Hof­ fart gezuckt und in Wollust gestöhnt hatte, dann die Hände, so geschaffen, zärtlich zu berühren, und endlich die Sohlen der Füße, die einst so flink gelaufen waren, wenn es galt, ein Begehren zu stillen.« Der Ankläger kommentierte: »Ich treffe in einem Roman 140

nicht gern heilige Dinge an.« Er hätte noch deutlicher sagen können: hier wird allen Sinnlichkeiten feierlich das Cachet der Heiligkeit verliehen. Georg Büchner hatte einige Jahr­ zehnte zuvor geschrieben: »Wer am meisten genießt, betet am meisten.« In diesem humanen Sinne hätte M. Senard ant­ worten sollen. Der Staatsanwalt wußte: die Aufhebung der Grenze zwischen den sogenannten niedrigen und den sogenannten höheren Trieben ist bereits Anarchie, da diese Grenze die Ordnung herstellt. Der instinktsichere Mann merkte, daß alle Entklei­ dungen harmlos sind vor der Überschreitung jener soliden Linie, die das sogenannte Menschliche von dem sogenannten Tierischen scheidet. M. Pinard witterte das Ende der Welt, als Emma Bovary »den Herrgott mit denselben Koseworten an­ redete, die sie ihrem Geliebten in den hingehenden Augen­ blicken des Ehebruchs zugeflüstert hatte«. Er stand auf dem festgetretenen Boden einer uralten Tradition. Sein Gegenspieler hingegen hatte der Anklage nichts als advokatorische Kunststückchen entgegenzusetzen. Sainte-Beuve ha­ be dasselbe getan — weshalb ist er nicht angeklagt worden? Ein seltsamer Jurist, der sich vor einer Anklage darauf be­ ruft, daß ein anderer, der dasselbe getan hat, nicht angeklagt worden ist. Aber dann konnte der Verteidiger wirklich noch alle düpieren; und vielleicht sogar sich selbst. Er konnte, hier angelangt, einen kleinen Überraschungs-Sieg erringen. Woher stammt Flauberts Ritual der letzten Ölung? Nicht aus seiner schmutzigen Phantasie, die als gotteslästerlich plus obszön gestempelt worden ist. Die heilige Handlung ist sehr genau einem Katechismus nachgebildet worden, der von Abb£ Ambroise Guillois, Kuratus von Notre-Dame-du-Pr6 ver­ faßt, von Seiner Eminenz, dem Kardinal Gousset, von den Bischöfen und Erzbischöfen von Mans, Tours, Bordeaux und Köln anerkannt, vor sechs Jahren gedruckt wurde. Siegesgewiß las der Anwalt vor, wie auch im offiziellen Buch des Abb£ während der letzten Ölung alle Sinne aufgerufen werden: die Augen, die Ohren, die Nasenlöcher, der Mund,

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die Lippen; sogar das Gemächte und die ungezähmten Triebe waren nicht vergessen worden ... Und das Gericht bemerkte offenbar nicht, daß der stolze Besitzer dieser funkelnden Waffe — wußte er es? — ganz hübsch mogelte. Flaubert schuf in seiner Mischung von Profanem und Heiligem wirklich eine Aufhebung dieser Scheidung. Während die Vorlage, nach welcher der Erzähler sehr präzis gearbeitet hatte, in schärf­ stem Gegensatz zum Roman die Sinne aufrief — um sie zu verdammen. M. Senard hatte noch zwei andere Pfeile im Köcher; er hatte ein ganzes Bündel davon, zeigte es vor, zog aber nur die bei­ den heraus: den angesehenen Kritiker Sainte-Beuve, der eine letzte Ölung ähnlich gemalt hatte; und den großen Poeten Lamartine. Ihn vor allem schoß Flauberts Beschützer in Sie­ ges-Laune ab. Einen Satz Lamartines schwang er triumphie­ rend gegen den Ankläger: der große Dichter fand, der junge Kollege Flaubert habe die Bovary zu hart angepackt. Der aber schrieb, in jenen Tagen, erstaunt: »Alles in meinem Buch sollte ihn irritieren.« Der Dichter-Fürst Lamartine wurde nicht irritiert, weil er entweder den Roman nicht genau ge­ lesen oder nicht recht verstanden hatte. Weshalb aber lassen sich immer die Herren in den Roben des Rechts (und später auch die weniger uniformierten Geschwo­ renen) von berühmten Zeugen der Verteidigung einschüch­ tern? Es wiederholte sich durch die Zeiten, daß nicht die dazu Bestellten das Urteil sprachen, sondern die Stars, die zugun­ sten der verhafteten Werke auftraten. Wahrscheinlich dach­ ten M. Dubarle und M. Nacquart und M. Dupaty: wer sind wir, Richter von Rouen, vor dem großen Alphonse de La­ martine, Mitglied der Akademie, angesehen in der Republik und im Kaiserreich, berühmt in Frankreich und in der Welt! Zumal es sich um »Kunst« (magisches Wort für die Unkünst­ lerischen) handelt, die der überragende Kenner garantiert. Und hundert Jahre später (im »Chatterley«-Prozeß) fragte sich wahrscheinlich manch brave Geschworene: wer bin ich, eine Hausfrau aus London, vor dem berühmten E. M. For­

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ster, Ehrenbürger der Welt? Und so wurden alle diese Ur­ teile kleinmütig-freiwillige Unterwerfungen in einem beson­ deren Fall ... ohne irgendwelche Konsequenzen. Das Falsche lag nie darin, daß Flaubert und Schnitzler und Joyce und Lawrence ihr Obszönes veröffentlichen durften — sondern: erst unter dem Druck von Autoritäten im Bezirk der Kunst, denen man nicht seine eigene Meinung im Bezirk der Moral entgegenzusetzen wagte; um so mehr, als diese Kunst-Experten sich dieser Moral anzupassen pflegten. So lernte man nichts, und verewigte seinen Aberglauben, der bei der nächsten Gelegenheit wieder virulent wurde. Man beugte sich im Moment vor Lamartine oder (siebzig Jahre später) vor angesehenen Deutschen Ordinarien der Literaturgeschich­ te und (wieder vierzig Jahre später) vor ähnlichen Professo­ ren Englands und (im Falle von Henry Miller) vor einer ganzen Garde von Connoisseurs ... aus Angst, sich lächerlich zu machen, wenn man sich mit diesen Koryphäen in Wider­ spruch setzte. Und blieb unbeugsam in seiner Intoleranz. Sie wurde konserviert, unbeschadet der Niederlage im einzelnen Fall. Entscheidender als die guten Resultate waren immer die schlechten Argumente, mit denen sie erzielt wurden. Der Ver­ teidiger akzeptierte die Gesetzestafeln des Staatsanwalts; und das Gericht machte sie notorisch durch Beschluß. Wie einig die Gegner immer waren, von einander geschieden nur durch winzige Tönungen! Der Ankläger monierte die Worte: »Sie gab sich ihm hin«. Mit diesem Sätzchen wurde der Ehe­ bruch mitgeteilt. Der Verteidiger verteidigte ihn: wie takt­ voll! Nur diese paar schlimmen Worte; Flaubert hätte die Hingabe auch im Detail ausmalen können. Lesen Sie, meine Herren, zum Vergleich die Verse unseres André Chénier, der sich nicht scheute, das Alabaster der weiblichen Nacktheit wortreich zu malen, während Flaubert ein Äußerstes an Zu­ rückhaltung ist: nur dieses schmucklose Sie-gab-sich-ihm-hin. Daß so etwas allerdings nicht zu verteidigen ist — das brauch­ te erst gar nicht erwähnt zu werden. 143

Ankläger und Verteidiger waren sich auch einig, daß der Walzer eine gefährliche Annäherung der Geschlechter her­ vorbringt. Dies »wilde Umherschwenken und Springen«, der Twist unserer Ahnen, war schon 1794 im »Versuch einer Enzyklopädie der Leibesübungen« gebrandmarkt worden. Und 1820 hatten Kultur-Kritiker vom Walzer geschrieben: »Jener ausländische, wollüstige Tanz, den hoffentlich kein nur etwas moralischer Zirkel dulden wird.« Denn da ging es toll und sittenlos zu, berichtete ein Augenzeuge: »Die Weiber wurden zu Bacchantinnen, die Unschuld floh aus dem Saal.« Nur, führte Flauberts Verteidiger zur Entschuldigung an: der Dichter hat diesen Walzer nicht erfunden. Natürlich würde er, M. Senard, nicht gerne sehen, wenn sich seine Frau und seine Tochter diesem Tanz hingäben; er hat soviel Un­ gebändigtes. Der Liberale Senard und der Konservative Pinard waren Zwillinge. Und: 1857, 1962 sind abermals Zwil­ linge. 1962 ist (über alle Verfemungen hinaus) in Tirol und Ägypten der Twist — und in Süd-Vietnam durch ein »Gesetz zum Schutz der Moral« jeder Tanz verboten. Der Ankläger hatte die Szene im Wagen verdammt, in dem der Notariats-Schreiber Leon und die verehelichte Bovary einen Tag lang bei heruntergelassenen Vorhängen durch die Stadt fahren. Der Verteidiger setzte dagegen: daß man doch nichts sieht und hört, so dezent sei dieser Vorgang geschildert. Allerdings konnte er dann die Entkleidungs-Szene im Ab­ steige-Quartier nicht leugnen; auch nicht, daß sie sich ihm an die Brust warf. Aber sie tat es doch »mit einem langen Schau­ dern«; und ein Ehebruch, der unter einem »Schauder« vonstatten geht, ist fast schon keiner mehr. Sie waren aus dem gleichen Holz: die, welche die Anklage auf Obszönität er­ hoben, und die, welche irgendein Buch oder Bild oder ge­ legentlich einmal ein paar Takte Musik gegen solchen Vor­ wurf in Schutz nahmen. Der liberale Senard zitierte ein einziges Mal eine unanstän­ dige Stelle von einem französischen Klassiker. Um den Klienten zu entlasten, las der Verteidiger aus einer Liebes­ 144

Szene des Präsidenten Montesquieu ein Stückchen vor, das folgende Sätze enthielt: »Bereits waren meine Hände bis zu ihrer Brust gewandert. Sie rasten in alle Richtungen. Die Liebe zeigte sich nur in ihrer Wildheit. Es ging los auf den Sieg. Im nächsten Moment konnte sie sich nicht mehr vertei­ digen.« Dies sei schlimmer als irgend etwas, was sein Klient geschrieben habe; denn bei Montesquieu begleite keine Bitter­ keit, kein Ekel die gewagte Szene — und doch werde jenes Buch Studenten der Rhetorik als Prämie verliehen. Hätte M. Senard Humor gehabt, so hätte er hinzugefügt: die Liebe habe eben ihre Rhetorik wie jede andere Passion; des­ halb sei jene rhetorische Stelle sehr lehrreich für die Studen­ ten dieses Fadis. Aber er mußte beweisen, wie sittsam er und sein Dichter waren. So wurde er einer aus dem Heer der SichEntrüstenden, indem er das Vorgelesene eine »Attacke auf die Moral« nannte, weil die Befriedigung der Sinne ohne schlechte Zensur erfolge. Der ganze Unterschied zwischen Angriff und Abwehr bestand ausschließlich darin: daß der eine jede nicht sanktionierte Sexualität von der Darstellung ausschloß — und der andere sie erlaubte, wenn nur gezeigt werde, wie schrecklich sie sei. Der Liberale entwickelte sogar eine ganz hübsch ausgewach­ sene Klassen-Moral: der Ursprung allen Übels sei eben ge­ wesen, daß Emmas Papa, ein Bauer, ihr eine höhere Bildung geben ließ. Weshalb die Moral von der Geschichte sei: Schu­ ster bleib’ bei deinen Leisten! Und ein Bauern-Mädchen sollte bei ihren Kühen bleiben und sich mit einem Ochsen begnü­ gen. Das waren die progressiven Ideen des Mannes, der, wie es in den Märchenbüchern für große Kinder heißt, siegreich war im Kampf gegen die reaktionären Schnüffler nach Schmutz und Schund. Für die Vermenschlichung des sogenannten natürlichen Scham­ gefühls aber wäre es immer wichtiger gewesen: der Polizei wären nicht diese und jene Kunstwerke unter zweideutigen Vorwänden entrissen worden — dafür aber den Öffentlich­ keiten der Aberglaube, daß der begehrteste Genuß giftig ist. 145

»Madame Bovary« freigesprochen, Madame Bovary verur­ teilt: das war der Ausgang. Denn die Bedeutung eines solchen Prozesses ist nicht abzulesen an der bürgerlichen Rehabili­ tierung des Dichters, an der Freigabe seines Werks — sondern an den moralischen Grundsätzen, die zu schlechter Letzt im Namen der Gesellschaft verkündet, der Gesellschaft einge­ räumt werden. Gewinnt man nicht vom Urteil den Eindruck, die verstorbene Emma wäre zum Scheiterhaufen geführt wor­ den, hätte sie sich nicht schon vorher aus dem Staube ge­ macht? Das Gericht verurteilte (erstens): Worte, Wendungen und Szenen, die den guten Geschmack und eine ehrenwerte Emp­ findlichkeit verletzen und ließ Tür und Tor offen für alle Nachkommen dieses Prozesses. Es gibt also Vokabeln und Ereignisse, die artikuliert ... und andere, die nicht einmal gedacht werden dürfen. Der siegreiche Verteidiger aber hatte versäumt, das Gericht mit der Geschichte dieser verdammten Worte und Geschehnisse innerhalb des großen französischen Schrifttums vertraut zu machen. Weshalb hat er nicht den Schatz der nationalen Literatur ausgestellt: von Brantôme und Madame de Lafayette und Rabelais und Margarethe von Navarra bis zu den gefeierten Zeitgenossen Béranger und Musset? Das Gericht verurteilte (zweitens): die Philosophie des Ro­ mans, soweit sie im Gegensatz stehe zu den herrschenden Sit­ ten und Institutionen und religiösen Zeremonien, den Grund­ lagen der französischen Gesellschaft. Aber: obwohl es oft die Leistung der Philosophie ist, die Prinzipien der herrschenden Behörden mit Geist zu schmücken, ebenso oft war es ihr Wille, die Fundamente zu zersetzen: von Sokrates bis Voltaire; und spätere Zeiten nannten dann diese Zersetzung das Positive der Epoche. War Flaubert ein Element der Auf­ lösung? Er kritisierte nicht und konsolidierte nicht Thron und Altar. Er hatte es überhaupt nicht mit den Untertanen Napoleons III. zu tun. Aber ist es wahr, was der große Kritiker Sainte-Beuve 146

schrieb: ein Anatom und Physiologe habe diesen Roman ver­ faßt? Ist in ihm wirklich die sternenferne Gleichgültigkeit der Wissenschaft? »Wissenschaftlich« ist (bis zu Brecht) die unwissenschaftlichste Vokabel einer hundertjährigen Kon­ fusion. Es ist in diesem kühlen Buch des Arzt-Sohns, der dann auch (in einer Karikatur), aufgespießt von einem Sezier­ messer, Emmas blutendes Herz vorweist ... mehr Pathos, mehr Emotion, mehr Propaganda, mehr Provokation als alle ahnen, welche »Madame Bovary« als ein neutrales SeelenPräparat in Schutz nehmen. Gewiß suchte er seinen Figuren »durch eine unerbittliche Methode die Präzision der Natur­ wissenschaften zu verleihen«. Eine Forderung des Zeitalters! Aber er sagte auch: »Ich bin Madame Bovary« — und gab damit die Distanz auf. Endlich muß damit Schluß gemacht werden, den Roman als eine case history zu verharmlosen. Es ist besser, ihn zu verdammen als gefällig zu deuten. Die Richter ahnten mehr, als die Literatur-Historiker seit hundert Jahren verhüllen können. Ahnten sie wohl die Quelle des Unbehagens, das dem Roman entströmt: die Bitterkeit des Dichters? Die Erzählung ge­ winnt alles Licht von ihrem letzten Absatz her. Die Heldin ist tot. Auch ihr Mann ist tot, der ebenso unromantische wie unverspießte Dorf-Arzt, ein einfaches Herz. Um die Zukunft ihres Kindes ist es schlecht bestellt. Die Familie Bovary ist ausgelöscht. Dagegen ist außerordentlich am Leben der wahre Gegen-Spieler, Apotheker Homais. Ihm sind die letzten Sätze gewidmet. Es geht ihm, Gott sei Dank, noch immer vorzüglich. »Blühend und frohgemut« breitet sich die Apo­ theker-Sippe aus. Schließlich wird ihm auch sein HerzensWunsch erfüllt. Die Schluß-Zeile lautet: »Kürzlich hat er das Kreuz der Ehrenlegion bekommen.« Welches Buch der WeltLiteratur hat einen letzten Satz, der böser wäre? Madame Bovary — das war Flaubert, Sehnsucht und Absturz. So ge­ nau wußten die Richter das nicht. Sie hielten sich an die Oberfläche: das Obszöne. Das Unanständigste dieser Ge­ schichte liegt aber in dem armseligen Versuch eines Himmel­ 147

Flugs zur Liebe, direkt aus dem schäbigen Absteige-Quar­ tier. Da sich die Herren das nicht klar machen konnten, verirrten sie sich mit ihrer Antipathie auf das Gebiet der Kunst-Philo­ sophie. Ahnungslose Dilettanten, dekretierten sie: »daß die Literatur, wie jede Kunst, wenn sie ihre Sendung erfüllen will, das Leben in makelloser Reinheit wiedergeben muß«; womit nicht gemeint war, daß der Spiegel, sondern daß das Gespiegelte makellos zu sein hat. »Die Mission der Literatur sollte es sein, dem Geist zum Schmuck und zur Erholung zu dienen.« Sie sagten aber nicht, wie der Geist aussieht, wenn er nicht geschmückt ist und sich nicht erholt. So tadelte das Gericht (drittens): sein Werk beleidige »das Auge und den Geist«. Flaubert sei nicht der Verpflichtung des Künstlers nachgekommen, zu verschönen, den Verstand zu kräftigen, das Benehmen zu veredeln ... Es wäre falsch, dieser Forderung sofort den Ton der Fest-Phrase unterzu­ legen. Die griechischen Tempel verschönten. Voltaire kräftigte den Verstand. Goethe veredelte. Aber die Künste sind nicht aus einer einzigen Wurzel er­ wachsen und haben nicht nur eine einzige Funktion. Eine andere ist, zum Beispiel: Wirklichkeiten, die noch nicht Wort geworden sind, zur Sprache zu bringen. Es gibt Sphären des Daseins, die alle oder viele oder manche häßlich nennen. Die Künste stellen Schönes und Unschönes — auf schöne Weise nichts verschönernd dar. Das Fehl-Urteil war also nicht nur ein moralisches: daß es die Sehnsucht der Heldin nach Seligkeit häßlich nannte; auch ein ästhetisches: welches das Häßliche aus dem Gebiet der Kunst ausschloß, ohne Ahnung von dem großen Raum, den es hier einnimmt. Die Kenner der StrafParagraphen, die in solch einem Prozeß funktionieren, soll­ ten vorher die Bildung erhalten, die nötig ist, um sich vom ungesunden Menschenverstand freimachen zu können. Das Gericht verurteilte (viertens): den Romancier und sein Werk auch dort, wo man der Verteidigung beipflichtete und dem Dichter wohlwollend auf die Schulter klopfte. Er war 148

ein fleißiger Mann, hatte jahrein jahraus von morgens bis abends an seinem Werk geschaffen. Auch hatte er sich alle Mühe gegeben, die Sünderin zu bestrafen; er sei kein schrei­ bender Wüstling. Leider aber ist unter seinen Figuren nicht eine, welche der Ehebrecherin den Kopf zurechtsetzt. Auch kann man das Keusche nicht fördern, wenn man vorher das Unkeusche so breit ausmalt. Ein »Realismus«, der »vulgär« ist, schockierend, nicht eine gute und schöne Wirklichkeit wiedergibt, ist »eine Beleidigung der Öffentlichkeit, ihrer Mo­ ral und ihrer guten Manieren« — auch wenn der Erzähler nicht beleidigen will. Die Richter waren nicht törichter als Staatsanwalt, Rechts­ anwalt und der Dichter Lamennais; sie alle unterlagen der freundlichen Illusion, Flaubert hätte die Absicht gehabt, seine Sünderin büßen zu lassen. Er aber hatte sie doch (an der er­ greifendsten Stelle des Buches), in den Armen des Tänzers Rudolf, aufblühen und jubeln lassen: »Ich habe einen Lieb­ haber.« Flaubert wurde am grausamsten verurteilt, als man ihm mildernde Umstände zubilligte. Es sieht so aus, als hätte sich schließlich alles in Wohlgefallen aufgelöst. Der Verteidiger, dem die Richter weitgehend folg­ ten, den der Dichter in einer Widmung pries, den das Jahr­ hundert seit 1857 feiert, der bekannte: das Leben ist etwas Prosaisches, womit man sich abfinden muß ... dieser juristi­ sche Homais, der auch Apotheker in Yonville hätte sein können, ging als epochaler Sieger hervor. Es war wie im Märchen: sogar der Staatsanwalt war zufrieden. Er allerdings mit größerem Recht. Denn die Sexual-Moral, die er vertrat, ging stärker aus dem Prozeß hervor als Flaubert und sein Retter. Weil niemand gefragt hatte: ist das Geschlechtliche sündhaft? Oder ist es zwar nicht sündhaft — aber nur in bestimmten Grenzen nicht? Oder ist zwar die Betätigung nicht sündhaft, wohl aber die Darstellung? Oder darf manches dargestellt werden, manches aber nicht? Weil es Gott nicht will — oder nur nicht so will? Weil die Darstellung der Gesellschaft scha­

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det — oder nur einem Teil? Und welche Beweise sind für den Schaden erbracht worden? Es waren die nicht-gestellten Fra­ gen, die den Prozeß zu einer Niederlage machten. Für die Menschwerdung des sogenannten Schamgefühls aber wäre wichtiger als die Freigabe des Buches ein Vorwärtskommen auf dem Weg zur Erhellung des Anstoßnehmens gewesen. Flaubert wußte, was alles nicht ans Licht gekommen war. Obwohl er froh war, daß sein Buch erscheinen konnte — man hatte ihm sein Konterfei, die romantische Provinzlerin, entstellt. Er war nicht in Sieges-Stimmung. In den Monaten des Rechtsstreits hatte er viele Briefe geschrieben. Sie er­ reichten die Gesammelten Werke; im Gedächtnis der Men­ schen blieb nur die ärmliche Mär von der Ehebrecherin, so­ wohl eine Verführung als auch ein warnendes Beispiel — und von dem Dichter, einem unbescholtenen, wenn auch etwas unvorsichtigen Klassiker an der Grenze des Erlaubten. In der Geschichte der Entrüstung aber war dieser Prozeß einer der großen Fehlschläge, dem dann manche folgten. Die mo­ ralische Intoleranz wurde mit Hilfe der Nachgiebigkeit in Aesteticis gefestigt. Das hätte nicht geschehen können, wenn Flaubert vor Gericht ausgesagt hätte, was in den Briefen aus jenen Tagen zu lesen ist. Etwa dies: Hohes Gericht! Sie verkennen mich! Ich bin völlig uninteressiert an Ihren Institutionen; ich wollte sie nicht erschüttern und nicht festigen. Ich selbst bin diese arme Frau Bovary! Wie sie leide ich am Alltag. Wie sie fliehe ich ihn. Wie sie bin ich niedergeschlagen, wenn ich aus mei­ nen Höhenflügen zurückfalle. Nur habe ich es besser als sie: ich rücke mein Unglück als »Madame Bovary« von mir ab; so befreie ich mich weniger schmerzvoll von ihm. Ich kann in ein Paradies fliehen: in den Satz, französische Worte mir zur Lust meißelnd; die Sprach-Schönheit gewährt mir ein Asyl auf der Flucht vor der Häßlichkeit. Glauben Sie, hohe Richter, meinem Verteidiger und dem er­ lauchten Poeten Lamartine nicht. Sie haben versucht—aus Di­ plomatie? aus Beschränktheit? —, mich als einen Musterknaben

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zu präsentieren, der nach der Vorlage Schuld und Sühne ar­ beitet ... wenn auch nicht mit vollem Erfolg, wie mein väter­ licher Freund und das hohe Gericht meinen. Sie täuschen sich. Ich liebe das Sinnliche. Leçon te de Lisle sagte einmal: nie­ mand ist fähig, in einen Puff zu gehen — ich, Gustave Flau­ bert, »ich war oft dazu fähig. Man lernt soviel in einem Puff und fühlt Trauer und träumt sehnsüchtig von der Liebe. Mein Herz beginnt zu schlagen, sobald ich eins jener auf­ fallend gekleideten Mädchen im Regen unter der Laterne schlendern sehe.« Ach, »ce brave organe génitale ist der Sitz aller menschlichen Neigungen.« Weil aber die Künstler und ihre Verteidiger immer nur daran interessiert waren, ein Werk freizubekommen, nie die Mensch­ heit sittlich weiterzubringen, weil sie nie zu den Richtern wie zu Erwachsenen sprachen, wurden die Paragraphen-Spezialisten (eine ehrenwerte Innung) nie erwachsen. »Die Kunst«, hätte Flaubert mit den Worten seiner Briefe fortfahren kön­ nen, »verlangt weder Gefälligkeit noch Höflichkeit, nichts als Ehrlichkeit«: die Einsicht in das Zusammen von »Weih­ rauch und Urin, von Bestialität und Mystik«. »Der Goldene Esel« des Apulejus, gegen den mein Roman ein herzlich schwaches Erotikon ist, hat meine ganze Liebe. Ich halte ihn für eins der größten Meisterwerke, die Lektüre macht mich »ganz benommen«; ich schenke meine Sympathie dem, der dies Buch schätzt. Oft habe ich in diesen Wochen meine Pa­ riser Freundin Louise gebeten, die Gäste ihres Salons aus­ zufragen, wie ihnen dies Werk gefällt. Nach den Antworten mache ich mir ein Bild von ihnen. Ich weiß nicht, meine Herren, wieweit Ihre Kenntnis vom Altertum geht. Wahrscheinlich kennen Sie nur Platon, der al­ lerdings noch strenger war als unser M. Pinard; wahrschein­ lich kennen Sie weniger Aristophanes, dessen Personen sich auf der Bühne entleeren. Der Verfasser der »Republik« wollte sogar, daß Homer zensuriert wird — während unser staatlicher Sittenwächter sich nur an mich heranwagt, der ich noch nicht zur klassischen Pornographie des Landes gehöre

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wie der große Balzac mit seinen »Trollatischen Geschichten«. Da nun die Diener der Justitia wahrscheinlich das einschlä­ gige Schrifttum nicht kennen, lese ich Ihnen zur Probe eine meiner Lieblings-Stellen aus dem »Goldenen Esel« vor. Nach der Vorlesung hätten die Richter vielleicht gesagt: daß das Stubenmädchen Fotis immerhin nicht verheiratet gewe­ sen ist; oder daß die Sitten im kaiserlichen Rom verwildert waren und kein Vorbild sind für die Sitten im kaiserlichen Paris. Unangenehmer wäre es ihnen vielleicht gewesen, wenn der Verteidiger nicht nur die Erzählung »Das doppelte Miß­ verständnis« des Akademikers Merimée erwähnt, sondern Stellen aus der Geschichte zum Besten gegeben hätte, die in einem Postwagen spielt — und in ihn kann man hineinsehen, während man nicht sieht und nicht hört, was in der Kutsche geschieht, in der Léon und Emma durch Rouen kutschieren. Flaubert hielt seine Rede nicht. Er beschwerte sidh nur über die Kritiker, welche, nach der Veröffentlichung des Buchs, noch einmal die alte fade Melodie aborgelten. »Die gesell­ schaftliche Heuchelei ist fürchterlich«, klagte er; man hält schon eine photographische Wiedergabe der Wirklichkeit für eine Beleidigung und die wahrheitsgetreue Darstellung der Historie für eine Satire. Was aber hatte Flaubert beigetragen, um seine Kritiker mit und ohne Talar zu erziehen? Noch der zweitbeste Rezensent, der ihn pries, verkannte ihn. Der herrschende Kritiker, Sainte-Beuve, bezeichnete das um­ strittene Buch als »Meisterwerk« — und (mit einer zweiten Entschuldigung) als »wissenschaftlich«. Diese Verteidigung veröffentlichte er im »Moniteur«, dem offiziellen Organ des Staates, der die Anklage erhoben hatte. Das brachte die Kol­ legen in Siede-Hitze. Im Débat hieß es: »indezent«; man konnte keinen vernichtenderen Vergleich finden als Dumas fils, dessen gesamte Heroinen sich hier in einer einzigen pro­ stituierten. Im Constitutionel war zu lesen: die junge Gene­ ration verdiene eine bessere Literatur. L’Univers erklärte sich außerstande, ein Referat zu geben; keine Geschicklichkeit könne verhindern, daß der Dreck dabei mit herauskommt. 152

Réveil mimte den Anatom: machte Einschnitte und Öff­ nungen in den Kadaver, um das Pathologische zu studieren; und seufzte: vor verdächtigen Champignons und grünen Kir­ schen schütze man sich, das Gift dieses Romans aber wird geschluckt und von der Kritik (Anspielung auf Sainte-Beuve!) noch als Herzstärkung empfohlen. Der arme Sainte-Beuve! Die Entrüsteten machten aus ihm einen Vorkämpfer der zersetzenden Literatur. Er war es eben­ sowenig wie M. Senard. Sainte-Beuve hatte die ungewöhn­ liche Begabung des jungen Romanciers laut anerkannt, weil es in Frankreich gang und gäbe sei, junge Talente totzu­ schlagen. Im übrigen aber riet er einer befreundeten Dame, das Buch nicht zu lesen. Sie werde es nicht vertragen: es sei zu unerbittlich, zu grausam. Selbst die Wenigen, welche das Kunst-Werk priesen, hielten es sich oder anderen vom Leibe: zwischen Beklemmung und Empörung. Und »Madame Bo­ vary« war nicht ein französisches, sondern ein europäisches Ärgernis. Ein englischer Verleger notierte in sein Tagebuch: dieser Roman rege die Sinne auf und sei deshalb schädlich. Es gab nur wenige, die uneingeschränkt begeistert waren — abgesehen davon, daß das Publikum kaufte: d’Aurevilly zum Beispiel, Autor der »Teuflischen«. Aber nur einer schrieb Flaubert, er sei in das Geheimnis des Buches eingedrungen. Freund Baudelaire hatte erkannt, daß Emma Bovary hinter einem Ideal hergewesen sei, mit tödlichem Ausgang. Er schrieb es nieder in der Zeitschrift »Artiste«: am Tage, an dem er selbst also obszön verurteilt worden war, zu dreihundert Fran­ ken und zur Entfernung von sechs Gedichten seiner Samm­ lung. Vier Monate nach dem Freispruch der »Madame Bovary« erschienen Charles Baudelaires Gedichte »Die Blumen des Bösen«, in einer Auflage von dreizehnhundert Exemplaren. Der Band kostete drei Francs; der Preis sei eine Garantie da­ für, meinte der Dichter, daß das Buch nicht populär werden könne. 153

Die Presse erklärte: Flauberts Roman sei noch ein frommes Werk gegen diesen Schmutz. »Figaro« denunzierte einige Verse und fügte hinzu: bisweilen sei am Zustand des Ver­ fassers zu zweifeln, bisweilen nicht mehr; dies Ungeheuer, geschaffen von einem mehr als Dreißigjährigen, sei nicht zu rechtfertigen. Steckte der Minister des Innern hinter der De­ nunziation? Gut drei Wochen später erfolgte die Beschlag­ nahme. Dichter und Verleger wurden unter Anklage gesetzt. Der Ankläger hieß wieder: M. Pinard. Baudelaire hatte kein Interesse, sich zu verteidigen. Er war bereit, sein Werk mit Hilfe falscher Auslegungen genehm zu machen: als Unterhaltungs-Lektüre oder als ein rein artisti­ sches Gebilde oder als ein Mittel, Abscheu vor dem Laster zu wecken. Am achtundzwanzigsten August wurde der Autor verurteilt, einige Gedichte zu entfernen. Am dreißigsten De­ zember schrieb er seinem Verleger, er sei entschlossen, sich dem Urteil vollständig zu unterwerfen und sechs neue Ge­ dichte zu schreiben, viel schöner als die ausgetilgten. Neun Jahre später sagte er: sein ganzes Herz gehöre diesem Buch; aber er werde immer sagen, es sei eine Posse, ein Jongleur­ stückchen — »und dabei werde ich lügen wie ein Quacksal­ ber«. Er war bis zur Gleichgültigkeit erhaben über die An­ stoßnehmer. Aus Verachtung? In dem Memorandum, das er für seinen Anwalt nieder­ schrieb, statuierte er: es gebe mehr als eine Freiheit, eine für das Genie und eine sehr begrenzte für »Gassenjungen«. Zwar riet er zur Taktik: aus dem Titel »Die Blumen des Bösen« eine moralische Absicht des Autors zu deduzieren. Seine Wahrheit aber lautete: das Genie ist über jeder Moral ... Mehr als ein Jahrhundert später, in den Tagen des Expressio­ nismus, wurde Georg Kaiser angeklagt, weil er Teppiche aus der Villa von Freunden versetzt hatte. Er erklärte, vor Ge­ richt: das Genie habe mit bürgerlichen Gesetzen nichts zu tun. Baudelaire geriet vor ein Tribunal, das sein Gedicht auf ein Thema hin aushorchte, welches ihn nichts anging: wie hältst Du’s mit Religion und Sittlichkeit?

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Pinard, Ankläger der »Madame Bovary« und der »Blumen des Bösen«, war im zweiten Prozeß noch skeptischer in Bezug auf sein Amt. Wieder begann er: es sei »höchst delikat«, ein Buda wegen Verletzung der Moral zu verfolgen; auch hatte er bereits gelernt, daß solche Verfolgungen nur zu Erfolgen führen — für die Verfolgten; deshalb hatte er von einer Revision des Flaubert-Freispruchs abgeraten. Er war jetzt noch weniger emotionell und wies gleich zu Beginn ausdrück­ lich auf die hervorragenden Männer hin, welche die künstle­ rische Kraft des Angeklagten bezeugten. Und diesmal endete er sogar mit der Bitte um Milde — nicht nur für den Verleger, auch für den unstabilen Poeten. Lediglich ein paar aufrei­ zende Gedichte sollten verboten werden: als Zeichen dafür, daß der Staat wacht. Auf daß eine Warnung ergehe an die immer stärker werdende Tendenz in Richtung Obszön. Der Staatsanwalt stand nicht gegen den einen Baudelaire, sondern gegen den Trend einer neuen Sexual-Unmoral. Einige Ärgernisse zitierte er: zum Beispiel den Schluß des Ge­ dichts »Die Lethe«: Als Märtyrer verurteilt ohne Schuld, Der voller Inbrunst seinem Tod begegnet, Will ich, auf daß mein Haßgefühl sich legt, Nepenthes und den holden Schierling trinken Aus steilen Brüsten, die mir zärtlich winken, In denen niemals sich ein Herz geregt.

Zitierte dann die letzten Strophen des Gedichts »Der Allzu­ frohen«: Des Frühlings Lust und frohes Grünen Verspottete mein armes Herz. Drum schuf ich einer Blume Schmerz, Den Hochmut der Natur zu sühnen.

Und so auch wünschte ich zur Nacht, Schlägt mir der Wollust kühne Stunde, Zu des Alkoven reichem Grunde Mich feig zu schleichen mit Bedacht.

US

Um dort dein frohes Fleisch zu plagen Und um zu quälen deine Brust, In den erstaunten Leib zur Lust Dir eine Wunde tief zu schlagen.

Und dir — berauscht, verzückt und blind — Durch solche Lippen, neu erschaffen, Die herrlicher und schöner klaffen, Mein Gift einflößen, o mein Kind!

Der Vertreter des Staats kommentierte nicht, so daß wir leider nicht wissen: hielt er sich an ein paar unfeine Vokabeln oder ging ihm das Furchtbare der Dichtung auf? Fand er nur die üblichen Unanständigkeiten oder wurde ihm das Ungeheuer­ liche bewußt: daß einer nicht nur seine (immerhin üblichen) Liebes-Spiele publiziert, sondern daß er die Lust in den Dienst des Hasses stellt, ein Attentat unternimmt auf die Unschuld der Natur (und was ist unschuldiger als eine Blu­ me?), daß ihn ein frohes Mädchen zu einer Lust-Operation reizt, daß er feige zur Liebsten schleicht — und nicht, um ihr Vergnügen im gängigen Sinne zu bereiten. Es ist nicht anzu­ nehmen, daß Pinard genau las. Sonst hätte er, bei aller Skep­ sis, den Mann für einen obszönen Unhold erklärt. Der Staatsanwalt verdammte »Die verdammten Frauen«. Das Ende lautet (in Stefan Georges Übersetzung): In mitleid folg’ ich euch in eure hölle Euch armen Schwestern bin ich zugewandt Ob eurer quäl ob eurer gierden volle ob eurer herzen groß und lichtentbrannt.

Und in »Lesbos«, auch verurteilt, heißt es: Was bedeuten die sätze des guten und schlechten? Hehre mädchen. Ihr zierde der inselweit. Euer glaube ist einer der großen und echten. Liebe hat himmel und hölle in schatten gestellt. Was bedeuten die sätze des guten und schlechten?

Was sie bedeuten, das zu sagen, darüber zu wachen war M. Pinard bestellt. Diese fünf Zeilen waren ein Einbruch in seine Welt. Weshalb verteidigte er sie nicht stärker?

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Auch gegen das, was in dieser Welt als Gotteslästerung em­ pört, die immer als Zwilling der Lästerung des keuschen Men­ schen auftauchte? Zwar wurde auch hier, von demselben Mann Pinard, wieder verkündet, daß »die religiöse Moral«, die große christliche Lehre, Grundlage des öffentlichen Le­ bens, verletzt sei: in den Gedichten »Abel und Kain«, »Die Litaneien des Satan«, der »Wein des Mörders«. Weshalb aber wurde Flauberts Beschreibung der letzten Ölung so laut als Blasphemie angeklagt — und nur nebenbei erwähnt der un­ geheuer viel stärkere Beginn von Baudelaires Gedicht »Die Verleugnung des Heiligen Petrus«? Was macht nur gott mit diesem sturm von fluchen Der stets zu seinen lieben engeln gellt? Wie ein tyrann mit fleisch und wein geschwellt Entschläft er sanft bei unseren lästerflüchen.

Es endet (in der Übersetzung Stefan Georges) mit der Zeile: Petrus verleugnete den herrn mit recht.

Das Rätsel dieses zweiten Prozesses war die Milde vor einem Werk, das, nach herrschender Anschauung, ein bisher uner­ reichter Gipfel des Obszön-Blasphemischen war. Darf man schon hier die Vorsicht des Staats vor den berühmten Künst­ lern und Kunst-Kennern erkennen, die das Werk priesen? Dann war sie auch hier nur ein strategischer Rückzug, dem keine Änderung des religiös-moralischen Klimas entsprach. M. Pinard, sehr zurückhaltend, hatte schon eingeräumt, noch bevor es geltend gemacht werden konnte: Baudelaire ist ein Meister und hat die besten Absichten gehabt. Gustave Chaix d’Est-Ange, der nun gegen die Anklage auftrat, repetierte entschuldigend noch einmal, was gar nicht strittig war. Er ist noch blumiger als der Kollege Senard. Ebenso stolz, daß sein Schützling so fleißig gearbeitet hatte, verglich er ihn mit einer Schwangeren, die mit Hingebung die Frucht ausgetragen habe. »Die Blumen des Bösen« waren die gesammelten Früchte von sechzehn Jahren. Die Frage war nur, ob sie be­ kömmlich sind.

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Sie wären wie christliche Predigten, predigte der Verteidiger. Mag sein, die Farben sind etwas grell — aber im Dienste des Guten. Der Poet habe eine Art Dantescher Hölle gemalt; solch ein Vergleich nobilitiert. Molière habe gewußt, daß man das Böse zeichnen muß, will man das Gute fördern. Und Balzac habe im Moralisieren, nicht im Amüsieren das Herz der Kunst erblickt. Das Gericht erhielt auch noch die dazugehörigen Zitate. So — von Dante, Molière und Balzac flankiert — wurde Baudelaire vorgestellt. Wieweit glaubte der Verteidi­ ger, was er von dem großen »Christen« und »Moralisten« Baudelaire sagte? Wieweit glaubte es das Gericht? Am Tage nach seiner Verurteilung schrieb Baudelaire über den »Ma­ dame Bovary«-Prozeß: man habe diesem schönen Werk vor­ geworfen, nicht eine einzige Person des Romans verurteile die Ehebrecherin: »Ewige Verwechslung der Amtshandlungen und der Dichtungsarten.« Und in demselben Jahr 1857, in dem er öffentlich von seinem Verteidiger auf fromm geschminkt wurde, mit Einwilligung des Geschminkten, veröffentlichte Baudelaire eine unge­ schminkte Attacke auf die Einmischung moralischer Über­ legungen in die Geschäfte der Kunst. »Die Poesie«, ließ er im Jahr des Prozesses drucken, »hat kein anderes Ziel als sich selber«; das große Gedicht wird einzig »um des Vergnügens willen« geschrieben. Selbst die »Wahrheit hat nichts mit den Liedern zu tun«. Der Dichter, der auf Moralisches aus ist, ver­ mindere seine Kraft. Es sei schmerzlich, festzustellen, daß wir in zwei entgegengesetzten Schulen die gleichen Irrtümer fin­ den: in der bürgerlichen und in der sozialistischen: »Moral! Moral! schreien sie alle beide in Missionsfieber.« Am Anfang war L’art pour l’art (es wurde dann vergessen) eine leidenschaftliche Abwehr: gegen die Maßregelung dessen, was in den Künsten ans Licht kam, nach dem Maßstab gerade geltender Gesetze, gerade geltender Theorien. Als er geboren wurde, war L’art pour l’art die Losung in einem Befreiungs­ kampf. In den Gebilden der Phantasie konnte sich das Neue am leichtesten durchsetzen: ohne Missionsfieber. ij8

Warum ließ sich der Staatsanwalt entgehen, Baudelaires Pronunciamentos der Gleichgültigkeit gegen die Empfindlich­ keit seiner Mitmenschen zu zitieren? Weil die geistigen Pro­ bleme der Zeit auf dem Amtsweg erledigt werden. Weil nicht das geringste Interesse bestand, den Konflikt durchzudenken. Das Gericht ging nicht einmal auf die Schluß-Pointe des Ver­ teidigers ein, der einen imposanten Aufmarsch der unanstän­ digen Klassiker arrangierte, vom Sechzehnten Jahrhundert an bis zu den Zeitgenossen Alfred de Musset und Béranger. Musset war im Jahr zuvor gestorben, hochgeehrt. Aber nicht nur die Staatsanwaltschaft, auch der Verteidiger hätte wohl gezögert, sich über die Obszönitäten des Gefeierten auszu­ sprechen. Der Dichter hatte neben seinem offiziellen Ruhm noch einen geheimen: als Verfasser der Erzählung »Gamiani«, einem Prachtstück pornographischer Literatur. Es wäre nicht möglich gewesen, aus der Geschichte dieser Dame, die in leidenschaftlicher Liebe zu dem jüngeren Mädchen Fanni ent­ brannte und ihr, nach den wildesten Umschlingungen, den töd­ lichen Liebes-Trank gab, um sie dem Mann, der sie liebte, weg­ zunehmen ... es wäre nicht möglich gewesen, dies Werk des großen französischen Autors der Öffentlichkeit zu präsentie­ ren; wahrscheinlich hätte sich das Gericht selbst von solch einer Vorlesung ausgeschlossen. Verglichen mit seinen Szenen waren »Die verdammten Frauen« und »Lesbos« unansehn­ lich — als Gefahr. Wußten die Herren von diesem Werk? Kannte es der Vertei­ diger, der zum Schluß seines Plädoyers auf Musset hinwies? Wenn er es gelesen hatte — weshalb spielte er den Trumpf nicht aus? Wenn sie aber alle ahnungslos waren, die Männer, die in einem solchen Verfahren agierten, erfüllten sie dann ihre Berufs-Pflicht? Sie sollten mehr kennen, als was sie auf der Schule gelernt haben: zum Beispiel auch das Leben und die Literatur, die nicht in Kinder-Fibeln zugeteilt wird. Es ist, noch in der Mitte des Zwanzigsten Jahrhunderts, bei Ver­ handlungen über Obszönes herausgekommen, daß keiner der Beteiligten wußte, wovon er sprach: nicht der Gesetzgeber,

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nicht der Polizist, nicht der Verteidiger, nicht der Ankläger, nicht der Richter und nicht der Geschworene. Sie kannten nicht die einschlägige Literatur, über die sie urteilten. Und wäre es nicht förderlich, wenn sie darüber nachdächten, weshalb die größten Dichter mehr oder weniger geheim die Welt des Sexus ohne Metaphern dargestellt haben? Und wes­ halb man es den Musset und Béranger nicht erlaubt, während die Paul de Kock aller Zeiten ungeniert die Mädchen so gut versorgten, daß sie eigentlich eine »Madame Bovary« und »Die Blumen des Bösen« nie nötig hatten? Es entbehrt nicht der Komik, daß Baudelaire seinem Ver­ teidiger riet, Beränger ins Feld zu führen: als Beweis dafür, daß man zu gleicher Zeit unanständig — und dennoch der Stolz der Nation sein kann. Béranger, siebenundsiebzig Jahre alt, bereits ein nationales Monument, hatte einst ausgiebig den Wein und die Liebe bedichtet, zum Beispiel mit dem Refrain: »Recommençons! Recommençons!«: Encore un coup vite! dit-elle Recommençons! Recommençons!

Aber diese Zeilen, vor Gericht zitiert, hätten dem Angeklag­ ten nicht genützt. Béranger war vor vierzig Jahren wegen Obszönität zu fünfzig Franken und drei Monaten Gefängnis verurteilt worden. Vor zwanzig Jahren, als seine Gesammel­ ten Werke herauskamen, wurde der fünfte Band, überhaupt nur unter dem Ladentisch existent, verboten. Was also konnte die Verteidigung mit der Zitierung seines Namens bewei­ sen? Das Aufbringen des Themas Béranger war um so grotesker, als Baudelaire keine Achtung vor ihm hatte. Und Freund Flaubert schrieb ihm, am Tage nach seiner Verurteilung: »Diese Verfolgung hat keinen Sinn. Sie empört mich. Und die Nation hat gerade Béranger gefeiert! Diesen dreckigen Bourgeois, der die leichte Liebe besungen hat und die habits râpés.« Die leichte Liebe ist Teil der bürgerlichen Anständig­ keit; nicht gerade der respektabelste — aber immerhin freund-

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lieh zugelassen. Wenn sie auch nicht fein ist, so produziert sie (wird sie nicht an die große Glocke gehängt) kein Ärger­ nis, eher ein angenehm kitzelndes, stillschweigendes Einver­ ständnis. Die vom Gericht hatten wohl auch ihre Jugend-Affären ge­ habt; sie sind nicht so schlimm, sie werden erst verborgen und dann auch noch vergessen. Hier aber rückt einer das Geschlecht in die Helle poetischer Faszination, ohne es platonisch zu überglänzen: oder wenigstens im Namen der Amoretten halb­ legitim zu machen. Hier kommt Sexus nicht als ein alle be­ zwingender, von allen jauchzend empfangener Gott, sondern wie ein brünstig umworbener Untergang. Baudelaire wurde einer der ersten französischen Wagnerianer. Auch deshalb, weil im »Ring« Liebe und Weltuntergang im selben Brand auflodern? Erst bei Flaubert und Baudelaire und ihren Enkeln wurde es bitterernst: die Liebe Freuds, Schnitzlers, Lawrences, Henry Millers wurde eine Naturgewalt, die sich nicht mehr in die niedlichen Giftschränkchen der Erinnerung an die Jugend unterbringen läßt; auch durchaus nicht immer in ein großes Jauchzen einklingt. Flaubert schrieb an Baudelaire: »Sie besingen das Fleisch, ohne es zu lieben — so traurig, so detachiert; ich sympathisiere damit.« Mit diesem Satz kam auch eine neue Obszönität ins Bewußtsein. Das Gericht sprach sich aus gegen die »verderbliche Wirkung der Bilder«. Wen und was verdarben sie? Das beantworteten sie nicht, weil sie an Straf-Paragraphen interessiert waren, nicht an einer Diagnose dessen, was da am Horizont herauf­ zog. Witterte man: daß die Lust eine Energie hinter den zerstörendsten Kräften geworden ist? Um so zerstörender, wenn sie nicht der Lust diente, sondern der Unlust? Sie sprengte die Einheit von Liebe und Sittlichkeit: Den eitlen Träumer laß auf ewig uns verfluchen, Der als ein erster in verworfener Nüchternheit Sich an dem Rätsel, dem verschlossenen, zu versuchen, Die Liebe einen will mit Recht und Sittlichkeit. 161

Das ist weit furchtbarer als irgendein In-Brandsetzen der Wollust, die auch dann wieder ausbrennt. Das ist ein Heraus­ brechen des anarchischen Elements aus dem Gefüge, in dem es gebunden war. Baudelaire, der Esoterische, der keinen Kitzel dichtete, häufte mehr Dynamit als die gesamte antike Nacktheit der »HetärenGespräche« und des berüchtigten »Gastmahl des Trimalchio«. Baudelaire war ein schwermütiger christlicher Blick auf die Blumen des Bösen; er hegte und pflegte sie und genoß, gar nicht christlich, ihren Duft in berauschter Trauer. Und trank Nepenthes, den magischen Trank, der in homerischen Tagen gegen die schwarze Melancholie gebraut wurde — »aus steilen Brüsten«. Man kann seine Tristia auch biographisch umreißen. In frühen Jahren wollte er sich töten, weil er, wie er schrieb, den andern nicht nütze und sich selbst gefährlich sei. Und er wollte nicht nützlich sein, weil er — in der Sicht eingeengt auf das Reich der Bourgeoisie — im Nützlichen nur das Häßliche sah. Er fühlte sich verödet; der Haß, mit dem man seine Gedichte verfolgte, und der Prozeß belebten ihn nur flüchtig. Er kannte kein Liebes-Glück: nur Sehnen und Krankheit. So kann man das Sich-quälen und Rache-nehmen auch aus diesem Schicksal ableiten. Die Verschmelzung von sexueller Lust und Ekel war schon in den Strophen des Jugend-Gedichts: Sie ist erst zwanzig; der schlaffe Busen hängt beidseitig tief hinab, zum Flaschenkürbis ausgelängt, Und dennoch mich’s allnächtlich zu ihr reißt, Dem Neugebornen gleich, der saugt und beißt. Und da sie meistens keinen roten Heller hat, Den Leib zu pflegen und zu salben, tu ich’s an ihrer statt, Ich leck sie still und feuriger bewegt, Als Magdalena war, da sie des Herren Fuß gepflegt.

Merkte das Gericht, daß in diesem Dichter etwas heraufkam, was bei Flaubert erst in Ansätzen da war, was ein Redakteur (als wäre damit etwas gesagt) »sadistische Mittel« schimpfte

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und — was nichts mehr zu tun hat mit den lustigen Anakreon­ tikern aller Zeiten? Obszön erhielt einen neuen Zug: das Lei­ den. Orgasmus und Passion verschmolzen. Sollten die Richter das empfunden, wenn auch nicht gewußt haben, so ist die milde Strafe nicht zu verstehen. Denn was da ins Bewußtsein gelangte, bedrohte ihre Welt furchtbarer als die ganze Reihe der Experimente, die Ehe zu liberalisieren. Als wäre er ein eifernder Mönch, sah Baudelaire in der Liebe die Folter, den chirurgischen Eingriff, das Zusammenspiel von Henker und Opfer ... und wurde nicht müde, den Duft der Blumen des Bösen einzuatmen und zu besingen. Auch dieser, sein Verteidiger war nicht ernstzunehmen. Er deklamierte mit Genuß die Poesie seines Schützlings, als ob ihre sprachliche Kraft zur Diskussion stände. Ob sich die Herren von der Justiz aus Versen etwas machten oder nicht, wissen wir nicht; es ist auch nicht wissenswert. Pinard hatte mit Recht abgelehnt, als Kunst-Kritiker zu fun­ gieren. Er war von Beruf Sitten-Wächter. Die Aufgabe des Gegners wäre es gewesen, sich näher anzusehen, was da be­ wacht wird. M. Chaix d’Est-Ange konnte es nicht. Denn er unterschied sich ebensowenig wie sein Vorgänger, Senard, von dem Ankläger. Der hatte mit einer Präzision, die den liberalen Verteidigern immer fehlte, sein Bild vom Menschen gezeichnet, Ausgangspunkt seiner Attacken gegen das Ob­ szöne: der Mensch ist ein Lebe-Wesen, mehr oder weniger gebrechlich, mehr oder weniger schwach, mehr oder weniger krank, und immer unter dem Druck des Sünden-Falls — um so mehr, wenn er daran zweifelt oder gar dies Verhängnis leugnet. So heikel ist seine Natur, solange er sie nicht durch männliche Anstrengungen und feste Disziplin veredelt. Wie leicht ist es da, Geschmack zu finden an »lasziven Frivolitä­ ten«, ohne sich um die Lehre zu kümmern, die der Dichter geben will. Kurz: es nützt nichts, diese »Blumen« böse zu nennen, wenn man sie mit »steilen Brüsten«, einem »Tigergeruch«, »zarten Musselin, der halb dich nur bekleidet« und ähnlichen locken­ 163

den Attributen beschenkt. Diese »Kleinode«: ihr Bauch, ihr Schoß, die er noch »Trauben seines Weines« nennt, führen nicht gerade (wird der Beamte gefunden haben) zu frommem Werk. Die lasziven Frivolitäten bestehen aus Substantiven und Ad­ jektiven und Verben: vor allem, wenn sie in so benannten Zusammenhängen vorkommen. Sah man wirklich nur das? Spielte der Prozeß heute, kennte man persönlich Pinard und Chaix d’Est-Ange und die Herren, die das Urteil fällten, könnte man nicht nur ihre Worte lesen, auch die Intonation hören ... so wäre es vielleicht möglich, zu entscheiden, was hier verurteilt wurde. Wir können es nicht. Die Nachwelt aber sollte nicht den paar hundert Franken nachweinen (die dem Dichter, der eine Petition einreichte, auf dem Gnaden­ weg erlassen wurden) und nicht den sechs verhafteten Gedich­ ten (die bald in Freiheit erschienen) — sondern abermals einem der vielen Versäumnisse, ins Licht des Bewußtseins zu heben: was ein großer Dichter aus dem untersten Orkus mitgebracht hat. Die Entrüstung hätte die Aufklärung hervorreizen kön­ nen. Die Verteidiger aber standen nie auf der Höhe der Situa­ tion, die ihnen die Welt-Geschichte beschert hatte. Sie waren wohlmeinende Zerstörer ihrer Klienten. 1857, das Jahr, in dem Emma Bovary und andere Blumen des Bösen verurteilt wurden, ist auch noch aus einem anderen Grund denkwürdig in der Geschichte dieser Entrüstung: in jenem Jahr wurde Campbells Obscenity Act vom englischen Parlament angenommen, für ein Jahrhundert der Wall gegen das Obszöne jenseits des Kanals. Und 1857 war der Mann, der in der Neuen Welt den laute­ sten Kreuzzug führen sollte, dreizehn Jahre alt.

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New York 1873 Anthony Comstock, eine Kreuzung aus Barnum und McCarthy

Im Jahre 1909 wurde ein früherer Richter, Richard R. Shegard, zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt: wegen Benutzung der Post zu ver­ botenen Zwecken. Ein Postspitzel hatte entdeckt, daß er den »Dekameron« zur Beförderung ge­

geben hatte. Schriftsteller und Senatoren reichten beim Präsi­ denten Theodore Roosevelt ein Begnadigungs­ gesuch ein. Er antwortete: »Begnadigung verwei­ gert, es tut mir leid, daß ich den Mann nicht sein ganzes Leben einsperren kann.«

Die lustigste wilde Jagd auf das Obszöne ist jüngeren Ame­ rikanern kaum noch bekannt. Der prominenteste Jäger, zwi­ schen dem Civil War und dem Ersten Weltkrieg, war einer der buntesten, populärsten Figuren des Landes: eine Art von Ein-Mann-Zirkus, eine Mischung aus Bamum und McCarthy. Sein Name: Anthony Comstock. In dem kleinen purpurnen Tagebuch, das der Dreißigjährige führte, nannte er sich stolz »Der Mann des Obszönen«; nach alter Sitte erhob er das Schimpfwort, das man ihm nachrief, zum Ehrentitel. Ein Menschenalter später ging sein Eigen­ name als Begriff in die amerikanische Sprache ein. Bernard Shaw, der ihn zu spüren bekam, als er »Frau Warrens Ge­ werbe« vom Broadway zu verjagen suchte und den Dichter »diesen irischen Schmutzfink« nannte, schenkte Comstochs Landsleuten, die »eine zweitklassige provinzielle Zivilisa­ tion« hätten, das Wort Comstockery. Das Original, nach dem der Begriff gebildet worden war, hatte Shaws Stück weder gesehen noch gelesen; und ist über­ haupt in seinem einundsiebzigjährigen Leben nur zweimal im Theater gewesen. Um so öfter nahm er Anstoß. Darin wurde er einer der wirksamsten Darsteller und Regisseure der Zeit. Seine große Rolle war St. Georg, der auszog, den Drachen Obszön zu töten. Er fing früh mit der Hetze auf Menschen an und jagte bis zum biblischen Alter. Mit Achtzehn unternahm er eine Razzia auf eine Bar und goß den Alkohol auf den Boden. Mit Ein­ undsiebzig, 1915, in seinem Todesjahr, übernahm er sich auf einem Keuschheits-Kongreß, im Eifer gegen den Feind. In

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dem halben Jahrhundert dazwischen lag sein Jäger-Glück. Die Triumphe sind genau registriert; Comstock war ein sehr ordentlicher Buchhalter. Schon 1874, erst Dreißig und schon ein Jahrzehnt hinter der Unsittlichkeit her, hatte er (nach einer Aufstellung »Privat und Vertraulich«) das Folgende erlegt: 134 000 Pfund indezente Schriften, 194 000 Stück gleichgeartete Reproduktionen und Photographien, 60 300 unsittliche Gummi-Artikel, 5 500 unzüchtige Spiel-Karten, 3 150 Kisten voll obszöner Pillen. Auch hatte er schon 241/i2 Jahre Gefängnis durchgedrückt und Strafen in Höhe von 9 250 Dollar. In diesem Tempo arbeitete er weiter. Die Bulletins vom Kriegsschauplatz verkündeten einen Sieg nach dem andern. Schon nach wenigen Jahren waren 160 von den 165 Num­ mern der Bibliothek des Unanständigen aus der Welt ge­ schafft. Nur wenig Kapital wurde noch in diese Branche ge­ steckt. Auf den Straßen New Yorks wurde kaum noch Zwie­ lichtiges verhökert. 1908 allein arretierte er, nach seinen Bü­ chern, neunundneunzig Subjekte. Zwei Jahre vor seinem Tode, kurz vor dem Ersten Weltkrieg, machte er wohl zum letzten Mal Bilanz und rühmte sich, daß er einen 61 Wagen langen Zug, pro Wagen 60 Plätze, mit Unsittlichen, die er zur Strecke gebracht, füllen könnte. Das Gewicht der Literatur, die er zum Tode verdammt hatte, war auf 160 000 Tonnen angeschwollen: darunter Klassiker der Pornographie wie »Fanny Hill« und »Eine Nacht im marok­ kanischen Harem«. Sie leben, trotz des 160 000 TonnenGrabs, immer noch, in alter Frische. Würde ihn das überraschen? Er nannte, in seiner melodra­ matischen Sprache, das Obszöne ein Ungeheuer mit HydraKöpfen ... und schlug, in fünfzig sehr resoluten Jahren, der lockeren Miss Hydra Köpfchen nach Köpfchen ab. Inzwischen sind sie reichlich nachgewachsen. Damals aber war er Sankt Anthony, an der Spitze der »Gesellschaft zur Unterdrückung des Lasters«, Spezial-Assistent der Post, die als Zensur-Be­ hörde funktionierte (und funktioniert), der Mann in Washing­ 168

ton, der unermüdlich-aufdringlich verschärfte Gesetze durch­ drängelte. Heute nennt der Biographie-Webster diesen farbigsten Ame­ rikaner ganz farblos einen »Reformer« — als hätte er Bauch­ binden erfunden gegen Kälte-empfindliche Leiber. Damals aber war er viel mehr: ein großer Kirmes, von dem Hun­ derte, im grellen Schein eines schrillen Feuerwerks, zur Zwangsarbeit getrieben wurden, in den Kerker ... und nicht wenige in den Tod. Zum Beispiel eine siebenundsechzigjährige Puff-Mama, die fünfzehnte seiner Leichen (wie er errechnete). Er hatte sie geklappt, nachdem er ihr als Hilfeflehender ge­ naht war: ein Mann in äußerster Armut, kurz vor dem Ruin. Sie wollte ihm helfen. Er half ihr ins Grab — und schrieb als Nekrolog: »Ein blutiges Ende nach einem blutsaugerischen Leben.« Der Fünfzehnten folgte eine Stenographie-Lehrerin, die re­ ligiös-erotische Halluzinationen hatte. Sie hielt sich für die Gattin eines Engels, trat in frommer Scheu für den BauchTanz ein und schrieb eine pädagogische Broschüre »Hochzeits­ nacht«. Ärzte und Priester fanden diese Führung von Anfän­ gern durchs eheliche Schlafzimmer hilfreich. Comstock sah nur eine »Verführung auf wissenschaftlich«, klagte den Schmutz an und brachte die Verfasserin dahin, wo schon einige Vorgängerinnen gelandet waren. Sie hinterließ eine Zeile: sie konnte es nicht tragen, daß ihre wohltätige Schrift als obszön gebrandmarkt worden sei. Sein Gewissen war solide gepanzert, mit eisernen Überzeu­ gungen? Oder vielleicht mit einer Eis-Schicht, rund um das Herz, so daß kein Leid es in Mitleidenschaft ziehen konnte? Klagte man ihn an, daß er einen Menschen umgebracht habe, so antwortete er: vielleicht ja, vielleicht nein — jedenfalls ist es so für die Welt besser. Wie mancher Henker liebte er kleine Kinder. Sie schränkten seine Macht nicht ein. Er war nicht irgendein Mr. Comstock. Er war der gefeierte Tugendbold in einem Amerika, dessen Staatsanwalt sagen konnte: »Die Vereinigten Staaten sind eine große Gesellschaft

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zur Unterdrückung des Lasters.« Zumindest ist gewiß, daß starke Kräfte daran waren, Amerika dazu zu machen. Als ein Präsident des Landes einen obszönen Häftling begnadigen wollte, organisierte man eine Petition von Schul-Kindern im Alter zwischen Acht und Fünfzehn: daß so Schreckliches doch, bitte, nicht geschehen möge. Der Mann des Obszönen herrschte nicht unumschränkt. Das Gesicht mit dem dominierenden Backenbart war auch die Lieblings-Visage der Karikaturisten; man machte sich lustig. Natürlich nicht über die traditionelle Puritaner-Moral, die er repräsentierte — nur über diese clownige Version. Der Clown ging, die Moral blieb. Heute lebt er weiter, anonym in anonymer Zeit. Heute, wenn man so einen kümmerlichen Funktionär einer Legion of Decency sieht, kann man sich ftaum noch vorstellen, daß jener ausladend grelle, vitale Gla­ diator Gottes der Großvater gewesen ist. Er brachte an das Licht des Tages, was heute dies Licht scheut und deshalb viel gefährlicher ist.

Wer dem seltsamen Phänomen mit dem Namen Obszön nach­ geht, hat in Anthony Comstock den Glücksfall: eine Fülle von intimen Dokumenten gewährt Einblick in die tieferen Gründe dieser Entrüstung. Sie ist gewiß auch nuanciert nach Tradition, Temperament und dem besonderen Schicksal des einzelnen, hat aber nie etwas zu tun mit der großen Askese. Gandhi teilt in seiner Autobiographie, welche er die Ge­ schichte meiner Erfahrungen mit der Wahrheit nannte, mit, daß er mit seiner Frau schlief, als sein Vater starb. Der Sohn fühlte sich schuldig, daß er, in Gegenwart des Todes, die schärfste Lust des Lebens genoß. Da entschloß er sich, mit der Frau nur noch wie mit einer Schwester zu leben. Es ist zu vermuten, daß es das enge Zusammenrücken vom Erlebnis der Vergänglichkeit und leidenschaftlichster Hinwendung zum Leben gewesen ist, was ihn auf den Weg jener Entsagung brachte — die kein Anstoßnehmen kennt. Die Sentenz: von

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allen sexuellen Verirrungen sei die Keuschheit die seltsamste ... gilt nicht für die Gandhis. Comstock beschritt nicht die Straße zur Heiligkeit, sondern (das kann nicht genug getrennt werden) zur stellvertretenden Selbst-Verstümmelung, zur Mißgunst. Comstock war nicht ein Heiliger, sondern zu bedauern. Ihn charakterisierte ein star­ ker Trieb, der durch passionierten Widerstand besonders hart­ näckig wurde; und ins Missions-Fieber, schließlich in die spek­ takulär-hemdsärmelige Robustheit eines aggressiven ameri- t kanischen Primitiven changierte. Aber da gibt es — in den ernstesten Fällen und hier ganz sichtbar — eine Quelle, die noch unterhalb dieser ethnischen und individuellen Sonder­ heiten liegt. Die Aufzeichnungen des gut-aussehenden Zwan­ zigjährigen, der Typ eines jungen Künstlers, leiten zu ihr hin. Die Prae-Historie zuerst. Der Jäger nahm zu Beginn andere Fährten auf. Es fing an mit dem Kampf gegen den Dämon Rum, dem er auch in späteren Jahren immer wieder einmal eine Schlacht lieferte. Im »Bürgerkrieg« gab er seine WhiskyRation nicht an die Kameraden weiter, sondern goß sie aus. Nie lud er dann, der Angestellte eines PosamentierwarenGeschäfts, einen Kunden zum Trinken ein; nie, später, die Polizisten, die er, Detektiv auf der Spur des Bösen, sich gern verpflichtet hätte. Die Abscheu vor dem Trunk und die Abscheu vor dem Geschlecht sind in der Tradition der Entrüstung Zwillingshaft verbunden. Ein englischer Methodisten-Prediger unserer Tage fand im Trinken den Ursprung der Pornographie. Der junge Comstock empörte sich über vieles: auch über flu­ chende und Tabak-rauchende Kameraden; und erlaubte das Rauchen selbst nicht als Schutz gegen die Moskitos der sump­ figen Gegend. Er nahm Anstoß an Reisen am Sonntag und Glücksspielen; und fing mit einem mächtigen Unternehmen wie der Lotterie von Louisiana einen Kampf an. Aber alle diese Teufel-Tricks: die Dämonen Rum, Tabak und Spiel sind ihm nie gefährlich geworden. Ui

So konnte er Betrunkenheit auch einmal komisch nehmen; in einem seiner plumpen Späße mimte er einen Trunken­ bold vor der »Gesellschaft zur Unterdrückung des Lasters«. Jenseits des Humors war nur die sexuelle Lust, weil er mit keiner anderen in einen so intimen Konflikt geraten war. Vielfältig rationalisierte er ihre Suprematie: Trunkenheit sei offenbar, im Auge, in der Haltung des Sünders. Geheim aber — und deshalb schwer aufzustöbern, seien nur die furchtbaren Bilder der Fleischeslust im Schädel dessen, der ihnen ausge­ liefert ist. Die Bilder! Jung-Comstock kannte wohl nur die ausschweifende Phantasie und die einsame Sünde. Er muß sehr gelitten haben, gemessen an dem Umfang seiner Feld­ züge gegen sie. Er stammte vom platten Lande, aus dem Ort New Canaan; ein anzüglicher Name, wenn man bedenkt, daß er sein Volk in ein neues Kanaan führen wollte. Er war der Sohn schollen­ gebundener Puritaner (im historischen Sinne des Worts), er­ zogen in Kirche und Sunday-school — und dann noch im Widerwillen gegen katholische Pracht. Erzogen vor allem in der Furcht Gottes, auch im Vertrauen auf Gott; es war so stark, daß es schon dem Jüngling nichts ausmachte, ausgelacht zu werden und verdächtigt und verfolgt. Auch hatte er von früh an Protektoren. Seine Vorgesetzten in der Armee merkten, wie nützlich dieser eifernde Knabe war: zur Organisierung von Kirchen-Besuch und bravem Verhal­ ten; seine Gönner waren dann so mächtig, daß sie ihm eine glänzende Karriere ermöglichen konnten. Doch war sie erst ein spätes Resultat. Jahrzehnte stand er recht allein. Und hatte nur zwei große unsichtbare Verbündete, die ihm noch mehr als die kapitalkräftigeren Sichtbaren den Rücken steif­ ten: Gott und Jesus. Comstock war nicht der Erste, der mit Alliierten siegte, die er selbst aus dem Arsenal seiner Energie und seiner ebenso strotzenden Einbildungskraft geschaffen hatte. Man versteht den Gott und den Jesus, den Comstock be­ kannte, nur, wenn man herausfindet, womit er persönlich

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den überlieferten, allgemeinen Umriß der Vorstellung von ihnen füllte. Es ist nur eine Phrase, zu sagen: er meinte sich, wenn er Gott sagte. Gott war die Stärke, die Comstock nicht besaß — die nur von seiner Gott-Vorstellung mobilisiert wer­ den konnte. Gott war ein überlegener Freund, im Vertrauen auf den man die gefährlichsten Unternehmungen wagen konnte. Sie trugen ihm manche (keineswegs nur metaphori­ sche) Wunde ein. Er blutete viel und sehr real zur höheren Ehre des Herrn. Auch Jesus hatte sein Blut vergossen. Gott stimulierte ihn zu seinen Expeditionen, gab ihm noch im hoffnungslosesten Unternehmen Hoffnung, schenkte dem Un­ geduldigen die Kraft zur Geduld, ließ ihn manche Niederlage ertragen. Zunächst gingen die Geschäfte des jungen Kauf­ manns schlecht, obwohl er Gott vertraute, daß er gut verkau­ fen werde; dann starb ihm das einzige Kind; dann hatte er sich über den Verlust eines großen Sittlichkeits-Prozesses zu trösten mit »Dein Wille geschehe«. Und er war getröstet. Er begann sofort, in altem Selbst-Vertrauen, eine neue Jagd. Man darf die Wirksamkeit der Mensch-gemachten Transzen­ denz nicht deshalb unterschätzen, weil sie in unserer Ära meist nicht mehr ist als ein Schall. Wenn der Wille zu einer Phantasie so stark ist, daß sie sich wie eine Wirklichkeit be­ nimmt, dann ist sie eine — in der Praxis, wenn auch nicht vor der Wahrheit. Und sein Jesus war von größter Wirkung. Er ist hier nicht der Mittler. Comstock hatte ihn nicht nötig. Er brauchte keine Fürsprache. Er unterwarf sich, ohne zu fragen und zu rechten: bedingungslos. Jesus war für ihn ein Eroberer, den keine Öffentlichkeit von seinem Weg hatte ab­ bringen können. Comstock praktizierte ein Christentum, das weniger Liebe, Mitleid und Erlösung kannte als GefolgsTreue, Gehorsam. Er war der Knappe zweier Herren, die sich kaum voneinander unterschieden. Ihr Wille trat als Comstocks Erfolg oder Mißerfolg in Erscheinung. Das Geschöpf recht­ fertigte unter allen Umständen seinen Schöpfer. So konnte dieser Krieger durch keine Niederlage gebrochen werden, weil er sie als Gott-gewollt sanktionierte.

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Gott ist unerforschlich. Das Einzige, was man weiß: er ist gegen Trinken, Rauchen, Spielen und Fluchen. Aber gegen nichts so sehr als gegen die sexuelle Phantasie. Und hier brauchte der Allmächtige die Hilfe seines ohnmächtigen Ge­ schöpfs, Anthony Comstock. Es ist nicht ganz logisch, aber nicht unlogischer als manche berühmte Theologie. Comstocks Werk wurde errichtet auf dieser seltsamen Abhängigkeit Got­ tes. In dem Jüngling lebte noch eine Jenseits-Sehnsucht; sie verblaßte mehr und mehr vor dem Willen zum irdischen Pa­ radies, das dort wieder beginnen wird, wo es von Eva mit der Einladung zum Apfel zerstört worden war. Diese Wand­ lung, die mit dem Drang zur Entichung beginnt, und dem Willen zur Macht endet, ist nicht untypisch. Wenn man Kleines mit Großem vergleichen darf: der aus den Ban­ den des Irdischen sich befreiende junge Loyola wurde der stärkste und erfolgreichste Konquistador. Von diesem Gott und diesem Jesus kam Comstocks Unbesieg­ barkeit. Der gewaltige Druck hinter dem Grauen vor dem Teufel Sexus hatte einen anderen Ursprung. Mag sein, daß später, als diese irdisch-überirdische Schlacht eingespielt und zu einem guten Teil auf das Gebiet der Gesetzgebung verlegt war, viel professionelle Routine, viel Eitelkeit und eine hef­ tige Gier nach politischer Macht ins Spiel kamen. Im Ur­ sprung war eine Kraft von ganz anderer Größen-Ordnung am Werk gewesen: die Sorge um sein Heil, gemäß seiner Vor­ stellung vom Unheil. Es ist schwer, ins klare zu kommen, ob er den Teufel drei­ dimensional gesehen hat: mit Schwanz, Hörnern und Klauen. Ganz gewiß war der Böse mehr als eine Metapher; er legte Schlingen, warf Köder aus und war durchaus kein LiteraturTeufel. Und ganz gewiß war er für Comstock vor allem in der einen seiner vielen Materialisationen der große Wider­ sacher Gottes: als Verführer zur Wollust. So rückte das Ob­ szöne ins Zentrum dieses Daseins. Comstock ist in seinem Leben kaum anderen Gefahren aus­ gesetzt gewesen. Er hätte es sehr leicht gehabt, reich zu wer­ 174

den und angesehen und sehr mächtig; man hätte ihn gern bestochen mit großen Summen, imponierenden Ämtern und den höchsten Ehren. Da ist nicht der geringste Verdacht, daß er je in Versuchung kam, auf diesem Irrweg Satan ins Garn zu laufen. Anfällig war er nur an einer Stelle. Dort baute er, im Namen Gottes, eine Zyklopen-Mauer. Wenn man den lockenden Bildern den Eintritt gestatte — durch Auge und Ohr, die Tore in den Bezirk der Phantasie, werde die Seele verfaulen. Comstock, ein Mann mit wuchern­ der Phantasie, verglich die Sinnes-Organe mit elektrischen Drähten, die mit einem inneren Pulver-Magazin in Verbin­ dung stehen; es sind die obszönen Bilder, welche das Dyna­ mit zur Explosion bringen. Man kann die Gewalt der Er­ fahrungen, die er gemacht haben muß, ermessen an der Un­ ermüdlichkeit, mit der er sie, ins Mythologische transponiert, ausmalte — und an dem gewaltigen Verteidigungs-Wall, den er an den Zugängen zur Seele, den Sinnen, aufbaute. Comstock hatte entdeckt, was den Kennern der Natur-Völ­ ker bekannt ist. In Nordwest-Melanesien nennen sie die Augen den Sitz der Begierde (wörtlich: »Wunsch nach Be­ gattung«). Ihre psycho-physische Geschlechts-Theorie lautet: von den Augen überträgt sich der Wunsch auf das Gehirn und breitet sich über den ganzen Körper auf Bauch, Arme und Beine aus. Das Geschlechts-Organ ist der Endpunkt. Wenn also die Augen ein Objekt der Begierde erblicken, »wachen sie auf« und geben den Impuls an die Nieren weiter, die ihn in den Penis leiten und so die Erektion hervorrufen. Daher sind die Augen die Haupt-Ursache aller geschlechtlichen Erregung; sie sind »die Dinge der Begattung, das, was in uns den Wunsch, zu begatten, erweckt«. So sagen die Eingeborenen: »Ein Mann mit geschlossenen Augen hat keine Erektion.« Dieselbe Erfahrung leitete Comstocks Taktik bei seinem Feld­ zug gegen zu häufige und zu illegitime Aufstände. Die Augen der Primitiven werden nur gefüllt von Objekten der Wirk­ lichkeit und der Erinnerung. Menschen, die lesen und Bilder anschauen, sehen viel mehr: Nie-Gesehenes. Photographien

und Zeichnungen und Darstellungen im Wort spielen in der Fülle dessen, was sie vermitteln können, eine viel größere Rolle als die Szenen der Unzucht, die ein Einzelner mit den leiblichen Augen sieht. Deshalb bezog Comstock vor allem dort Posten, wo das Alar­ mierende nicht unmittelbar die Phantasie affiziert: vor dem obszönen Bild und Schrifttum. Es war sehr logisch, was er tat. Es ruhte auf einer ganz und gar soliden Psychologie. Den Akt ohne vorhergehende Stimulanz durch Bilder, geboren aus der Phantasie, vervielfältigt für Tausende, konnte er igno­ rieren; erst die Überflutung des Einzelnen mit Produkten aus der Werkstätte gelernter Einheizer schuf Urwälder von Erek­ tionen. Comstock dachte nie daran, daß auch diese Bäume nicht in den Himmel wachsen. Er hatte das eine mit der pornographischen Literatur gemein: die irrsinnige Überschät­ zung der Potenz und der Unersättlichkeit des Menschen und eine wildwuchernde Phantasie für Sexuelles. Eine Karikatur zeichnete ihn, wie er einen Maler beim Malen verhaftete; sein Bild zeigte ein Mädchen im Wasser, von dem man nur den Kopf sehen konnte. Comstocks Anklage: »Glauben Sie, ich kann mir nicht vorstellen, was unter der Wasserfläche ist?« Er hatte in der Sonntags-Schule gelernt, daß von Eva her das Geschlechtliche sündhaft ist; er hatte es nicht nur begriffen, auch in seinen Willen aufgenommen. Denn jene Stätte der Bildung war ihm Gymnasium gewesen und Universität und des Lebens grüner Baum zugleich. Dann überfiel den jungen Studenten das Verlangen nach Eva, er spürte die Übermacht des Bösen: dies Locken in die ausschweifende Phantasie. Es ist anzunehmen, daß ihm nie eine Magdalena begegnet ist und nie eine Potiphar; sein Abscheu gegen die Prostitution war unbedeutend vor seiner Besessenheit mit dem obszönen Wach-Traum. Es war die innere Bilder-Welt, die ihm schwer zu schaffen machte; deshalb führte er dann einen fünfzig­ jährigen Grenz-Krieg zur Abdichtung der Zugänge. Die Sittlichkeits-Apostel schenkten nicht selten den unsitt­ lichen Phantasien mehr Aufmerksamkeit als den Wirklich­

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keiten, welche sie in die Tat umsetzen: nicht nur deshalb, weil hier keine Schein-Siege möglich sind; auch, weil man selbst es nie bis zum Kontakt mit dem Teufel Weib gebracht hat... außer in der Vorstellung. Deshalb ist es nicht das Tun, son­ dern die Einbildungskraft, auf welche sich die Abwehr kon­ zentriert. »Laß Dich nicht gelüsten Deines Nächsten Weibes« ... mit dem »Gelüsten« fängt es immer an. Die Gaukelei, in der Eva erscheint, ist viel gefährlicher als Eva persönlich. Was die Sinne reizt, war Comstock gleich teuflisch: ein Bild oder eine Schrift oder ein Theater oder eine Zirkus-Nummer mit Halbbekleideten, die Existenz eines Huren-Hauses oder eine medizinische Aufklärung, die Frauen-Bewegung oder eine unbekleidete Wachs-Puppe in einem Warenhaus-Fenster, eine Annonce, die Empfängnis-Verhütungs-Mittel empfiehlt, oder die Akt-Zeichnung eines Kunst-Studenten. Obszön ist, was immer die Lust mobilisiert; das ist der gemeinsame Nen­ ner für alle Aphrodisiaka. Es ist von hier aus logisch, zwischen Wirklichkeit und Roman, Kunst und billigen Produkten nicht zu unterscheiden. Auf solche Unterschiede kommt es dem Feind des Teufels nicht an; es geht um die Auslösung des inneren Bildes, das seinerseits die Begierde auslöst. Man kann diesem soliden Argument nicht so billig entkommen, wie es immer wieder versucht wurde mit dem Kampf-Ruf: Kunst in Gefahr. In viel grö­ ßerer Gefahr ist das innere Dynamit. Der Teufel besiegte den heftig sich wehrenden Soldaten im Bürgerkrieg, wie aus den frühen Eintragungen hervorgeht. Der Besiegte nahm sich die Niederlage zu Herzen und schrieb: lieber tot als sündig. Wie schwer solche Worte wiegen, ist sel­ ten auszumachen; die Zukunft bewies, daß sie keine Redens­ art waren. Die Art der Sünde ist zu erkennen. »Morgens schwer vom Satan versucht«, heißt es da, »wurde schwach und gab nach.« Er scheint zuerst hingeschrieben zu haben, worin das Nachgeben bestand; dann löschte er das Geschriebene wie­ der aus. Er hatte ein Grauen noch vor dem Wort, welches das Grauenhafte schwarz auf weiß bezeichnet. 177

Stehen blieben Wendungen wie »die Sündigkeit meines Kopfs«. Alle anderen Sünden bezeichnete er mit ihrem spezi­ fischen Namen; kam er aber zur Fleisches-Lust, so wagte er sich (selbst im Tagebuch) nie näher heran als mit solchen Sät­ zen: »Ich erniedrigte mich vor mir selbst durch Schwäche und Sündhaftigkeit. Ich kam sehr in Versuchung — und gab nach, anstatt zur Quelle aller meiner Kraft zu fliehen. Niemand kann ermessen, wie ich seitdem gelitten habe. Ich wohnte einer Gebets-Stunde bei, ohne Erleichterung. Im Gegenteil: jedes Gebet, jeder Hymnus machte mein Elend noch schlim­ mer.« Man ist versucht, in der »Quelle meiner Kraft« zugleich die Verdeckung und Offenbarung der heimlichen Praxis zu sehen. Seine Sprache war verhüllend, in der überlebensgroßen Auf­ machung. Er klagte sehr, daß er das Bekämpfte bekämpfen müsse, ohne es bei Namen nennen zu können. Deshalb wurde sein Wortschatz so üppig. Da ist das Unausgesprochene »ein brüllender Löwe«; »Sodom« wird ein Haushaltswort. Die Residenz des armen Anthony Comstock findet man auf keinem Atlas. Seine Adresse lautet: »Ich bin in einem Sumpf stationiert, an der Mündung einer Kloake.« Comstocks Buch »Frauds exposed« heißt im Untertitel: »Wie das Volk betrogen und beraubt wird und die Jugend kor­ rumpiert«. Die Propheten des Alten Testaments haben nicht Mythisches statt Wirklichkeit gegeben, sie wurden sehr deut­ lich. Comstock, die Augen rollend während der GigantenSchlacht mit der obszönen Literatur, hat nur Metaphern ge­ erbt und geht, mit ihnen fuchtelnd, um den heißen Brei herum. Keine Feder, so wendet er sich an den Leser, kann die Wirkung des verdammten Obszönitäts-Geschäfts auf die Gesellschaft beschreiben. Und dann versucht er es doch; aber nur so, daß er keine Lese-Proben gibt, sondern lediglich die gespenstischen Fol­ gen ans Firmament malt. »Lust wird ausgebrütet. Lust be­ sudelt den Körper, macht die Einbildungskraft ausschwei­ fend, den Geist korrupt, den Willen schlaff. Lust zerstört das I78

Gedächtnis, das Gewissen verwelkt, das Herz wird hart, die Seele geht zum Teufel. Der Arm sinkt, der Schritt wird schleppend.« Das ganze Vokabular der Trostlosigkeit wird über den Leser ausgeschüttet, der zu gerne einmal wüßte, welche enormen Sätze der gehaßten Literatur so etwas ver­ mögen. Aber Comstock gibt sie nicht her. Geheimnisvoll wird angedeutet, daß es das »Panorama« der Lust ist, eine sündige Bilder-Welt, die sich immer tiefer in das Gottes-Geschöpf einfrißt und das Opfer in furchtbare »Prak­ tiken« stürzt. Die Folge dieser »Praktiken« (näher ging er nie heran!) sind Menschen-»Skelette«, die durch den Haus­ halt geistern. Die Familie wird bedreckt, das Heim entheiligt: durch diese »Monster«, diese »Teufel in Menschen-Gestalt«, diese »Bande frei-gelassener Verbrecher«, diese »Vampyrs«, diese »Krebs-Pflanzer«, welche die Literatur der Sünde schaf­ fen und vertreiben; und so »tödliches Gift in die Quelle mo­ ralischer Reinheit« schütten. Comstock kündigte in der Vor­ rede an, daß er keinen Anspruch auf literarischen Glanz mache. Verdecken war die eine Funktion dieser Sprache, die andere: Dramatisierung des Gottes-Gesandten Anthony Comstock. Viele Heilsbringer machten aus ihrem Alltag ein überirdisches Ereignis. Sie sprechen von sich nur in Superlativen, es macht keinen Unterschied, ob er positiv ist oder höllisch. »Ich bin das Haupt aller Sünder«, sagte in seiner Jugend der Sünder Comstock; mit einer bescheideneren Position hätte er sich nicht begnügt. Auch lebt in diesem Satz die ursprüngliche Mischung von Kleinmut und Größen-Wahn; seine Verzagt­ heit schwand dann mit den Erfolgen. Da verlagerte er seine Verderbtheit auf die Mitmenschen. Und es wandelte sich das Vokabular mehr und mehr von hochtrabender Selbst-Anklage ins Schimpfen. Nur die Mitmenschen durften nicht. Er ließ einmal eine Frau verhaften, die ihren Mann auf einer Post­ karte »Spitzbube« nannte. Er selbst fluchte wie ein FuhrKnecht. Es ist aber zu billig, Comstocks Aggressivität pervertierte

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Sexualität zu nennen: als habe er, heuchlerisch oder verlogen, Tonnen von phantasierten Bett-Szenen durchschnüffelt, um sich, unter dem Vorwand von Empörung, sexuell zu befriedi­ gen. Das gibt es. Das war nicht der Fall des Anthony Comstock. Sein Glück lag nicht in der heimlichen Erfüllung des­ sen, was er öffentlich verdammte, sondern in der Star-Rolle, die ihm im Menschheits-Drama zwischen den guten und bösen Mächten zuerteilt war. Diese Helden-Spieler in der Zwischen-Welt zwischen Himmel und Erde sind die allerge­ fährlichsten Feinde der Menschheit. Comstock hatte keine Armee zur Verfügung, die er einsetzen konnte. Deshalb kam er nicht in die Welt-Geschichte. Es ist anzunehmen, daß die Jagd auf das Unzüchtige, daß seine Mission als Gottes liebster Jagd-Hund ihn mehr und mehr abgezogen hat von den Bildern, die der Teufel dem Jüngling vorgegaukelt haben mag. Es gibt auch eine geglückte Flucht; das vergessen zu viele Psychologen. Ein nicht-erfülltes Verlangen kann kompensiert werden durch Erfüllung eines andern. Als man die Sexualität zu dämonisieren begann, ver­ gaß man, daß auch sie ablösbar ist — zwar nicht durch Subli­ mierung, aber durch Essen und Trinken und vor allem durch Macht. Es gibt ebenbürtige Dämonen neben dem Dämon Sex: zum Beispiel die Vorstellung, ein Erkorener zu sein. Comstock war schließlich zufrieden, im Bunde mit Gott und Jesus zu richten, zu strafen, in den Tod zu treiben. Das war ein voller Ersatz. Man braucht nicht mehr das Ersetzte als heimliche Triebkraft hinter dem Ersatz zu vermuten. Er ist nicht immer eine Verdrängung, die weiter drängt. Comstock scheint den Teufel endgültig verjagt zu haben. Er führte, so gesehen, mitten im Schlachten-Tumult ein friedliches Da­ sein. Doch soll diese Einsicht nicht die andere verdunkeln, daß es sexueller Verzicht gewesen ist, der ihn zum Schwert Gottes und seines Sohnes machte: gegen das Eindringen von unzüch­ tigen Einbildungen in die Seele des gefährdeten Menschen. Und wahrscheinlich stammt das seriöseste Anstoßnehmen 180

immer aus frühem hoffnunglosen Widerstand gegen die Lokkung jener Lemuren, die den furchtbaren Trieb mobilisieren, stärken und allmächtig machen: das obszöne Wort, das ob­ szöne Bild.

Comstocks Aufstieg begann in einer Epoche des Katzen­ jammers, einer Nachkriegs-Zeit in den Sechzigern, die den vier Jahren Bürgerkrieg folgten. In den Siebzigern wurde er eine nationale Figur. Wie es nach Kriegen zu sein pflegt: es gab eine Lockerung der überkommenen Ordnung, auch Unordnung genannt, es gab Gründer-Jahre und dann, am Schwarzen Freitag 1869, einen panikartigen Zusammenbruch vieler grundloser Gründungen. Es gab Propheten, die teils nur prophezeiten, teils auch quack­ salberten. Es war die Geburtsstunde des Ku Klux Klan, der Räuberbarone, des Feldzugs gegen die Mormonen — und der Young Man’s Christian Association (ymca): des verjüngten Puritanismus. Die Klu Klux Klaner vermitteln am besten die Sprache dieser Terroristen, die Furcht erweckten und zum Lachen reizten. Die Anrede an die Verfolgten lautete: »Verfluchter Hund!« Dann ging es weiter: »Die Schatten der mächtigen Toten sind im Aufbruch. Die Hölle ist losgelassen. Sie sind unerwünscht. Sie haben zehn Tage Zeit, zu verschwinden. Wenn Sie nicht gehorchen, wird des Lebens schreckliches Fie­ ber im kühlen Grab friedlich enden.« In dieser Atmosphäre war Anthony Comstock auf Sex spezialisiert. Der größte Anti-Puritaner, den Amerika hervorgebracht hat, der streitbare Henry Mencken, in den Zwanzigern Protago­ nist im Affen-Prozeß zu Dayton, machte den Geist, den Un­ geist der Renaissance des Puritanismus sichtbar: in der Kontrastierung zwischen dem Einst und dem Jetzt. Man ist nicht mehr klösterlich-beschaulich, sondern militant; nicht mehr auf Heiligkeit aus, sondern auf Rowdys, die den Sünder nieder­ schlagen. Einst war man introvertiert und arm. Man hatte 181

keine Neigung und kein Geld zu kostspieligen Expeditionen gegen sündige Mitmenschen; man schlug sich an die eigene Brust, das konnte auch der kleinste Mann ermöglichen. Nun wurde man ein Gottes-Protz, verlegte sein Duell mit dem Teufel nach außen, bekämpfte ihn in anderen, mit der Hilfe von wohldotierten Organisationen und dem puritanischen Entrepreneur. Aber auch der neue, expansive und schaulustige Puritanismus hatte (ebenso wie der alte, intimere) seine tausendjährige Wurzel in jenem Christentum, das durch die Jahrhunderte die Freuden des Leibes verketzert hatte, keine so sehr wie die explosivste; und selbst die Ehe nur gerade duldete. Der Kirchenvater Tertullian, ein Römer aus Karthago, hatte im Zweiten Jahrhundert entscheidend die christliche SexualMoral bestimmt. Seine Schrift »Die zwei Bücher an meine Frau« ist eigentlich ein Brief, ein Testament-artiges Schreiben an die künftige Witwe, die er dringend bittet, nach seinem Tod nicht wieder zu heiraten. Im Detail widerlegt er alle Ein­ wände, die gegen einen solchen Rat immer wieder geltend gemacht worden sind. Bei dieser Gelegenheit prägte er einige Du-sollst, Du-darfst und Du-sollst-nicht vieler christlicher Jahrhunderte. Das weitaus Beste sei die Jungfräulichkeit. Allerdings gehört die Ehe zu den Du-darfst; Gott hat sie als Mittel gewählt, um die Erde mit Menschen zu bevölkern. Aber er hat diese Erlaubnis nur notgedrungen gegeben, als einen leidigen Kom­ promiß. Denn weshalb sonst habe der Herr Wehe geschrien über die Schwangeren und Säugenden! Und weil die Ehe nur das Zweit-Beste ist, beschließen manche Paare, auf »eheliche Leistungen« zu verzichten. Was folgt daraus für eine Witwe? Es sollte genug sein, daß sie das eine Mal nicht stark genug war, um keusch zu bleiben. Adam war der einzige Gatte Evas. So ermahnt dies Testa­ ment Frau Tertullian, daran zu denken, daß »uns vom Herrn des Heils in der Enthaltsamkeit ein Mittel gezeigt worden ist, zur ewigen Seligkeit zu gelangen«.

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Die Macht, welche diese (nicht nur christliche) Vorstellung durch die Jahrhunderte ausgeübt hat, zeigte sich nicht so sehr in der geringen Zahl von Mönchen und Nonnen, als in der nicht abzusehenden Fülle der Milliarden, die mit schlech­ tem Gewissen — nicht enthaltsam waren und eine Epidemie von Anklagen auf Sündhaftigkeit gegen sich und andere ver­ breiteten. Das Sinnen-feindliche Christentum lebte unter vie­ len Masken, dichteren und durchlässigeren — auch recht Sin­ nen-freudigen. Im Wandel der Jahrhunderte entstand aus der Vorstellungs-Welt des Tertullian, die viel platonische und orientalische Askese enthielt, auch der Inquisitor Comstock, der Gott-ergebenste Korporal Amerikas. Er konnte auch auf einer fünfzigjährigen amerikanischen Traditon aufbauen. Schon in der ersten Generation gab es aus England mitgebrachte alttestamentarische Flüche gegen die verdammte Schweinerei. Und auch die obszöne Literatur, die man bald verfluchte, war aus dem Mutterland importiert. Dann machte man im Literarischen einen kleinen Schritt vor­ wärts in der Richtung auf Eigenständigkeit: die klassisch­ englisch-obszöne »Fanny Hill« wurde unter neuen Namen nachgedruckt und amerikanisch adaptiert. Im selben Jahr 1821, fast ein Jahrhundert nach dem Land, dessen Kolonie man gewesen war, erhielt Vermont das erste Obszönitäts-Gesetz der Vereinigten Staaten. Es war die Zeit, in welcher ein Doktor Bowdler einen »Familien-Shakespeare« herausbrachte und sich rühmte, daß nicht ein einziges in­ dezentes Shakespeare-Wort überlebt hätte; seit damals nennt man so etwas bowdlerize. Comstock gehörte zur Generation der Enkel. Die Saat der Großväter ging prächtig auf. Er war grell und schrill: ein Hausknecht, der alle professio­ nellen Gaben, Muskeln und kräftige Worte hatte, um aus dem amerikanischen Haus hinauszuschmeißen, wer ihm und seinen feineren Compagnons nicht paßte. Behaftet mit dem gleichen Affekt wie sie, war er passionierter, gröber und des­ halb wirksamer. Die Rausschmeißer-Rasse ist durch die Jahr­ hunderte immer dieselbe geblieben: der kleine Stadtschreiber

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Dionys von Syrakus, Platons Gegenpart, kam schon auf dem­ selben Weg hoch wie der Rausschmeißer, der 1933 auf dem Gipfel war. Comstock war die amerikanische Version. Sie hatten nicht nur gleiche Karrieren, auch gleiche Parolen. Man erkennt den Verwandtschafts-Zug, der die Demagogen der Zeiten eint: sie sind Drachen-Töter, das Untier heißt der Kapitalist oder der Jude oder der Kommunist oder anders. Comstocks Untier hieß: das Obszöne. Unter Gleichen blieb er der klein­ ste; er hatte nicht den Apparat, um mehr als ein paar Hundert in Not und Tod zu treiben. Doch arbeitete er, zieht man seine geringeren Mittel in Betracht, nicht schlechter. In den letzten Tagen seines Daseins rühmte er sich, 98,5% von dem, was ihm vor den Schuß kam, so oder so erledigt zu haben. Er war vom ersten bis zum letzten Tag derselbe. Besser ist es so gesagt worden: er sei am Ende ein bißchen intoleranter gewesen als zu Beginn. Man darf von diesem pompösen Korporal-Stock sich nicht verstellen lassen, was ihn durch die Jahrhunderte mit vielen verbindet, die nicht so auffallen. Die Schock-Therapie ist dieselbe: wer sich seiner Sinnlichkeit erfreue, glaube an nichts, was den Menschen übers Tier erhebt; wer sich der SinnenLust hingebe, sterbe wie ein Tier — der letzte Atemzug ist das Ende. Die Comstock-Rasse macht die Mitmenschen bange, setzt sie auf Kranken-Diät. Georg Büchner schrieb: »Es läuft auf eins hinaus, an was man seine Freude hat: an Leibern, Christusbildern, Weingläsern, an Blumen oder Kinderspielsachen; es ist das nämliche Ge­ fühl.« Das Gefühl der Dankbarkeit für das irdische Dasein. Comstock war die Gegen-Stimme der Engherzigkeit, der Mäkelei. Er war ohne Unterbrechung — verletzt. Ihm aber kam nie der Gedanke, daß er es war, welcher verletzte: mit seinen aufgedunsenen Sprachbildern, den Manieren eines Landsknechts und seinem Eifer, Menschen-Leben zu vernichten. Er war ein Phantast und phantasielos. Jeder hätte ihm ge­ gönnt, als Kastrat zu leben; er gönnte niemand etwas.

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Auf der Flucht vor der Eva heiratete er im Jahre 1871 Maggie. Sie war ein vorzüglicher Hintergrund für den Gladiator. Er war siebenundzwanzig, sie siebenunddreißig; was die Zag­ hafte, die Tochter eines presbyterianischen Kirchen-Ältesten kurz vor dem geschäftlichen Bankrott, noch mehr bedrückte. • Der Bräutigam war groß, breit, schwer, ein Mann mit Mus­ keln und einem imponierenden Backenbart; sehr laut, ein expansiver Wilder. Unter einem nackten Schädel glänzte ein ebenso nacktes Kinn, das über den Lippen und an beiden Seiten von viel Haar eingerahmt war. Er war auch ein kräf­ tiger Esser; Futter war offenbar das einzige sinnliche Ver­ gnügen, das er für erlaubt hielt, das jedes andere zu ersetzen hatte. Er war fest verpackt in roter Flanell-Wäsche (ohne Ansehen der Saison), steif-gestärkten Hemden und einem dunklen Anzug; die angemessene Kluft eines Mannes, der nichts für gefährlicher hielt als das Fleisch. Seine Erwählte war unansehnlich: klein, wenig Fleisch, schweigsam, kränklich — und sehr ängstlich vor der öffent­ lichen Meinung. Vor allem bedrängte sie täglich die Frage: wird dieser Furcht-einflößende Krieger am Abend nicht mit gespaltenem Kopf daliegen? Sie wurde die Pflegerin seiner Wunden, ganz ordinär-körperlicher. Sie war die BilderbuchSanfte, an der Seite des rasenden Puritaners. Er gab ihr Koseworte: mein kleines vorzügliches Weib — und wachte über den Einkauf der kleinsten Gegenstände ihres Haushalts. Er jagte als Anti-Obszön-Reisender in der Welt herum; 23 500 amerikanische Meilen hatte er im vierten Jahr der Ehe zurückgelegt. Sie wartete zu Haus und war aufs Schlimmste gefaßt. Die, welche sie am besten kannten, erinner­ te sie an eine verblassende Schrift. Er war sehr glücklich. Ihr dämmerte wohl nie, daß es so etwas wie Glück gab. Er blühte als der starke Schutzherr des Schutz-bedürftigen Stamms, der unter seinem soliden Dach lebte: die kaum existierende Mrs. Comstock, ihre kränkliche Schwester, ein zurückgeblie­ benes adoptiertes Mädchen und die Haus-Magd. Er, schwe­ rer als zwei Zentner, regierte die Vier mit fester Hand. 185

Als sie heirateten, hatte er schon längst seine ersten Opfer dingfest gemacht. Es war der böse Rum gewesen, an dem er gleich zu Beginn die Strategie seines Lebens exerziert hatte: spionieren, Fallen-legen, denunzieren. Es hatte so begonnen: er wandte sich an einen Hüter der Ordnung, der nichts unter­ nahm. Da ging der Jüngling in den Laden, verlangte Äpfel, die man nicht führte, und sah sich um. Brach nachts in die Destille ein, stürzte sich auf die Branntwein-Fässer, öffnete die Hähne, ließ die Flüssigkeit auslaufen — und kündigte auf einem Zettel an: wenn die Bude nicht geschlossen werde, käme er wieder und nehme das ganze Gebäude mit. Der kleine Terrorist war schon am Beginn ganz fertig. Sehr zeitig erklomm er die erste Sprosse auf der Leiter zum Weltruhm. Er bekam eine Organisation in die Hand: jenen »Christlichen Verein junger Männer«, geboren aus Sinnen­ feindlichem Geist. Comstock war auch ein sehr lebendiger Einzelner, vor allem aber die Verkörperung eines sehr all­ gemeinen Affekts. Er konnte nur deshalb der große Verführer werden, weil viele bereits auf dem Weg waren, den er sie dann in schärferem Tempo vorwärtsführte. Ein Führer ent­ steht nur, wenn eine Gefolgschaft bereits da ist. Da war zum Beispiel jene Dame, die auf einer Weltausstellung erschüttert einer Tanz-Vorführung beiwohnte: sie würde lieber ihre bei­ den Jungen ins Grab legen als sie diese Tänzerinnen sehen lassen ... Das waren die Felsen, von denen sein Echo kam. Was ihn aber vor Millionen von Kostverächtern auszeichnete, war die »Führer«-Qualität: er sprach dröhnend; hatte keine Angst, sich schmutzig zu machen; schlug zu, treffe es, wo’s trifft. Er konnte zunächst den stillen Verein überzeugen, daß für Gott gepoltert werden muß. Nun war er nicht nur Com­ stock, sondern außerdem noch eine Bewegung. Es war von Beginn an nicht leicht. Leute, die sich scheuen, das Sexuelle auch nur beim Namen zu nennen, fühlen diese Scheu nicht weniger, wenn es gilt, das Unkeusche zur Bekämp­ fung herauszuschreien. Es war den Gentlemen, welche die Christlichen Jungen Männer leiteten, sehr peinlich, daß ver­

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fängliche Worte wie Nacktheit, Sexualität und Prostitution im Namen ihres Vereins hinausposaunt wurden, daß Berichte von den gottlosesten Zuständen unter die Menge gebracht wurden — wenn auch zur Ehre Gottes. Demagogen, die in konservativen Nestern ausgebrütet worden sind, erleben frü­ her oder später immer wieder diesen Konflikt. Der Trommler hat mehr als seine Schuldigkeit getan. Er muß gehn ... wenn er nicht inzwischen zu mächtig geworden ist. Comstock wurde immer einflußreicher an der Spitze der »Gesellschaft zur Unterdrückung des Lasters*, seine beson­ dere Domäne innerhalb des »Vereins«. Die Laster-feindliche Firma trug denselben Namen wie das englische Mutter-Haus, das schon im Jahre 1802 gegründet worden war. Das Siegel, an der Spitze des Briefbogens, zeigte auf der linken Seite einen Lieferanten von Obszönem, der in eine Zelle spediert wird, auf der rechten einen Christen, der einer Bücherver­ brennung beiwohnt. Comstock führte dem militanten Unter­ nehmen Freunde zu, brachte es zu nationaler Bedeutung und — erst langsam drang die Erkenntnis durch — kompromit­ tierte es auch. Man war bewahrend und liebte Methoden, die kein Aufsehen erregten. Er aber war ein Irregulärer, dem jedes Mittel recht war, wo es auszurotten galt. Ihm machten auch Niederlagen nichts aus; er hatte immer noch seine beiden großen Alliierten. Eine Organisation aber braucht außerdem noch Geldgeber und Mitglieder, auf die sie Rücksicht zu neh­ men hat. Schließlich hängte man ihn ab und machte seine »Gesell­ schaft« unabhängig; vielmehr, man machte sich unabhängig von diesem Narren Gottes. Sein neuer Präsident war ein Seifen-Fabrikant. Er mußte die Reklame der von ihm her­ gestellten Vaseline ändern; sie konnte nun nicht mehr als ein Mittel zur Geburten-Kontrolle angepriesen werden. Obwohl Comstock eine starke Strömung im Lande repräsentierte, war er ein unbeugsamer Einzelner ... ohne Macht-Apparat. Er ging keinen von den beiden Wegen, die einen Kämpfer wie ihn vor Isolierung schützen können: er ließ sich nicht zu

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einem anonymen Funktionär denaturieren — und war nicht ein Mann des Staats-Streichs, der die Organisation, die ihn hochgebracht hat, zerbricht und sich als Organisation eta­ bliert. So ging es bergab. Schließlich mußte er noch erleben, daß ein Kirchen-Ältester, ein Diakon, Mitglied des »Christlichen Ver­ eins junger Männer«, ihm erklärte: er gehöre nicht zu ihnen. Eine Welle hatte ihn hochgeworfen, er konnte sie nicht reiten, weil er nicht das A und O aller Politik kannte: daß man zuerst die Seinen auf seine Seite bringen muß, ehe man den Feind angreifen kann. Er setzte seine Macht nur gegen die Sünder ein, anstelle zunächst einmal sich die Guten voll zu unterwerfen. Im letzten Jahr seines Lebens schickte ihn Präsident Wilson nach San Francisco, als Delegierten zu einem Welt-Kongreß zwecks Förderung der Unschuld. Das war im zweiten Jahr des Ersten Weltkriegs — und sein ehrenvolles Begräbnis drit­ ter Klasse.

Doch war in der Blüte seines Lebens und seiner Saat, in den Siebziger Jahren, noch nicht vorauszusehen, daß er einmal als Anachronismus dahingehen werde. In seiner besten Zeit war er ein Mann, solide im Bau, unangefressen von Skrupeln, der sich in seine Opfer hineinbiß — und sie nur aus den Zäh­ nen ließ, wenn einmal Gott (mit Hilfe eines besonnenen Rich­ ters) sie ihm entriß. Er war (wie die ganze Rasse der Demagogen, die besser als Filmstars und Astronauten das Zwanzigste Jahrhundert illu­ strieren) ein Mann, der sich einzuprägen wußte. Seine Zeit war voll von solchen Übermenschen der Unterwelt: es gab sie in Wall Street, in der Politik, im Moral-Betrieb, im Bet­ haus und in der Unterhaltungs-Industrie — Barnums in allen Gassen. Sie waren rücksichtslos und sensationell, mehr ulkig oder mehr schädlich: je nachdem, ob sie nur einen Sparren hatten oder auch die Mittel, einen Börsen-Krach in die Welt 188

zu setzen. Comstock gehörte zu den faszinierendsten, wenn auch nicht mächtigsten Selbst-Darstellern dieser Ära; er ver­ breitete, in der Epoche vor Radio und Fernsehen, sein Ich durch die Kanäle der Presse; die antiken Rattenfänger hat­ ten dies Mittel noch nicht. Comstock setzte nicht nur seine Worte in Szene, auch seine Aktionen. Im Beginn seiner Karriere machte er sieben Arreste in Begleitung eines Reporters der New York Tribüne; von nun an ernährte er durch die Jahrzehnte die Phantasie seiner Zeitgenossen üppig. Er hatte eine große Verachtung für den Roman, das Symbol des Müßiggangs — und hängt Roman nicht mit Romanze zusammen? Er selbst aber setzte die wil­ desten Reißer in die Welt. Seine Raufereien konkurrierten mit den Schundheften des Tages. Zwei Matrosen, die sich im Grase wälzten, dort wo sein Wagen hielt, suchten von ihrem bevorzugten Blickpunkt aus den aussteigenden Damen unter die Röcke zu sehen. Comstock boxte sie nieder, auf daß ihnen die Lust verginge. So spektakulär baute er am Gottes-Staat. Die Leute gafften angeregt und vergnügt. Der Panik- und Faxen-macher war sein Geld wert. Er schonte sich nicht. Nicht selten spuckte ihm ein Verfolgter ins Gesicht und versetzte ihm eins mit dem Stock über den Schädel. Comstock opferte sein Blut, ohne die Tropfen zu zählen. Nach der ersten Spende schrieb er: mein erstes Blut für das, was recht ist; alles, wenn notwendig, für meinen gebenedeiten Erlöser. Er hätte die höchste Kriegs-Auszeich­ nung verdient; er hat sich so wacker geschlagen wie nur ir­ gendein Held. Er muß recht stark gewesen sein. Er warf den Gegner zu Boden, packte ihn am Kragen und übergab ihn dem Arm des Gesetzes. Da der oft keine Muskeln hatte, tat Comstock selbst das Notwendige. Gottes Rowdy scheute sich nie, selbst Hand anzulegen. Die Technik, die er ausbildete, kennen wir aus Wild-West-Filmen; seine Verfolgung einer Spieler-Ban­ de, aus welcher er mit Hilfe seiner Fäuste und eines HaftBefehls siegreich hervorging, hätte von Gary Cooper dar189

gestellt werden können. Manchmal arbeitete er auch mit fei­ neren Mitteln. Da brachte er nach Washington die außer­ ehelichen Liebesbriefe eines Mannes, der seit zwanzig Jahren verheiratet war. Der Präsident hatte den Häftling, der we­ gen Obszönität eingesperrt war, begnadigen wollen. Dem schob Comstock einen Riegel vor. Seine Begabung, sich zur Legende zu machen, war enorm. Gottes Hand war nicht eine Floskel, er ließ alle fünf Finger sehen. Zum Beispiel damals, als fünf Verleger von Obszö­ nem während der Verfolgung auf natürlich-übernatürlichem Wege starben. Den Nummer Eins — Chirurg, Autor und Ver­ leger von Unanständigem — verfolgte er noch übers Grab hin­ aus, erfolgreich. Er fuhr zur Witwe und erblickte während des Gesprächs durchs Fenster einen Expreß-Wagen, hoch be­ laden mit Stereotyp-Platten. Der Fahrer stand noch davor, Comstock sprang in den Sitz, jagte die Pferde zur nächsten Filiale des »Christlichen Vereins junger Männer« und ließ dort alles zerstören, unter seiner Aufsicht. Das Material soll einen Wert von 30 000 Dollar gehabt haben. Er zahlte der Witwe aus christlichem Fonds 450. Dem Nummer Zwei setzte er durchs dunkelste Brooklyn nach, wo er den Sünder stellte, in der Tracht eines episkopalischen Geistlichen. Kurz nachdem er alles ausgeliefert hatte — auch Holzschnitte und französische Spielkarten, starb auch dieser. Der Dritte floh in den Süden ... und war innerhalb von zwei Wochen tot. Die »Christian Weekly« spann an der Comstock-Mythe: es sei sehr eindrucksvoll, drei schamlose Hersteller dieses Schmutzes wurden dem irdischen Gericht entzogen und vor das himmlische gestellt; vor den »Großen Richter«. Der Vierte (ebenso berechtigte) Tote hatte sich mit Transportieren von Obszönem sein Geld verdient, der Fünfte hatte unanständige Gummi-Artikel hergestellt. Woran (nach irdischen Begriffen) diese Fünf starben, ist unbekannt. In der Phantasie, die Comstock entfesselte, erschien jener KnochenMann, unter dem er arbeitete, persönlich. Allerdings konnte er dem himmlischen Auftraggeber nicht 190

immer die Eingefangenen ausliefern. Manche nahm ihm das irdische Gericht aus den Klauen.

Er hatte keine glückliche Hand in seinen Feldzügen gegen die Damen; eine ganz große Schlappe erlitt er im Zusammenprall mit Frauenrechtlerinnen. Die Suffragetten fühlten sich als die Frauen der Schöpfung. Einer, die entmutigt war, wurde ein­ mal geraten: »Wenden Sie sich an Gott. Sie wird Ihnen hel­ fen.« Diese Amazonen beunruhigten die Welt der amerikani­ schen Männer schon eine geraume Zeit; nach dem Bürgerkrieg bekamen die Damen neuen Auftrieb. Die Neger sollten das Wahlrecht bekommen — und die Frauen nicht? Die Antwort vieler Amerikaner war ganz schlicht: Nein, sie nicht! Wyo­ ming, damals noch nicht ein Staat, erst ein amerikanisches »Territorium«, gewährte es ihnen, 1868. An dieser winzigen Ausnahme ist die Stimmung des Landes abzulesen. Vieles wirkte zusammen: Gewohnheit; auch die religiös-phi­ losophische Lehre, die (so subtil auch bisweilen die Meta­ physik der Geschlechter in Erscheinung trat) ganz simpel auf die transzendente Tatsache zurückging, daß Eva aus einer Rippe Adams geschnitzt worden war. Ein weniger spirituel­ les Motiv war die Angst vor ökonomischer Konkurrenz ... und dann gab es noch das eine, geladen mit ungeheurer Explosiv-Kraft: die sexuelle Ungebundenheit des Mannes ist schon schlimm genug, der losgelassene Dämon Weib würde die Welt aus den Angeln heben. Aus England kam Emmeline Pankhursts Blatt »The Suffra­ gette«. In Amerika entstand »The New England Free Love League«, welche die Zeitrechnung Nach Christi Geburt auf­ gab und Nach der Geburt der Liga für Freie Liebe rechnete. Wahrscheinlich ist die Jahrhunderte lange Abwehr der Frauen-Bewegung durch nichts mehr gespeist worden als durch den Horror vor der Entfesselung des vom Manne ge­ fesselten unheimlichen Weibes. Man fürchtete seine Sklaven immer mehr als irgendeinen Feind.

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Es ist also gar nicht so skurril, wenn Comstock keinen Unter­ schied machte zwischen dem Wahl-Recht, das die Frauen ver­ langten, der gesetzlichen Ebenbürtigkeit — und Hurerei, Pro­ stitution. In einer seiner leidenschaftlichsten Jagden war er hinter zwei (der Emanzipation verschriebenen) Schwestern her: der siebenundzwanzigjährigen blauäugigen Tennessee Claflin und ihrer um sieben Jahre älteren Schwester Victoria, auch die Jeanne d’Arc der Frauenbewegung genannt und ehe­ maliger Präsidentschafts-Kandidat der Partei für Gleiche Rechte. Sie war in erster Ehe mit einem Mr. Woodhull ver­ heiratet gewesen; ihr zweiter Gatte war ein Oberst, einst Kommandeur des sechsten Missouri Regiments, zur Zeit des Zusammenstoßes mit Comstock Geschäftsdirektor der radi­ kal-liberalen Zeitschrift, die Victoria herausgab. Die beiden Damen hatten eine Emanzipation auf eigene Faust veranstaltet. Frauen durften damals nicht allein ins Restau­ rant gehen; so rief Tennessee ihren Chauffeur hinein, als man sie ausweisen wollte. In Indiana hatten sie ein Sanatorium gegen alle Leiden geführt. In New York besaßen sie ein Bank-Geschäft. Man nannte sie die faszinierenden Finanziers, auch Vanderbilts Schützlinge; er war ein Geldgeber ihrer wilden Zeitschrift, welche die Stützen der Gesellschaft an­ griff und für die Gleichberechtigung der Frauen kämpfte, auch für Freie Liebe — im übrigen aber der Vorsehung eksta­ tisch-mystisch vertraute. Räuber-Barone wie Commodore Vanderbilt konnten sich alles leisten, auch die Subvention eines umstürzlerischen Blattes; sie standen über den Gesetzen und Klassen. Sie konn­ ten die Lieblosigkeit unterstützen und die Freie Liebe; fort­ schrittliche, rückschrittliche und fortschrittlich-rückschritt­ liche Geistliche standen auf ihrer Seite. Als dieser schwerreiche Gangster starb, rief ihm ein Priester ins Grab nach: er möge auch im Himmel Schätze sammeln, zum Wohle der Mensch­ heit. Bevor er das tat, stützte er also auf Erden die originelle Dame Victoria. Es hat sich immer wiederholt (bis zum Harden-Moltke-Pro192

Zeß), daß Liberale, die keinen Anstoß nehmen — dennoch dieses Anstoßnehmen benutzen, um eine Heuchelei ihrer Ge­ sellschaft bloßzulegen. So kam es, daß die gute Victoria, die für Freie Liebe kämpfte, einen Skandal um einen hochange­ sehenen Ehebrecher entfesselte. Der beliebteste, respektierteste und bestbezahlte Kanzelredner des Tages war der Reve­ rend Henry Ward Beecher. Er hatte ein Verhältnis mit der Frau seines Freundes. Man munkelte schon lange, aber nie­ mand hätte gewagt, diese Zierde der Society bloßzustellen. Victoria wagte es. Sie gab seiner Affäre ihren schriftstelleri­ schen Segen; sie trat (wie vor ihr Schleiermacher und Fried­ rich Schlegel) für die Auflösung von Ehen ein, die keine sind. Sie pries die imponierende Physis des Ehebrechers, die magne­ tisierende Macht seiner Predigt; sie zitierte zustimmend seine Sentenz, daß die Ehe das Grab der Liebe sei. Und kompro­ mittierte den Mann, mit dem sie sympathisierte, durch ihre Enthüllungen. Sie wollte nicht ihn treffen, sondern die Gesellschaft, die mit zweierlei Maß mißt... und opferte ihn für den guten Zweck. Er war hochgeehrt, hatte eine vornehme Position — während Victoria, die dachte wie er, verfolgt wurde. Sie wollte ein Exempel statuieren. Sie machte sich lustig über den betroge­ nen Ehemann, den verlogene Sentimentalität befallen habe, weil die religiöse Literatur und die Sonntags-Schule dem süßlichen Gespenst Eingang verschaffte. Sie war Blut vom Blute dieses Geistlichen. Er jubelte über die »herrlich-geschmückte Maien-Welt«, er badete in der »ständig tropischen Üppigkeit gesegneter Liebe«. Sie widmete ihr Blatt derselben »universalen Zukunftsreligion«, »der Universologie«, »der Menschheit auf dem Weg zu paradiesischer Voll­ endung«. Ihre Sehnsucht war durchtränkt von derselben Liebes-Seligkeit, die auch den Reverend durchpulste. Aber vor dem großen Advent gab es in der Gegenwart noch eine Unmenge von vorletzten Gefechten, zum Beispiel gegen diesen Comstock. Sie machte sich über ihn lustig: es würden noch Mütter arretiert werden, weil sie ihre männlichen Babys

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küßten. Er aber griff nicht den ehebrecherischen Geistlichen an, sondern die Schwestern. Der Geistliche war, trotz allem, staatserhaltend. Er hatte gefragt: ist die große Arbeiterklasse unterdrückt? und geantwortet: zweifellos ja; aber Gott wollte die Großen groß und die Kleinen klein. Der Arbeiter hat mit seinem Los zufrieden zu sein, bis der Arbeitgeber entscheidet, ihm Zulage zu geben ... So wendete sich Gottes Diener Comstock nicht gegen den sündigen, aber gutbezahl­ ten, die Ordnung schützenden Kanzelredner, der den Armen Bescheidenheit empfahl, sondern gegen die beiden Mädchen, die sich schon längst nicht mehr der Gunst ihrer Mitbürger er­ freuen konnten. Weil sie zu deutlich geworden waren, waren sie nicht mehr Prinzessinnen, sondern Harlekine und Hu­ ren. Comstock packte zu; hinter ihm war Morgan, wie hinter den Schwestern Vanderbilt. Der Mann des Obszönen konnte den wahren Grund nicht angeben: sie hätten die gute Gesellschaft kompromittiert in der Bloßstellung ihres gefeiertsten (und sündigen) Glieds. Die Anklage lautete farbloser: Vertreibung unsittlichen Materials durch die Post. Beamte erwischten die Schwestern in ihrer Kutsche; sie waren wie immer in Schwarz mit lila Schleifen. Sie forderten einen der Schergen auf, im Wagen Platz zu nehmen. Er mißverstand die Einladung und setzte sich der einen gleich auf den Schoß. Sie hätten nicht ins Gefängnis zu gehen brauchen. Freunde wollten eine Kaution stellen. Sie aber wollten den Kampf. Am ersten Januar 1873 schrieb Comstock in sein Tagebuch: »Ich will etwas für Jesus tun.« Zunächst fing er für Jesus die beiden Frauen, die inzwischen entlassen waren, wieder ein. Es war ihnen verboten worden, ihr Blatt per Post zu senden. Comstock bestellte es unter falschem Namen (eine Praxis, die ihm schon viel eingebracht hatte); denn es ist keine Sünde, für Gott zu lügen und zu betrügen und Fallen zu legen und in den Tod zu treiben. Victoria wurde geschnappt. Sie sollte am Tage, an dem sie einen Vortrag zu halten hatte, verhaftet werden. Tausend waren im Saal, auch die Polizi194

sten, die sie auf dem Wege zum Podium abfangen sollten. Da schlüpfte sie durch die Reihe der Beamten im Kleid und im Gehaben einer alten vertrottelten Quaker-Lady, stand plötzlich auf dem Podium, warf die Maskerade ab und redete einundeinehalbe Stunde. Dann lieferte sie sich der StaatsGewalt aus. Bei dem Kreuzverhör wurde Comstock eine Stelle aus dem Deuteronomium vorgelegt. Er hatte zu beant­ worten, ob sie obszön sei. Es ging ihm in diesem Prozeß nicht gut. Er mußte seine Beute fahren lassen. Wenn einer verliert, kommt die ganze feindliche Meute aus dem Versteck. Man rief laut: ein rühmloser Fehlschlag. Man klagte: wir leben unter Gesetzen, enger und bedrückender, als sie irgendein Land mit einer geschriebenen Verfassung hat. Der »Christliche Verein junger Männer« mußte es sich ge­ fallen lassen, als Bund protestantischer Jesuiten verschrien zu werden. Victoria machte es nicht gnädig: sie schuf aus den Anfangsbuchstaben der Firma ymca die »Young Müles’ Concubine Association«. Und als Zeitungen von amerikani­ scher Inquisition sprachen, meinte die unerbittliche Victoria: man könne Comstock ebensowenig mit Torquemada verglei­ chen wie ein lebendes Stinktier mit einem toten Löwen. Trotz dieser Sprache wurden die beiden Schwestern nicht vor den höchsten Richter zitiert, sondern fuhren nach England, hei­ rateten glänzend, arbeiteten weiter in alter Weise ... und er­ reichten ein schönes Alter. Comstock (»Dein Wille geschehe«) tröstete sich mit der Verhaftung eines Verlegers, den er schon dreimal hatte hergeben müssen. Zur Zeit, als er noch die beiden Schwestern in der Zange hatte, erkannte er, daß diese Frei-Liebenden ein Ratten-Nest bilden — sechs, acht Exemplare der »übelsten Sorte« lungerten immer herum. Eine der dicksten Ratten, die er einfing, war George Francis Train, dreiundvierzig Jahre alt. Er bot den Schwestern Geld an, zur Verbreitung ihrer Ideen. Er war sehr reich, hatte Land und Schiffe, baute Eisenbahnen in Europa, plante die Union Pacific und organisierte den Credit mobilier. Er sah gut aus, machte Eindruck und hatte die glänzend­ es

sten Beziehungen. Er war gut Freund mit Napoleon III., der Kaiserin Eugenie, dem regierenden spanischen Haus — und ein bißchen später mit den französischen Kommunisten. Er hatte eine Reise um die Welt gemacht. In Australien hatten ihm unzufriedene Bergarbeiter die Präsidentschaft angeboten. In Marseille, nach 1870, hatte er die Kommune organisiert, die »Ligue du Midi«. Jetzt war er neben Grant und Greely als unabhängiger Kandidat für die amerikanische Präsident­ schafts-Wahl aufgestellt worden. Er hatte noch einen ande­ ren Ehrgeiz: er wollte unter allen Umständen eingesperrt werden, um mit Comstock gründlich in Kontakt zu kom­ men. Zu diesem Zweck gab er eine Zeitschrift heraus, in welcher er laufend Obszönes aus der Bibel abdruckte ... und vorschlug, sie wegen Verunglimpfung Abrahams, Salomos und Davids zu verbieten. Obwohl man sich lange wehrte, erreichte er schließlich, daß man ihn festnahm. Er bekannte sich »schul­ dig« und forderte eine Anklage wegen Abdruck von obszönen »Auszügen aus der Heiligen Schrift«. Ihre Redakteure waren weniger ängstlich gewesen als alle europäisch-amerikanischen Schriftleiter heute sein müssen: freimütig ließen die Rabbiner jener Tage Erzählungen durch, die von Inzest und Vergewaltigung, sexuellem Verkehr mit Tieren und Masturbation, Exhibitionismus und Voyeurismus berichteten. Mr. Train erwähnte auch Lot, ein gefähr­ liches Kapitel. Nachdem Lots Gattin zur Salzsäule erstarrt war, zog der Witwer mit den beiden Töchtern ins Gebirge. Da sprach die ältere zur jüngeren: unser Vater ist alt, und es ist kein Mann mehr im Lande, der zu uns kommen könnte nach aller Welt Brauch. Komm, wir wollen unserem Vater Wein zu trinken geben und uns zu ihm legen, daß wir unsere Stamm erhalten ... So wurden die beiden Töchter Lots schwanger. Die heilige Redaktion hatte nur eine tugendhafte Interpretation angehängt. Aber auch so wollte sich das Gericht auf Biblisches nicht ein­ lassen; es war nicht so leicht, damit fertig zu werden wie mit

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den harmlosen Schreibereien der Schwestern. So gab man dem Mann Train die Chance, zu fliehen. Er blieb. Schließlich ver­ urteilte man ihn — zur Irren-Anstalt. Aber auch dies Urteil nahm man nicht so genau. Er entkam zu Schiff nach England... Die Zirkus-Nummern rund um Comstock endeten oft weni­ ger lustig. Was lächerlich ist, braucht nicht zum Lachen zu sein. Comstock ist noch ein Schädling in den langweiligsten Comstockianern. Sie sitzen heute (zum Beispiel) im Parlament und kommen zum Vorschein bei einer Erörterung des Sexual-Lebens der Fische. Ein amerikanischer Abgeordneter trat 1961 für ein Gesetz ein, welches staatliches Eingreifen in das Fortpflan­ zungs-Tempo der Schellfische forderte. Bei dieser Gelegenheit kam es zu einer eingehenden Debatte über künstliche Befruch­ tung. Da griff einer der Gesetzgeber aus dem Stamme Comstocks, einer seiner jüngeren Zeitgenossen, ein Mann von Fünfundachtzig ein; und warnte vor der Folge solcher bio­ logischen Aufklärungen, da auch junge Menschen ParlamentsDebatten läsen. Kinsey hatte versäumt, in seinem Report auf­ zuzeichnen, wieviele junge Amerikaner durch Diskussionen im Parlament auf die Kinsey-Bahn geraten sind.

Es ist bereits in seinem Leben der Wandel vom blutvollen Jäger zum unpersönlichen, aber nicht weniger blutigen Ge­ setz abzulesen. In der Massen-Gesellschaft ist der Kämpfer gezwungen, sich aus einem Duellanten in eine Institution zu verwandeln; auch die lautesten Individuen sind nur Ange­ stellte fürs Maul-Aufreißen. Wie die beiden Oberbefehlshaber zweier feindicher Heere nicht mehr zum Zweikampf schreiten, nicht einmal mehr zum Feldherrnhügel, nur noch zum entfernteren Kriegs-Ministe­ rium, so versachlichte sich Comstocks Ins-Genick-Packen mehr und mehr zur weniger theatralischen Arbeit für das wirk­ samste Anti-Obszönitäts-Gesetz. In Washington, in den Vor­ zimmern des Kongresses, schlug er sein Feldlager auf. 197

Das war nicht mehr das bunte Spektakel auf der Straße, auf der Lauer, auf dem Sprung, hinter irgendeinem Sünder her. Das war auch nicht mehr der saftige Auftritt vor einer loka­ len Jury, welcher das inkriminierte Objekt gar nicht vorge­ legt wurde, weil es zu unanständig sei; das souveräne Volk, das richtete, verließ sich auf Comstock und die Richter, die ihm sekundierten — und verurteilte. Aber Comstocks drama­ tische Aufzeichnungen machen selbst noch aus dem stillen Hangen und Bangen im Ringen mit den Abgeordneten eine farbige Schau. Er hatte ein Gesetz vorbereitet, das manche Lücken der Be­ stimmungen von 1865 und 1872, durch welche die Sünder noch hatten durchschlüpfen können, endgültig schließen sollte. Endlich wird auch jede Beihilfe zur Verhütung der Empfäng­ nis strafbar sein, selbst wenn nur ein Rat erteilt worden ist. In diesen Entwurf legte er seine ganze Seele, Wochen und Wochen steht er mit ihm auf und geht mit ihm schlafen. Die Gesetzgeber haben noch andere Sorgen: andere Gesetze zum Beispiel, auch verschwenden sie ihre Gedanken an Frauen und Kinder und Geschäfte und Maitressen. Auch die Parlamentarier sind gegen die Sünde, speziell gegen die Por­ nographie (was immer sie dazu rechnen) — und sehr beein­ druckt von Comstocks Rhetorik. Aber dieser Mann ist schrecklich aufdringlich, heute abend ist es zu spät... und als es dann morgen wurde, war nicht die rechte Gelegenheit da. Auch sollte man nichts übereilen, einige Passagen müssen ge­ ändert werden, also das Ganze noch einmal von vorn. Sie fanden auf ihrem Sitz Material, das seine Gegner zusammen­ getragen hatten: »Das Leben und die Verbrechen des An­ thony Comstock«. Ein kleiner Aufenthalt wieder. Es ging nicht recht vorwärts. Da fragte der gefolterte Mann: haben diese zögernden Volks­ vertreter vielleicht Freunde in der Obszönitäts-Branche? Mancher Ängstliche fürchtete sich, als Schwein gebrandmarkt zu werden, und wurde so in die Comstock-Front hineinge­ preßt. Aber es ging sehr langsam. Und er konnte doch die

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Herren vom Kapitol nicht schlicht niederschlagen wie irgend­ einen Buchhändler. Da hieß es, diplomatisch sein, finessieren. Ihm riß die Geduld. Er vermochte nicht mehr, als die­ sen Riß seinem Tagebuch anzuvertrauen. Und rächte sich mit geheim-schriftlicher Verachtung dieses Packs. Wie schon ihre Frauen aussehen! Nach einer Party im Weißen Haus beschrieb er: wie. Sie bemalen sich das Gesicht. Sie pudern sich das Haar ... Wir wüßten sehr gern, was sie anhatten. Aber die emotionalen Adjektive: ihre Kleidung sei »frech«, ihr Gesicht »albern«, die Wirkung »ganz ekel­ haft« auf jeden, »der die reine, edle bescheidene Frau liebt« — vermitteln nicht die geringste Vorstellung von der damali­ gen Washingtoner Damenwelt. Die typische Beschreibung eines Anstoßnehmers. Von schlappen Gleichgesinnten und starken Feinden umringt, greift er auf die eiserne Ration zurück: Gott und Jesus. Er ist am Rande der Verzweiflung. Sie halten ihn. Sie stärken ihn mit Zuversicht. Und im schlimmsten Fall: Dein Wille ge­ schehe! Dann zeigt sich doch noch dieser Wille von seiner freundlichen Seite: der Entwurf geht durch. Aber noch im Sieg schmeckt er einen bitteren Tropfen. Das neue Gesetz hebt alle schwebenden Verfahren auf, die unter früheren Verordnungen anhängig gemacht worden waren. Er aber kann nicht loslassen, was er bereits gepackt hat. Doch eine Erweiterung des neuen Paragraphen, die solch ein Un­ glück verhinderte, würde einen neuen Aufschub zur Folge haben. Nach vielen Seelen-Qualen riskiert er ihn. Die Ver­ zögerung stellt abermals alles in Frage. Und dann zeigt sich wieder Gottes Hand, die Comstock zugetan ist. Er ist auf der Höhe seines Daseins. Er wird auch noch zum Spezial-Agenten der Post ernannt. Die Früchte schießen üppig aus dem Boden. Führende Zeitungen streichen Annoncen, gegen die Comstock war, bitten ihn um Vor-Zensur. Es gab bereits irgendwo im großen Land ein lokales Gesetz: es ist verboten, Medizinen, Drogen oder Apparate zur Heilung von Geschlechts- und Frauen-Krankheiten zu annoncieren. Nun wurde es in weiten

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Bezirken strafbar, irgend etwas zu drucken, was Comstock für unsittlich hielt. Der Sieger ging soweit in seiner Dankbarkeit, daß er bereit war, den Parlamentariern manches nachzusehen; sie sind doch nicht die Schlechtesten. Die neue Würde stärkte auch das alte Ego. Er war ein vom Staat anerkannter Tugendheld. Die schönste Geschichte, die aus seiner Karriere als Zensur-Gehilfe des Brief- und Paket-Beförderungs-Instituts erzählt wird, spielte sich auf dem Broadway ab. Ein Post-Wagen hätte ihn beinahe überfahren. »Ich bin Comstock«, rief er den subordi­ nierten Pferden zu. Er hätte sie als ihr Vorgesetzter glatt ver­ haften können. Im Jahre 1913 gab ein Biograph seiner Comstock-Geschichte den Titel »Kämpfer im Konflikt mit den Mächten des Übels«. Und dankbare Mitbürger bestätigten ihm auch die irdische Position: er sei für seine Aufgabe der richtige gewesen, wie Lincoln und Grant für ihre. Die beiden hätten Millionen Patrioten zur Verteidigung der Nation geführt, im vierjäh­ rigen Kampf. Zehnmal vier Jahre sei Comstock auf dem Marsch gewesen, ein einsamer Soldat.. . Aber so einsam war er wieder nicht.

Viele Comstocks der letzten hundertundfünfzig Jahre ver­ suchte man in Schach zu halten, indem man ihnen das ma­ gische Wort »Kunst« entgegenstreckte — wie dem Teufel das Kruzifix. Deshalb waren sie um so schwächer, je mehr sie ihren Kampf auf diesem Gebiete führten, je anerkannter die Werke waren, deren Unzüchtiges sie anprangerten. Comstock hatte diese Schwierigkeit kaum. Zwar hatten sich in manchen Buchhandlungen seines Amerika Rabelais und Zola und Daudet unter dem Ladentisch zu verkriechen — dort, wo heute (in Boston und Dallas und Los Angeles) Henry Millers zu finden sind. Und ganz offenbar wurde »Der Mann des Obszönen« auch in den Gefilden der Literatur ge­ fürchtet; im Jahre 1914 verlangte der Verleger von Theodore 200

Dreisers »Genius« eine kontraktliche Garantie, daß der Ro­ man nichts Unmoralisch-Skandalöses enthalte. Aber es gab in der Laufbahn Comstocks keinen Zusammenstoß mit einer »Lucinde«, einer »Madame Bovary«. Die amerikanischen De­ batten um »Ulysses«, »Lady Chatterley«, »Wendekreis des Krebses« fanden erst nach seinem Tode statt. Und niemand verteidigte die Illustrationen und Schmöker, die er zentnerweise zerstörte; die Kunst war nur ganz ge­ legentlich einmal im Spiel. Und das Andere gab man gern als »Pornographie« preis: ein Wort, das viele gebrauchen; eine Ware, die wenige gesehen haben; ein Produkt, über das kaum jemand nachgedacht hat — nicht über seine Herkunft, nicht über seine echte Funktion, nicht über seine vielfältigen Fol­ gen ... so sehr scheint allen mit dem Wort Schmutz alles ge­ sagt zu sein. Einer spricht’s dem andern nach: das Obszöne und sein Leben im Wort, der Pornographie, bewirke eine Zerstörung von Leib und Seele. Und was den Ursprung be­ trifft, so wird man ebenso schnell fertig: der Produzent will verdienen. Das wollen auch die Bäcker, die das Brot ... die Bankiers, die das teure Geld beschaffen — und sogar die Ver­ leger von Bibeln. Liegt im Geld-verdienen ein Verbrechen? Die Empörung über die Pornographie läßt es gar nicht erst zum Nachdenken kommen. Niemand also war gegen seine Bücher-Verbrennungen, solange er nicht ins Gebiet der Kul­ tur stolperte. Dann allerdings hatte Comstock alle Bildungs-Beflissenen gegen sich. Andere Sittlichkeits-Schnüffler waren ebenso amu­ sisch wie er. Aber verwechselten eben nicht eine Kunst-Aus­ stellung, den »Paris Salon«, mit Kneipen, den »Paris-Sa­ loons«. Comstock war nicht ein französischer Staatsanwalt im zweiten Kaiserreich, der es sich nicht hätte leisten können, offiziell die Kunst zu mißachten. Comstock war nicht ein hervorragender Professor wie Dilthey, der zwar über die »Lucinde« die Nase rümpfte, aber dennoch ein hingebungs­ voller Kunst-Enthusiast war. Comstock war nicht ein preußi­ scher Regierungsrat wie seine bläßliche Kopie, der (bald auf­

tretende) Professor Brunner, der bei aller Kunst-Blindheit dennoch eisern Goethe zitierte. Comstock war ein unbefangener amerikanischer Freiluft­ mensch, der die Courage zu seiner Unbildung und Barbarei hatte, sich den Teufel um die literaturhistorische Bedeutung des »Dekameron« kümmerte (den er wie ein wildes Tier ein­ hegen wollte). Comstock meinte: die nackte Kunst könne man, wenn man wolle, in Museen internieren — in das Schaufenster einer Kunst-Galerie, an welcher Schulkinder vorbeikämen, gehöre sie nicht; denn der Unterschied zwi­ schen den Primitiven und den Sittlichen liege in der Be­ kleidung. Ein Witz-Blatt stellte ihn dar, wie er eine am Boden liegende Frau vor die Gerichts-Schranke schleift: »Diese hier brachte ein nacktes Baby zur Welt.« So sehr fürchtete der Mann den Anblick des unverhüllten Körpers. Sehr gelegentlich nur machte er sich in seinen Streifen gegen preisgekrönte französische Impressionisten und offizielle Photographien von Stücken aus amerikanischen Museen lä­ cherlich. Man ließ die Gelegenheit, die eigene kulturelle Über­ legenheit zu demonstrieren, nicht vorbei. Er sorgte dafür, daß Hans Makarts »Triumph Karls V.« aus dem Schau­ fenster eines Konditors verschwand, weil die Pferde des Triumph-Wagens von nackten Knaben geführt werden. Eine Illustrierte karikierte dies Ereignis: die Pferde waren in Hosen. Auch Vögel erschienen auf Comstock-feindlichen Pamphleten in Beinkleidern. Witzige Einfälle von Redak­ teuren — und recht billig. Und vielleicht sterben diese Comstocks nicht aus, weil man sie immer nur dort verspottete, wo sie sich selbst schon in Karikaturen verwandelt hatten. Nie aber griff man sie in ihrem Kern an: in ihrem Unbehagen, in ihrem Horror vor dem Sexus. Die Anti-Comstocks dachten fast immer wie die Comstocks — und manövrierten nur vorsichtiger an den Kul­ tur-Belangen vorbei. Sie wurden immer erst aufsässig, wo die Kunst in Gefahr war. Der lebende Mensch interessierte sie weniger. 202

Das hätte die Dynastie Comstock vorbringen sollen. Sie hat es nie getan, weil auch sie der Mensch nicht interessierte — nur ein anderer Kultur-Götze: die Moral. Es klingt ganz gewiß banausisch, wenn er die erotische Kunst mit Strychnin in einer Zucker-Hülle vergleicht; es sei so nicht weniger tödlich. Es klingt nicht hübsch. Aber was er sagen wollte, ist bedenkens­ wert ... man darf auch einmal auf die Seite Comstocks tre­ ten, wenn das verhüllte Problem so besser zu enthüllen ist. Er wollte sagen, daß Kunst kein Gegen-Gift ist. Sind Zilles kunstvolle »Hurengespräche« nicht obszöner gewesen als alle Berliner Jöhren in der Fülle ihrer Direktheit? Es ist sehr bequem, zu tun, als ob die Comstocks die einzi­ gen Mucker in der Welt wären; sie zeigen es nur ungeniert. Während viele, welche die Literatur zwischen Ovid und Frank Harris laut preisen, weil hier die Kunst das Unreine geadelt habe, sich verstecken. Mit dieser Kunst-Veredlung des Unreinen ist man bereits mitten in der Comstockerie, einer glorifizierten allerdings. Comstock und seine Ahnen und seine Erben hatten viel Gleichgesinnte unter ihren ausgesprochenen Gegnern; ihnen war jener ungehobelte Bauer nur nicht fein genug, diskret genug, genug angepaßt an die Konventionen der Gebilde­ ten. Comstock erlitt Blamagen, die sich Kultur-strotzende Gleich­ gesinnte dadurch ersparten, daß sie sich kulturell tarnten. Er riskierte es, einem Pamphlet den Titel zu geben: »Mo­ ral. Nicht Kunst oder Literatur«, während hervorragende Künstler und Kunst-Kritiker den Konflikt vertuschten mit der ängstlichen Taschenspielerei: Kunst ist moralisch. Die an­ gedokterten alten Jungfern mit ihrem Kotau vor den KulturWerten und dem schiefen Blick zu dem hin, was sie be­ mänteln sollen, stehen an Aufrichtigkeit weit unter diesem Mann. Er war eine Gefahr und ein Narr — und hatte das un­ gewollte Verdienst, grell herauszustellen, was viel gefähr­ licher ist, wo es in unscheinbar-konventioneller Uniform er­ scheint ... das heißt: fast überall.

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Er machte sich lächerlich: wenn er den Namen Boccaccio nur ungern aussprach, um nicht für ihn noch Reklame zu machen; wenn er Havelock Ellis’ Buch »Erotischer Symbolismus« be­ schlagnahmte. Ein Professor, sogar ein Student hätte das nicht gewagt; denn der englische Sexologe war eine wissen­ schaftliche Autorität. Aber die Kenner, die Bescheid wissen, auf ihre kulturelle Reputation wertlegen — und sich wie Comstock entrüsten, sind bekämpfenswerter als er: sind Dunkel­ männer, die nebenbei auch noch Leuchten sind auf irgend­ einem Gebiet der weiten Kultur ... und deshalb ihr Dunk­ les so gut verbergen. Comstock hingegen lebte und starb als ein aufrechter, sich ins Licht stellender Obskurant. Zum Schluß verfolgte er einen obszönen Doktor. Der rannte eine Treppe hinauf, Anthony ihm nach und packte ihn an einem Bein. Das versetzte dem Verfolger einen erfolgreichen Tritt. Comstock rollte die Treppe hinunter und kam mit drei gebrochenen Rippen, Quetschun­ gen und inneren Verletzungen unten an. Tief unten. Von diesem Stoß erholte sich der Anstoßnehmer nicht mehr.

Im Jahre 1895 wurde in New York Anthony Comstocks Buch »Ein einziger moralischer Standard für alle« 'veröffentlicht — und in London der dreifache Oscar Wilde-Prozeß durch­ geführt. Mutterland und ehemalige Kolonie gingen in glei­ chem puritanischen Schritt und Tritt. Die Liquidierung des Dichters sieht nur nickt so rüde aus: weil der englische Staat korrekter war als der amerikanische Raufbold, weil in Eng­ land ein Talentierterer höflicher zu Tode gequält wurde als die Puff-Mama, die Comstock hingemacht hatte. Aber auch im Lande Shakespeares wurde mit Hilfe des ame­ rikanischen Prokrustesbettes hingerichtet: ein einziger mora­ lischer Standard für alle. Es ist das Comstocksche, was noch hinter dem kultiviertesten Terror hervorgezogen werden muß. Eine kleine Schar, welche die Macht hat, vergewaltigte immer

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mit Hilfe ihrer Sprache, die den einzigen moralischen Stan­ dard für alle diktierte ... und eine einzige moralische Ent­ rüstung für alle erzeugte. Comstock starb nicht 1915. In dem Jahrzehnt nach seinem Tode machten Universitätsprofessoren den Teufel und seine Heerscharen für die kurzen Damen-Röcke verantwortlich und sahen das Chaos voraus. In Utah plante man Geldstrafen und Gefängnis für alle Frauen, deren Kleider kürzer als drei Inches über dem Fußgelenk waren. Warnung vor diesem Weg nach oben! Man prophezeite, wohin das führen wird: ins Automobil, das »Freudenhaus auf Rädern«. Und in einem Ort des Staates Arkansas ging eine Verfügung durch, nach der es (Sektion I) innerhalb der Grenzen dieser Stadt für Frauen und Männer ungesetzlich wurde, geschlechtlichen Verkehr zu haben; ausgenommen (Sektion III) sind Eheleute, soweit sie nicht unkeusch miteinander verkehren ... sagen wir: wie Julius und Lucinde. Und nochmals vierzig Jahre später ist Comstock immer noch am Leben. Der siebzigjährige Henry Miller, dessen »Wende­ kreis des Krebses« seit vierzig Jahren in vielen Ländern Euro­ pas gelesen und geschätzt wird, seit 1961 sogar in Amerika, wurde im Januar 1962 Anlaß für eine der gebildetsten Comstockerien. Ein Buchhändler wurde von der Stadt Los Ange­ les angeklagt, er verbreite den »Wendekreis«-Schmutz. Hohe Beamte des lokalen Erziehungswesens unterstützten die An­ klage. Da präsentierte die Verteidigung einen UniversitätsMann, Professor für Englisch, der den literarischen Wert des Buches bezeugte. Als man ihn aber aufforderte, eine obszöne Seite laut vorzulesen, weigerte er sich. Seine Begründung lau­ tete: »Wenn man mich auffordert, diese Stellen öffentlich vorzutragen, könnte man von mir auch verlangen, daß ich meine Zehen öffentlich reinige.« Das war ein Verteidiger des künstlerischen Schmutzes: die subtilere Reinkarnation Comstocks. Sie wird nun mehr und mehr in den Vordergrund rücken.

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Berlin 1920

Sex, Politik und Kunst — im Reigen

Es gibt Etwas, höher als Kunst, Literatur und

Wissenschaft: die Moral, die Tugend, die Keusch­ heit einer Nation. Ein entrüsteter Ire.

The Spectator, 6. Oktober 1928 — sieben Jahre nach dem »Reigen*-Prozeß, im Jahr des ersten

Erscheinens der »Lady Chatterley*.

Der dreiundzwanzigste Dezember 1920 war ein denkens­ würdiger Tag in der Geschichte der Entrüstung. Die Scham­ haften brüllten »Schweinerei«, fast ein ganzes Jahr lang. In jenem Winter fand in Berlin eine Theater-Premiere des Wiener Dichters Arthur Schnitzler statt. Das Stück hieß »Reigen«. Es schildert ein ewiges Auf und Ab: Vorher — illu­ sionäre Gier, Nachher — die Lieblosigkeit der Abgekühlten. Das Stück wurde bis in den Herbst hinein in vielen Städten Deutschlands gespielt: vor allem aber attakiert, angeklagt, verteidigt, gepriesen; und (wie im Falle »Bovary«) freigespro­ chen, nachdem es von vielen eminenten Rittern des Geistes für die unreifere Jugend zurechtinterpretiert worden war. Ein weiterer Pyrrhus-Sieg in der Historie des Raufens um das Obszöne. Diese farbige Episode im langen Leben des Anstoßnehmens am Unanständigen lebte viele Monate, explosive deutsche Monate. Der Krieg war verloren worden. Es war bereits zwei Jahre her. Die Hohenzollern waren entthront, nicht aber ihre Generäle; und nicht das Groß- und Klein-Bürgertum, das in den christelnd-nationalistischen Vorstellungen des KaiserReichs herangewachsen war. Es gab eine Republik, es gab so­ gar Republikaner. Aber immer stärker kam heraus, wieviele es nicht gab. Bald nach der Revolution, schon Ende 1918, formierte sich der monarchistische »Stahlhelm«; fünfzehn Jahre später wurde er der SA unterstellt. 1919 kam die Deutsche Arbeiter­ partei in die Welt; ihr siebentes Mitglied hieß Adolf Hitler. Er verkündete, 1920, seine Fünfundzwanzig Punkte im Mün209

diener Hof-Bräu. Im selben Jahr versuchte ein preußischer Beamter, Kapp, und ein preußischer General, von Lütt­ witz, die Republik zu zerschlagen. Es waren diese Jahre 1918, 1919 und 1920, die im TheaterSkandal, der am dreiundzwanzigsten Dezember begann, die prominenteste Rolle spielten. Damals wurde auch offenkun­ dig, daß die politische Reaktion eine ihrer (unbeachtetsten) Manifestationen im Anstoßnehmen an Sexuellem hat. Aber erst viel später, nach dem Tode von Weimar, gelangte ins all­ gemeine Bewußtsein, wie mächtig die feindlichen Kräfte ge­ wesen sind, die von der deutschen Republik nie besiegt, nur unter die Oberfläche gedrückt waren. Obwohl sie schon sehr früh in einer Art Rampenlicht standen, im Prozeß gegen das Obszöne auf der Bühne. Die Deutschen, ein Theater-besessenes Volk, feierten die Triumphe der neuen Freiheit im Theater. Die PräventivZensur war gefallen. Stücke, Szenen, Sätze, Worte konnten nicht mehr ausgesperrt werden. Die Aussperrung war durch die Jahrhunderte von Fürsten und Kirchen ausgeübt worden, immer unter drei Gesichtspunkten: werden Interessen re­ gierender Häuser berührt? Werden die Priester gekränkt — was man immer »Gotteslästerung« nannte? Schickt sich der Text für den ordentlichen Untertanen? Das heißt: paßt der Text zur herrschenden Wahrheit? Es kränkte schon das kaiserliche oder auch nur königliche Haus, wenn Grillparzer einen Ahnherrn der Habsburger auf die Bühne brachte oder Kleist einen legendären Hohenzollern. Es war ungebührlich, Angehörige der erlauchten Familien im Scheinwerfer der Vergnügungsstätten erscheinen zu lassen, als Spektakel für Schaulustige. Das zweite mächtige Rühr-mich-nicht-an war der Bezirk amtlich geschützter Glauben; die nicht-geschützten nennt man Aberglauben, sie dürfen beleidigt werden (wie heute die heiligsten Gefühle der Atheisten). Es war lästerlich, ein Stück »Maria Magdalena« zu nennen, selbst wenn es nichts mit dem Neuen Testament zu tun hatte. Hebbels Drama konnte 210

vor der Revolution von 1848 des Titels wegen nicht aufgeführt werden; es schickte sich nicht für die Namen biblischer Figuren, auf Theater-Zetteln zu erscheinen. Es war auch nicht statthaft, das heilige Vokabular dem Mund von Komödianten anzuvertrauen. Das Wort »beten« auf der Bühne war eine Profanierung. Hamlets: »Ich meinesteils will beten gehn« wurde fromm abgewandelt in »Was mich be­ trifft, ich will das Meinige tun«. Das Wort »Gott« durfte nicht ausgesprochen werden; es wurde durch »Himmel« er­ setzt. Die Erteilung des Abendmahls in Schillers »Maria Stuart« spielte man nirgends. Die Schaubühne als moralische Zwangs-Anstalt! Im Jahre 1795 kam in Wien eine Anordnung heraus, die darauf zielte, »das Theater, diese Schule der guten Sitten, der Tugend und des Patriotismus zu reinigen«. Man reinigte »Kabale und Liebe« dort, wo der Sohn sagt: »Es gibt eine Gegend in mei­ nem Herzen, wohin das Wort Vater niemals gedrungen ist.« »Vater« mußte durch »Onkel« ersetzt werden. Schließlich gab es kein Gebot: Du sollst Onkel und Tante ehren! Auch diese staatlich-geistlichen Vormünder waren am Ende des Ersten Weltkriegs besiegt, dachte man. Man bildet sich immer ein, frei zu sein, wenn man eine Knechtschaft loswird — und bedenkt nur selten, in welche neue man bei dieser Befreiung gerät. Die Nachfolge des Kaisers und des Papstes trat nun der Volks-Zorn an, der viel übelnehmerischer, engherziger, blut­ rünstiger war als irgendeiner seiner Vorgänger. Der »Reigen«Prozeß wäre unter den Wilhelms nicht möglich gewesen. Der neue Tyrann stellte sich ekelhaft pompös in der Serie von häßlichen Auftritten vor, die am 23. Dezember 1920 be­ gann und am 12. November 1921 vorläufig endete; Höhe­ punkt war die Stinkbomben-Schlacht am 22. Februar. Aber es stank von Beginn bis zum Ende. An jenem Februar-Abend hatte die deutsche Empörung, die weder gegen Wilhelm II. (vorher) noch gegen Hitler (nachher) in Erscheinung trat, ihre epochale Stunde. Man hielt es nicht aus, daß in einem

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Theaterchen Berlins die Phantasie der Zuschauer auf jenes nicht ganz unbekannte Ereignis gelenkt wurde, ohne das (seit den Kinderchen des Adam und der Eva) Menschen nicht exi­ stieren würden. Institutionen vergehen; länger währt die Tradition, der sie entstammten. 1903 hatte das preußische Oberverwaltungsge­ richt (beim Verbot der »Maria von Magdala« des Nobelpreis­ trägers Paul Heyse) erotische Triebe »die niedrigsten, ver­ werflichsten menschlichen Triebe« genannt. Inzwischen war (so redeten sich die Weimaraner ein) die Welt des preußischen Oberverwaltungsgerichts untergegangen. In Wirklichkeit geht immer viel weniger unter, als siegreiche Revolutionäre glauben; zumal wenn nicht sie gesiegt haben, sondern (wie in diesem Falle) die Franzosen, die Englän­ der und die Amerikaner. Nicht die freiheitlichen Kräfte Deutschlands hatten das Joch zerbrochen, sondern die Feinde. Und es änderte sich nicht so viel, wie die neuen Farben glauben machten. Die Demagogen, nicht die Demokraten, traten das Erbe des kaiserlichen Deutschland an; die Untertanen durften schließlich »Heil Hitler« schreien, während sie beim Kaiser noch lautlos stramme Haltung angenommen hatten. Beim »Reigen«-Skandal stellten sich zum ersten Mal die Erben des Kaiser-Reichs vor: die Enkel des Turnvater Jahn, die Vor­ läufer des kommenden Führers. Es war bereits die ganze Pha­ lanx da: gegen Juden, Sozialisten und Liberale. Zur Aus­ lösung der Wut diente das älteste Ärgernis: dieses verdammte Teufelchen Sex, das einem soviel zu schaffen macht. Wie sehr die Justiz dieser randalierenden Anstoßnehmer die Tradition ehrte! 1794 hatte die Wiener Oberdirektion ange­ kündigt, sie werde nie ein Stück annehmen, »das den guten Sitten zuwider ist, welche durch das Theater gefördert, nicht umgestürzt werden müssen«. Umstürzend war: die Vor­ nahme unzüchtiger Handlungen und die Beschimpfung einer anerkannten Religionsgesellschaft. 1920 konnte also der deutsche Staat, der sich gern von seinen nun demokratisch genannten Untertanen zum Eingrei­ 212

fen bewegen ließ, auf eine lange Tradition zurückblicken; obwohl Eberts kaiserloses, mit keinem Papst und keinem Luther verheiratetes Deutschland an der Oberfläche ganz an­ ders aussah als weiland das Kaiserlich Römische Reich Deut­ scher Nation. Es hatte bereits die Vornahme unzüchtiger Handlungen auf der Bühne verboten; und als jetzt einige phantasie-reiche Kleinbürger solche gesehen zu haben glaub­ ten, griffen die Vertreter des gar nicht mehr kaiserlichen und gar nicht mehr christlichen Staates nach alter Sitte ein. Das Eingreifen war ein bißchen komplizierter als zur Zeit der Maria Theresia, welche die erste deutsche Zensurbehörde in die Welt gesetzt hatte. Doch wird, wer sich nicht an For­ malitäten hält, sehen, daß sich nichts Wesentliches geändert hatte. Schon im Achtzehnten Jahrhundert war verfügt wor­ den: der Schauspieler hat »bei eigener Verantwortung« solche Stellen zu korrigieren, »die seine eigene Klugheit für bedenk­ lich« hält; bedenklich war bereits Umarmen und Küssen. In demselben Sinn klagte der republikanische Staatsanwalt nicht nur den Autor an, auch alle Schauspieler, die mitwirkten. Auch er machte die Darsteller verantwortlich, welche die Sätze des Haupt-Schuldigen in den Mund nahmen. Maria Theresia hatte ihnen bei der ersten Verfehlung einen Verweis, bei der zweiten vierzehn Tage, bei der dritten lebenslängliche Haft zudiktiert. Der Herr von Bradtke war im Jahre 1921 insofern strenger, als er gleich mit einem Antrag auf fünf Mo­ nate Gefängnis begann. Wie einfach, wie lautlos war es noch in alten Zeiten gewesen, als Hof und Kirche das Geschäft des Verbietens mit einem Federstrich erledigten! Das feudalistische Publikum war ge­ gen ein nicht-genehmes Stück recht feudalistisch, das heißt: kurz und bündig vorgegangen, ganz ohne Bemühung einer Zensur-Behörde. So gefiel Leo X. das Schauspiel eines Klo­ stergeistlichen nicht, das 1519 in der Engelsburg aufgeführt wurde. Man setzte nicht Himmel und Hölle und Paragra­ phen in Bewegung. Dem Autor wurde auf Befehl des Papstes das Gürtelband durchschnitten, die Hose fiel, der Stücke213

Schreiber bekam coram publico eins hinten drauf, die Ge­ sellschaft amüsierte sich ... Solches geschah Schnitzler nicht. Die Zeiten hatten sich geändert. Das Verprügeln hatte sich geändert. Zwölf Jahre später wäre er schlicht ermordet wor­ den. Das aufhetzende Anstoßnehmen 1921 war eine erste Probe vor der großen Premiere 1933. So einfach war zwölf Jahre vorher das Kaputtmachen noch nicht. Schon lange, bevor es zum Prozeß kam, hatte man ver­ sucht, diese unanständige kleine Geburt abzuwürgen. Bereits die Eröffnung fand gegen eine Einstweilige Verfügung statt. Sie wurde am dritten Januar aufgehoben und dem »Reigen« das Prädikat »eine sittliche Tat« zuerkannt. Es kamen Mitte Januar die antisemitischen Krawalle in Wien. Und dann kam der Berliner 22. Februar. Seiten-Balkon, zweite und dritte Reihe — Plätze, von denen man kaum sehen, aber ungesehen agitieren konnte, waren schon lange vor der Aufführung ausverkauft. Am Abend zo­ gen Gruppen auf: fünfzehnjährige Burschen, in kurzen Hös­ chen. Ihre Kampf-Parolen waren auf die Melodie gestimmt: »Die Juden nach Palästina!« Unter den Platz-Inhabern des Seiten-Balkons war ein Jüngling in der Kluft eines Straßen­ fegers, dicker Schal um den Hals. Einer seiner Kameraden rief ihm vor dem Theater zu: »Mensch! Wenn du so drin bist, fällst du auf.« Zuerst tat er nichts Auffallendes, aß ruhig sein Butterbrot und blickte nicht auf die Bühne. Dann aber, als vom bestmöglichen Versteck aus Stink-Bomben auf Bühne und Zuschauerraum niedergingen, fielen sie alle auf. In den »Lebensregeln des deutsch-völkischen Schutz- und Trutz-Bunds« hieß es: »Geht nicht ins Theater, wenn ein jü­ disches Stück aufgeführt wird.« Selbstverständlich war ge­ meint: falls ihr nicht zum Stinken abkommandiert seid. Und bisweilen hatte dies Vorgehen Erfolg. Der Polizei-Präsident von München erläuterte sein »Reigen«-Verbot: »Soviel Po­ lizisten, wie nötig sind, um die Deutsch-Völkischen in Zaum zu halten, kann ich nicht aufbringen«. Berlin konnte es vor­ läufig noch. 214

Dann sprach, am 11. Juni, ein Gericht den »Reigen« wegen mangelnden Beweises frei. Und schließlich war man soweit, daß man einen großen Schau-Prozeß arrangieren konnte. Der deutsch-demokratische Staat brauchte die Hilfe des Volks, um anklagen zu können. Im Sommer hatte man sein Volk hinter sich. Mit einem Federstrich von oben war es nicht mehr gemacht, es mußte so aussehen, als ob einem der Mann auf der Straße voranging; und er ging voran. Er nahm, straff organisiert, Anstoß. Erst, wenn sie genug Entrüstete rekrutiert hat, kann eine De­ mokratie zupacken, zum Schutz jener Öffentlichkeit, der man beigebracht hat, daß sie schutzbedürftig ist. Man kann nur selten einen so guten Blick in die Unterwelt der Anstoßneh­ mer werfen, wie es in diesem Prozeß möglich wurde. Es mar­ schierten auf: Verbände über Verbände, welche sexuelle, reli­ giöse und patriotische Empörung in verschiedener Dosierung dieser Ingredienzien organisiert hatten. Vor allem marschierte auf: ein Führer, welche alle Verbände für den besonderen Fall koordiniert hatte — der Mann, der Organisationen orga­ nisierte. Es marschierten auf der anderen Seite die berühmtesten Pro­ fessoren der deutschen Literatur auf: Männer, die im Na­ men Goethes, Shakespeares und der Freiheit ängstlich vor­ gingen gegen die verkümmertsten deutschen Kleinbürger, die wildgeworden und mit Klassikern nicht zu bändigen waren. Es marschierte auf die große Theater-Kritik jener Tage: ge­ bildet bis dort hinaus, Experten, die niemand hier brauchte, weil das Literarische und Theatralische gar nicht im Ernst zur Diskussion stand. Und vielleicht gab es kein zweites Ereignis in der Weimarer Republik, bei dem die Elite und ihr künftiger Henker eine Woche lang weder mit noch gegen einander im selben Raume redeten. Was auch gar nicht möglich war, da sie zwei ver­ schiedene Sprachen sprachen. Ist es ein Zufall, daß es um Sexuelles ging? Ist das Thema Nationalsozialismus und Sexualität schon erfaßt worden? 215

Die Soziologie mit ihrer Haupt-Kategorie Ökonomie greift nie tief genug. Hungrige wollen nicht nur ihren Magen füllen, auch ihre Rachsucht befriedigen. Die Rache der Ohnmäch­ tigen ist das Anstoßnehmen.

Schnitzlers »Reigen« hat zehn Vorher-und-Ndchher Szenen. Jede besteht aus einem Dialog, zwischen einer Person männ­ lichen und weiblichen Geschlechts. Der Held aller zehn ist ein Neutrum, das nicht auftritt. Im Buch erscheint es in der Mitte jedes Auftritts: in Form von Gedankenstrichen. Ge­ dankenstriche, sagte eine Zeugin, lassen immer eine sehr weite Auslegung zu. In der angeklagten Aufführung — da man Gedankenstriche nicht verkörpern kann — wurde das Neutrum als Vorhang materialisiert: »Schwupp, man zieht den Vorhang zu«. Er bleibt jedesmal etwa sechs Sekunden unten und wird von Verschiedenem aus seiner Stummheit gerissen: einmal von dem Geräusch eines vorüberfahrenden Zugs; einmal durch den transparenten Prospekt eines Tanzsaals, in dem einige Paare sich bewegen; meist von wenigen Takten eines Walzers, der vierzehn Jahre vor der Aufführung komponiert worden war ... und die Anstoßnehmer enorm erbitterte. Der Vor­ hang, der elfmal herunterging (in dem einen Bild zweimal), rief in einer Studienrätin, wie sie dann beim Prozeß bekun­ dete, eine außerordentliche Erregung hervor. Die Gedanken­ striche, die Vorhänge, die Imitation, die man im Zug-Rattern fand, vor allem die paar Takte Valse melancholique wurden die Haupt-Angeklagten. Genauer: nicht sie, sondern das Es, das sie repräsentierten. Es war weder zu sehen noch zu hören. Man benannte Es mit einem Wort, das mehr als irgendein anderes den Pro­ zeß beherrschte: »Der Geschlechtsakt«. Angeklagt war nicht seine öffentliche Darstellung (die es nicht gab), sondern der öffentliche Hinweis auf ihn. Angeklagt war die Aufmunte­ rung der Phantasie, sich ihn vorzustellen. Schleiermachers 216

Rechtfertigung dieser Aktivität der Einbildungskraft war wohl selbst den Gelehrten nicht gegenwärtig. In dem Jahr, in dem Hitler begann, verursachte der Hinweis darauf: daß es sowas gab wie den »Geschlechts-Akt« — und daß er in dieser Sekunde von zwei Figuren des Dramas vollzogen wird, eine Panik, die ein Jahr lang währte. Jeder der zehn Dialoge hat ein Vorher und ein Nachher, säuberlich getrennt von jenen Satz-Zeichen, die in diesem Fall nicht nur gewöhnliche Gedanken- und Phantasie-Striche waren ... sondern Striche, welche die Phantasie veranlaß­ ten, auf den Strich zu gehen (wie man meinte). Die An­ dern aber entschuldigten sie mit der frommen Interpretation: die unheimlichen Vertreter jenes furchtbaren Geschehens seien nur Gedankenlosigkeits-Striche, die, durch Entziehung des Worts, den Gedanken und der Einbildungskraft jede Nah­ rung nähmen. Was das Vorher betrifft, so herrscht zehnmal (männlicher­ seits oder weiblicherseits oder beiderseits) großer Eifer, vor­ wärts zu kommen: in Richtung auf das, was (wie gesagt) nicht zu lesen, zu sehen oder zu hören ist. Dies Vorher ist vielfältig differenziert. Die Mädchen und Damen machten eher etwas Umstände, je nachdem Gewissen und Konven­ tion es geboten. Das Stubenmädchen wehrt sich, ein bißchen ängstlich, schwach. »Das Süße Mädel«, von dem Schnitzler einmal sagt: »In der Stadt werden sie geliebt und in der Vor­ stadt geheiratet«, ist auf Süßigkeit aus, leise zögernd. Die Junge Frau, aus wohlhabenderen Kreisen, braucht ein paar Druckseiten mehr fürs Vorher; sie kommt im Pelzmantel und zwei Schleiern, will nur fünf Minuten bleiben, muß sofort zu ihrer Schwester, nimmt ihm das Versprechen ab, brav zu sein, nennt sich eine leichtfertige Person ... und hat noch eine ganz unvorhergesehene Hürde zu nehmen: es liegt ein guter Grund vor, daß es zu einem Gespräch über Stendhals Im­ potenz-Anekdoten kommt. Nicht alle Weiblichkeiten zeigen dasselbe Vorher-Muster. Die Dime und die Schauspielerin — weder Mädchen noch Damen,

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wie die Männer mitten im feindlichen Leben — nehmen sich recht männlich, was sie wollen. Sie sind in der Liebe ebenso wenig passiv wie im Geschäft. Die Dirne, eher verliebt als auf Fischfang aus, ist werbend. Und die Schauspielerin packt sehr resolut den Dialog beim Zügel und galoppiert in kür­ zester Zeit auf die Gedankenstriche zu. Das Vorher ist auch bei den lockenden Männchen abschattiert: je nach Dringlichkeit und Profession. Der Soldat produziert keinen Liebes-Zauber; darauf ist er nicht einexerziert. Der Dichter hingegen, in schmelzenden Tönen ausgelernt, ist ge­ fühlsselig wie eine entflammte Jungfrau. Der junge Mann ist auf andere Weise lyrisch; er ist vorübergehend nicht fähig. Der Graf wiederum ist langsam und weise und, weil aus altem Geschlecht, versoffen und vertrottelt. Die berühmte männliche Draufgängerei zeigt am besten der betrogene, betrügende Ehemann; er ist sehr solide in der Ideo­ logie eines westlichen Harem-Besitzers. Eine Zeugin klagte während des Prozesses, »daß es sich in allen Bildern um das­ selbe handelt«. Dieses Dasselbe (das entging ihr) ist eine jener unveränderlichen Mächte, die seit je das menschliche Schick­ sal mitgestalten. Dieses Dasselbe ist hier eine farbige Mono­ tonie: dasselbe — fünfmal männlich und fünfmal weiblich variiert. Was das Danach anlangt, so sind die Männer wie »ausge­ wechselt« (klagen ein paar Mädchen); sie wollen sofort tan­ zen gehen (mit anderen) oder ins Cafehaus oder nach Haus, ins Ehebett, um auszuschlafen. Die Darstellung der Abküh­ lung Danach gehört zu den Prachtstücken unter diesen Bil­ dern; nur der Junge Mann, dem es erst beim zweiten Anlauf glückt, fragt Danach, als sie fortwill: »Hast Du mich denn nicht mehr lieb?« Er ist offenbar von seiner Heldentat so überwältigt, daß er sich nicht wie ein Mann benimmt und genug hat von dem ganzen Zauber. Die Frauen sind Danach eher anhänglich — mit der Frage, die den Männern Danach auf die Nerven geht: hast Du mich gern? Was dem Soldaten, einem ebenso schlichten wie humor­ 218

vollen Mann, die (im Prozeß angeklagteste) Antwort eingab: »Na, das mußt doch g’spürt haben, Fräul’n Marie.« Aber auch die Frauen gehen, wenn der Gockel abschwirrt, nicht ins Kloster. Die Dirne, die es aus Liebe gemacht hatte, kompen­ siert ihre Enttäuschung, indem sie zum Schluß doch noch ver­ sucht, etwas herauszuholen. Das Stubenmädchen tröstet sich, schnöde alleingelassen im Diwan-Zimmer des jungen Herrn, mit einer Zigarre, die sie ihrem Feinen vom Rauchtisch wegstiebitzt für den fernen, nicht so feinen Liebhaber. Und die Junge Frau, die schon während der lyrischen Introduktion ihres nicht sehr kräftigen Jünglings eine kandierte Birne ins Mäulchen schob, benimmt sich auch Danach sozusagen un­ weiblich, das heißt: detachiert. Frauen, die Danach vorläufig einmal genug haben von männlichen Lochtönen, sind nicht häufig in Schnitzlers Vor-1914-Welt. Der Dichter psychologisiert und soziologisiert. Sexus ist nicht nur nach Dringlichkeit, auch nach Einkommen und Beruf mo­ delliert. In Vokabular, Gehaben und Thematik der LiebesKonversation bewegen sich Dirne, Soldat und Stubenmäd­ chen anders auf den Valse noire zu und von ihm wieder weg als die Junge Frau mit Pelzmantel, der Graf, der Dichter und die Schauspielerin. Der Junge Herr liegt auf dem Diwan, liest französische Romane und spielt ein anderes EröffnungsSpiel als einer aus den unteren Ständen. Auf seine Frage: »Du hast kein Mieder?« antwortet die Junge Frau: »Die Odilon trägt auch keins.« Wenige Zeilen also, bevor sie »Al­ fred! Alfred!!« stammelt, beherrscht die vorbildliche Wiener Schauspielerin ihre Welt. Das Dienstmädchen wird in dieser Minute nicht an die Hofburg gedacht haben. Der Gatte der Odilon-Verehrerin ist ein solider Bürger. Er hält ihr, im Ehebett, einen Vortrag über das Verhalten der anständigen Frau — und später, im Chambre séparée, dem Süßen Mädel eine ebenso fundierte Rede über das anständige Verhältnis: es hat treu zu warten, in Wien, bis der bessere Herr wieder einmal herüberkommt, von Graz. Die Welt der Künstler ist Schnitzlers eigenste Domäne. Der

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»Dichter« sagt, sofort Danach, in einem Atem: »Das ist über­ irdische Seligkeit« und »Ich nenne mich Biebitz«. Der be­ rühmte Biebitz interessiert sich Danach für nichts so sehr als für die Frage: weißt du wirklich nicht, wer ich bin? Und die Schauspielerin hat Danach nur eine Idee: »Du hast mir übrigens noch kein Wort über meine gestrige Leistung gesagt.« Der Graf wiederum, ein Art Graf Bobby, gibt aus dem Schatz seiner Weisheit zum besten: »Die Menschen sind überall dieselben, da wo mehr sind, ist halt das Gedräng größer.« Aus Grafen-Mund! Schnitzler stellt hier nicht die Liebe dar: die weite SeelenWelt, welche dies Wort auch umfaßt; nicht einmal den explo­ siven Trieb, der Augen und Ohren betört und alle anderen Sinne und auch Gedanken, Stimmungen, Absichten. Er gibt nicht den Himmel und nicht die Katastrophen der Leiden­ schaft. Er stellt nur ins Licht, wie der große Gott in seinem weniger beachteten kleinen Alltag prozediert; wie er häßliche Allianzen eingeht mit Dummheit, Eitelkeit, Feigheit und Großspurigkeit. Es ist schwer, über diese Metamorphose des Mächtigen zu lachen; aber man kann auch nicht ernst bleiben. Man ist beklommen amüsiert. Dies melancholisch-lächelnde Durchschauen — weit entfernt von Romeo und Julia und dem Gretchen-Pathos — strömt Skepsis aus und leise Wehmut. Hier waltet bisweilen etwas von dem elegischen Ton Baudelaires, der den gedämpften Hymnus auf das Fleisch schuf. Die schwermütigste Schnitz­ ler-Szene ist leicht zu überhören. Sie erinnert an Büchners »Wozzek«. Dirne: Geh’ bleib’ jetzt bei mir. Wer weiß, ob wir morgen noch’s Leben haben. Soldat: So komm’ — aber g’schwind. Dirne: Gib Obacht, da ist so dunkel. Wennst ausrutscht’st, liegst in der Donau. Soldat: Wär’ eh das Beste.

Die Moral von der Geschieht’—gibt es nicht. Sie sind verschie220

den: nach Herkommen, Einkommen und gesellschaftlichem Abkommen. Aber Schnitzler schafft keine Rangordnung. »Reigen« ist eine Meditation über diesen seltsamen Gott und die Reichhaltigkeit seines Tiergartens. Die himmlische Liebe gehört nicht zum Thema. Und von der irdischen nicht die passionierte des »Othello«, sondern mehr die beiläufige — zum Beispiel die des Grafen, welcher Frauen wie die Schau­ spielerin prinzipiell nicht vor dem Frühstück zu sich nimmt. Der kleine Reigen, den der große Herrscher dirigiert, ist ein Rundtanz: die Letzte im Kreis, die Dime, war schon die Erste. Der Kreis ist hier (wie seit je) Symbol der ewigen Wiederkunft; es geht immer wieder herum, ohne Anfang und Ende. Es gibt nichts Neues. Es gibt noch einmal und noch einmal diesen drängenden Eifer Vorher; und Danach Gleich­ gültigkeit oder ein krampfhaft-vergebliches Festhalten der verzauberten Welt. Schlegel träumte von einer ewigen Um­ armung. Dieses Zehnmal-Vorher-und-Nachher ist ein sehr subtiles Mitteninne zwischen Lust und Unbehagen, Ernst und Komik, Resignation und Mitspielen. Alle aber, die während des Pro­ zesses den Versuch machten, dem Stück innerhalb eines mo­ ralischen Koordinaten-Systems entweder als unmoralisch oder als geradezu Sitten-streng seinen Platz zuzuweisen, ver­ fehlten die milde Weisheit des Gleichnisses. Unter Anklage stand nicht das Stück, sondern die Vorfüh­ rung. Sie brauchen nicht identisch zu sein, exakter: können es nicht sein; ebenso wenig wie Noten und das Konzert, das sie zum Klingen bringt. Ein Stück kann in vielen Graden mehr oder weniger sein als das Schau-Spiel. Der inszenierte »Reigen« unterschied sich vom gedruckten vor allem darin, daß er nach Kräften entkräftet worden war. Wo die verhei­ ratete Frau zum Junggesellen sagt: »Rasch, Alfred, gib mir meine Strümpfe«, ersetzte man die gefährlichen Strümpfe durch weniger gefährliche »Schuhe«. Das wäre unter Maria Theresia auch nicht anders praktiziert worden. Das alles aber konnte die Heerschau der Entrüstung nicht 221

verhindern. Entrüstung worüber? Daß »Leute zehnmal hin­ tereinander einen Geschlechtsakt verüben«. Die Sprache bringt es an den Tag. Am »Verüben« sollt Ihr sie erkennen!

Schnitzler war schon der zweite Mann aus Wien, der eine schamhafte Welt in Harnisch brachte. Der erste ist Freud ge­ wesen, seit vielen Jahren bereits ein Pfahl im europäisch­ amerikanischen Fleisch. Man war in ständiger Bereitschaft, sich gegen ihn zu schützen. Lud man ihn ein, in der »Philo­ sophischen Gesellschaft« seine Ideen vorzutragen, so erhielt er ein paar Stunden vor Beginn einen Rohrpost-Brief: er möge doch unverfängliche Beispiele anführen und zeitig an­ kündigen, wenn er zu einem heiklen Punkt käme; dann eine Pause machen und den Damen die Möglichkeit geben, den Saal zu verlassen. Es ist, zur Zeit des »Reigen«-Prozesses, elf Jahre her, daß der Geheime Medizinalrat Professor Wilhelm Weigand auf einem Hamburger Kongreß schrie — und mit der Faust aufs Podium schlug: Freuds Theorien gingen die Wissenschaft nichts an, sie seien vielmehr eine Angelegenheit der Polizei; seine Kranken-Behandlung sei eine Art von Massage der Ge­ schlechtsorgane. Und im selben Jahr ermutigte ein Professor Oppenheim, auch auf einem Kongreß, seine Kollegen: jenes Institut zu boykottieren, das diese Ideen toleriere. Zwei Jahre später enthüllte ein bekannter New Yorker Neurologe in der »Times«, daß Freuds Ideen ihren Ursprung in seinem unmoralischen Leben hätten. Und der deutsch-ame­ rikanische Professor Münsterberg erzählte als Argument ge­ gen die unanständige Ursachen-Forschung der Analyse: er hätte bei einem Patienten, der an hysterischem Sich-Übergeben litt, festgestellt, der Mann hatte nur eine heiße Kar­ toffel verschluckt. Freud war in den ersten zwei Jahrzehnten des Jahrhunderts der Mann, der das Schamgefühl verletzte. Aber im Buch, nicht auf der Bühne; in der Sprache des Wis­ senschaftlers, nicht des Theatralikers und Romanciers. Des­

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halb kam er nie vor die Paragraphen und die Klubs der Be­ leidigten. Wer wird in seinem Schamgefühl verletzt — und wer bis zu öffentlicher Empörung? Mutter Natur hat keine Scham über dies oder jenes dem Neugeborenen eingepflanzt; sie ist immer eine andere: von Zeit zu Zeit, Gesellschaft zu Gesellschaft, Schicht zu Schicht. Die ganze Gattung dieser Gefühle hat nur eine einzige Konstante: das Sich-laut-genieren. Herr Müller, in dieser Epoche, dieser Gemeinde, diesem Kreis, hat gelernt, bei bestimmten Vorkommnissen sich zu schämen: für sich und die anderen. Man hat wohl fast immer geglaubt, die Züchtung solcher Reaktionen nötig zu haben. Sie variieren in einer unübersehbaren Fülle. Eine sowjet­ russische Fliegerin aus Baku, Heldin der Nation, Mohamme­ danerin, erzählte mir einst: ihr kommunistischer Bräutigam habe sie während der Brautzeit bewogen, ohne Schleier über die Straße zu gehen. Als sie das erste Mal, so unanständig entblößt, sich öffentlich sehen ließ, fiel sie aus Scham in eine schwere Krankheit; es hätte sie nicht so getroffen, wenn sie sich nackt, aber mit verhülltem Gesicht, zur Schau gestellt hätte.

Das besondere Schamgefühl, das, verletzt, seine Wunde vor­ weist, indem es öffentlich Krach schlägt, muß organisiert werden. Es gibt politische, moralische und religiöse Organi­ sationen, die das Anstoßnehmen verwalterisch betreuen; sie arbeiten Hand in Hand. Nachdem 1918 der deutsche Ponti­ fex Maximus und seine Hofprediger abgetreten waren, füll­ ten private Behörden diese Vakanz. Das war ein Schritt rück­ wärts. In demagogischen Demokratien hat ein Einpeitscher die Aufgabe, das »Volk« zu mobilisieren, das viel besser dran war, als es nur schlecht verwaltet — nicht auch noch zum Schlechten angestachelt wurde. Die Zeit des Obrigkeits-Staats war 1920 vorbei. So traten beim »Reigen«-Prozeß kaum noch Einzelne auf, sondern vor

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allem Vorsitzende und schlichtere Befehlsempfänger hakenkreuzlerisch-antisemitischer, frömmelnd-chauvinistischer und moralterroristischer Verbände. Zum Beispiel: Der deutsch-völkische Schutz- und Trutzbund, Filiale Hasenheide Der deutsche Offiziers-Bund Der Nationalverband der Offiziere Der Bund nationalgesinnter Soldaten Der deutschvölkische Geselligkeitsverein Die deutsch-christliche Vereinigung Der Christliche Studentenbund Der Herold Der Bund der Aufrechten Der Bund der Wandervögel Die deutschnationale Volkspartei, Landsberg a.W., Frauenabteilung Der Verein Berliner Lehrerinnen Der Landesverband Preußischer Volksschullehrerinnen Der Verband der akademisch-gebildeten Lehrerinnen.

Das alles gab es in der Weimarer Republik. In vielen dieser Konvertikel pulsierte im Jahre 1920 die deutsche Zukunft. Es gab auch Narren auf eigene Faust. Da war dieser zwei­ undfünfzigjährige Buchhändler; kein anderer hatte einen Heiterkeits-Erfolg wie er. Er sah auf der Bühne nichts als »Bettstellen«, zehn Szenen voll von Bettstellen; er kam von den Bettstellen nicht los. Derartiges sei jetzt modern; wir haben auch die Mode der kurzen Röcke. Er versuchte, die Schnitzler-Sprache zu imitieren und gab eine kuriose Inhalts­ angabe des Bildes »Graf und Schauspielerin«. Der Kavalier spräche im Wiener Dialekt von Pferden, Regiment und Pa­ raden. Schließlich scheint das Eis zu tauen, er wird wärmer. Da senke sich der Vorhang, wahrscheinlich von der TheaterLeitung aus. Er war dagegen, daß »die Bettstellen ein dauern­ des Asylrecht auf der Bühne haben sollen«. Dieser Kauz war ein ganz und gar unorganisierter Narr: ohne Konfession, Patriotismus und andere Verbindlichkeiten, von Kopf bis Fuß auf das »Bettstellen-Karussell« einge­ stellt. Das Gros aber bestand aus Funktionären oder noch un224

bedeutenderen Schall-Platten mit dem ewigen Refrain: Gott, Vaterland und Reinheit. Sie kämpften mit Sorgenfalten in der Stimme. Das Vaterland sei in Gefahr, sagten sie (mit oder ohne Hakenkreuz). Weil die Hohenzollern, Hindenburg und Ludendorff den Krieg verloren hatten? Nein, weil die Welt nun sehe, daß es in Deutschland vielfältig und gar nicht fein vor sich geht, worauf Schnitzler mit Gedankenstrichen ge­ dankenreich hinweist. Eine fünfundfünfzigjährige Dame seufzte patriotisch: die vielen Ausländer in Berlin werden denken, daß ein so degeneriertes und demoralisiertes Volk sich alles gefallen lassen muß. Dazu kamen noch lokalere Sorgen. Eine Dame nahm Anstoß als Berlinerin. Obwohl der Dichter ein Österreicher sei, hät­ ten die Wiener sein Stück unter Wasser gesetzt. Und die Ber­ liner sollten nachstehen? Neben der Berlinerin trat ein Ber­ liner für die Ehre der Stadt ein: alle sind sie mit dem »Rei­ gen« fertig geworden: das kunstsinnige München, das le­ bensfrohe Wien, das schöne Dresden und auch Hannover (das kein schmückendes Beiwort erhielt) ... nur die Hauptstadt sollte versagen? Der Vorsitzende unterbrach: das täte nichts zur Sache. Doch war der Berliner in Fahrt und protestierte noch einmal; diesmal als einer, der »als Preuße und Deut­ scher Anstoß genommen«. Sie alle hatten die Mission, Deutschland zu reinigen, und ta­ ten es, indem sie gröhlten und Gestank verbreiteten. In Wien hatte man es ihnen vorgemacht. Mitte Januar hatte dort die Premiere stattgefunden, österreichische Gleichgesinnte der deutschen Krawallmacher hatten sämtliche Hydranten ge­ öffnet, das Theater unter Wasser gesetzt — die moderne Ver­ sion der alten Sintflut. Die Berliner Genossen hielten offen­ bar weniger vom Wasser als vom Duft der Hölle. Im vierten Bild, nach einem verabredeten Stichwort, fiel an jenem 22. Februar das Wort »Schweinerei«. Die Direktion ließ hell ma­ chen und erklärte: niemand dürfe hinaus. Ein Empörter stand auf und schrie: das ist Freiheitsberaubung. Die Freiheit, die Luft zu verpesten, sollte einem geraubt werden. 225

So kämpfte man, schon 1921, mit dem Hakenkreuz für die Gesundheit des Volkes. Es war gefährdet von den Gedanken­ strichen des Juden Schnitzler; und so groß war der Horror vor diesen Rasse-Fremden, daß man alle mitwirkenden Di­ rektoren, Regisseure und Akteure zu Juden ernannte (ob­ wohl es kaum einen gab). Es war nicht ein politisches Stück, gegen das man das Vaterland verteidigte; man warf den Sze­ nen nur eine nicht-vaterländische Sexualität vor. Was das für eine ist, wurde nie aufgeklärt. Schon in dem Kapitel: »Lucinde« und der deutsche Geist... war die Verschmelzung von Sexual-Moral und Antisemitis­ mus offenbar geworden. Das Urbild jener Figur war eine Jüdin; so wurde die nicht genehme Sexualität, die in ihrem Namen verkündet worden war, als jüdisch verschrien. Und später, zwölf Jahre nach 1921, kam im Schmutzblatt »Der Stürmer« die sexuelle Geladenheit des hakenkreuzlerischen Antisemitismus sichtbar zum Durchbruch. Es ist denkwürdig, daß nicht gegen ein einziges der vielen antinationalistischen Stücke jener Jahre der teutonische Furor sich entlud, sondern gegen ein Bühnenwerk, das um Obszönes zentriert war. Es ist das Schoßkind der Entrüstung. Und wurde schon oft mit den Zügen des teuflischen Juden gemalt. Der Direktor, ein Katholik, der sich nachher viel auf seine katholische Vergangenheit zugute tat, wurde in der nationalen Presse als dicker, fetter, schwarzer, osteuropä­ ischer, galizischer Semit verhöhnt. In den Zuschriften an ihn hieß es: Dumme Sau, Hüte dich, Juda, Nieder mit euch Ju­ den. Während der Stinkbomben-Schlacht riefen sie: das ver­ danken wir diesem Judenpack. Auf einer Protestversamm­ lung sagte man: die Direktion sind Juden! Der Schriftsteller ist ein Jude! Sämtliche Schauspieler sind Juden! Ein Redner dekretierte: jedes Land hat die Juden, die es verdient. Zwan­ zig Jahre später bewies dann das Deutschland der Gasöfen: daß es, nachdem es an den Juden gut verdient hatte, keine Juden mehr verdiente. Ein nationaler Zeuge, ein Berliner Landgerichtsrat und Land­ 226

tags-Kandidat, hatte auf seinen Wahlreisen gegen die jüdisch­ demokratische Regierung und den zersetzenden jüdischen Geist gewettert. Diese Zersetzung zeige sich ganz besonders in der jüdischen Sexualität. Worin sie bestand, kam nicht heraus; vielleicht nur darin, daß die germanische so etwas still und leise und etwas geniert abmache. »Der Stürmer« zeichnete später den jüdischen Lüstling detaillierter. Aber das waren noch zwölf Jahre hin. Weshalb sahen sie sich dies Stück an? Was trieb sie, Skandal zu machen? Der Vorsitzende versuchte immer wieder, das herauszubringen. Da war ein Lehrer. Er hatte ein Referat in der »Täglichen Rundschau«, einem Organ dieses Kreises, ge­ lesen — und sich empört! Die meisten hatten sich aufs Hören­ sagen hin entrüstet, ohne das Buch gelesen oder die Auffüh­ rung gesehen zu haben. Dann saß dieser Erzieher der Jugend eines Tages mit Freunden im Kino, man besprach seine Em­ pörung im Anschluß an das empörte Referat und beschloß, nachdem man Anstoß genommen hatte, sich »die Sache« mal anzusehn. So oder ähnlich kamen sie ins Theater. Der Vorsitzende fragte: verfolgten Sie mit Ihrem TheaterBesuch einen Zweck als Lehrer? Der Zeuge: Die »Lehrer­ eigenschaft« spielte wohl keine Rolle. Vorsitzender: Haben Sie sich als Staatsbürger interessiert? Ich möchte sagen: aus völkischem Interesse. Woran dieses verbreitete Interesse inter­ essiert war, wurde in allen sechs Tagen des längeren dis­ kutiert, ohne Resultat. Eine Zeugin, Klara Müller, sechsundvierzig Jahre alt, Frau eines Hauptmanns, war »zu Studienzwecken« in die Auffüh­ rung gegangen. Es wurde bald klar, was das für Studien waren. Sie bezogen sich auf die Fragen: was man »dem deut­ schen Volk vorzusetzen wagt«, »wie sich das deutsche Volk diesem Stück gegenüber benimmt«. Außerdem ging sie auch noch als Mutter hin und nahm ihre beiden Söhne mit, um sie »auf das Leben vorzubereiten«. Womit keineswegs sexuelle Aufklärung gemeint war, eher ein Versetzen in den AlarmZustand, auf daß sie den Kampf aufnehmen könnten gegen 227

alles, was undeutsch sei. In diesem Fall: den Kampf gegen den undeutschen Geschlechtsverkehr.

An einem anderen Front-Abschnitt schlug man sich unter einer anderen Flagge. Mit Wilhelm II. hatte Deutschland sei­ nen Priester-König verloren. Das Deutsche Reich war ohne Religion. Die Staatsanwälte durften Gott nicht mehr beschüt­ zen. Anklagen wegen Beleidigung religiöser Rühr-mich-nichtan waren nicht mehr gesetzlich. Man hatte während des Prozesses diesen legalen Zustand der Dinge immer wieder zu betonen. Die deutschen Untertanen verstanden nicht, daß der Staat die Verletzung ihrer frommen Empfindlichkeiten nicht mehr mit Gefängnis rächte. Sie waren zwar durch die Jahrhunderte unempfindlich gemacht worden gegen den schnöden Kasernen-Ton, umso sensibler aber für das Voka­ bular, das Worte wie »Gott«, »beten« und »schwören« ent­ hält. Ihre Organisationen hielten auch in der Republik die Fahne der gottesfürchtigen Mimosen hoch. Das politisch stärkste, einflußreichste Bollwerk, das sie be­ saßen, war das sogenannte Zentrum, die festgefügte katho­ lische Partei. Sie war auch in der Republik noch recht streit­ bar. Einer ihrer bekanntesten Führer war erst vor kurzem auf Grund seines Verhaltens in einer Vorstellung der »Pfarr­ hauskomödie« wegen Hausfriedensbruch angeklagt worden. Für diese katholische Aktion sprach jetzt ein Abgeordneter. Er hatte wieder und wieder die Republik aufgefordert, dem sich in der Öffentlichkeit immer breiter machenden Sexualismus entgegenzutreten. Ihn störten besonders die laxen Auf­ fassungen außerehelicher Beziehungen und die Prostitution; er war der Ansicht, daß diese ganze »Schweinerei« nicht etwa von Gott Priapus angestiftet wird und von den lieben Mädchen auf der Straße, sondern »daß ein solches Stück die Jugend der Prostitution zuführt«. Die Evangelischen zeigten die gleiche Empörung. Der Direk­ tor des Zentralausschusses für innere Mission der deutschen evangelischen Kirche nahm besonderen Anstoß daran, daß 228

die Impotenz ausführlich behandelt wurde — obwohl sie doch wirklich älter war als die Juden-Republik, ja schon in der Bibel vorkam. Die Vorsitzende der kirchlich-sozialen Frauen­ gruppe für Hebung der Sittlichkeit (auch im Vorstand des Ausschusses der Vereinigten Berliner Vereine für Fragen der Volks-Sittlichkeit) entrüstete sich ebenfalls. Wie mancher Verantwortliche hatte sie das Stück weder gesehen noch ge­ lesen; ihr genügten die schlimmen Dinge, die andere ihr er­ zählten. Wie es mit dem Verantwortlichkeits-Gefühl dieser »Volkssittlichkeit« bestellt war, wurde hier gerichtsnotorisch. Die Zeugin mußte zugeben, daß sie eine Anzeige an den Staatsanwalt unterschrieben hatte, die ausdrücklich betonte, die Unterzeichner hätten einer »Reigen«-Aufführung bei­ gewohnt. In puncto »Du sollst nicht lügen!« war die Volks­ sittlichkeit nicht so sittlich. Der Direktor der deutsch-evangelischen Missions-Hilfe, auch noch Vorsitzender des Vereins für Anstand und gute Sitte und ebenfalls mit der Volks-Sittlichkeit verbündet, geriet, wie der Vorsitzende rügte, immer wieder ins Uferlose. Nach­ dem so oft schon die Ehre der deutschen Frauen in Schutz genommen worden war, stellte er sich hinter die deutschen Männer. Nein, sie seien nicht solche; es gäbe auch welche, die »geschlechtliche Dinge vor und nach der Ehe als unsitt­ lich betrachten«. Einige religiös-Entrüstete wurden konkreter. Sie wiesen auf die beiden Dialoge hin, in denen die Vermischung von Hei­ ligem und Tierischem sie schwer gekränkt hatte. Da gab es einen Medizin-Studenten; er sprach für das gesamte Studenten-Parlament, was immer das gewesen sein mag. In einer Szene sagt die Junge Frau zu ihrem Liebhaber: »Jetzt werde ich Sie etwas fragen, Alfred — schwören Sie mir, daß Sie mir die Wahrheit sagen werden.« Der Student konnte sich nicht recht ausdrücken, aber soviel wurde klar: schwören in einem Prae-Coitus-Gespräch zwischen einer verheirateten Frau und ihrem Liebhaber verletzt sein religiöses Gefühl; Gott wird gewissermaßen in einen illegitimen Beischlaf verwickelt.

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Und ein Fabrikant, der sich allerdings nicht sehr genau an das, was ihn verletzt hatte, entsinnen konnte, erinnerte sich nur noch vage an einen sein religiöses Gefühl kränkenden Eid. Mehr und mehr tauchte der Verdacht auf, daß dieses Anstoßnehmen am Schwören verabredet war. Denn es schien nicht sehr glaubhaft; selbst wenn man in Betracht zog, was die Erziehung zu religiöser Empfindlichkeit angerichtet hat. Am farbigsten entfaltete sich das religiös-sexuelle Ärgernis anläßlich der Szene zwischen der Schauspielerin und dem Dichter. Ein Zimmer in einem Gasthof auf dem Land. Die Komödiantin tritt ans Fenster und bewundert, eine routi­ nierte Wichtigtuerin, Frühlings-Abend und Mond und Wie­ sen — »mit gefalteten Händen«. Dichter: Was machst du? Schauspielerin, empört: Siehst du nicht, daß ich bete? Dichter: Glaubst du an Gott? Schauspielerin: Gewiß, ich bin ja kein blasser Schurke. Dichter: Ach so!

Komm’ doch zu mir, knie dich neben mich hin. Kannst wirklich auch einmal beten. Wird dir keine Perle aus der Krone fallen. Dichter kniet neben sie hin und umfaßt sie. Schauspielerin: Wüstling! (Erhebt sich) Und weißt du auch, zu wem ich gebetet habe? Dichter: Zu Gott, nehm’ ich an. Schauspielerin, großer Hohn: Jawohl! Zu dir habe ich gebetet. Schauspielerin:

Wahrscheinlich haben die Gebildeteren unter den Anstoß­ nehmern einen Gretchen-Faust-Katechismus erwartet. Sie waren nicht imstande, diesem durchsichtigen Dialog zu fol­ gen. Sie gehörten zu jenem Publikum, das in folgendem klei­ nen Dialog enthüllt wurde: Vorsitzender: Gehen Sie öfter ins Theater? Zeuge: Nein.

Sie waren keine Theater-Besucher. Sie waren die Vorläufer der Saalschlachten — Helden kommender Jahre.

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Die angeklagte Gottlosigkeit hatte nichts mit Gott zu tun und viel (zum Beispiel) mit der Charakterisierung des eitlen Poeten und der aufgedonnerten Komödiantin. Aber es sind nie Mißverständnisse, die eine Wut hervorrufen; es ist die Wut, welche Mißverständnisse emotional lädt. Die Dumm­ heit ist unter allen barbarischen Kräften immer noch die schwächste; die furchtbare Dynamik sitzt nicht in der Be­ schränktheit, sondern hinter ihr. Da gab es noch zwei Sakrilege, im selben Bild. Der Dichter entdeckt im ländlichen Zimmer Heiligenbilder, bei welcher Gelegenheit ihm Fest-Phrasen einfallen. Und die Schauspie­ lerin holt aus ihrer Tasche ein gerahmtes kleines Porträt her­ vor und stellt es auf den Nachttisch, der neben dem Bett steht, in welchem sie mit dem Dichter liegen wird: die Madonna — ein »Talisman«, wie sie schauspielert. Ein Bankbeamter, eine der rührenden Ausnahmen, innerhalb dieser ungelüfteten Volks-Sittlichkeit, sagte: sein religiöses Gefühl könne so etwas nicht vertragen, aber vielleicht gehe diese Sensivität zu weit. Er war fast der Einzige, von dem man behaupten darf, daß er ganz unorganisiert an dieser Szene litt. War auch jene Theater-Besucherin unorganisiert außer sich, als sie ausrief: »Es ist mir wie ein Fegefeuer, daß ich hier sitzen muß« — und trotzdem im Fege­ feuer blieb? Und jene Hausdame »mit erziehlichen Befug­ nissen«, die mit Siebzehnjährigen die »Nibelungen« las, auch die Stelle, an der (nach Siegfrieds Tod) von Treue die Rede ist? Ein Knabe sagte: Treue gibt es bei Frauen überhaupt nicht mehr und murmelte etwas vom »Reigen«. Daß Sieg­ fried es ganz unehelich mit Brunhilde trieb, scheint ihn we­ niger gestört zu haben. Es gab Grenz-Fälle. Aber unorganisiert oder organisiert, es wäre zu nichts gekom­ men, wenn nicht der eine Mann erschienen wäre, der noch die Organisationen zusammen-organisierte. Sechs Jahre nach dem Tode Anthony Comstocks, im zweiten Jahr der national­ sozialistischen Bewegung, erschien der preußisch korrekte Führer des »Reigen«-Prozesses.

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Der Schmutz-Brunner (wie er sich stolz nannte — analog zu Comstocks »Der Mann des Obszönen«) war der Spitz­ name des Professor Dr. Emil Brunner vom Wohlfahrts-Mini­ sterium. Er residierte in der Zentralstelle des Berliner Poli­ zei-Präsidiums als »Gutachter« für alle Gebiete der Kunst, soweit der Grenzbereich zwischen Zulässigem und Strafbarem in Frage kam. »Ein durchaus gutgläubiger Schädling«, meinte Alfred Kerr; ebenso gutgläubig und schädlich wie der große Vorgänger Anthony Comstock, aber nicht so populär wie er. Der Amerikaner war ein Mann des Volkes. Der Preuße ein Regierungsrat; deshalb konnte er es nicht einmal zu einem bescheidenen Henker bringen. Der Schmutz-Brunner war ob seines Namens beleidigt und stolz; ein verspotteter Triumphator. Das Kompositum ist sprachlich zweideutig: war er schmutzig — oder Herkules, der den Augias-Stall ausmistete? Aller Schmutz drängte zu ihm, daß er ihn zerstöre — und beschmutzte ihn auch. Es ist wie mit den Heiligen, die auch vom Bösen besessen waren. Brunner war nur die Anlage dazu, zu unbedeutend, um wirk­ lich der Schmutz-Brunner zu werden. Einst ist er Professor für Geschichte in einem Gymnasium zu Pforzheim gewesen. Selbst ein Gegner meinte, daß er wohl ganz nützlich war, als er den Jungens die Schlacht von Salamis erklärte oder Mittelalterliches — solange er sich an die Tat­ sachen hielt. Dann warf ihn das Schicksal aus seiner Bahn, auf das Gebiet der Kunst, und zwar dorthin, wo man sie obszön nennt. Wie er dahin gelangte: durch Zufall oder eher so ähnlich, wie die Späne an den Magnet kommen, erfuhr man nicht. Dem Brunner sind nicht, wie dem amerikanischen Mann des Obszönen, Biographien gewidmet worden. Des­ halb wissen wir viel über seine berühmte Blamage und nur wenig über sein Innen-Leben; aber doch genug, um sein Pro­ fil vor dem Hintergrund Comstock deutlich zu sehen. Jener war ein Freischärler gewesen, hatte sich immer wieder bloßgestellt, ein gewaltiger Narr mit einem Missions-Kom­ plex — und gar nicht zaghaft. Lehrer Brunner war eher wie

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Heinrich Manns Lehrer Unrat: ein Bürokrat, der immer Un­ rat witterte, ein Administrator des Anstoßnehmens. Wo es darauf ankam, die Heldenbrust zu zeigen, versteckte er sich... und spielte, wurde er hervorgezerrt, die gekränkte Unschuld. Er war die Triebfeder hinter dem Tick und Tack des Pro­ zesses; und legte dar, daß er vollkommen unbeteiligt sei, das unschuldige Opfer eines Kesseltreibens. Es wurde immer wieder ausgesagt, daß die Anstoßnehmer von seiner Dienst­ stelle Freikarten zum »Reigen« bekommen hätten; der kor­ rekte Herr Professor konnte nachweisen, daß alles völlig ordnungsmäßig zugegangen sei. Er war ein Wühler im Braten­ rock und Vatermörder und hatte einen untadeligen Lebens­ lauf. Das Dezernat, welches ihm das Schicksal zugeteilt hatte, war Schmutz. Der amerikanische Puritaner war ein Indivi­ duum, der preußische eine Institution. Er ließ sich einst von seinem Gymnasium auf zwei Jahre be­ urlauben, reiste quer durch Deutschland und verkaufte ein Mittel gegen »Schmutz in Wort und Bild«: die Denunziation. Der neue Beruf scheint so lukrativ gewesen zu sein, daß er sein Schulamt aufgeben konnte. Man wurde auf ihn auf­ merksam. Das Vaterland konnte ihn brauchen. Er nahm an Kongressen teil, auch an ausländischen Empörungen und wurde schließlich Sachverständiger für die Zentralstelle zur Bekämpfung unzüchtiger Schriften. Er war zwar nicht ein Kenner von Musik, Malerei und Literatur — aber doch Ken­ ner des Schmutzes in diesen Bezirken; man wundert sich, daß ihm nicht ein Ordinariat für Schmutz-Kunst errichtet wurde. Seine Affinität zum Schmutz war enorm; er war ausgestattet mit einer Wünschelrute, welche die geheimsten Schmutz-La­ ger fand. Sein Beruf, sie zu entdecken, formte die Welt, in der er sie fand. Er war nicht ein Bauer, wie der Mann aus New Canaan. Er war ein Gelernter. So war seine Transzendenz nicht so pompös wie Comstocks. Er sagte nur »Ich spreche im Namen des heiligen Zorns«. In einer Variante von »Ich bin

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der Herr, Dein Gott« hieß es: »Ich bin der Brunner«, der »in einem gewaltigen packenden Auftreten ...«. Die Aus­ stattung war nicht mehr der Sinai und noch nicht der Partei­ tag zu Nürnberg. Die Zukunft war erst in Klein-Format da. Er sagte erst: »Ich bin der Vertreter des Volksgewissens.« Das war wieder zu bescheiden. Denn er war weniger der Ver­ treter als der Verführer, welcher »spontane Kundgebungen der Volksentrüstung« in die Welt setzte. Ich sage unter Eid, schwur er, daß dieser Zorn über den »Reigen« eine Volks­ bewegung ist. Auch die größenwahnsinnigsten Missionare haben nicht die Courage, sich für Gott persönlich zu halten. So deuten sie sich ihr Tun nur als seine Stimme; oder, in de­ mokratischer Version, als vox populi. Jetzt, im Jahre 1921, hatte Brunner zwanzig Jahre Schmutz hinter sich, die Hälfte dieser Zeit in seiner Funktion als Schmutz-Beamter. Er ist im Zenith: »Wenn einmal in Deutschland etwas über Schmutz zu erledigen ist, so werde ich um Rat gefragt.« Sehr gut kann dieser Rat nicht gewesen sein. Denn zwölf Jahre später hatte das Volk ohne Raum wirklich nicht genug Raum für den Schmutz. Ein deutsches Gericht hatte also die »Reigen«-Aufführung, gegen die eine Einstweilige Verfügung vorlag, freigesprochen und ihr das Prädikat »Sittliche Tat« verliehen. Da packte Brunner zu. Am Tage nach dem Freispruch lief eine Anzeige bei der Staatsanwaltschaft ein. Sie stammte aus der Zentrale zur Bekämpfung unzüchtiger Schriften, wo Brunner herrsch­ te. So kam die ganze Affäre in Gang. Der Professor nahm den verflossenen Zensor, Herrn von Glasenapp, in eine Auf­ führung; auch er, ein Professioneller, witterte Unrat. Brun­ ner konferierte mit weiblichen Reichstagsabgeordneten, die im Parlament eine »Anfrage« loslassen und die großen Or­ ganisationen, an deren Spitze sie standen, mobilisieren woll­ ten. Etwa fünfzig Vereine wurden so erfaßt. Brunners Ma­ schinerie kam auf Touren. Den Vereinen wurde eine Protest-Erklärung zur Unterschrift vorgelegt — und von vielen empörten Personen unterzeich234

net, die durch dieses Papier zum ersten Mal von dem Skandal hörten; denn es ist immer mehr Drang zum Protest als kon­ kreter Anlaß. Brunner hatte unterschrieben: Regierungsrat im Preußischen Wohlfahrts-Ministerium; meinte aber, sein Amt habe mit der ganzen Sache nichts zu tun. So leitete er den Sturm deutscher Männer und Frauen in die Klause der Staatsanwaltschaft, deren Aufgabe es war, revolutio­ näre Äolusse zu bändigen, um die Windstille wieder herzu­ stellen. Sicherheitshalber fragte man noch weitere zweiund­ zwanzig Organisationen, ob sie nicht vielleicht bereit wären, ihrerseits gekränkt zu sein. Sie waren es. Brunner erfuhr von seinem Sohn, daß der Volkszorn ganz groß am zweiundzwanzigsten Februar in Szene gehen wird. Zwischen der Loyalität gegen seine Behörde, die Polizei, wel­ cher er hätte melden müssen, was sich da zusammenbraute, und seiner Neigung zur Entrüstung entschied er sich für die Randalierer. Preußisches Beamtentum in der Ära der auf­ gehenden Hitlerei! Comstock wäre selbst zum Fest gegan­ gen und hätte kräftig mitgeholfen, Stinkbomben zu wer­ fen. Ein preußischer höherer Beamter tat so etwas nicht. Es ist ein Zeichen des Größenwahns, sich nicht zu kontrollie­ ren. Wer sich kritisch sieht, bringt Besseres nach vorn, schiebt weniger Schönes in den Hintergrund. Brunner hatte die Na­ ivität des In-sich-Vergafften: er stellte sich, wenn auch mit einem gebildeten Bikini versehen, nackt dar. Seine Philoso­ phie und sein Deutsch waren die Höhepunkte der Komik. Er billigte Sexualität, wenn sie »psychologisch ausführlich be­ gründet ist«. Er billigte, daß man die Sexualität »als eine starke natürliche Entwicklung durchaus begreift«; ihm war recht, »wenn man nicht prüde ist, daß Menschen sich gele­ gentlich paaren«. Der Satz könnte von Schnitzler sein, hätte er einen preußischen Regierungsrat in Barchent-Unterhosen und Barchent-Deutsch zeichnen wollen. Brunners Sexual-Moral erklärte, wie man sich anständig be­ gattet: indem man »beim menschlichen Zeugungsakt stets des göttlichen Ursprungs sich erinnert«; »denn das Sexuelle, was

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der Mensch in sich trägt, ist heilig«. Abgesehen davon, daß dies Sexuelle, »was der Mensch in sich trägt«, nicht gerade darauf schließen läßt, daß der Mann mit der deutschen Sprache ebenso intim war wie mit dem Schmutz — und auch abgesehen davon, daß diese Heiligkeit des Sexuellen, nicht sehr christlich, den Sündenfall leugnet... ist die Gefahr recht groß, daß die Menschheit ausstirbt, wenn sie wirklich dem Professor Brunner folgt und »beim Zeugungsakt stets des göttlichen Ursprungs sich erinnert«. Die alte Parodie der »Lucinde« war 1920 immer noch aktu­ ell. Brunner teilte mit, er habe gestern mit einem hoch­ angesehenen Schriftsteller gesprochen, der sagte: »Bei der Liebe klingen die himmlischen Glocken wie Choräle.« Da schon Schlegel es mit der Choral-Glocken-Begattung zu tun hatte, ist anzunehmen, daß es sich um einen nicht zeitlich begrenzten Geschmack handelt. Brunner ist nicht nur ein Schwärmer in sexualibus, auch ein Jurist. Als solcher gab er zu, daß unflätige Gespräche im ehe­ lichen Schlafzimmer »keinen Angriffspunkt irgendwelcher Art nach der juristischen Seite bieten«. Obszönität zwischen Verheirateten ist also legal; Berlin ist nicht der Staat Arkan­ sas. Das Schnitzlersche Ehepaar darf sich also, ohne die Ge­ setze zu verletzen, im Ehebett an die Hochzeits-Nacht er­ innern; ja, hier ist »auch nach der moralischen Seite ein An­ stoßnehmen nicht nötig«. In diesem Falle handele es sich »um eine erlaubte Sache«, wie die Sprache im Jägerhemd sich aus­ drückt. Und sein Volk sprach ihm nach. »Das Volk« stieg zum herrschenden Götzen auf, als Thron und Altar an Glanz verloren hatten. Dasselbe, was sie früher überglänzten, wurde nun Im-Namen-des-Volks glänzend. Alle Anstoßnehmer des Prozesses nahmen Anstoß: aus Liebe zum Volk, im Kampf für die Gesundheit des Volks, besorgt um das Ansehen des Volks. Die völkische Sexualität ver­ einigte sich mit der christlichen; die Scheidung zwischen from­ men und heidnischen Völkischen war noch nicht im allgemei­ nen Bewußtsein. Dies »Volk« war der unausgelüftetste Teil 236

des Mittelstands; und lebte wirklich so, wie die TraktätchenLiteratur seiner Abstinenzler-Vereine es wollte. Der Berliner Frauen verein gegen Alkoholismus war auch gegen Schnitzler, obwohl in allen zehn Szenen nur ein einziges Gläschen Ko­ gnak auftritt. Noch ein Weilchen — und im Namen der Volkssittlichkeit wurde gemordet, gequält, geschändet. Soweit war es noch nicht. Es wurde erst gehetzt im Namen des Volks. »Unser Volk ist heute krank«, jammerte Brunner; und begann, es zu kurieren. Besonders zu beachten ist sein Heute. Die Republik ist schuld an der Häufigkeit und dem Modus des neu-deut­ schen Geschlechts-Verkehrs: »Wie kann der einfache Mann aus dem Volke dieses Stück sehen, ohne wirklich mindestens in seiner Sitte erschüttert zu werden?« Was wäre das Pendant zum »mindestens«: das Höchstens? Und der düstere Prophet hat eine Vision; es »saust das Volk gewissermaßen rasch berg­ ab und hemmungslos einem gewissen Ziel entgegen«. Wir können heute dem Gewissermaßen und dem gewissen dunklen Ziel Deutlicheres zuordnen: das damals dunkle Ziel ist jetzt die sichtbar gewordene Vergangenheit — Millionen Ermor­ dete. Es war die Kur von 1933—1945, die in der Krankheits-Dia­ gnose von 1921 vorbereitet wurde. Die Kloake Berlin, von der Brunner sprach, wurde vom Schmutz gründlich gereinigt — zum Beispiel mit Bücher-Verbrennungen, von denen der Anstifter dieses Prozesses noch nicht zu träumen wagte; denn er war Beamter und hatte über seinem Herzen, das von Schmutz besessen war, eine saubere Weste. Er war just einer von jenen Jahrhunderte alten Vulgär-Platonikern und defi­ nierte geistige Freiheit als »Befreiung des Geistes von niederen Trieben«. Der Platonismus ging in einem langen Leben mit vielen Bewegungen bewegte Bündnisse ein. Er war (um die feinere Schattierung nicht zu ignorieren) ein liberaler Völkischer. Er war sehr stolz auf seine engstirnige Weitherzigkeit. »Ich betrachte natürlich nicht den Geschlechts­ akt als solchen als unzüchtig; das ist ausgeschlossen«; und dann

zeigte sich, daß er eben doch den »Geschlechtsakt als solchen« für unzüchtig hielt. Er ließ ihn nur zu, wenn er sich »mit der Keuschheit umkleide, die von der Sitte des Volks verlangt wird«; diese »völkische Sitte geht durch alle Volksgenossen hindurch«, hieß es im völkischen Deutsch. Das Volk als ober­ ster Schneider, der dem einzelnen den Geschlechtsakt zumißt, war sehr logisch; denn das Volk war den Völkischen der Nachfolger Gottes. Die Wurzeln dieser deutschen Sprache, ihre Bilder und Ideen können mindestens ein halbes Jahrhundert zurück verfolgt werden, Bayreuth war ihr Humus. In Bayreuth war Brunner auch leiblich geboren, dort ging er mit Siegfried Wagner ins Gymnasium. Warum aber erinnert sich Mitschüler Brunner nicht an die Werke des Meister Richard? Wird in der »Wal­ küre« nicht gesungen: »Bei der Schwester liegt der Bruder«? Und kann es der »Reigen« an Unzüchtigkeit aufnehmen mit Tannhäusers Pariser Venusberg? Der Unterschied war, daß Wagners Walhall, der Harem Wotans, nicht von einem Ju­ den stammte, sondern von dem völkischen Juden-Fresser. Und das war für einen Brunner, der vom republikanischen Gericht gelobt werden wollte, weil er im Ludendorff-Krieg »in vorderster Linie gestanden«, die Grenze, wo arteigenes Heidentum endet und jüdischer Schmutz beginnt. Auf Richard Wagner läßt er sich nicht ein. Es gibt einen viel ungefährlicheren Kronzeugen, mit dem man immer siegt. Schon viele deutsche Männer haben ihre kulturelle Respek­ tabilität mit Goethe unter Beweis gestellt. Eigentlich hatte er mit dem »Reigen« wenig zu tun. Er hätte wohl ein sehr vor­ sichtig-pikantes Urteil abgegeben; und, ä la Thomas Mann, »von der sinnigen Frechheit des >ReigensLady C vvei

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