Fetisch als heuristische Kategorie: Geschichte - Rezeption - Interpretation [1. Aufl.] 9783839415849

Das Konzept Fetisch hat in den 500 Jahren seiner Geschichte eine Vielfalt an Bedeutungen angenommen. Gerade deshalb stöß

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Fetisch als heuristische Kategorie: Geschichte - Rezeption - Interpretation [1. Aufl.]
 9783839415849

Table of contents :
Inhalt
Fetisch als heuristische Kategorie
EIN KONZEPT MIT HETEROGENEM INHALT: DIE VIELFÄLTIGE GENESE DES FETISCHS
Der Fetisch. Kreativität und Historizität im modernen Atlantik
Fetische und ungerade Dualismen. Anmerkungen zu afrikanischen und afroamerikanischen Religionen
Fetischismus und Substitution
Marx und der Fetischismus. Von der Religionskritik zur Kritik der politischen Ökonomie
DER FETISCH ALS IRRITATIONSMARKER: FRÜHE DISKUSSIONEN UND DER BEGINN EINER LANGEN DEBATTE
Die Frage der fetischistischen Bilderverehrung im Urchristentum. Eine theologisch-politische Auseinandersetzung und ihre historische Stellung
Tertullian der Antifetischist. Frühchristliche Auseinandersetzungen mit idolum, idololatria und facticium
Columbans gestohlener Handschuh – ein (Anti-)Fetisch?. Beobachtungen zur Hierarchie und Macht der Objekte
DER FETISCH ALS HEURISTISCHE KATEGORIE: (A-)SYMBOLISCHE STRUKTUREN UND RHETORISCHE ARGUMENTATIONSMUSTER
Fetish of Empire. Das psychoanalytische Fetischkonzept als heuristische Kategorie zur Untersuchung der Idee einer imperialen Weltordnung?
Grenzen der Vernunft. Fetischismus als Argumentationsfigur im religionskritischen Diskurs der Aufklärung
Primitive Sprachen. Primitivismus in der Sprachforschung?
Fetische im Recht – Recht als Fetisch
FETISCH UND FETISCHISMUS ALS HISTORISCHE SACHVERHALTE? FALLSTUDIEN
Batailles großer Zeh. Fetischismus und Subversion in der Politischen Ästhetik von Documents
Der Marx’sche Fetischbegriff und seine Bedeutung für eine Kritik des Antisemitismus
Das System Metternich und der Nacktscanner Sicherheit als Fetisch?
Andreas Hofer als Ikone, Idol, Reliquie, Popanz, Objekt, Statue? Zu Konstruktion, Verwendung und Dekonstruktion eines fetischähnlichen Konzepts im historiographischen, »nationalen«, künstlerischen und politischen Diskurs
Dank
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
Namensregister

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Christina Antenhofer (Hg.) Fetisch als heuristische Kategorie

Die Drucklegung wurde von folgenden Institutionen unterstützt: Autonome Provinz Bozen – Südtirol Abteilung Bildungsförderung, Universität und Forschung Amt für Hochschulförderung, Universität und Forschung

Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung, Wien

Vizerektorat für Forschung und Philosophisch-Historische Fakultät der Leopold-Franzens-Universität, Innsbruck

Christina Antenhofer (Hg.)

Fetisch als heuristische Kategorie Geschichte – Rezeption – Interpretation

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Originalillustration aus Jean Barbot »A Description of the Coasts of North and South Guinea.« A Collection of Voyages and Travels. Bd. V. Hg. Awnsham Churchill und John Churchill. London 1732. Ausschnitt aus Tafel 7. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Abteilung für Handschriften und Seltene Drucke Lektorat: Christina Antenhofer, Claudia Posch Korrektorat: Birgit A. Rother, Bielefeld Satz: Jörg Burkhard, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1584-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt Fetisch als heuristische Kategorie Christina Antenhofer (Universität Innsbruck) | 9

E IN K ONZEPT MIT HETEROGENEM I NHALT : D IE VIELFÄLTIGE G ENESE DES F ETISCHS Der Fetisch Kreativität und Historizität im modernen Atlantik Roger Sansi (Goldsmiths, University of London) | 41 Aus dem Englischen übersetzt von Claudia Posch

Fetische und ungerade Dualismen Anmerkungen zu afrikanischen und afroamerikanischen Religionen Rogério Brittes W. Pires (Universidade Federal do Rio de Janeiro) | 59 Aus dem Englischen übersetzt von Claudia Posch

Fetischismus und Substitution Alfonso M. Iacono (Università di Pisa) | 85 Aus dem Italienischen und Englischen übersetzt von Claudia Posch und Christina Antenhofer

Marx und der Fetischismus Von der Religionskritik zur Kritik der politischen Ökonomie Antoine Artous (Codirektor der Mille marxismes, Paris) | 97 Aus dem Französischen übersetzt von Christina Antenhofer

D ER F ETISCH ALS I RRITATIONSMARKER : F RÜHE D ISKUSSIONEN UND DER B EGINN EINER L ANGEN D EBATTE Die Frage der fetischistischen Bilderverehrung im Urchristentum Eine theologisch-politische Auseinandersetzung und ihre historische Stellung Barnaba Maj (Università di Bologna) | 115

Tertullian der Antifetischist Frühchristliche Auseinandersetzungen mit idolum, idololatria und facticium Kordula Schnegg (Universität Innsbruck) | 125

Columbans gestohlener Handschuh – ein (Anti-)Fetisch? Beobachtungen zur Hierarchie und Macht der Objekte Albrecht Diem (Syracuse University) | 145

D ER F ETISCH ALS HEURISTISCHE K ATEGORIE : (A-)S YMBOLISCHE S TRUK TUREN UND RHETORISCHE A RGUMENTATIONSMUSTER Fetish of Empire Das psychoanalytische Fetischkonzept als heuristische Kategorie zur Untersuchung der Idee einer imperialen Weltordnung? Ulrich Leitner (Universität Innsbruck) | 169

Grenzen der Vernunft Fetischismus als Argumentationsfigur im religionskritischen Diskurs der Aufklärung Marie-Luisa Frick (Universität Innsbruck) | 193

Primitive Sprachen Primitivismus in der Sprachforschung? Claudia Posch (Universität Innsbruck) | 215

Fetische im Recht – Recht als Fetisch Andreas Th. Müller (Universität Innsbruck) | 235

F ETISCH UND F ETISCHISMUS ALS HISTORISCHE S ACHVERHALTE ? F ALLSTUDIEN Batailles großer Zeh Fetischismus und Subversion in der Politischen Ästhetik von Documents Andreas Oberprantacher (Universität Innsbruck) | 253

Der Marx’sche Fetischbegriff und seine Bedeutung für eine Kritik des Antisemitismus Stephan Grigat (Universität Wien) | 275

Das System Metternich und der Nacktscanner Sicherheit als Fetisch? Karin Schneider (Universität Innsbruck) | 293

Andreas Hofer als Ikone, Idol, Reliquie, Popanz, Objekt, Statue? Zu Konstruktion, Verwendung und Dekonstruktion eines fetischähnlichen Konzepts im historiographischen, »nationalen«, künstlerischen und politischen Diskurs Andreas Oberhofer (Universität Innsbruck) | 313

Dank | 349 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren | 351 Namensregister | 361

Fetisch als heuristische Kategorie Christina Antenhofer

»Tout objet historique est fétiche.« (Jedes historische Objekt ist Fetisch.) Maurice Merleau-Ponty, Anmerkung zu Le Visible et l’Invisible (1964)1

1 F ETISCH ALS U NTERSUCHUNGSMODELL 1.1 Historisch-genealogische Linien: Zur Geschichte und Genese des Begriffs Fetisch Seit der Fetisch als Begriff in den Reiseberichten portugiesischer Seefahrer und Händler des 15. und 16. Jahrhunderts auftauchte und Charles de Brosses ihn schließlich in seinem Werk Du culte des Dieux Fétiches 1760 zum Konzept des Fetischismus weiterentwickelte, wurde er zu einem der zentralen Begriffe der Kulturtheorie, mit dem sich europäische Denker des 18. bis 20. Jahrhunderts mehrfach auseinandersetzten. Die aktuelle Vorstellung dessen, was unter Fetisch zu verstehen sei, steht in vieler Hinsicht in der Tradition dieser Denker und der daran anschließenden Debatten des 19. und 20. Jahrhunderts und weniger in jener der Geschichte des Begriffs in den Jahrhunderten zuvor. Zur Frühgeschichte des Fetischs liegt vor allem eine Studie vor: die in drei Aufsätzen in den späten 1980er Jahren erfolgte Auseinandersetzung von William Pietz mit dem Problem of the Fetish (1985; 1987; 1988). In Buchform gesammelt sind die Aufsätze in französischer Übersetzung 2005 erschienen. Laut Pietz ist das Konzept des Fetischs eine völlig neue Kategorie, die sich aus der Begegnung zwischen den westlichen, europäischen (portugiesischen) Händlern und deren afrikanischen Kontaktpersonen an der Küste von Guinea im 16. Jahrhundert bildete und die in dieser Form an keine frühere Debatte zu Objekten angebunden werden kann: Fetische sind weder eine Fortführung der in der antiken bzw. mit1 | Zitiert nach Pietz (1985: 5).

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telalterlichen Welt lokalisierten Idole, im Sinne von »Götzenbilder«, oder Reliquien, noch stimmen sie mit den religiösen Objekten überein, die in der afrikanischen Kultur verehrt wurden, bevor diese in Kontakt mit den europäischen Seefahrern geriet: Die ersten Berichte über die afrikanischen Fetische stammten von Afrikanern, die bereits ihrer ursprünglichen Kultur »entfremdet« waren. Laut Pietz ist Fetisso also ein völlig neuartiger Begriff für ein neuartiges Konzept, das in diesem interkulturellen, ökonomischen Kontext des Handels und der Seefahrt im lusophonen Atlantik geprägt wurde und dort eine Fülle von Funktionen übernahm: Es diente der Regelung der interkulturellen Kommunikation, der sozialen Beziehungen und des Handels und war zugleich Talisman und religiöses Schutzobjekt, das ebenso zur Besiegelung verbindlicher Geschäftsvereinbarungen herangezogen werden konnte – eine Art numen, auf das sich alle vertretenen Kulturen einigen konnten, weil es keiner ursprünglich angehörte und seine heterogene, zusammengesetzte Struktur Elemente aller Religionen vereinte. So erklärt sich von Anfang an der heterogene und hybride Charakter des Fetischs, der es erst zu einem geeigneten Objekt für diese Art des interkulturellen Austauschs und Kontakts macht. Der Fetisch ist also ein hybrides Produkt mit komplexen Funktionen, hervorgebracht in einer kulturellen Kontaktzone (Pietz 1985). »It was in the formation of this ›body of Afro-European commercial custom‹ that the Portuguese word ›feitiço‹ – meaning ›an object or practice pertaining to witchcraft‹ – came to designate a number of objects and pratices the Portuguese encountered among various African peoples.« (Pietz 1988: 108) Pietz fasst das Auftauchen dieses Begriffs im Sinne von Foucault als einen Bruch auf, der keine Kontinuitäten zurück erlaubt, sondern etwas völlig Neues markiert, das es zuvor so nicht gegeben hat. Nichtsdestotrotz zieht Pietz genealogische Linien des Begriffs zurück in die christlich-theologischen und insbesondere juristischen Debatten des Mittelalters. Ausgangspunkt ist dabei allein die Etymologie, somit der lateinische Begriff facticius, der dem portugiesischen Wort feitissio/fetisso zugrunde liegt, das in den genannten Berichten der portugiesischen Seefahrer des 16. Jahrhunderts auftaucht und die Basis aller Weiterentwicklungen des Begriffs in den europäischen Sprachen (Fetisch, fetish, feticcio, fétiche etc.) bildet. Im 17. Jahrhundert wird der Begriff von calvinistischen holländischen Kaufleuten polemisiert und sowohl für die afrikanische als auch für die portugiesische (katholische) Objektverehrung verwendet. Hierin schlägt sich der protestantische Ikonoklasmus nieder, der das 16. und 17. Jahrhundert prägt. Fetisch wird zu einem politischen Argument und Schlagwort in den interkonfessionellen Auseinandersetzungen (Pietz 1987: 39f.; 1988: 108, 120). Diese Stimmung ist noch ein Jahrhundert später fühlbar im Werk von William Bosman, A New and Accurate Description of the Coast of Guinea, Divided into the Gold, the Slave, and the Ivory Coasts (1705): »If it was possible to convert the Negroes to the Christian Religion, the Roman-Catholics

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would succeed better than we should, because they already agree in several particulars, especially in their ridiculous Ceremonies […].« (Bosman zitiert nach Pietz 1987: 39) Im 18. Jahrhundert wird der Begriff Fetisch in das Konzept des Fetischismus überführt. Dieses entsteht im Kontext einer säkularisierten, aufgeklärten Auseinandersetzung mit Religion, die das Wirken von spirituellen Kräften gänzlich außen vor lassen will. Die zentrale Arbeit, auf welche in Bezug auf die Genese des Fetischismus als theoretisches Konzept immer wieder verwiesen wird, ist das oben bereits kurz erwähnte, 1760 erschienene Werk Du culte des Dieux Fétiches ou Parallèle de l’ancienne Religion de l’Égypte avec la Religion actuelle de Nigritie von Charles de Brosses (de Brosses 1760). Mit diesem Buch, so lässt sich verkürzt argumentieren, tritt der Fetisch ein in die akademischen Debatten und wird zu einem mehrfach rezipierten Konzept wissenschaftlicher Theorien. Die bekanntesten Beispiele sind die bis heute lebhaft rezipierten Fetischismustheorien von Karl Marx und Sigmund Freud. Unterschlagen oder vergessen wird mitunter der Untertitel, den das Werk von de Brosses trägt – »die Auseinandersetzung mit der altägyptischen Religion«. Der neu geschaffene Fetischdiskurs erscheint damit dem zeitgenössischen ethnographischen Diskurs enthoben und eingebunden in eine historische Dimension. Er wird zum Konzept in der historiographisch geführten Religionsdiskussion, die den Fetischismus als eine der primitivsten Stufen des evolutionistisch gedachten Paradigmas der Religionen verortet, wo den Objekten Kräfte zugeschrieben werden, die nicht auf Götter verweisen – lokalisiert an den Randzonen der bekannten Welt sowie in den »Kindheitsstadien« der Geschichte, die in Ägypten2 verortet werden (Weder 2010). Gemeinsam mit Pietz darf Alfonso Maurizio Iacono wohl als einer der Pioniere der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Konzept des Fetischismus und seiner historischen Genese angesehen werden, wandte er sich doch bereits in den 1980er Jahren diesem Konzept zu, ehe es wieder »wissenschaftsfähig« wurde, wie die in jüngerer Zeit erschienenen Sammelbände und Monographien zum Thema andeuten (vgl. TobiaChadeisson 2000; Mistura 2001; Kohl 2003; Böhme 22006; Böhme/Endres 2010a). Iacono (1985; 1990; 1992) kennzeichnet die Entwicklung des aufgeklärten Fetischdiskurses entlang von Definitionselementen, deren Bedeutungsinhalte die europäischen Vorurteile gegenüber den als »primitiv« und »wild« gesehenen afrikanischen Religionen widerspiegeln. Die wiederholt genannten Kennzeichen des Fetischismus gelten zugleich als klassifikatorische Merkmale für die Systematisierung von Religionen in einem evolutionistischen Modell: Fetischismus wird als primitivste Stufe der Religion noch unterhalb des Polytheismus angesetzt, da er auf der materiellsten Ebene, nämlich jener der Verehrung von (nichtanimierten) Dingen angesiedelt sei. Entsprechend kennzeichne sich der Fetischismus 2 | Zur Ägypten-Rezeption und der Konstruktion von Ägypten-Bildern in Mittelalter, Renaissance und Neuzeit siehe Assmann (2000).

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durch folgende wesentliche Merkmale: Abwesenheit von Symbolisierung und Repräsentation, Resultate einer abstrakten Denkleistung, derer die Afrikaner nicht fähig seien; Äußerlichkeit des Kults, der von rein materiellen Interessen bestimmt sei in einem von ökonomischen Kriterien diktierten System des do ut des; schließlich Zufall in der Wahl des Fetischobjekts − das erstbeste Objekt, das der »Wilde« findet, wird zu seinem Fetisch. Hierin spiegelt sich die Einordnung Afrikas als chaotische, gesetzeslose, anarchische Gesellschaft außerhalb der Zivilisation. Der derart gezeichnete »Wilde« wird mit dem Primitiven gleichgesetzt und zugleich zum Spiegel des Anfangs der Menschheit. Die räumliche Entfernung (Fremde bzw. Wildnis) wird mit einer zeitlichen Entfernung gekoppelt (Primitivismus). Damit liegt eine Denkfigur vor, die die abendländische Auseinandersetzung mit außereuropäischen Kulturen fortan bestimmen wird: »Voilà l’observateur occidental placé au sommet de sa montagne-fétiche, image même de la supériorité de sa civilisation. L’›autre‹ est son miroir reculé dans le temps.« (Da steht der westliche Beobachter auf dem Gipfel seines Fetischberges, Bild selbst der Überlegenheit seiner Zivilisation. Der »Andere« ist sein Spiegel, entfernt in der Zeit.) (Iacono 1992: 17)

Der erste Aspekt der oben beschriebenen religionsphilosophischen Konstruktion des Fetischismus – nämlich der Fetisch sei reine Materialität und verweise nicht auf eine transzendente Macht oder auf Götter – regt insbesondere zur Kritik an, weil hierin das »immense Missverständnis« den afrikanischen Religionen gegenüber begründet liegt, wie es Marcel Mauss formulierte (Mauss 1995 [1908]). Es wurzelt in der Vorstellung der reinen Willkürlichkeit, der völligen Irrationalität, die in der Verehrung des »erstbesten« Objekts liege, das den Fetischisten unterkomme. Dieses erstbeste Objekt sei nicht nur willkürlich ausgewählt, sondern auch wertlos und unästhetisch, verbunden mit dem Körper der Trägerin oder des Trägers und Spiegel der chaotischen, irrationalen sozialen Ordnung der afrikanischen Gesellschaft. In der Folge dieser Kritik seitens Mauss’ geriet der Fetisch in der ethnologischen Forschung in Misskredit und wurde aus dem Forschungsvokabular verbannt. Erst in letzter Zeit und in Auseinandersetzung mit Latours Neuadaptierung des Konzepts nähert sich auch die Ethnologie wieder diesem Begriff an (siehe Brittes in diesem Band). Von Anfang an wurden Fetische zudem mit (afrikanischen) Frauen in Verbindung gesetzt, die solcherart »gemaßregelt« wurden. So sei ihnen das Essen von bestimmten »Fetischspeisen« verboten, um ihre Treue gegenüber ihren Ehemännern zu garantieren; dies mache ihre – von den europäischen Beobachtern als »exzessiv« skizzierte – Sexualität und Verführungskraft notwendig (Pietz 1988: 114): Der Fetisch diente allein durch die Furcht, die er auslöste, als Disziplinierungsobjekt; er hatte nämlich todbringende Macht (Pietz 1988: 106). Die überzogene Sexualisierung der afrikanischen Frauen durch die europäischen Händler – eine Folge des Missverstehens polygamer Gesellschaften ebenso wie der häufigen se-

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xuellen Verbindungen zwischen Afrikanerinnen und Europäern – führte etwa im Bericht des englischen Sklavenhändlers John Atkins gar zu einer erotischen, femininen Konnotation des Verbs »to fetish« (Pietz 1988: 111).3 Neben dieser Verbindung mit dem Fremden, Irrationalen, Weiblichen, Sexuellen, Primitiven haftet dem Begriff des Fetischs noch eine weitere kontextuelle Bindung an: Er ist eng verbunden mit der (früh-)kapitalistischen Gesellschaft, der Welt des Handels, der Ware, einer Welt, in der Objekten ein Wert zugeschrieben wird, der als rational oder irrational begriffen wird (Sansi 2007). Die afrikanische Wertschätzung der (unästhetischen, wertlosen) Fetische steht diametral der Missachtung des (ökonomischen) Werts des Goldes in der afrikanischen Gesellschaft gegenüber, das die Afrikaner bereitwillig gegen billigen Tand (trifle) der europäischen Seefahrer eintauschten: »The key notion that was elaborated to explain perceived African confusion regarding the religious and economic value of material objects was that of the trifle. Early European voyagers were above all interested in trading for gold. Prior to the discovery of the Mina coast, gold was obtained in the form of rings, bracelets, and other personal ornaments. In a typical passage, the fifteenth-century Venetian trader Cadamosto recounts how ›from the Negroes in canoes [at the River Jeba] we obtained some gold rings in exchange for some trifles [di alcune cosette], buying and selling without speaking to them‹.« (Pietz 1987: 41)

Dies wird zum Sinnbild der Verkehrung der Werte, an die Marx später anknüpfen wird. Nicht zuletzt steht die Fetischismusdebatte und das darin entworfene Bild einer »primitiven, rein an materiellen (Fetischen) orientierten« afrikanischen Bevölkerung in engem Zusammenhang mit dem Sklavenhandel, der durch den Fetischdiskurs und die entsprechende »Verdinglichung« der Afrikanerinnen und Afrikaner mit legitimiert wurde: »The slavishness of the situation of the fetish worshiper lay in the infantile submission of his inner autonomous will to the random determinations of the mechanism of natural events. Such characterization of the essential slavishness of the black African prior to actual enslavement by Europeans was a solution to the fundamental ideological problem of Guinea merchants (›ideological‹ in the modern sense of ›how you have to think in order to feel morally good about yourself, given what you actually do‹).« (Pietz 1988: 112)

Die Fetischismusdebatte wurde in der Zeit der Aufklärung weitergeführt und ausgebaut, wobei durchaus konträre Standpunkte eingenom3 | Zu einer frühen feministischen Auseinandersetzung mit Fetischismus insbesondere aus einer psychoanalytischen Perspektive und für den Zeitraum des Fin de Siècle siehe Apter (1991). Gemeinsam mit Pietz hat Apter 1993 den Sammelband Fetishism as cultural discourse herausgegeben.

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men wurden, die sich insbesondere an der Frage der Religion und der Wahrnehmung Afrikas orientierten. Zwei Extrempositionen nahmen Immanuel Kant und Georg Wilhelm Friedrich Hegel ein: Für Kant ist eine fetischistische Haltung nicht an eine bestimmte Religion und an die Verehrung von Objekten gebunden, vielmehr bezeichnet er mit »Fetischmachen« (Kant 1968 [1793]) jede religiöse Haltung, die nicht aus einer inneren Spiritualität erwächst, sondern materiellen Interessen dient (Kohl 2003: 78ff.; Böhme 22006: 209). Hegel wiederum zeichnet anhand der Fetischdebatte das Bild eines Afrikas, das für ihn ein Kontinent außerhalb der Geschichte und damit außerhalb der Zivilisation ist (Kohl 2003: 81-85; Böhme 22006: 210f., 215). Mit Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte von 1837 (Hegel 1986 [1837]) wird Fetischismus zudem in Zusammenhang mit Ästhetik gesetzt und insbesondere zu einer Figur der Auseinandersetzung mit den Künsten (Böhme/Endres 2010b: 17). Eine positive Note des Fetischismus entdeckt Auguste Comte (21974 [183042]), der ihn als erste Stufe einer »weltgeschichtlichen Aufwärtsentwicklung« festschreibt; mit ihm beginne die »Geburt jeder Zivilisation«, jene Stufe, auf der die Menschen den Gefühlen ebenso wie der Natur und den Lebewesen am nächsten stehen, vor der »Nebelregion der Transzendenz« bewahrt (Böhme 22006: 212f.). Damit ist der Fetischismus ein geradezu musterhaftes positivistisches Zeitalter; die negativen Eigenschaften werden der Theologie angelastet (Böhme 22006: 212-215; Kohl 2003: 86-91). In einer direkten Rezeption der ethnographischen Schriften nehmen auch zwei weitere Denker des 19. und 20. Jahrhunderts das Fetisch- und Fetischismuskonzept auf und führen es weiter in je eigene begriffliche und konzeptionelle Traditionen, die bis heute die beiden dominierenden Rezeptionslinien des Fetischbegriffs und -konzepts sind und die jeweils eine kaum überblickbare produktive Theoriebildung nach sich gezogen haben und nach wie vor ziehen: das Marx’sche Konzept des Waren- und Geldfetischismus (Marx 1968 [1844]; 1968 [1867]; Artous 2006) sowie das psychoanalytische Konzept des Fetischs als Objekt des Ersatzes laut Freud (Freud 1999 [1927]; Mistura 2001).

F ETISCH ALS HEURISTISCHE K ATEGORIE Voyage

Ethnography

Religion

Aesthetics

Merchandise

Sexuality

Fetisso: hybrid product of cultural encounter in the lusophone Atlantic (15th/16th c) Fetish: concept of religious propaganda in interconfessional debates (17th c) Fetish as ethnographic concept of social (dis-)order, immorality, irrationality and chaos (Bosman 1705) Fetishism as first step of religious history (»materialistic« non-transcendent religion) (de Brosses 1760) Fetishism as philosophical concept of religious history (Comte 1830-42), religious criticism (Kant 1793), cultural and aesthetic discourse (Hegel 1837) Fetishism of value, merchandise and money (Marx 1844) Sexual Fetishism (of substitution) (Freud 1927)

Abb. 1: Genealogical lines of fetish and fetishism and conceptual fields related to them

1.2 Semantische Linien des Fetischkonzepts »The complex discourse of the Fetisso mapped out a semantic field that brought together religious, aesthetic, erotic, commercial, and sociopolitical meanings.« (Pietz 1988: 115)

Die komplexe Geschichte des Begriffs Fetisch und des daraus hervorgegangenen Konzepts des Fetischismus, die über fünf Jahrhunderte lang daran gekoppelten Debatten, Polemiken und theoretischen Positionierungen trugen keineswegs zu einer Klärung oder gar Definierung des Gegenstandes bei, der mit Fetisch und Fetischismus zu verstehen sei: Der Fetisch entzieht sich seit seinem Auftauchen dem Zugriff seiner Erforschung, worin sich bis heute ein guter Teil seiner Faszination wie seiner Irritationskraft erhalten haben mag. Diese von Anfang an präsente Heterogenität zeigt sich deutlich in der fetisso-Illustration, die den Umschlag dieses Bandes ziert, wie auch in der hier abgedruckten Gesamtansicht − Tafel 7 von Jean Barbots A Description of the Coasts of North and South Guinea (Barbot 1732). Neben einem Fetisso-Idol in einer Schüssel finden sich zwei Mal ein »Fetisso Tree«, ein »Mountain Fetisso« sowie in der darunter angeführten Illustration vage definierte »other Sorts of Fetissos«, mit Federn geschmückte Kreationen, die säuberlich aneinandergereiht neben Waffen, Ketten, Gefäßen platziert sind. Allein diese »other Sorts of Fetissos« und das fetisso-Idol scheinen auf die so häufig betonte »Gemachtheit« des Fetischs zu verweisen – auf den Fetisch als von Menschen geschaffenes materielles Ding. Das obere Bild mit dem »Mountain Fetisso« und dem

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Abb. 2: Originalillustration aus Jean Barbot. »A Description of the Coasts of North and South Guinea.« A Collection of Voyages and Travels. Bd. V. Hg. Awnsham Churchill und John Churchill. London 1732. Tafel 7. Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Niedersächsischen Staatsund Universitätsbibliothek Göttingen, Abteilung für Handschriften und Seltene Drucke

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»Fetisso Tree« weist demgegenüber darauf hin, dass auch Elemente der Natur als Fetische betrachtet wurden. Die verbale Beschreibung, die Barbot von diesem fetisso gibt, den er in mittelalterlicher Terminologie noch als »Idol« bezeichnet, verdeutlicht die Heterogenität der Bestandteile, welche zusammenwirken, damit der Wille des »Idols« gedeutet werden kann: »The Black’s idol was in the shape of a large Bologna sausage, made of a composition of bugles, glass beads, herbs, clay, burnt feathers, tallow, and threads of the consecrated tree, all pounded and moulded together, having at one end an antick, rough and misshapen human countenance, and was set up in a painted deep calabash, or gourd, among abundance of small stones and bits of wood, with kernels of small nuts, and bones and legs of chickens, and other birds, as it is represented in the cut. All which trash, I was told, served the Black to know the will of the idol, when he made any request of it, or asked a question, by observing the disposition of those several things, after overturning the gourd or calabash.« (Barbot 1732: 312, zitiert nach Pietz 1988: 112, Fußnote 12)

Der Aspekt der Gemachtheit des Fetischs ist laut Pietz der etymologischen Wurzel des Wortes – dem lateinischen facticius – inhärent. Diese etymologische Wurzel verfolgt Pietz zurück in spätantike und mittelalterliche Quellen (Pietz 1987). Facticius verortet er in der christlich-theologischen Debatte rund um die Frage des Verhältnisses des Menschen zur Schöpfung eigener Objekte.4 Facticius ist eine Ableitungsform des lateinischen facere, in der Bedeutung von »machen, anfertigen«. Die Debatten drehen sich also um von Menschen gefertigte Objekte in Abgrenzung zu von Gott geschaffenen Werken. Berührungspunkt und Auslöser von Konflikten in den späteren protestantischen Debatten ist die Hostie als von Menschen gefertigtes Objekt, das in der Eucharistie in den Leib Christi transformiert wird. In Zusammenhang mit dieser Debatte steht die Frage der Verehrung von Objekten im Christentum (Rosenkranz, Amulette, Reliquien etc.), die zu entsprechenden Erklärungsmodellen von theologischer Seite führte. Allerdings spielt der Begriff facticius in diesen mittelalterlichen Debatten eine marginale Rolle. Wesentlicher ist in diesen Texten vielmehr die Abgrenzung gegen das Idol und die als Idolatrie bezeichnete Bilderverehrung. Beide Begriffe finden sich bereits in der Bibel und werden insbesondere in den frühchristlichen Texten mit einer Fülle an Bedeutungen aufgeladen, die eine Definition von Idol, Idolatrie oder Idololatrie mindestens so komplex gestalten wie jene des Fetischs (siehe hierzu Schnegg in diesem Band). Im engeren Sinn ist der Prototyp des Idols das goldene Kalb, das von Moses zerstört und zum Sinnbild eines ikonoklastischen Akts an 4 | Dies geht bis hin zur entsprechenden »Gestaltung« des eigenen Körpers, was Augustinus am Beispiel der Eunuchen debattierte. Facticius wird demnach jener Eunuch genannt, der von Menschen zum Eunuchen gemacht wird (Pietz 1987: 27f.).

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einem Götzenbild wurde (Assman 2000). In der christlichen mittelalterlichen Theologie bezeichnet Idolatrie die heidnischen Religionen, in denen die Idole den Platz der Schrift in den drei »Buchreligionen« Christentum, Judentum und Islam einnehmen. Idolatrie steht dann für ein an Glauben und Gesetz gebundenes soziales Ordnungssystem: »[…] idolatry, which medieval Europe understood as a Faith and Law – that is, a principle of social order comparable to Christianity, Judaism, and Islam.« (Pietz 1985: 8) Idolatrie bleibt darüber hinaus ein polemisches Wort zur Bezeichnung jeder Art unorthodoxer religiöser Praktiken, insbesondere aber der Verehrung von Bildern.5 Verbreiteter ist der Begriff facticius demgegenüber in den christlichen juristischen Texten des Mittelalters, wo er allerdings in engem Zusammenhang mit Zauberei geführt wird. Bezeichnenderweise kommt es erst im 15. Jahrhundert zu einer begrifflichen Differenzierung des Konzepts der Zauberei, das zur Prägung etwa des Begriffs Hexe in der deutschen Sprache führt, ebenso wie im Portugiesischen hierfür bereits der Begriff des fetisso Anwendung findet (Pietz 1987). Facticius something that is constructed (by humans as opposed to by God)

Idol worshipped (holy) image Idol adjective related to idolatry (»pagan«)

Facticius people changing their bodies (eunuchs, athletes, women)

Relic remnant (of venerated human body) (saints/heroes)

Feitisso practices, feitiçaria sorcery

Idolatry system of pagan social order (law and religion)

Abb. 3: Ancient and medieval roots and related notions of fetish and fetishism Wenngleich somit aufgrund dieser von Anfang an präsenten Heterogenität des Begriffs Fetisch und seiner älteren in den Quellen belegten Formen fetissio und facticius ebenso wie seiner Weiterentwicklungen in den neuzeitlichen Debatten jeder Definitionsversuch scheitern muss, so lassen sich dennoch semantische Linien erkennen, entlang derer der Gebrauch der Begriffe Fetisch und Fetischismus erfolgt. Pietz bestimmt aus den historisch-genealogischen Linien des Fetischbegriffs und den daran geknüpften Diskursen folgende vier Themen, die eng mit dem Konzept Fetisch verbunden sind, und die ihm zufolge auch alle weiteren Debatten und

5 | Die Geschichte der christlichen Bilderverehrung ist beispielhaft aufgearbeitet worden von Hans Belting (6 2004).

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theoretischen Auseinandersetzungen – einschließlich so radikaler Neubestimmungen des Konzepts durch Marx und Freud – prägen6: Materialität: Der Fetisch ist ein materielles Objekt, er ist kein Zeichen, kein Symbol, er hat keine figurative Bedeutung, allenfalls metonymische. Die Materialität des Fetischs steht in keiner Relation zu seinem ökonomischen oder ästhetischen Wert. Singularität und Historizität: Der Fetisch wird durch ein historisches Ereignis zu einem Fetisch. Das Ereignis hat seine Wirksamkeit bewiesen, und diese Wirksamkeit kann wieder und wieder erreicht werden. Es geht um die Wiederholbarkeit des Effekts eines Ereignisses. Der Fetisch ist die materielle Verdichtung des historischen Ereignisses und gleichsam Beweis (oder Hoffnungsträger) für die Wiederholbarkeit. Der Fetisch ist immer ein heterogenes Gebilde, das sich aus verschiedenen Komponenten zusammensetzt.7 Soziale Bedeutung: Der Fetisch dient zur Regelung sozialer Beziehungen, er hat eine kommunikative bis hin zu einer disziplinierenden Funktion. Er steht an Stelle der Gesetze und nimmt zudem eine Rolle in der Beurteilung und Zuschreibung sozialer Systeme ein: Europa = Gesetze/Rationalität, Afrika = Chaos/Fetisch. Der Fetisch hat einen sozialen Wert in einem sozialen System. Allerdings berührt er hier die Grenze des Totems, das Lévi-Strauss als soziales Objekt im Gegensatz zum persönlichen Fetisch definierte (1997 [1962]). Personalität und Individualität: Der Fetisch steht in engem Bezug zu einem Individuum, mit dem er sogar körperlich verbunden ist. Dies geht so weit, dass der Fetisch den Körper des Individuums selbst ersetzen kann. Der Fetisch hat einen persönlichen Wert für das Individuum (dieser steht wiederum in keiner Relation zu seinem ökonomischen oder ästhetischen Wert). Der Fetisch muss berührt werden, in Kontakt zum Körper stehen. 6 | Pietz entwickelt sein theoretisches Modell des Fetischs in diesen drei Aufsätzen in mehreren Etappen. 1985 formuliert er folgende »criteria for the construction of a preliminary theoretical model of the fetish from the recurrent themes of fetish discourse. The first characteristic […] is that of the fetish object’s irreducible materiality. […] Second […] is the theme of singularity and repetition. […] The two final themes […] are the themes of social value and personal individuality.« (1985: 7ff.) Im einleitenden Teil seines 1987 publizierten zweiten Aufsatzes zum Problem of the Fetish nennt er folgende Themen, die die Idee des Fetischs in allen Diskursen bestimmen: »(1) the untranscended materiality […]; (2) the radical historicality of the fetish’s origin […]; (3) the dependence of the fetish for its meaning and value on a particular order of social relations, which it in turn reenforces; and (4) the active relation of the fetish object to the living body of an individual.« (1987: 23) 7 | Diesen Ereignischarakter des Fetischs betont insbesondere auch Sansi (2007).

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Aus den neueren Arbeiten zum Fetisch und Fetischismus lassen sich noch folgende weitere wesentliche semantische Bestandteile des Fetischkonzepts gewinnen: Die Anthropologen Kohl (2003) und Sansi (2007) betonen, dass der Fetisch in der afrikanischen Kultur erst durch die Begegnung mit den katholischen Idolen der Portugiesen entstanden sei und ein Paradebeispiel einer Hybridbildung in einer interkulturellen Kontaktzone darstelle. Aus diesem besonderen Konzept erklärt sich seine soziale Bedeutung – in der Art einer Übersetzungsleistung zur Regelung der Beziehungen zwischen den Portugiesen und den Afrikanern. Die Neuartigkeit der derart entstandenen Fetische, die keine der beiden Kulturen so zuvor kannte, zeigt sich für die afrikanischen Kulturen darin, dass deren KultStatuen zuvor nicht anthropomorph waren. In dieser Betrachtung kommt dem Fetisch somit die Rolle eines (kreativen) Vermittlers/Übersetzungscodes zu. Eine hier anschließende Lesart bietet der französische Soziologe Latour, der auf das im Fetisch angelegte kreative Potential durch seine Neuprägung zweier Konzepte verweist: a) das Konzept des faitiche, das auf die Frage der Gemachtheit sowie auf das schöpferische, kreative Potential des Fetischs verweist. Hier berühren sich die Frage nach dem Ursprung des Fetischs (von Menschen/von den Göttern geschaffen) und jene danach, was der Fetisch mit den Menschen macht; b) das Konzept des iconoclash, das auf die Zerstörung des Fetischs hinzielt. Doch selbst dieser Akt der Zerstörung enthält kreatives Potential, denn dadurch wird der Fetisch nicht entmachtet, sondern wiederum zu einem neuen Fetisch, diesmal der Antifetischisten. So wie es naiv wäre, zu denken, die Afrikaner von Guinea hätten wirklich Fetischismus praktiziert, wäre es genauso naiv, die Portugiesen als »Idioten« darzustellen. Sie hatten tatsächlich die im Fetisch gebundene gefährliche Kraft ausgemacht: Nicht die Tatsache der Gemachtheit des Fetischs erschreckte sie, sondern der von den Afrikanern tolerierte augenscheinliche Widerspruch, dass der Fetisch als von Menschen gemacht erkannt und dennoch als göttlich verehrt wurde. Das Eigenartige am Fetisch sei, dass er es schaffe, zugleich geschaffen zu sein und nichtgeschaffen (Latour 1996; 2009).8 Die Eigenart des Fetischs lässt sich demnach insbesondere an zwei Faktoren ausmachen: 1) an der Tatsache, dass er die Menschen polarisiert in Fetischisten/ Antifetischisten; Neutralität ist dem Fetisch gegenüber kaum möglich, was sich wiederum in ikonoklastischen Akten entlädt. In jedem Fall führt 8 | Latour entwickelt im Weiteren, ausgehend von diesem Beispiel des Fetischs, die Problematik der »fetischistischen« Faktengläubigkeit der modernen Wissenschaft; fait (Fakt) ist ein weiteres Element des Wortspiels faitiche.

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das im Fetisch gebundene kreative Potential zu Handlungen (der Verehrung, der Zerstörung); er hat also gleichsam performative Kraft. 2) Der Fetisch schafft es, den Akt seines eigenen Ursprungs zu transformieren, denn auch wenn man wisse, dass er von Menschen geschaffen, ein Artefakt sei, sei dies für seine weitere Nutzung irrelevant. Der Fetisch hat, so Latour, die Macht, den Ursprung seiner Kraft umzudrehen. Er modifiziert die Qualität selbst der Handlung und der menschlichen Arbeit. Wenn man nun den Fetischglauben ein für alle Mal beseitigen würde, was der kritische Geist versucht, was würde dann geschehen? »Enthousiasmé par la dénonciation critique, l’homme se trouverait enfin seul maître de lui-même dans un monde vidé, pour toujours, de ses idoles. Le feu que Prométhée avait dérobé aux dieux, la pensée critique le déroberait à Prométhée lui-même. Le feu ne proviendrait que de l’homme et de lui seul.« (Begeistert von der kritischen Denunziation würde sich der Mensch endlich als alleiniger Meister seiner selbst in einer Welt wiederfinden, die für immer von seinen Idolen entleert wurde. Das Feuer, das Prometheus den Göttern gestohlen hatte, würde das kritische Denken von Prometheus selbst stehlen. Das Feuer würde nur vom Menschen stammen und nur von ihm allein.) (Latour 2009: 32)

marker of border between the own and the other

Historic aspects material representation of an event; hybrid concept of cultural contact linked to death, danger and fear (in an uncertain, unfamiliar world of transition)

Semiotic aspects aniconic, antisemiotic concept of oneness against dualism; figure of metonymy; figure of substitution; pure positivistic, material concept; untranscended materiality

Communicative and social aspects (creative) broker; code of translation; means of social communication; means of social disciplining; personal concept linked to an individual and its body

Creative aspects constructed object; capacity of transformation (of its own origins); creative power leading people to action, no neutral attitude towards the fetish

capacity of irritation (polarization) driving people to action

Abb. 4: Semantic lines of the concept of fetish and fetishism and related conceptual fields

modern phenomenon (linked to modern individual and society)

Hier taucht nun laut Latour das nächste Problem auf, denn der kritische Geist weiß nie, wem er nun diese Kraft zurückgeben soll, die er den Objekten genommen hat – soll man sie dem Individuum als Meister seiner selbst wie des Universums zurückgeben oder soll man sie einer Gruppe von Individuen zurückgeben? Nach dem Zerschlagen der Idole merkt das (aufgeklärte) Individuum (der Moderne) vor allem eines, dass es nicht

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alleine ist, dass es vielmehr seine Existenz mit einer Gruppe teilt. Insofern markiert der Fetisch nach Latour die Grenze zwischen Individualität und der sozialen Bedingtheit und Gebundenheit des Menschen (Latour 2009). Die Einschätzung des Fetischs als eigentliches Problem des modernen Menschen und damit die Deklarierung des Fetischismus als moderne Erscheinung findet sich ähnlich als zentrale These bei Böhme (22006). Iacono schließlich sieht den Fetisch vor allem mit der Figur der Substitution verbunden: Der Fetisch ist das Objekt des Ersatzes (Iacono 2001; 2010). Als Figur des Ersatzes verewigte insbesondere Freud den Fetisch in seiner Geschichte des Knäbleins, das aus Kastrationsangst die Wahrnehmung des physischen Unterschiedes zwischen Mann und Frau verleugnet, indem es den fehlenden Phallus der Mutter durch einen Fetisch ersetzt (Freud 1999 [1927]). Weitergeführt zur Figur des Fetischs als Leerstelle wird dieser Aspekt in den Arbeiten von Jacques Lacan (Lacan/Granoff 1956; Lacan 2003 [1956-57]).

2 F ETISCH ALS HEURISTISCHE K ATEGORIE 2.1 Ausgangspunkt des Bandes »The destabilizing potential of the concept of the fetish, and of the objects it names, has been throbbing since its emergence. But to utilize this potential, we should take it seriously, without reducing it to illusion or hypostasis, then we might have in our hands a powerful heuristic and transformational category.« (Rogério Brittes W. Pires) 9

Der Fetisch enthält als Begriff ein Irritationspotential, das am Ausgangspunkt dieses interdisziplinären Bandes steht. Die These, die zur Diskussion gestellt wird, ist, dass sich entlang des Gebrauchs des Begriffs Fetisch Irritationslinien aufzeigen lassen, die je nach Disziplin und historischem Kontext unterschiedlich aussehen können. Der Begriff Fetisch kann die Grenze zwischen Rationalität und Irrationalität markieren, zwischen Vernunft und Chaos, Angemessenheit und Frivolität, Bewusstheit und Unbewusstheit, in weiterer Folge sogar Dichotomien zwischen Kultur und Natur, Mann und Frau, Individuum und Kollektiv. In diesem Irritationspotential sehe ich den Wert des Begriffs Fetisch als heuristische Kategorie und damit auch die Möglichkeit, den in den Kulturwissenschaften vielfach missverständlich gebrauchten Begriff in eine neue, fruchtbare Diskussion zu bringen. Demnach geht es weniger darum, Objekte und Objektkult als Fetische und Fetischismus zu definieren; es geht auch weniger darum, den heterogenen Begriff semantisch eindeutig zu definieren; es geht letztlich auch nicht darum, eine Genealogie der Fetische in einer historischen Perspektive zu schreiben. – Alle diese 9 | Englischer Wortlaut des Schlussparagraphen (vgl. Brittes in diesem Band).

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Ansätze haben in jüngerer Zeit ihre Beachtung und Bearbeitung gefunden (Pouillon 1970; 1975; Pietz 1985; 1987; 1988; 2005; Iacono 1985; 1992; Tobia-Chadeisson 2000; Kohl 2003; Böhme 22006). Es soll hingegen eine Diskussion zum Wert der Kategorie Fetisch für wissenschaftliche Fragestellungen und dem daraus resultierenden möglichen Erkenntnisgewinn erfolgen; diese kann und muss sich durchaus an den gerade skizzierten Aspekten – Semantik und Etymologie des Begriffs, historische Entwicklung des Konzepts und der (möglichen) »Fetisch-Objekte« – orientieren, wozu dieser Band explizit einlädt. Um die Diskussion zu fokussieren, bieten sich folgende zwei Leitlinien an, entlang derer die Kategorie Fetisch beleuchtet werden kann: Dabei geht es zum einen um eine begriffsgeschichtliche Analyse, die die Verwendung und Entwicklung des Begriffs Fetisch sowie des damit in Zusammenhang stehenden Fetischismus betrachtet. Zum anderen geht es um eine Betrachtung des Konzepts, das sich im Begriff des Fetischs verdichtet, jedoch nicht mit diesem Begriff alleine korreliert. Aus dieser Ausgangslage ergaben sich folgende leitende Fragestellungen und Themen des Bandes: 1) die konzeptuelle Bestimmung des Begriffs Fetisch in den Werken von Theoretikern des Fetischismus; 2) die Verortung des Konzepts des Fetischs (vor- und außerhalb der Korrespondenz mit dem Begriff selbst) in speziellen Diskursen: dem christlich-theologischen, juristischen, historischen, ästhetischen, politischen und ethnographischen; 3) die Verortung von historischen Fallbeispielen anhand des entlang der zuvor angeführten historisch-genealogischen und semantischen Linien skizzierten Untersuchungsmodells Fetisch. Diese leitenden Fragestellungen sowie das – aus den historisch-genealogischen und semantischen Linien des Konzepts gewonnene – Untersuchungsmodell Fetisch wurden dem Call for Papers zugrunde gelegt, das der Konzeption des Bandes vorausging und zur kritischen Diskussion aller Beiträge bei einer Tagung am 3. und 4. Juni 2010 in Innsbruck diente. Von Anfang an war es nicht das Ziel, eine konsensuale Diskussion zu führen, sondern möglichst viele und auch heterogene Positionen zur Verwendung des Konzepts Fetisch als heuristische Kategorie zusammenzuführen. Daraus ergab sich das Fehlen einer gemeinsamen Leitdefinition, auf die sich alle Teilnehmenden hätten verpflichten müssen − an ihre Stelle wurde vielmehr das offene Untersuchungsmodell Fetisch gestellt, das entlang der aufgezeigten semantischen Linien auf seine Anwendbarkeit überprüft werden konnte. Da der Band in enger Kooperation mit der interdisziplinären Forschungsplattform politik religion kunst. plattform für konflikt- und kommunikationsforschung10 der Universität Innsbruck, namentlich im Methodenund Theoriecluster Politische Ästhetik: Theorie & Methode entstand, in dem seit fünf Jahren ein enger Austausch zwischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern verschiedener geistes- und sozialwissenschaftlicher Dis10 | http://www.uibk.ac.at/politik-religion-kunst (besucht am 01.03.2011).

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ziplinen stattfindet, ergab sich die interdisziplinäre Ausrichtung des Bandes nahezu von selbst. Der Konzeption des Bandes war gleichermaßen die Verbindung von in der Fetischismusforschung ausgewiesenen Forschern/-innen mit Wissenschaftlern/-innen, die sich diesem Konzept bislang nicht gewidmet hatten, von Anfang an inhärent. Es sollte mit diesem Buch nicht der Anspruch verfolgt werden, den derzeitigen Stand der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Fetisch und Fetischismus abzudecken. Vielmehr wird bewusst angestrebt, Fetisch als heuristische Kategorie auch in Disziplinen zu beleuchten, die diesen Begriff (bislang) nicht, kaum oder nur in bestimmten Kontexten verwenden. Hier soll exemplarisch überprüft werden, ob die Anwendung dieses Begriffs auf andere Wissenschaftskontexte als auf jene, in denen er bislang üblich ist – namentlich dem ethnologischen, religionshistorischen, psychoanalytischen und ökonomischen – einen Erkenntnisgewinn sowohl in Bezug auf den Begriff als auch auf das Selbstverständnis der jeweiligen Disziplin ermöglicht. Der Gedanke, der diesem Experiment zugrunde liegt, ist, dass Fetische keine historischen Tatsachen sind, sondern vielmehr Konstrukte und somit heuristische Kategorien, die aufgrund der mit diesem Konzept von Anfang an verbundenen Tabuisierung und Ideologisierung dazu führten, dass sie nur auf bestimmte »pathologisierte« oder »primitivisierte« Untersuchungsgegenstände (Perverse, afrikanische Religionen, kapitalistische Konsumenten/-innen) angewendet wurden. Gleichermaßen liegt diesem Experiment die Überzeugung zugrunde, dass der Fetisch – und hier folge ich Latour – ein kreatives Potential in sich birgt, das meines Erachtens gerade für eine neue, »verfremdete« Betrachtung von Untersuchungsgegenständen genutzt werden kann. Darin wäre demnach das heuristische Potential dieses enfant terrible der Wissenschaftsgeschichte zu sehen. Selbstredend stand es allen Beteiligten frei, als Ergebnis dieser Fallanalyse auch einen negativen Befund zu stellen, nämlich dass sich der Begriff Fetisch und dessen semantische Linien nicht oder nur zum Teil für die Beleuchtung der betrachteten Fallbeispiele eignen. Für die Kohärenz der Diskussion bei dieser interdisziplinären Zusammenstellung wurde zum einen auf das Call for Papers im Vorfeld zurückgegriffen, zum anderen dessen Inhalt nochmals in diskussionsleitende Fragestellungen überführt, die bei der Tagung als Matrix den Diskussionen aller Beiträge zugrunde gelegt wurden: 1) Welchen heuristischen (Mehr-)Wert bringt die Verwendung des Konzepts Fetisch/Fetischismus im jeweiligen Beitrag/in der jeweiligen Disziplin? 2) (Wie) Wird das Konzept Fetisch/Fetischismus in den jeweiligen Disziplinen verwendet? Welche Bedeutung kommt diesem Konzept zu? 3) Welche korrelierenden/konkurrierenden Begriffe sind in Gebrauch? Kommt im Spannungsfeld unterschiedlicher Begrifflichkeiten dem Fetisch/Fetischismus spezielle Bedeutung zu?

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4) Lässt sich die These des Fetischs als Marker von Irritationslinien im jeweiligen Beitrag stützen? Entlang welcher Verwerfungslinien lassen sich Irritationen aufzeigen, die der Begriff Fetisch bündelt? 5) Historische Fallbeispiele: Lassen sich die genannten Beispiele unter dem Begriff des Fetischs/Fetischismus fassen bzw. erlaubt die Verwendung dieser Begriffe/Konzepte einen veränderten Blickwinkel oder gar einen Erkenntnisgewinn? 6) Lassen sich die theoretischen Konzepte des religionsphilosophischen, ethnologischen, ästhetischen, marxistischen und psychoanalytischen Fetischismusdiskurses auf einen gemeinsamen Nenner bringen? Gibt es ein umfassendes Konzept des Fetischismus/Fetisch? 7) Brauchen wissenschaftliche Untersuchungen im 21. Jahrhundert (noch) den Begriff Fetisch/Fetischismus?

2.2 Die einzelnen Beiträge und der Aufbau des Bandes Der Aufbau des Bandes orientiert sich nicht an den einzelnen vertretenen Disziplinen, sondern versucht vielmehr der Genese und Anwendung des Fetischbegriffs entsprechende und diese widerspiegelnde Aspekte herauszugreifen; insofern wird damit bereits eine Antwort auf die im Titel implizierte Fragestellung nach dem Wert des Fetischs als heuristische Kategorie gegeben, wenngleich diese wie immer eine interpretatorische Annäherung bedeutet. Diese orientiert sich an den zentralen Phasen der Geschichte des Begriffs, dessen Interpretation und schließlich Rezeption in verschiedenen historischen Abschnitten und unterschiedlichen Disziplinen. Nicht alle Beiträge der Innsbrucker Tagung gingen in den Band ein: Der althistorische Beitrag Der Blick auf das griechische Kultbild (Birgit Gufler, Innsbruck) sowie jener zu Fetischismus bei Lacan oder: Was ist eine Perversion? (Andreas Kriwak, Innsbruck) wurden von der Autorin bzw. dem Autor aus Termingründen abgesagt. Der Beitrag von Christine Weder (Universität Basel) Zur paradoxen Signifikanz des Fetischs für die Kultur- und Literatursemiotik stand von Anfang an als reiner Diskussionsbeitrag im Rahmen der Tagung fest, da er bereits 2010 im Sammelband von Böhme und Endres (Böhme/Endres 2010a) publiziert worden ist (Weder 2010). Zusätzlich für den hier vorliegenden Band konnte ein Beitrag des französischen Marx-Forschers Antoine Artous gewonnen werden, der sich mit der Genese und Ausformung des Fetischkonzepts in den Schriften von Karl Marx befasst. Im ersten Teil des Bandes »Ein Konzept mit heterogenem Inhalt: Die vielfältige Genese des Fetischs« sind jene Beiträge versammelt, die grundlegenden Einblick in die vielfältige Genese des Fetischs als Konzept geben und damit in das konzeptuelle Grundgerüst der Argumentation einführen.

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Roger Sansi beleuchtet in seinem Aufsatz die Entstehung des Fetischs als hybrides Produkt in der Kontaktzone der kolonialen Begegnung zwischen den Portugiesen und den Einwohnern der afrikanischen Küste. Seine zentrale These ist jene, dass der Fetisch ein völlig eigenes Produkt ist, das so weder in der westlichen noch in der afrikanischen Kultur zuvor anzutreffen war. Erst die völlig eigenen Bedingungen des Kulturkontakts in der atlantischen Welt der Frühmoderne schufen die Möglichkeiten für die Entstehung dieser Art von Talismanen, die von den hohen Gefahren des Pionierlebens jener zeugen, die sich auf diese Begegnung einließen, und zwar von beiden Seiten. Fetische sind ein Zeichen der Übersetzungsleistungen zwischen beiden Kulturen, die Elemente beider adaptierten, um damit die Grundlagen für eine (auch juristisch und sozial) verbindliche Interaktion zu schaffen. Sansi betont somit die radikale Historizität des Fetischs, der gebunden ist an diese koloniale Welt des 16. und 17. Jahrhunderts. Mehr als dem Objekt selbst kommt dem damit verbundenen Ereignis und seiner Semantik als Übersetzungscode Bedeutung zu. Der Beitrag des brasilianischen Anthropologen Rogério Brittes W. Pires nimmt die von Sansi angestellten Überlegungen und dessen Kritik an der breiten Verwendung des Fetischkonzepts (auch für andere historische und regionale Kulturen) auf, um dann jedoch mit einer neuen Lesart aus anthropologischer Sicht zu antworten, die den Fetisch wiederum als heuristisches Konzept in die Anthropologie einführt. Nach einer Skizzierung der historischen Verwendung des Begriffs Fetisch in der anthropologischen Forschung, die − geprägt von der 1908 von Marcel Mauss formulierten Kritik − zu einer raschen Stigmatisierung und Ablehnung des Begriffs für die Analyse außereuropäischer Kulturen führte, bietet Brittes in Anlehnung an Bruno Latour eine Readaptierung des Fetischs als heuristisches Konzept, mit dem der Dualismus des Saussure’schen Zeichens und seiner strukturalistischen Anwendung überwunden werden könne. So sei es möglich, den Fetisch wiederum als Kategorie für die Analyse außereuropäischer Kulturen gewinnbringend einzusetzen, weil damit die westliche Sicht einer symbolischen Deutung und Interpretation aller sozialen Strukturen überwunden werden könne. Dies biete demnach eine akkuratere Analysemöglichkeit für Phänomene der außereuropäischen Kulturen, was Brittes am Beispiel der afrikanischen und afroamerikanischen Religionen aufzeigt. Alfonso M. Iacono untersucht in seinem Beitrag die Entstehung des Fetischismusdiskurses in den ethnographischen und aufklärerischen Debatten des 18. und 19. Jahrhunderts – Iaconos ureigenstem Forschungsfeld. Dabei wählt er als methodischen Zugang zum Thema die Betrachtung der problematischen Beziehung zwischen Fetischismus und Substitution. Insbesondere in Auseinandersetzung mit David Hume zeigt Iacono den Beitrag der Aufklärer, Religion aus einem an die Offenbarung gebundenen Diskurs der Dekadenz zu lösen, der von einem ursprünglichen Monotheismus ausging, welcher zum Fetischismus und Polytheismus degenerierte. Hume betrachtet die Vergöttlichung von Phänomenen

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und Objekten vielmehr als Versuche, fremde und irritierende Phänomene zu regulieren und dem eigenen kulturellen und konzeptionellen Horizont anzupassen. Den von de Brosses eingeführten Begriff des Fetischismus begrüßt er als Komplettierung seines Polytheismusbegriffs und als dessen notwendige Erweiterung um eine Vorstufe. Während Hume und de Brosses den Fetischismus als erste Stufe der Religion festsetzen, in der es noch keine Substitution gibt, wird in den Lesarten von Marx und Freud der Fetisch geradezu zur Figur des Ersatzes und der Substitution par excellence. Von dort ausgehend überführt Iacono die Problematik der Substitution in die Frage des Umgangs mit künstlich geschaffenen Dingen allgemein, die stets an der Grenze zur Täuschung angesiedelt werden. Iacono plädiert jedoch für einen positiven Umgang mit diesen Substituten, den geschaffenen Kreationen, die weniger Abwesendes ersetzen, als vielmehr neue Welten schaffen, wie es paradigmatisch fiktionale ästhetische Diskurse machen. In der Literatur wird der Fetisch für ihn schließlich zu einer Art eskapistischem Modell, der die Leserin und den Leser in die Sphäre des Figurativen verweist. In die Genese des Marx’schen Fetischkonzepts führt abschließend Antoine Artous. Artous umreißt in einer biographischen Skizze Marx’ Auseinandersetzung mit dem Konzept, in einer quellennahen und vorsichtigen Arbeit, die davon Abstand nimmt, eine geschlossene Fetischismustheorie darzulegen. Vielmehr wird die historische Genese des Marx’schen Konzepts nachgezeichnet, von den ersten Andeutungen über die klassischen, vielfach zitierten Stellen bis hin zu weniger bekannten Passagen. Artous’ Fazit ist, dass die marxistische Rezeption des Fetischkonzepts zu einer Vereinfachung tendiert, die Widersprüche kaschiert, welche bei Marx selbst gegeben waren. Auch hier entsteht der Eindruck, dass der aus den ethnographischen Studien von de Brosses entlehnte Fetischbegriff von Marx als Metapher genutzt wurde, um den Strukturen nachzuspüren, die ihn interessierten: nämlich die Frage der Entmenschlichung der Arbeit und der Verdinglichung der Arbeitsbeziehungen. Zudem eignet sich gerade die mystisch-schillernde Seite des Fetischkonzepts dazu, die Mystifizierung des Werts auszudrücken, um die es Marx letztlich am meisten ging. Der Fetisch ist untrennbar mit der Diskussion des (abstrakten, mystischen) Werts verbunden. Der zweite Abschnitt des Bandes »Der Fetisch als Irritationsmarker: Frühe Diskussionen und der Beginn einer langen Debatte« befasst sich mit frühen – spätantiken und frühchristlichen Debatten – zu Themen der Idolatrie, der Bilderverehrung und des Umgangs mit Objekten, die in der Vehemenz der Auseinandersetzung auf jenes Irritationspotential verweisen, das im rund 1.000 Jahre später geprägten Fetischbegriff zu finden ist. Spätestens seit Pietz ist es üblich, die Genese des Fetischkonzepts in die frühchristlichen Debatten zurückzuverfolgen und an den Idolatriediskurs anzubinden. Diese frühen Spuren nehmen die drei in dieser Sektion versammelten Autorinnen und Autoren auf, um dabei auf sehr unterschiedliche Ergebnisse zu kommen.

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Der italienische Philosoph und Literaturwissenschaftler Barnaba Maj wendet sich in seinem Beitrag mit einer breit verankerten Frage dem Umgang der katholischen Kirche mit Bildern zu und verfolgt diese in zweifacher Argumentation: eine historische führt zurück in die frühchristlichen Debatten zur Bilderverehrung, die für Maj eine tiefergreifende Frage nach dem jeweiligen Verhältnis zur irdischen Welt mit ihren »Tagesfarben« berührten. Die Ablehnung der irdischen, freudvollen Welt mit ihrer Vielfalt an Erscheinungsformen (Bildern) wird zur Ablehnung einer menschlichen Vorstellung Christi, der gegenüber eine Betonung des Leidens, des Schmerzes und der Verleugnung des Lebens in der Kirche dominant wird. Maj erarbeitet diese These in seiner zweiten Untersuchungslinie, die eine ästhetische ist und entlang der Filme The Last Temptation of Christ (Martin Scorsese 1988) und The Passion of the Christ (Mel Gibson 2004) erfolgt. Diese lebensfeindliche, dem Schmerz und Leid verantwortete Haltung etikettiert Maj letztlich als fetischistisch. Kordula Schnegg prüft mit Tertullian einen der klassischen, in der Fetisch- und Idolendebatte wiederholt zitierten Autor auf seine Verwendung des Idololatriekonzepts und dessen mögliche Verknüpfungslinien hin zur modernen Fetischdebatte. Das vorsichtige Ergebnis dieser quellennahen Untersuchung ist auch hier wieder eine Relativierung: Tertullians Idololatriekonzept umfasst eine derartige Fülle an Verboten, die ernsthafte Christinnen und Christen zu beachten hatten, dass diese auch Aspekte des Fetischkonzepts umfassen, ohne jedoch darin aufzugehen. Im Übrigen deckt sich das derartig weit gespannte Feld der Idololatrie auch nicht mit der später enger gefassten und begrifflich als Idolatrie bezeichneten Bilderverehrung.11 Im letzten Beitrag dieser Sektion wendet der Mediävist Albrecht Diem das Fetischkonzept zur Analyse der Regelung des Umgangs mit Objekten in frühmittelalterlichen Klosterregeln an. Objekte, so sein Fazit, sind einer Fülle minutiöser Regelungen unterworfen, die in mehrfacher Weise weiterreichende Rückschlüsse auf das frühmittelalterliche Klosterleben zulassen: zum einen auf die Bedeutung, die (raren) materiellen Dingen − und seien es die alltäglichsten − zugemessen wird und sich im sorgsamsten Umgang damit niederschlägt. Zum anderen markieren Objekte als mobile Güter jedoch auch Abgrenzungen von dem Kloster zugeordneten Räumen. Verletzungen und Missbrauch von Objekten verweisen auf Verletzungen der Integrität des Klosters und seiner Autonomie. Wenngleich Diem dem Begriff und Konzept Fetisch keine Bedeutung für die Analyse frühmittelalterlicher Objekte – mit vorsichtiger Ausnahme der Reliquien und liturgischen Geräte – zuerkennt, attestiert er den durch das Analysemodell Fetisch aufgeworfenen Fragestellungen insofern ein heuristisches Potential, als sie zu einer neuen Lektüre der mittelalterli-

11 | Eine ähnliche Schlussfolgerung zieht Phua (2005) für die Frage des »idol food« bei Paulus.

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chen Quellentexte führen und damit auch zu den an den Objekten hängenden Bedeutungen im Kontext des Klosterlebens. Während die ersten beiden Sektionen in historische Debatten einführen, die traditioneller Weise mehr oder weniger eng mit der Genese des Konzepts Fetisch in Verbindung gesetzt werden, führen die letzten beiden Kapitel das Fetischkonzept jeweils anhand von Fallbeispielen in z.T. eher ungewohnte disziplinäre und historische Kontexte bzw. versuchen, klassische Debatten in neuen Lesarten zu präsentieren, wodurch sie im engeren Sinne die Frage nach der Bedeutung des Fetischs als heuristische Kategorie eröffnen. Im dritten Abschnitt »Der Fetisch als heuristische Kategorie: (A-)Symbolische Strukturen und rhetorische Argumentationsmuster« wird diese Frage explizit gestellt und auf den Fetisch als symbolische und rhetorische Figur sowie als Argumentationsmuster angewandt. Wie immer verlaufen die Grenzen zu den zuvor skizzierten Debatten und Fragestellungen fließend. Christine Weders Beitrag (Weder 2010) sei in diesem Kontext kurz skizziert, da er einen wesentlichen Aspekt berührt: den Fetisch als Nichtzeichen. Weder beleuchtet die dem Konzept Fetisch inhärente Vorstellung des Nichtzeichens, wie sie in der Literatur um 1800 thematisiert wurde, am Beispiel von de Brosses’ Abhandlung zum Fetischismus von 1760 wie auch von E.T.A. Hoffmanns Erzählung Der Artushof von 1816. Beide Werke erarbeiten zwei grundsätzlich unterschiedliche Konzeptionen des Fetischs als Nichtzeichen: Für de Brosses markiert das Nichtzeichen Fetisch die Grenze der kultivierten Welt der Repräsentation gegenüber der als Nichtkultur begriffenen Sphäre des rein materialen Fetischs ohne Verweischarakter. Für Hoffmann hingegen wird der Fetisch zu einer »seiendbedeutenden« Figur (Weder 2010: 319), die die Sphäre des Symbolhaften verlässt und darin eine Leerstelle setzt, die auf nichts weiter als auf sich selbst verweist; der Fetisch fungiert als Ideal, unerreichbar und dadurch heftiges Begehren auslösend. Damit »erfindet Hoffmann eine Welt (vor allem auch) der Kunst, die auf den Fetisch als Orientierungsfigur und Attraktionshorizont hin offen ist und nicht über die Opposition organisiert ist« (Weder 2010: 320). Mit dieser radikalen Absage eines Symbolcharakters an den Fetisch (der dennoch ein Wert innerhalb eines semiotischen Systems bleibt) schließen Weders Ausführungen zur Rolle und Anwendung des Fetischkonzepts im ästhetischen Diskurs an die Überlegungen von Rogério Brittes W. Pires an. Der Fetisch bietet sich demnach als neues Konzept an, mit dem die seit Saussure dominierende symbolische und zugleich dualistische Lesart der Erfassung der Welt in der Struktur des zweiseitigen Zeichens überwunden bzw. um eine zusätzliche Dimension

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erweitert werden könnte, jener des Fetischs als Konzept intranszendenter Materialität.12 Ulrich Leitner unternimmt in seinem Beitrag eine zweifache Prüfung: Seine Frage gilt dem Fetisch als psychoanalytische Kategorie und deren Anwendung auf die Untersuchung globaler politischer Phänomene am Beispiel der seit 9/11 intensiv geführten Imperiumsdebatte in den Politikwissenschaften. Hierzu nimmt er sowohl eine Begriffsklärung des psychoanalytischen Fetischkonzepts nach Freud, dessen konstitutive Linien er anhand der bei Freud relevanten Passagen nachzeichnet, als auch eine Klärung des inflationär und unpräzise verwendeten Begriffs Imperium vor, dessen konstitutive Linien er anhand eines theoretischen Modells aufzeigt. Sein Ergebnis zur Frage der Anwendbarkeit des Freud’schen Fetischbegriffs auf die Imperiumsdebatte ist ein negatives, da er letztlich beide Begriffe als rein rhetorische Elemente und Zuschreibungen einer weitgehend abstrakt und ideologisch-emotional geführten Debatte entlarvt. In klassische Debatten des Fetischkonzepts führt der Beitrag von Marie-Luisa Frick, die sich in einer textnahen Lektüre den Auseinandersetzungen der europäischen Aufklärer des 18. Jahrhunderts mit dem Konzept des Fetischs und nunmehr des Fetischismus zuwendet. Allerdings geht es ihr weniger um die Rekapitulation der aufklärerischen Debatten selbst, als vielmehr um die Frage, welche Rolle dem Argument des Fetischs und Fetischismus in diesen Texten zukommt. Der Fetischismus wurde demnach von den Aufklärern weniger als ein ethnoreligiöses Konzept zur Kritik außereuropäischer Kulturen und deren Stigmatisierung als »primitiv« angewandt; vielmehr wurden Fetisch und Fetischismus relativ schnell zu Begriffen einer generellen Religionskritik bzw. einer Kritik an den Fundamenten des Glaubens, die sich insbesondere auch gegen Praktiken der christlichen Kirchen wenden, wie sie in der von Kant geprägten Formel des »Fetischmachens« sichtbar werden. Frick schreibt dem Fetisch und Fetischismus in diesen Schriften bereits mehr den Charakter eines (rhetorischen) Argumentationsmusters zu, denn die Funktion analytischer Kategorien, die auf historische Tatsachen oder Zustände zu verweisen suchen. Insofern ist für sie die Unterscheidung zwischen Fetisch und Idol obsolet. In einem sprachhistorischen Beitrag wendet die Linguistin Claudia Posch den Fetischbegriff von Anfang an als einen Begriff der Kritik auf die Geschichte des eigenen Fachs an. Ausgehend von der Assoziation des Primitiven, die dem Fetisch seit seiner Prägung und Überführung in die ethnologischen und religionshistorischen Debatten der frühen Neuzeit 12 | Weder weist zu Recht darauf hin, dass dieser Aspekt bereits bei de Brosses zu finden sei, allerdings in der Rezeption häufig übersehen wurde, wenngleich Pietz in seinem vierteiligen Schema der »Themen« des Fetischs bereits jenen der »untranscended materiality« anführte; siehe dazu oben Fußnote 6; vgl. Weder (2010: 310, Anm. 17).

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anhaftet, untersucht sie die parallel erfolgte Klassifizierung der Sprachen in evolutionistischen Paradigmen. In (pseudo-)ästhetischen und (pseudo-)historischen Argumenten wurden Sprachen Entwicklungsstufen und ästhetische Zuschreibungen zugeordnet sowie insgesamt eine eurozentrierte Hierarchie der Sprachen erstellt, die das Sanskrit und das klassische Latein an die höchste Stufe eines Paradigmas setzte. Evolutionistische und biologistische Argumente durchdrangen ebenso die Diskurse um Sprachtypologie, welche auf Basis der Systeme der Grammatik und Morphologie angestellt wurden. In eine gleichermaßen fetischfremde Disziplin führt der rechtswissenschaftliche Beitrag von Andreas Th. Müller. Müller unterzieht die Frage der Anwendbarkeit des Begriffs Fetisch auf die Rechtswissenschaften einer regelrechten juristischen Disputation, die entlang des Umgangs mit der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, der amerikanischen Flagge und schließlich dem Gesetz selbst verläuft. Trotz zahlreicher Übereinstimmungen mit den im Untersuchungsmodell skizzierten semantischen Linien bleibt Müller bei einer (vorläufig) skeptischen Haltung, die den Fetisch als zu wenig distinkt und präzise ansieht, als dass das Konzept dafür geeignet sei, als rechtswissenschaftliche Kategorie eingeführt zu werden (abgesehen vom Umgang mit bestimmten, als Fetischen deklarierten Objekten, die Müller aus seiner Untersuchung jedoch ausklammert). Mit diesem letzten Beitrag ist der Übergang zur vierten und abschließenden Sektion des Bandes vorgezeichnet: »Fetisch und Fetischismus als historische Sachverhalte? Fallstudien«. Hat der Fetisch (und mit ihm der Fetischismus) letztlich eine wie auch immer geartete faktische Historizität oder bleibt er eine rein rhetorische Figur, ein Argumentationsmuster, das zur (polemischen) Grenzziehung und Agitation dient, letztlich aber ungeeignet ist, historische Phänomene zu fassen? Die vier in dieser Sektion versammelten Beiträge sind keineswegs historische Fallstudien zu »Objektverehrungen«, wie sie am Beginn über den Call for Papers »angefordert« wurden. Sie verorten die Historizität von Fetisch und Fetischismus vielmehr entlang unterschiedlicher Linien, als historische Diskurse, als an historischen Debatten gewonnene Instrumente der Kritik, als Eigenschaften historischer Strukturen oder Kategorien zur Erfassung historischer Persönlichkeiten und Personenkulte. Faktizität wird den solcherart aufgespürten Erscheinungsformen von Fetisch und Fetischismus sehr unterschiedlich zu- oder abgesprochen. Eines der Ergebnisse der Tagung schien zu sein, dass dem Fetisch und Fetischismus von den Historikern/ -innen weit eher jede historische Existenz abgesprochen wurde als von Vertretern/-innen anderer Fachrichtungen. Auch diese letzte Sektion ist somit ein Interpretationsvorschlag der Herausgeberin und vereint wiederum kontroverse und heterogene Positionen der Beitragenden. Auf den Fetischismus als philosophisches Problem in einer klar umrissenen historischen Debatte und einem ebenso umrissenen Kontext verweist Andreas Oberprantacher in seiner Auseinandersetzung mit der

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Rolle des Konzepts Fetischismus in der politischen Ästhetik von Documents. In der von Bataille mitbegründeten surrealistischen Zeitschrift wird der Fetischismus zur subversiven Haltung, die auf die positiv konnotierte materialistische Haltung des Fetischisten verweist, dem sein eigener großer Zeh niemals nahe genug sein kann. Auch hier wird der Fetisch zur Chiffre einer radikalen Diesseitsverhaftetheit und Objektgebundenheit, wie sie im Beitrag von Brittes ebenfalls als positive Neubesetzung des Konzepts Fetisch skizziert worden ist. Stellvertretend verweist Oberprantachers Beitrag auf die Historizität von Fetisch und Fetischismus im Sinne historischer Diskurse, die in den jeweiligen diskursiven Kontext einzubinden sind. Historische Faktizität schreibt der Politologe Stephan Grigat seinem an Marx gewonnenen Fetischkonzept zu, das für ihn zu einem Instrument der Kritik am Antisemitismus wird. Fetischismus verortet er als historische kapitalistische Haltung, die wesentlich zum Antisemitismus beitrug und beiträgt. Gerade die dem Kapital zugeschriebene (negative) mystische Qualität wird demnach durch die antisemitische Rhetorik auf die Juden übertragen und erfährt weiterhin eine stete Aufladung; diese Haltung als fetischistisch zu beurteilen wird für Grigat zur politischen Aufgabe einer für ihn ebenso politisch verantwortlichen Wissenschaft, und entsprechend zum Instrument der Kritik. Die Historikerin Karin Schneider wendet das Untersuchungsmodell Fetisch nicht zur Erfassung einer historischen Person oder eines Objekts an; vielmehr nutzt sie es zur Untersuchung einer komplexen historischen Struktur, dem Metternich’schen Sicherheitssystem, und vergleicht dieses mit den aktuellen, seit 9/11 kursierenden Sicherheitsdebatten, die sie verdichtet im zeitgenössischen Fetisch des Nacktscanners erfasst, dem sie eine historische Realität als Fetisch der Gegenwart (ironisch) zuerkennt. Andreas Oberhofer schließlich wählt als Ausgangspunkt die historische Figur des Tiroler Lokalhelden Andreas Hofer, dem seit seiner Erschießung in Mantua 1810 regelrecht kultische Verehrung zuteil wird. Ist Andreas Hofer ein Fetisch, macht es Sinn, diese Kategorie auf die Erfassung eines National-/Lokal-helden anzuwenden? In enger Anlehnung an das eingangs skizzierte Untersuchungsmodell überprüft der Historiker Oberhofer die Anwendbarkeit des Konzepts und kontrastiert dieses mit anderen Begriffen, die von den zeitgenössischen Quellen selbst, oder aber von der Forschung angewendet wurden. Auch sein Ergebnis ist wieder ein vorsichtiges: Das Fetischkonzept deckt Aspekte der Verehrung ab, ist jedoch ungeeignet, die historische Person und ihre kultische Verehrung umfassend zu beschreiben. Dies gelingt aber auch keinem der anderen, in der Debatte kursierenden Begriffe, sodass hier dem Fetisch eine additive, beschreibende Funktion neben konkurrierenden Parallelbegriffen zuzuerkennen ist.

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2.3 Vorläufige Ergebnisse Angesichts der heterogenen Positionen der Beiträgerinnen und Beiträger ebenso wie der komplexen Geschichte des hier betrachteten Konzepts wäre es vermessen, ein derart gewagtes Projekt, wie es dieses Buch darstellt, mit Ergebnissen beschließen zu wollen. Dennoch soll am Ende eine Zusammenfassung der Debatten und daraus die Andeutung vorläufiger Ergebnisse versucht werden. Eine der Haupterkenntnisse der Tagung war, dass es weniger um die historische oder wissenschaftliche Verankerung und das Aufspüren von Fetischen im Sinne konkreter Zuschreibungen an historische Objekte geht – Versuche einer langen Geschichte der Fetische und des Fetischismus sind jüngst vorgelegt worden von Karl-Heinz Kohl (2003) und Hartmut Böhme (22006). Vielmehr geht es um die Frage, welchen heuristischen Gewinn die Verwendung des Begriffs und Konzepts Fetisch für wissenschaftliche Fragestellungen bringt. Hier sind die Antworten je nach Beitrag und Wissenschaft unterschiedlich. Deutlich wurde zudem, dass es für alle Beiträge durchaus Negativbefunde geben darf: das Feststellen, dass es für die eigene Wissenschaft und Fragestellung sowie für den betrachteten historischen Zeitraum keinen Mehrwert bietet, mit dem Begriff und Konzept des Fetischs und Fetischismus zu operieren. Vielfach ermöglichte aber die Anwendung des Begriffs als erkenntnisleitende Fragestellung trotz solcher Negativbefunde eine Verschiebung der Perspektive und damit neue Einblicke in »alte« Themenbereiche. Dies wäre die Funktion des Fetischs als Brennlinse im Sinne Foucaults, welche den Blick bündelt und dann wiederum zerstreut, in neue Richtungen lenkt.13 Es konnten im Verlauf der Tagung zwei völlig unterschiedliche Herangehensweisen beobachtet werden. 1) Es gab Beiträge, die Fetischismus und fetischistisch selbst als (nicht immer exakt definierte) Zuschreibungen verwandten und nicht als Analysekriterien oder -objekte. Besonders pointiert erfolgte dies im Beitrag von Stephan Grigat, der Fetischismus in der Marx’schen Definition (also insbesondere die Fetischisierung des Geldes) als politischen »Kampf«-Begriff nutzte, um damit eine Kritik am Antisemitismus zu artikulieren. Dies führte bei der Tagung zu entsprechend lebhaften Debatten ebenso wie zur Frage nach der Politisierung der Wissenschaft. 2) Der Großteil der Beiträgerinnen und Beiträger setzte die Begriffe Fetisch und Fetischismus als Analysekategorien ein, unter Verwendung unterschiedlicher Definitionsansätze, zur Betrachtung von Fragestellungen der eigenen Disziplin. Abgesehen von diesen zwei konträren methodischen Herangehensweisen lassen sich folgende weitere Ergebnisse und Beobachtungen nachzeichnen. Historische Beiträge hatten ebenso wie der juristische Beitrag (wie erwartet) besondere Schwierigkeiten, den Begriff auf die eigenen Fallbeispiele anzuwenden, auch wenn die Definitionskategorien durchaus in vielen Punkten mit den beobachteten Phänomenen übereinstimmten 13 | Vgl. hierzu Michel de Certeaus Foucault-Lektüre (1997).

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(siehe etwa die Beispiele von Andreas Th. Müller für die amerikanische Unabhängigkeitserklärung); hier war es mitunter wohl eher auch ein »gefühlter« Widerstand, den so »anrüchigen« Begriff für zutiefst in der westlichen Kultur verankerte Phänomene zu verwenden. In der Ethnologie, in welcher der Begriff zunächst am engsten verankert scheint, ist der wohl radikalste Wandel im Umgang mit dem Begriff zu beobachten. Während die Fetische zunächst prototypisch afrikanischen Objektkulten zugeschrieben wurden, verbannte sie Marcel Mauss zu Beginn des 20. Jahrhunderts aus dem Vokabular der Ethnologie; seither versucht man, Objekte mit indigenen Begriffen der Bevölkerung zu bezeichnen: also Mana, Minkisi etc. Seit einigen Jahren ist hier jedoch wieder ein Umdenken zu erkennen: zunächst die Bereitschaft, den Begriff wieder einzuführen, da er nicht wirklich zufriedenstellend durch andere Begrifflichkeiten zu ersetzen sei. In den jüngsten, auch durch Bruno Latours Arbeiten angeregten Studien geht man darüber hinaus dazu über, den Begriff Fetisch gewissermaßen als Marker eines Paradigmenwechsels festzuschreiben. In dieser Hinsicht wird er dem zweiseitigen Saussure’schen Zeichenbegriff entgegengesetzt; er bezeichnet die Wende vom strukturalistischen und symbolistischen Weltbild, das durch die Metapher und Allegorie gekennzeichnet war, hin zu einer Betonung des Metonymischen (wofür der Fetisch prototypisch steht): Dies bedeutet eine Hinwendung zur Materialität, die nicht länger von einer Zweiteilung der Welt in signifiant und signifié, Denkstruktur und Sein, ausgeht (vgl. hierzu auch die Überlegungen bei Godelier 1999). Beispielhaft ist dabei der Ansatz des jüngsten Beiträgers, des brasilianischen Anthropologen Rogério Brittes W. Pires – der bezeichnender Weise auch der einzige Nichteuropäer ist. Anhand dieser These entstand eine lebhafte Kontroverse insbesondere mit dem zweiten anwesenden Ethnologen, Roger Sansi, einem Verfechter der These, der Fetisch sei eine rein hybride Konstruktion, allein typisch für die Verschmelzung der afrikanischen und europäischen Kultur im lusophonen Atlantik und nicht übertragbar auf indigene afrikanische Religionen oder Kulte. Unproblematisch und unhinterfragt scheint der Begriff des Fetischs nach wie vor im Feld der Psychoanalyse wie auch in den Sozialwissenschaften in Verwendung zu sein. Hier kann man sich auf die entsprechenden Definitionen in der Fortführung von Freud und Lacan respektive Marx stützen. In diesen Bereichen ist der Begriff zumindest für die Sicht der jeweiligen Disziplin, so scheint es, eindeutig definiert und wird auch nach wie vor so verwendet (dies zeigten etwa die Beiträge von Andreas Kriwak und Stephan Grigat). Doch auch hier sind Re-Lektüren im Gange: Der französische Marx-Forscher Antoine Artous verweist in seinem Beitrag gerade auf die kontroverse Diskussion und Rezeption des Fetischbegriffs in der marxistischen Forschung und die fehlende Eindeutigkeit und Begriffsschärfe bei Marx. Fest steht, dass das alltagssprachliche Wissen und die alltagssprachliche Verwendung des Begriffs heute am stärksten vom sexuellen Fetischismus à la Freud sowie vom Warenfetischismus in der marxistischen Tradition

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beeinflusst sind, was zu missverständlichen Aussagen führt, insbesondere wenn Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler selbst wiederum fetischistisch und Fetischismus in einem eher alltagssprachlichen Sinn verwenden. Hier wäre es wünschenswert, eine Trennung zwischen Analyseobjekt und metasprachlichen Äußerungen zu treffen, um die Präzision der Aussage zu gewährleisten. Unbestritten war das Ergebnis, dass der Begriff des Fetischs ein Irritationspotential enthält, das sich in unterschiedlichen Epochen entlang unterschiedlicher Diskussionslinien ziehen lässt: Afrika versus Europa; normale versus pervertierte Sexualität; persönliche versus unpersönliche Gesellschaft; Katholizismus versus Protestantismus; Primitivismus versus Kultur usw. Fetisch und Fetischismus werden schließlich vielfach mit Zuschreibungen des Primitivismus verbunden – es macht also häufig Sinn, die Analyse der Fetischdiskurse an jene der Primitivismusdiskurse zu koppeln (etwa im Bereich der Sprachwissenschaft, der Ethnologie, der Kunst). Ethnology

Aesthetics

Psychoanalysis

Social Studies

Cultural Studies

Marcel Mauss’ critique of the »immense misunderstanding« (Mauss 1908) Surrealist concept of pure materialism (Bataille 1929) Lacan’s concept of the fetish as blank position (Lacan 1956) Marxist theories of fetishism as concept of critique of capitalism

Feminist approach to fetishism as narrative and psychoanalytical category (Apter 1991)

Fetish as creative concept (Graeber 2005) Fetish as hybrid product of cultural encounter Fetish as (universal) (Sansi 2007) aesthetic concept of passionate relation to Fetish as concept of objects (of art) oneness (Goldman 2009; Brittes 2011) (Böhme/Endres 2010)

Fetish as semiotic concept (Pouillon 1970) Fetish as historic concept, marker of new times (Pietz 1985; 1987; 1988) Fetishism as enlightenment discourse (lacono 1985; 1992)

Fetishism as cultural discourse (Apter/Pietz 1993) Latour’s concept of faitiches (Latour 1996; 2009) Fetish as universal concept of religious object worship (Kohl 2003) Fetish as concept of modernism (Böhme 2006) Fetish as heuristic category (Antenhofer 2011)

Abb. 5: Steps in the development of the concept of fetish and fetishism in the 20th and 21st centuries Der Mehrwert der Verwendung der Kategorie Fetisch als Brennlinse, um solche Dichotomien aufzuspüren, wurde von allen Beteiligten bestätigt, ebenso wie die Erkenntnis, dass die Verwendung des Begriffs als Untersuchungskategorie einen Verfremdungseffekt bewirkt, der das Vertraute

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in neuem Licht erscheinen lässt und dadurch auch unerwartete Einsichten ermöglicht. So gesehen wurde das für die Tagung konzipierte Untersuchungsmodell Fetisch tatsächlich als heuristische Kategorie angewandt und in der Anwendung bestätigt, wie es die historischen Fallstudien zu Andreas Hofer sowie zum Nacktscanner als Fetisch der Moderne oder der rechtswissenschaftliche Beitrag paradigmatisch aufzeigen. Fest steht schließlich auch das kreative Potential, das der Umgang mit dieser so schillernden und »anrüchigen« Kategorie bei den Beitragenden weckte. In diesem Sinne ist vielen Beiträgen wie auch diesem Band eine gewisse Selbstironie durchaus inhärent. Humor ist bekannterweise eines der stärksten Instrumente der Kritik: Gerade die Ernsthaftigkeit und Polemik, welche die um den Fetischismus und die Idolatrie geführten Debatten der Vergangenheit kennzeichneten und mit dazu beitrugen, dass der Fetisch als absolut negatives Etikett der Ausgrenzung, der Negierung von Kultur und geradezu von Menschlichkeit angewandt wurde, machen es umso wünschenswerter, die im Fetisch gebundene Irritationskraft kreativ und humorvoll zu nutzen. Im Sinne Iaconos kann der Fetisch dann zu einem positiven eskapistischen Modell aus einer zu rational festgeschriebenen Welt werden, als Talisman in einer mittlerweile wieder ebenso hybriden Welt der Kulturkontakte und der vielfachen Verschiebungen, wie es der koloniale Atlantik war, zum Einsatz kommen, als positives Signal einer endgültigen Absage an dualistische Grenzziehungen.

Q UELLEN UND L ITER ATUR Apter, Emily S. Feminizing the fetish. Psychoanalysis and narrative obsession in turn-of-the-century France. Ithaca: Cornell Univ. Press, 1991. Apter, Emily S. und William Pietz (Hg.). Fetishism as cultural discourse. Ithaca: Cornell Univ. Press, 1993. Artous, Antoine. Marx et le fétichisme. Mille marxismes. Paris: Éd. Syllepse, 2006. Assmann, Jan. Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur. Frankfurt a.M.: Fischer, 2000. Barbot, Jean. »A Description of the Coasts of North and South Guinea.« A Collection of Voyages and Travels. Bd. V. Hg. Awnsham Churchill und John Churchill. London, 1732. Belting, Hans. Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst. München: C.H. Beck, 62004. Böhme, Hartmut. Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne. Reinbek: Rowohlt, 22006. Böhme, Hartmut und Endres, Johannes (Hg.). Der Code der Leidenschaften. Fetischismus in den Künsten. München: Fink, 2010a. Böhme, Hartmut und Endres, Johannes. »Der Fetischismus der Künste.« Der Code der Leidenschaften. Fetischismus in den Künsten. Hg. Hartmut Böhme und Johannes Endres. München: Fink, 2010b. S. 9-31.

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Ein Konzept mit heterogenem Inhalt: Die vielfältige Genese des Fetischs

Der Fetisch Kreativität und Historizität im modernen Atlantik Roger Sansi

Die Geschichte des Begriffs Fetisch ist lang und komplex. Fetisch stammt vom portugiesischen feitiço und bedeutet übersetzt in etwa »magisches Amulett«, »Zauberei« oder »Gegenstand der Zauberei« (feitiçaria). Holländische und englische Erkundungsreisende an der Westküste Afrikas identifizierten die Kultobjekte der afrikanischen Bevölkerung als Fetische und deren Priester als fetisseros. Diese Reisenden – Protestanten und Freidenker – waren über die ihnen zufällig und eigennützig erscheinende Anbetung von Dingen entsetzt. Ab dem 18. Jahrhundert erhielten Theorien über den Fetischismus zentrale Bedeutung im westlichen Nachdenken über die Beziehungen von Objekten und Menschen, von Afrika und der westlichen Welt, von Religion und Wirtschaft. William Pietz erklärt diese Geschichte in einer Reihe von Artikeln mit dem Titel The Problem of the Fetish. Seine zentrale These umfasst »the fetish, as an idea and a problem, and as a novel object not proper to any prior discrete society, originated in the cross-cultural spaces of the coast of West-Africa during the sixteenth and seventeenth centuries […]. The fetish, then, not only originated from, but remains specific to, the problematic of the social value of material objects as revealed in situations formed by the encounter of radically heterogeneous social systems.« (Pietz 1985: 5)

Pietz’ Schriften über den Fetisch inspirierten viele weitere Aufsätze, von denen die meisten jedoch die Situation der Inkommensurabilität und des Missverstehens betonen, in der indigene und westliche Wertesysteme koexistieren, ohne sich wirklich zu vermischen (Spyer 1998). Letztendlich erscheint die Geschichte des Fetischs als eine Geschichte der »radikalen Andersartigkeit« (Povinelli 2001: 324). Der Fetisch ist ein immense malentendu, wie es Mauss einst formulierte (vgl. Iacono 1992). Die erwähnten Aufsätze entwickeln einen von Pietz aufgegriffenen Standpunkt zum Problem des Fetischs als ein typisches Beispiel von

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Verdinglichungsprozessen. Das Fetischproblem provoziert ein Bewusstsein dafür, dass Werte nicht universal waren, sondern von »spezifischen Ordnungen sozialer Beziehungen« abhingen, welche sie gleichzeitig verstärkten (Pietz 1987: 24) oder vergegenständlichten, wobei sie auch die Inkommensurabilität zwischen diesen verschiedenen Wertesystemen verstärkten. Der jüngste Beitrag zur Diskussion um Werte und Verdinglichung ist ein Paper von David Graeber: Fetishism as social creativity (2005). In diesem Aufsatz betont Graeber, Fetischismus bedeute letztlich, dass wir erkennen, wie unsere Handlungen und Erzeugnisse Macht über uns ausüben. Für Graeber sind, in Anlehnung an Pietz, alle Europäer und Afrikaner Fetischisten, aber auf unterschiedliche Weise: Der europäische Fetischismus wäre demnach ein Warenfetischismus, entsprechend der marxistischen Kapitalismuskritik. Andererseits erkannten Afrikaner ihren eigenen Fetischismus explizit an, während die Europäer den ihren leugneten und im Gegenzug die Afrikaner als irrationale, launenhafte Verehrer bloßer Dinge anklagten. Nach Graeber sollten wir eine wichtige Lektion aus der Geschichte des Fetischs lernen: nämlich nicht abzustreiten, dass die Afrikaner Fetischisten seien; sondern anzuerkennen, dass die Abendländer ebenfalls Fetischisten seien, wenn auch auf eine andere Art. Graeber definiert Fetischismus letztlich als soziale Kreativität – als unsere soziale Kompetenz, um unsere gesellschaftlichen Werte zu verstärken. Was Graeber aber ebenso wenig in Frage stellt, ist die Idee des Unterschiedes zwischen Abendländern und Afrikanern. Er erkennt zwar an, dass sich beide in ihren Fetischismen ähnlich sind, jedoch nach wie vor in relativen Begriffen. Faktum bleibt, dass der Begriff Fetisch das Resultat aus der Begegnung dieser beiden ist. Graeber liest also die Geschichte des Fetischs immer noch als eine der Verleugnung und Nichtanerkennung, als eine Geschichte radikaler Unterschiedlichkeit, welche dadurch entstand, dass Europa Afrika den Fetischismus unterstellte. Was Graeber – wie die meisten anderen Rezipientinnen und Rezipienten – bei Pietz übersieht, ist die Tatsache, dass dies eben nicht die ganze Geschichte des Fetischs ist. Schon ehe Fetischismustheorien eine scharfe Trennung zwischen Afrika und Europa einführten, schien der Begriff Fetisch selbst in der Begegnung zwischen Europa und Afrika zu liegen: Der Begriff Fetisch ist die Adaption des portugiesischen Wortes feitiço und wurde in den Kontaktzonen der Küsten Westafrikas geprägt. Es gibt also eine Geschichte des Fetischs, die noch vor den Theorien über den Fetischismus anzusetzen ist. Diese Geschichte beschreibt das Auftauchen eines »novel object not proper to any prior discrete society, originated in the cross-cultural spaces of the coast of West-Africa during the sixteenth and seventeenth centuries«, wie es Pietz nennt. Zu diesen Bedingungen stellt Pietz auch fest, »the fetish is always a meaningful fixation of a singular event; it is above all an ›historical‹ object, the enduring material form and force of an unrepeatable event.« (Pietz 1985: 12)

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Dies ist also, was Pietz die »Historizität« des Fetischs nennt. Die Ergebnisse dieser Historizität sind nicht darauf beschränkt, dass sie Wertesysteme bestimmen; sie widersprechen diesen zum Teil sogar. Der Fetisch kann deshalb nicht auf irgendein spezifisches Wertesystem reduziert werden. In der vorliegenden Arbeit möchte ich einen Blick auf die Geschichte des Fetischs werfen, der sich von dem, was die meisten Autoren bis jetzt darüber sagten, unterscheidet. Anstatt den Begriff Bezug nehmend auf Verdinglichung (reification) und Kreativität zu definieren, schlage ich vor, ihn unter den Bedingungen für Historizität, kulturellen Austausch und Besitznahme zu betrachten. Ich interessiere mich dafür, wie die Historizität des Fetischs in kulturelle Austauschprozesse mündete, welche machtvollen Transformationen des Fetischs die beteiligten Gesellschaften beeinflussten, modellierten und auch die Art und Weise prägten, wie sich diese selbst betrachteten. Gemeint ist hier nicht eine Geschichte als Wiederherstellung einer unterdrückten, entfernten und ursprünglichen Vergangenheit, also einer entweder afrikanischen oder europäischen Vergangenheit, sondern als ein fortlaufender Fluss von Ereignissen, der durch seine Subjekte auf verschiedene Arten objektiviert und zu eigen gemacht wurde. Im atlantischen Raum war der Fetisch ein besonders geeignetes Mittel, um Objekte, Personen und Diskurse von anderen Orten in Besitz zu nehmen und diese nach bestimmten Wertesystemen zu objektivieren. Tatsächlich sind die Diskurse über die radikale Andersartigkeit des Fetischs und das Missverstehen von Europa und Afrika nur das letzte Resultat einer langen verleugneten Geschichte kulturellen Austauschs. Mit anderen Worten: Die Geschichte des Fetischs als eine Geschichte kultureller Begegnungen ist eine Sache; eine ganz andere Sache hingegen ist die Geschichte des Fetischismus als Diskurs der kulturellen Unterschiede.

Z AUBEREI IM PORTUGIESISCHEN A TL ANTIKR AUM Obwohl portugiesische Berichte über Entdeckungen in Westafrika das tägliche Leben in Afrika nicht besonders ausführlich darstellen, werden hin und wieder Entdecker zitiert, welche die indigenen Könige baten, die Idolatrie und Zauberei (idolatrias e feitiçarias) aufzugeben und zum Christentum überzutreten (Brasio 1952). Idolatria und feitiçaria tauchen zwar gemeinsam auf, sind jedoch nicht das Gleiche. Idolatrie ist ein von der mittelalterlichen Kirche gepflegter Terminus und bezieht sich auf den organisierten Kult der Idole oder der falschen Gottheiten, vor allem in der Form von Bildern und Skulpturen menschlicher Gestalt. Es wurde angenommen, dass heidnische Völker Idole anbeteten und dass diese Idolatrie einerseits vom Teufel inspiriert und andererseits durch Unkenntnis des Wortes Gottes bedingt war (Bernand/Gruzinski 1988). Feitiçaria oder Zauberei war zwar an die Idolatrie gebunden, unterschied sich jedoch davon. Idolatrie ist ein religiöser Kult mit Priestern und religiösen Handlungen, der sich an Gottheiten richtet, auch wenn dies falsche Gottheiten oder

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Idole sind. Aber feitiçaria (Zauberei) ist nicht Religion, sondern Magie – die Technik der Verzauberung; feticeiros sind keine Priester, sondern privat Praktizierende der magischen Künste – Menschen, die Flüche und Liebeszauber sprechen, Zauber des Wohlstands und des Todes. Das Ziel der Zauberhandlungen ist nicht Verehrung, die Zauberhandlungen gelten stattdessen den praktischen Problemen des Lebens. Die Aufzeichnungen der Inquisition demonstrieren, dass die magischen Rituale in Portugal große Plastizität aufwiesen und sich leicht an die Bedürfnisse und Sehnsüchte von Menschen verschiedener sozialer Schichten angleichen ließen (Bethencourt 1987). Von der städtischen Hebamme, die einem schwangeren Mädchen Pflanzen mit Abtreibungswirkung überreichte, bis zum kosmopolitischen Alchemisten – es gab sehr viele Personen, Praktiken und Techniken, die auf den ersten Blick nichts gemein hatten, außer dass sie irgendwann in den Verdacht kamen, entweder Betrügereien und Unehrlichkeiten darzustellen, wenn die Zauber nicht gelangen, oder gar in einem Bund mit dem Teufel zu stehen, wenn sie dann doch funktionierten. Die Praktiken und Objekte, welche durch die Berichte der Inquisition beschrieben wurden, haben zwei hauptsächliche Ausrichtungen: erstens die Abwehr misslicher Ereignisse und zweitens die Herbeiführung glücklicher Ereignisse. Einerseits wird der Körper als Ort potentieller Gefahr angesehen, in den Teufel und Monster einfahren können (ebd.: 57). Aus diesem Grund muss er durch das »Versiegeln des Körpers« (fechar o corpo) geschützt werden, wie die Wendung noch heute lautet. Andererseits wird auch angenommen, dass Amulette Menschen beeinflussen, oder − um den richtigen Begriff zu verwenden − dass sie »Gnade« erreichen können (»Alcançar graça com quem quisesse« [ebd.: 68]), im Besonderen bei Liebesangelegenheiten oder sozialen Fragen. Die Elemente, aus denen die Amulette gefertigt sind, sollten ebenfalls auf irgendeine Weise außergewöhnlich sein: das Seil eines gehängten Mannes, ein zerbrochener Spiegel, Körperteile von Tieren und Untieren (ebd.: 53), die Knochen von Toten, oder der Speichel eines sterbenden Menschen: »[A] baba de uma pessoa que estivesse à hora da morte.« (Ebd.: 85) Um den Wert solcher Objekte verstehen zu können, ist es vielleicht wichtiger, die wahre Ursache und die Form des Sammelns dieser zu betrachten, als das zu untersuchen, was sie repräsentieren: nämlich mehr als nur den Symbolismus des Seils und der Spucke – was auch immer diese sein mögen. Es ist viel wichtiger, dass diese Objekte bei wirklich außergewöhnlichen Ereignissen gesammelt wurden, wie z.B. am Übergang zwischen Leben und Tod, und dass sie Indices dieser Ereignisse darstellten. Die Spucke von irgendwem oder einfach nur irgendein Seil wären ungenügend; doch als spezifische Dinge haben sie Macht, sind feitiços. Ihre Macht ist insbesondere ein Resultat ihrer Indexikalität, der kausalen

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Relation zum übernatürlichen Ereignis, und sie ist damit viel mehr, als ihr Symbolismus repräsentiert.1 Um Gnade zu erlangen, ist eines der häufiger verwendeten Amulette das pedra d’ara – der Altarstein. Der Altarstein war ein »portable altar«, ein »piece of marble with an opening where relics of holy martyrs were placed and over which priests consecrated the communion host and wine« (Mello e Souza 1986: 132). Gesegnete heilige Hostien wurden ebenfalls oft verwendet. Auch hier sollten wir den Wert der pedras d’ara und der Hostien nicht ausschließlich in symbolischen Begriffen sehen. Sie sind wertvoll, weil sie durch das wundersamste aller Ereignisse hindurchgingen: die Eucharistie, und sie sind Indices der Macht Christi. Es ist interessant, dass die erste Messe auf die Ankunft der pedras d’ara, der Altarsteine aus Portugal, warten musste – als ob nur diese Altarsteine die lokalen Idole hätten substituieren können (Brasio 1952: 66). Tatsächlich kam es Ende des 19. Jahrhunderts an dem Ort, wo eben jene erste Messe mit den pedras d’ara stattfand, zu einem Regenzauber, einem Fetisch, genannt Sa Manuela − nach Manuel, dem ersten Konvertiten, vormals der Many Soyo, Onkel des Königs (MacGaffey 1987: 207). Die Plastizität magischer Praktiken ist eine Konsequenz der Unvorhersehbarkeit der Beziehung zwischen den Menschen und den Wesen der anderen Welt. Zauberei oder Magie in ihrer positiven Ausprägung sind nicht blind für die Naturgesetze, wie wir seit Evans-Pritchard (1937) wissen. Im Gegenteil, Zauberei basiert sehr stark auf den Naturgesetzen: Was sie hinzufügt, ist lediglich, dass wir hinter diesen Gesetzen nach einer wirksamen Ursache suchen sollten, beispielsweise in persönlichen Handlungen von Gottheiten, Geistern oder Zauberern, wenn ein Ereignis nicht in Verbindung mit den Naturgesetzen erklärt werden kann, wenn etwas Außergewöhnliches passiert. Die Macht des feitiço ist aufs Engste mit diesem außergewöhnlichen Ereignis verbunden. Wir können diesen Punkt besser nachvollziehen, wenn wir uns auf Bluteaus Definition von feitiçaria und feitiço im Vocabulario Portuguez e Latino aus dem Jahr 1713 beziehen, dem ersten Wörterbuch des Portugiesischen. Bluteau gibt darin zwei mögliche Definitionen von feitiço: Zum einen meint er, ein feitiço sei ein Ereignis, welches in sich selbst keiner-

1 | Hier verwende ich die Peirce’sche Unterscheidung zwischen Index und Symbol, wonach Ersteres ein Zeichen ist, das locker an sein Objekt gebunden ist, während das Zweite nur eine abstrakte Repräsentation des Objekts darstellt, welche decodiert werden muss (Peirce 1955). Deshalb kann eigentlich jeder Mensch einen Index erkennen, wenn er das Objekt sieht; aber nur Menschen, die den symbolischen Code einer Sprache kennen, können die Verbindung zwischen Objekt und Zeichen dechiffrieren. Das klassische Pierce’sche Beispiel ist Feuer und Rauch: Rauch ist ein Index des Feuers. Aber das Wort smoke im Englischen ist auch ein Symbol für Feuer.

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lei Konsequenzen hätte, wäre es nicht vom Teufel hervorgerufen worden.2 Er spricht z.B. über einen Salamander auf einer Hauseingangstür; dieser könnte einfach nur ein Salamander sein, aber eben auch ein Zeichen des Teufels. Ein feitiço ist ein Ereignis, das nicht auf seine natürlichen Ursachen reduziert werden kann. Die zweite Definition von feitiço versteht darunter einen Kunstgriff 3 , etwas, das man sich ausdenkt, um Menschen zu verzaubern und zu verführen. Feitiço erhält in dieser zweiten Bedeutung eine materiellere Präsenz als in der ersten Bedeutung, in welcher es eher ein Ereignis ist, als ein Ding. Offensichtlich sind aber beide Aspekte miteinander verbunden: Ein feitiço ist ein Ereignis, das in einem Ding objektiviert wird, welches die Konsequenzen dieser Handlung in sich trägt und indiziert. Bei der sozialen Beschreibung von feitiçaria handelt es sich deshalb mehr um zusammenhangslose Glaubensinhalte und Praktiken, die durch Angst und Begehren miteinander verbunden sind, durch das Unerwartete, Fabelhafte und das Schicksal, als einem positiven und systematisierten Wissensinhalt. Der lockere Komplex feitiçaria scheint zwangsläufig für jene Seeleute relevant gewesen zu sein, die die Ozeane überquerten und eher zufällige, gefährliche Ereignisse und Abenteuer bestehen mussten. Sie trugen Amulette und erkannten feitiços in den außergewöhnlichen Dingen und Menschen, denen sie auf ihrem Weg begegneten – beispielsweise in Afrika. An der Westküste Afrikas war die Konvertierung der »Götzendiener« nicht die oberste Priorität der portugiesischen Handeltreibenden. Nachdem diese nicht vorhatten, das innere Afrika zu besetzen, wurde das Christentum nicht aktiv vorangetrieben. Trotzdem hielten Elemente des Christentums und der europäischen Kultur an der Küste Guineas Einzug, und zwar mit den portugiesischen »freischaffenden« Handeltreibenden, die auch im Landesinneren geschäftstätig waren: den tangomagos und lançados (Brookes 2003). Sie waren frühere Seeleute, degredados (Verstoßene), oder portugiesische »Mulatten«, die das Land kannten und die lokalen Sprachen beherrschten. In Verbindung mit diesem Handel tauchten entlang der Küste Gemeinschaften christianisierter afrikanischer Händler, sogenannte kriston, auf (Havik 2007). Die portugiesischen Vorfahren und das Christentum dieser tangomagos und kriston wurden von vielen europäischen Reisenden hinterfragt. Die Europäer beobachteten, häufig mit einer gewissen Herablassung, dass deren Wissen über das Christentum auf das Tragen großer Kruzifixe und Rosenkränze reduziert war (Brookes 2003: 153). Die Ablehnung der Europäer war offensichtlich ein Resultat ihres Misstrauens gegenüber diesen Kreolgemeinschaften, da diese in afrikanischen und europäischen Gepflogenheiten und Sprachen zurechtkamen und dadurch einen wirtschaftlichen Vorteil hatten. 2 | »He huma cousa, que em si naturalmente não tem o effeyto, que obvio, causando-o só o Demonio, com aquillo, que por permissão Divina le ajunta, para que possa obrar.« (Bluteau 1713: 66) 3 | »Cousa não natural, feita por arte.« (Ebd.)

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Es ist eine Tatsache, dass kulturelle Kontakte verschiedene Kulturen, Religionen und auch Körperschmuck in merkwürdiger Weise zusammenführten. Christen trugen ihre riesigen Rosenkränze und Kreuze um den Hals, Muslime hatten Amulette und grigris und manchmal auch beides. Gaspar Vaz, ein muslimischer mandingo-Sklave in Cabo Verde, zeigte europäischen Reisenden, wie er noch immer einen katholischen Rosenkranz unter seinen muslimischen Kleidern und Amuletten mit sich führte, als ein Symbol des Vertrauens und der Anerkennung für sie (ebd.: 62). Und es waren nicht nur Afrikaner, die unter ihren Amuletten katholische Rosenkränze hatten; auch Europäer trugen muslimische Amulette unter ihren Rosenkränzen. Dies musste nicht unbedingt auf eine Konvertierung zum Islam hindeuten: Die Amulette wurden als Schutz gegen Zauberei getragen, so wurde zumindest behauptet. In Guinea begegneten die Portugiesen muslimischen mandingo-Marabous, die als Orakel praktizierten und Amulette aus Koranfragmenten herstellten. Ab der Mitte des 17. Jahrhunderts wurde mandinga-Magie auch von den Portugiesen verwendet: Im Jahre 1656 band in Chaceu Ambrósio Gomes, »ein weißer Mann«, einige magische Schnüre, die er von den mandingas erhalten hatte, um den Arm von Crispina Peres, einer gebärenden »Mulattin«, um sie zu beschützen (Sweet 2003: 182). Zu Beginn des 18. Jahrhunderts hatte sich der Ruhm der »Mandinga-Taschen« über das ganze Reich verbreitet und feitiçaria und mandinga in der portugiesischen Welt zu fast synonymen Begriffen gemacht. Im Jahr 1700 verkaufte ein Sklave vom Cap Verde, Francisco, eine Vielzahl von bolsas in Lissabon. Diese sollten ihre Besitzer vor Streitigkeiten schützen, das Gewinnen von Spielen ermöglichen und beim Verführen von Menschen behilflich sein. 1729 gestand Luis de Lima (geboren in Oujda) der Inquisition, dass er mandingas in Porto und Pernambuco (Brasilien) verwendet hatte. Er nannte auch 26 andere Sklaven der Mina-Küste, die ebenfalls mandingas verwendet hatten. Die meisten von ihnen hatten einige Zeit in Brasilien verbracht, bevor sie nach Portugal gekommen waren. Einer von ihnen, ein in Bahia geborener Sklave namens Manuel da Piedade, verkaufte Zutaten für bolsas de mandinga. Weitere Afrikaner aus Oujda wurden ebenfalls beschuldigt, mandingas hergestellt zu haben. Es ist interessant, dass keiner von den hier Angeführten wirklich ein Mandinga aus Guinea war, es waren nicht einmal Muslime darunter. Aber ihre Klienten waren Sklaven und Herren, Schwarze und Weiße, Afrikaner und Portugiesen (ebd.: 183; vgl. auch Calainho 2004: 53). Was fanden die Inquisitionsrichter nun in diesen bolsas de mandinga? Altarsteine, Papierstücke mit christlichen Reden, Steine, Stöcke, Wurzeln, Gebeine, Haare, Tierhäute, Federn, Pulver und gesegnete Partikel. Der typische Inhalt von feitiçaria: beliebige Objekte, die in außergewöhnlichen Situationen zusammengetragen worden waren. Diese Beutel wurden sogar an den entlegensten Orten der kolonialen Welt verwendet. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts wurde Vicente de Morais, ein Befreiter und Soldat im Hinterland von Angola, von der Inquisition beschuldigt, ein mandingueiro

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zu sein, d.h. ein Hersteller solcher Beutelchen. Es ist bemerkenswert, dass in diesem Fall die Beutel nicht immer als mandingas bezeichnet wurden: Manchmal nannte man sie auch Sallamanca, Cabo Verde, São Paulo – jeweils an den drei Ecken des südlichen Atlantiks. Vicente gab zu, dass er einen Beutel besaß, der ihn im Kampf schützen sollte. In diesem Beutel fand der Richter einen Teil eines Altarsteins und ein katholisches Gebet. Er gab ebenfalls zu, dass ihm ein weißer Freund ein weiteres Beutelchen gegeben hatte, dieses sei aber nicht von ihm benutzt worden, da er es an jemand anderen weitergegeben hatte (Pantoja 2004: 129f.). Mandinga-Beutel vermischten europäische, afrikanische und vielleicht sogar indianische Praktiken und Praktiker (Mello e Souza 1986: 131). Die Wahrheiten, die in diesen Täschchen enthalten waren, waren allen Völkern, die durch die koloniale Welt reisten, bekannt: die Zerbrechlichkeit des Körpers, die Dummheit der Begierde, die Last der sozialen Hierarchien und die ständige Präsenz des Todes. In der portugiesischen kolonialen Welt konnten diese Fakten alle Unterschiede in Rasse, Herkunft und sogar Religion überwinden, sie bildeten ein neuartiges Objekt, das man atlantisch nennen könnte: den Mandinga-Beutel. Das Paradoxe an der Zauberei scheint zu sein, dass der augenscheinlich machtlose Fremde − der Außenseiter, der Unbekannte − der mächtigste Zauberer ist. Bemerkenswert sind Variationen des ursprünglichen Beutels, wie wir sie im Fall des angolischen Soldaten finden. In Angola kann das Täschchen nicht nur mandinga sein, sondern auch, wie bereits kurz angesprochen, Cabo Verde, São Paulo oder Sallamanca: benannt nach den drei Ecken des Atlantiks. Das Wichtigste − wichtiger als der Ursprung selbst − ist, dass es nicht von hier stammt, sondern von anderswo, von einem merkwürdigen, außergewöhnlichen Ort, so wie auch der Inhalt des Täschchens selbst außergewöhnlich ist. Was in den Täschchen objektiviert ist, ist nicht afrikanischen Ursprungs: Das Täschchen beinhaltet Reliquien und Spuren außergewöhnlicher Ereignisse, in welchen sich die Welten der Lebenden und der Toten treffen. Dadurch, dass sie diese Ereignisse indizieren, helfen sie den Menschen bei der Konfrontation mit dem Unerwartetem in ihrem Leben. Der Symbolismus eines Objekts ist nicht so wichtig wie die Tatsache, dass es »funktioniert«, dass es Wunder vollbringt. Im Fall des angolischen Soldaten sagte dieser deutlich aus, er habe nicht gewusst, dass das Objekt magisch sei, bis es »funktionierte«. Das wundersame Ereignis ist notwendig, und der Beutel ist ein Index dieses Wunders. Dies ist ein wichtiger Punkt. Die Beutel mussten getestet werden: Sie mussten in wichtigen Situationen funktionieren, sodass die Menschen ihre Macht erkennen konnten. Nur dann konnte ein Beutel ihre bolsa werden, ihr persönlicher Index, ihr Fetisch − in einem Ereignis, das jemandes Leben in Relation zu diesem Objekt definiert. Dies ist eine der zentralen Fragen des Fetischproblems, das von Pietz als »Personalisierung« bezeichnet wird. Einen Fetisch zu finden, ist ein Ereignis, das nicht vorhergesehen werden kann. Es ist ein einzelnes Geschehnis, bei dem

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Menschen etwas Unvorhergesehenes finden, das sie als Teil ihrer selbst erkennen, etwas, das personifiziert wird. Die bolsas de mandinga sind Objektivierungen solcher Ereignisse, solcher persönlicher Geschichte(-n). Aus diesem Grund stellen sie nicht nur Symbole von Werten − der einen oder anderen Religion, Kultur, Rasse oder des Kontinents − dar, sondern sie sind Indices der persönlichen Leben der Menschen in der atlantischen Welt – von Leben, die vom Handel gekennzeichnet waren, von der Vergänglichkeit und der Ungewissheit.

V ON FEITIÇOS ZU F E TISCHEN UND F E TISCHISMUS Wir könnten nun annehmen, dass Zauberei in der portugiesisch-kolonialen Welt ein atlantischer Komplex war; ein System des Austauschs von Objekten, Praktiken und Glaubensrichtungen, die über die Meere zirkulierten, die personalisiert und auf unzählige Arten wieder in Besitz genommen wurden. In diesem Kontext expandierten der Terminus feitiço und die Praktiken, die damit assoziiert wurden, über die afrikanischen Küsten und weit über den portugiesischen Einflussbereich hinaus. Hier ergibt sich vielleicht eine Ähnlichkeit zu mandinga, welches zu einem Synonym für Zauberei wurde, eben weil es fremd und ausländisch war; so wurde in den afrikanischen Handelsposten auch das portugiesische feitiço zu einem Synonym für Zauberei. Dies scheint sich irgendwann im 17. Jahrhundert in den Häfen des Golfs von Guinea so zugetragen zu haben, in Orten wie São Jorge da Mina und Oujda. Dort hatten die Portugiesen seit 1500 Festungen gebaut und mit Gold und Sklaven gehandelt. Doch gemäß den Worten eines ihrer späteren Kapitäne wurde niemals auch nur eine einzige menschliche Seele konvertiert (Brasio 1952: 97). Es war andererseits auch jene Region, für die sich die Rivalen Portugals am meisten interessierten. Es gibt daher relativ frühe Berichte (aus dem 16. Jahrhundert) von holländischen, englischen, dänischen und französischen Reisenden, die mit den Portugiesen um einen Handelsplatz an der Küste im Wettstreit standen und die diese letztendlich Mitte des 17. Jahrhunderts überwältigten. Zwei der dort vorgefundenen Aspekte standen diese Reisenden am kritischsten gegenüber: zum einen der Population der »Mulatten« (mulattos), die betrügerisch und boshaft zu Afrikanern wie Europäern war (Bosman 1705); und zum anderen war da etwas, das die Reisenden überraschte und beunruhigte − die fetissos. Für Protestanten wie de Marees und Bosman waren die fetissos nicht nur magische Zauber wie für die Portugiesen, sondern die Gottheiten der Afrikaner; und deren Priester waren die fetisseros (Purchas 1605: 290). Die portugiesische Unterscheidung zwischen Zauberei und Idolatrie war oberflächlich: Magie und Religion waren dasselbe. Die Religion der Afrikaner war der fetisso und dies führte zu einer unüberwindbaren Distanz zwischen den Afrikanern und den protestantischen Europäern.

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Der fetisso, fetish, fétiche wurde ab dieser Zeit direkt mit Afrika assoziiert, ohne Bezugnahme auf die Portugiesen, welche vollends aus den Berichten verschwanden. Die neuen protestantischen Reisenden wollten keine Werkzeuge des Teufels oder Geister der Toten hinter den Fetischkulten sehen. Die Fetische seien Vorrichtungen, die von Menschen in ihrer Dummheit und ihrer Gier gemacht worden waren, und Gott sei dabei nur ein ferner Schöpfer in einer entzauberten Welt. Und so wurde aus der Geschichte und dem Zauber des Fetischs die bloße Betrügerei eines falschen »Priesters«, der nichts anderes war als ein Scharlatan. Dies ist besonders augenscheinlich in Willem Bosmans Berichten über Fetischverehrung in Guinea. Er erwähnt in keinem einzigen Fall den Teufel als Ursache des Fetischs: Ursache seien nur die Dummheit und die Gier der Afrikaner (Bosman 1705: 146). Bosman bemerkt, dass ein Afrikaner auf die Frage hin, wie viele Gottheiten verehrt würden, lachend geantwortet habe, so viele wie sie bräuchten. Sie machten einfach einen, wenn sie einen bräuchten. Sie wussten, dass sie künstliche Götzen machten − und verehrten diese auch noch! Für Bosman war das ein klarer Beweis, dass ihre Religion nur durch Eigeninteresse begründet war. Ein Beispiel, auf das er sich ebenfalls bezieht, ist der Schlangenkult in Oujda. Er beschreibt, dass eine bestimmte Schlange ihre Verehrer verlassen hatte und direkt in die Stadt ihrer Feinde geflüchtet war, »worüber diese überglücklich waren« (ebd.: 367); die früheren Feinde wurden somit die neuen Verehrer der Ausreißerin. Für Bosman gilt: »How their Gods are represented to them, or what Idea they form of them, I never yet could learn, because indeed they do not know themselves.« (Ebd.: 155) Es bereitet Bosman Schwierigkeiten, den Fetisch in Begriffe der Repräsentation zu fassen – und tatsächlich kann der Fetisch nicht als eine Repräsentation oder als ein Symbol oder Ähnliches verstanden werden. Es ist klar, dass die Fetische nichts repräsentieren: Sie sind selbst Kultobjekte. Die Schlange von Oujda war nicht das Symbol von etwas, sondern das Kultobjekt selbst. Wie schon erwähnt ist der feitiço im Wesentlichen ein Index – ein Zeichen, das nicht durch eine geistige Repräsentation für ein Objekt steht, sondern das die Konsequenz einer Handlung ist; ein Index eines außergewöhnlichen Ereignisses, das zu einem ganz neuen Geschöpf mit einem lebenden Atem wird. Dies war vielleicht für einen Mann der Aufklärung, wie Bosman, unmöglich zu akzeptieren, besonders nachdem die aufgeklärte, moderne Theorie der Handlungsfähigkeit anthropozentrisch ist, und besagt, dass nur Menschen über Handlungskraft verfügen: Ihre Handlung wird durch Absichten gesteuert oder besser noch durch ihren Willen, während alle anderen Ereignisse natürlich sind; und die Natur wird durch Gesetzmäßigkeiten gesteuert, nicht durch Absichten. Für einen modernen Denker würde deshalb eine heilige Schlange, die den Feinden zugelaufen ist, nicht unbedingt bedeuten, dass diese von den Feinden verehrt werden will. Denn eine Schlange ist ein einfältiges Tier, das den Gesetzen der Natur folgt und keinen Willen hat – nur Menschen

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verfügen über einen Willen. Es wird in den Reiseberichten sehr häufig erwähnt, dass die Afrikaner den erstbesten Gegenstand, den sie auf ihrem Wege finden, verehren; das erste Ding, das ihnen gefällt, erkennen sie als ihren Fetisch. Dies wurde von den europäischen Denkern als Beweis ihrer Dummheit und ihrer Unkenntnis der Naturgesetze gewertet – da sie nicht verstünden, dass Gegenstände nicht über einen Willen verfügen, sondern von Gesetzmäßigkeiten reguliert werden. Für Hegel schloss dies die Afrikaner aus der Geschichte aus – da ihre Beziehung zur Welt nicht aus Verständnis, sondern aus reiner Phantasie bestünde. Bezug nehmend auf Evans-Pritchard (und vielleicht sogar Wittgenstein beschwörend) sollten wir vielleicht erwähnen, wo Hegel hier irrte: Die Magie negiert nicht die Naturgesetze, sie sucht nur menschliche Bedeutung hinter Ereignissen, wenn diese Ereignisse verblüffend und außergewöhnlich sind. Nicht irgendeine Schlange wird ein Götze; aber wenn eine Schlange mitten in einer kriegerischen Auseinandersetzung die Seite wechselt, dann ist es eben schwer zu glauben, dass dies keine Bedeutung haben soll – dass kein Wille dahinterstehen könne. Ist nun aber das magische Denken tatsächlich so weit von der Aufklärung entfernt? Vielleicht nicht. Bosman vergleicht, wie auch andere protestantische Händler, Fetischverehrung mit dem Katholizismus.4 Es sollte nicht verwundern, dass im frühen 18. Jahrhundert, nach langen und blutigen Religionskriegen und wirtschaftlichen Auseinandersetzungen auf der ganzen Welt, protestantische und frei denkende Händler alles, was Papismus beinhaltete, ablehnten. Was sie bei diesen Religionen als Gemeinsamkeit fanden, war »Externalismus«: die Relevanz, die Ritualen und Darstellungen von Objekten gegeben wurde, die hierarchische Macht religiöser Versammlungen und ganz besonders deren Tauschcharakter – das Basieren auf Austauschprozessen mit dem Göttlichen, durch erfundene Mediatoren wie Fetische, Geister, Heilige und Priester. Das Göttliche wurde gemacht und verkauft. Demgegenüber verstanden die Protestanten ihre eigene puritanische Praxis als private Beziehung zwischen Individuen und Gott, gestaltet durch ihre Gedanken und ihren Glauben, nicht durch erfundene Objekte und Rituale oder Aufführungen, in einer Beziehung, die nicht in Austauschprozessen oder Tauschhandel bestand. Im Gegenteil, Produktion und Austausch gehörten zur Wirtschaft, wie Marx sehr gut erklärte. Tatsächlich kann man die Wirtschaft in Begriffen des Fetischismus verstehen, aber natürlich würden dies Bosman und seinesgleichen niemals so wahrnehmen – das wäre ja so, als ob man die hybride Natur der Moderne wahrnehmen würde. 4 | Über die Hugenotten sagte Barbot: »[…] these people have fetishes […] just like Roman Catholics have their saints.« (Barbot 1992: 578) Bosman meint: »If it was possible to convert the Negroes to the Christian Religion, the RomanCatholics would succeed better than we should, because they agree in several particulars, especially in their ridiculous Ceremonies […].« (Bosman 1705: 154 zitiert nach Pietz 1985: 39)

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So gesehen wäre ich auch nicht sicher, dass Bosman und seinesgleichen den Fetisch nicht verstanden hatten: Sie organisierten z.B. ihre Wirtschaft um ihn herum. Was sie beschäftigte war vielmehr die Religion als der Fetisch. In Du Culte des Dieux Fétiches entwickelte Charles de Brosses letztlich eine umfassende Theorie des Fetischs und führte den Begriff Fetischismus ein. Er argumentiert, dass Fetischismus oder der Objektkult der Ursprung aller Religion sei. De Brosses brachte das mächtigste Argument gegen Religion hervor, das jemals in einem Jahrhundert des Skeptizismus gegen sie hervorgebracht wurde. Dadurch, dass er das Verehren von Dingen als einen ersten Schritt in einem Fortschrittsprozess, der zu spirituelleren Formen der Religion führte, identifizierte, war es endlich möglich, die Kritik an der Religion in eine breitere Theorie des Fortschritts zu integrieren, welche die Aufklärung als letztes, logisches Ende menschlicher Errungenschaft darstellen konnte: Im modernen Europa hatte es die Menschheit endlich geschafft, Objekte einfach nur in ihrem wahren Wert als Waren zu sehen und religiöse Ansichten völlig von materiellen Objekten zu trennen. Oder zumindest dachten sie dies, bis Marx aufzeigte, dass die Art und Weise, wie sie Waren verehrten, ebenfalls Fetischismus war. Aber dies ist eine andere Geschichte, die vorzüglich von anderen angesprochen und diskutiert worden ist. Ich möchte hier noch betonen, dass ab diesem Zeitpunkt Afrika nicht nur räumlich sehr weit entfernt war, sondern auch zeitlich. Denn tatsächlich war für Hegel Afrika gänzlich außerhalb der Geschichte.

G R AEBER : F E TISCHISMUS ALS SOZIALE K RE ATIVITÄT Graebers Lesart von The Problem of the Fetish folgt ganz klar Marx, und zwar dort, wo er einen Parallelismus zwischen westlichem Warenfetischismus und afrikanischem Fetischismus erkennt. Graeber ist speziell daran interessiert, zu zeigen, dass dieser Parallelismus nicht nur eine Kritik darstellt. Zu behaupten, Kapitalismus beruhe auf Warenfetischismus, heißt nicht einfach, der Kapitalismus sei ebenso töricht und unberechenbar wie die Religion der Afrikaner. Für Graeber ist der Fetischismus soziale Kreativität. Mit seinen Worten: »If Fetishism, at root, is our tendency to see our own actions and creations as having power over us, how can we treat it as an intellectual mistake?« Der schlechte Ruf des Fetischismus resultiere aus Missverständnissen. Afrikaner »machten« Fetische als Mittel, um soziale Beziehungen herzustellen. Sie verschleierten die Tatsache nicht, dass die Objekte ebenso wie die sozialen Beziehungen, die von ihnen abhingen, »erfunden« und auf eine gewisse Art zufällig waren. Die Europäer wiederum würden nicht erkennen, dass der Wert, den sie Objekten zuschreiben, ebenfalls das Resultat einer sozialen Beziehung war. Es seien also die Europäer, welche die soziale Konstruktion der Realität nicht erkannten (oder leugneten) und ihr einen schlechten Namen gaben: Fetischismus. Aus Sicht Graebers teilten Europäer und Afrikaner einen bestimmten existen-

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tiellen Pessimismus: Beide sahen die Gesellschaft und ihre Institutionen als notwendiges Übel, das eingeführt werden musste, um Chaos zu vermeiden. Einige kikongo-Texte sagen beispielsweise sehr klar, dass die nkisi (die Fetische) eine Möglichkeit seien, einen Krieg aller gegen alle zu verhindern (Graeber 2005: 219). So wie Hobbes’ Leviathan. Europäer und Afrikaner waren also im Grunde gar nicht so verschieden, sondern sich eigentlich sehr ähnlich. Für Graeber war es »the underlying affinity, I suspect, which accounted for the common European reaction of shocked revulsion and dismay on being exposed to so many aspects of African ritual: a desperate denial or recognition« (ebd.: 415). Graeber unterstreicht eines jener, von Pietz identifizierten Probleme: das Problem der Verdinglichung (reification) – soziale Werte als das Resultat sozialer Konstruktion. Graeber insistiert, dass es nichts Abnormales oder Dummes sei, Dinge als Objektivierungen sozialer Beziehungen zu nutzen. Er weist aber auch darauf hin, dass dieser Prozess der Objektivierung letztendlich arbiträr sei. Nicht das Objekt selbst, sondern die Handlung, die wegen ihm vollzogen wird, bedeutet soziale Macht. Für Graeber sind Objekte »only the medium. Hence what they are is ultimately somewhat arbitrary: one can use valuable objects from faraway lands, or one can, in fact, use pretty much any random object one lays one’s hands on, ›a Lion’s Tail… a Bird’s Feather… a Pebble, a Bit of Rag‹. In this, Pietz’s sources had a point, because this is exactly the moment where the arbitratriness of value comes fully into focus. Because really, creativity is not an aspect of the objects at all, it’s a dimension of action. In this sense the new does in fact emerge from the old, and the numinous, alien nature of the object is really the degree to which it reflects on that aspect of our own actions that is, in a sense, alien to ourselves.« (Ebd.: 425)

Als Erstes stellt sich hier die Frage, ob jene »Afrikaner«, die Graeber, Pietz und deren Quellen zitieren, wirklich mit dieser Idee der Kreativität übereinstimmen. Würden sie sagen, dass die Macht, die sie in Objekten wahrnehmen, wirklich nur von ihnen selbst konstruiert ist? Vielleicht ist das auch wieder nur ein Teil des europäischen Missverstehens des Fetischproblems, in das Graeber zurückfällt. Die Macht der Objekte ist nicht nur das Resultat des Verdinglichungs- oder Auferlegungsprozesses von menschlichen Werten. Die Macht des Fetischs oder der Objekte, die von den Europäern als Fetische identifiziert worden waren, ist nicht arbiträr sondern notwendig. Was meine ich mit notwendig? Ich meine, dass die Macht des Fetischs nicht nur arbiträr von derjenigen Person, die ihn findet, zugesprochen wird, sondern von dieser Person auch als in diesem Objekt inhärent wahrgenommen wird. Diese Macht jedoch offenbart sich nur in der Begegnung zwischen dem Objekt und dieser Person. In diesem Sinne könnten wir sagen, dass sie in und durch das Ereignis der Begegnung auftaucht. Wir könnten immer sagen, dass letztlich diese »Erkenntnis« eine Handlung der Leugnung ist. Vielleicht ist sie das, aber dies liegt außer-

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halb unserer Reichweite als Anthropologinnen und Anthropologen. Wer sind wir zu behaupten, dass Menschen sich täuschen haben lassen oder nicht? Für uns zählt, dass diese Täuschungen als soziale Fakten operieren. Und noch immer gilt, dass die Objekte nicht zufällig ausgewählt werden: Es ist nicht »any random object one lays one’s hands on, ›a Lion’s Tail… a Bird’s Feather… a Pebble, a Bit of Rag‹«, sondern es muss genau und es kann einzig und allein dieser Löwenschwanz, diese Vogelfeder und dieses Steinchen, dieses Stück Fetzen sein, das genau in diesem spezifischen Moment gefunden wurde und das die unheimliche Macht des Fetischs über das Subjekt aufdeckt. Es ist deshalb nicht irrelevant, dass dieses Objekt eine »fremde Natur« hat. Es ist nämlich genau jene fremde Natur – ihre radikale Andersartigkeit – die den Erkenntnisschock hervorruft. Diese Verbindung von Subjekt, Objekt, Raum und Zeit ist nicht nur eine Handlung, durch die das Subjekt seine Kreativität auf das Objekt durchdringen (infuses) lässt, sondern es ist ein Ereignis der Begegnung, das etwas anderes hervorruft, etwas, das es vor der Begegnung nicht gab. Diese Begegnung hat, mit anderen Worten, Historizität. Tatsächlich kann die Frage der Historizität nicht auf die Verdinglichung reduziert werden. Ich habe erörtert, dass beide Fragen in Wirklichkeit verschiedene Momente der Geschichte des Fetischs ansprechen: einen ersten historischen Moment der Begegnung und des Austauschs zwischen Afrikanern und Europäern, genauer der Portugiesen, in welchem die Händler daran interessiert waren, Gemeinsamkeiten und gemeinsame Wertsysteme zu finden; und einen zweiten Moment der Konsolidierung europäischer Kolonialprojekte, in welchen die Unterschiede zwischen Afrikanern und Europäern selbst einen Diskurs der Differenz herstellten.

S CHLUSSFOLGERUNGEN Im Allgemeinen ist das Paradoxe an der Geschichte des Fetischs, dass es dabei gleichermaßen um Austausch und Vermischung geht, um Missverstehen und Leugnung, um kulturelles Verstehen und Missverstehen, um die Geschichte und die Verleugnung derselben. Die Objekte, welche als Fetische identifiziert wurden, zirkulierten als grigris, patuás, mandingaBeutel durch das Atlantische Dreieck, und ihre Inhalte vermischten christliche, muslimische und afrikanische Glaubenselemente miteinander. Sie schienen von einer Art gemeinsamer Sprache abzuhängen, einer Sprache der Magie, die auf jenem Wert, den man außergewöhnlichen Ereignissen, Wundern und Erleuchtungen beimaß, basierte sowie auf der anhaltenden Macht der Objekte, die diese indizierten. Der wichtigste Punkt hierbei ist die Historizität des Fetischs. Pietz nimmt an, »the fetish is always a meaningful fixation of a singular event; it is above all an ›historical‹ object, the enduring material form and force of an unrepeatable event.« (Pietz 1985: 12) Das ist es, was von den europäischen Reisenden als Launenhaftigkeit

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oder willkürliche Auswahl interpretiert worden war; aber es ist in der Tat die Erkenntnis der einzelnen Werte, die durch die Ereignisse generiert wurden, welche nicht durch die Liste der Elemente erklärt werden können, und die Teil der Situation waren, bevor die Ereignisse eintraten (Latour 1996; 2001). Einen Fetisch zu finden, ist ein Ereignis, das man nicht vorhersagen kann: Es ist eine einzelne Erscheinung, in der Menschen etwas Unvorhergesehenes entdecken, das sie als Teil ihrer selbst erkennen, als etwas, das personifiziert wird. Pietz erklärt diesen Punkt sehr schön und bezieht sich hierbei auf Leiris und die surrealistische Auffassung des objet trouvé: »[…] these crisis moments of singular encounter and indefinable transaction between the life of the self and that of the world become fixed, in both places and things, as personal memories that retain a peculiar power to move one profoundly.« (Pietz 1985: 12) Genau genommen sind die surrealistischen Auffassungen des objet trouvé und des hasard objectif die ausgefeiltesten und definitivsten Realisierungen des Fetischproblems. Die angesprochene, in Ereignissen begründete Historizität ist radikal verschieden zur Hegel’schen Sicht der Geschichte als Teleologie. Aber es ist dieser Begriff der Historizität, den wir im Kern der Anthropologie finden, der historische Partikularismus von Boas, wenn er darauf besteht, dass gleiche Ursachen nicht gleiche Effekte hervorrufen; und die neue historische Anthropologie, die aus dem Werk von Marshall Sahlins entsteht, fokussiert genau die Relevanz des Ereignisses in der »structure of the conjuncture«, um Prozesse kulturellen Wandels und Austauschs zu erklären. Ein wichtiger Aspekt in Sahlins Beschreibung der Struktur des Zusammentreffens ist, dass soziale Akteure das Zusammentreffen so wahrnehmen, als ob es traditionelle Strukturen wiederholen würde, während diese tatsächlich durch die Wiederholung verändert werden. Exakt diesen Punkt möchte ich hervorheben: Das Ereignis, in dem der Fetisch gefunden wird, wird von der Person nicht als zufällig wahrgenommen, sondern als notwendig. Der Wert, den die Person in dem Objekt findet, ist nicht wahllos zugesprochen, sondern wird als immanenter Wert des Objekts gesehen, als etwas Unvollständiges, das immer da war und das auf genau diese Person gewartet hat, etwas, das sie erkennen würde. Es ist, als ob sich das Objekt der Person anbieten würde: Als hätte beides immer zusammengehört. In diesem Sinne findet auch ein Prozess des vermittelten Austauschs statt, zwischen der Person und einem versteckten Wert, der sich selbst an die Person weitergibt. Deshalb werden kontextuelle Werte und geschichtliche Veränderungen auch als immanente Werte und vermittelte Austauschprozesse wahrgenommen. Im Fall des Fetischs beispielsweise ist es genau diese Historizität, die ihn in ein Objekt der interkulturellen Vermittlung verwandelt, das sprichwörtlich christliche, afrikanische und muslimische Elemente in einem Beutel vereint und in diesen Elementen einen potentiellen, vom Fetisch umfassten Wert erkennt. Auf einer anderen Ebene ist dies auch die Geschichte eines schrecklichen Missverständnisses. Oder besser einer furchtbaren Verleugnung. Die Verleugnung des Fetischismus. Sie begann im ausgehenden 17. Jahrhun-

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dert, als protestantische Reisende wie Bosman erklärten, sie könnten nicht verstehen, was Fetische repräsentierten. Aber, wie ich schon feststellte, es ist schwer zu glauben, dass sie nicht verstanden − sie wollten nicht verstehen. Sie lehnten es ab, zu erkennen, dass ihnen der Fetisch selbstverständlich bekannt war. Man kann diesen Moment als einen der ersten Schritte verstehen, die Beziehung zwischen Dingen und Menschen auf bestimmte Weise zu sehen, so wie Wirtschaft und Religion, als zwei verschiedene Wertebereiche. Bosman ist nur ein weiterer Vertreter in einer Linie von Denkern einer − wie Keane es nennen würde − »semiotischen Ideologie« des Westens, welche beschloss, dass die Welt zweigeteilt war: Entweder ihr seid mit uns, dem aufgeklärten Europa, der Zivilisation, dem Kommerz, oder ihr seid gegen uns, als das fetischistische Afrika, die Barbarei und die Religion. Dies ist ein Fehler, den auch Graeber trotz aller guten Intentionen macht. Er bekräftigt, in einer guten marxistischen Stimmung, dass jeweils beide, Afrikaner und Westler, Fetischisten sind, auf unterschiedliche Arten – weil die Europäer den Fetischismus missverstehen. Europäer seien nicht in der Lage zu erkennen, dass sie ebenfalls ihre eigenen Götzen erschaffen. Aber hier verfehlt Graeber es, zu verstehen, dass die Europäer, wenn vom Fetischismus der Afrikaner die Rede ist, in Wirklichkeit über eine Gesellschaft nachdenken, die weder rein afrikanisch noch europäisch war, sondern beides. Oder besser: Vor diesen radikalen Unterscheidungen war die Idee des Fetischs weder afrikanisch noch europäisch, sondern das Resultat eines historischen Ereignisses. Der Fetisch war ein Begriff, der nicht das Resultat eigener Vorstellungen war, sondern der Begegnung, genauso wie die Gottheiten nicht nur das Resultat unserer eigenen Kreativität sind, sondern auch aus der Begegnung mit anderen kommen. Aus dem Englischen übersetzt von Claudia Posch. Titel des englischen Originals: The Fetish: Creativity and Historicity in the Modern Atlantic

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Fetische und ungerade Dualismen Anmerkungen zu afrikanischen und afroamerikanischen Religionen Rogério Brittes W. Pires

Obwohl der Begriff des Fetischs inzwischen große Veränderungen durchlaufen hat, spiegelt sich seine ursprüngliche Verwendung immer noch in gegenwärtigen wissenschaftlichen Arbeiten wider. Mit »ursprüngliche Verwendung« ist das Fetischkonzept als Möglichkeit, spezifische magischreligiöse Sammelstücke zusammenzufassen, gemeint, die es in afrikanischen und afroamerikanischen Religionen gibt.1 Zu diesen Sammelstü1 | Meine Absicht ist natürlich nicht, die Vielfalt der afrikanischen Religionen auf ein einziges generisches Modell zu reduzieren, sondern mich vielmehr auf einen Aspekt zu konzentrieren, der in mehreren dieser Religionen als relevant erscheint. Dieser Aspekt taucht offenbar ebenfalls in vielen afroamerikanischen Religionen auf, wie die lange und hitzige Debatte über die Beziehungen zwischen afrikanischen und afroamerikanischen Religionen rückblickend zeigt. Ich will hier keine einfache Kontinuität zwischen diesen postulieren und stimme auch nicht mit jenen Standpunkten überein, die einen totalen Bruch zwischen diesen Religionen annehmen. Ich glaube, dass das richtige Maß zwischen der Fortdauer afrikanischer Eigenheiten und amerikanischer Erfindung von Feldforschungen vorgegeben werden muss: Es könnte sein, dass bei einer spezifischen Population oder Religion eher Kontinuität gegeben ist, und bei anderen – oder sogar bei denselben Populationen oder Religionen, dafür aber zu verschiedenen historischen Zeitpunkten − Brüche passieren. Mir ist allerdings klar, dass es sehr problematisch sein kann, zeitgenössische afrikanische Daten zu verwenden, um über neue Weltreligionen nachzudenken (und umgekehrt). Der Fall des Fetischs sticht hier heraus. Allerdings ist er laut Pietz eine »Problem-Idee«, welche nicht irgendeiner Gesellschaft zu eigen ist, sondern einem interkulturellen Austausch entlang der Küste Guineas – zwischen Europäern und Afrikanern, deren Begegnung durch den Sklavenhandel eine Ausweitung bis nach Amerika erfahren hat. Deshalb ist der Fetisch kein afrikanisches Thema, das künstlich auf den afroamerikanischen Kontext übertragen wurde, denn die Probleme, denen er nachgeht,

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cken zählen machtvolle Objekte, wie beispielsweise Steine und Statuen, oder eher heterogene Zusammenstellungen diverser Bestandteile, die zur Erbetung von Schutz und Heilung, für Wahrsagung und ähnliche Zwecke verwendet wurden. Mit anderen Worten also Objekte, die in ihrer Art jenen Objekten, die man während des Seefahrerzeitalters Fetische nannte, sehr ähnlich sind.2 Während marxistische und psychoanalytische Versionen des Fetischkonzepts vor allem im frühen und mittleren 20. Jahrhundert blühten, durchlief das Verständnis des Fetischs als Religion eine Periode der Stagnation und der theoretischen Schmähung. Das Konzept wurde für viele Jahre als problematisch und wenig fruchtbar erachtet, voll von rätselhaften Missverständnissen und kolonialistischen Vorurteilen, als eine ethnozentrische und altmodische Idee. Jedoch ist seit den 1970er Jahren eine Art Wiedergeburt des religiösen Fetischkonzepts feststellbar, eine Art zeitgenössische Wiederbelebung des religiösen Fetischs in der Anthropologie. Dies stellt, wenn auch weder homogen noch kohärent, eine bemerkenswerte Bewegung einer konzeptuellen Revitalisierung dar. Viele Theoretikerinnen und Theoretiker sind seitdem gewillt, die Diskussion über das Konzept, seine Geschichte, seine Probleme und seine möglichen Verwendungen fortzusetzen. In diesem Beitrag beschäftige ich mich mit eben jenen jüngsten Werken, nicht nur um zu zeigen, dass das religiöse Fetischkonzept noch immer brauchbar ist, sondern auch, dass die Objekte selbst (die magisch-religiösen Sammelstücke, die man Fetische nennen kann) ein machtvolles Potential beinhalten, das uns helfen kann, einige klassische Probleme in der Religionsanthropologie neu zu überdenken. Ich werde mich hierbei vor allem auf das Problem der Dualismen konzentrieren. Es erscheint überlegenswert, ob der Fetischbegriff etwa – nach seiner langen Reise durch die Philosophie und die Humanwissenschaften, nach seinem Durchwandern der Aufklärung, des Positivismus, der Psychoanalyse, des Marxismus und einiger weiterer Strömungen westlichen Denkens – vielleicht in das ethnographische Gebiet zurückkehren könnte, aus dem er hervorging. Bevor der Begriff über die Religion hinausging und auch in anderen Bereichen des menschlichen Lebens Anwendung fand, und bevor ihn de Brosses (1760) und Comte (1855) verallgemeinerten, wurden mit Fetisch bekanntlich ein sehr spezifischer Kontext und die sind – so könnte man sagen – atlantisch: zu seinen beiden Grenzen gehörend wie auch zu seiner Mitte. Die reine Idee des Fetischs vermeidet die problematische Dichotomie zwischen reinen Formen und Synkretismus und öffnet einen Ort für Dialoge und Vergleiche. 2 | Es wird nicht nötig sein, ein weiteres Mal auf das Auftauchen der Idee und des Konzepts Fetisch einzugehen, dies wurde gründlich von William Pietz (2005), Alfonso M. Iacono (1992) und Michèle Tobia-Chadeisson (2000) dargelegt. Ich möchte hier nur kurz einige für mich relevante Punkte der Geschichte in Erinnerung rufen.

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damit verbundenen Probleme bezeichnet. Die derzeitige Verwendung des Begriffs Fetisch, nämlich um über gewisse Aspekte von Religionen afrikanischer Matrix nachzudenken, ist irgendwie auch eine Nachbildung der anfänglichen Kapitel der Genealogie des Fetischs: Gefördert wird eine externe Beobachtung von magisch-religiösen Objekten, welche in einer interkulturellen Zone ohne definierte Grenzen zirkulieren – einer Zone, die man den Schwarzen Atlantik nennen könnte. Diese Art der Beobachtung konstruiert und rekonstruiert ihre eigenen Konzepte, die jeweils auf einer Beziehung aufbauen, die durch Vorannahmen der Beobachtenden destabilisiert wird. Genau wie damals, als man in Europa wie hypnotisiert von den merkwürdigen Objekten Guineas war und sich neue Konzepte einfallen lassen musste, um überhaupt über sie nachdenken zu können.3 Wir sollten jedoch im Auge behalten, dass die Beobachtung heutzutage epistemische und politische Anliegen beinhaltet, die sehr weit von jenen der Zeit von vor 300 Jahren entfernt sind. 3 | Diese neuen Konzepte waren nicht unbedingt europäisch. Sie gehörten einer Grenzregion an, was bedeutet, dass sie in der Lage waren, verschiedene Diskurse (oder pensées) zu vereinen und abzulösen. Man kann über diese Konzepte (und im Speziellen über den Fetisch) auf mindestens zwei Weisen nachdenken: entweder als eine Art Pidgin-Vokabular oder als Teil einer Kreolsprache. Die erste Ansicht scheint die von Pietz zu sein. Sie weist auf eine unvollständige Mediation hin, auf einen vereinfachten und verarmten Dialog, der durch Unverständnis, Vorurteil und Kritik der anderen geprägt ist, im Speziellen derer in untergeordneter Position: »A major colonial misunderstanding«, wie Mauss (1995 [1908]) anmerkte. Roger Sansi (2007: 20 et passim) schlägt vor, Fetisch als Kreolwort zu sehen: als Element einer Mischsprache, typisch für Populationen, die in der Seefahrerzeit den lusophonen Atlantik bewohnten und die weder ganz afrikanisch noch ganz europäisch waren. Sansis Beispiele sind die Tangomãos und die Kristons, deren beunruhigend ambige Position ganz klar von der nordeuropäischen Sprache versteckt und abgelehnt wurde und die eine nichtreduzierbare Assymetrie zwischen Afrika und Europa verkündete. Es ist richtig, dass der Unterschied zwischen Pidgin und Kreol nicht immer klar ist. Beide können als zwei Pole eines Kontinuums gesehen werden. Ebenso trifft auch zu, dass ein genaues Festlegen der Position des Wortes Fetisch in diesem Kontinuum eine schwierig zu lösende linguistische und historische Frage ist. Was allerdings durch Sansis Vorschlag hervorgehoben wird, ist die Tatsache, dass das Konzept des Fetischs – genauso wie seine Historizität – eine Welt bezeichnet, in welcher vorrangige Unterscheidungen zwischen Europa und Afrika, zwischen uns und ihnen, dem Westen und allem anderen nicht relevant sind – eine Welt »dazwischen«. Deshalb wäre es interessant, im Fetisch mehr zu sehen, als nur das Resultat eines kolonialen Missverständnisses: Er ist ein legitimer »hybrider« Artefakt. Fetisch ist nicht nur eine große Verwirrung, eine europäische Fehleinschätzung fremder Praktiken, sondern eine Art Mediator, ein Verknüpfer. Ironischerweise könnte sich gerade Latours Beispiel für die Asymmetrie gut zur Demonstration symmetrischer Anthropologie eignen (vgl. Latour 1991; Holbraad 2007: 190f.; Viveiros de Castro 2003: 2004).

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Ich behaupte weder, dass der Begriff des religiösen Fetischs die afrikanischen oder afroamerikanischen religiösen Sammelstücke umfassend erklären könnte, noch dass dessen Wahrheit in seinen »Ursprüngen« läge. Denn es gibt einige Beispiele von Autoren, die das Konzept für andere Zwecke und in anderen ethnographischen Gebieten verwenden.4 Dennoch behandelt sowohl die klassische wie auch die zeitgenössische Literatur bevorzugt afrikanische und afroamerikanische Daten bei der Beschäftigung mit religiösen Fetischismen. Ich bin nicht der Ansicht, dass der Grund dafür eine wie auch immer geartete Ermüdung ist, welche uns dazu verleitet, alte Begriffe zu verwenden, um Traditionen zu bestätigen, die von Reiseberichten und philosophischen Arbeiten hinterlassen wurden. Die verschiedenen Probleme, die durch das Fetischkonzept aufgezeigt werden, scheinen einfach in den sogenannten »traditionellen afrikanischen Religionen« wie auch in afroamerikanischen Religionen besonders herauszustechen.

D ER F E TISCHKOMPLE X Das Konzept des religiösen Fetischismus wurde in den letzten Jahrzehnten also mit offenen Armen wieder aufgenommen. Dies ist das Resultat spezieller Sachverhalte in der zeitgenössischen intellektuellen Agenda. Es ist also nicht so, als ob einige in den Gebieten der Afrikanistik und Afroamerikanistik plötzlich realisiert hätten, dass das abgetragene Fetischkonzept zuinnerst doch recht praktisch wäre, um über religiöse Objekte nachzudenken. Es gibt einige andere Gründe, warum der Fetischismus erneut relevant ist: das Zunehmen der Forschungen über Materialkultur, das vergleichbare Wiederaufleben des Konzepts des Animismus, der Reiz eines Schwarzen Atlantiks als prominente historisch-kulturelle Region und die zunehmende anthropologische Debatte um die Begründung der Disziplin (speziell um den Kolonialismus und die Aufklärung, die auch den Diskurs über den Fetischismus begründet). Dies beschreibt Viveiros de Castro äußerst treffend: »For some time now the human sciences have displayed a shift in interest towards semiotic processes such as metonymy, indexicality and literality – three 4 | Einige Beispiele: Webb Keane (2007) beschäftigte sich, inspiriert durch den Latour’schen Bericht über den Fetischismus, mit der Beziehung zwischen den Missionaren und der indigenen Bevölkerung auf der Insel Sumba (Indonesien). Roy Ellen (1988; 1990) merkte an, dass Fetischismus eine ganz bestimmte Artikulation kognitiver Prozesse sei, wie das Beispiel der heiligen Schilde der Nualu (ebenfalls Indonesien) zeige. Louis Hourmant (1993) verwandte das Konzept, um über heilige Schriftrollen eines französischen, neobuddhistischen Kults zu theoretisieren. Lory (1993) und Mommersteeg (1990) wiederum nahmen sich des Fetischthemas bei der Untersuchung islamischer Daten an.

F ETISCHE UND UNGERADE D UALISMEN modes of rejecting metaphor and representation (metaphor as the essence of representation), privileging pragmatics over semantics, and valorizing paratactic coordination over syntactic subordination […]. Put otherwise, the ancient premise of the ontological discontinuity between language and the world, which assured the reality of the former and the intelligibility of the latter (and vice-versa) and that served as ground and pretext for so many other discontinuities and exclusions – those between myth and philosophy, magic and science, primitive and civilized, for example – seems to be in the throes of metaphysical obsolescence.« (Viveiros de Castro 2010: 221)

In der Anthropologie entstand nach den 1960er und 1970er Jahren, als das Schlagwort der Zeit Symbol lautete, eine Art antisymbolistischer Sog. Heutzutage versucht man, über indexikalische und metonymische Dimensionen nachzudenken, um der Interpretation von Kultur als Bedeutungsnetz oder als soziale Praxis und um Phänomenen der Repräsentationen zu entkommen (ein Rückgriff auf das Opfer, das Lévi-Strauss aus seiner Diskussion des Totemismus ausgliederte). Es scheint, als sei nichts zeitgemäßer, als den Fetischismus noch einmal zu überdenken, welcher einst die »nichtmetaphorische« Religion par excellence war. Erinnern wir uns daran, dass de Brosses (1760) den Fetischismus als einen Kult betrachtete, der direkt der rohen Materie huldigte, ohne figurativ zu sein, ohne Repräsentation oder Transzendenz. Wenn es, als das Thema im späten 19. Jahrhundert einen Popularitätshöhepunkt erreichte, überhaupt einen Konsens über Fetische gab – so der Historiker Tomoko Masuzawa –, dann in der Idee, dass Fetische auf reiner Materialität basierten, auf körperlicher Unmittelbarkeit: Fetischismus wäre demnach das Anbeten des Objekts als es selbst und nicht als das, was es repräsentierte, oder dessen, was es in sich trug, sondern wegen dem, was es tat: »The fetish is materiality at its crudest and lowest; it points to no transcendent meaning beyond itself, no abstract, general, or universal essence with respect to which it might be construed as a symbol.« (Masuzawa 2000: 248) Tatsächlich bildet dieser negative Blick auf den Fetischismus (und deshalb auch auf den »primitiven Geist«) zu einem großen Teil den Kern der Argumentation der modernen Anthropologie, mithilfe derer das Konzept als ethnozentrisch abgelehnt wurde. Das Konzept wurde abgelehnt, sobald wir erkannten, dass es niemals so etwas wie »Primitive mit einem vorsymbolischen Geist« (unfähig in Metaphern zu denken) gegeben hatte. Wenig überraschend wird das Konzept dann revitalisiert, wenn wir annehmen, dass Symbolisierung auch nicht alles ist, dass es eine nichtrepräsentative Dimension des Denkens gibt. Eine wesentliche asymbolische und adualistische Dimension, die Signifikat und Signifikant verschmelzen lässt und mittels verschiedener Begriffe verstanden werden kann: Fetischismus ist einer davon. Der Fetisch beinhaltet ebenfalls einen problematischen Komplex verschiedener Themen. Natürlich gibt es so etwas wie ein einfaches Konzept nicht, aber der Fetisch – als ein Wirrwarr von Konzepten – scheint beson-

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ders herausfordernd zu sein. Latour (1996) hob eine essentielle Charakteristik der »Problem-Idee« Fetisch hervor: nämlich deren Verwendung, um die Welt auf asymmetrische Weise in zwei Hälften aufzuteilen, zwischen der Wirklichkeit der Beobachtenden und der Illusion des Beobachteten. Dies ist Latours kritische Dimension. Ich weise die Signifikanz seines Werks nicht zurück, denn es ist natürlich essentiell, um über die kolonialistische und ethnozentrische Last des Konzepts nachdenken zu können – über genau jene Last, auf die Mauss (1995 [1908]) abzielte, als er das Konzept verwarf. Trotz der negativen Konnotationen des Begriffs deutet er allerdings auch auf bestimmte Themen hin, auf wichtige theoretische Belange, wie z.B. Materialität und Wirkkräfte, die Kombination ritueller Ingredienzien, die Verkörperung von Werten in Objekten, die Wirkung und Absichtlichkeit materieller Dinge, die Rolle von Objekten im sie umgebenden Fluss der Ereignisse und die Dichotomien zwischen Menschen und Dingen, Gegenstand und Geist, Objekt und Subjekt. Keines dieser Themen hat die anthropologische Agenda völlig verlassen, aber die einzigartige Verknüpfung, die das Fetischkonzept bot, verschwand, als der Terminus nicht mehr gebraucht wurde. Eine Rückkehr zu bodenständigeren Ansichten und Praktiken rund um diese Themen, die nun unter dem Terminus Fetisch zusammengebracht werden, scheint ein guter Weg zu sein, um die kritische Anrüchigkeit des Konzepts zu umgehen. Anstatt die Menschen zu kritisieren, die Fetische besitzen, anstatt Illusion und Konfusion in deren Propositionen entdecken zu wollen, sollten wir unsere eigenen Ideen »kritisieren« oder besser noch rekonstruieren – und zwar über diese Objekte, basierend auf ursprünglichen Vorannahmen. Natürlich ist es nicht leicht, sich mit dieser thematischen Verwirrung auseinanderzusetzen und sie als Ganzes anzugehen. Deshalb bearbeiten zeitgenössische Ansätze ganz spezifische Charakteristika und Themen dieses facettenreichen Problems. Dadurch wird es schwierig, die derzeitigen Fragestellungen auf einer breiten Basis zu erfassen. Aus diesem Grund möchte auch ich einige spezifische Fragen, die mich besonders interessieren, angehen, beginnend mit einigen Beispielen der Begriffsverwendung zeitgenössischer Ansätze. Wie eingangs erwähnt, haben Fetischobjekte, seit sie zum ersten Mal beschrieben wurden, das bezeichnende Merkmal, dass sie nicht eine Gottheit darstellen oder einen überweltlichen Geist. Anders gesagt, sie waren nie Idole: Ihr Kult huldigte angeblich direkt der Materie. Die Statuen, Steine oder Materialbündel waren selbst Fetischgottheiten. Diese Idee wurde im späten 19. Jahrhundert abgelegt, als einige Ansätze betonten, dass der Begriff der Seele im Allgemeinen ein bedeutendes Element im afrikanisch-religiösen Denken darstellt (vgl. Tylor 1970; Kingsley 2004; Nassau 1904). Allerdings verbleibt eine ontologische Ambivalenz in diesen Objekten. Von der indigenen Perspektive aus betrachtet, gibt es darin etwas, das über das bloße Material hinausgeht: Die Objekte sind nicht nur Idole, aber eben auch keine materiellen Repräsentationen immaterieller

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Wesen – einfache Metaphern. Fetische sind gleichzeitig Sache und Geist, die Repräsentation und die Wirklichkeit übernatürlicher Mächte, Aufenthaltsorte der Gottheiten und diese selbst. Aus diesem Grund ist es noch immer sinnvoll, sie Fetische zu nennen: Kein anderes Wort scheint in der Lage zu sein, eine solche ontologische Kraft einzuschließen.5 Das Wort selbst zu verwenden (oder eben nicht), ist hauptsächlich ein terminologisches Problem. Entscheidend ist, dass es die Eigentümlichkeiten solcher Objekte so schwer machen, sie in unsere Kategorien zu übersetzen, sodass sie uns zwingen, genau diese Kategorien zu verändern. Deshalb werde ich nicht weiter die verschiedenen Ansätze beschreiben, mittels derer über den Fetisch nachgedacht worden ist, sondern damit fortfahren, wie uns die als Fetisch bezeichneten Objekte helfen könnten, auf neue, unterschiedliche Arten zu denken. Ausgehend von zwei ethnographischen Beispielen werden wir sehen, wie diese merkwürdigen »Objekte« unsere Sichtweisen klassischer philosophischer Probleme beeinflussen können.

D IE M INKISI DER B AKONGO Der Afrikanist Wyatt MacGaffey hat jahrelang das Konzept des Fetischs vielmehr angezweifelt, als sich darauf gestützt. Er musste sich jedoch mit dem Thema auseinandersetzen, weil er seine hauptsächliche Feldforschung unter den Bakongo des Kongogebietes (früheres Zaire) betrieb. Die Bakongo sind für die Herstellung der sogenannten Minkisi6 berühmt, die besonders in europäischen ethnographischen Museen sehr beliebt sind. Einige dieser Minkisi sind bekannt, weil sie ästhetisch auffällig sind, im Speziellen die Nkondi – anthropomorphe oder zoomorphe, mit Nä5 | Entgegen vieler Versuche, neue Konzepte zu gestalten. Als die Idee des religiösen Fetischs durch die Religionsanthropologie abgelehnt wurde, war es notwendig, andere Möglichkeiten zu finden, um diese Objekte benennen zu können. Einige begannen, sie als magische Objekte oder religiöse Objekte zu bezeichnen und anzudeuten, dass sie nur ein Aspekt innerhalb größerer Kosmologien wären, die nicht durch einen speziellen Terminus betont werden müssten. Aber dies war niemals ein gemeinsamer Zugang. Die britische Afrikanistik versuchte Fetisch durch neutralere Worte zu ersetzen, wie Schrein, Zaubermittel (charm) oder Amulett. Einige französische Ethnologen erschufen neue Konzepte, um mit den gleichen Objekten zu arbeiten – pièges à esprit, chose-dieux, dieux-objets –, aber auch diese waren nicht sehr weit verbreitet. Albert de Surgy (1994), einer der derzeitigen Verfechter der Idee des Fetischs, betont, dass der Gebrauch solcher Begriffe zwar ein Versuch sei, afrikanische Religionen zu respektieren, aber dass sie dennoch die Wichtigkeit gewisser quasigöttlicher Objekte abschwächten, welche nicht unbedingt Träger personalisierter Geister seien (wie es z.B. die Idee des Schreins impliziert). 6 | Singular: Nkisi.

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geln bespickte Statuetten (bekannt als Nagelfetische). Allerdings sind viele Minkisi keine Figuren; sie sind aus Beutelchen, Hörnern oder Kalebassen gemacht und mit Kräutern, Asche, Gebeinen oder anderen unterschiedlichen Ingredienzien gefüllt. Die äußere Form eines Nkisi, ob nun als Figur oder nicht, kann niemals von dem Ganzen, zu dem es gehört, abstrahiert werden.7 Dieses Ganze kann ebenfalls andere Bestandteile und Geister enthalten. Die Skulpturen, Hörner oder Taschen, welche als Behältnis für die Geister dienen, haben selbst keine Macht: Sie werden nicht einmal Minkisi genannt, sondern Teke. Das heißt, sie sind leere Objekte, bis sie mit Bilongo gefüllt werden, also (wie vorhin erwähnt) mit Zutaten wie beispielsweise Pflanzen, Lehm, Blut, Tierteilen, Liedern, Wörtern, Nägeln und dergleichen. Die Zusammensetzung der Bilongo, dieser Medikamente, mit denen die Teke gefüllt sind, führt dazu, dass ein Geist davon angezogen wird und dass ein Minkisi entsteht. Ein Teke ist wie ein menschlicher Körper: ein mögliches Vehikel für einen Geist, ohne den der Behälter leer, tot ist. Das Vehikel ist mit anderen austauschbar: Im Lauf seiner Biographie kann ein Geist verschiedene materielle Gestalten bevölkern, wie beispielsweise Körper, Gräber und Minkisi; er oder sie kann aber auch über das Land der Toten wandern, ganz ohne körperliche Präsenz im Land der Lebenden anzunehmen. In diesem Sinne ist ein Nkisi ein Ensemble, ein komplexes Objekt, das »local habitations and embodiments of personalities from the land of the dead« begründet (MacGaffey 1988: 190). Durch sie können Kräfte, die mit einer übernatürlichen Ebene oder mit einer mythischen Vergangenheit verbunden sind, für die Lebenden erreichbar werden. Wir sollten beachten, dass es – obwohl es eine gewisse Unterscheidung zwischen Geist und Materie gibt, sobald diese vereint sind – nicht mehr möglich ist, den Behälter von seinem Inhalt zu unterscheiden. Es gibt in diesem Geist-zuMensch-Kommunikationskanal, in der Verwirklichung geistiger Kräfte in der alltäglichen Welt eine »unreduzierbare Materialität«. Der Behälter, der bis dahin nur Objekt (im Gegensatz zum Subjekt) war, fängt an, die Charakteristika der Subjekte anzunehmen, der Menschen. An diesem Punkt gibt es für die Bakongo ein Verschmelzen vom Materiellen mit dem Immateriellen, vom Animierten mit dem Nichtanimierten, von Menschen und Dingen. MacGaffey stellt fest:

7 | Dies passiert im Allgemeinen, wenn Minkisi-Ensembles in Museen gebracht werden: Nur die Statuetten überleben als Beispiele »primitiven« Handwerks oder als »Kunst«. Die meisten Ingredienzien, die darin gesalbt sind, um die spirituellen Mächte zu erwecken, werden aus den Figuren entfernt, sodass die Objekte archiviert und ausgestellt werden können. Deshalb werden meist die figurativen Minkisi (oder übrigens auch Teke) ausgewählt. Ohne Bilongo, dem wichtigen Rest, sind sie für museale Sammlungen nicht sehr attraktiv und nicht besonders interessant (vgl. Tobia-Chadeisson 2000).

F ETISCHE UND UNGERADE D UALISMEN »To distinguish between the object and the spirit ›in‹ it would probably distort Congo thinking on the subject; the composite Nkisi is a single entity to which the European conventional distinction between material and immaterial does not apply.« (MacGaffey/Janzen 1974: 88)

Für MacGaffey (1990: 51-55) sind die Minkisi-Ensembles mit Persönlichkeit ausgestattet, und zwar auf zwei Arten: intern und extern. Externe Personifizierung bedeutet, das Ding wie eine Person zu behandeln, freundlich oder gar unterwürfig zu ihm zu sein, mit ihm zu sprechen, es an Stelle der Menschen zum Handeln aufzufordern. Manchmal ist es notwendig, es aufzurütteln, zu beleidigen oder eben gar mit Nägeln zu durchbohren, es zum Handeln zu zwingen, indem man seine Wut auf ein Ziel fixiert. Auf dieser äußerlichen Ebene gibt es keine klare Unterscheidung zwischen dem Anbeten eines Fetischs und der Etikette, die man einhalten muss, wenn man es mit mächtigen Personen wie Häuptlingen oder Priestern zu tun hat. Die interne Personifizierung beinhaltet eine metonymische Verbindung aller Personen, die irgendeine Beziehung zum Objekt haben. Unter den beschriebenen Bilongo kann es verschiedene Elemente geben: solche, die zu der Person gehören, die das Nkisi beauftragt (Nägel, Haare usw.), oder auch solche, die mit der Zielperson in Verbindung stehen (im Falle eines Diebstahls beispielsweise Reste von dem, was gestohlen wurde), sowie Elemente, die mit dem Geist in Verbindung stehen (Graberde einer verstorbenen Person). Es ist auch wahrscheinlich, dass die Priesterin oder der Priester und/oder die Klientin bzw. der Klient einen Teil des Nkisi essen müssen, um es zum Handeln zu bringen, was Pietz als »Fetischmachen« (»to make fetish«) oder »Fetischnehmen« bzw. »Fetisch-zu-sichNehmen« (»to take the fetish«) bezeichnet. MacGaffey behauptet, dies sei ein Weg, Homologie und Kontinuität zwischen dem Priester, seiner Kundschaft, dem Fetisch, dem Geist und dem Opfer herzustellen. Aber derartige Prozesse sind nicht nur auf die Minkisi anwendbar. Es gibt auch andere Arten der Personifizierung in der Bakongo-Religion: Ahnengräber sind z.B. ähnlich wie Fetische personifiziert. Es gibt auch eine gegensätzliche Bewegung: eine Objektivierung oder Verdinglichung von Menschen. Sklaven, göttliche Könige und Jugendliche sind während Initiationsriten Beispiele für »Menschen«, die in manchen Situationen als »Dinge« behandelt werden, und zwar intern und extern (ebd.: 47). Wenn die Minkisi und auch viele andere Zusammensetzungen, von denen die Bakongo Gebrauch machen, »objektive« und »subjektive« Charakteristika anhäufen, dann passiert dies, weil − so MacGaffey − materielle Dinge aus der Perspektive des Kongo nicht zu einer Welt der Objektivität gehören, die Welt der menschlichen Subjektivität nicht wahrgenommen wird. Für MacGaffey ist der Brennpunkt des Fetischproblems die Unterscheidung zwischen Menschen und Dingen. Die Minkisi seien ein zentrales Beispiel für Objekte, die diese Dichotomie durchbrechen, da sie von Menschen hergestellt und gleichzeitig menschlich sind. Sie sind einer-

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seits Werkzeuge, um bestimmte Effekte zu erzeugen, aber andererseits haben sie auch ihren eigenen Willen. Mit weiteren Beispielen, wie den Heiligenreliquien im mittelalterlichen Europa oder der zweifelhaften Rolle von Leichen im modernen Europa, will MacGaffey zeigen, dass eine klare Unterscheidung zwischen Menschen und Dingen nicht aufrechterhalten werden kann – nicht einmal im Westen. Die Zuschreibung einer Persönlichkeit an Objekte ist weder ein exklusiv afrikanisches Problem noch ein exklusiv amodernes. Latour würde diese Beispiele Faktische nennen. MacGaffey meint weiter, in einem recht Latour’schen Satz: »The scandal of this sort of practice is the confusion it makes between the spiritual body of a human being and the profane materiality of things, between being the subject and the object of action […]. In real life, despite eighteenth-century rationalist credo, human beings are conscious of their identity in terms of relationships with other people, mediated by material things that we only describe as fetishes if they happen not to be a part of our own social practice and personae.« (MacGaffey 1994: 128)

Vom ethnographischen Bakongo-Beispiel ausgehend können wir über diese Dichotomie nachdenken, die essentieller Teil des Konzepts Fetisch ist. Die Unterscheidung zwischen Menschen und Dingen scheint ein Problem zu sein, durch das alle Versionen der Fetischtheorie hindurchmüssen. Wenn es schließlich etwas gibt, das Warenfetische, sexuelle Fetische und vielleicht einige andere Arten von Fetischen zusammenbringt, dann ist es die Tatsache, dass sie alle »nichtanimierte Objekte« mit »menschlichen Charakteristika« sind. Sie sind »anthropomorphisierte« Objekte, welche eine Art logisches Problem darstellen, eine unzutreffende Zuordnung menschlicher Charakteristika zu Dingen, eine Hypostase. In einer Welt, in der Objektivität und Subjektivität getrennt werden, gehören zu den Charakteristika von Menschen: Belebtheit, Handlungsfähigkeit, Intentionalität, Wille, Begierde, Gewissen, Reflexivität, Emotionen, Unabhängigkeit. Objekte oder Dinge hingegen sind negativ definiert als etwas, das diese Charakteristika nicht inkludiert: reine, inaktive Materie. Das prototypische Objekt ist das Mineral: statisch, nichtanimiert, ausschließlich durch physikalische Kausalität gesteuert. Der gegenteilige Pol sind Menschen, die nach moralischen, intellektuellen Prinzipien und Willensgrundsätzen handeln, durch Intentionalität geführt. Afrikanische Fetische haben Charakteristika, die wir normalerweise Menschen zuschreiben: Sie werden beeinflusst von Leidenschaften, Hass, Liebe, Menschlichkeit usw. Deshalb wären sie personifizierte Objekte. In evolutionistischen, positivistischen und aufklärerischen Theorien heißt es, dass eine derartige Personifizierung eine primitive Art sei, um die Welt verstehbar zu machen. Personifizierung war für Hume, Comte oder Tylor eine trugschlüssige Abkürzung, um die unangenehme Unpersönlichkeit und das offensichtliche Fehlen einer Bedeutung in der Materie zu verstehen. Angst oder Neugier, welche durch unregelmäßig auftretende, zu-

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fällige physikalische Phänomene (deren Logik von den »Primitiven« nicht erkannt wird) ausgelöst wird, brächte die Menschen dazu, Materie mit der einzigen Bedeutung zu versehen, die sie verstünden (ihre eigene!), und in weiterer Folge dazu, subjektive Charakteristika auf Objekte zu projizieren, sie zu beleben. Mit den Worten Comtes: »[F]etishism […] allowed free exercise to that tendency of our nature by which man conceives of all external bodies as animated by a life analogous to his own, with differences of mere intensity.« (Comte 1855: 545) Aus dieser Perspektive der philosophischen und wissenschaftlichen Aufklärung könnten wir letztlich nur uns selbst verstehen, nicht jedoch die Welt. Das primitive Universum würde anfangen, sich um das Subjekt zu bewegen und erst später würden die Menschen verstehen, dass nicht alles so ist wie sie selbst. Die Verwechslung von belebt und unbelebt würde also zuerst durch die Not des Verstehens der Objektivität von Materie hervorgerufen. Das Konzept der Personifizierung des selbst in der modernen Anthropologie und der Bakongo-Ethnographie bewanderten MacGaffey ist radikal anders als jenes von Comte. Es beginnt mit einer völlig anderen Unterteilung von Subjekt und Objekt, nicht mit dem Missverstehen des Objekts durch das Subjekt. Dennoch bin ich der Ansicht, wir können dies hier weiter ausbauen. Wenn es, wie der Autor selbst feststellt, keine von vornherein feststehende ontologische Unterscheidung für die Bakongo zwischen objektiv und subjektiv gibt, müssen wir aufhören, Personifizierung und Objektivierung als gegensätzliche Prozesse zu bezeichnen, die ein Ding in eine Person verwandeln können oder umgekehrt. Nichts ist a priori eine Person oder ein Ding. Anstatt zu sagen, dass es eine Transformation einer Entität von einem Bereich in einen anderen gibt, scheint es eher passend, dass es immer eine Komposition gibt, die in etwas resultiert, das einige Charakteristiken trägt, die wir Dingen zuschreiben, und einige, die wir Menschen zuschreiben (d.h. in einer naturalistischen Ontologie). Es ist jener, auf einer strengen Unterscheidung zwischen Menschen und Dingen basierende, Anthropozentrismus, der den Anthropomorphismus der Fetische wie ein Problem aussehen lässt: eine Zuordnung von Eigenschaften an etwas, die diesem nicht wirklich zugehörig sind. Wenn es weder um Dinge noch um Menschen geht, wenn wir es mit einem dritten Element zu tun haben, das diese zwei Pole mischen kann (und wenn das Potential dieses ungeraden [odd] Elements ernst genommen wird, ohne als Illusion neutralisiert zu werden), dann verändern sich die Bezeichnungen – und die Probleme. Andere Dinge können Menschen werden, deswegen sind es auch andere Eigenschaften, die Menschlichkeit definieren.

L EGBA UND DIE G OT THEITEN -O BJEK TE DER F ON Marc Augé verhilft uns zu einer vertieften Reflexion von Dualismen oder zwingt uns mittels religiösen Fetischismus sogar, Dualismen zu überdenken. Er schreibt über Gottheiten-Objekte (dieux-objets) aus der Vodu-Religi-

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on des Volkes Fon im afrikanischen Benin (Benin ist der heutige Name des früheren Königreichs und Staates Dahomey; dessen Küste wurde, wie bei Pietz beschrieben, als Sklavenküste bezeichnet). Im Vodu ist jede Gottheit komplex, jede ist zugleich Symbol, Körper, Materie, Wort und die Konvergenz all dieser Dimensionen. In der Mythologie sind alle Gottheiten ursprüngliche Charaktere und recht klar definiert. Sie formen gemeinsam ein wohlstrukturiertes Pantheon. Die Gottheiten werden darüber hinaus aber auch mit den Naturelementen assoziiert: Eine bestimmte Gottesgestalt steht in Bezug zu einem bestimmten Gestein, einer bestimmten Krankheit, einer Baumart oder einem meteorologischen Phänomen usw. Letztlich können sich die Gottheiten in einer Vielzahl materieller Objekte zeigen, denen ihre Macht und Qualität zu eigen ist: den Fetischen. Eine Statue in einem Schrein ist beispielsweise irgendwie die Göttin oder der Gott selbst, deren Vergegenwärtigung (presentification) ist nicht nur eine Repräsentation. In diesem Sinne gibt es auch eine Spannung zwischen Einheit und Vielheit, Individuation und Beziehung. Augés wichtigstes und radikalstes Beispiel ist Legba, der in der FonMythologie ein Trickster und Botschafter ist, welcher zwischen zwei gegenüberliegenden Polen agiert (menschlich und göttlich, materiell und immateriell, kollektiv und individuell). Legba ist »a name, a formula, an identifiable object, a multiplicity of individual shrines and a god of the pantheon« (Augé 1996: 83). Er hat einige Erscheinungsformen und Funktionen: Er ist der König der Tore, der als ein wie ein Phallus geformter Haufen Dreck am Eingang von Häusern auftaucht; er agiert auch als ein Aspekt auf den Straßenmärkten, den man Axi-Legba nennt; er ist immer präsent in jedem Schrein anderer Gottheiten; und er ist ebenso in jedem Raum präsent, in dem eine Fa-Weissagung stattfindet. Legbas viele Aspekte deuten auf ein philosophisches Problem hin. Einerseits hat er eine gewisse Individualität und ist als materielles Ding relativ stabil. Allerdings machen seine Häufigkeit und auch die Vielzahl der Materialien, aus denen er zusammengesetzt sein kann, seine »Identität« immer auch fragwürdig. Legba ist ein Einzelner, zugleich aber auch Viele, weil jede Person, jede Gottheit, jedes Haus, jeder Markt Legba hat. Halb Mensch und halb Gott multipliziert sich Legba selber, aber er ist in einem Diskurs immer beides: das materielle Objekt und das Objekt in der Sprache. So kann Legba nicht auf reine Materialität reduziert werden und komplette Exegese finden. Das Beispiel von Legba als Mediator zwischen den Welten und den gegensätzlichen Polen kreiert, nach Augé, eine doppelte Spannung: Leben/Materie und Identität/Beziehung. Und aus diesen entstehen weitere wichtige Spannungen: animiert/nichtanimiert, einzeln/vielzählig, diskret/fortschreitend. Wie bei den anderen Fon-Gottheiten kann Legba nicht einfach auf eine geistige Entität reduziert werden oder auf eine mythische Person. Er ist mit einer Präsenz, mit Materialität ausgestattet und er aktualisiert sich als Fetisch, als Gott-Objekt. Fetische sind Körper von Gottheiten. Rituelle Aktivitäten provozieren sie zu pausenlosen Übertragungen zwischen Ding, Wesen, Gottheit,

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Mensch, Tod, Leben, Untertan, Majestät (ebd.: 61). Fetische machen eine Beziehung zwischen Menschen und Gottheiten erst möglich, denn durch diese Gott-Objekte werden göttliche Mächte real und durch menschliche Hände manipulierbar. Dies aber geht niemals bis zum Punkt der reglosen Materie. Fetische haben immer noch Handlungsfähigkeit, die göttlichen Körper sind Material und Macht. Nach Augé ist der Fetisch das Objekt, das in der Lage ist, das Dilemma des Denkens des Nichtanimierten zu lösen, weil es die Beziehung zwischen Materie und allem anderen in den Vordergrund rückt. Fetische sind Objekte und als solche ist ihre Materialität evident, aber sie sind nicht selbstbegrenzend. Sie verkünden eine Andersartigkeit, aber sie sind nicht auf bloße Repräsentation beschränkt, sondern erschaffen Beziehungen: »The exuberant materiality of fetishes, these gods made of pure clay, invalidate beforehand every interpretation that seeks in them a representation of something else: they are themselves, pure jumble of organic, mineral and vegetable substances, aggressively material.« (Ebd.: 85) Ohne Zweifel gibt es eine symbolische Dimension dieser Objekte, schließlich sind sie manchmal auch Zeichen: Dã repräsentiert den Regenbogen, Sango den Donner, Legba Pfade usw. Wenn sie allerdings als Fetische behandelt werden, ist ihr Hauptcharakteristikum Präsenz. Sogar wenn ihre »Vergegenwärtigung« jene ist, dass man sie nicht auf ihre Manifestation reduzieren kann. Ihre Materialität ist nicht alles, was es gibt, sondern sie ist unvermeidbar, notwendig. Augé behauptet, dass wir in einer Kombination symbolischer Systeme leben. Einer Kombination, welche für normale Menschen auf diskrete und aufeinanderfolgende Weise vorkommt (verknüpft in Zeit und Raum); nur Schamanen und Besessene können zwischen den Systemen Raum einnehmen, durch Hellseherei (ebd.: 50). Fetische aber, die sehr populär sind und von fast jedem benützt werden, erlauben ebenfalls die Reise zwischen den Symbolsystemen, und das auf einem viel esoterischeren Weg. Diese Gott-Objekte arbeiten als intellektuelle Operatoren, um von einem System ins andere wandern zu können, im Bereich der intellektuellen Spekulation und der synchronen Vision (der oder des Hellsehenden), und andererseits im Bereich der sozialen Praxis, da sie den Zutritt zu Häusern, Plätzen, Märkten, Pfaden und Dörfern bewachen; oder allgemeiner, den Zutritt von einem Raum zu einem anderen (ebd.: 53). Fetische vereinen in einem sichtbaren Objekt jene Dimensionen in unserem täglichen Leben, die wir normalerweise nicht transparent wahrnehmen können. Sie drücken die Idee des Totalen aus, da sie zugleich viele und eines sind, innen und außen. Sie sind so zusammengesetzt, dass entfernte symbolische Ordnungen miteinander verbunden werden, mit dem Anderen und mit seinem eigenen »Selbst«. »The object, symbol and fetish, state and deny the border; more accurately, they affirm their reality by opening the possibility of crossing it.« (Ebd.: 140) Für Augé steht Materie im Gegensatz zu Leben und, da das Leben die Welt mit Bedeutung füllt, ist die Materie resistent gegen das Denken.

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Diese Perspektive stimmt auf den ersten Blick mit dem Cartesianischen Dualismus zwischen res extensa und res cogitans überein, d.h. man geht von zwei Substanzen unterschiedlicher Natur aus, von einer mit Extension und empfindsamen Charakteristiken und einer anderen ohne: Material und Geist, Welt und Denken, Objekt und Subjekt − relativ unabhängig voneinander. Nach Augé ist ein Rohmaterial in sich selbst geschlossen, es ist eine Einheit ohne Beziehung. Genauso wäre der Geist belebt, wären das Leben und die Bewegung nicht selbstbeschränkt: Der Geist schafft Beziehungen oder er ist sogar Beziehung in Reinform. Allerdings präsentieren Fetische die Möglichkeit, solche Substanzen miteinander zu verschmelzen, die Kraft und ihre Verwirklichung. Im Fetisch sind Material und Geist nicht unabhängig. Im Gegenteil, beide nähern sich aneinander an und deshalb koexistieren in einem Fetisch gegenteilige Prinzipien. Und immer wenn Gegenteiliges gleichzeitig vorhanden ist, wird eine Spannung erzeugt, die letztlich unlösbar ist und der man sich zugleich auch nicht entziehen kann: Dualismen werden ständig neu verhandelt und neu angeordnet, als Probleme der Philosophie und der Praxis. Dualismen abzuwickeln, scheint also das endgültige Ziel der Fetische zu sein, zumindest für Augé. Diese Objekte legen die Bedingungen einer Dichotomie fest, indem sie die Ambiguitäten und Ambivalenzen unseres Lebens und unserer Ideen freilegen. Fon-Fetischismus klingt in den Arbeiten von Augé wie eine Art intellektuelle und reflexive Übung; wie eine Möglichkeit mit unlösbaren Dichotomien umzugehen, um deren Pole einander näherzubringen (übrigens ähnlich wie der Mythos bei Lévi-Strauss). Wie der Mythos bekundet auch der Fetischismus universelle Fragen, da die von ihm behandelten, symbolisierten und vereinten Dualismen universell menschlich sind. Augés Zugang klingt sehr idealistisch und intellektuell, obwohl Materialität ein wichtiges Thema für ihn ist (wie in allen Diskursen über den Fetisch). Allerdings weicht der Fetisch vom Mythos in einem relevanten Punkt ab: Fetische haben einen alltäglichen, praktischen Nutzen – was eine Menge neuer Probleme hervorruft, auf die ich hier allerdings nicht näher eingehen kann.

M ANA UND M ONISMUS MacGaffey und Augé liefern Beschreibungen afrikanischer Sammelstücke, die sehr schön sind, sich aber auch ziemlich unterscheiden, ebenso wie ihre Theorien zu den Herausforderungen, die uns diese Stücke in Bezug auf Dualismen stellen. Augé glaubt, dass Dualismen, auch wenn sie immer in Spannung sind, feststehen. Mit anderen Worten: Sie sind fundamentale Strukturen in unseren Köpfen, die unlösbare Probleme bereiten und deshalb dauernd problematisiert werden, durch ursprüngliche und anthropologische Reflexion. MacGaffey dagegen scheint eine derart simple Aufteilung abzulehnen und fällt auf eine dualistische Opposition

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zurück, nicht zweier Begriffe – Menschen und Dinge –, sondern zweier Prozesse, Personifizierung und Objektivierung. Ich glaube nicht, dass uns Fetische eine Lösung für die andauernde Dualismusdebatte bringen werden. Ich möchte hier lediglich zeigen, dass Fetische ein anderes Licht auf das Thema werfen können und ich hoffe, dies bereits geleistet zu haben. Dennoch glaube ich, dass es möglich ist, über eine einfache negative Definition hinauszukommen, also über die Behauptung hinauszugehen, dass bestimmte Dualismen nicht für jene Ontologien angemessen sind, in denen Phänomene wie der Fetisch zugange sind. Von diesen und anderen zeitgenössischen ethnographischen Berichten8 ausgehend glaube ich, dass es möglich ist, eine alternative Antwort auf dieses Phänomen zu finden − über die Idee eines unausgewogenen und angespannten Dualismus sowie über die Idee von ein paar Prozessen, die ein paar Begriffe ersetzen sollen, hinaus. Allerdings werde ich nur auf einige vorläufige Skizzierungen eingehen können, da an dieser Stelle nicht genug Platz ist und meine Untersuchungen zu diesem Thema work in progress sind. Um also weiterzugehen, müssen wir noch einen kleinen Umweg zum klassischen Thema des Mana machen. Márcio Goldmans Erklärung von Axé in der brasilianischen Candomblé-Religion und Martin Holbraads Ache in der afrokubanischen Santeria und Ifá werden dabei Ausgangspunkte darstellen.9 Goldman stellt fest, dass die Natur für Candomblé-Eingeweihte von einer göttlichen, alles durchdringenden Energie erfüllt ist, gleich der Energie der Orixás, welche die Welt erschufen. Allerdings ist diese Energie nicht völlig diffus oder in der Welt gleich verteilt. Sie konzentriert sich in verschiedenen Objekten, Personen und Orten, in denen Axé stark zusammenläuft. Diese Energie ist quantitativ und qualitativ auf verschiedene Weise in der Welt verteilt. Alles im Universum wird geformt durch »Modulationen einer einzigen Kraft, genannt Axé« (Goldman 2009: 19). Die Unterschiede in diesen Modulationen widersprechen jedoch der Tatsache nicht, dass die Macht in einem gewissen Sinne nur eines meint: Einheit stellt keinen Konflikt mit Vielheit dar. So eine Aussage impliziert keinen reinen und einfachen Monismus, Axé ist nicht indistinkt. Wenn einerseits alles auf gleicher Ebene und andererseits aus der gleichen Substanz gefertigt ist, dann unterscheiden sich die Formen und spezifischen Verwirklichungen des Mana radikal 8 | Siehe einige Beispiele bei: Henry (1993); de Surgy (1994); Devisch (2002); Sansi (2005); Bonhomme (2005); Palmié (2006). 9 | Hier komme ich schließlich zu einigen afroamerikanischen Beispielen, die es ermöglichen, das Argument in Fußnote 3 (supra) zu verstärken. Es wäre aber durchaus auch möglich, zum gleichen Zweck die Idee des Gbögbö (»Atem« ist gleich Mana) der Evhé aus dem Togo heranzuziehen, wie von de Surgy (1994) beschrieben. Obwohl es zwischen den Ideen der Axé, Ache und Gbögbö Unterschiede gibt, werde ich zur Vereinfachung alle diese Termini als ähnliche Versionen des Mana verwenden.

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und wir erfahren die Welt durch sie. Damit kann ich nun zur zuvor bereits angedeuteten Idee der Komposition zurückkommen. Aus verschiedenen Modulationen derselben Energie werden unterschiedliche Wesen und Phänomene komponiert, womit sich dann die Menschen befassen. Je nachdem, wie sie verwirklicht wurden, können unter diesen Variationen die Zusammensetzungen entweder näher an »Dingen« oder an »Menschen« sein, an »Material« oder an »Geist«. Aus einer bestimmten Perspektive wie der unseren betrachtet sind die Zusammensetzungen natürlich dem einen oder dem anderen näher, d.h. sie sind durch cartesianische Dualismen verzerrt, einer Perspektive, die aber versucht, diese Dualismen zu überwinden. In diesem Sinne meint Martin Holbraad (2007: 199ff.), dass manaartige Begriffe Beispiele dessen seien, was Lévy-Bruhl Partizipation nennt: »[…] the ›primitive man‹ very often has the feeling of participation between himself and such surrounding things or objects, of nature or of the supernatural, with which he is or enters in contact, and that not less often, he imagines similar participations between these things and objects.« (Lévy-Bruhl 1975: 61) »For the primitive mentalities, to be is to participate. It does not represent to itself things whose existence it conceives without bringing in elements other than the things themselves.« (Ebd.: 18)

Die Mentalität der »Primitiven« würde deshalb das Prinzip des Widerspruchs missachten und eine Teilhabe und Wesenseinheit zwischen den Dingen postulieren. Dennoch sind für Lévy-Bruhl solche Gedanken »vorlogische« Missverständnisse und deshalb würden sie auch unsere philosophischen Axiome in keiner Weise gefährden. Wenn wir aber aufhören, eine solche Teilhabe als fehlerhaft und primitiv wahrzunehmen, wenn wir sie als Postulat annehmen, dann wird Mana ein Konzept, das Dualismen auflösen kann. An diesem Punkt kommen wir der Idee des Fetischs sehr nahe. Religiöse Fetische wären somit eine spezifische Form der materiell-spirituellen Verwirklichung des Mana, eine ganz besonders gefaltete Form, eine Grenzform, instabil und schwer zu übersetzen. Der Vorschlag von Mauss, das Wort Fetisch durch Mana zu ersetzen (1995: 246), verwundert ebenso wenig wie die Feststellung Christine Henrys, dass unter den Añaki der Bissago-Inseln (Guinea-Bissau) das Wort Arebuko beides bedeutet, Mana und Fetisch (1993). Die rituelle Bildung eines Fetischs geschieht durch verschiedenste Techniken, die das Mana in etwas zusammenfließen lassen.10 Bei diesem 10 | Neben Fetischen behandelt Goldman auch rituelle Prozesse, die eine bestehende Gottheit nicht in ein materielles Objekt verwandeln, sondern in den Kopf eines filho de santo (»Kind-im-Heiligen«), d.h. in ein Candomblé-Medium, das eine neue persönliche Orixá herstellt. Diese Technik nennt man fazer o santo (»Heiligemachen«). Diese offensichtliche Ambiguität der menschlichen Konstruk-

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Prozess wird eine Kraft auf ein Objekt übertragen, wie z.B. auf einen Stein oder eine Statuette, und zwar durch eine Ölung, durch Worte, Gesten und andere Prozeduren. Es ist eine Kraft, die entweder ganz unpersönlich sein kann, wie »reines Mana«, oder ein Personengeist, wie beispielsweise die Seele eines Verstorbenen, oder eine Gottheit, wie ein Orixá. Es könnte vernünftig sein, ein Objekt, das mit einer »unpersönlichen Energie« wie Mana ausgestattet ist, von einem Objekt, das mit einem »individualisierten und persönlichen« Geist beseelt ist, zu unterscheiden.11 Eine derartige Unterscheidung kann aber natürlich niemals absolut sein, da »individualisierte« Geister zwar persönlich sind, doch ebenfalls durch die gleichen »unpersönlichen« Kräfte zusammengesetzt sind. Genau aus diesem Grund funktioniert hier die Unterscheidung zwischen Menschen und Dingen nicht: Gottheiten und Geister werden, genauso wie Steine, Menschen und alles andere, aus/durch Mana hergestellt und durchdrungen. Wir haben es mit multiplen Modulationen ein und derselben Kraft zu tun. Die Kraft, die einen Fetisch belebt, hat laut Goldman immer virtuell existiert. Bestimmte Eigenschaften, die der Fetisch annimmt, werden jedoch von einer Person gemacht. Das geschieht durch einen rituellen Prozess, bei dem eine bestimmte Verwirklichung eines Orixá in ein materielles Objekt geformt wird (in der Candomblé-Religion ist es normalerweise ein Stein, der Otá genannt wird). »Deities, like people, exist before being made – even if, of course, they do not exist in the same way.« (Goldman 2009: 10) In diesem Prozess »wird etwas zu dem, was es schon ist«, argumentiert Goldman. Anders gesagt, eine Kraft wird verwirklicht und lässt ein Leben frei, das vorher schon da war; der Stein »gehörte« bereits Orixá, er war in Wirklichkeit schon ein Otá, und wenn er ein Fetisch wird, dann wird er nur als ein solcher verwirklicht. Deshalb sind es nicht verschiedene Möglichkeiten des Seins in der Welt, zu repräsentieren, durch Orixá bewohnt zu werden oder Orixá zu sein, weil das Konzept des »Seins«, mit dem wir es hier zu tun haben, an sich kein einfaches ist. Der Prozess hat weniger damit zu tun, einen Stein in einen Fetisch zu verwandeln, sondern vielmehr damit, echte fetischartige Qualität zu verwirklichen.

tion von etwas, das es schon gibt, ist der von Latour (1996) festgestellten Ambiguität zwischen etwas, das durch menschliche Hände erzeugt wurde und zugleich autonom ist, sehr ähnlich. Aber sie sind nicht genau das Gleiche. 11 | Diese Unterscheidung geht auf die von Benedict (1938: 645f.) vorgeschlagene Aufteilung in Animismus und Animatismus zurück. De Surgy betont diese Unterscheidung und merkt an, dass es nur animistische Objekte wert wären, Fetische genannt zu werden (1994: 45). Eine solche konzeptuelle Strenge scheint mir nicht passend, was die von de Surgy in den Daten aufgezeigten Ambivalenzen beweisen. Die Grenzen zwischen persönlich und unpersönlich sind verwischt. Es gibt Vodus (scheinbar nur durch vollständig unpersönliche Kräfte animiert), welche als »personalisiert« zählen könnten: einige Beispiele siehe bei de Surgy (1994: 83-86; 192; 209).

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Holbraad beschreibt ein afrokubanisches Weissagungssystem: die Verbindung zwischen der Aché und dem geheimen Pulver (genannt Ache), das während der Ifá-Zeremonie verwendet wird. Aché ist die Macht oder Fähigkeit, die es den Babalawos erlaubt, Weissagungen zu praktizieren; gleichzeitig ist es eine materielle Ingredienz, die für alle Ifá-Zeremonien notwendig ist. Weissagungszubehör muss mit Aché »aufgeladen« sein, sodass die Gottheiten (Orishas) zu ihnen sprechen können. »So aché is excessive like mana: power and powder, abstract and concrete, concept and thing.« (Holbraad 2007: 204) Die konkrete Natur, als Pulver, der abstrakte Sinn als Macht werden nicht unterschieden, und das stellt keine Ambiguität dar. Es gibt eine logische Verbindung zwischen den zwei Bedeutungen, die für Ifá-Eingeweihte selbstverständlich ist. Das eine ist eine notwendige Voraussetzung für das andere: »In other words, the relationship between power and powder is, philosophically speaking, ›internal‹: each is defined in terms of the other.« (Ebd.: 205) Diese Macht-Materie ist anderen Objekt-Geistern, die ich Fetische nenne, auffallend ähnlich. Sie besitzt ebenfalls zwei Pole, die nicht unabhängig voneinander funktionieren, sondern identisch sind: Einer ist die Übertragung des anderen. Aché auf den Händen der Babalawos bringt die Gottheiten (Wesen reiner mythischer Macht) der physikalischen Welt näher. Das Ache als ein Pulver ist die Voraussetzung, damit die Gottheiten sich immanent ausdrücken können, weil es die Verwirklichung ihrer Transzendenz ist. Aché ist die lebendige Kraft und zugleich deren Verwirklichung als Pulver. Es ist Geist und Materie. Auf die gleiche Art ist ein Otá ein Stein, dem mythisch-transzendente Gottheiten, die Orixás, innewohnen. Sie sind »Symbole, die für sich selbst stehen«, es gibt an ihnen nichts Arbiträres (ebd.: 203). Sie sind so gesehen wie Fetische, auch wenn sie durch ihre Simplizität bloße Fetische zu sein scheinen. Das Teilen – zwischen Materie und Geist, Stein und Orixá, Pulver und Macht – wird rückgängig gemacht, wenn wir uns einen Pol als die Verwirklichung des anderen vorstellen und in dieser Zusammensetzung als immerwährende Bewegung zwischen Immanenz und Transzendenz. Aus Immanenz und Transzendenz erhalten wir einfach Nähe und Distanz, einen neuen und einfacheren Dualismus, auch gelöst als Monismus, da Nähe und Distanz nur Punkte auf einer Linie darstellen. »If the motility of powder dissolves the problem of transcendence versus immanence for the babalawos, then motility also dissolves the problem of concept versus things for us. And this is because the latter problem is just an instance of the former. After all, the notion of transcendence is just a way of expressing the very idea of ontological separation.« (Ebd.: 218)

Es geht um die Verwirklichung einer Tatsache (das zu werden, was man schon ist); ein ständiges Sich-Bewegen zwischen den zwei Zuständen eines Flusses (fern und nah, transzendent und immanent). Mit solchen Beschreibungen lassen wir Dualismen hinter uns und erhaschen einen

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Blick auf eine alternative Sichtweise der scheinbaren Ambiguität all dieser »dualen« Phänomene.

D AS Z WEIFACHE UND DAS E INE DER Z EICHEN Im Laufe seiner Geschichte hat das religiöse Fetischkonzept verschiedene Positionen beider Seiten der Debatte zwischen Idealismus und Materialismus eingenommen: reine Materie in de Brosses’ Philosophie, oder die hauptsächlich spirituelle Natur in Tylors Theorie (welche einen Untertypus von Animismus vorschlägt). Die Bevorzugung der Materie bedeutete, dass der sogenannte »primitive Geist« auf elementares, nichttranszendentes Denken reduziert wurde. Den Geist zu bevorzugen, bedeutete, eine metaphorische Beziehung zwischen zwei »unvereinbaren Substanzen« vorzuschlagen. Nach der Herrschaft des symbolischen Idealismus in der Anthropologie des mittleren 20. Jahrhunderts – als der Fetisch ignoriert worden war – bringen aktuelle Studien zur Materialität das Konzept wieder ins Spiel. Holbraad und Goldman zeigen beide, dass es möglich ist, sich von dieser Pendelbewegung zu lösen. Anstatt eine vorrangige Beschäftigung entweder mit der Materie oder mit dem Geist zu postulieren, ist es sinnvoll über die Nichtunterscheidbarkeit zwischen diesen nachzudenken. Es scheint möglich, Dualismen aufzugeben und mehr in Richtung einer Duplizität zu denken. Und das ist nicht nur eine konzeptuelle Feinabstimmung: Das Zweifache (double), in dem Sinne, wie ich es hier vorstelle, ist einheitlich (even), und zugleich ist es Eins (one). Deshalb ist es auch ungerade (odd). Um diesen Gedanken zu veranschaulichen, ist es hilfreich, den Fetisch näher an die Idee des Zeichens zu bringen, wie von Patrice Maniglier vorgeschlagen wurde.12 Die Beziehung zwischen dem Geist, der einen Fetisch animiert, und seiner materiellen Gestalt (dem Objekt) kann als gleichwertig gesehen werden, so wie die Beziehung zwischen dem Signifikat (Bedeutung) und dem Signifikant (akustischer Ausdruck) des Zeichens: »Pour comprendre cela, il faut certes partir de la dualité du signe, mais comprendre qu’il s’agit d’une dualité essentielle. Le singe est un être double, et non 12 | Eine echte Inspiration ist hierfür Pouillons Arbeit (1970). Er beschreibt Fetische als eine Art »asymbolisches Zeichen«, das Signifikat und Signifikant materiell verschmelze. Dies sei eine der Grenzen der Symbolisierung, auf dem gegenüberliegenden Pol des abstrakten Wortes (in dem Materie und Idee völlig auseinanderliegen, in einer arbiträren Beziehung). Was ich hier aber darzulegen versuche, unterscheidet sich sehr von dem, was Pouillon skizzierte, denn ich verwende Manigliers Konzept des Zeichens, das abstrakt und materiell vermischt und es für Signifikat und Signifikant unmöglich macht, separate Dinge zu sein. Dies, so glaube ich, macht das Konzept weniger »unsagbar« (ineffable).

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R OGÉRIO B RITTES W. P IRES pas une association de deux choses. En effet, ce qu’on perçoit, ce n’est pas un son auquel on associerait ensuite une signification; c’est d’emblée une ›pensée-son‹.« (Um dies zu verstehen, muss man zwar sicherlich von der Dualität des Zeichens ausgehen, doch man muss verstehen, dass es sich um eine essentielle Dualität handelt. Das Zeichen ist ein zweifaches Wesen, und nicht die Verbindung von zwei Dingen. In der Tat ist das, was man wahrnimmt, nicht ein Klang, mit dem man dann eine Bedeutung assoziieren würde; es ist unmittelbar ein »Gedanken-Klang«.) (Maniglier 2005: online)

Nach Manigliers Lesart von Saussure ist die Realität des Zeichens zweifach. Sie ist zweifach nicht im Sinne einer Verschmelzung von zwei vorab existierenden Substanzen, weil weder das Denken noch das Sprechen, d.h. weder das »abstrakte«, konzeptuelle Erscheinungsbild noch das »materielle«, phonische Erscheinungsbild mit dem Beobachteten oder Beobachtbaren, oder besser, mit dem reinen Akt der Signifikation außerhalb des Phänomens des Zeichens korrespondieren (Maniglier 2006: 235). Genau wie das recto und verso einer Buchseite nicht vorhanden sind, bevor sie festgeschrieben werden, sind Signifikat und Signifikant nur als zweifache Erfahrung möglich. In diesem Sinne ist Sprache – inklusive Schall und akustischem Ausdruck – die Materie des Denkens selbst. Das Denken, das ja Konzepte voraussetzt, kann nicht vom Zeichen getrennt werden, von dieser komplexen, zweifachen Erfahrung, dieser Mischung von homogenen und untrennbaren Begriffen, die sich gegenseitig definieren. »The fact of being audible becomes a property of the concept, of the conceptual substance. The linguistic concept is thus a sonorous concept, in the same way as the acoustic linguistic impression is an internal hearing. Thus the sign is not the association between acoustic impression and concept, and the requalification of the concept as a sonorous concept, hence the introduction of a new experience inextricably sonorous and acoustic.« (Ebd.: 253)

Wenn das Zeichen als Gedanken-Klang verstanden wird, dann kann der Fetisch als Materie-Geist verstanden werden. Das Problem, festzustellen, ob eine Gottheit ein Objekt »repräsentiert«, »ihm innewohnt« oder es »darstellt«, wie es so oft von Fetischtheorien betont wird, erfährt eine wunderbare Wandlung: Über diese drei Optionen hinaus entsteht die wahrhafte Frage, herauszufinden, wie sich diese zweifache Entität in der Erfahrung des Fetischismus zeigt. In diesem Sinn sind wir nicht weit von Augés Idee der Verschmelzung der materiellen und spirituellen Pole des Fetischs entfernt. Tatsächlich sind wir einem Großteil der postbrosseanischen Theorie sehr nahe, die den Fetisch nicht rein in seiner rohen Materialität sieht, sondern als einen Zusammenfluss von Materie und Geist. Der Unterschied ist, dass wir hier nicht von irgendeiner Art Fusion sprechen, die eine Spannung zwischen verschiedenen Substanzen erzeugen würde, sondern wir sprechen davon, eine Art Materie-Geist vorzuschlagen, welche, wie Aché (Kraft-Pulver) im Ifá oder wie Mana,

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inhärent zweifach ist. Theoretisch könnten Materie und Geist getrennt voneinander existieren, so wie Klang und Idee unabhängig voneinander existieren können, obwohl sie in der Praxis nur als zweifache Entitäten auftreten. Sie bieten uns eine Veränderung unserer Ontologien an, indem sie Gegenteile in der Kontinuität funktionieren lassen. Was ich vorher als »ein drittes Element« bezeichnet habe, ist in Wirklichkeit zwei und eins zugleich, oder besser noch mehr als eines und weniger als zwei. Es handelt sich offensichtlich um eine Analogie. Ich behaupte nicht, dass der Fetisch ein Zeichen ist, weil – für Saussure – die Realität des Zeichens mental ist und Sprache eine psychologische Erfahrung, die zum objektiven Geist gehört (ebd.: 230). Was den Fetisch angeht, so ist er für die, die ihn benutzen, nicht aus Ideen gemacht. Er ist eine mystische und praktische Erfahrung, die mit übernatürlichen Kräften verhandelt, wenn sie durch Menschen manipulierbar ist. Alle beide, Zeichen und Fetische, sind Zweifacherfahrungen, obwohl von unterschiedlicher Ordnung. Wie auch immer, Maniglier stellt fest: »[…] the recognition of the ontological originality of the sign is more important than its ›placement‹ in a determined, given and supposedly simple ›plane of reality‹.« (Ebd.: 258) Anders ausgedrückt: Das Wichtigste am Konzept des Zeichens ist die ontologische Aussage, die Saussure damit trifft. Die Aussage, dass das Zeichen eine zweifache Realität sui generis hat, die im Geist lokalisiert ist, was zu einem Neudenken der Bedeutungen von wirklich und geistig führt. Auf dieselbe Weise evoziert der doppelte Charakter des Fetischs als eine übernatürliche, aber wirkliche Erfahrung ein neues Nachdenken über die Begriffe übernatürlich und wirklich. Maniglier stellt ebenfalls fest: »[…] the idea of a double being remains quite mysterious: it must be at the same time one thing and another, and therefore not two things, but only one.« (Ebd.: 276) Das Zweifache ist zugleich einzeln, woraus die Schwierigkeit folgt, mit Konzepten wie Zeichen und Fetisch umzugehen: Wir würden dazu tendieren, sie als zweifach substantiell zu behandeln, während sie in Wirklichkeit nicht aus Substanzen bestehen, sondern aus Korrelationen aufeinanderfolgender Handlungen. »That which constitutes the sign is not only duality, but the constant slippage which passes off a double term for a simple one.« (Ebd.: 260) Manigliers Bestehen auf (nichtanhaltenden) Prozessen der Signifikation ist wesentlich. Zeichen und Fetisch sind vor allem Prozesse des Werdens, wie Goldman betonte, Prozesse der konstanten Bewegung zwischen Aspekten einer einzelnen und unendlich differenzierbaren Macht.

D IE V ERWENDUNG DES K ONZEP TS Als sich die Anthropologie bemühte, das Konzept des religiösen Fetischs loszuwerden, versuchte sie eigentlich, zwei Arten der Verwechslung loszuwerden. Zuerst die Verwirrung um das Konzept, welches Dinge vermischte, die das anthropologische Denken lieber getrennt haben wollte

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(Magie und Religion, Subjekt und Objekt, heilig und profan, Materie und Geist, Ästhetik und Praxis, Natur und Kultur, Menschen und Dinge, Repräsentation und Präsenz). Zweitens, die Verwirrung, die man dem indigenen Denken zugesprochen hatte, dafür dass es andauernd diese zwei Pole verschmolz. Heutzutage können diese »Verwirrungen« nicht mehr länger als Ambiguitäten gesehen werden, sondern als Ambivalenzen – oder als Mitwirkung, wie Lévy-Bruhl gesagt hätte. Sie müssen nicht mehr als Missverständnisse, Fehler oder Dummheit gesehen werden, und deshalb scheinen sie heute weniger absurd und noch faszinierender – wie eben auch der Fetischismus. Allerdings glaube ich ebenfalls, dass die Rückkehr zum Gebrauch der Kategorie Fetisch nur für die Religionsanthropologie interessant sein wird, wenn sie einen Dialog mit indigenen Aussagen zulässt, mit den Vorstellungen jener Menschen, die diese Objekte verwenden. Dies sind Menschen und Dinge, die so verschieden voneinander sind wie die Minkisi der Bakongo, die Vodu der Fon, die Otá in der Candomblé-Religion, die Nganga in den Palo Monte und die Obeah im Winti-Glauben. Das Konzept des Fetischs scheint ursprünglich in seiner Fähigkeit einzigartig zu sein, solch eine Diversität zu vereinen, ohne die relevanten Charakteristika des Einzelnen abzuflachen. Natürlich könnten wir ein neues Konzept entwickeln, wie Latours Faktisch13, oder ein indigenes Wort – wie beispielsweise Nkisi – als ein Metonym verwenden, genauso wie Mana verwendet wird, um über einige indigene Konzepte wie Axé, Gböbgö, Aché usw. zu sprechen. Wie bereits erwähnt, ist Nomenklatur nicht völlig irrelevant, aber sie trifft nicht wirklich das Herz der Sache. Der zentrale Punkt ist die doppelte Bewegung, nicht zwischen Menschen und Dingen, nicht zwischen Materie und Geist, oder Signifikat und Signifikant, sondern zwischen anthropologischen und indigenen Konzepten. Einerseits müssen wir darüber nachdenken, wie das Fetischkonzept (und alle Diskurse, die es umgeben) uns helfen kann, die Sammelstücke, auf die wir bei unserer Feldforschung stoßen, zu verstehen. Andererseits müssen wir darüber nachdenken, wie uns eben jene Ergebnisse der Feldforschung helfen könnten, dem Konzept des Fetischs neue Bedeutung zu geben (wie auch all jenen Diskursen, die es umgeben). Die Idee des Fetischs war immer grenzwertig, teilweise rückführbar auf seine kreolische Genealogie und andernteils auf die vielsagenden Anwendungen, eher unzähmbar und schwer zu greifen. Sie hat niemals irgendwem zugehört, ist eine nomadische, fremde Idee, gleichzeitig ein bezugnehmendes Konzept und das Verknüpfende, so wie alle anthropologischen Konzepte eben sein sollten (vgl. Viveiros de Castro 2003). Genau aus diesem Grunde erzeugt es die Spannung, die unsere Ideen bewegt, indem es verbindet, was getrennt war, indem es untrennbare Substanzen zu teilen scheint und dadurch unsere Perspektiven verschiebt. Das 13 | Latours Faktisch ist jedoch eine breiter gefasste Kategorie, als die des Fetischs, wie ich sie hier verwende.

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destabilisierende Potential des Fetischkonzepts und der Objekte, die es benennt, pulsiert, seitdem es aufgetaucht ist. Aber um dieses Potential zu nutzen, sollten wir es auch ernst nehmen, ohne es auf reine Illusion oder Hypostase zu reduzieren. Dann könnten wir in unseren Händen nämlich eine mächtige heuristische und transformatorische Kategorie halten. Aus dem Englischen übersetzt von Claudia Posch. Titel des englischen Originals: Fetishes and Odd Dualisms: Annotations Based on African and African-American Religions

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Fetischismus und Substitution Alfonso M. Iacono

Das Wort Fetischismus, das Konzept an sich, ist interessant, weil seine semantischen Veränderungen historische und epistemologische Zeugnisse dafür abliefern, wie westliche Beobachtende zur Frage der Universalität standen und wie sie den Anderen in ihre Betrachtungen inkludierten, und zwar in einem solchem Ausmaß, dass sie sich selbst als der Andere hinterfragten.1 In diesen semantischen Passagen und Veränderungen bewegte sich die Idee des Fetischismus sehr nahe an derjenigen der Substitution (Iacono 1985; 1992; 2001). Die Idee des Fetischismus wurde in diesem Prozess geboren: zuerst in Verbindung mit der mutmaßlichen Geschichte der Religion, dann als Frage der Beziehung zwischen Menschen und Gütern und zuletzt wandelte sie sich in einen theoretischen Protagonisten der Psychoanalyse.2 Während dieser Passagen und semantischen Veränderungen hatte die Idee des Fetischismus sehr viel mit jener der Substitution zu tun, und zwar in einer problematischen Art und Weise. Etwa Mitte des 18. Jahrhunderts kämpfen David Hume und Charles de Brosses, gemeinsam und jeder für sich, gegen den Universalismus der offenbarten Religion. Sie versuchen, die Ursprünge der Religion anthropologisch zu erklären. Zudem kämpfen sie gegen die Annahme, dass Idolatrie – wahrgenommen als eine »böse Religion«, in welcher der Schöpfer durch irgendeine Kreatur ersetzt wird (Original durch Kopie) – eine degenerierte Version von Religion sei. Solange die Kopie das Original repräsentiert, wird, wie Johannes von Damaskos sagte, in der Ähnlichkeit die Unterschiedlichkeit andauern. Wenn jedoch die Unterschiedlichkeit verschwindet, finden wir uns am Beginn einer schlechten Substitution, vergleichbar mit dem goldenen Kalb, das den einzigen und sichtbaren Gott ersetzte. Doch jede Ersetzung, egal ob gut oder schlecht, impliziert immer die Präsenz des Originals und die Präsenz der Kopie, die das Original repräsentiert. Die Idolatrie beinhaltet den Verlust der Unterscheidung (zwischen Kopie und Original), einen Verlust, den die heidnischen Men1 | An erster Stelle möchte ich Dr. Andrea Suggi danken. 2 | Vgl. Freud (1972 [1905]); (1972 [1927]); (1972 [1938]); vgl. Mistura (2001).

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schen verschuldet hätten, indem sie das Licht der göttlichen Offenbarung verloren. Der Jesuit Joseph-François Lafitau (1724; 1974-1977), der als einer der Väter der vergleichenden Methode angesehen wird (Duchet 1971; 1985; Motsch 2001), operiert noch innerhalb dieser universalistischen Überzeugung. Auch Charles de Brosses (1988 [1760]) folgt Lafitau in diesem Punkt, obwohl er sich in einem ganz anderen theoretischen und ideologischen Kontext bewegt. In seiner Natural History of Religion schlägt David Hume vor, die Religion als Glauben zu untersuchen. Um dies zu tun, brauchen wir eine anthropologische und psychologische Theorie der menschlichen Natur. Nach Ansicht Humes haben die Menschen die Tendenz, Phänomene und Ereignisse, die ihnen fremd sind, dem eigenen kulturellen und konzeptuellen Universum anzupassen. Das gesamte anthropologische und psychologische Problem hängt dann von dem ab, was Hume bereits in seinem Treatise of Human Nature unterstreicht, wo er über die Ursprünge der Glaubensinhalte schreibt: »In all cases we transfer our experience to instances, of which we have no experience, either expressly or tacitly, either directly or indirectly.« (Hume 2007 [1739-40]: 73) In seiner Natural History of Religion stellt Hume eine Überlegung an, die in gewisser Weise ein Pendant zu dem darstellt, was er im Treatise geschrieben hatte: »There is an universal tendency amongst mankind to conceive all beings like themselves, and to transfer to every object those qualities with which they are familiarly acquainted, and of which they are intimately conscious.« (Hume 1757: 317) Diese Worte werden erstmals von Edward Burnett Tylor zitiert, gleichsam als Bild im Bild in einer Art mise en abîme, dann über Tylor von Sigmund Freud, und schließlich über Freud vom Kunsthistoriker David Freedberg (Tylor 1924 [1871]: 477ff.; Freud [1912-13] 1972ff.: Bd. 9, 95f.; Freedberg 1989: 190f.), der heute – gemeinsam mit dem Neurophysiologen Vittorio Gallese und anderen – versucht, eine kognitive Theorie der Künste aufzustellen, basierend auf den Neurowissenschaften (Freedberg/ Gallese 2007a; Gallese/Freedberg 2007). Wenn also die Menschen die Tendenz haben, die ihnen innewohnenden, vertrautesten Eigenschaften auf Objekte zu transferieren, wenn sie, wie wir heute sagen würden, die Tendenz haben, sich selbst auf andere Objekte und Menschen zu projizieren, wie findet dann diese Übertragung statt? Was passiert, wenn wir Vorfälle und Ereignisse, von denen wir selbst gar keine Erfahrung besitzen, an unsere eigene Erfahrung assimilieren? Xenophanes sagte, dass Menschen Gottheiten in menschlicher Gestalt konzipieren und dass jedes Volk Gottheiten imaginiert, die ähnliche Charakteristika wie es selbst aufweisen. Aus diesem Grund stellten sich die Äthiopier die Götter schwarz und mit flacher Nase vor, während die Thraker sie blond und blauäugig sahen. Xenophanes behauptete auch, wenn Tiere Hände hätten, um zu malen und um somit figurativ ihre Götter darzustellen, so würden sie diese Götter ihrer jeweiligen Spezies ähnlich skizzieren.

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Demokrit wiederum nahm an, dass der Glaube an Göttinnen und Götter aus der Angst entstanden sein muss, die die Menschen vor unregelmäßig auftretenden Naturphänomenen hatten, wie beispielsweise Blitz, Donner und Sonnenfinsternis. Diese Erklärung für die Anfänge des Gottheitenglaubens wurde über Lukrez, Petronius und Statius von den Philosophen der Moderne übernommen. Nach Ansicht der griechischen Philosophen stellen wir uns also Götter nach unserem Selbst- oder Abbild vor und übertragen ihnen die Macht von Phänomenen oder Ereignissen, die sich unserem Verständnis und unserer Erfahrung entziehen. Nach Xenophanes stehen wir also vor der Grenze unserer Fähigkeit zur Repräsentation und Einbildungskraft; nach Demokrit nehmen wir als Anfangspunkt des Glaubens eine Emotion an, die von den Philosophen der Moderne Passion genannt wird. Die Position von Demokrit suggeriert uns noch eine weitere Frage: Was passiert, wenn die Menschen nicht in der Lage sind, ihre vertrautesten Charakteristika auf Objekte zu übertragen? Es gibt in der Tat Objekte und Ereignisse, die sich in ihrer Fremdartigkeit und Unregelmäßigkeit, Nichtvertrautheit zeigen. Es ist eine monströse Geburt – schreibt Hume, indem er Cicero zitiert – und nicht die alltägliche Ordnung der Natur, die einen tiefen Eindruck im Geiste des Menschen hinterlässt, der Geist eines »barbarous, necessitous animal«, wie es der Mensch am Ursprung der Gesellschaft wohl war. Fremdartigkeit und Unregelmäßigkeit, die Nichtvertrautheit von Objekten und Ereignissen, wie eben eine monströse Geburt, produzieren Ungewissheit, Unsicherheiten, Zweifel, Angst, Neugier, Verwunderung. Insbesondere Angst und Verwunderung markieren die Grenze zwischen der normalen Ordnung, in der die Menschen leben, und den irregulären Phänomenen, die die Menschen dazu bringen, über die Welt, in der sie leben, nachzudenken. Entlang dieser Trennlinie stellt Hume seine Theorie über den Ursprung der Religion auf; entlang derselben Linie und zur gleichen Zeit arbeitet Adam Smith seine Theorie über die Ursprünge der Philosophie aus. Es ist dies der gleiche Kontext, in dem Hume vorschlägt, dass Polytheismus die erste historische Religion gewesen sein muss. Die Argumentation, gemäß der der Polytheismus die erste Religion der Völker gewesen sei, wird über eine Generalisierung konstruiert: »It appears to me, that if we consider the improvement of human society, from rude beginnings to a state of greater perfection, polytheism or idolatry was, and necessarily must have been, the first and most ancient religion of mankind.« (Hume 1757: 310) Wir stehen hier nun vor einer offensichtlichen Inkohärenz. Wenn der Polytheismus die Religion »roher« Menschen war, die von irregulären Naturphänomenen verängstigt waren, wie erklärt man sich dann, dass für Hume ebenso wie für Gibbon das mythische Zeitalter hingegen das gewiss nicht »rohe« Zeitalter der Adoptivkaiser (der Antoninischen Dynastie) war? Tatsächlich, so Hume und Gibbon, machte in dieser Zeit der Polytheismus als eine Religion lokaler Gottheiten eine religiöse Toleranz

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erst möglich, eine Verbindung von Religion, Justiz und Politik, in der Handlungsfähigkeit gegeben war, ohne dass sich diese Bereiche gegenseitig bekämpften. Während dieser Zeit existierte also etwas, das wir heutzutage als eine Art Laizität in den Beziehungen der sozialen Kräfte (poteri sociali) bezeichnen könnten. Hiervon abgesehen stellt die Natural History of Religion zweifellos einen Wendepunkt in der Geschichte der Religionsinterpretation dar, wie auch in der Beziehung zwischen Philosophie und Religion und der Beziehung zwischen Anthropologie und Religion. Das wichtigste Kennzeichen für diesen Wendepunkt ist die Aussage Humes, dass der Polytheismus die erste historische Religion der Völker darstellte und nicht der Monotheismus, wie es bis zu dieser Zeit im Allgemeinen geglaubt worden war (und wie auch Voltaire weiterhin glaubte, sogar nach den Schriften Humes). Mit dieser Aussage, die die Neubetrachtung der Religionsgeschichte zur Erfüllung brachte und radikalisierte – eine Entwicklung, die philosophisch bereits etwa durch Bayle oder Fontenelle in die Wege geleitet worden war – trug Hume wie gesagt entschieden dazu bei, das Studium der Religion und ihrer Geschichte von den Themen der Offenbarung und Vorsehung zu lösen und als Glaubensanalyse zu determinieren. Die Natural History of Religion reiht sich in die für die Aufklärung typische Linie ein, die verschiedenen Entwicklungsstadien der Religion und der Menschheitsgeschichte in großen Zügen zu determinieren und zu beschreiben. Momigliano meint hierzu: »The overall result of this philosophical historical movement was to present schemes of human progress that theologicians had to face. For the first time, philosophers and historians joined forces in presenting religion as something that had a history. It was an uneasy collaboration between philosophers and historians, but it was a new and significant one.« (Momigliano 1987: 26)

Der Wendepunkt, den Hume dem Thema des Religionsursprungs verlieh, hatte auch eine weitere Konsequenz: Die auf der Degenerierung basierende Analyse war falsch, der zufolge die Idolatrie und der Polytheismus auf der Substitution des Originals durch die Kopie basierten, des Schöpfers durch die Kreaturen, des Repräsentierten durch die Repräsentierenden, des höchsten Wesens durch die Objekte, die die Erde symbolisierten. Ein solcher Ersetzungsprozess setzt sozusagen voraus, dass die Universalgeschichte dem Verfall zuneigt, dass sich somit die Passage von einer ersten Wahrheit zu ihrer Dekadenz und Korruption vollzieht. Dies bedeutet schlicht, eine historische Linie zu konstruieren, welche sich mit der theoretischen Vorannahme vereinbaren lässt. Um genau zu sein, nehmen wir beim Thema Substitution an, dass irgendetwas substituiert worden ist; wenn wir dieses »irgendetwas« als ein unrechtmäßiges, schlechtes Substitut wahrnehmen, bedeutet das auch, dass das Substituierte eine bessere Qualität hatte, es in seiner Aufgabe und in seiner Rolle im Vergleich zum Substitut ontologisch höherwertig war. Idolatrie wäre in diesem Fall ein schlechtes Substitut für den

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Monotheismus, der logischerweise vor der Idolatrie und auch vor dem Polytheismus anzusetzen ist. Hiervon ausgehend ist es möglich, eine Geschichte darzulegen, die diese Wahrheit bestätigt. Die theoretische Annahme bewahrheitet sich im hypothetischen historischen Prozess: Vom ursprünglichen Monotheismus schreitet man über Degenerierung zuerst zum Polytheismus und dann zur Idolatrie – ein degenerativer Prozess also. Die göttliche Wahrheit bestimmt die Geschichte, die aufgrund der Offenbarung universal ist. Humes Hypothese zeigt im Gegensatz dazu, dass die Vergöttlichung natürlicher Akteure der Natur und der Ereignisse des Lebens vom niedrigen Wissens- und Erfahrungsniveau der Menschen abhängt. Damit tilgt er auch jede mögliche aktive Intervention Gottes und der Dämonen. Das von Hume gezeichnete Bild verändert das theoretische Problem der Substitution vollkommen – es basiert auf der Idee, dass sich das menschliche Wissen Schritt für Schritt entwickelt und weiterentwickelt. Es geht also nicht mehr darum, den Polytheismus als Substitution der göttlichen Wahrheit anzusehen, sondern als Substitution rationaler Erklärungen. Diese Änderung der Sichtweise ist zentral. Nach Hume hängt die Tatsache, dass die Menschen unerklärlichen Ereignissen und irregulären Phänomenen der Natur göttliche Eigenschaften zuschreiben, von den engen Grenzen des Wissens und der Erfahrung dieser Urvölker ab. Dies erlaubt ihnen nur eine unvollkommene Assimilierung dieser Ereignisse und Phänomene im groben System der Regularität, das von den Urmenschen konstruiert wurde. Die Angst ist ein Resultat der Grenzen ihres kognitiven und konzeptuellen Systems. Hume unterscheidet deshalb zwischen der normalen und vertrauten Ordnung der Dinge, die den armen »Wilden« nicht ängstigt, und unregelmäßigen Phänomenen, die der »Wilde« noch nicht rational beherrschen kann. Der Fortschritt besteht somit im Wachsen der Fähigkeit, die Natur rational zu beherrschen (padroneggiare), was in der Tat eine zunehmende Eignung impliziert, unregelmäßig auftretende Phänomene in die Ordnung der kulturellen und konzeptuellen Regularitäten der Menschen einzubinden, welche sich mit Kenntnissen bereichern. Der von Hume beschriebene Prozess hat folgende Phasen: a) Die Menschen werden von einem nicht vertrauten Phänomen getroffen und fürchten es. b) Sie übertragen auf dieses Phänomen eine ihnen bekannte Macht. c) Sie geben dieser Macht eine Kraft, die zwar von derselben Qualität ist wie die eigene, die jedoch noch höher einzustufen ist. d) Sie vergöttlichen somit dieses Phänomen; sie assimilieren es also an ihre konzeptuelle Welt, aber gerade insofern es als fremd anerkannt wird. Die Vergöttlichung der irregulären Naturphänomene spiegelt also dieses doppelte und kontrastierende Gefühl der »Wilden«: Die »Wilden« assi-

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milieren diese Phänomene an ihr konzeptuell armes Universum, doch sie tun dies, indem sie deren Fremdheit und höhere Macht anerkennen. Die Übertragung von Eigenschaften, welche den Menschen eigen sind, auf Sachen erhält zwar aufgrund dieses Prozesses die Rolle einer Substitution, doch die Objekte der Substitution haben sich geändert. Es sind die Eigenschaften der Menschen, welche sich in den Phänomenen der Natur widerspiegeln und die realen Ursachen substituieren, die sie hervorgebracht haben. Und der Prozess ihrer Vergöttlichung schafft und versteckt zugleich diese Substitution. Die Idee der Substitution betrifft somit die beobachtende Person und, wie Wittgenstein sagen würde, deren »formale Beziehungen«3 , und nicht die beobachteten Personen. Der Prozess, hinter ihre Wahrheit und ihr Bewusstsein zu schauen, hängt immer davon ab, wie sich die Beobachtung von außen strukturiert und wie sie sich ins Innere ihrer Welt einfügt. Und Hume strukturiert diese gemäß dem Kriterium der Assimilierung an die eigene kulturelle Welt, welche die Anderen und ihre Verschiedenheit anhand des Schlüssels der Fortschrittsgeschwindigkeit wahrnimmt. Mit dem Fetischismuskonzept bildet Charles de Brosses einen weiteren Übergang über dieses Vorgehen von Hume hinaus: Die erste Stufe der Religion, welche noch vor dem eigentlichen Polytheismus anzusetzen ist, besteht in der Übertragung menschlicher Eigenschaften auf Dinge, welche man vergöttlicht und die somit als fremd angesehen und zur gleichen Zeit an das konzeptuelle Universum der antiken Menschen und der »Wilden« assimiliert werden. Der Fetischismus ist der erste Schritt in der Geschichte der Religion. Aber welche Bedeutung hat es, wenn die Dinge, die Objekte selbst direkt vergöttlicht werden? Es bedeutet, dass die Objekte nicht einfach dastehen und unsichtbare Gottheiten repräsentieren, wie beispielsweise Statuen, denn sie dürfen weder repräsentieren noch substituieren. Das Problem der Repräsentation und der Substitution – und somit jenes der Idolatrie – wird sich erst mit der zweiten Phase des Fortschritts des »primitiven« Geistes stellen, welche mehr der Phase des Polytheismus in Humes Natural History of Religion entspricht. Wenn das Stadium des Fetischismus also jenes ist, in dem es noch keine Substitution gibt, so ist der Fetischismus weniger ein besonderer Fall von Polytheismus, wie es schlussendlich Diderot, de Brosses und auch Hume selbst annehmen, vereint in ihrem gemeinsamen Kampf gegen die Idee eines ursprünglichen Monotheismus und der Idolatrie als Degenerierung.4 Der Fetischismus präsentiert sich vielmehr als Abwesenheit des Unsichtbaren, insofern als er die ursprüngliche menschliche Unfähigkeit, das Abwesende zu repräsentieren, ausdrückt. Wenn sich somit 3 | Vgl. Wittgenstein (1953: § 122); Wittgenstein (1967: 233-253); zu diesem Argument, siehe Gargani (2008: 68). 4 | Über die Beziehung zwischen Diderot, Hume und de Brosses vgl. David (1966: 138; 1974; 1981). Vgl. auch A. de Brosses (1981: 141-147).

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bei der primitiven Menschheit noch nicht diese Fähigkeit findet, Kopien zu schaffen, deren Ähnlichkeit mit dem Original notwendigerweise die Unterschiedlichkeit impliziert − wie es Johannes von Damaskos in Erinnerung rief − so stellt sich auch nicht die Gefahr der Idolatrie, deren Charakteristik ja gerade der Verlust der Unterschiedlichkeit ist. Die Wut Moses, als er vom Berg heruntergestiegen das goldene Kalb sieht, richtet sich gegen sein Volk, das während des Wartens die Unterscheidung vergessen hat. Die Angst einiger monotheistischer Religionen vor Bildern ist geradezu die Angst vor dem Verlust der Differenz in der Repräsentation, die Angst, dass die Kopie das Original ersetzen könnte, gerade dort, wo das Original nicht ersetzt werden kann noch darf, da unter den Eigenschaften des einzigen Gottes jene ist, dass er unsichtbar ist. Wie kann also eine Kopie ein unsichtbares Original ersetzen? Sie kann es repräsentieren, ohne es zu kopieren. Doch gerade aus den Gefahren, die in diesem Repräsentationsprozess und ihrem substituierenden Charakter liegen, sind verschiedene Arten und Weisen hervorgegangen, wie die Beziehung zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren in den monotheistischen Religionen konzipiert wird. In jedem Fall irren laut den Philosophen der Aufklärung die Theorien, die sich auf den ursprünglichen, offenbarten Monotheismus berufen, der dann in eine heidnische Idolatrie degeneriert sein soll, darin, die Geschichte auf die Offenbarung hin »zähmen« zu wollen. Ausgehend von einer anderen Vorannahme unterscheidet Hume dennoch nicht deutlich zwischen Polytheismus und Idolatrie, auch wenn klar ist, dass der Polytheismus eine von Toleranz geprägte Form des religiösen Glaubens ist, der nicht nur für die sogenannten primitiven Völker typisch ist, sondern auch für vergangene Zivilisationen wie jene der Römer oder der Griechen. Der Polytheismus ist nicht nur eine ursprüngliche Form religiösen Glaubens, sondern etwas, das auch dem Monotheismus selbst noch etwas beizubringen hat, z.B. in Sachen Toleranz. Das Spektrum des Polytheismus ist somit eher weit und dies kann vielleicht erklären, wieso Hume die Schrift von de Brosses als Komplettierung und Bereicherung seiner Theorie begrüßte. Der Fetischismus drückt nämlich, als Form der direkten Vergöttlichung der Objekte, jene Ursprünglichkeit des Geistes aus, die noch unfähig ist, zu abstrahieren und zu repräsentieren; diese kann nicht durch das weite Spektrum des Polytheismus ausgedrückt werden, welches sich von den »Wilden« bis zu den antiken Völkern ausdehnt. Hume ist der Ansicht, dass ein Geist, der noch nicht in der Lage ist, zu repräsentieren und zu substituieren, auf keinen Fall degeneriert ist. Im Gegenteil, er ist ein unschuldiger Geist. Dennoch sind wir vom Thema der Nostalgie nach der primitiven Unschuld noch weit entfernt. Nach Charles de Brosses ist ein Geist, der nicht fähig ist, Repräsentationen hervorzubringen, einfach nur der Startpunkt eines notwendigen menschlichen Fortschritts. Die Unschuld des primitiven Geists steht im Gegensatz zur Schuld eines Geists, der sich nicht an die Offenbarung erinnert und somit degeneriert ist.

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Die Vergöttlichung jener Dinge, auf die menschliche Eigenschaften übertragen werden, wird somit als von Fremdheit und Assimilierung ausgehend definiert. Ein Ding, eine Sache, ein Phänomen werden vergöttlicht, gerade weil sie die Ränder des konzeptuellen Universums der »Wilden« einnehmen. Doch auch diese Definition hängt ihrerseits wiederum von der Konzeption der Erkenntnis als einem Prozess der Assimilierung der fremden Objekte und fremden natürlichen Phänomene ab, die dominiert und beherrscht werden müssen. Man nimmt ihnen somit ihren göttlichen Charakter, in dem man sie in die Welt der Ursachen und natürlichen Wirkungen eingliedert. Auf diese Weise wird ein doppelter und kontrastierender Effekt erzeugt: Auf der einen Seite zeigt sich in der Transferierung von menschlichen Eigenschaften auf Dinge ein Prozess menschlicher, symbolischer Inversion; auf der anderen Seite wird dieser Prozess auf die Effekte der Armut des konzeptuellen und symbolischen Universums der »Wilden« reduziert. Im ersten Fall werden die Objekte unbewusst der Spiegel der Produkte des menschlichen Gehirns; im zweiten reflektiert dieser Spiegel jene deformierten und vergrößerten Charakteristiken, welche die Naturphänomene symbolisieren. So wie viele anthropologische und ethnographische Theorien trifft auch de Brosses’ Theorie eigentlich viel mehr Aussagen über das kulturelle Universum Europas im 18. Jahrhundert als über die afrikanischen, asiatischen oder amerikanischen Völker. Die Entwicklung der Fetischismusidee zeigt hier dennoch einen wichtigen Wendepunkt in der Verortung des Phänomens: Der Fetischismus ist nicht mehr außerhalb, sondern innerhalb des westlichen Systems und der westlichen Kultur; er ist in der Welt der Waren und der Psyche, an Orten, in denen er eng und direkt mit dem Problem der Substituierung verbunden ist. Als Marx vom Warenfetischismus sprach, einem Thema, das unter anderem viele Philosophen wie György Lukács, Walter Benjamin, Theodor Wiesengrund, Theodor W. Adorno und in der Folge Guy Debord beeinflusste, bezog er sich auf einen Prozess der Substitution. Eine Substitution, in der die Menschen den Waren Qualitäten zuschreiben, die aus den menschlichen Beziehungen resultieren (Marx 1867: 85-98). Im derzeitigen Globalisierungszeitalter hat sich dieser Prozess der Substitution ins Gigantische gesteigert bis dahin, dass er die verstörenden und verführerischen Züge einer sublimen Omnipotenz annimmt.5 Wenn wir andererseits an die Psychoanalyse denken, müssen wir erkennen, dass die Frage der Substitution natürlich maßgeblich ist, wenn man das Fetischismusargument bei Freud oder Lacan betrachtet. Ohne die Idee der Substitution können wir darüber hinausgehend beispielsweise das Inzestverbot nicht verstehen und auch nicht, warum sich ein beliebiges Kind mehr über die 5 | Für eine Diskussion der Fetischismusfrage heute siehe auch: Balibar (1993); Derrida (1993); Assoun (1994); Latour (1996); Žižek (1997); Fadini (2002); Pietz (2005).

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Stiefmutter Schneewittchens ärgern würde, als über seine eigene Mutter (Bettelheim 1977). Wir leben von Substituten. Wir kreieren sie. Wir kreieren Substitute, die nicht substituieren, denn häufig ist ihr »An-der-Stelle-von-etwas-Stehen« nicht das Werk einer Ersetzung, sondern der Produktion einer neuen Welt. Die Religionen eines einzigen und unsichtbaren Gottes haben Angst vor dem Substitut, weil es zu Idolatrie und Fetischismus führt. In der Gesellschaft der seriellen Warenproduktion wird das einzigartige Objekt, das von seinem Zweck getrennt und in einem Museum ausgestellt wurde, nun wiederum als Fetisch verehrt. Das Einzigartige (ein Gott, ein Objekt) ist geradezu das, was man nicht ersetzen kann, außer auf unrechtmäßige Art und Weise. Das Wort Fetisch kommt vom Wort factitious, »eine gemachte Sache«, das dennoch sehr nahe an fictitious liegt, »eine falsche Sache«. Jedes künstliche (artificiale), also mit Kunst geschaffene Ding läuft immer Gefahr, den Charakter des Gekünstelten (artificioso) anzunehmen, den Zug des Betrugs, den Schatten der Falschheit. Aber kein einziges menschliches Ding kann ohne Beziehung zur Künstlichkeit gesehen werden. Leopardi, Nietzsche, Pirandello suchten nach der Wahrheit im bitteren, kritischen Bewusstsein, dass sie in einer illusorischen Welt lebten. Aber Shakespeare6, Coleridge und Baudelaire schritten direkt in diese Welt und luden das Publikum und die Leserschaft dazu ein, es ihnen nachzutun, ihr kritisches Bewusstsein einer Wahrheit, welche fähig ist, vom Betrug zu befreien, zu verändern im expliziten Spiel der Ersetzung, die in sich die Wahrheit der Illusion birgt. Kommt nicht die 6 | William Shakespeare, Henry V, Prolog: »CHORUS tritt ein. Oh! eine Feuermuse, die hinan den hellsten Himmel der Erfindung stiege! Ein Reich zur Bühne, Prinzen drauf zu spielen, Monarchen, um der Szene Pomp zu schaun! Dann käm’, sich selber gleich, der tapfre Heinrich in Mars’ Gestalt; wie Hund’ an seinen Fersen gekoppelt, würde Hunger, Feu’r und Schwert um Dienst sich schmiegen. Doch verzeiht, ihr Teuren, dem schwunglos seichten Geiste, der’s gewagt, auf dies unwürdige Gerüst zu bringen solch großen Vorwurf. Diese Hahnengrube, faßt sie die Ebnen Frankreichs? Stopft man wohl in dieses O von Holz die Helme nur, wovor bei Agincourt die Luft erbebt? O so verzeiht, weil ja in engem Raum ein krummer Zug für Millionen zeugt; Und laßt uns, Nullen dieser großen Summe, auf eure einbildsamen Kräfte wirken! Denkt euch im Gürtel dieser Mauern nun zwei mächt’ge Monarchieen eingeschlossen, die, mit den hocherhobnen Stirnen, dräuend, der furchtbar enge Ozean nur trennt. Ergänzt mit den Gedanken unsre Mängel, zerlegt in tausend Teile einen Mann und schaffet eingebild’te Heereskraft. Denkt, wenn wir Pferde nennen, daß ihr sie den stolzen Huf seht in die Erde prägen. Denn euer Sinn muß unsre Kön’ge schmücken: Bringt hin und her sie, überspringt die Zeiten, verkürzet das Ereignis manches Jahrs zum Stundenglase. Daß ich dies verrichte, nehmt mich zum Chorus an für die Geschichte, der als Prolog euch bittet um Geduld: Hört denn und richtet unser Stück mit Huld.« (Shakespeare, William. Sämtliche Werke in vier Bänden. Bd. 3, Berlin: Aufbau, 1975, S. 387-390. http://www. zeno.org/nid/20005689309 [besucht am 12.05.2011])

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Kunst geradezu von diesem illusionären Spiel, das die Eigenschaften der Wahrheit annimmt? Und dieses Spiel der Illusion, das sich so häufig – vor allem heute in der Epoche der hochauflösenden Reproduktion – in Täuschung verwandelt, stammt es nicht wiederum von unserer Art ab, die Welt kognitiv zu strukturieren, indem wir Gegenwarten schaffen, um zu ersetzen, was abwesend ist?7 Vielleicht handelt es sich um den Widerspruch, der diesem Spiel der Spiegel inhärent ist, welches das Drama der mimesis ist: Gerade während es die Sehnsucht nach Ähnlichkeit einflößt, lässt es uns den Sinn der Differenz entdecken und damit die Autonomie, die Kant mit der Aufklärung gleichsetzte und mit dem eigenständigen Denken, und das sich in der Tat nur in der Anerkennung der Tatsache realisieren kann, dass wir von den anderen abhängen und von den Beziehungen zu den anderen. Aus dem Englischen und Italienischen übersetzt von Claudia Posch und Christina Antenhofer. Titel des Originals: Il concetto di feticisimo e il problema del sostituto

Q UELLEN UND L ITER ATUR Assoun, Paul-Laurent. Le fétichisme. Paris: PUF, 1994. Balibar, Étienne. La philosophie de Marx. Paris: La Découverte, 1993. Bettelheim, Bruno. The Uses of Enchantment: The Meaning and Importance of Fairy Tales. New York: Vintage Books, 1977. Brosses, Aymar de. »Les relations du président de Brosses avec David Hume.« Charles de Brosses 1777-1977. Actes du colloque organisé à Dijon du 3 au 7 mai 1977 pour le deuxième centenaire de la mort du président de Brosses, par l’Académie des sciences et belles lettres de Dijon et le Centre de recherche sur le XVIIIe siècle de l’Université de Dijon. Bd. 2 Biblioteca del viaggio in Italia. Hg. Jean-Claude Garreta. Genf: Slatkine, 1981. S. 141-147. Brosses, Charles de. Du culte des Dieux Fétiches ou Parallèle de l’ancienne Religion de l’Egypte avec la Religion actuelle de la Nigritie. Paris: Fayard, 1988 [1760]. David, Madeleine. »Lettres inedites de Diderot et de Hume ecrites de 1755 a 1763 au president de Brosses.« Revue Philosophique 2 (1966): S. 135144. David, Madeleine. »Histoire des religions et philosophie au XVIII siècle: le président de Brosses, David Hume et Diderot.« Revue Philosophique 2 (1974): S. 145-160. David, Madeleine. »Le président de Brosses historien des religions et philosophie.« Charles de Brosses 1777-1977. Actes du colloque organisé à Dijon du 3 au 7 mai 1977 pour le deuxième centenaire de la mort du président de Brosses, par l’Académie des sciences et belles lettres de Dijon et le Centre 7 | Siehe Iacono (2010).

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de recherche sur le XVIIIe siècle de l’Université de Dijon. Bd. 2 Biblioteca del viaggio in Italia. Hg. Jean-Claude Garreta. Genf: Slatkine, 1981. S. 123-140. Derrida, Jacques. Spectres de Marx. Paris: Galilée, 1993. Duchet, Michèle. Anthropologie et histoire au siècle des lumières. Paris: Maspero, 1971. Duchet, Michèle. Le partage des savoirs. Paris: La Découverte, 1985. Fadini, Ubaldo. »Attraverso il feticismo radicale.« Millepiani 21 (2002): S. 63-77. Freedberg, David. The Power of Images. Chicago: UCP, 1989. Freedberg, David und Vittorio Gallese. »Motion, emotion and empathy in esthetic experience.« Trends in Cognitive Sciences 11.5 (2007a): S.  197203. Freud, Sigmund. Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. Bd. 5 von Gesammelte Werke. Frankfurt a.M.: Fischer Verlag, 1972 [1905]. Freud, Sigmund. Totem und Tabu. Bd. 9 von Gesammelte Werke. Frankfurt a.M.: Fischer Verlag, 1972 [1912-13]. Freud, Sigmund. Fetischismus. Bd. 14 von Gesammelte Werke. Frankfurt a.M.: Fischer Verlag, 1972 [1927]. Freud, Sigmund. Die Ichspaltung im Abwehrvorgang. Bd. 17 von Gesammelte Werke. Frankfurt a.M.: Fischer Verlag, 1972 [1938]. Gallese, Vittorio und David Freedberg. »Mirror and canonical neurons are crucial elements in esthetic response.« Trends in Cognitive Sciences 11.10 (2007): S. 411. Gargani, Aldo Giorgio. Wittgenstein: musica, parola, gesto. Bd. 170 von Scienza e idee. Milano: R. Cortina, 2008. Hume, David. »Natural History of Religion, Sect. III.« Bd. 4 von The Philosophical Works. Hg. Thomas H. Green und Thomas H. Grose. Aalen/ Darmstadt: Scientia Verlag, 1964 [1757]. Hume, David. »Treatise of Human Nature Volume 1: Texts.« Clarendon Edition of the Works of David Hume. Hg. David F. Norton und Mary J. Norton. Oxford: Clarendon Press, 2007 [1739-40]. Iacono, Alfonso M. Teorie del feticismo. Milano: Giuffré, 1985. Iacono, Alfonso M. Le fétichisme. Histoire d’un concept. Paris: PUF, 1992. Iacono, Alfonso M. »The American Indians and the Ancients of Europe: The Idea of Comparison and the Construction of Historical Time in the 18th Century.« The Classical Tradition and the Americas, Volume 1: European Images of the Americas and the Classical Tradition. Hg. Wolfgang Haase und Reinhold Mey. Berlin/New York: De Gruyter, 1994. S. 658-681. Iacono, Alfonso M. »L’ambiguo oggetto sostituto.« Figure del feticismo. Hg. Stefano Mistura. Torino: Einaudi, 2001. S. 35-59. Iacono, Alfonso M. L’illusione e il sostituto. Milano: Bruno Mondadori, 2010. Lafitau, Joseph-François. Moeurs des sauvages américains comparées aux moeurs des premiers temps. Paris: Maspero, 1983 [1724].

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Marx und der Fetischismus Von der Religionskritik zur Kritik der politischen Ökonomie Antoine Artous

»[Die Bourgoisie] hat, mit einem Wort, an die Stelle der mit religiösen und politischen Illusionen verhüllten Ausbeutung die offene, unverschämte, direkte, dürre Ausbeutung gesetzt. […] Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können. Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und die Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen«

– so verkündet es das Kommunistische Manifest (Marx 61972: 465). Der Aufstieg an die Macht der modernen Bourgeoisie stellt in der Tat die präkapitalistischen Herrschaftsformen völlig auf den Kopf, in denen sich die Beziehungen der Ausbeutung entlang der Beziehungen persönlicher Abhängigkeit (Leibeigener, Sklave etc.) strukturierten und mittels einer religiösen Vorstellungswelt, die unter verschiedenen Formen soziale Hierarchien durch ihr Einschreiben in eine übernatürliche Ordnung legitimierten. Die Frage ist wichtig, ob man die Brüche, die durch den Kapitalismus eingeführt wurden, verstehen will. Doch zumindest in jener Epoche spielt sich für Marx alles so ab, als ob das, was Max Weber die Entzauberung der Welt nennen wird, bedeutungsgleich sei mit dem Voranschreiten in Richtung der Transparenz der sozialen Beziehungen, was zugleich die Sichtbarmachung der Ausbeutung ermöglichen sollte. In Das Kapital ist dies nicht mehr der Fall. Die Vorherrschaft der Warenproduktion bringt eine neue Form der Intransparenz mit sich, verbunden mit der Generalisierung einer besonderen sozialen Form, die ihre eigenen Trugbilder nach sich zieht. Während die Ware etwas Triviales zu sein scheint, »[ist] sie ein sehr vertracktes Ding [...], voll metaphysischer Spitzfindigkeit und theologischer Mucken«, schreibt Marx auf den Seiten des ersten Buches des Kapitals, wo er sich vornimmt, den »Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis« zu analysieren (Marx 1968a: 85).

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A NTOINE A RTOUS

U MLEITUNG DER K ATEGORIE DES F E TISCHISMUS Die Berufung auf die Kategorie des Fetischismus ist umso bemerkenswerter, als Marx hier eine Theorie »umleitet«, die er kennt und die in der Tradition der Aufklärung beabsichtigt, über die Glaubensformen in den »primitiven« Gesellschaften zu berichten (Iacono 1992; Pietz 2005). Der Begriff Fetischismus wurde 1757 von Charles de Brosses im Rahmen einer Theorie der primitiven Religionen erfunden. Das Wort Fetisch ist etwas älter und wurde von portugiesischen Seefahrern geprägt, um die Praktiken bestimmter afrikanischer Populationen zu bezeichnen. Der Fetischismus besteht darin, ein materielles Objekt anzubeten, dem man übernatürliche Kräfte zuschreibt. Der Begriff wird von der Aufklärung wieder aufgegriffen. Im 19. Jahrhundert wird das Konzept neu bearbeitet. Hegel beschränkt den Fetischismus auf Afrika und der Fetischkult korrespondiert mit einer Phase, in der sich die Menschen noch außerhalb der Geschichte befinden. Im Gegensatz dazu handelt es sich für Auguste Comte um das erste Stadium der Geschichte. Am Beginn des 20. Jahrhunderts erklärt Marcel Mauss, dass die Theorie des Fetischismus hinfällig, da eurozentrisch und von einer starken kolonialen Tonart sei. In jener Epoche ist Marx der einzige, der diese Kategorie für die Analyse der modernen Welt arbeiten lässt, die in sich eine neue Objektivität des Sozialen birgt. Es geht also nicht darum, von der Übernatürlichkeit eines Objekts, seiner Einschreibung in eine übernatürliche religiöse Ordnung zu berichten, sondern die Naturalisierung und Verdinglichung bestimmter, historisch determinierter sozialer Beziehungen aufzuzeigen. Auf der einen Seite wird also das Soziale zu etwas Übernatürlichem, auf der anderen Seite wird es verdinglicht. Daher verwendet Marx in seinen Theorien über den Mehrwert den Ausdruck Fetischismus folgendermaßen: »Da die lebendige Arbeit – durch den Austausch zwischen Kapital und Arbeiter – dem Kapital einverleibt ist, als ihm gehörige Tätigkeit erscheint, sobald der Arbeitsprozeß beginnt, stellen sich alle Produktivkräfte der gesellschaftlichen Arbeit als Produktivkräfte des Kapitals dar, ganz wie die allgemeine gesellschaftliche Form der Arbeit im Geld als Eigenschaft eines Dings erscheint. So stellen sich jetzt die Produktivkraft der gesellschaftlichen Arbeit und die besondren Formen derselben als Produktivkräfte und Formen des Kapitals dar, der vergegenständlichten Arbeit, der sachlichen Arbeitsbedingungen – die als solche verselbständigte Gestalt der lebendigen Arbeit gegenüber dem Kapitalist personifiziert sind. Es ist hier wieder die Verkehrung des Verhältnisses, als deren Ausdruck wir schon bei der Betrachtung des Geldwesens den Fetischismus bezeichnet haben.« (Marx 41974: 365)

Es geht für Marx also darum, aufzuzeigen, wie der Wert einer Ware der Ausdruck sozialer Beziehungen ist und nicht eine natürliche Eigenschaft.

M ARX UND DER F ETISCHISMUS

Und um dies zu erreichen, muss man die Formen der sozialen Repräsentationen behandeln, die sich in den Objekten herauskristallisieren. Im ersten Buch des Kapitals (das einzige, das zu Marx’ Lebzeiten publiziert wurde) sind die Abhandlungen über den Warenfetischismus an einer strategischen Stelle platziert: Sie beschließen das Kapitel über die Analyse der Ware und der Wertform, sie sind also strukturell an die Marx’sche Werttheorie gebunden. Im Übrigen bezieht sich Marx nicht nur auf diesen Seiten auf den Fetischismus; die Kategorie ist im gesamten Kapital und in den Manuskripten jener Epoche präsent. Ihre Funktion wird sogar auf die kapitalistische Produktion ausgeweitet. Zudem wird die kritische Funktion des Konzepts breit in den detaillierten Analysen mobilisiert, die Marx über die Ökonomen seiner Zeit anstellt, namentlich in den Theorien über den Mehrwert. Man musste jedoch bis zum Anfang der 1920er Jahre warten, ehe der russische Ökonom Isaak I. Roubine in seinen Studien zur Marx’schen Werttheorie diese strategische Rolle aufzeigte, so wie jene einer anderen, ebenfalls »vergessenen« Kategorie: der abstrakten Arbeit. Roubine verschwand jedoch in den stalinistischen Lagern, sodass seine Stimme in jener Epoche wenig Echo hatte.1 Es ist wahr, dass er – im Gegensatz zur marxistischen Vulgata der Epoche – gut daran tat, aufzuzeigen, dass die Marx’sche Theorie des Werts nicht die simple Verlängerung der Werttheorie der klassischen Ökonomen darstellte. Allgemeiner gesagt wird dieser Marx’sche Materialismus, in dem »l’esprit se fait chose pendant que les choses se saturent d’esprit« (der Geist zur Sache wird, während die Sachen sich mit Geist sättigen), um eine Formulierung von Maurice Merleau-Ponty aufzunehmen (Merleau-Ponty 1955: 45), der kommenden marxistischen Tradition einige Probleme bereiten. Die Formulierung beschreibt – wir werden es sehen – Marx’ Art zu sprechen sehr gut, wie er von der Ware als einer »sozialen Sache« spricht, als einem »sinnlichen, übersinnlichen« Objekt, einer »imaginären« Realität und dennoch mit einer Objektivität versehen, einer sozialen Realität. Marx verfolgt offensichtlich das Anliegen, einen materialistischen Zugang zur Repräsentation zu entwickeln (Garo 2000); das bedeutet einen Zugang, der aus den sozialen Repräsentationen ein strukturierendes Moment der Objektivität des Sozialen macht. Die Beschaffenheit dieser Objektivität hat immer eine ideelle Dimension (Godelier 1984). Die Thematik des Fetischismus eröffnet zahlreiche Wege, die sich im Werk von Marx kreuzen – ohne notwendigerweise in die gleiche Richtung zu gehen. Es würde überhaupt keinen Sinn ergeben, zu versuchen, sie alle in diesem Beitrag zu verfolgen.

1 | In den Post-1968er-Jahren fand Roubine hingegen im Zusammenhang mit den Wiederveröffentlichungen seines Buches, das zuvor verschwunden gewesen war, einen gewissen Einfluss bei anderen Autoren (in Deutschland, Frankreich usw.), die sich auf die »Wertform« beriefen.

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Wir wollen lediglich versuchen, aufzuzeigen, wie die Fetischismustheorie bei Marx organisch mit der Analyse des Werts als sozialer Form verbunden ist. Und dass diese organische Verbindung eine heuristische Funktion in der Entfaltung des Marxismus als »Kritik der politischen Ökonomie« einnimmt, gemäß dem Untertitel des Kapitals.2

V ON DEN M ANUSKRIPTEN AUS DEM J AHRE 1844 BIS ZUM K APITAL Marx kennt die Kategorie des Fetischismus und ihren Ursprung. Im Übrigen verwendet er den Begriff bereits deutlich vor Verfassen des Kapitals. Er zitiert Charles de Brosses in der Rheinischen Zeitung im Artikel Debatten über das Holzdiebstahlsgesetz vom 3. November 1842 (Marx 1976: 147). Doch erst in den Manuskripten aus dem Jahre 1844 beginnt er, eine Reflexion über den Fetischismus in Verbindung mit der Religionsanalyse und der politischen Ökonomiekritik zu entwickeln, namentlich rund um das Geld. Diese Thematik wird sich fortsetzen, aber mit sehr wichtigen Veränderungen. Die Diskussionen rund um die Manuskripte aus dem Jahre 1844 (die erst 1932 publiziert wurden) waren so mannigfach wie jene über die Verbindung dieses Textes mit dem Kapital. Dabei steht nicht die Problematik des Fetischismus im Zentrum, sondern jene der Entfremdung. Um es kurz zu machen, der junge Marx entwickelt eine Kritik der entfremdeten Arbeit, indem er die Religionskritik von Feuerbach als Modell verwendet. Er lässt diese allerdings eine besondere Verdrehung erleiden, da infolgedessen die Entfremdung ihre Wurzeln in bestimmten sozialen Beziehungen hat. Es wird deutlich, dass Marx hier bereits Anliegen und Herangehensweisen an das Soziale (das Soziale als Prozess der Objektivierung und der Subjektivierung) hat, die man im Kapital wiederfindet. Dennoch situiert sich diese Thematik der Entfremdung im Rahmen einer philosophischen Anthropologie der Arbeit als generelle Essenz des Menschen als Gattung. Marx erweist der Entdeckung der Arbeit als Quelle des Reichtums durch die klassische Ökonomie seine Anerkennung und der Affirmation von Hegel, der zufolge die Arbeit die Essenz des Menschen ist. Doch die Herrschaft des Eigentums drückt eine Form der entfremdeten Arbeit aus. Was den Fetischismus angeht, so schreibt Marx: »Die Nationen, welche noch von dem sinnlichen Glanz der edlen Metalle geblendet und darum noch Fetischdiener des Metallgeldes sind – sind noch nicht die vollendeten Geldnationen.« (Marx 1968b: 552) Er zielt hier auf den Merkantilismus, der »nur das edle Metall als Existenz des Reichtums kennt« 2 | Wir erlauben uns an dieser Stelle und auch für die folgenden Ausführungen auf unser Buch, Le fétichisme chez Marx. Le marxisme comme théorie critique (Artous 2006), zu verweisen.

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(ebd.: 532). Die Physiokraten führen einen ersten Bruch ein, da sie auf die Arbeit verweisen, um über den Reichtum zu berichten, auch wenn nur die landwirtschaftliche Arbeit als produktiv angesehen wird. Schließlich wird mit Smith und Ricardo die Arbeit generell die Quelle allen Reichtums. Marx etabliert sodann eine Analogie zwischen der Geschichte der Theologie sowie der politischen Ökonomie (Autin 2008). Der Merkantilismus wird mit dem Katholizismus und seinen fetischistischen Praktiken in Beziehung gesetzt – man weiß, dass für Hegel die Hostie in den Bereich einer animistischen Praktik gehört. Smith wird als »Luther der politischen Ökonomie« präsentiert, da sich sowohl Smith als auch Luther der menschlichen Subjektivität (der Aktivität des Menschen als Subjekt) zugewandt haben, Ersterer jedoch innerhalb der Grenzen des Privateigentums, Zweiterer innerhalb der Religion. Der Fetischismus verweist also auf ein archaisches Stadium des Geldes, auf das Gold. 1859 behauptet nun Marx in seiner Kritik der politischen Ökonomie deutlich – und wie ein Echo der Formulierungen von 1844 – das Gegenteil: »Gold und Silber helfen den Weltmarkt schaffen, indem sie in ihrem Geldbegriff sein Dasein antizipieren. Daß diese ihre Zauberwirkung keineswegs auf die Kinderjahre der bürgerlichen Gesellschaft beschränkt ist, sondern notwendig hervorwächst aus der Verkehrung, worin den Lagern der Warenwelt ihre eigne gesellschaftliche Arbeit erscheint, beweist der außerordentliche Einfluß, den die Entdeckung neuer Goldländer in der Mitte des 19. Jahrhunderts auf den Weltverkehr ausübt.« (Marx 71971: 128)

Es ist bemerkenswert, dass Marx hier nicht nur auf objektive soziale Beziehungen (Inversion der sozialen Arbeit) verweist, sondern ebenso auf soziale Formen der Repräsentation, die sie tragen. Mit dem ersten Buch des Kapitals entfaltet sich diese zweifache Dimension der Analyse des Warenfetischismus, und zwar auf den Seiten mit dem Titel Der Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis. Man kennt die allgemeine Formulierung. In diesem Fetischismus »[…] ist [es] nur das bestimmte gesellschaftliche Verhältnis der Menschen selbst, welches hier für sie die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen annimmt« (Marx 1968a: 86). Diese Umkehrung ist nicht eine einfache Illusion, sondern der Effekt einer Generalisierung der Warenproduktion, in welcher die Arbeit als ein Ensemble von Privatarbeiten funktioniert. Es ist also nur der Austausch, der es erlaubt, den sozialen Charakter dieser Privatarbeiten aufzuzeigen (oder nicht), und die Produzenten selbst treten nur über den Austausch ihrer Produkte untereinander in Kontakt. »Den letzteren erscheinen daher die gesellschaftlichen Beziehungen ihrer Privatarbeiten als das, was sie sind, d.h. nicht als unmittelbar gesellschaftliche Verhältnisse der Personen in ihren Arbeiten selbst, sondern vielmehr als sachliche Verhältnisse der Personen und gesellschaftliche Verhältnisse der Sachen.« (Ebd.: 87; Hervorhebungen A.A.)

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Marx etabliert eine Analogie zur »Nebelregion der religiösen Welt […]. Hier scheinen die Produkte des menschlichen Kopfes mit eignem Leben begabte, untereinander und mit den Menschen in Verhältnis stehende selbständige Gestalten. So in der Warenwelt die Produkte der menschlichen Hand.« (Ebd.: 86) Es lässt sich gut erkennen, dass es sich um eine simple Analogie handelt: Die Form der Objektivität der Produkte ist nicht dieselbe. Im Übrigen unterscheidet Marx deutlich einerseits den Warenfetischismus und andererseits die Art von Religion, welche die Gesellschaft, in der dieser Fetischismus herrscht, begleitet. »Für eine Gesellschaft von Warenproduzenten, deren allgemein gesellschaftliches Produktionsverhältnis darin besteht, sich zu ihren Produkten als Waren, also als Werten, zu verhalten und in dieser sachlichen Form ihre Privatarbeiten aufeinander zu beziehn als gleiche menschliche Arbeit, ist das Christentum mit seinem Kultus des abstrakten Menschen, namentlich in seiner bürgerlichen Entwicklung, dem Protestantismus, Deismus usw., die entsprechendste Religionsform.« (Ebd.: 93)

Der Fetischismus selbst ist eine »profane Religion« (also nicht wirklich eine Religion), schreibt Marx im dritten Band des Kapitals, eine Religion, die sich durch eine doppelte Bewegung manifestiert: durch »Personifizierung der Sachen und Versachlichung der Produktionsverhältnisse« (Marx 1983: 838). Wir werden sehen, dass man, um diese zwei Dimensionen darzustellen, den Warenfetischismus ebenso behandeln muss wie den Fetischismus, der aus der kapitalistischen Organisation der Produktion hervorgeht.

D IE W ARE UND DER W ERT ALS SOZIALE F ORMEN »Woher entspringt also der rätselhafte Charakter des Arbeitsprodukts, sobald es Warenform annimmt? Offenbar aus dieser Form selbst«, schreibt Marx im ersten Buch des Kapitals; Waren sind dabei wie folgt zu verstehen: »Durch dies Quidproquo werden die Arbeitsprodukte Waren, sinnlich übersinnliche oder gesellschaftliche Dinge.« (Marx 1968a: 86) Marx spricht vom »sinnlich-übersinnlichen« Charakter der Ware. Er verwendet häufig die Kategorie der (gesellschaftlichen) Form eines Objekts oder seiner formalen Determiniertheit. Der Ausgangspunkt seiner Analyse ist nicht die physische Materialität des Arbeitsprodukts, sondern die Ware als soziale Form, eine Form, die selbst durch eine spezifische Beziehung der Produktion bestimmt ist (Roubine 2009). Dies ist eine entscheidende Frage, wenn man die Marx’schen Waren- und Werttheorien verstehen will, die alle beide gesellschaftliche Formen sind. Und diese Herangehensweise – wir werden es sehen – birgt bereits einen Bruch mit der Theorie des Arbeitswerts der klassischen Ökonomie in sich.

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Für Marx präsentiert sich die Ware in zweifacher Gestalt: als Wert und Gebrauchswert. Als Gebrauchswert hat sie die Eigenheit, eine Notwendigkeit zu erfüllen; das ist es, was die Waren voneinander unterscheidet. Als Wert hat die Ware die Eigenschaft, in determinierten Verhältnissen (Tauschwert) mit anderen Waren ausgetauscht zu werden; dies macht die Einheitlichkeit der Waren aus. Diesem zweifachen Charakter entspricht ein zweifacher Charakter der Arbeit, die die Waren produziert. Die konkrete Arbeit ist die Arbeit als technische Aktivität, die ein nützliches Objekt (Gebrauchswert) hervorbringt; von Natur aus heterogen unterscheiden sich die konkreten Arbeiten qualitativ voneinander. Die abstrakte Arbeit ist jene, die die Ware als Wert betrachtet hervorbringt. Dies bezeichnet den gesellschaftlichen Charakter der Arbeit in der Warenproduktion; es ist eine gemeinsame Qualität, eine homogene Qualität jeder Arbeit (unabhängig von ihrer konkreten Form), die ihren Austausch erlaubt. Mit dieser abstrakten Kategorie der Arbeit führt Marx eine Neuerung in Bezug auf die klassische Ökonomie ein – und er sagt dies deutlich. Dennoch wurde diese häufig von der marxistischen Tradition »vergessen«; außerdem gab sie Anlass zu divergierenden Interpretationen in Zusammenhang mit Formulierungen von Marx, die selbst missverständlich waren. Sei es, dass man annimmt, die abstrakte Arbeit sei ein simpler physiologischer Aufwand der Arbeitskraft, dann riskiert man den Vorwurf des »Naturalismus« (Castoriadis 1978). Sei es, man denkt, die Kategorie sei rein ideell (eine simple mentale Abstraktion), dann kann man schwer verstehen, wie die abstrakte Arbeit den Wert produzieren kann, der selbst absolut eine objektive soziale Form ist. Hier findet sich eine Schwierigkeit wieder, die an die besondere Herangehensweise von Marx an die gesellschaftliche Objektivität gebunden ist und an seine Analyse der Ware als »gesellschaftliches Ding«, als »sinnlich-übersinnliches« Ding. Die Homogenität der abstrakten Arbeit kommt nicht aus der Natur, sondern aus der Gesellschaft, exakter: aus einer historisch gegebenen Gesellschaft. Es ist eine soziohistorische Form der Warenproduktion, in der »der spezifisch gesellschaftliche Charakter der voneinander unabhängigen Privatarbeiten in ihrer Gleichheit als menschliche Arbeit besteht und die Form des Wertcharakters der Arbeitsprodukte annimmt« (Marx 1968a: 88). Unter gesellschaftlicher Arbeit versteht Marx die Arbeit insofern, als sie gesellschaftliche Beziehungen reproduziert. Wir haben gesehen, dass in der kapitalistischen Gesellschaft die Produktion von privaten Produzenten realisiert wird (die voneinander unabhängig sind) und dass sie erst über den Warenaustausch zur gesellschaftlichen Arbeit wird. Indem man die Arbeitsprodukte abgleicht, erlaubt dieser Austausch festzulegen, dass die unterschiedlichen Arbeiten, die sie produziert haben, gleich sind. Der Wert ist also die spezifische Form, unter der die gesellschaftliche Arbeit im Kapitalismus bestimmt wird, und die abstrakte Arbeit, die Substanz des Werts, kristallisiert sich über den Austausch als gesellschaftliche Form.

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Zu Beginn des ersten Buches (erstes Kapitel) des Kapitals verwendet Marx bei der Analyse der »Wertform«, Formulierungen, die den Gegenstand seiner Analyse (der Wert als Form) und den Platz, der von den Tauschprozessen bei der Determinierung der abstrakten Arbeit eingenommen wird, gut illustrieren: »Man mag daher eine einzelne Ware drehen und wenden, wie man will, sie bleibt unfaßbar als Wertding. Erinnern wir uns jedoch, daß die Waren nur Wertgegenständlichkeit besitzen, sofern sie Ausdrücke derselben gesellschaftlichen Einheit, menschlicher Arbeit, sind, daß ihre Wertgegenständlichkeit also rein gesellschaftlich ist, so versteht sich auch von selbst, daß sie nur im gesellschaftlichen Verhältnis von Ware zu Ware erscheinen kann.« (Ebd.: 62)

D ER A RBEITSWERT ALS FE TISCHISIERTE K ATEGORIE Die ganze Problematik der klassischen Ökonomen (Smith, Ricardo) wird vom Fetischismus durchdrungen; wenn aus den gesellschaftlichen Charakteristiken der Dinge natürliche Gegebenheiten gemacht werden, wird eine historische Form der gesellschaftlichen Beziehungen naturalisiert. Man muss die Kategorie des Arbeitswerts befragen, die von diesen Autoren ausgearbeitet wurde, eine Theorie, der zufolge die Arbeit Reichtum hervorbringt und der Wert der Ware von der Quantität an Arbeit abhängt, die notwendig ist, um sie zu produzieren. In den Manuskripten von 1844 unterstreicht Marx – wir haben es gesehen – die Bedeutung dieser Entdeckung. Doch er kennt jene Theorien, die er aus einem humanistischen Blickwinkel kritisiert, noch wenig. Später, anlässlich seiner Polemiken mit Proudhon, verteidigt er die Theorie von Ricardo und engagiert sich dann in seiner eigenen Konzeptualisierung, die in Das Kapital münden wird. Man situiert Marx häufig in der direkten Rezeptionslinie der Werttheorie der Arbeit von Ricardo, von der er sich begnügt haben soll, die Wissenschaftlichkeit zu verbessern, namentlich durch die Einführung der Theorie der Ausbeutung. In jeder Ware findet sich also menschliche Arbeit und der Wert einer Ware ist folglich umso größer, je wichtiger die Zeit wird. Dennoch erklärt die Herangehensweise nicht die Frage, warum die Arbeit und die Arbeitszeit nicht direkt erscheinen, sondern es nötig haben, sich in der Form des Werts zu repräsentieren. Anders formuliert: Warum existiert der Wert als Form? Marx weist häufig darauf hin, dass sich die klassische politische Ökonomie an die simple Bemessung der Größe des Werts3 und an die Kom3 | Das will nicht heißen, dass die Bemessung des Werts keine Bedeutung hat. Es gab unter den Marxisten Debatten über diese Angelegenheit. Ich gebe hier die Herangehensweise von Pierre Salama und Tran Hai Hac wieder: »Puisque dans les rapports capitalistes de production, les travaux n’acquièrent leur détermina-

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mensurabilität der Waren halte. Es ist wahr, dass für diese der Wert eine natürliche Gegebenheit der Arbeitsprodukte ist, denn die Arbeit produziert von Natur aus Wert. Für Marx ist dies nun nicht der Fall, denn der Wert hat mit der Arbeit an und für sich nichts zu tun, sondern mit den Beziehungen der Produktion. Unter diesem Gesichtspunkt ist die Kategorie des Arbeitswerts eine fetischisierte Kategorie im Marx’schen Sinne: Man nimmt das als naturgegebenen Charakter der Dinge an, was Ausdruck der sozio-historischen Beziehungen ist (Salama/Hac 1992). In diesem Sinne ist die Ware nicht das Produkt der Arbeit, sondern die Form des Arbeitsprodukts und die Marx’sche Theorie ist nicht eine Theorie des Arbeitswerts, sondern eine Theorie der Wertform und, allgemeiner »une théorie de la forme valeur des acteurs et des relations sociales« (eine Theorie der Wertform der Akteure und der sozialen Beziehungen) (Vincent 1987: 108). Die Theorie des Arbeitswerts als fetischisierte Kategorie äußert sich bei Ricardo ebenfalls durch eine Überbewertung der Arbeit, nachdem diese für ihn die Grundlage jeden Reichtums ist. Nun wird Marx nicht müde, zu wiederholen, dass auch die Natur Produzentin von Reichtum ist (des Gebrauchswerts). Die im Entstehen begriffene Arbeiterbewegung wird sehr durch diese Valorisierung geprägt sein. Deshalb kritisiert Marx die deutsche Arbeiterpartei nachdrücklich, die in ihrem programmatischen Projekt von Gotha (1874) erklärt: »Die Arbeit ist die Quelle alles Reichtums und aller Kultur.« (Marx 41973: 15)

»P ERSONIFIZIERUNG « DER P RODUK TIONSKR ÄF TE Je weiter man sich von der Produktion entfernt, umso mehr scheint der Fetischismus der Wertform jede Relation zur gesellschaftlichen Basis (der Produktion) zu verlieren. Daher präsentiert Marx in Buch III des Kapitals den »Fetischismus des zinstragenden Kapitals« als »reinste« Form des Fetischismus:

tion sociale sous la forme de travail abstrait, cela par l’égalisation des produits du travail avec l’équivalent général, la valeur s’exprime et se mesure non pas en travail, mais en monnaie. Cela revient à dire que la valeur ne peut être saisie que sous sa forme prix et qu’il n’y a donc pas de mesure de la valeur autre que par sa forme.« (Nachdem in den kapitalistischen Beziehungen der Produktion die Arbeiten ihre gesellschaftliche Determinierung nicht unter der Form der abstrakten Arbeit annehmen, und zwar aufgrund der Abgleichung der Arbeitsprodukte mit dem generellen Äquivalent, drücken sich der Wert und seine Bemessung nicht in Arbeit, sondern in Geld aus. Dies bedeutet, dass der Wert nur in seiner Form als Preis erfasst werden kann, und dass somit die Bemessung des Werts lediglich über seine Form erfolgen kann.) (Salama/Hac 1992: 15)

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A NTOINE A RTOUS »Im zinstragenden Kapital ist daher dieser automatische Fetisch rein herausgearbeitet, der sich selbst verwertende Wert, Geld heckendes Geld, und trägt es in dieser Form keine Narben seiner Entstehung mehr. Das gesellschaftliche Verhältnis ist vollendet als Verhältnis eines Dings, des Geldes, zu sich selbst.« (Marx 1983: 405)

Dennoch ist die Nähe zur Produktion kein Quell für mehr Transparenz. Im Gegenteil, Marx spricht von einem Fetischismus, der der kapitalistischen Organisation der Produktivkräfte eigen ist. Diese Passagen sind weniger bekannt als jene über den Warenfetischismus. Außerdem eckt man hier an eine bestimmte marxistische Tradition (zumindest einer Zeit vor den 1968er Jahren) an, für die die Trennung der Arbeiter von den Mitteln der Produktion eine wesentliche juristische Dimension aufweist. Dabei hat diese Trennung auch eine »technische« Dimension: den Verlust der Kontrolle seitens der Arbeiter über die Organisation der Produktion, die sich im Kapital kristallisiert. Marx unterscheidet zwei Formen der Beherrschung der Arbeit durch das Kapital. In der formalen Subsumierung der Arbeit durch das Kapital organisiert sich die Produktion noch auf der Basis der alten Formen der Produktion; die Beherrschung drückt sich dann entscheidend im Lohn als monetäre Beziehung aus. Doch in der realen Subsumierung entwickelt das Kapital seine eigenen Organisationsformen der Produktion und der Dominierung der Arbeit. Die Kapitalisten sind nicht nur einfach die privaten Eigentümer, der Prozess der Produktion ist durch das Kapital strukturiert, er inkarniert sich in ihm. Dies äußert sich durch einen Produktionsfetischismus, der an jenen der Ware anknüpft, ohne sich jedoch in denselben Mechanismen zu kristallisieren, nachdem er sich durch eine »Personifizierung« der Dinge äußert. Marx kommt darauf mehrfach zurück, vor allem im sogenannten 6. (unveröffentlichten) Kapitel aus dem Kapital. »Da die lebendige Arbeit – innerhalb des Productionsprocesses – dem Capital bereits einverleibt ist, stellen sich alle gesellschaftlichen Productivkräfte der Arbeit als Productivkräfte, als dem Capital inhärente Eigenschaften dar, ganz wie im Geld der allgemeine Charakter der Arbeit, so weit sie werthbildend, als Eigenschaft eines Dings erschien.« (Marx 1988: 119) »So wird das Capital ein sehr mysteriöses Wesen. […] Das Capital ist also productiv.« (Ebd.: 123)

Während die Produktionsmittel simple technische Werkzeuge sind, so »subjektivieren« sie sich, indem sie Kapital werden. »Selbst das blos formelle Verhältniß betrachtet, die allgemeine Form der capitalistischen Production, die ihre minder mit ihrer mehr entwickelten Weise theilt,

M ARX UND DER F ETISCHISMUS erscheinen die Productionsmittel, die sachlichen Arbeitsbedingungen, nicht als dem Arbeiter, sondern er ihnen subsumirt. Capital employs labor. Schon dieß Verhältniß in seiner Einfachheit Personnificirung der Sachen und Versachlichung der Personen.« (Ebd.: 121)

Es ist also nicht verwunderlich, dass Marx eine Parallele zum Warenfetischismus zieht. In den Theorien über den Mehrwert beschreibt Marx einen analogen Prozess und fügt hinzu: »Es ist hier wieder die Verkehrung des Verhältnisses, als deren Ausdruck wir schon bei der Betrachtung des Geldwesens den Fetischismus bezeichnet haben.« (Marx 41974: 365) Doch diese Umkehrung ist ganz und gar nicht dieselbe, nachdem man Zeuge einer »Personifizierung der Sache und einer Versachlichung der Person« wird (ebd.: 366). In der Tat, auch wenn der Geldfetischismus eine soziale Beziehung verdinglicht (naturalisiert), so verdinglicht er im engeren Sinne nicht die Personen (das Individuum wird als unabhängiges Subjekt verstanden) in der Art und Weise, wie der Maschinenbetrieb den Produzenten verdinglicht, der als reiner Fortsatz der Maschine gedacht wird. Das Produktionsmittel scheint in sich selbst die Kapazität zu besitzen, Wert zu produzieren; gleichermaßen scheint das Geld in sich die Eigenschaft zu besitzen, Wert zu sein. Geld und Maschine konstituieren die beiden Aspekte des Fetischismus, je nachdem ob sich der Fetischismus im Prozess der Zirkulation oder der Produktion präsentiert.4

O BJEK TFORM UND S UBJEK TFORM Marx versteht es, anhand der Problematik des Fetischismus die spezifische Objektivität des Gesellschaftlichen, das durch die kapitalistischen Produktionsbeziehungen geschaffen wird, aufzuzeigen. Dabei muss berücksichtigt werden, dass die Formen der gesellschaftlichen Repräsentationen integraler Bestandteil dieser Objektivität sind. So schreibt Marx in den Passagen des ersten Buches des Kapitals über den Fetischismus: »Derartige Formen bilden eben die Kategorien der bürgerlichen Ökonomie. Es sind gesellschaftlich gültige, also objektive Gedankenformen für die Produktionsverhältnisse dieser historisch bestimmten gesellschaftlichen Produktionsweise, der Warenproduktion.« (Marx 1968a: 90)

Wenn er diese Formen der Objektivierung behandelt, so verweist Marx nicht wie in den Manuskripten aus dem Jahre 1844 auf ein konstituieren4 | Mit Relire »Le Capital« ist Tran Hai Hac einer der wenigen Autoren, der systematisch untersucht hat, was er wie folgt benennt: »[l]e fétichisme des forces productives subsumées par le capital« (den Fetischismus der vom Kapital subsumierten Produktionskräfte) (Hac 2003 Bd. 1: 281).

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des Subjekt, womit die klassische Figur des Subjekts (Philosophie des Bewusstseins) gemeint ist, die eine der Grundlagen der Entfremdungsproblematik des jungen Marx bildet. Er verweist hier hingegen auf gesellschaftliche Beziehungen der Produktion, die als Komplex von Aktivität funktionieren. Wie Etienne Balibar5 schreibt: »[C’]est ce non sujet ou ce complexe d’activité qui produit des représentations sociales d’objets en même temps qu’il produit des objets représentables.« (Es ist dieses Nichtsubjekt oder dieser Komplex von Aktivität, der gesellschaftliche Repräsentationen der Objekte zur selben Zeit produziert, wie er repräsentierbare Objekte produziert.) (Balibar 1993: 66)

Mehr noch: Marx nimmt nicht nur kein konstituierendes Subjekt als Ausgangspunkt; der Fetischismus artikuliert sich vielmehr in historischen Formen der Konstituierung der Subjektivität.6 »Le renversement de Marx est donc complet: sa constitution du monde n’est pas l’œuvre d’un sujet, elle est une genèse de la subjectivité (une forme de subjectivité historique) comme partie (et contrepartie) du monde social de l’objectivité.« (Die Umkehrung von Marx ist somit eine totale: Seine Konstitution der Welt ist nicht das Werk eines Subjekts, es ist eine Genese der Subjektivität [eine Form der historischen Subjektivität] als Teil [und Gegenstück] der sozialen Welt der Objektivität.) (Ebd.)

Marx’ Ausführungen über den Fetischismus beschließen das erste Kapitel im ersten Buch des Kapitals mit dem Titel Die Ware. Kapitel zwei, Der Austauschprozeß, beginnt mit folgenden Sätzen: »Die Waren können nicht selbst zu Markte gehn und sich nicht selbst austauschen. Wir müssen uns also nach ihren Hütern umsehn, den Warenbesitzern.« (Marx 1968a: 99) Letztere nehmen untereinander Kontakt über den Austausch auf, es sind also die Charakteristiken dieses Prozesses, die die Art der gesellschaftlichen Bindung bestimmen:

5 | Im Gegensatz zu seinen vorhergehenden Texten, die nicht den Warenfetischismus behandelten (oder daraus nur eine simple Folge [poursuite] der Entfremdung machten), zeichnet Etienne Balibar in La philosophie de Marx die Problematik des Fetischismus in ihrer ganzen Tragweite nach (Balibar 1993: 55-70). 6 | Wie Moishe Postone in einer anderen Logik schreibt: »La critique de Marx n’implique donc pas une théorie de la connaissance au sens propre, mais, bien plutôt, une théorie de la constitution de formes sociales historiquement spécifique qui sont des formes d’objectivité et de subjectivité sociales.« (Marx’ Kritik impliziert also nicht eine Erkenntnistheorie im eigentlichen Sinne, sondern vielmehr eine Theorie der Konstituierung der historisch spezifischen sozialen Formen, die Formen der sozialen Objektivität und Subjektivität sind.) (Postone 2009: 323)

M ARX UND DER F ETISCHISMUS »Um diese Dinge als Waren aufeinander zu beziehn, müssen die Warenhüter sich zueinander als Personen verhalten, deren Willen in jenen Dingen haust, so daß der eine nur mit dem Willen des andren, also jeder nur vermittelst eines, beiden gemeinsamen Willensakts sich die fremde Ware aneignet, indem er die eigne veräußert. Sie müssen sich daher wechselseitig als Privateigentümer anerkennen. Dies Rechtsverhältnis, dessen Form der Vertrag ist, ob nun legal entwickelt oder nicht, ist ein Willensverhältnis, worin sich das ökonomische Verhältnis widerspiegelt. Der Inhalt dieses Rechts- oder Willensverhältnisses ist durch das ökonomische Verhältnis selbst gegeben. Die Personen existieren hier nur füreinander als Repräsentanten von Ware und daher als Warenbesitzer.« (Ebd.: 99f.)

Die Objektivität der Ware setzt somit den Subjektivismus der Austauschenden (échangiste) voraus (Vincent 1987). Im gleichen Maße wie sie eine Form der Objektivität definiert, bestimmt die Wertform eine Form der Individualität; mit der Objektform korrespondiert eine Subjektform (Hac 2003). In diesem Fall jene des Individuums als Austauschender (échangiste) mit zwei großen Charakteristiken. Wie das ganze Kapitel Der Austauschprozeß zeigt, ist der Ausdruck (énoncé) der modernen juristischen Form (der die Freiheit und Gleichheit der warenbesitzenden Individuen beschreibt) für Marx direkt mit dem Ausdruck der Wertform verbunden. Daher hat der sowjetische Jurist Pasukanis in den 1920er Jahren versucht, eine marxistische Theorie der modernen juristischen Form sowie eine Theorie des Fetischismus zu entwickeln, welche das Pendant zum Warenfetischismus sein sollte (Pasukanis 1970). Allgemeiner ausgedrückt kristallisiert sich eine Warenform der Individualität oder ein Individualismus mit Warencharakter heraus; dies bedeutet: eine Figur sozialer Beziehungen, für welche sich die »gemeinschaftliche« Bindung zwischen Subjekten etabliert, die allein durch monetäre und juristische Beziehungen unabhängig sind. Das Geld und das Recht werden das Maß aller Dinge. Um es richtig zu verstehen – und zugleich auszusprechen: Der moderne Individualismus reduziert sich nicht auf diese Figur. Genauer gesagt wies der Einrichtungsprozess dieses Individualismus von Anfang an widersprüchliche Dimensionen auf. Man kennt namentlich die Wirkungen der Verkündung (énoncé) der Freiheit, der Gleichheit und, allgemeiner, der Bürgerlichkeit, die Formen der Ausbeutung mit eingeschlossen. Das heißt, wir behandeln hier nicht die kontradiktorische Dynamik des Systems, sondern eine generelle Form der Individuation, die es in wiederkehrender Weise strukturiert (und restrukturiert).

D IE K RITIK DER POLITISCHEN Ö KONOMIE Die Formulierung »Kritik der Ökonomie« ist wiederkehrend. Bereits die Manuskripte aus dem Jahre 1844 erscheinen wie die ersten Skizzen eines

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derartigen Projekts; 1859 publiziert Marx Zur Kritik der politischen Ökonomie und der Untertitel des Kapitals lautet, wie gesagt, Kritik der politischen Ökonomie. Diese Kontinuität, die man auch in anderen Manuskripten und zahlreichen Briefen wiederfindet, drückt ohne den geringsten Zweifel die intellektuelle Beziehung aus, die Marx zu seinem wissenschaftlichen Objekt unterhielt. Nach der Kritik der spekulativen Philosophie und der politischen Entfremdung, die an den Aufstieg an die Macht der zivilen bürgerlichen Gesellschaft gebunden war, nimmt sich Marx vor, die Beziehungen der kapitalistischen Produktion zu analysieren, um seiner Kritik einen materialistischen Inhalt zu geben. Nichtsdestotrotz, auch wenn Marx Ausdrücke verwendet, die in diese Richtung gehen, so funktioniert Das Kapital nicht wie ein Werk, das sich damit begnügt, das Bemühen um Wissenschaftlichkeit der klassischen politischen Ökonomie zu verfolgen und schließlich eine Wissenschaft der Ökonomie hervorzubringen, die die klassische Ökonomie ersetzen sollte. Es geht vielmehr darum, die Voraussetzungen der klassischen Ökonomie in Frage zu stellen, die ökonomische Kategorien (Ware, Wert, Austausch, Kapital, Lohn usw.) wie natürliche Gegebenheiten behandelt. Das bedeutet nicht, dass Marx keine wissenschaftlichen Ambitionen hatte, d.h. Ambitionen hinsichtlich einer Produktion von Kenntnissen über das Funktionieren der bürgerlichen Gesellschaft. Doch anstatt dass er diese Kenntnisse als selbstverständliche Kategorien betrachtet, bereiten sie ihm vielmehr Probleme; und durch diese kritische Arbeit produziert er seine eigene Konzeptualisierung. Hierin besteht ein wichtiger Unterschied zu den Manuskripten aus dem Jahre 1844, wo sich der junge Marx damit begnügt, in gewisser Weise die moderne Ökonomie von außen zu kritisieren, von einem schlichten »humanistischen« Gesichtspunkt aus. In Das Kapital produziert Marx seine eigene Theorie der Wertform; und dies ist ein konstitutives Element der Kritik. Wir haben bereits die essentialistische Problematik dieser Manuskripte unterstrichen. Es geht hier nicht darum, die Elemente der Kontinuität und der Diskontinuität zwischen diesen beiden Texten zu diskutieren (umso mehr, als diese Debatten äußerst vielfältig waren). Im Gegenteil, man muss sich absolut darüber im Klaren sein, dass in der künftigen marxistischen Orthodoxie das Profil der neoricardianischen Lektüre das bei Weitem dominierende Profil sein wird; zahlreiche nichtstalinistische Autoren mit einbegriffen. In den 1960er Jahren tauchte plötzlich das Bedürfnis auf, die kritische Dimension des Marxismus zu reaktivieren und viele wandten sich der Entfremdungstheorie aus den Manuskripten aus dem Jahre 1844 zu. Nun entfaltete sich in Das Kapital die Kritik von einem anderen Terrain ausgehend, das nicht die Existenz eines konstituierenden Subjekts voraussetzt7: die Untersuchung der Ware als soziale Form. Gewiss existiert 7 | Im ersten Buch des Kapitals unterstreicht Marx die Spezifizität der Intransparenz des Fetischismus, indem er diesen mit anderen sozialen Formen vergleicht; namentlich mit einer Gesellschaft assoziierter Produzenten, die in ihrem Funk-

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ein spezifisches Niveau der ökonomischen Diskussionen und Analysen, doch vom Standpunkt der generellen Herangehensweise aus betrachtet, verweist die Kategorie der sozialen Form auf die Ökonomie und auf das Soziale. Schließlich ist es gerade diese Problematik des Werts als soziale Form, die ihrerseits den zentralen Platz des Fetischismus prägt. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet ist die Kritik der politischen Ökonomie zugleich eine Kritik der Bewegung der sozialen Formen, die durch den Prozess der Valorisierung hervorgerufen wurde, und eine Kritik gewisser intellektueller Kategorien, die auf soziale Weise objektiviert wurden. Aus dem Französischen übersetzt von Christina Antenhofer. Titel des französischen Originals: Marx et le fétichisme. De la critique de la religion à la critique de l’économie politique

Q UELLEN Die Marx-Zitate der französischen Originalfassung des Textes folgten der Edition: Karl Marx. Œuvres. Bibliothèque de la Pléiade. Pas. Édition établie par Maximilien Rubel. Tome 1 (1963); Tome 2 (1968). Die deutsche Fassung folgt (aufgrund der leichteren Ortung der Zitate) der in Teilen vorhandenen online Marx-Engels-Werke-Ausgabe (http:// www.mlwerke.de/me), auf die sich auch die bibliographischen Angaben zur gedruckten Ausgabe beziehen. Marx, Karl. Das Kapital. Bd. I. Bd. 23 von Marx-Engels-Werke. Berlin: (Karl) Dietz Verlag, 1968a. Marx, Karl. Ökonomisch-philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844. Ergänzungsband, 1. Teil von Marx-Engels-Werke. Berlin: (Karl) Dietz Verlag, 1968b. S. 465-588. Marx, Karl. Zur Kritik der politischen Ökonomie. Bd. 13 von Marx-EngelsWerke. Unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1961. Berlin: (Karl) Dietz Verlag, 71971. S. 3-160. Marx, Karl. Manifest der kommunistischen Partei. Bd. 4 von Marx-EngelsWerke. Unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1959. Berlin: (Karl) Dietz Verlag, 61972. S. 459-493. Marx, Karl. Kritik des Gothaer Programms. Bd. 19 von Marx-Engels-Werke. Unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1962. Berlin: (Karl) Dietz Verlag, 41973. S. 13-32. tionieren absolut transparent erscheint. Der Rückgriff auf das, was man zu Recht eine Utopie nennen muss, um über den Fetischismus zu argumentieren, bringt natürlich Probleme mit sich und erhellt gewisse Mehrdeutigkeiten von Marx; nichtsdestotrotz glauben wir nicht, dass dies die heuristische Dimension der Theorie der Wertform und des Fetischismus entwertet.

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A NTOINE A RTOUS

Marx, Karl. Theorien über den Mehrwert. Bd. 26.1. von Marx-Engels-Werke. Unveränderter Nachdruck der 1. Auflage 1965. Berlin: (Karl) Dietz Verlag, 41974. Marx, Karl. Debatten über das Holzdiebstahlsgesetz. Bd. 1 von Marx-EngelsWerke. Berlin: (Karl) Dietz Verlag, 1976. S. 109-147. Marx, Karl. Das Kapital. Bd. III. Bd. 25 von Marx-Engels-Werke. Berlin: (Karl) Dietz Verlag, 1983. Marx, Karl. Ökonomische Manuskripte 1863-1867. Text Teil 1. Zweite Abteilung »Das Kapital« und Vorarbeiten. Bd. 4 von Karl Marx Friedrich Engels Gesamtausgabe (MEGA). Berlin: (Karl) Dietz Verlag, 1988.

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Der Fetisch als Irritationsmarker: Frühe Diskussionen und der Beginn einer langen Debatte

Die Frage der fetischistischen Bilderverehrung im Urchristentum Eine theologisch-politische Auseinandersetzung und ihre historische Stellung Barnaba Maj

»And suddenly the meaning which, for no reason at all, as perhaps they are stepping out of the Tube or ringing a doorbell, descends on people, making them symbolical, making them representative, came upon them, and made them in the dusk standing, looking, the symbols of marriage, husband and wife. Then, after an instant, the symbolical outline which transcended the real figures sank down again and they became, as they met them, Mr und Mrs Ramsey watching the children throwing catches.« Virginia Woolf, To the Lighthouse. Oxford: Oxford U.P., 2008 »The Window«: 60f.

1 THE L AST TEMP TATION OF C HRIST Die Frage, die ich am Anfang stelle, mag seltsam klingen: Warum hat die katholische Kirche den Film Martin Scorseses The Last Temptation of Christ aus dem Jahr 1988, basierend auf dem griechischen Roman Nikos Kazantzakis’ von 1951 (Drehbuch Paul Schrader)1, scharf kritisiert und den Film Mel Gibsons The Passion of the Christ aus dem Jahr 2004 (Drehbuch Benedict Fitzgerald) enthusiastisch anerkannt? In allen Ländern wurde dieser Film für Minderjährige verboten – in allen außer Italien: Hier galt »Eintritt frei«. Ich wage es, eine entschiedene Antwort zu geben: weil Gibsons Film das Leiden und den Tod Christi in fetischistischer Weise bild1 | Kazantzakis (1951), englische Übersetzung von Bien (1960); deutsche Übertragung von Krebs (1989); Schrader (2002). Zur allgemeinen Frage siehe Hesse (2006); Harst (2007); Böhme (2006).

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lich erzählt und darstellt. Nicht ohne Ironie könnte man hinzufügen: Der Instinkt irrt sich nicht. Meine Absicht ist hier aber, zu beweisen, dass es sich um einen historischen Instinkt handelt, der auf die ursprüngliche Einführung der Bilderverehrung im Urchristentum zurückgeht. Im Jahr 2007 wurde im Hamburger Bahnhof-Museum für Gegenwart in Berlin in Zusammenarbeit mit dem medizinhistorischen Museum der Charité Berlin die interdisziplinäre Ausstellung Schmerz. Pain veranstaltet. Das Plakat war mit einem Bild Francis Bacons illustriert, eines Malers, der von der gegenwärtigen Kritik nahe am ungeheuren Caravaggio eingeordnet wird. Die Ausstellung wies eine Galerie von Bildern und medizinischen Apparaten auf, die in allen Weisen und Formen mit dem menschlichen Schmerz zu tun hatten und haben. Noch einmal setzt sich die alte, allgemeine Betrachtung durch: Kann man sich die »Vermenschlichung des Menschen« ohne Schmerz, Opfer, Gewalt und Grausamkeit vorstellen? Noch am Höhepunkt der sogenannten Romanrevolution der Moderne (Le temps retrouvé), dem letzten, poetologischen Band seines Meisterwerkes, spricht Marcel Proust über den Schmerz als die Wurzel der tiefsten Spuren des menschlichen Gedächtnisses und seiner metaphorischen Übertragung in die poetische Schrift. Hatte nicht Aischylos am Anfang des 5. Jahrhunderts v. Chr. schon eine ähnliche Verbindung mit anderen Worten ausgedrückt? Im die menschliche Glückseligkeit betreffenden Dialog Philebos hatte die platonische Metaphysik festgestellt, dass diese in einem gewissen Gleichgewicht der Seele gegenüber dem Schmerz besteht, d.h. dass der Schmerz einen körperlichen (somatischen), psychischen und metaphysischen Vorrang besitzt. Wie Proust an anderer Stelle bewiesen hat, ist der Hauptaspekt der Schmerzensdarstellung eng mit der Frage nach dem »Wesen des Sadismus« verbunden – einer Frage, die das Andere unter dem Neigungswinkel des »Regarding the Pain of Others« (Susan Sontag) anspricht. Entgegen der traditionellen, psychopathologischen Ausdeutung des Sadismus als Wohlgefallen am Schmerz der Anderen hat Proust die These vorgeschlagen, dass der Sadismus letztlich in der »Gleichgültigkeit des Herzens« bestehe. Dies nähert sich einer Art mystischem Oxymoron an, weil das Wesen des Sadismus mit dem unmöglichen Versuch, die Sünde ohne Gott zu denken und zu treiben, identifiziert wird, den Sade selbst unternommen hatte. Diese Frage ist mit der Frage nach dem absoluten Bösen verbunden, d.h. mit der größten Verdrängung der abendländischen Philosophie, die mittels einer strengen Demarkationslinie ihres Gebiets und dem Beiseitestellen einer Reihe, das menschliche Leben betreffender Grundprobleme ihren eigenen Diskurs eingegrenzt hat. Wie aber in diesem Zusammenhang die Kunst selbst ihr Objekt falsch platzieren kann, beweist Pier Paolo Pasolinis Film aus dem Jahr 1975 Salò o le 120 giornate di Sodoma (Salò oder die 120 Tage von Sodom), in dem am Anfang ein Straßenschild der Apenninenortschaft Marzabotto zu sehen ist, in der die SS im Winter 1944 einen Massenmord an der Zivilbevölkerung begangen hatte. Seit Aristoteles, Dante, Vico, Proust, Snell und Blumenberg wissen wir,

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dass Metaphern sprachliche Bilder voraussetzen, mit denen sie wirken, und dass sie eine geistige Übertragung leisten, die Dante als »assumptio metaphorismorum« (»Anwendung metaphorischer Gedankengänge«) und Blumenberg als »Metaphorologie« literarisch bzw. philosophisch bezeichneten.2 Die gleiche Zweideutigkeit aber berührt auch die Bilder an sich sowie die heiligen Bilder im Speziellen. In seinem Film hat Pasolini den »Träger der Metapher« vertauscht, indem er unter dem Etikett Marzabotto − das einen real zur Topographie des Horrors gehörenden Ort und zugleich ein historisches Symbol darstellt − langweilig und traurig die düsteren, sexuellen Riten eines glatten Sadismus verderbter, alter Menschen erzählt. Einem ähnlichen, aber schlimmeren Irrtum ist Mel Gibson verfallen, indem er das Leiden und den Tod Christi drastisch auf das Blutopfer reduzierte. Über die antisemitischen oder antijüdischen Züge dieses Films ist es besser zu schweigen. Es sei nur so viel gesagt, dass man der theologischen Filmkunst des dänischen, Kierkegaard’schen Meisters Carl Theodor Dreyer und seinem Jesu. Ein Filmbericht leider allzu fernblieb. Es ist, als hätte René Girard völlig umsonst über die Gewalt und die anthropologisch-soziale Bedeutung des Opfers geschrieben und als hätte sich ebenso die Unterscheidung zwischen der Geschichte Jesu und ihrer christologischen Ausdeutung – eine Frage, die die Evangelien selbst betrifft – in Nichts aufgelöst. Im Gegensatz dazu ist die den Film Scorseses prägende Stimmung unverkennbar die Angst – die Angst eines Menschen, der zwischen seiner messianischen Mission und seinem immanenten In-der-Welt-Sein schwankt. Der narrativen Theorie folgend kann man sagen, dass dieser Film eine figurale Verschiebung leistet, indem er eine andere Singularisierung bewirkt, die die Beziehung Jesus-Judas absolut in den Vordergrund stellt und ihre Natur selbst verwandelt (Marucci 2007: 244-254). Jesus hat vor der Kreuzigung Angst. Das aber widerspricht dem Markusevangelium nicht, das absichtlich auf die triumphale Christologie verzichtet, um in seiner narrativen Gestaltung eine Christologie des leidenden Menschensohnes anzunehmen. Ans Kreuz geschlagen träumt Jesus von einem einfachen Leben, von Frau und Kindern. Das ist aber nur die Oberfläche. Was hat Jesus zu diesem Traum veranlasst? Er befindet sich an der Schwelle des Lebens, vor dem Tod, und seine Einbildungskraft geht durch die Gedächtnisbilder seines Lebens hindurch – Landschaften, Gesichter, menschliche Situationen – in einem Wort: die Tagesfarben. Und er entdeckt so die irdische Schönheit der Welt, die zugleich aber auch die Schönheit der Gottesschöpfung darstellt. Und das ist das Gegenteil einer fetischistischen Haltung, wenn wir den Fetischismus als den Kult numinoser Objekte bezeichnen.3 2 | Die Hauptquelle hierzu ist der Brief an Can Grande della Scala in: Alighieri (1930); Blumenberg (2007 [1960]). 3 | Diese Bezeichnung, die unverkennbar aus einer streng theologischen Sichtweise hergeleitet wird, hat andererseits gerade die theologische Literatur am besten vertieft. Aus seinem positivistischen Gesichtskreis her ist Comte be-

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Was wir hier vorfinden, sind keine mimetischen Weltbilder, sondern Bilder der Welt, die in der Seele Jesu die tiefste Sehnsucht nach der Schöpfung und ihrer Schönheit erwecken. Das eröffnet auch ein Stück weit das Abschiedsmotiv, das Goethe als das Grundmotiv aller tragischen Situationen identifiziert hat. Es gibt keinen Raum für irdische Vermittlungen wie Bilderkult, Bilderverehrung usw. Sicher, die letzte Versuchung Christi ist wörtlich eine »satanische«, die letzte nach jenen in der Wüste, die Dostojewski in dem im Roman Brüder Karamasow enthaltenen Stück Die Legende vom Großinquisitor auch behandelt hat. Aber letzten Endes handelt es sich um eine Art Traum, d.h. um etwas, das auf das Unbewusste Jesu hindeutet. Warum hat die katholische Kirche diesen Film abgelehnt und jenen Gibsons gepriesen? In diesem Fall müssen wir auf das Unbewusste der Bilderverehrung zurückgehen. Der »Traum« Jesu im Film Scorseses zeigt die Schönheit der Welt und ihrer Bilder wie auch den Reiz der menschlichen Liebe und Gefühle, am Rande einer Grenzlinie zwischen einem polytheistischen Lob der Welt und einer neuplatonischen, emanationshaften Auffassung der Welt. Aber die dunkle, verborgene und verdrängte Seite der urchristlichen Bilderverehrung und ihres Kults, die nicht ans Licht treten darf, ist eben ihre ursprüngliche Auseinandersetzung mit der polytheistischen Welt der Bilder. Es ist nicht schwierig zu beweisen, dass der Film Gibsons die Stilelemente des sogenannten Splatter missbraucht: Das Leiden Christi ist aber nicht Pulp Fiction oder Kill Bill oder Inglorious Basterds. Es blickt vielmehr auf eine jahrhundertealte ikonographische Überlieferung zurück. Der Widerspruch im Verhalten der katholischen Kirche ist also nur scheinbar, weil es sich im Gegenteil um die Tarnung eines älteren, ursprünglicheren Widerspruchs handelt, der ihren Bilderkult affiziert.

2 D IE Z WEIDEUTIGKEIT DER B ILDER Die Bilder strahlen eine unvergleichbar emotionale (Zauber-)Kraft aus. Unter dieser grundsätzlichen Voraussetzung fügen sie sich ins Gebiet der symbolischen Formen ein, das Ernst Cassirer im Kreis der Warburger Schule so weit und ausführlich erforscht hat (Cassirer 1924-1929). Der Zusammenhang der Bilder mit der emotionalen Kraft des Symbolischen ist grundlegend, wie die Erzählung Nikolai Leskovs Der versiegelte Engel vom Jahr 1874 endgültig bewiesen hat, wo ein heiliges Bild – wie jenes eines Engels, das von sogenannten »Alten Gläubigen« (Raskol’niki) verehrt wird – einen ausschließlich an sich selbst gerichteten Kult auslöst (Leskov 1988). Der moderne, gegenwärtige Kult der Kunstbilder hat die numinose, von Walter Benjamin evozierte Aura vielleicht verloren, diese heilige Erbschaft bleibt aber im Hintergrund noch unverrückt. Auch die kanntlich der Erste gewesen, der diese Frage hinsichtlich der Religion in den philosophischen Rahmen eingeführt hat, während die marxistische Stellungnahme unter der anderen Kategorie Entfremdung steht.

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intimsten unserer Fotografien behalten wir als unantastbar und unverletzlich, sagt Ernst Gombrich. Und das bedeutet nicht, dass wir Fetischisten der Bilder sind (Gombrich 1979). An und für sich berühren die Bilder die innerste, emotionale Sphäre, so wie sie Lebensgefühle hervorrufen und orientieren. Nicht von ungefähr fürchtet sich die platonische Metaphysik vor den Bildern, weil sie das Mimetische abschaffen will, während die Bilder auf die emotionale, irrationale Seite der Seele eben auf mimetische Weise wirken. In der dialektischen, metaphysischen Matrix der Welt, die man auf das logische Schema en-aoriston duas zurückführen kann, stellen die Bilder eine immanente und ständige Drohung der Auflösung und der unendlichen Zerstreuung der Dinge der Welt dar. In gewissem Sinne sind die Bilder ihrem Wesen nach polytheistisch, wie unsere Einbildungskraft selbst: Dies ist die grundsätzliche Bedeutung der berühmten Formel Hölderlins vom »Polytheismus der Bilder und Monotheismus der Vernunft«, in deren Verbindung man die Wahrheit ihrer geschichtlichen Korrelation nicht vergessen kann. Der Polytheismus ist die Religion der Einbildungskraft, die sich durch eine Bilderpluralität ausdrückt, die ihrerseits auf die pluralistische, narrative Welt der Mythen zurückgeht. Genau deshalb spricht die Einleitung in die Philosophie der Mythologie Schellings von einer sogenannten »tautegorischen« Deutung der Mythologie, indem sie diese in den notwendigen Prozess der Selbstbehauptung und des Selbstständigwerdens des menschlichen Selbstbewusstseins einfügt und als eine Stufe der Entstehung der monotheistischen Auffassung betrachtet (Schelling 1990). Nicht zu Unrecht hatte die gegenwärtige protestantische Kritik in dieser Korrelation eine katholische »Pointe« wahrgenommen, wie schon vorher in Kreuzers Ausdeutung der Allegorie. Im geistigen Rahmen der antiken Welt ist der jüdische Rigorismus gegen die Gottesbilder, den zahlreiche Stellen des Alten Testaments bezeugen und den die Evangelien bestätigen4, wie das bekannte Bilderverbot, nur die Folgerichtigkeit eines reinen und bis zur letzten Ursache gedachten Monotheismus. Die Stelle bei Publius Cornelius Tacitus, Historiae V, 9, die die berühmte Episode erzählt, wie Gnaeus Pompeius den Tempel in Jerusalem betritt, spricht davon, dass »nulla intus deum effigie vacuam sedem et inania arcana«5 . Dies ist ein Ausdruck, den man noch mit der – im Briefwechsel der 1930er Jahre mit Walter Benjamin über die theologische Ortsbestimmung Franz Kafkas bei Gershom Scholem vorkommen4 | Das Neue Testament teilt mit der frühjüdischen Tradition (vgl. Apg 7,41 mit Ex 31; Röm 1,23 mit Ps 106,20 und Jer 2,11; 1 Kor 12,2 mit Hab 2,18) die grundsätzlich negative Bewertung von Kultbildern als menschliches Machwerk. Nach 1 Kor 8, 4-6 sind Kultbilder wesenslos und die Heiden halten irrtümlich Dämonen für Götter (vgl. 10, 20f.). In Apg 19,23-40 kommt eine Auseinandersetzung zwischen Paulus und den Devotionalienproduzenten im Umkreis des Artemis-Tempels von Ephesus vor. 5 | »drinnen kein Götterbild stehe, die Stätte leer und der Geheimkult sinn- und zwecklos sei«, in: Publius Cornelius Tacitus (1989: 618 - 619).

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den – Formel vom »Nichts der Offenbarung« vergleichen kann (Scholem 1983). Das schließt Gottesverehrung und innere Gottesvorstellungen nicht aus. Andererseits war das aus der orientalischen Welt stammende Wort ›ƯƮƱƩхƬƦƱƨư (Prosternation/Proskynese) der griechischen Kultur nicht unbekannt, sie lehnte aber dessen rituelle Bedeutung immer als entwürdigend ab. Der ›ƯƮƱƩхƬƦƱƨư entspricht das hebräische Wort hištahawāh. Psalm 95 (Vulgata 94: Venite, exultemus Domino) enthält das Loblied der Gottesverehrung. Der auf streng religiösen Säulen basierende und ständige Widerstand der jüdischen Provinz gegen den römischen Kaiser- und Kaiserbilderkult ist ein erwiesener und gut bezeugter historischer Tatbestand. Wie schon die Evangelien bezeugen, ist es also nicht überraschend, dass das Urchristentum als neue religiöse, historische Erscheinung am Anfang über keine Bildertheologie verfügte und seine historische Stellung von der Polarität zwischen den mit dem Kaiserkult allmählich verbundenen polytheistischen Bildern und dem Rigorismus seiner religiösen Heimatwelt geprägt wurde. Zu Recht spricht Hans Belting in Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst (1990) von »der Macht der Bilder und [der] Ohnmacht der Theologen«. Die erste Abhandlung einer katholischen Theologie der Bilder erschien erst im 8. Jahrhundert. Um das Jahr 730 verfasste Johannes von Damaskos die Drei Reden gegen jene, die die Bilder schmähen (ƒҴƢƮƨ ч›ƮƪƮƢƦƲƨƩƮұ ›Ưҳư ƲƮҵư ƣƨƠơнƪƪƮƬƲƠư Ʋҫư шƢрƠưƤѳƩҴƬƠư = Patrologia Graeca XCIV-XCV; Damascenus 1996). Johannes schrieb unter dem Einfluss des byzantinischen Bildersturmes. Indem er den Bilderkult auf die Heiligen und die Reliquien ausdehnt, benennt er auch einige Eckpfeiler dieser Theologie: 1) Das Alte Testament verbietet nicht die Bilder (ƤѳƩҴƬƤư), sondern die Idole oder Götzenbilder (ƤѵƣƷƪƠ). 2) Man soll unterscheiden zwischen Anbetung oder ƪƠƲƯƤрƠ, die man nur Gott erweisen soll, und Verehrung oder ƲƨƫƦƲƨƩҮ ›ƯƮƱƩхƬƦƱƨư, die den Heiligen, Reliquien und anderen heiligen Objekten vorbehalten ist. 3) Objekt des Kultus ist nicht das Bild an sich, sondern die Person der oder des Heiligen, weil sich etwas von der göttlichen Gnade in dieser, wie in den heiligen Reliquien, erhält. Umso mehr gilt dies für die Gottes- und Christusbilder. Man kann hier die Fragwürdigkeit des ersten Punkts übergehen, um den strukturalen Zug der Zweideutigkeit hervorzuheben. Es ist dasselbe Verfahren der Metaphern, deren endliches Ergebnis, wie Northrop Frye schreibt, nicht nur eine semantische Übertragung und Kontamination, sondern auch eine Stellvertretung ist, bei der x für y steht (Frye 1983). Dieses Ergebnis heißt unvermeidlich, dass eine Substitution stattgefunden hat. In jeder Form überträgt die Metapher die Eigenschaften ihres »Vehikels« auf die Bedeutung. Wenn Dante die »Ruder« des Schiffs Odysseus’ »Flügel« nennt und so eine vollkommen symmetrische und analoge Metapher entwirft, wird das Schiff zu etwas zweideutig Fliegendem und der Flug zum Symbol der menschlichen Erkenntnis. Beide können diese neuen ontologischen Eigenschaften nicht mehr verlieren. Auch die Sprache Christi wendet eine Metapher, oder besser eine Metonymie an, wenn

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Christus beim Letzten Abendmahl »das ist mein Leib – das ist mein Blut« sagt. Die historische Relevanz des metaphorischen und symbolischen Verfahrens, d.h. der geistigen Übertragung, ist immens.

3 P OLITISCHE THEOLOGIE UND HISTORISCHE Z EIT Die Reden des Johannes von Damaskos schließen also einen langen, oft schwankenden historischen Prozess ab und eröffnen eine textreiche katholische Theologie der Bilder, die bis zum »neuen Bildersturm« der Reformation auch die Geschichte der heiligen Kunst begleitet hat. In diesem Prozess kann man zwei unterschiedliche Aspekte beobachten. In Geist des Christentums und sein Schicksal (1798-1799) stellt Hegel die unvermeidliche Frage, wie es möglich gewesen sei, dass eine so außerirdische, nein, ursprünglich gegen die irdische Welt gerichtete Religion wie das Christentum in einem so kurzen historischen Verlauf die Welt gewonnen habe und zur »innerweltlichen« Religion geworden sei. Die Frage versetzt uns in das Gebiet der Politik und der politischen Theologie. Darin spielten Bilder eine bedeutende Rolle, da sie ihre Wirkung eben aus ihrer metaphorischen und symbolischen Natur ziehen. Die Substitution der Kaiserbilder und des Kaiserkultus bewirkt keine Schwächung der politischen Macht, sondern im Gegenteil ihre Stärkung, weil sie zu ihrer theologisch-politischen Legitimation beiträgt. Der politische Monotheismus des Kaisers hat nun eine theologische Voraussetzung im himmlischen Monotheismus. Im historischen Gesichtskreis tritt nun eine neue Idee der Repräsentanz ans Licht. Unter diesem Aspekt erscheint die Bildertheologie als eine Rationalisierung ex post. Ich denke aber, dass dies nur die sichtbare Seite einer Erscheinung ist, die ihre »subatomare Wirklichkeit« noch nicht erfasst hat, weil sie die Semantik der historischen Zeiten vernachlässigt. Wie Santo Mazzarino und Eric R. Dodds beispielsweise bewiesen haben, ist die Spätantike eine Zeit, die die Angst des Endes verspürt hat (Mazzarino 1961; Dodds 1992). In diesem Licht sollte man die Civitas Dei des Augustinus und die fast gleichzeitig (Anfang des 5. Jahrhunderts) von Hieronymus dargestellte Ausdeutung des prophetischen Buchs Daniel mit ihren Theorien der vier Imperien und der Translatio Imperii sehen. Die größte Leistung Augustinus’ besteht darin, zwei Zeitschichten herausgearbeitet zu haben: die innere und die historische Dimension der Zeit. Es ist sehr bemerkenswert, dass die beiden getrennt bleiben und die Ambivalenz der Zeit (Marrou) nur die historische kennzeichnet (Marrou 1950). Andererseits ist die im Rahmen des Urchristentums ursprüngliche Dimension der Zeit eschatologisch, und als solche verschmilzt sie die unterschiedlichen Dimensionen der Zeit selbst. Mit anderen Worten, die urchristliche Dimension der Zeit war eschatologisch geprägt, weil sie von der Erwartungszeit der zweiten Parusie Christi bestimmt war (Eliade 1949; Puech 1951a und 1951b; Dodd 1951); das bedeutet, den Pfeil der Lebenszeit mit dem Kreis der kosmischen

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Zeit zu versöhnen (Arendt 2000). Diese Erwartungszeit wurde aber enttäuscht und eine neue Frage der Zeit entstand daraus: Zwischen lebenszeitlicher Zeit und historischer Zeit entstand ein Riss, den das theologische Denken nur mühevoll zu schließen, d.h. zu versöhnen versuchte. Bis zur sogenannten Sattelzeit und ihrer wechselseitigen Historisierung der Zeit und »Verzeitlichung« der Geschichte hat sich die bewundernswürdige augustinische Auffassung aufrechterhalten können (Koselleck 2004: 647-717), weil sie für die gleichzeitige Präsenz beider, der Immanenz und der Transzendenz, in der menschlichen Zeit bürgen und mit dieser Ambivalenz die Spaltung in der urchristlichen Zeit überbrücken konnte. Mit der geschichtlichen Immanenz und der ontologischen Machbarkeit der Geschichte in der Moderne aber kann sie sich nicht mehr versöhnen. Daraus entsteht die folgende Hauptthese: Die Bildertheologie stellt das räumliche Äquivalent dieser Ambivalenz der Zeit dar, wo der neue Begriff der Repräsentation dazu beitrug, den Riss der Zeit zu versöhnen, ohne andererseits die Erinnerung an seinen Zusammenhang mit der polytheistischen Bilderwelt ganz streichen zu können.6 In der Betrachtung der heiligen Bilder beruhigte sich die Angst der Zeit. Die heiligen Bilder neutralisieren die Zeit, indem sie sie zu einer räumlichen Vorstellung wandeln, die die Berührung mit der göttlichen Präsenz in ihrer nunmehr (zeitlichhistorischen) Abwesenheit versichern konnte. Wie in der menschlichen Zeit auch die transzendente Dimension gegenwärtig ist, so versichert das Sichtbare, was die Bilder von Haus aus sind, den Übergang, besser die Übertragung hin zum transzendenten Unsichtbaren − der Vergegenwärtigung Gottes. So tragen die heiligen Bilder zur »Innnerweltlichung« der Religion bei, ohne die Berührung der Transzendenz zu verlieren.7 Alles verdichtet sich also im Hinblick auf die Frage des Leibs Christi und seiner Einführung in die Zeit der Geschichte, die auch seine Aussetzung gegenüber der menschlichen Sichtbarkeit und Vorstellbarkeit heißt. Der Fall der bedeutsamen Christologie Dostojewskis an der Schwelle der Moderne bezeugt noch die tiefste Abhängigkeit von der Ikonographie des toten Christus (Hans Holbeins Der tote Christus im Grabe wird in Dostojewskis Schuld und Sühne ausdrücklich zitiert).8 Zwischen dem unsichtbaren und unvorstellbaren Gott der Juden9 und dem Polytheismus der Bilder hat das Christentum den Weg einer Theologie der Bilder beschritten, der eine Doppeldeutigkeit voraussetzt, die sich immer der Gefahr aussetzt, in Dualismus 6 | Zum allgemeinen Thema vgl. Dobschütz (1922). 7 | In den ersten Jahrhunderten des Christentums hatten die Schriften der sogenannten Historia Lausiaca den ganz anderen Weg des Mystischen bezeugt, dessen historische Parabel bis zum 17. Jahrhundert Michel de Certeau meisterhaft erforscht hat. 8 | 1521-1522, Kunstmuseum Basel. 9 | Dieser Auffassung folgend wird nicht die innere Gestalthaftigkeit Gottes bestritten, sondern deren sichtbare Wahrnehmung in der Theophanie am Gottesberg (vgl. Paränese Dtn 4,15-18).

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umzuschlagen. Und dieser Dualismus ist eben die Bresche, wo sich der Bilderfetischismus und eine Art abergläubischer, mit ihm verbundener, von Kant zu Recht kritisierter Wunderglaube hineindrängen kann. Hier kann man die Verbindung zur Frage des Sadismus herstellen. Es ist wie bei der Frage nach der Vorstellbarkeit des Bösen und seiner Darstellung. Das absolut Böse ist unsichtbar und der Versuch, es sich vorzustellen, verbirgt eine fetischistische Absicht. Peter Weiss’ Die Ermittlung (1965) hat nicht die Shoah inszeniert. Claude Lanzmanns Shoah (1985) ist ein Film, der, unter der Voraussetzung ihrer Unvorstellbarkeit, nur die Spuren der Shoah, d.h. sozusagen ihre Abwesenheit (Certeau), bearbeitet hat. Im Gegensatz dazu ist der Film Kapò von Gillo Pontecorvo (1959) unverkennbar fetischistisch. Zum Schluss: Der Vergleich zwischen zwei katholischen Regisseuren wie dem (italienisch-)amerikanischen Martin Scorsese und dem australischen Mel Gibson beweist, wie die Doppeldeutigkeit der Bilder von zwei verschiedenen Christologien abhängt. Jene Verfilmung, die einer triumphalen Christologie und der mit ihr verbundenen, konventionellen Ikonographie des Opfers und Blutes folgt, gerät unvermeidlich ins Fetischistische. Die andere spricht noch vom Menschensohn. Wie Lévinas schrieb, kann sich das Bild zur versteinerten Verdoppelung der Wirklichkeit und ästhetischen Idolatrie wandeln. Nach dem Bild Gottes sein, heißt nicht Ikone Gottes sein, sondern sich in seiner Spur befinden (Brumlik 2006).

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Tertullian der Antifetischist Frühchristliche Auseinandersetzungen mit idolum, idololatria und facticium Kordula Schnegg

1 N EUZEITLICHE D ISKUSSIONEN ÜBER DEN F E TISCH UND IHRE B EZÜGE ZUR A NTIKE Es mag zunächst anachronistisch erscheinen, das Konzept Fetisch in Zusammenhang mit der römischen Antike zu diskutieren. Betritt doch der Fetisch als Begriff erst an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert die historische Bühne, als portugiesische Händler mit der Bevölkerung der Küste von Guinea in Kontakt treten (vgl. Sansi, Brittes, Antenhofer, alle in diesem Band). Und erst gut zwei Jahrhunderte später wird man im aufgeklärten Europa konzeptionelle Entwürfe von Fetischismus erdenken, wie beispielsweise Charles de Brosses dies im 18. Jahrhundert tut (Kohl 2003: 71-75; Böhme 22006: 199-202). Die Konzepte Fetisch und Fetischismus sind unzweifelhaft mit der Neuzeit eng verbunden. Wie kann demzufolge eine entferntere Vergangenheit, nämlich die Antike, mit dem Begriff des Fetischs oder auch mit einem Konzept desselben konfrontiert werden? Tatsächlich stellt man in aktuellen Standardwerken zum Thema Fetisch auf unterschiedliche Weise Bezüge zur Antike her: Sei es, dass man den christlichen Horizont und die christlich-theologischen Konzeptionen des 16. Jahrhunderts begreifen will (Kohl 2003: 31-68; Böhme 22006: 157-169, 178-186); sei es, dass man sich auf die Suche nach dem Ursprung des portugiesischen Wortes feitiçio macht (Pietz 1987). Beide Bestrebungen führen unweigerlich in die Antike, zu christlichen und genuin nichtchristlichen Vorstellungen von Idolen, Zauberei und Magie; zu Auffassungen vom Verhältnis zwischen Menschen und der Schöpfung Gottes bzw. der Göttinnen und Götter (vgl. Antenhofer in diesem Band). In den folgenden Ausführungen lenke ich mein Augenmerk auf den frühchristlichen Autor Tertullian (2./3. Jahrhundert), der in seinen theologischen Schriften jene »radikalen Positionen« vermitteln soll, durch die »der christliche Bilderstreit und die spätere Fetischismuskritik ihre Brisanz« erhalten

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würden (Böhme 22006: 164). Tertullians Entwurf von idololatria1 soll hier im Detail untersucht werden. Tertullians Konzept konzentriert sich nämlich nicht allein auf das frühchristliche Bilderverbot, demzufolge sich die christlichen Gläubigen keine von Hand gefertigten Gottesdarstellungen jeglicher Art (Statuen, Bilder etc.) erschaffen und diese verehren dürfen (ebd.: 157-165).2 Darauf geht Tertullian zwar auch ein (»non idolum coles«, z.B. in: Tertullian, De spectaculis 3,10), aber er verbindet mit idololatria weit mehr als nur das konkrete Anfertigen und Anbeten von Gottesbildnissen. Idololatria ist bei Tertullian faktisch »unter der Maske der gesamten Lebenspraxis« versteckt, wie bereits Böhme festhält (22006: 163). Tatsächlich erhebt Tertullian schwere Vorwürfe gegen die Christinnen und Christen seiner Zeit, die sich im Alltag den altrömischen Bräuchen nicht entziehen würden. Die Anklage gegen sie ist zumindest ebenso harsch formuliert wie die Kritik an der Lebensführung der nichtchristlichen Menschen, die Tertullian sehr häufig als ethnicus (Plural: ethnici) bezeichnet.3 Um die christliche Gemeinde auf die vermeintlich frevelhaften Handlungen und Irrwege hinzuweisen, thematisiert der frühchristliche Denker die – seiner Meinung nach – hierfür besonders gefahrvollen Praktiken und Milieus. In seiner Schrift De idololatria bietet Tertullian schließlich eine christlichtheologische Konzeption, die erklären soll, wo, wie und warum idololatria auszumachen und folglich von der Christin oder dem Christen zu vermeiden sei.4 1 | Damit wird wörtlich der Dienst an den Idolen bezeichnet, das lateinische Wort wird im Deutschen jedoch häufig mit »Götzendienst« wiedergegeben. 2 | Das Verbot, sich ein Bildnis von Gott zu machen und dieses auch noch zu verehren, findet sich bereits in der jüdischen Tradition und wurde vom frühen Christentum aufgenommen, siehe hierzu Fredouille (1981). 3 | Beispielsweise in Tertullian, De spectaculis 1,3; 2,7; 3,1.5; 19,5; 21,1; 27,1. De idololatria 14,1.4.7; 15,1. Um das Christliche von dem Anderen abzuheben, operiert Tertullian auch mit Begriffen wie »saeculum«, i.S. von »das Weltliche« (z.B. Tertullian, De cultu feminarum 1,8,4; De spectaculis 28,2; De idololatria 18,3), oder mit Redewendungen wie »dei nationum«, womit die römischen Gottheiten gemeint sind (Tertullian, De spectaculis 6,3; 11,1; De idololatria 10,1; 15,2). Die Christinnen werden von den »feminae nationum« abgegrenzt (z.B. Tertullian, De cultu feminarum 2,1,2). Mitunter verwendet Tertullian auch »gentilicius« zur Bezeichnung des Nichtchristen (z.B. Tertullian, De cultu feminarum 2,1,3; 24,1,2). In der Forschungsliteratur, vor allem in der älteren, werden diese Begriffe und Redewendungen sehr oft mit »Heide«, »Heidin« oder »heidnisch« übersetzt. Auf eine Übersetzung dieser Art wird im vorliegenden Beitrag bewusst verzichtet. 4 | Das Werk wird in der Forschung allgemein mit dem Titel De idololatria bezeichnet. Auch in der hier verwendeten lateinischen Textausgabe von Waszink und van Winden ist im Lateinischen von idololatria zu lesen. Im aktuellen englischen und deutschen Sprachgebrauch finden wir hingegen häufig die verkürzte Form idolatry bzw. Idolatrie. Der lateinische Begriff idololatria ist die silbenge-

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In meinem Beitrag will ich nach den speziellen Vorstellungen von idolum und idololatria sowie dem Verhältnis zwischen idolum und facticium (in seiner Bedeutung als etwas menschlich Gemachtes) fragen. Im Mittelpunkt der Analyse steht Tertullians Werk De idololatria, das in Ergänzung mit weiteren Werken, speziell mit De spectaculis (Über die Schauspiele) und De cultu feminarum (Über den Putz der Frauen), behandelt wird. Die gesamten Überlegungen erfolgen aus einem historischen Erkenntnisinteresse. Die theologische Stringenz der Ausführungen Tertullians spielt dabei eine untergeordnete Rolle. Vielmehr werden die Schriften im Hinblick auf bestimmte Vorstellungen ihrer Zeit analysiert. Das erfordert zunächst eine kurze Vorstellung des Autors und seines Schaffens im historischen Kontext. Nach der Auseinandersetzung mit den Texten werden schließlich die Analyseergebnisse mit der für diesen Sammelband leitenden Fragestellung nach der Nützlichkeit der heuristischen Kategorie Fetisch diskutiert.

2 L EBEN UND W IRKEN EINES FRÜHCHRISTLICHEN D ENKERS Biographische Angaben über eine Person aus der Antike zu machen, fällt mitunter schwer; zumeist fehlt uns das Quellenmaterial hierfür. Sogar wenn zahlreiche Schriften von der historischen Person selbst überliefert sind, wie im Fall Tertullians, können nur wenige genaue Angaben zu seinem Leben gemacht werden, da sie nur vereinzelt in seinen Werken Erwähnung finden. Aussagen biographischer Art basieren in diesem Fall hauptsächlich auf Informationen aus späteren Quellen wie Hieronymus oder Augustinus (beide sind auf das 4./5. Jahrhundert zu datieren). Diese Angaben sind für uns jedoch im Detail kaum überprüfbar; einige Eckdaten sollen im Folgenden dennoch angeführt werden. Hat die Biographie Tertullians auch einige Lücken, so fällt eine Charakterisierung seines literarischen und theologischen Wirkens leichter, weil sein Schrifttum relativ gut erhalten ist und daher umfassende Aussagen über Tertullians Vorstellungen zu bestimmten Themen zulässt. Q. Septimius Florens Tertullianus wurde um 160/170 in Karthago, einer bedeutenden antiken Stadt im heutigen Tunesien, geboren.5 Sein engstes soziales Umfeld war in dieser ersten Lebensphase nichtchristlich treue Wiedergabe des griechischen eid lolatría. Das lateinische idololatria lässt sich zunächst in den christlichen Schriften Nordafrikas nachweisen, und hier vor allem bei Tertullian; vorher und parallel dazu sind Umschreibungen wie idolorum cultura, idolorum servitus etc. in Gebrauch (Übersetzung von Tertullians De idololatria von Waszink und van Winden 1987: 79). Später, der exakte Zeitpunkt ist ungewiss (ab dem 5./6. Jahrhundert?), kommt die verkürzte Form idolatria verstärkt in Umlauf (ebd.: 79; Fredouille 1981: Sp. 866f.). 5 | Zur Überlieferung des vollständigen Namens (also Pränomen, Nomen Gentile und Cognomen) siehe Barnes (1971: 242f.).

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geprägt. Tertullian erhielt eine hervorragende Ausbildung. Die Schriften, die uns von ihm erhalten sind, zeugen von seinem detailreichen literarischen und juridischen Wissen sowie von seinen rhetorischen Fähigkeiten; seine umfassende Kenntnis der lateinischen und griechischen Sprache zeichnet ihn für seine Zeit darüber hinaus aus (Habermehl 2002: Sp. 173).6 Tertullian hat vorwiegend in lateinischer Sprache geschrieben, die in der zeitgenössischen christlichen Gemeinschaft des Westens zunehmend an Bedeutung gewann und dem Griechischen den Vorrang streitig machte – nicht zuletzt aufgrund von Tertullians Wirken (ebd.: Sp. 175f.).7 Zu einem bestimmten Zeitpunkt in seinem Leben tritt Tertullian dem Christentum bei. Seine ersten, uns erhaltenen Schriften, die auf die Mitte der 190er zu datieren sind, weisen ihn bereits als Christen aus, der mit einer Christin verheiratet war (z.B. Tertullian, Ad uxorem/Die zwei Bücher an seine Frau). In der Forschung wird außerdem die Meinung diskutiert, Tertullian habe in wohlhabenden Verhältnissen gelebt (Schulz-Flügel 3 2002: 668). Offenbar sah Tertullian nach einiger Zeit keine Möglichkeiten mehr, seine asketischen und strikten Verhaltensansichten in der christlichen Gemeinde umzusetzen. Und so ist er nach 200 der radikalen christlichen Bewegung des Montanismus beigetreten, in der er »den Geist des Urchristentums« vermutete (Habermehl 2002: Sp. 173).8 Der apokalyptische und asketische Esprit des Montanismus beeindruckte Tertullian, wie seine Schriften aus dieser Lebensphase zeigen, in denen er nicht nur Ver6 | In der Forschung wird Tertullian auch als christlichem Theologen große Bedeutung beigemessen. Zahlreiche lateinische Wortneuschöpfungen – wie trinitas/die Dreifaltigkeit – werden ihm zugeschrieben (z.B. Habermehl 2002: Sp. 175; Händler 21981: 39-42). Mitunter wird Tertullian als »Begründer der lateinischen Theologie [und] Urheber einer neuen christlichen Literatur und Sprachform« gefeiert (Hagendahl 1983: 12). Interessanterweise wird in der christlichen Kirche Tertullians asketische und sittenstrenge Theologie stark rezipiert, obwohl er selbst durchaus als »Ketzer« in der späteren Christengemeinde wahrgenommen wurde (Habermehl 2002: Sp. 176, mit Bezug auf Augustinus). 7 | Erhalten sind uns nur die lateinischen Werke von Tertullian. Es ist mit Habermehl wohl davon auszugehen, dass Tertullians griechische Schriften an die gebildete Oberschicht in Karthago bzw. an den christlichen Klerus gerichtet waren, da das Griechische im Westen zu jener Zeit nur von einem exklusiven Kreis gesprochen wurde (ebd.: Sp. 175f.). 8 | Der Montanismus ist eine spezielle christliche Bewegung, die sich gegen Ende des 2. Jahrhunderts von Phrygien ausgehend entwickelte und die von der christlichen Großkirche separiert wurde. Ihr Begründer Montanus galt unter seiner Anhängerschaft als der im Johannesevangelium verkündete Prophet (Frank 3 2002: 165f.). Gemeinsam mit den zwei Glaubensschwestern Priscilla/Prisca und Maximilla offenbarte er seine Lehre, in deren Zentrum die »unmittelbare Naherwartung« stand (ebd.). Dabei sollte streng gelebte Enthaltsamkeit auf die Endzeit vorbereiten.

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haltenscodices für die Gläubigen entwirft, sondern auch die christlichen Würdenträger anklagt. Diese würden nämlich in vielerlei Hinsicht zu wenig konsequent das Wort Gottes exekutieren (Händler 21981: 37ff.). Das strikte Auslegen der christlichen heiligen Schrift, vor allem das Fokussieren auf und Argumentieren mit jenen Textpassagen, in denen Gott als unerbittlich und streng strafend gegen Verstöße jeglicher Art dargestellt ist, lässt uns Tertullian als besonders puritanischen Theologen wahrnehmen. Seine Kritik an der christlichen Gemeinde richtet sich hauptsächlich gegen ihre Praxis des Vergebens und der Buße. Ihre Verweise auf den verzeihenden und liebenden Gott im Alten Testament und in den Schriften des Neuen Bundes kanzelt Tertullian als Scheinargumente ab (Tertullian, De pudicita/Über die Ehrbarkeit). Die auf bestimmte Textpassagen konzentrierte Auslegung der christlichen heiligen Schrift und der daraus abgeleitete Rigorismus, mit dem er Fragen des alltäglichen Lebens behandelte, dürften ihn auch im Montanismus zu einer exkludierten Stellung geführt haben. Ob er in letzter Konsequenz auch mit den Montanisten gebrochen hat, um eine eigene religiöse Bewegung der Tertullianisten zu gründen, wie ein Hinweis bei Augustinus vermuten lässt, ist in der Forschung umstritten (siehe hierzu: Habermehl 2002: Sp. 173; Schulz-Flügel 3 2002: 668; Frank 32002: 197). Über das Lebensende Tertullians wissen wir nichts Genaues, auch nicht über den Zeitpunkt seines Todes. Die Schrift Scorpiace (über den Skorpion), die in der Forschung allgemein als jüngstes Zeugnis Tertullians angeführt wird, soll um 212/214 entstanden sein (Habermehl 2002: Sp. 173f.; Schulz-Flügel 32002: 668). Diese ungefähre Datierung ist zugleich der letzte zeitliche Orientierungspunkt, der mit dem frühchristlichen Theologen in Verbindung zu bringen ist. Tertullian wirkte zu einer Zeit, in der das Christentum im römischen Reich erstarkte. Aus der christlichen Literatur des 2. und 3. Jahrhunderts, deren Produktion nun anstieg, werden zwei Aspekte besonders deutlich: Die Quellen zeugen zum einen von einem Prozess innerkirchlicher Positionierungen, die beispielsweise die Frage, wer die »wahre« Autorität für die christliche Lehre besitze, oder die Kanonisierung des Neuen Testaments betreffen; und zum anderen zeugen sie von dem Bemühen, das Christentum nach außen hin zu verteidigen, in Form von apologetischen Schriften (Frank 1984: 25, 30-34). In diesen Schriften wird nicht allein die nichtchristliche Welt in ihrem Umgang mit dem Christentum angeklagt, sondern auch aufgezeigt, dass sich die Christinnen und Christen sehr wohl in das römische Herrschaftssystem integrieren würden. Und so wird beteuert, sie seien Rom gegenüber loyal. All diese Argumentationen und Bemühungen finden wir auch in den Frühwerken Tertullians (Frank 3 2002: 196f.). Nordafrika, Tertullians Heimat, war zu dieser Zeit eine bedeutende Kulturmetropole des Imperium Romanum, in der das Christentum starke Verbreitung fand. Vor diesem Hintergrund verfasste Tertullian zahlreiche

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theologische Schriften, von denen uns 31 erhalten sind (Schulz-Flügel 3 2002: 668).9

3 I DOLUM , IDOLOLATRIA UND FACTICIUM BEI TERTULLIAN Im Folgenden werden vier Bereiche thematisiert, die Tertullian im Zusammenhang mit idololatria behandelt und die für eine Untersuchung des Fetischs als »heuristische Kategorie« von Bedeutung sind: 1) Mit Fetisch wird sehr häufig etwas von Menschenhand Gemachtes verbunden (vgl. Antenhofer in diesem Band). Folglich werden Tertullians Vorstellungen vom Erzeugten (= Idole), von den Erzeugern10 und den durch die Erzeugnisse Verehrten skizziert. 2) Die Macht der Fetische drückt sich auf eine bestimmte Art und Weise aus (vgl. Antenhofer in diesem Band). Welche machterfüllten Strategien den Idolen zugeschrieben werden, soll daher hier besondere Berücksichtigung finden. 3) Fetischismus wird in einer verbreiteten Rezeption der marxistischen Theorie eng mit dem Begehren nach Waren und dem kapitalistischen Konsumverhalten in Verbindung gebracht (Kohl 2003: 91-98; Böhme 2 2006: 307-330). Die Ware, die ein Eigenleben entwickle, indem sie Macht über Konsumentinnen und Konsumenten ausübe, würde demnach zur »fetischistischen Illusion« werden (Kohl 2003: 95). Projiziert man diese Kritik zurück in die frühchristlichen Debatten, so lassen sich auch dort kritische Hinweise auf das maß- und nutzlose Verlangen nach Waren in De idololatria ausmachen (wenngleich nicht mit der Marx’schen Implikation der Entfremdung, vgl. Artous in diesem Band). Tertullian problematisiert vielmehr in diesen Passagen das, in seinen Augen, diabolische Begehren der christlich Gläubigen nach Produkten. Seine Ausführungen über die Macht, die angeblich durch solche Erzeugnisse ausgeübt wird, soll daher ebenso Berücksichtigung finden. 4) Schließlich führt die Herleitung des Wortes Fetisch vom Lateinischen facticium zur Frage, ob und in welchem Zusammenhang der Begriff

9 | Das Schrifttum Tertullians wird allgemein in dogmatische Schriften, praktisch-asketische Schriften und apologetische Schriften eingeteilt (z.B. Frank 3 2002: 196). Die historische Bedeutung der Werke Tertullians ist immens, da sie für bestimmte Themen (z.B. römische Schauspiele oder frühchristliches Leben im Imperium Romanum) die Hauptquellen sind. 10 | Es wird hier im Deutschen nur die männliche Form des Substantivs verwendet, weil im Lateinischen tatsächlich immer von artifex die Rede ist. Ob Frauen ebenso unter den artifices verstanden wurden, kann aufgrund des überlieferten Textes nicht eruiert werden.

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facticium bzw. facere (machen) mit dem Dienst an den Idolen bei Tertullian Verwendung findet.

3.1 Das Erzeugte, der Erzeuger und die Verehrten In De idololatria verdeutlicht Tertullian, dass es für eine Christin bzw. einen Christen unabdingbar sei, sich vor jeglicher Art von idololatria zu schützen. Hat man nämlich einmal das sichere Boot des Glaubens verlassen, wie Tertullian metaphorisch beschreibt, sei man für immer verloren (Tertullian, De idololatria 24,1); es gebe kein Zurück mehr, denn »[…] jede ihrer [idololatria-]Woge erstickt, jeder ihrer Strudel zieht in die Unterwelt hinab«11 . Das endgültige Aus drohe. Damit die an Christus Glaubenden aber gegen dieses Unheil gerüstet seien, was durch anhaltende Furcht (timor) vor Untaten durch und für die Idole erreicht würde12 , bietet Tertullian eine Abhandlung, die darüber aufklären soll, was unter idolum und idololatria zu verstehen sei und wie sich alle vor dem Dienst an den Idolen zu schützen haben. So bringt Tertullian gleich zu Beginn seines Werkes eine Definition sowohl von idolum als auch vom Dienst an den Idolen (Tertullian, De idololatria 3,4). Dabei sucht er den Ursprung für das Wort idolum, der sich im griechischen eidos ausmachen lässt und dessen lateinische Entsprechung im Begriff forma zu finden ist (im Deutschen ist forma mit »Gestalt«, »Bild« oder auch »Figur« zu übersetzen). Tertullian erläutert, eidolon sei eine Verkleinerungsform (ein Diminutiv) von eidos und finde im lateinischen formula seine Entsprechung (im Deutschen spricht man in diesem Zusammenhang wohl von »Figürchen« oder auch »Bildchen«). Basierend auf diesen etymologischen Überlegungen folgert der frühchristliche Autor nun, dass jede forma (Gestalt, Bild, Figur) und jede formula (jedes »Figürchen«, jedes »Bildchen«) dem Ursprung des Begriffs zufolge gerade danach verlange, idolum genannt zu werden. Im Prinzip gesteht Tertullian dem Wort hier keinen Bedeutungswandel zu. Vielmehr geht er von einem ursprünglichen, konstant bleibenden Wortsinn aus. Und Tertullian erklärt weiter: Jeder Dienst, der einem idolum entgegengebracht werde, aber auch das Anfertigen desselben, sei als idololatria zu verstehen.13 11 | Tertullian, De idololatria 24,1: »[Q]uicumque fluctus eius offocant, omnis vertex eius ad inferos desorbet.« 12 | Tertullian, De idololatria 24, 2: »Nihil esse facilius potest quam cautio idololatriae, si timor eius in capite sit.« Bereits der erste Satz in dieser Schrift will auf das Sündhafte im Zusammenhang mit idololatria aufmerksam machen und Furcht bei den Christinnen und Christen erwecken: »Das Hauptverbrechen des Menschengeschlechts, die größte Schuld der Welt, der ausschließliche Sachverhalt für das Weltgericht ist Idololatria.« (Tertullian, De idololatria 1,1) 13 | Tertullian, De idololatria 3,4: »E dos [Transkription K.S.] Graece formam sonat; ab eo per diminutionem eid lon [Transkription K.S.] deducutm aeque apud nos formulam fecit. Igitur omnis forma vel formula idolum se dici exposcit. Inde

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Tertullian führt an, dass es in früherer Zeit, die er jedoch nicht näher bestimmt, keine idola gegeben habe (Tertullian, De idololatria 3,1). Es mussten, so der Kirchenschriftsteller, zuerst die Kunstfertiger (artifices) in die Welt geschickt werden, damit Idole überhaupt angefertigt werden konnten. Die Sendung sei durch den diabolus erfolgt (Tertullian, De idololatria 3,2).14 Folgt man den Ausführungen Tertullians, so steht am Beginn der idololatria nicht der freie Wille der Menschen, Idole anzufertigen, sondern das Verlangen des diabolus nach Verehrung, die er sich selbst durch die Entsendung der artifices ermöglicht. Er ist es, der Macht durch die Idole erwirken will, indem er die Menschen durch diese an sich bindet und folglich von dem einen, christlichen Gott fernhält. Der Autor erklärt weiter, dass viele Idole eigentlich für die römischen Gottheiten bestimmt seien. Interessanterweise erkennt Tertullian in ihnen (unabhängig, ob anthropomorph, personifiziert oder abstrakt gedacht) keine Dämonen. Vielmehr sind es die Kulte für sie, die den Dämonen den Eintritt in die Menschenwelt gewähren: »Idololatrie ist nicht wegen der Personen, die ihr Objekt sind, zu verurteilen, sondern wegen der Dienstleistungen für die Dämonen.« (Tertullian, De idololatria 15,2) Selbst die altrömischen Gottheiten werden also von den Dämonen benützt. Als Objekte sind sie nicht zu verdammen, sondern die Kulte für sie, durch die das »Böse« Eintritt in die Welt erhält. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang, dass Tertullian die Existenz der vielen römischen Gottheiten nicht leugnet. Aber sie könnten sich von ihrer Macht her eben niemals mit dem einen, christlichen Gott messen. Letztlich sei die Verehrung der römischen Gottheiten eine Menschenverehrung, weil – so Tertullian – diese Gottheiten nichts anderes als Menschen gewesen seien (Tertullian, De idololatria 15,2). Das Material (Gold, Metall, Stein etc.) eines Idols sei nicht entscheidend, ebenso wenig seine Form (Tertullian, De idololatria 3,3). Tertullian zufolge müssen Idole keineswegs anthropomorphe Gestalt haben. Sie müssen letztendlich gar nicht gegenständlich vorhanden sein – und trotzdem können Menschen in ihrem Dienste stehen. Tertullian hält fest, idololatria sei vor dem Idol und mitunter auch ohne das Idol (hier im Sinne eines gefertigten Gegenstands) existent. Seinen Überlegungen zufolge, ist für den Dämon das Idol nur ein Medium, »the point of contact« (van Winden 1982: 110ff.), um die Menschen zu erreichen. Das Anfertigen und das Verehren der Idole wertet Tertullian als gleichermaßen verwerflich, weil beide Aktionen den »einen, wahren« Gott beleidigen (Tertullian, De idololatria 4,1). Schließlich habe doch Gott selbst den Gläubigen verboten – und hier zitiert Tertullian aus dem Buch Moses – sich ein Idol zu machen oder Bildnisse von Dingen, »die am Himmel, idololatria omnis circa/omne idolum famulatus et servitus. Inde et omnis idoli artifex eiusdem et unius est criminis […].« 14 | Tertullian, De idololatria 3,2: »At ubi artifices staturam et imaginum et omnis generis simulacrorum diabolus saeculo intulit […].«

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auf der Erde und im Meer sind« (Tertullian, De idololatria 4,1).15 Zudem mache auch die christliche Glaubenslehre darauf aufmerksam, dass die Erzeugung von Idolen vom rechten Glauben wegführe (Tertullian, De idololatria 6,1). Dabei geht Tertullian ganz allgemein davon aus, dass das Tun (z.B. die Herstellung von Idolen) und der Glaube (z.B. an die Wirkmacht durch die Idole) sich gegenseitig bedingen. Man könne das eine nicht von dem anderen trennen; wenn man Idole herstelle, dann diene man ihnen gleichzeitig und entferne sich von dem »einen, wahren« Gott.16 Demnach kann Tertullian auch keinen einzigen Grund erkennen, warum ein Christ als artifex idola herstellen sollte.17 Vielmehr seien zahlreiche Gründe zu nennen, dies eben nicht zu tun (Tertullian, De idololatria 6,3): Der Künstler vergeude mit der Anfertigung von Idolen seine Zeit, die ihm schließlich fehle, um den »einen, wahren« Gott zu ehren. Er stecke auch seine Energie in eine unheilvolle Tätigkeit, da er seine künstlerischen Fertigkeiten und seine Erfindungsgabe für die Erschaffung von Idolen aufbringe; er verschleudere sein Talent, welches er von dem »einen, wahren« Gott erhalten habe. Der Künstler erzeuge schließlich das Mittel, durch das der Dämon Verbindung mit den Menschen herstellen könne. Folglich ermögliche er auch anderen, den »einen, wahren« Gott nicht zu ehren. Tertullian geht in seiner Konzeption so weit, dass er den Künstler für alle Folgetaten, die gegen den christlichen Gott gerichtet sind und die auf idololatria zurückzuführen seien, verantwortlich macht. Letztendlich fal15 | Tertullian, De idololatria 4,1: »Idolum tam fieri quam coli deus prohibet. […] lex divina proclamat: ne feceris idolum, et coniungens: neque similitudinem eorum, quae in caelo sunt et quae in terra et quae in mari, toto mundo eiusmodi artibus interdixit servis dei.« (Hervorhebung laut Textausgabe) Tertullian nimmt hier Bezug auf die sogenannten Zehn Gebote Gottes (Übersetzung von Waszink/ van Winden 1987: 110f.). 16 | Tertullian, De idololatria 6,2: »Potes lingua negasse quod manu confiteris? Verbo destruere quod facto struis? Unum deum praedicare, qui tantos efficis? Verum deum praedicare qui falsos facis?« 17 | Selbst das Argument, man müsse seinen Lebensunterhalt damit verdienen, akzeptiert Tertullian in diesem Zusammenhang nicht (Tertullian, De idololatria 5,1). Dabei bemüht er unterschiedliche Strategien für seine Argumentation: 1) Zunächst zitiert er christliche Lebensregeln, die in einer aktuellen Lesart des Textes realitätsfern erscheinen: Tertullian weist darauf hin, dass man sich als Christin oder Christ immer des eigenen Handelns bewusst sein müsse (Tertullian, De idololatria 5,1) und allein durch die Befolgung der Gesetze Gottes leben könne (ebenso in Tertullian, De idololatria 12,2, hier mit dem Hinweis, Gott würde die materiell Armen glücklich nennen). 2) Darüber hinaus führt er Vergleiche mit umgekehrten Schlussfolgerungen an: So setzt Tertullian das Herstellen von Idolen mit Räuberei und Fälscherei gleich; auch dies seien handwerkliche, weil durch Hände ausgeübte Tätigkeiten, denen man aber als Christin bzw. Christ keinesfalls nachgehen dürfe, also auch nicht der idololatria (Tertullian, De idololatria 5,2).

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len alle Sünden, die durch und mit dem Idol begangen werden, auf den Hersteller der Idole zurück. Der frühchristliche Theologe folgert daraus, dass man jede Art von Kunst verbieten müsse, die eine Verehrung von Idolen ermöglichen würde. Er erklärt zur Veranschaulichung, dass ein Bildhauer schon allein durch die hypothetische Möglichkeit, Idole anfertigen zu können, Gefahr läuft, idololatria zu betreiben. Tertullian macht deutlich, dass Christen keine Hersteller von Idolen sein dürfen; »solche« Menschen seien in der christlichen Gemeinschaft nicht willkommen. Er findet es nämlich unerhört, »dass ein Christ von den Idolen weg hin zur Kirche geht, dass er aus der feindlichen Werkstätte zum Hause Gottes kommt, dass er seine Hände, die Mütter der Idole sind, zu Gott dem Vater erhebt, dass er mit diesen Händen, deren Werke draußen gegen Gottes Willen angebetet werden, Gott anbetet, dass er seine Hände, die den Dämonen Körper verleihen, dem Körper des Herrn nahebringt« (Tertullian, De idololatria 7,1).18

Abgesehen von der versteckten Misogynie in seiner Darlegung, dass nämlich der »eine, wahre« Gott als Vater (= Mann) benannt wird, während mit Mutter (= Frau) die Hände des Sünders bezeichnet sind, wird deutlich, dass es für Tertullian kein Arrangement zwischen den oben charakterisierten Tätigkeiten und der christlichen Lebensführung geben kann.19 Dabei formuliert er seine Auffassung mit einer Sprache der Gewalt: Die Hersteller von Idolen würden täglich den Leib des Herrn misshandeln (Tertullian, De idololatria 7,2).

3.2 Dinge, Worte, Handlungen in dämonischer Macht und die christliche Furcht davor Idololatria sei das größte Verbrechen, das christliche Gläubige begehen könnten20; nicht nur weil sie per se schon das größte Übel darstelle, sondern weil sie eine Reihe weiterer Verbrechen (crimines), wie Trunksucht, 18 | Tertullian, De idololatria 7,1: »[…] Christianum ab idolis in ecclesiam venire, de adversaria officina in domum dei venire, attollere ad deum patrem manus matres idolorum, his manibus adorare, quae foris adversus deum adorantur, eas manus admovere corpori domini, quae daemoniis corpora conferunt.« 19 | Dem Argument von Schulz-Flügel (32002: 668), dass die Einstellung Tertullians zu den Frauen nicht als Misogynie zu werten sei, weil sie eben dem Zeitkolorit des 2./3. Jahrhunderts entspreche, kann hier nicht gefolgt werden. 20 | Um das Vergehen der Christinnen und Christen zu bezeichnen, verwendet Tertullian in den hier untersuchten Schriften häufig die lateinischen Begriffe crimen und delictum. Beide Begriffe kommen aus der römischen Rechtspraxis und bezeichnen weniger die ethische Dimension einer Verfehlung (wie z.B. das griechische Wort hamartía) als das Vergehen am Rechtssystem, also einen Rechtsbruch. Auf Tertullians Gebrauch von crimen, delictum und die etwas seltenere

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Habgier oder Eitelkeit, mit sich bringe. Idololatria nehme – nach Tertullian – die Ehre von dem einen, christlichen Gott weg und würde sie einem Dämon zuteilwerden lassen. In seiner bildreichen Sprache vergleicht Tertullian diesen Akt der Gunstzuweisung an den Dämon mit einem Mord. Wobei der Mörder (also der idolator), gleichsam auch das Opfer ist (Tertullian, De idololatria 1,1). Denn es gibt keinen anderen Superlativ des Schrecklichen, als sich von dem einen, christlichen Gott zu entfernen; in diesem Sinne ermordet sich der idolator selbst. Um ein christliches Leben führen zu können, sei es daher entscheidend, zu erkennen, durch welche Gegenstände, Worte oder Handlungen, den Dämonen gedient werde. Tertullian macht deutlich, dass Christinnen und Christen stets auf der Hut sein müssen, denn die Gefahr der idololatria lauere im praktischen Leben überall; sie verstecke sich hinter unscheinbaren Handlungen und Ritualen. Als ein Beispiel hierfür erwähnt Tertullian das vermeintliche Schmücken der Haustüren mit Girlanden und Lichtern. Hinter dieser Praxis verberge sich idololatria, weil sie auf einen nichtchristlichen Brauch zurückzuführen ist, durch den altitalische Gottheiten Verehrung finden (Tertullian, De idololatria 15). Vielen sei der Ursprung dieses Brauches nicht mehr bekannt, aber Unwissenheit schütze nicht vor der Verdammnis (damnatio) durch Gott. Gläubige müssen ebenso auf die Sprache und Wortwahl achten (Tertullian, De idololatria 20-23). Viel zu oft will Tertullian die bedrohliche Situation erkennen, in der die Gläubigen durch unheilvolle Worte den »einen, wahren« Gott verletzen, indem sie beispielsweise Eide oder Schwüre ablegen, dabei die Namen nichtchristlicher Gottheiten aussprechen und so ein frevelhaftes Verhalten an den Tag legen. Es macht für den frühchristlichen Autor keinen Unterschied, ob man an die nichtchristlichen Gottheiten glaubt oder nicht. Da sie seiner Auffassung zufolge nur Objekte sind, durch die der diabolus wirkt, versündigen sich Christinnen und Christen bereits durch die Nennung ihrer Namen. Aus diesem Grund seien auch Berufe zu vermeiden, die Schwüre in diesem Sinne abverlangen, wie z.B. das Soldatentum (Tertullian, De idololatria 19). Nicht nur das eigene Denken, Sprechen und Handeln soll stets überprüft werden, sondern auch das der Menschen im engeren sozialen Umfeld. Als Patron (patronus) trägt man daher die Verantwortung für die Taten und Worte seiner Abhängigen. Eine Christin oder ein Christ habe darauf zu achten, dass die von ihr oder ihm Abhängigen keinerlei Chancen haben, den Idolen bzw. den Dämonen zu dienen. Nimmt man aber selbst die Position der oder des Abhängigen ein (als Sklavin oder Sklave oder freigelassene Person), so dürfen keine Handlung anstelle und keine Handlung an der Seite des Patrons vollführt werden bzw. keine Worte gesagt oder gehört werden, die idolatrischen Charakter besäßen (Tertullian, De idololatria 16; 17). Tertullian ist hier ganz klar in seiner Diktion. Er thematisiert aber Verwendung von peccatum, i.S. von Verfehlung, gehen Waszink und van Winden (1987: 79f.) näher ein.

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mit keiner Wortsilbe die reale Machbarkeit der Umsetzung seiner Regeln. Die rechtliche Situation der abhängigen Personen gestattete ihnen nur eine begrenzte Sprech- und Handlungsfreiheit dem Patron gegenüber. Dass Tertullian seine strikten Verhaltensregeln mitunter selbst aufweicht, macht sich in seinen Ausführungen zum Wissenserwerb deutlich. Prinzipiell stehe jede Form von Wissenserwerb mit idololatria in Verbindung (Tertullian, De idololatria 10). Denn unweigerlich müsse man sich mit der vorchristlichen Zeit, ihren Gottheiten und ihren Kulten auseinandersetzen. Als Schüler nimmt man dieses Wissen auf: Man hört davon, spricht darüber und rezipiert es. Als Lehrer (magister) aber verbreitet man diese Geschichten auch noch, was Tertullian für inakzeptabel hält. Ein weiteres Problemfeld will er in den Ritualen erkennen, die mit dem Schulwesen verbunden sind: So nennt er in diesem Zusammenhang die Praxis, das erste Schulgeld der neuen Schüler der Göttin Minerva zu stiften, ebenso verweist er auf die Organisation des Schuljahres, die sich nach altrömischen Feierlichkeiten richtet (Tertullian, De idololatria 10,2). All diese Gefahren müssten Christen eigentlich von den Schulen fernhalten – eine Schlussfolgerung, die Tertullian allerdings nicht zieht. Er hält nämlich fest, dass das Wissen das Leben prägt und dass kein göttliches Wissen ohne weltliches Wissen existieren kann (Tertullian, De idololatria 10,5). Daher darf ein Christ geschult werden, sich also Wissen aneignen, aber er darf nicht zum Vermittler des weltlichen Wissens werden (Tertullian, De idololatria 10,5). Als Lehrer will Tertullian keinen Christen sehen. Interessanterweise plädiert er aber auch nicht für eine eigene christliche Schule mit eigenem Lehrplan.

3.3 Der Warenhandel: Luxusstreben und Lasterleben Tertullian sieht in der Habsucht (cupiditas) des Menschen die Wurzel allen Übels. In ihr erkennt er die treibende Kraft für den Warenhandel, für die Teuerung von Waren und für das Luxusstreben. Könnte die Habsucht eliminiert werden, dann würde auch der Handel aus der Welt verschwinden, weil es dazu ja keinen Anlass, keine Notwendigkeit mehr gebe. Die Verbindung zwischen Handel und idololatria sieht Tertullian darin, dass über den Handel Ware getauscht wird, die sowohl den Menschen als auch den Idolen begehrenswert erscheine. Mensch und Idol würden nach denselben Dingen streben (Tertullian, De idololatria 11). Mit dem Handel gehe zudem eine weitere Verfehlung einher, nämlich die Lüge, die Tertullian als »Dienerin der Habsucht« bezeichnet (Tertullian, De idololatria 11,1). Schon wegen der Gefahr zu lügen, sei es der guten Christin und dem guten Christen verboten, Warenhandel zu betreiben. Tertullian glaubt nicht an die Existenz eines gerechten Erwerbes; aber selbst wenn es einen gerechten Erwerb gäbe: Die Handelsgeschäfte wären weiterhin mit idololatria verknüpft, weil sie in irgendeiner Form immer auf die Idole Bezug nehmen und die Dämonen stärken würden (Tertullian, De idololatria 11,2). Trotz dieser Beurteilung, die in letzter Kon-

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sequenz den Christinnen und Christen jegliche Berührung mit dem Handel untersagen müsste, gestattet Tertullian Ausnahmen. Er weiß, dass bestimmte Kräuter nicht nur kultischen Zwecken dienen, sondern ebenso medizinische Verwendung finden, was auch den christlichen Menschen zugute kommen soll. Der frühchristliche Autor erlaubt seinen Glaubensschwestern und -brüdern ebenso, Räucherwerk bei Bestattungen zu verwenden. In den genannten Fällen, und ausschließlich in diesen, sieht er im Erwerb der Ware noch nicht die eigentliche idololatria, sehr wohl aber im Handel damit. Als Christin oder Christ darf man die Ware nicht herstellen und auch nicht vertreiben. In beiden Fällen würde man – willentlich oder nichtwillentlich – anderen Menschen idololatria ermöglichen. In keinem Fall ist ein Warenerwerb aus Habgier oder Luxusstreben erlaubt. Beide Motivationen will Tertullian bei den Christinnen und Christen seiner Zeit jedoch im Übermaß erkennen (Tertullian, De idololatria 8,4f.). Die Gefahr, die vom Warenhandel ausgehe, begründet Tertullian auch damit, dass gehandelte Ware (z.B. Weihrauch) für idololatria wichtiger sei als die Idole selbst, zu deren Zweck die Ware gekauft werde (Tertullian, De idololatria 11,7). Es bestehe eine ursprüngliche dämonische Gefahr in den Waren selbst. Die Gläubigen müssten sich vor dieser Gefahr schützen. Das können sie tun, indem sie die Ware meiden bzw. nur für die genannten Zwecke (medizinische Versorgung, christliches Begräbnis) verwenden. Den handeltreibenden Personen wird auch von Tertullian an dieser Stelle eine besonders verwerfliche Rolle zugeschrieben. Sie würden nämlich dem Dämon via Räucherwerk Zutritt zur Welt ermöglichen, wodurch dieser in Kontakt mit den Menschen, vor allem mit den Christinnen und Christen, treten könne. Der Händler ermögliche den Menschen, durch Räucherwerk eine Verbindung zum Dämon aufzunehmen. Dabei spielt das Verführungsmoment durch den Dämon eine größere Rolle als die Aktivität der Menschen. Aus dem Text geht also deutlich hervor, dass dem Idol an sich keine entscheidende Bedeutung beigemessen wird; demzufolge ist es nicht durch sich selbst mächtig; es kann nicht von den Menschen ermächtigt werden – es ist der diabolus, der durch das Idol wirkt und seine Macht entfaltet.

3.4 Imago dei versus corpus facticium Schließlich wird hier noch der Frage nachgegangen, inwiefern eine von Menschen ausgeführte Veränderung am menschlichen Körper als idololatria zu verstehen ist. Pietz thematisiert in seinen genealogischen Ausführungen über den Fetisch u.a. die frühchristliche Vorstellung eines corpus facticium (Pietz 1987: 27ff.)21 und verweist in diesem Zusammen21 | Pietz setzt sich mit dem lateinischen Begriff facticium im Detail auseinander. Er beleuchtet die sprachwissenschaftliche Herleitung des Wortes eben-

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hang auf Augustinus und dessen Ausführungen zu den Eunuchen. Der christlichen Tradition folgend unterscheidet Augustinus drei Arten von Eunuchen, nämlich den natürlich geborenen Eunuchen (nativum), den gemachten Eunuchen (facticium) und den freiwilligen Eunuchen (voluntarium) (ebd.: 27f.). Konzentriert man sich auf die hier zu untersuchenden Schriften, wird deutlich, dass Tertullian häufig das Verb facere (im Sinne von »machen«) oder fieri (im Sinne von »geschaffen werden«), das Partizip factum (im Sinne von »gemacht«) oder auch das Adjektiv facticium (im Sinne von »durch Kunst gemacht« bzw. dem »Natürlichen entgegengesetzt«) verwendet, um Veränderungen am menschlichen Körper und damit den menschlichen Eingriff in die Schöpfung Gottes zu bezeichnen. Vom corpus facticium liest man jedoch nur selten und nicht im Zusammenhang mit Eunuchismus. Die Vorstellungen aber eines »widernatürlichen«, von Menschenhand gemachten, geformten oder auch veränderten Menschenkörpers sind in den Ausführungen Tertullians stets präsent und werden für sein Kampfgeschrei gegen idolatrische Handlungen herangezogen. Der jüdisch-christlichen Tradition zufolge ist der Mensch das Ebenbild Gottes (imago dei). Diese Vorstellung finden wir auch bei Tertullian thematisiert, der den Menschen als Werk und Ebenbild Gottes (»opus et imago dei«) definiert (Tertullian, De spectaculis 2,10). Eine Sonderstellung nehmen wohl die Frauen in Tertullians Schöpfungsvorstellungen ein: Als schuldhafte Eva benannt stellt er ihnen das Ebenbild Gottes, nämlich den Mann, gegenüber (Tertullian, De cultu feminarum 1,1,2).22 Dennoch so wie dessen Bedeutungen in den frühesten Belegstellen, die in der Naturgeschichte des C. Plinius Secundus (1. Jahrhundert) zu finden sind (Pietz 1987: 24-27). Er hält fest, dass facticium in diesen Kontexten überwiegend als etwas von Menschenhand Hergestelltes gedacht sei, das in Opposition zum natürlich Vorkommenden stehe. Mitunter werde mit facticium auch die Bedeutung von »nicht echt« transportiert, was dann als Gegensatz zum »Natürlichen« aufzufassen sei, das gleichsam die Bedeutung von »authentisch« und »ursprünglich« vermittle (ebd.: 25). 22 | Tertullian, De cultu feminarum 1,1,2: »[T]u imaginem dei, hominem, tam facile elisisti.« Tertullian definiert die Frau in De cultu feminarum als Eva; also als diejenige, durch die der diabolus in die Welt gekommen sei. Sie sei es, die den Mann (= das Ebenbild Gottes) verführe. Sie bringe Elend und Tod in die menschliche Welt (siehe v.a. Tertullian, De cultu feminarum 1,1). Aus diesem Grund sei es ihre vornehmliche Pflicht, besonders gottgefällig zu leben. Die Schuld, die Eva beim sogenannten Sündenfall auf sich, respektive auf alle Frauen, geladen habe, verwendet Tertullian, um seine Mitschwestern davon zu überzeugen, dass sie ihr Äußeres vernachlässigen sollten, da jede Frau noch eine »trauernde und bereuende Eva« in sich trage (Tertullian, De cultu feminarum 1,1,1). Denn wäre die Schuld (der Sündenfall) schon vergeben, müsste sich die Lage der Frauen in der Welt verbessert haben. Da Tertullian dies nicht erkennen kann, folgert er daraus, dass alle seine Zeitgenossinnen noch schuldig seien.

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inkludiert Tertullian die Christinnen in seinem feinmaschigen Regelwerk gegen idololatria. Was der Mensch auch immer tut und sagt, darf ihn nicht von Gott oder von ihm selbst, also dem göttlichen Ebenbild, entfremden. Eine Gefahr für dieses vollkommene Verhältnis zwischen Gott und Mensch will Tertullian im »widernatürlichen« Umgang mit dem Körper erkennen. Wenn Menschen Veränderungen am eigenen oder auch fremden Körper vornehmen/machen (facere), dann laufen sie Gefahr, idolatrische Handlungen zu vollziehen, weil jede diesbezügliche Veränderung als Eingriff in die göttliche Schöpfung gewertet wird. Diesen Sinnzusammenhang erklärt Tertullian in seinen Schriften anhand konkreter Beispiele; besonders deutlich in De spectaculis.23 Demnach würden die Athleten und Ringer idololatria in vielerlei Hinsicht betreiben (Tertullian, De spectaculis 18): Das Training verforme ihren gottgegebenen Körper auf »unnatürliche« Weise, es entstehe ein corpus facticium (Tertullian, De spectaculis 18,2). Damit entehrten sie das göttliche Ebenbild, das der Mensch nun einmal sei. Athleten und Ringer beleidigten Gott aber auch durch Fausthiebe und Tritte, die sie ihrem Gegner zufügten, weil sie dadurch ebenfalls das von Gott erschaffene Antlitz zerstörten. Darüber hinaus entstellten Narben und Schwielen, die sie sich im Kampf zuziehen, den eigenen Körper. Nicht besser steht es um die Schauspieler in De spectaculis: Sie vollzögen idolatrische Handlungen, nicht allein weil sie Unehrenhaftes auf der Bühne präsentieren und vielerlei Verbrechen zur Schau stellen würden, sondern auch weil sie entgegen dem Schöpfungsplan Gottes Masken tragen, sich schminken und verkleiden – oder noch schlimmer, gar in Frauenkleidung auftreten. Dass aber kein Mann »weibliches« Gewand anziehen darf, sei schon in den Schriften des Moses festgehalten.24 Der Schauspieler stelle das Künstliche, das von Menschen Kreierte par excellence dar. In ihm verkörperten und realisierten sich Grenzüberschreitungen verschiedenster Art: zwischen Männlichem und Weiblichem, Jugend und Alter, Leben und Tod, Freud und Leid. Tertullian sieht in diesen Transgressionen die göttliche Ordnung gestört, wodurch die Dämonen Zutritt zur Menschenwelt erhielten. In Anbetracht dessen, dass sich christlich Gläubige gottgefällig zu verhalten haben, provoziert Tertullian mit der Frage, was denn Gott an den Darbietungen der Schauspieler gefallen könnte, »der die Anfertigung je23 | In dieser Schrift verurteilt Tertullian die Genusssucht (voluptas) der Menschen, die sich besonders beim Besuch der Schauspiele zeigen würde (Tertullian, De spectaculis 1,1f.). Tertullian verurteilt alles in Bezug auf die Schauspiele: den Ursprung, den Ort, die damit verbundenen Rituale, die einzelnen Darbietungen, die Akteurinnen und Akteure sowie das Publikum. 24 | In diesem Zusammenhang stellt Tertullian auch noch die provokante Frage, welches Schicksal dann wohl den Pantomimen ereilen dürfte, »der sogar dazu ausgebildet wird, sich wie eine Frau zu verhalten« (Übersetzung nach Weeber 1988).

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der Nachbildung untersagt, und erst recht die seines eigenen Ebenbildes. Der Urheber der Wahrheit liebt nichts Falsches; bei ihm gilt alles, was nachgebildet wird, als Fälschung.« (Tertullian, De spectaculis 23,5)25 Aber was der Schauspieler darstelle, sei nicht echt; weder die Tränen, die er auf der Bühne vergieße, noch das Lachen, das das Publikum höre. Alles sei bloße Heuchelei (Tertullian, De spectaculis 23,6). Die Christin und der Christ müssten aber ihr Tun und Sprechen stets gottgerecht gestalten, tun sie das nicht, so begehen sie idololatria, »[…] denn alles, was nicht Gottes ist oder was Gott missfällt, ist des Teufels […]« (Tertullian, De spectaculis 24,2).26 Die Schauspieler selbst werden zum Idol, da sie – mehr Kunstwerk als Ebenbild Gottes – vom diabolus instrumentalisiert auf die Schaulustigen wirken. Aus diesem Grund verbietet Tertullian den Christinnen und Christen, an den Schauspielen in irgendeiner Form teilzunehmen (Tertullian, De spectaculis 24,7f.). Selbst vermeintlich kleine Veränderungen am Körper deutet Tertullian als idololatria. In seinem Werk De cultu feminarum wirft er Christinnen, die sich die Haare mit Safran färben, vor, Idolatrie zu betreiben (Tertullian, De cultu feminarum 2,6,3f.). Sie würden damit gegen den Plan Gottes wirken, der es vorsehe, dass die Menschen ergrauen bzw. eine ganz bestimmte Haarfarbe tragen. Darüber hinaus gebrauchen die Frauen beim Färben Mittel, die auch zur Verehrung von Idolen herangezogen würden (Tertullian, De cultu feminarum 2,6,3). Allein dieser Sachverhalt müsse es ihnen verbieten, die Ware Safran für Verschönerungszwecke zu verwenden. Aber nicht nur die Frauen, die diese Mittel anwenden, sondern auch die artifices, welche die Mittel zur Verschönerung herstellen, vergehen sich am christlichen Gott in schlimmster Weise, weil durch sie der Dämon wirke: Denn nur der diabolus stelle Mittel und Wege zur Verfügung, um den Körper des Menschen zu verändern (Tertullian, De cultu feminarum 2,5,3).27 Die Klarheit, mit der Tertullian seine Argumente gegen die »unnatürlichen« Veränderungen am Körper und am menschlichen Aussehen formuliert, wird durch seine Misogynie insofern getrübt, als er Christinnen empfiehlt, ihre »natürliche« Schönheit zu verändern, um die Christen nicht in Versuchung zu führen (Tertullian, De cultu feminarum 2,2f.): Den schönen Körper zu vernachlässigen, sei für Christinnen ebenso Gebot, wie jeden Prunk zu vermeiden. Schönheit sei überflüssig, weil sie lediglich der Sinneslust dienen würde; aber wo Sittsamkeit (pudicitia) sei, habe Schönheit (pulchritudo) keinen Platz (Tertullian, De cultu feminarum 2,3,1) – auch wenn dies bedeutet, gegen die gottgegebene Schönheit zu agieren.

25 | Übersetzung nach Weeber (1988). 26 | Ebd. 27 | Tertullian, De cultu feminarum 2,5,3: »Is est diabolus. Nam quis corpus mutare monstraret, nisi qui et spiritum hominis malitia transfiguravit.«

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4 F RÜHCHRISTLICHE IDOLOLATRIA UND IHRE B E ZÜGE ZU NEUZEITLICHEN D ISKUSSIONEN ÜBER DAS K ONZEP T F ETISCH Die Verbindung zwischen idolum und facticium lässt sich bei Tertullian darin erkennen, dass sowohl idolum als auch facticium vom Menschen angefertigt werden. Beide Begriffe stehen für etwas, das bestimmte Handlungen hervorruft, die die Christin und den Christen vom christlichen Gott entfernen. Sowohl das idolum als auch ein corpus facticium sind Medien, durch die der diabolus seine Macht entfalten kann. Das von Menschen Gemachte (facticium), darf die göttliche Schöpfung nicht stören, nicht verändern oder gar verleumden. Entehrungen dieser Art sieht Tertullian aber in vielen Handlungen seiner Mitmenschen. In seinen verbalen Attacken auf die Medien sowie auf die Dienerinnen und Diener des Dämons ist es oft schwierig, auszumachen, wo Tertullian genau die Grenze zwischen einem scheinbar gottgerechten Leben und der idololatria zieht. Es gibt nämlich kaum ein Detail des menschlichen Lebens, das nicht im Zusammenhang mit idololatria diskutiert wird. Beinahe alles steht im Verdacht, gemacht zu sein, ein facticium zu sein, das gleichsam als Medium dient, durch das der Dämon wirken kann. Überall sieht Tertullian idola und allerorts macht er idololatria aus, besonders dort, wo altitalische Gottheiten Verehrung finden. Tatsächlich waren Religion und Kult in der römischen Antike omnipräsent. Religiöse Rituale und Praktiken begleiteten den Alltag. Sie tangierten das Aktionsfeld der familia ebenso wie das der Politik, des Militärs oder der Bildung. Im antiken Rom gab es demnach viele Grenzüberschreitungen, viele Möglichkeiten zur Irritation (vgl. Antenhofer in diesem Band), wodurch die Lebenden und die Toten, das Menschliche und das Göttliche, das Reale und das Magische, die oder der Bedürftige und das Mächtige zueinander finden konnten und einander bedingten. Und hierin sieht Tertullian die besondere Gefahr für christlich Gläubige, die mit solchen Irritationen konfrontiert sind. Das Idol an sich ist materiell und formal variabel. Für Tertullian besitzen die Idole keine Macht an sich, sondern sind eine Art Fenster für den Dämon. Dieser kann aber auch ohne Idole in die Welt kommen. Die Menschen brauchen demnach nichts Gegenständliches, um mit dem »Bösen« zu verkehren. Es sind hierfür keine Idole oder Berührungen derselben notwendig. Tertullian sieht keine Vielzahl an Mächten hinter den Idolen, sondern nur den Dämon, den »einen Antigott«, der mitunter auch polymorph gedacht ist. Das Idol wird wohl von den Menschen gemacht, aber: Der Mensch entscheidet sich nicht aus freiem Willen dazu; vielmehr wird er vom Dämon dazu veranlasst, ein Idol zu erzeugen (die Motivation zur Erzeugung ist außerweltlich zu sehen). Das Idol ist zwar einem Individuum dienlich, aber weil der Dämon durch das Idol alle Menschen zu erfassen

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versucht, wird damit auf die gesamte Menschheit eingewirkt. Es ist unerheblich, ob das Idol zerstört wird oder nicht: Der Dämon wirkt weiter. Bei all diesen Ausführungen erstaunt es doch, dass der christliche Gott nur insofern greifbar wird, als die Christinnen und Christen sich nicht von ihm entfernen dürfen. Seine Allmacht diskutiert Tertullian hauptsächlich im Hinblick auf die Verdammnis, die dem Idolator droht. Der diabolus hingegen ist stets präsent; überall und allerorts.28 Er erhält in den Ausführungen Tertullians enorme Macht und Wirkkraft. Die Christinnen und Christen laufen andauernd Gefahr, seiner Macht zu erliegen. Ihre hauptsächliche Lebensaufgabe ist es – obwohl als in ihrer Willensfreiheit eingeschränkt gedacht – sich ständig für den christlichen Gott zu entscheiden. Letztendlich ist es Tertullian, der in seinen Schriften die Dämonen ins Leben ruft, der sie ermächtigt. Was Latour in Bezug auf das Konzept Fetisch ausmacht, das etwas sei, »das für sich genommen nichts, sondern bloß die leere Leinwand ist, auf die wir irrigerweise unsere Phantasien, unsere Arbeit, unsere Hoffnungen und Leidenschaften projiziert haben« (Latour 2002: 331), lässt sich in gewisser Weise mit Tertullians idololatria in Verbindung bringen. Tertullian bemalt die »leere Leinwand« mit Farben der Furcht, des Schreckens und der Verdammnis, die aus seiner speziellen christlich-theologischen Weltsicht entspringen. Nicht die Römerinnen und Römer seiner Zeit messen ihren kultischen Praktiken eine derart überdimensionale Macht bei, sondern Tertullian tut dies. Es sind nicht seine Mitmenschen, die das »Böse« in der Welt realisieren, sondern Tertullian mit seiner exklusiven Wahrheit. Latour stellt die Frage, was denn der Bilderstürmer mit seinem Hammer eigentlich zerschmettere (ebd.). In Bezug auf Tertullian wird deutlich, dass er wohl bemüht ist, Teile seiner eigenen Kreation von idololatria zu zerstören, um den in seiner christlich-theologischen Konzeption inhärenten Kampf zwischen dem »einen, wahren« Gott und dem diabolus eine Bühne zu verschaffen. Um die Worte von Latour noch einmal aufzugreifen: »Irgendwie gewinnt der Fetisch in den Händen der Antifetischisten jedoch an Festigkeit. Je größer der Wille, dass er nichts ist, desto mehr Handlung schnellt von ihm zurück.« (Ebd.: 332; Hervorhebung laut Textausgabe) Auch diesbezüglich lässt sich eine Entsprechung in Tertullians Verständnis von Idolatrie finden: Die Macht der Idole wird real und omnipräsent, weil Tertullian darüber spricht. Je intensiver er sich mit den Idolen und den dahinterstehenden Mächten auseinandersetzt, desto wirkmächtiger werden die von ihm bekämpften Kräfte – in diesem Sinne will ich hier Tertullian als Antifetischisten bezeichnen.

28 | Selbst durch die Bilder der Toten, die gleichsam Idole seien, sieht Tertullian die Dämonen wirken: »In mortuorum autem idolis daemonia consistunt.« (Tertullian, De spectaculis 12,5)

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Columbans gestohlener Handschuh – ein (Anti-)Fetisch? Beobachtungen zur Hierarchie und Macht der Objekte Albrecht Diem

Handschuhe sind faszinierende, aber auch höchst ambivalente Objekte. Sie reproduzieren, transformieren, betonen und bedecken den wohl sexuellsten aller Körperteile; sie bilden eine zweite Haut, die die Berührung des anderen verhindert oder zumindest modifiziert, sie erlauben uns aber auch, mit dem in Berührung zu kommen, was eigentlich nicht angefasst werden sollte.1 Handschuhgeschichten haben ein gewisses Potential, die Grenzen der Zwischenmenschlichkeit ins Zentrum zu rücken. Glove stories sind love stories der besonderen Art. Neben so vielen Devianzen hin zum Marxismus (Artous und Grigat in diesem Band) und zum Bart des Tiroler Propheten (Oberhofer in diesem Band), haben wir es hier mit einem echten Fetisch zu tun. Die Tatsache, dass unser Handschuh gestohlen, entfremdet, weggerissen wurde (Freud 1948), deutet sogar auf eine Geschichte vielfacher Grenzüberschreitungen hin. Zwar handelt es sich nicht um den im schwarzen Lackstiefel eingeschnürten Fuß, doch die Phantasie ist angeregt.2 Dies war zumindest meine Wahrnehmung nach der Ankündigung, über einen gestohlenen Handschuh zu sprechen. Der Fetisch wirkt. In diesem Fall erweist er sich als nützliches Instrument im Kampf um die Aufmerksamkeit der Leserinnen und Leser. Er funktioniert allerdings auch im weiteren Sinn, wenn auch nicht als »heuristische Kategorie«, denn ich glaube, ehrlich gesagt, nicht daran, dass der Versuch, all das, was mit dem Begriff Fetisch belegt werden will, miteinander zu versöhnen, etwas hervorbringen kann, das mehr als nur geistreich 1 | Dieser Artikel entstand während eines durch die Solmsen-Foundation geförderten Forschungsjahres am Institute for the Study of the Humanities an der University of Wisconsin-Madison. Ich möchte mich bei Miriam Czock, Hubertus Lutterbach und Matthieu van der Meer für ihre Kommentare und Anmerkungen bedanken. 2 | Zum Problem des Fußnotenfetischismus siehe Bauerlein (2010).

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oder ästhetisch ansprechend wäre (was natürlich der gemeinsame Nenner aller geisteswissenschaftlichen Forschung sein sollte). Wir können uns vielleicht darauf einigen, den Fetisch als ein künstliches Objekt zu definieren, das irgendeine Art von Macht hat – eine ziemlich vage Definition.3 Er mag dann durchaus als heuristisches Werkzeug dienen, und er tut seinen Dienst in meinem Fall, denn mein verlorener Streit, dem Fetisch Sinn zu geben, brachte tatsächlich einigen – unerwarteten – Erkenntnisgewinn. Nachdem meine Einleitung die Leserin und den Leser wohl erfolgreich in den Text gelockt hat, muss ich bekennen, dass diese Untersuchung eine Liebe zum Gegenstand hat, die nichts mit Sex und nur sehr wenig mit Erotik zu tun hat: meine eigene Liebe zum Forschungsfeld des frühmittelalterlichen Klosterwesens. Selbst die Tatsache, dass sich dieser Artikel mit Klostergemeinschaften des dunkelsten Mittelalters beschäftigt, kann in dieser Hinsicht wenig Aufregendes bieten (für weitere Enttäuschungen siehe Diem 2001; 2005; 2010). Mein Aufsatz behandelt tatsächlich Grenzüberschreitungen, allerdings vor allem im räumlichen Sinne. Das Hauptthema ist jedoch die Heiligkeit und Macht von Objekten, vor allem Objekten des täglichen Gebrauchs, wie z.B. der gestohlene Handschuh des irischen Wandermönchs Columban (gest. 614). Die Frage, ob es sich bei diesem Handschuh um einen Fetisch handelt, kann ich allerdings nicht definitiv klären. Dies überlasse ich gerne meinen Mitfetischistinnen und Mitfetischisten. In Jonas von Bobbios Vita Columbani finden wir die folgende Episode: »Als der gesegnete Columban zum Essen ins Kloster Luxeuil kam, legte er die Handschuhe (die Gallier nennen sie wanti), die er gewöhnlich für die Arbeit nutzte, auf einen Stein vor dem Eingang des Refektoriums. Bald darauf flog ein diebischer Rabe heimlich heran und trug einen der Handschuhe in seinem Schnabel weg. Nach dem Essen kam der Mann Gottes nach draußen und verlangte nach den Handschuhen. Als alle Mönche untereinander fragten, wer den Handschuh weggenommen hat, stellte der heilige Mann fest, dass es wohl niemand wagen würde, irgendetwas ohne Erlaubnis anzufassen, außer jenem Vogel, der von Noah ausgesandt wurde und nicht zur Arche zurückkehrte. Er fügte hinzu, dass der Rabe nicht in der Lage sein werde, seine Jungen zu füttern, wenn er den gestohlenen Gegenstand nicht eiligst zurückbringe. Vor den Augen der Brüder flog der Rabe in ihre Mitte und brachte mit seinem Schnabel zurück, was er zuvor so frech entwendet hatte. Er versuchte nicht einmal wegzufliegen, sondern erwartete – seine tierische Natur vergessend – vor den Augen aller seine Bestrafung, bis der heilige Mann ihm befahl wegzufliegen. Wie wunderbar ist doch die Macht des ewigen Richters, der seinen Dienern solche Macht verleiht, dass er nicht nur 3 | Falls wir uns zugestehen, dieses Ding nicht ausschließlich materiell aufzufassen, wäre ein wunderbares Beispiel für einen Fetisch der Fetisch. Diejenigen, die sich gelehrt mit dem Fetisch beschäftigen, wären somit selbst typische Fetischisten. Eine hervorragende Übersicht zur Geschichte des Begriffs bietet Pietz (1985; 1987; 1988).

C OLUMBANS GESTOHLENER H ANDSCHUH – EIN (A NTI -)F ETISCH ? durch die Verehrung der Menschen gerühmt wird, sondern auch durch den Gehorsam von Vögeln!« (Jonas, Vita Columbani, Buch I, c. 15, 81, im Folgenden VCol) 4

Außer dieser amüsanten kleinen Begebenheit enthält die Vita Columbani eine ganze Reihe von Tierwundern, die von Historikerinnen und Historikern meistens überblättert wird (Diem 2007: 542f.). Die Vita Columbani kann als das Programm der sogenannten irofränkischen (bzw. columbanischen) Klosterbewegung der ersten Hälfte des 7. Jahrhunderts angesehen werden. Diese monastische Reformbewegung hat eine Welle von Klostergründungen innerhalb der merowingischen Königreiche hervorgebracht und dadurch maßgeblich mitgeprägt, was wir als mittelalterliches Klosterwesen ansehen. Damit gehört Jonas’ Text wohl zu den wichtigsten Quellen zur Geschichte des westlichen Klosterwesens, und ich halte die Tierwunder für einen Schlüssel zum Verständnis dieses Textes. Anhand der Begegnungen zwischen dem Heiligen und Tieren erklärt Jonas, wie sich die nichtklösterliche Welt gegenüber Klöstern und deren Gemeinschaften zu verhalten hat. Selbst wilde Tiere erkennen von sich aus die Macht eines heiligen Mannes und seiner Anhänger; viele Menschen müssen dies erst noch lernen, und diejenigen, die nicht lernen wollen, kommen in ernstliche Schwierigkeiten. Die Rabengeschichte hat verschiedene Bedeutungsebenen. Ein gebildeter mittelalterlicher Leser wird unseren Raben mit jenem Vogel verbinden, der Antonius und Paul, den Eremiten mit Brot versorgte (Hieronymus, Vita Pauli, c. 10, col. 25B). Er wird wahrscheinlich auch an den Raben denken, der widerwillig das Brot entsorgte, mit dem Benedikt von Nursia vergiftet werden sollte (Gregor I, Dialogi II, c. 8, 162, im Folgenden Dial). Anders als diese beiden Vögel muss unser Rabe, da er heimlich und unerlaubt ins Kloster eingedrungen ist und Klosterbesitz gestohlen hat, mit der Strafe des Heiligen rechnen. Jonas’ Publikum wird wahrscheinlich auch erkannt haben, dass der Rabe mit seinen Jungen für den merowingischen König Theuderich II. (gest. 613) und seine Kinder steht. Theuderichs sündiges Leben und sein ungebührliches Verhalten waren für Columban der Grund, sich zu weigern, die Kinder des Königs zu segnen. Stattdessen verkündete der Heilige, dass keiner von ihnen jemals den Thron besteigen würde (VCol I, c. 19, 87). Dem Raben erging es besser, weil Tiere eben mehr begreifen (Lutterbach 2001: 775-780).

1 H EILIGE A LLTAGSGEGENSTÄNDE Was uns hier interessiert, ist der Handschuh – übrigens einer der wenigen, die in einem frühmittelalterlichen Text erscheinen. Dies mag der Grund dafür sein, warum Jonas den Begriff ins Fränkische übersetzt. 4 | Alle Übersetzungen sind von mir angefertigt, soweit nicht anders angezeigt. Seitenzahlen verweisen auf die Edition des lateinischen Textes.

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Bevor ich auf diesen ungewöhnlichen Gegenstand eingehe und die Frage erörtere, ob der Fetischbegriff hier hilfreich ist, will ich zunächst die anderen Tierwunder der Vita Columbani kurz beschreiben. Die meisten dieser Wunder befassen sich im weitesten Sinne mit Räumen und erklären, wie Außenstehende (Wölfe, Bären und Geier) die Raumansprüche des Heiligen und des Klosters zu respektieren haben. Die Geschichten bauen hierbei deutlich aufeinander auf. Zunächst erzählt Jonas von einer unangenehmen Begegnung Columbans mit einem Wolfsrudel. Die Wölfe beschnüffeln die Kleider des Heiligen, tun ihm aber sonst nichts (VCol I, c. 8, 74). Columbans Kleidung bildet eine Grenze zwischen seinem Körper und der Außenwelt, die selbst von Wölfen respektiert wird. Bald darauf trifft der Heilige auf einen Bären, der zufällig in genau der Höhle wohnt, in der sich der Heilige als Eremit verbergen will. Der Bär überlässt Columban willig seinen Platz und trollt sich (ebd.). Dieses Wunder definiert den vom Heiligen eingeforderten Raum. Später (nach der Rabenepisode, die ebenfalls das Eindringen in den klösterlichen Raum behandelt) findet Columban einen toten Hirschen und beschließt, dass dessen Haut zu Schuhen für seine Mönche verarbeitet werden soll. Deshalb befiehlt er einem anderen Bären, der sich gerade daran machen will, den Hirschen zu verspeisen, sich so lange zurückzuhalten, bis die Mönche ihre Arbeit getan haben. Als seine Mönche das tote Tier finden, ist es von einem weiten Kreis von Geiern umgeben, die damit eine Art Bannkreis markieren, furchtsam warten und sich nicht an den Kadaver heranwagen, bevor er von den Mönchen ausgeweidet ist (I, c. 17, 83). Die Anweisungen des Heiligen gelten für alle (Tiere). Er muss nicht einmal anwesend sein, diese durchzusetzen. Im letzten Tierwunder macht sich ein Bär über die Äpfel eines Obstgartens her, der eigentlich den Heiligen hätte ernähren sollen. Ein Zögling Columbans einigt sich mit dem Bären, den Obstgarten friedlich zu teilen. Die eine Hälfte gehört dem Heiligen, die andere Hälfte darf der Bär selbst benutzen (I, c. 27, 104). Die Nutzung von Besitz muss zum Vorteil beider Parteien ausgehandelt werden, und Konflikte zwischen dem Kloster und der Außenwelt sollten friedlich und einvernehmlich gelöst werden. Die Vita Columbani erzählt von mehreren Konflikten, die eben nicht in dieser Form ausgetragen wurden, was im Allgemeinen für diejenigen, die ungerechtfertigt klösterlichen Besitz für sich beanspruchten, schlecht ausging. In kaum einem Heiligenleben lassen so viele Gegner des Heiligen und seiner Klöster ihr Leben wie in der Vita Columbani. Die Handschuhgeschichte bildet damit ein Glied in einer argumentativen Kette, die beim heiligen Mann beginnt und bei der klösterlichen Institution endet und dabei erklärt, wie sich die Macht des Heiligen auf das von ihm gegründete Kloster überträgt. Es ist zwar, wie wir von Jonas lernen, absolut notwendig, den Heiligen zu respektieren und ihm kein Haar zu krümmen, doch das ist nicht genug. Jedwede Institution, die von dem Heiligen oder in seinem Namen gegründet wurde, hat den gleichen Status wie er selbst und verdient denselben Respekt.

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Bei Columbans Handschuh handelt es sich nicht, wie man zunächst annehmen könnte, um eine Berührreliquie, also um ein Objekt, dessen Macht (virtus) darauf beruht, dass es vom Heiligen berührt oder benutzt wurde. Er hat nichts zu tun mit dem geteilten Mantel, den der Heilige Martin einem Bettler gibt, der sich danach als Christus herausstellt (Sulpicius Severus, Vita Martini, c. 3, 256ff.), oder mit der Sandale des Honoratus, mit der Kranke geheilt werden können (Dial II, c. 2.5-7, 26-30) bzw. (als Extrembeispiel) mit den Maden, die aus dem Körper des lebendig verwesenden Säulenheiligen Simeon kriechen und wie Perlen gesammelt wurden (Vita Simeonis Stylitae, c. 8, col. 329A-B).5 Für Jonas ist der Handschuh ein, vermutlich mit Dreck und Erde beschmiertes, Werkzeug, das Columban verwendete, während er gemeinsam mit den anderen Mönchen seines Klosters auf dem Feld arbeitete. Es handelt sich dabei nicht einmal um seinen »eigenen« Handschuh. Jonas verwendet an keiner Stelle Possessivpronomen, was auch logisch ist, denn warum hätte sich der Heilige jenen Eigenbesitz zugestehen können, der jedem Mönch nachdrücklich verboten ist. Insgesamt vermeidet es die Vita Columbani, die virtus des Heiligen in irgendeinem materiellen Gegenstand bzw. einer Reliquie zu verorten. Das von Jonas entwickelte Ideal ist gänzlich »knochenfrei« und »objektfrei«; die Heiligkeit des Heiligen überträgt sich auf jedwede Gemeinschaft, die seiner (wohl abstrakt zu verstehenden) regula folgt und ist weder von seiner körperlichen Anwesenheit (in Form von Reliquien) noch von spezifischen sakralen Gegenständen abhängig (Diem 2005; 2008a). Alles, was zum Kloster gehört, ist – wie im Folgenden dargestellt wird – gleichermaßen heilig, allerdings nicht als Objekt, das das Kloster heilig macht, sondern als Objekt, das vom Kloster heilig gemacht wird. Alltagsgegenstände (Werkzeug, Essgerät, Kleidung, Bücher, aber auch Nutztiere) erscheinen gelegentlich in narrativen Quellen zum frühen Klosterwesen, doch stehen sie selten im Zentrum der Erzählungen. In den Geschichten der Wüstenväter, den Vorläufern des organisierten klösterlichen Lebens, tauchen vereinzelt Gegenstände des täglichen Gebrauchs auf, um die Verachtung des Asketen für weltliche Güter zu unterstreichen (z.B. in Pelagius, Verba Seniorum, Buch VI, Sp. 888B-893A). Manch heiliger Mann und manche Klostergemeinschaft werden dafür gepriesen, dass sie sich willig ihr Eigentum rauben oder zerstören ließen, um dadurch zu demonstrieren, wie überflüssig Besitz eigentlich ist (z.B. Dial I, c. 2.2-3, 24ff.; I, c. 3.2, 24). Reliquien und Gegenstände, die mit Liturgie und Gottesdienst zu tun haben, haben dagegen einen anderen 5 | Martins cappa wurde später zur wertvollsten Reliquie der fränkischen Könige. Sie wurde in einem speziellen Raum, der capella, aufbewahrt, deren Wächter man capellanus nannte, wovon sich Kapelle und Kaplan ableiten. Die Geschichte der Sandale hat wahrscheinlich die entsprechende Episode im Life of Brian inspiriert. Filme der Monty-Python-Truppe zeichnen sich häufig durch bemerkenswerte Quellenkenntnis aus.

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Status (z.B. Caesarius of Arles, Ep. Vereor, c. 5.8-10, 314; Gregor von Tours, Liber in gloria confessorum, c. 84, 545). Wer sich an ihnen vergreift, muss mit Gottes Strafe bzw. dem Ärger des Heiligen rechnen, es sei denn, der Heilige will gestohlen werden, was häufiger vorkommt, als man erwarten würde (Geary 1991). Columbans gestohlener Handschuh fällt somit aus dem Rahmen und lässt sich nicht in gängige Objektbewertungen des frühen Klosterwesens einordnen. Jonas von Bobbios Vita Columbani gehört zu einer Gruppe von Texten (oder, in den Worten von Brian Stock aus dem Jahr 1983, zu den Produkten einer textual community), die die Ideale und die Praxis des columbanischen Klosterwesens aus unterschiedlichen Blickwinkeln, jedoch bemerkenswert einheitlich beschreibt: Columbanische Klöster waren vollkommen integriert in die politischen Strukturen im Frankenreich unter merowingischer Herrschaft. Viele dieser Klöster entstanden in Zusammenarbeit zwischen Königen, Bischöfen und adeligen Familien und wurden damit wichtige Faktoren zur Schaffung sozialer Kohäsion. Das Ideal klösterlicher Weltabgewandtheit verband sich hierbei mit einer eminenten politischen, sozialen und wirtschaftlichen Rolle innerhalb der Welt, was unweigerlich zu Spannungen führte. Eine Option, diese Spannungen aufzulösen, bestand im Anspruch, dass der klösterliche Raum, seine Grenzen und sein Besitz von der Außenwelt zu respektieren und zu schützen sei. Als Gegenleistung präsentierten sich Klöster als Orte einer durch strenge monastische Disziplin sichergestellten Reinheit, die ihre Gemeinschaften zu wirkungsmächtigem, fürbittendem Gebet für die Außenwelt qualifizierte. Der geschützte klösterliche Raum (die Quellen nutzen die Ausdrücke locus sanctus, septa secreta oder septa monasterii) und die Gemeinschaft der Mönche und Nonnen unter der von Columban auferlegten Regel bildeten sozusagen die hotline to heaven im Hinterhof der Mächtigen. Jemandem, der sich mit der Geschichte des mittelalterlichen Klosterwesens beschäftigt, wird nichts von alledem ungewöhnlich vorkommen, denn mittelalterliche Klöster funktionierten vorwiegend nach diesen Prinzipien, die sich allerdings in weiten Teilen tatsächlich auf das columbanische Klosterwesen zurückführen lassen. In dieser Periode hat sich der fundamentale Übergang vom Ideal der Wüstenväteraskese zum organisierten Klosterwesen weitgehend vollzogen. Columbans gestohlener Handschuh mag diese Transformation zwar nicht erklären; er kann jedoch dazu beitragen, diesen Prozess produktiv zu komplizieren und als »Fallstudie« unseren Blick auf die Beziehung zwischen Objekt und Raum innerhalb von Prozessen der Institutionalisierung zu schärfen. Die columbanische textual community produzierte weitere Quellen, in denen Alltagsgegenstände vorkommen und die somit belegen können, dass es sich bei Columbans Handschuh nicht nur um ein narratives Element einer Geschichte handelt, die zu anderen Zwecken erzählt wurde. Jonas von Bobbios weniger bekannte Vita Iohannis Reomaensis (das Leben des Abtes Johannes von Reomeé) enthält eine ähnliche Wundererzählung, in der allerdings keine Tiere vorkommen: Die Mönche des Klosters

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Reomeé jäten ihre Felder und werden von ihrem Abt ins Kloster zurückgerufen. Sie lassen augenblicklich ihre Arbeitsgeräte fallen, um seinem Befehl so schnell wie möglich nachzukommen. Als sie zur Arbeit zurückkehren, müssen sie entdecken, dass jemand ihre Sicheln gestohlen hat. Daraufhin tadelt der Heilige seine Gemeinschaft ob ihrer Nachlässigkeit, befiehlt seinen Mönchen zu beten und betet selbst, um Schaden von seinem Kloster abzuwenden. In dem Moment merkt der Dieb, dass sein Diebesgut dem Kloster gehört. Er eilt daraufhin auf dem schnellsten Weg zum Heiligen, gibt die Sicheln zurück, bittet um Vergebung und bietet dem Kloster als Wiedergutmachung Geschenke an (Jonas, Vita Iohannis, c. 7, 509f.; siehe dazu Diem 2008b). Auch diese Geschichte hat verschiedene Bedeutungsebenen. Sie betont, dass die Mönche auf den Feldern arbeiten sollen (was in der Zeit von Jonas nicht mehr selbstverständlich ist), und zeigt, dass es nötig ist, trotz bedingungslosen Gehorsams, nicht der Sünde der Nachlässigkeit (negligentia) anheimzufallen. Weiterhin betont sie die Wirkungsmacht des Gebetes des Heiligen, aber auch der Gemeinschaft, und zeigt uns darüber hinaus, dass Klosterbesitz sakrosankt ist und auf keinen Fall entfremdet werden darf. Wenn man schon stiehlt, dann auf jeden Fall nichts aus dem Kloster. Eine weitere Gruppe von Quellen, die sich mit den materiellen Gegenständen befasst, sind königliche und bischöfliche Urkunden. Eine der Auswirkungen der columbanischen Klosterbewegung war die Neuordnung der rechtlichen Stellung von Klöstern innerhalb königlicher und bischöflicher Machtstrukturen. Klöster (zumindest einige und zunächst vor allem solche, die nach der Regel Columbans gegründet wurden) erwarben bischöfliche Privilegien und königliche Immunitätsurkunden, die die Freiheit von wirtschaftlicher Einflussnahme, das Recht freier Abtwahl durch die Gemeinschaft sowie den Schutz der klösterlichen Grenzen und des klösterlichen Eigentums garantieren sollten. Eines der wichtigsten Modelle dieser Urkunden war das Privileg, das in den 30er Jahren des 7. Jahrhunderts für das columbanische Kloster Rebais ausgestellt wurde. Es enthält den folgenden, etwas verklausulierten Passus: »Deshalb verkünden wir in vollkommener Eintracht auf Bitten der genannten Männer von heiligster Frömmigkeit, dass es so von allen beschlossen wurde, dass, was auch immer dem genannten Kloster [Rebais] beziehungsweise den dort in evangelischer Frömmigkeit lebenden Mönchen durch sie selbst, durch ihre Familie oder als königliches Geschenk an Feldern, Höfen, Diensten, heiligen Büchern oder irgendwelchen edlen Gegenständen, die zum Gottesdienst gehören, aber auch allen anderen Dingen übergeben wurde oder dereinst übergeben wird, sowie alles, was auf dem Altar übertragen wird und was wem auch immer von Gott inspiriert gegeben wurde, weder zu unseren Lebzeiten noch unter unseren Nachfolgern kein einziger Kleriker oder Bischof, aber auch keine königliche Hoheit für seinen eigenen Gebrauch gänzlich oder teilweise beanspruchen darf.« (Privileg von Rebais, Sp. 1135B-C; siehe auch Rosenwein 1999, 66-74)

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Dem Privileg von Rebais liegt ein Beschluss eines Konzils zugrunde, das im Jahr 583 (also vor Columbans Ankunft in Gallien) stattgefunden hat. Dort wurden königliche Gaben an drei burgundische Klöster unter besonderen Schutz gestellt (Concilia Galliae, 236), wobei ausschließlich von liturgischen Gegenständen, nicht aber von den im Rebais-Privileg erwähnten »caeteris rebus, collata, aut deinceps collatura« die Rede ist. Anders als sein Vorläufer, stellt das Rebais-Privileg damit die »anderen« Gegenstände im Kloster auf dieselbe Ebene wie die liturgischen. Die wohl detaillierteste Quelle zur Rolle von Alltagsgegenständen in columbanischen Klöstern ist eine anonym überlieferte Nonnenregel, die in den Handschriften als Regula cuiusdam ad virgines (»Die Regel von jemandem für Jungfrauen«) bezeichnet wird. Dieser Text, der von zahlreichen inhaltlichen und terminologischen Parallelen zur Vita Columbani durchsetzt ist, zeigt, welche Rolle Alltagsgegenstände für die klösterliche Disziplin in columbanischen Klöstern spielten. Die Tatsache, dass die Regel als Nonnenregel überliefert ist, braucht uns in diesem Fall nicht zu interessieren, da keine der hier genannten Bestimmungen geschlechtsspezifisch ist. Vermutlich hat es ähnliche Regeln auch für columbanische Mönchsklöster gegeben.6 Eine direkte Vorlage der Regula cuiusdam bildet die Regula Benedicti, der Regeltext, der sich zwei Jahrhunderte später zur alleingültigen Regel des westlichen Klosterwesens entwickelte. Mehr als zwei Drittel der Regula cuiusdam modifizieren entsprechende Bestimmungen der Regula Benedicti und lehnen sich in Terminologie und Struktur stark an ihr Vorbild an. Ein Vergleich beider Texte macht deshalb deutlich, welche Inhalte der Regula cuiusdam tatsächlich neu sind und vermutlich spezifisch columbanische Ideen vermitteln. Neben ihrer direkten Abhängigkeit von der Regula Benedicti ist die Regula cuiusdam eingebettet in eine lange Tradition lateinischer monastischer Regeln. Viele dieser Regeln enthalten Bestimmungen, in denen nachlässiger Umgang, Verlust oder Zerstörung mit bzw. von Gegenständen aus Klosterbesitz bestraft werden, was darauf hindeutet, dass es sich hierbei um ein echtes Problem handelte. Wahrschein6 | Die Regula cuiusdam ad virgines entstand in der Mitte des 7. Jahrhunderts. Drei weitere columbanische Klosterregeln sind erhalten, zwei von ihnen, die Regula monachorum und die Regula coenobialis, sind Columban selbst zugeschrieben. Bei der dritten, der Nonnenregel des Donatus von Besançon, handelt es sich um ein Florilegium aus älteren Klosterregeln. Alltagsobjekte erscheinen vor allem in der Regula cuiusdam und in etwas geringerem Maße in der Regula coenobialis. Eine Neuedition der Regula cuiusdam, in der ihre Rolle innerhalb des columbanischen Klosterwesens ausführlich beschrieben wird, ist in Vorbereitung. Die hier verwendete Satznummerierung folgt der Edition der Concordia regularum des Benedikt von Aniane, in der fast die gesamte Regula cuiusdam verarbeitet ist. Eine vollständige deutsche Übersetzung erscheint in Diem (2011). Die hier auf Deutsch zitierten Stellen stammen aus dieser Übersetzung. Siehe zu dieser Regel auch Diem (2007; 2010).

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lich muss sich letztlich jede Gemeinschaft, in der es keinen Eigenbesitz gibt, mit dem Mangel an Verantwortungsbewusstsein für den geteilten Besitz auseinandersetzen. Die Mehrheit der Klosterregeln, einschließlich der Regula Benedicti, betrachtet den sorglosen Umgang mit Klosterbesitz vor allem als ein disziplinarisches Problem.7 Einige bezeichnen jedoch jeglichen Klosterbesitz ausdrücklich als sakrales Gut.8 Die Regula cuiusdam stellt sich zwar eindeutig in diese Tradition und umgeht damit ihr direktes Vorbild, die Regula Benedicti, geht aber darüber hinaus, indem sie Nachdruck darauf legt, dass jeglicher nachlässige Umgang mit diesem Gut tatsächlich auch als Sakrileg zu betrachten ist. Nicht weniger als sieben der 24 Kapitel der Regula cuiusdam befassen sich ausschließlich oder teilweise mit dem Umgang mit Alltagsgegenständen. Als Ausgangspunkt soll die folgende Bestimmung im Kapitel zur Pförtnerin (Portaria) dienen: »Gefäße und andere Geräte, die sie [die Pförtnerinnen] zum Dienst an den Gästen verwenden, sollen sie behandeln und bewachen, als seien sie Gott geweiht, damit sie nicht durch ihre eigene Nachlässigkeit von diesem keinen Lohn erhalten, dessen Eigentum sie nicht davor bewahren, geraubt zu werden.« (Regula cuiusdam ad virgines, c. 3.22, im Folgenden Rcui) Dieser Absatz formuliert einige der Schlüsselideen der Regula cuiusdam im Hinblick auf Alltagsgegenstände, die sich dann in diversen anderen Zusammenhängen innerhalb der Regel wiederfinden. Alle Gegenstände, selbst die Teller und Becher zur Bewirtung von Gästen außerhalb der Klausur, sind sakrale Gegenstände. Sie gehören Gott – eine Aussage, die sich in keiner anderen Klosterregel findet.9 Aus diesem Grund ist die Verantwortlichkeit derer, die diese Gegenstände bewachen, letztlich nicht weniger als eine Angelegenheit von Leben und Tod bzw. von ewigem Lohn oder ewiger Verdammnis. Ein weiteres Detail: Die Teller und Becher unterliegen wohl vor allem deshalb strenger Kontrolle, weil sie außerhalb des Innenbereichs des Klosters von Leuten verwendet wurden, die nicht zur Klostergemeinschaft gehörten (Effros 2003). Die dem zugrunde liegende Verbindung zwischen Objekt und Raum manifestiert sich in einer anderen Stelle im Kapitel zur Pförtnerin. Die 7 | Regula Pachomii, Praecepta, c. 125, 46 und Praecepta atque instituta c. 5-7, 54-55; Regula magistri, c. 16.40-61 und c. 17, 80-88; Caesarius of Arles, Regula ad virgines, c. 32.5, 212; Regula Pauli et Stephani, c. 35, 122; Regula Donati, c. 62.7, 299. 8 | Regula Basili, c. 103-104, 132-133; Regula quatuor partum, c. 3.28-30, 198; Cassian, Institutiones IV, c. 19.3, 148; Regula cuiusdam ad monachos, c. 28, 31-32. 9 | In späterer monastischer Tradition wird Klosterbesitz zunehmend dadurch gerechtfertigt, dass das Kloster faktisch Eigentum seines Patronheiligen ist. Ein berühmtes Beispiel ist das im Jahr 910 gegründete Kloster Cluny, das seine Unabhängigkeit von regionalen Machstrukturen dadurch erreichte, dass es sich als Privatbesitz des Apostels Petrus definierte.

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Pförtnerin ist vor allem dafür verantwortlich, dass keine Person, keine Information und kein Objekt die Grenzen der Klausur ohne das Wissen und die Zustimmung der Äbtissin überschreitet (in beide Richtungen). Alle Gegenstände, die ins Kloster gelangen, werden einem Ritual unterworfen, das wiederum ausschließlich in der Regula cuiusdam beschrieben ist: »Und was sie von draußen an Geschenken oder Gaben von anderen empfangen, sollen sie keinesfalls in den Keller bringen, bevor es vor dem Gebetshaus niedergelegt wurde, und die gesamte Gemeinschaft gemeinsam für denjenigen betet, der (die Gabe) dargebracht hat.« (Rcui, c. 3.12)

Dieses Ritual bezieht sich zwar an erster Stelle auf die schenkende Person und liefert fürbittendes Gebet als Gegengabe, doch verleiht es vermutlich auch den ins Kloster gebrachten Gegenständen einen speziellen Status. Sie bekommen sozusagen einen Gebetsstempel aufgedrückt. Die Feststellung, dass der sorgfältige oder nachlässige Umgang mit Klostergut letztlich eine Frage von (ewigem) Leben und Tod ist, findet sich an mehreren Stellen wieder, z.B. im Kapitel zur Priorin und (wenn auch weniger explizit) in den Bestimmungen über die Pflichten der Magazinverwalterin (cellararia).10 Darüber hinaus behandelt ein ganzes Kapitel der Regel die Frage des Umgangs mit Alltagsgegenständen innerhalb des Klosters. Auch hier geht es ums Ganze, also um Lohn und Verdammnis: »Die Werkzeuge des Klosters und alles, was die Gemeinschaft zum Arbeiten benötigt, unterliegen der Sorge der Äbtissin. Und innerhalb der Gemeinschaft sollen solche gesucht werden, bei denen sowohl die Aufmerksamkeit des Geistes wach als auch die Festigkeit ihres Gewissen erwiesen ist, und diesen soll die Sorge dafür übertragen werden, dass alles, was nötig ist, entsprechend der Möglichkeiten zugeteilt wird. Sie sollen diese Geräte oder was auch immer ihnen durch die Äbtissin anvertraut ist, mit aufmerksamem Eifer der Furcht bewachen, sodass sie den Lohn für die ihnen aufgetragene Sorge erhalten und kein Urteil der Verdammnis auf sich ziehen. Dabei sollen sie sich immer vor Augen halten: Verflucht sei, wer das Werk des Herrn nachlässig tut (Jeremiah 48, 10).« (Rcui, c. 13)

Dieses Kapitel beruht auf c. 32 der Regula Benedicti, in dem unangemessener Umgang mit Klostergut zwar eine Bestrafung gemäß der Regel nach sich zieht und ebenfalls verurteilt wird, in dem jedoch keineswegs von Fluch und Verdammnis die Rede ist. 10 | Rcui, c. 2.14-15 (zur Priorin): »Auf das Eigentum des Klosters, sowohl auf die Gefäße als auch den Hausrat, verwende sie solch aufmerksame Sorge, dass sie keinesfalls durch die Schatten der Nachlässigkeit geschwärzt gefunden werde, damit sie, während sie alle Sorge heiliger Mühe verwendet, vom Allmächtigen die Frucht der Mühe erhalte.« Siehe auch c. 4.8-9 (zur celleraria): »Sie soll sich um alle ihr anvertrauten Gegenstände kümmern. Jedoch soll sie es nicht wagen, irgendetwas ohne die Zustimmung der Äbtissin auszuführen.«

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Einen augenscheinlich etwas nachgiebigeren Ton schlägt ein Kapitel der Regel an, das sich mit dem Problem der negligentia beschäftigt: »Das Vergehen der Nachlässigkeit, dessen sich viele in vielen Fällen schuldig machen, ist nach der Einschätzung der Äbtissin zu beurteilen. Das bedeutet, dass diejenige, die im Refektorium, in der Küche, im Dormitorium oder bei irgendwelchem Gebrauch etwas zerbrochen oder verloren oder durch Nachlässigkeit fallen gelassen hat, gemäß ihrer Umstände zu beurteilen ist und je nach ihrem zarten, hohen oder kräftigen Alter zu bestrafen ist. Denn, wenn im Kleinen das Laster der Nachlässigkeit nicht gebessert wird, wird der Geist, der durch kleine Schuld lasterhaft geworden ist, (auch) größere Vergehen begehen. Wenn einer Schwester ein solches Unglück passiert ist, und sie sofort der Äbtissin oder der Priorin eine vollkommene Beichte ablegt, wobei sie überzeugend darstellen kann, dass das, was sich ereignet hat, nicht ihr Wille war, genügt es, dass sie das, dessen sie sich schuldig gemacht hat und was sie begangen hat, obwohl es (ihr) möglich wäre, nicht leugnet, und sich bessert durch die Genugtuung der Vergebung. Wenn aber etwas nicht durch ihre eigene Beichte, sondern durch den Bericht einer anderen bekannt wird, so unterwerfe sie sich einer Buße, so, wie es die Größe ihrer Schuld erfordert, weil sie ihre Schuld nicht durch vollkommene Beichte bekannt hat. Wenn sie aber aufgrund einer größeren Schuld etwas begangen hat, das einen größeren Schaden an der Seele bewirkt, soll sie dieses heimlich durch vollkommene Beichte freiwillig der Äbtissin bekennen, damit sie nicht, während sie sich durch die Lauheit ihres Geistes schämt ihre Schuld zu enthüllen, mit der Schuld ihres Vergehens die Fratze des Teufels in ihrem Inneren bewahrt.« (Rcui, c. 16)

Auch dieses Kapitel geht auf die Regula Benedicti zurück (Regula Benedicti, c. 46, 594-596, im Folgenden RBen). Was sich in der Regula Benedicti in diesem Zusammenhang nicht findet, ist der Aspekt einer flexiblen, der jeweiligen Motivation angepassten Bestrafung sowie die Forderung nach sofortiger Beichte. Auch die Fratze des Teufels kommt bei Benedikt nicht vor. Bei der Beichte handelt es sich um einen zentralen Aspekt columbanischer Klosterdisziplin, der in Jonas’ Vita Columbani und in Columbans Regula coenobialis erwähnt und in Kapitel sechs der Regula cuiusdam ausführlich beschrieben wird. Dieses Kapitel unterwirft alle Nonnen einem strengen Ritual von Beichte, Buße und fürbittendem Gebet, das sich als das einzige Mittel erweist, sich von Schuld und Sündigkeit zu reinigen und der ewigen Verdammnis zu entgehen (siehe dazu Diem 2005: 260266, 336-339; Diem 2011). Die Regula cuiusdam mag zwar zugestehen, dass gelegentlich Dinge kaputtgehen, betont aber, dass es sich hierbei um eine Angelegenheit handelt, die so ernst ist, dass sich die Schuldige sofort diesem Beichtritual unterwerfen muss. Ein weiteres Kapitel der Regula cuiusdam behandelt einen praktischen Aspekt der Sorge für Alltagsgegenstände: Diejenigen, die den wöchentlichen Küchendienst ausüben, müssen am Ende ihrer Schicht alle be-

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nutzten Kochgeräte in perfektem Zustand der Priorin präsentieren, um dadurch einer strengen Bestrafung zu entgehen. Auch die Arbeit in der Küche erweist sich als für das Seelenheil so gefährlich, dass die Nonnen dafür das fürbittende Gebet der Klostergemeinschaft benötigen. »Und alle Gefäße, die sie zum notwendigen Gebrauch benutzt haben, sollen sie gewaschen der Priorin darbieten. Gleichfalls sollen sie (die Schwestern) bitten, für sie zu beten, und sie sollen diesen Vers beim Gebet sprechen: Weil Du, Herr, mir geholfen hast, hast Du mich auch getröstet (Ps. 85, 17). Wegen jeder einzelnen Nachlässigkeit sollen sowohl die Köchinnen als auch die Kellermeisterinnen an normalen Tagen mit fünfundzwanzig Schlägen auf die Hand gebessert werden, damit sie nicht, während sie kleine Schuld gering schätzten, plötzlich in größere abgleitend gefunden werden.« (Rcui, c. 12.27-29)

Diese Bestimmung erweitert ein entsprechendes Kapitel der Regula Benedicti, in dem lapidar festgestellt wird, dass die Mönche den Küchendienst in wöchentlichen Schichten zu tun haben und am Ende ihre Gerätschaft zurückgeben müssen (RBen, c. 35.10-11). Für Benedikt handelt es sich schlicht um eine organisatorische Angelegenheit. Etwas weniger explizit, doch inhaltlich ähnlich ist die Columban selbst zugeschriebene Regula coenobialis. Hierbei handelt es sich um ein faszinierendes internes klösterliches Bußbuch, das mit der Aussage beginnt, dass Beichte und Buße notwendig sind, um sich von ewiger Verdammnis zu lösen (Columban, Regula coenobialis, c. 1, 144). Die Regel befasst sich nicht im Detail mit dem Ritual der Beichte, liefert dafür aber eine lange Liste von Vergehen, die entweder als Sakrileg oder zumindest als für die Gemeinschaft schädlich beschrieben werden. Diese Liste enthält mehrere Vergehen, die sich auf Alltagsgegenstände oder Nahrungsmittel beziehen und meistens Körperstrafen nach sich ziehen. Es mag zwar ein Unterschied bestehen zwischen dem Vergehen, vor dem Essen kein Gebet über seinen Löffel zu sprechen (sechs Schläge), die Lampe beim Anzünden nicht zu segnen (sechs Schläge), mit dem Messer in den Tisch zu schneiden (zehn Schläge), Essen zu verschwenden, zu krümeln oder Bier zu verschütten (die Gemeinschaft muss in dem Fall für den Sünder beten) oder das Chrisam fallen zu lassen (zwölf Schläge) bzw. die Hostie zu erbrechen (20 Tage Fasten), doch gehören diese Vergehen für den Autor der Regula cuiusdam in dieselbe Kategorie von Vergehen, die durch Beichte und Buße behandelt werden müssen (Regula coenobialis, c. 8/13/15, 146/154/162).

2 D ER F E TISCH GEHT : D AS K LOSTER ALS AMORPHER R AUM Texte der Aufklärung, die die Kategorie des Fetischs verwenden, postulierten nicht selten Verbindungen zwischen »primitiver« Religiosität und den als abergläubisch bezeichneten religiösen Praktiken insbesondere der römisch-katholischen Kirche. Reliquien, Kreuze und Objekte, die beim

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Wunder der Transsubstantiation eingesetzt werden, sollten beweisen, wie nahe christliche religiöse Praxis den magischen Handlungen afrikanischer Urvölker steht (Böhme 2006: 178-186; Kohl 2003: 69-85). Heutzutage hat es kaum mehr etwas mit Polemik zu tun, wenn das Christentum im weiteren Zusammenhang vergleichender religionswissenschaftlicher Forschungen betrachtet wird (vgl. z.B. Angenendt 1994b: 9-23) und nur wenige werden sich darüber aufregen, wenn das Modell des Fetischs (zu Recht oder zu Unrecht) auf Reliquien, Reliquienbehälter oder liturgische Gegenstände angewandt wird. Wenn der Fetisch als machtvoller Gegenstand definiert wird, dessen Macht kaum etwas mit seiner eigentlichen Materialität zu tun hat, liegt es nahe, den Becher, dessen Wert im Gebrauch für die Eucharistie besteht, oder den Knochen bzw. den Sack Staub aus einem Grab, der Menschen über Tausende von Kilometern anzieht, für den Kriege geführt und Frieden geschlossen werden, mit anderen Fetischen zu vergleichen (zur Macht von Reliquien siehe Brown 1981: 86-105; Angenendt 1994b; Hardt 2004: 132ff.). Ich möchte vorschlagen, diesem »christlichen« Fetisch (aber möglicherweise auch Fetischen im Allgemeinen) eine weitere Dimension zu verleihen: Fetische schaffen Hierarchien. Sie fordern von sich selbst den höchsten Rang in einer Hierarchie der Objekte ein und machen sich bei Weitem wertvoller als ihr eigentlicher »Materialwert«. Sie etablieren aber auch Hierarchien des Raumes, die sich durch Nähe und Abstand manifestieren, und sie bilden Hierarchien von Personen und Gruppen auf Basis von Zugänglichkeit und Ausschließung. Auch wenn es sich bei Columbans Handschuh sicherlich um einen machtvollen Gegenstand handelt, der seinen Dieb und dessen ganze Familie ruinieren kann und bewirkt, dass ein Vogel seine tierische Natur überwindet, lässt sich dieser nicht in irgendeine Hierarchie der Objekte einordnen. Es ist, abgesehen davon, dass er keinesfalls aus dem Kloster weggetragen werden darf, kein besonderer Gegenstand. Als solcher eröffnet er uns damit einen Zugang zu einem sehr viel breiteren »Hierarchieproblem«, durch das sich das columbanische Klosterwesen sowohl von seinen Vorläufern als auch von seinen Nachfolgemodellen unterscheidet. Zu den verschiedenen Modellen klösterlichen Gemeinschaftslebens vor Columbans Ankunft im fränkischen Gallien gehörte die Coemeterialbasilika, ein Grab eines oder mehrerer Heiliger (üblicherweise Märtyrer), das von einer Klostergemeinschaft umgeben und »verwaltet« wird, das die Memoria und den Kult am Leben erhält und der oder dem Heiligen einen Aktionsradius bietet (Angenendt 1994a; Young 2002). Die meisten Klöster nach der columbanischen Reform funktionierten nach einem ähnlichen Prinzip und organisierten sich um eine(-n) oder mehrere Heilige (bzw. deren Reliquien) herum. Wir können uns das damit verbundene Raumkonzept am besten wie eine Zwiebel vorstellen, die aus einer Reihe konzentrischer Ringe besteht. Die heilige Person steht im Mittelpunkt; sie ist umgeben vom Altar, der sich in der Klosterkirche befindet, die von den Mönchen bzw. Nonnen

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im Innenbereich des Klosters benutzt wird. Dieser Innenbereich bildet das Zentrum der klösterlichen Anlage, die wiederum im Mittelpunkt des klösterlichen Wirtschaftsraums steht, welcher beträchtliche Ausmaße annehmen kann. Die weitesten Kreise werden durch den Aktionsradius des bzw. der Heiligen gebildet, also durch den Raum, in dem Wunder stattfinden, sowie den Bereich, in dem das im Kloster vollzogene fürbittende Gebet wirkt. Bischöfliche und königliche Privilegien und Immunitäten erklären das gesamte regnum, die patria und die ecclesia zu Nutznießern des klösterlichen Gebets (siehe zum klösterlichen Raum auch Rosenwein 1999, vor allem 156-183). Peter Brown beschreibt die Reliquie als den Ort, an dem sich Himmel und Erde berühren (Brown 1981: 1-22); Mircea Eliade evoziert in seiner klassischen Studie Das Heilige und das Profane das Bild der axis mundi, um die herum sich die Heiligkeit des Ortes manifestiert (Eliade 1959: 20-65). Beide Modelle lassen sich auf die meisten klösterlichen Räume anwenden, doch funktionieren sie im Falle des columbanischen Klosterwesens nicht, oder zumindest nur teilweise. Columbanische Klöster haben keinen Mittelpunkt, keine heilige Person, um die sich durch Nähe und Distanz ein heiliger Raum manifestiert. Der locus sanctus, der sowohl in der Vita (vor allem aus der Außenperspektive) als auch in der Regula (vor allem aus der Innenperspektive) beschrieben wird, definiert sich durch seine Grenzen, durch die septa monasterii. Was sich innerhalb dieser Grenzen befindet, ist zwar strukturiert, aber, genau wie die sich im Raum befindlichen Objekte, nicht notwendigerweise hierarchisiert. Der klösterliche Innenbereich ist unterteilt in Orte zum Beten, Essen, Arbeiten und Schlafen, doch gibt es keine Hinweise, dass irgendein Ort heiliger wäre als der andere. Dieses Konzept eines amorphen heiligen Ortes, der sich nicht durch die Nähe zum Mittelpunkt definiert, sondern durch seine Außengrenzen, war offensichtlich so ungewöhnlich und konfliktträchtig, dass Jonas ihn mit einigem Aufwand erklären und verteidigen musste. Nicht nur die Tierwunder dienten diesem Zweck, sondern auch der dramatische Höhepunkt der Vita Columbani, der »Showdown« zwischen dem Heiligen und König Theuderich II. mit seiner bösen Großmutter Brunichildis, der vor dem Hintergrund eines historischen Ereignisses erzählt wird, welches dem Publikum der Vita Columbani sicherlich bekannt war, nämlich der Auslöschung des ganzen Zweiges der merowingischen Herrscherfamilie, der von Brunichildis abstammte. Alle Untaten, die Theuderich beging, hätten ihm vergeben werden können, nicht aber, dass er − angestiftet von seiner Großmutter − unerlaubt in Columbans Kloster eindrang und die septa secreta verletzte. Damit zeichnete er, wie Jonas betont, sein eigenes Todesurteil. Es gibt wahrscheinlich kaum eine effektivere Weise, seine Leserinnen und Leser von der Bedeutung klösterlicher Außengrenzen zu überzeugen (VCol I, c. 19, 88; siehe auch Diem 2007). Die Abwesenheit einer räumlichen Hierarchie innerhalb der von der Außenwelt getrennten klösterlichen septa hat für die klösterliche Disziplin weitreichende Folgen. Wo keine Hierarchie des Raumes besteht, gibt

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es auch keine Hierarchie der Zeit. Klösterliche Zeit mag zwar ebenfalls strukturiert sein und sich in Zeiträume des Gebets, des Essens, der Arbeit und des Schlafs aufteilen, doch kein Moment ist heiliger als der andere. In anderen klösterlichen Modellen sind die Gebetszeiten das eigentliche opus Dei, weshalb viele Klosterregeln (einschließlich der Regula Benedicti) der Gebetsdisziplin besonders breiten Raum einräumen. Für die Regula cuiusdam ist dagegen jeder Moment des Tages und der Nacht opus Dei. Die Nonnen sind sozusagen im Dauereinsatz, was zur Folge hat, dass es bei jeder Handlung »ums Ganze« geht. Nicht weniger als 27 Mal erinnert die Regula cuiusdam daran, dass, was auch immer eine Nonne, eine Priorin, Magazinverwalterin oder Äbtissin tut, sich direkt auf das Seelenheil oder das Verderben ihrer selbst, aber auch der ganzen Gemeinschaft auswirkt.11 Das Kloster und seine spirituelle Macht sind beständig durch menschliche Schwäche, Sündigkeit, Nachlässigkeit und selbst durch die geringsten Fehler gefährdet. Das einzige, was hilft, ist das sich beständig wiederholende Ritual von Beichte, Buße und fürbittendem Gebet. Gemäß der Regula cuiusdam muss jede einzelne Nonne zumindest drei Mal täglich alles beichten, was sie getan hat, was ihr geschehen ist, aber auch was sich in ihrem Inneren abspielt. Die Beichte jeder Nachlässigkeit im Umgang mit Klostereigentum ist nur ein Teilaspekt dieser extrem rigiden Beichtdisziplin. Jeder Mensch (im Kloster, aber auch außerhalb) ist unheilbar an seiner bzw. ihrer Sündigkeit erkrankt und bedarf daher beständig der medicamenta paenitentiae (ein Schlüsselbegriff der Vita Columbani). Metaphern der medizinischen Behandlung und Heilung sind deshalb über die ganze Regula cuiusdam verteilt (vgl. z.B. Rcui 1.12-13; 6.12; 7.2-3; 17.5; 20.2-8).

3 D ER F E TISCH KEHRT ZURÜCK Es ist an der Zeit, ein letztes Mal zu Columbans Handschuh zurückzukehren. Als machtvolles, aber auch gefährliches Objekt hat er Zugang zu einem sehr spezifischen monastischen Ideal und disziplinierenden System geliefert und uns damit sensibilisiert, ähnliche Fragen an andere Gemeinschaftsmodelle zu richten. Als Alltagsgegenstand, der die Macht aller zum Kloster gehörigen Gegenstände lediglich repräsentiert, ihnen aber nicht überlegen ist, kann man ihn allerdings wohl eigentlich nicht als Fetisch bezeichnen. Jonas von Bobbio spricht, wie gesagt, nicht einmal von seinem Handschuh (der Begriff suus oder eius erscheint nicht im Text), was auch in zweifacher Hinsicht nicht funktionieren würde, denn Columban würde sich sicherlich nicht selbst vom Ideal individueller Besitzlosigkeit ausschließen, und es ist auch nicht wahrscheinlich, dass er, 11 | Vgl. Rcui, c. 1.15; 1.18-19; 3.6; 3.25; 4.3; 4.16; 4.21; 5.14-21; 5.26; 6.13; 7.1; 8.7; 9.5; 9.19; 10.10; 12.15; 12.18; 13.4-6; 14.8; 16.4; 16.9-10; 17.3; 17.11; 20.8; 22.3; 24.3.

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der einen Großteil seiner Zeit als Eremit verbringt, dabei ständig ein Paar Handschuhe mit sich herumträgt. Bereits zwei Generationen nach Columbans Tod lässt sich erkennen, dass das Experiment, einen heiligen Raum ohne Hierarchie und Mittelpunkt, einzig und allein auf Basis von Disziplin und Abgrenzung zu errichten, auf lange Sicht scheitert und durch pragmatischere Konzepte zur Etablierung eines locus sanctus ersetzt wird. Reliquien, Altargegenstände und andere heilige Objekte und die von ihnen gebildeten Hierarchien kehren zurück, wenn auch nicht ganz ohne Widerstand. Wir können dies anhand der Vita des Bischofs Eligius von Noyon beobachten. Eligius war ein leidenschaftlicher Unterstützer des columbanischen Klosterwesens und zugleich ein Förderer der Heiligenverehrung, er fertigte als Goldschmied eigenhändig prächtige Reliquiare an. Wenn wir der von Audoin von Rouen (einem anderen Anhänger Columbans) verfassten Vita Eligii Glauben schenken können, trennte Eligius allerdings seine Tätigkeit als Klostergründer und -förderer von seiner Unterstützung von Heiligenkulten. Solignac und andere von ihm gegründete Klöster erhielten keine Reliquien, sondern die Regula des Columban (Audoin, Vita Eligii, I, c. 15-18, 681-684). Als Eligius starb (um 660), versuchte jedoch die merowingische Königin Balthild, sich des Körpers des Heiligen zu bemächtigen und ihn in ihr Kloster Chelles zu überführen. Eligius war damit allerdings nicht einverstanden. Der tote Heilige setzte seine Leichenstarre strategisch ein und ließ sich so lange nicht bewegen, bis beschlossen wurde, ihn dort zu begraben, wo er hingehörte, nämlich in die Kathedrale von Noyon (II, c. 37-38, 721-722). Die der Vita Eligii später zugefügte Sammlung von Wunderberichten zeigt allerdings, dass der Heilige sich letztlich nicht hatte durchsetzen können, denn einige dieser Wunder ereigneten sich in Chelles und anderen Klöstern, über die Eligius’ Knochen dann doch verteilt wurden. Ich möchte diese Übersicht mit einem weiteren, in narrativer Form präsentierten klösterlichen Programm abschließen. Etwa 200 Jahre nach Jonas von Bobbio schrieb der Mönch Ardo die Vita Benedikts von Aniane (gest. 821), einem der führenden Köpfe der monastischen Reformen, die sich unter Karl dem Großen und seinem Sohn Ludwig dem Frommen vollzogen und dazu führten, dass Klöster, uniformiert durch die bindende Norm der Regula Benedicti, zu tragenden Säulen karolingischer Herrschaft werden konnten (de Jong 1995). Ardo wollte mit seiner Vita erklären, wie sich karolingisches Reformmönchtum ohne Brüche und gänzlich unkorrumpiert aus seinen radikalasketischen Wurzeln herausentwickeln konnte. Er vermittelte dies, indem er Benedikt selbst das Entstehen des Klosterwesen »verkörpern« ließ. Sowohl der Heilige selbst als auch seine Hauptgründung Aniane durchliefen alle Stadien der monastischen Institutionalisierung, blieben dabei aber immer der Regula Benedicti treu. Benedikt von Aniane begann seine monastische Karriere als asozialer, stinkender, in Lumpen gekleideter Asket, der von seinen Mitmönchen verachtet wurde. Er entdeckte

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dann allerdings seine Liebe zur Regula Benedicti, erkannte seine Berufung als Lehrer monastischen Lebens, verließ sein Kloster und gründete seine eigene Gemeinschaft, die zunächst in strenger gemeinschaftlicher Armut und ständig am Rande des Verhungerns lebte (Ardo, Vita Benedicti Anianensis, c. 2.7-8, 201f.). Benedikt baute für sein Kloster eine nachdrücklich schmucklose Kirche, verachtete seidene liturgische Gewänder und nutzte nur widerwillig zinnernes Altargut anstatt einfacher Holzgefäße (c. 4.12, 203; c. 5.14, 204). Selbst in diesem Zustand absoluter Armut verzieh er einem Dieb, der sich mit den Werkzeugen des Klosters davonmachte und ließ einen anderen Dieb laufen, der dem Kloster ein Pferd stahl (c. 4.13, 204; c. 10-11, 205). Der heilige Mann und seine Gründung wurden bekannt und berühmt; das Kloster wuchs und wurde schließlich von Karl dem Großen »aufgekauft« und mit einer Urkunde unter seinen Schutz gestellt, die der für Rebais ausgestellten Bischofsurkunde in weiten Teilen ähnelt. Trotz seines Ruhmes und seiner Macht blieb Benedikt unverändert (wie Ardo in seiner Vita ausdrücklich betont); nur sein Geschmack änderte sich dramatisch. Der ehemalige Stinkmönch baute nun eine prächtige Kirche mit edelsten Materialien, stattete sie mit silbernem Altargut aus, erwarb Reliquien von Martin von Tours und Benedikt von Nursia und entwickelte eine Vorliebe für exquisite priesterliche Gewänder (c. 17.26, 206). Anianes Heiligkeit materialisierte sich – und das ist gut so, wie uns Ardo erklären will. Benedikts Desinteresse für Alltagsgegenstände blieb ihm allerdings erhalten. Was er erhielt, gab er willig an andere Klöster weiter, und was gestohlen wurde oder verschwand, kümmerte ihn weiterhin kaum (c. 16.24, 205; c. 19.28, 208). Was nicht zur höheren Ehre Gottes und zum Ruhm der Heiligen beitrug, war ihm letztlich auch nicht wichtig (c. 25.38, 210). Der Handschuh kann verschwinden, doch der religiöse Fetisch kehrt zurück. Die in dieser kleinen Studie formulierten Beobachtungen sind vorläufiger Natur und beruhen auf Beispielen, die nicht notwendigerweise von sich beanspruchen können, ein Gesamtbild zu repräsentieren. Was ich zu zeigen hoffe, ist, dass selbst innerhalb eines scheinbar kohärenten christlichen Diskurses die Haltung zu Gegenständen und ihrer Macht tiefgreifenden Veränderungen unterworfen sein konnte. Ein genauer Blick auf die Quellen erlaubt uns, Gegenstände zu historisieren, denen innerhalb großer theoretischer Modelle (einschließlich des Fetischkonzepts) allzu häufig Universalität unterstellt wird. Das (vorläufige) Resultat dieser Untersuchung lässt sich in zwei größere Zusammenhänge einfügen, die beide in weiterführenden Studien untersucht werden sollten. Auf der einen Seite geht es um die Frage der Organisierbarkeit und Legitimation von Heiligkeit – eines der Grundprobleme monastischen Lebens, seitdem Augustinus festgestellt hat, dass die dem Menschen innewohnende Sündigkeit durch gute Werke und asketische Leistungen nicht überwunden werden kann. Auf der anderen Seite ist mittelalterliches Klosterwesen das Resultat einer tiefgreifenden Transformation der Askese, die sich von ihren radikalen Ursprüngen emanzi-

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pieren musste, um das Entstehen dauerhafter monastischer Institutionen zu ermöglichen. Ein wichtiger Bruchpunkt ist der Übergang von kollektiver Armut zur besitzenden (und schon bald sehr reichen) Institution. Das columbanische Klosterwesen löste dieses Problem dadurch, die zum Kloster gehörigen Gegenstände zu heiligen Objekten zu erklären, worin sich zeigt, wie gering der Abstand zwischen dem unreinen und dem heiligen Objekt mitunter sein kann.

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Der Fetisch als heuristische Kategorie: (A-)Symbolische Strukturen und rhetorische Argumentationsmuster

Fetish of Empire Das psychoanalytische Fetischkonzept als heuristische Kategorie zur Untersuchung der Idee einer imperialen Weltordnung? Ulrich Leitner

1 E INLEITUNG Warum Krieg? – Eine Frage, die nach dem 11. September 2001 gerne gestellt wird und an die große pazifistische Schrift Sigmund Freuds von 1932 erinnert. Freud hat hierin einen historischen Vergleich angestellt und daraus einen prognostischen Blick in die Zukunft gewagt. »Ein Blick in die Menschheitsgeschichte zeigt uns«, so erklärte Freud, »eine unaufhörliche Reihe von Konflikten zwischen einem Gemeinwesen und einem oder mehreren anderen, zwischen größeren und kleineren Einheiten, Stadtgebieten, Landschaften, Stämmen, Völkern, Reichen, die fast immer durch die Kraftprobe des Krieges entschieden werden« (Freud 1932: 17). Freud sah die Geschichte nachdrücklich durch den Gegensatz zwischen Recht und Gewalt geprägt, der überwunden werden müsse, wenn Menschen friedlich zusammenleben wollen. »Gewalt wird gebrochen durch Einigung, die Macht dieser Geeinten stellt nun das Recht dar im Gegensatz zur Gewalt des Einzelnen.« (Ebd.: 15) Gewalt würde auch innerhalb dieser geeinten Gemeinschaft noch prägend sein, aber Notwendigkeiten und Gemeinsamkeiten ließen diese Konflikte eine friedliche Lösung finden. Freud kam zum Schluss: »Eine sichere Verhütung der Kriege ist nur möglich, wenn sich die Menschen zur Einsetzung einer Zentralgewalt einigen, welcher der Richterspruch in allen Interessenskonflikten übertragen wird. Hier sind offenbar zwei Forderungen vereint, daß eine solche übergeordnete Instanz geschaffen und daß ihr die erforderliche Macht gegeben werde.« (Ebd.: 18)

Nach den Attentaten von 9/11 wurden diese Forderungen in der breiten Öffentlichkeit und einer wissenschaftlichen Debatte laut, die sich die Frage

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U LRICH L EITNER

nach Krieg und Frieden im 21. Jahrhundert stellte. In einer amerikanischen Zentralgewalt – verkörpert in der Idee eines American Empire als eine allen anderen Gemeinwesen übergeordnete politische Instanz – sahen moderne Imperiumstheoretikerinnen und -theoretiker die Verhütung von Krieg durch die Institutionalisierung eines imperialen Friedens nach dem Vorbild einer Pax Romana gesichert. Gegner/-innen dieser imperialen Idee warfen den Fürsprechern/-innen des imperialen Ordnungsgedankens vor, politische Ereignisse zu symbolisieren. Das führe dazu, dass beim Subjekt Abwehrmechanismen greifen, sodass Verleugnung, Abspaltung und Projektion die Folge seien. Das eigene »Böse« werde durch diese Mechanismen einem äußeren Anderen übergestülpt, der das personifizierte »Böse« symbolisiere, das ständig gegen das Kant’sche Prinzip des »Ewigen Friedens« ankämpft. Imperiumsbefürworter/-innen seien daher Fetischisten, ihr Fetisch die Idee eines Imperium Americanum, so die Argumentation. Der vorliegende Aufsatz zeichnet die Argumente der Befürworter/-innen und der Kritiker/-innen der imperialen Idee nach; der Fokus liegt auf der Verwendung des Begriffs Fetisch. Zunächst wird 1) die Idee einer imperialen Weltordnung vorgestellt, indem ihre Hauptmerkmale im Unterschied zu einem Modell interdependenter Beziehungen veranschaulicht werden. Anschließend wird 2) anhand der Kritik des amerikanischen Politologen David McNally an den Äußerungen des Imperiumsbefürworters Michael Ignatieff beschrieben, woran Imperiumsgegner/-innen den Fetischcharakter der imperialen Idee festmachen. Darauf folgt 3) eine Auseinandersetzung mit den Begriffen Fetisch und Totem nach Sigmund Freud, um 4) die Frage nach dem Ursprung des Fetischs des Imperiums stellen zu können. Hierbei wird auf sozialpsychologische Erklärungsmuster der Ereignisse nach 9/11 zurückgegriffen. Ziel des vorliegenden Aufsatzes ist es, herauszustellen, ob sich das psychoanalytische Fetischkonzept nach Freud als heuristische Kategorie eignet, um die Idee einer imperialen Weltordnung kritisch hinterfragen zu können.

2 D IE IMPERIALE I DEE In der Beurteilung der internationalen politischen Beziehungen können grundsätzlich zwei Positionen unterschieden werden: Die erste sieht das globale Mächteverhältnis als interdependentes Netzwerk, in welchem staatliche und nichtstaatliche Akteure eine von gegenseitiger Abhängigkeit geprägte Beziehung unterhalten; die äußerste Ausprägung dieser Position stellt die Idee einer Global Governance dar. Für die zweite Position sind einzig Staaten die wirklich wichtigen Akteure der Weltpolitik. Nicht Interdependenz, sondern Dependenz prägt die politische Welt von diesem Blickwinkel aus. Die äußerste Ausprägung dieser Position stellt die Idee eines Staates als Zentrum eines Imperiums dar, von welchem alle anderen staatlichen Akteure als Peripherien stark oder weniger stark abhängig sind (ausführlich Leitner 2010; 2011).

F ETISH OF E MPIRE

2.1 Global Governance Staatsmächte (powers) sind die grundlegenden Einheiten, die zur Analyse der internationalen Beziehungen herangezogen werden. Die USA sind die einzige Macht, die militärisch in der Lage und politisch gewillt ist, global zu agieren; sie werden in der politologischen Fachsprache daher als superpower bezeichnet. Daneben existieren great powers, die stark sind, aber nicht global agieren können, und sogenannte regional powers, deren Wirkungsfeld regional verhaftet bleibt (Buzan 2004). Die USA werden mit »EU-ropa« zumeist durch ein enges Verhältnis verbunden dargestellt, welches durch ein gemeinsames Werte- und Gesellschaftsverständnis begründet gesehen wird. Beide sind neben Japan und einigen Pazifikstaaten (Pacific Rim) Teil einer wirtschaftlich stark verflochtenen Triangel. Die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union stehen mit Russland, (im ostasiatischen Raum) China und Japan sowie (im südasiatischen) Indien, Brasilien und Südafrika auf der zweiten Ebene der globalen Mächtehierarchie. Auf der dritten Ebene befinden sich Pakistan, der Iran, Israel, die Ukraine und Südkorea als regional agierende Mächte (Höll 2003). EIGEN-/FREMDBEZIEHUNG: Identitätsbildung durch Bestimmung des Eigenen und des Anderen (z.B. : arabische Welt: Dialog versus Kampf der Kulturen)

INTERNATIONALE ORGANISATIONEN und INTERNATIONALE KONZERNE: Sie beeinflussen staatliches Verhalten hinsichtlich einer engeren Kooperation

USA

Pacific Rim r ts c Tr h a f ian tli ge che l

d - un tsr te We l s c h a f s el ndni s e G stä ver

wi

GB

EU D

Brasilien

F

Südafrika

Russland

Südwestasien Pakistan Iran

MEDIENSYSTEM: Möglichkeit der Ausübung von Druck auf die Akteure der Weltpolitik und Beeinflussung durch mediale Konstruktion der politischen Wirklichkeit

Naher Osten Israel

(Ostasien) China Japan

(Südasien) Indien

Ukraine Südkorea

Netzwerk interdependenter Beziehungen der internationalen Politik

ÜBERREGIONALER TERRORISMUS und religiös motivierter FUNDAMENTALISMUS als wesentliche, konfliktträchtige Herausforderungen des internationalen Systems

Abb. 1: Modell des Netzwerkes interdependenter Beziehungen der internationalen Politik

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Werden die internationalen politischen Beziehungen aus dem Blickwinkel einer vom Prinzip der Global Governance geprägten Sichtweise gedeutet, bilden neben den Staatsmächten zwischenstaatliche soziale Institutionen einen weiteren Kreis internationaler Akteure. Diese sind mit den staatlichen Akteuren in einem komplizierten Netzwerk gegenseitiger Abhängigkeiten verwoben. Zu ihnen gehören internationale Organisationen (z.B. die Vereinten Nationen), internationale Regime (sie legen gemeinsame Regeln und Verhaltensnormen fest und beruhen zumeist auf bi- oder multilateralen Verträgen), internationale Netzwerke (z.B. die G-8-Gipfel) und internationale Konventionen (z.B. das Völkerrecht). Durch diese wird ein Regieren jenseits der Staatsmächte möglich (Zürn 1998). Medien und die Netzwerke des internationalen Terrorismus üben Druck auf das globale System aus. Gemeinsam bilden staatliche und nichtstaatliche Akteure ein politisches Machtfeld mit mehreren Machtzentren, welches vor allem durch das Prinzip gegenseitiger Abhängigkeit und durch komplexe interdependente Machtstrukturen geprägt ist.

2.2 Imperium Das Hauptmerkmal einer imperialen Weltordnung ist nicht Interdependenz, sondern Dependenz. Die Deutung der Weltpolitik mit einem imperialen Weltordnungsmodell ging nach 9/11 stark in die politikwissenschaftliche und publizistische Debatte um die Stellung der USA im globalen System ein. Der Begriff Imperium wurde dabei in sehr undifferenzierter Weise verwendet, indem die Rolle der Supermacht zum Wirken eines Weltstaates weitergedacht wurde. Als Weltstaat sind die USA das Zentrum einer imperialen Ordnung. Substaaten unterhalten untereinander starke Beziehungen und sind nicht formal vom Zentrum abhängig. Die formale Abhängigkeit von Substaaten wird »historischen« Imperien (vor allem dem Imperium Romanum) als prägendes Merkmal zugeordnet. Das moderne amerikanische Imperium unterscheide sich hier von seinen »historischen« Vorbildern und könne daher nicht als formal empire bezeichnet werden, so die Argumentation. Imperiumstheoretikerinnen und -theoretiker berufen sich daher auf ein sogenanntes informal empire, um den globalen Machteinfluss der USA mit einem imperialen Ordnungsmodell beschreiben zu können. Das American informal Empire übe imperiale Macht global aus und zwar vor allem durch seine weitreichende Militärkapazität (nach Joseph S. Nye als hard power zu bezeichnen), aber auch durch die Lenkung von Kommunikations- und Kapitalströmen, den Einfluss auf internationale Organisationen, seine starke Währung und seine kulturelle Anziehungskraft (soft power). Michael Ignatieff, ein prominenter Verfechter der Imperienthese, hat Amerika mit einer viel zitierten Formel als empire lite bezeichnet. Es sei »eine Großmacht ohne Kolonien, seine Einflusssphäre erstreckt sich über die ganze Welt, doch muss es weder die Last der direkten Verwaltung noch das Risiko auf sich nehmen, tagtäglich für Ruhe und Ordnung

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zu sorgen«, so Ignatieff (2003a: 9f.). Die Merkmale dieser neuartigen imperialen Macht seien freie Märkte, Menschenrechte und Demokratie, »durchgesetzt mit Hilfe der abschreckendsten Militärmacht, die es jemals gegeben hat« (Ignatieff 2003: 17). Ein demokratisches System dürfe zur Verfechtung dieser Grundwerte auch kleinere Übel (lesser evil) – mit bewusster Inkaufnahme eines moralischen Risikos – begehen, um sich selbst vor einem größeren Übel zu bewahren (Ignatieff 2004). Größere Übel könnten sogenannte neue Kriege darstellen, welche geprägt sind durch ihren asymmetrischen Charakter, ihre Entstaatlichung und die Autonomisierung kriegerischer Gewalt (Münkler 2002). Amerika sei in der Rolle eines Weltpolizisten, der aber seine Grenzen erkennen müsse und imperiale Macht nicht mit imperialer Herrschaft verwechseln dürfe, »weil sein Hauptfeind nicht ein Staat ist, dem man mit Abschreckung, Einflußnahme und Zwang entgegentreten kann, sondern eine im Dunkeln operierende Zelle von Fanatikern, bei denen sich Abschreckung und Zwang als wirkungslos erwiesen haben« (Ignatieff 2003: 33). Der moderne Terrorismus als Inbegriff neuer Kriegsführung mache die imperiale Macht trotz ihrer überwältigenden Militärmacht verletzlich.

3 D IE IMPERIALE I DEE ALS F E TISCH Der amerikanische Politologe David McNally hat in seinem Aufsatz Imperial Narcissism: Michael Ignatieff’s Apologies for Empire Michael Ignatieffs Befürwortung der imperialen Idee kritisiert und ihm imperialen Narzissmus und die Fetischisierung der imperialen Idee vorgeworfen. Ignatieff fetischisiere die Idee eines amerikanischen Imperiums, indem er in narzisstischer Art und Weise in der imperialen Ordnung sein eigenes – als Ideal vorgestelltes – Selbstbild sehe, so McNally. Er schreibt über Ignatieff: »So enamoured is he of his fantastic self-reflection that he continues to take it for reality, blindly bowing down before his fetish, his idea of empire, his imagined self image.« Die Idee eines Imperiums verleugne aber etwas Darunterliegendes, nämlich »the reality of an imperial war machine that trains death squads, tortures prisoners, murders civilians« (McNally 2006: 105). Diese Verleugnung mache den Fetischcharakter der imperialen Idee aus. Bereits die gewählte Begrifflichkeit lässt erkennen, dass McNallys Vorstellung des Fetischkonzepts vom sexuellen Fetisch der Psychoanalyse geprägt ist. Er definiert mit Verweis auf Sigmund Freud: »[…] fetishism crucially involves structures of denial. In place of real objects and relations, the fetishist substitutes imaginary ones. And where the psychology of fetishism is concerned, what is denied is projected on to ›evil‹ Others. In the Case of the Western colonialists, practices of pillage and terror are denied, only to be replaced in the imagination by uplifting ›ideas‹ – civilization, morality, progress – meant to redeem the imperial cause. Simultaneously, the violence

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U LRICH L EITNER and terror whose reality is denied are attributed to the ›uncivilized‹ and ›barbaric‹ colonized peoples themselves.« (Ebd.: 88)

Zwei Grundmuster des imperialen Beziehungsgeflechtes müssen hervorgehoben werden, um verstehen zu können, warum McNally den Begriff Fetisch im psychoanalytischen Sinne nach Freud für seine Kritik am imperialen Ordnungsschema verwendet. Sie charakterisieren das imperiale idealisierte Selbstbild, welches McNally als Fetisch bezeichnet. Es sind die folgenden: Der Gegensatz zwischen Zentrum und Peripherie: Er spiegelt die ungleiche Verteilung verschiedener politischer Machtmittel (capabilities) wider. Das Zentrum, die imperiale Metropole, verfügt über hohe hard- und soft-power-Ressourcen. Seine außerordentliche Macht ermöglicht es ihm, starken Einfluss auf alle anderen Staaten auszuüben (empire lite). Das imperiale Weltordnungsmodell sieht die USA als Zentrum, »EU-ropa« als eine mit dem Zentrum durch gemeinsame Wertvorstellungen verbundene Semiperipherie; daneben existiert die weiter entfernte Peripherie, ein Netz aus verschiedenen formal gleichberechtigten Staaten, welche aber unter starker Abhängigkeit des Zentrums stehen. Der Blick auf die internationalen politischen Beziehungen durch die Brille des imperialen Ordnungsmodells erlaubt dem Zentrum, seine außerordentlichen Gewaltmittel uneingeschränkt einzusetzen, um seine Vorstellung einer friedlichen, durch Recht geprägten demokratischen Ordnung in der Welt herstellen zu können. Der Gegensatz zwischen imperialer Innensphäre und imperialem Außen: Im imperialen Ordnungsschema existieren ideologisch gefärbte imperiale Gegner bzw. Feinde. Dazu gehören der internationale Terrorismus und sogenannte failed states, aber auch die Kategorien Hass, Antiamerikanismus und Nationalismus sind hier einzuordnen. Daneben gibt es mit dem Zentrum konkurrierende Machtzentren, welche im imperialen Denken zu Imperiumsanwärtern werden. Darüber legt sich die Vorstellung von »Gut« (imperiales Inneres als idealisiertes »Wir«) und »Böse« (imperiales Außen als dämonisiertes »Die«), welche die flexibel gedachte und nur sehr vage beschriebene, virtuelle imperiale Grenze (frontier) voneinander trennt. Die imperiale Grenze stellt somit »eine mehr oder minder breite Zone dar, durch die Zivilisation und Wildnis bzw. Barbarei voneinander getrennt gehalten werden« (Münkler 2008: 174). Um feststellen zu können, ob McNallys Kritik an der imperialen Idee als Fetisch im psychoanalytischen Sinn gerechtfertigt ist, müssen zunächst die Begriffe Fetisch und Totem nach Sigmund Freud nachgezeichnet werden.

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informeller EINFLUSS

gegnerische ANGRIFFE

SEMIPERIPHERIE »EU-ropa« (gemeinsames Werteverständnis, aber auch Ablösungstendenzen eines Subimperiums)

informeller EINFLUSS

GEGENMACHTBILDUNG

internationale Organisationen, Einfluss auf NATO, WTO, UN-Sicherheitsrat u.a., Militärressourcen und Technologie (hard power), starke Währung, kulturelle Anziehungskraft, Kommunikationssysteme, Kapitalströme (soft power)

virtuelle GRENZE (frontier)

IMPERIALES ZENTRUM USA

PERIPHERIE

PERIPHERIE

PERIPHERIE

PERIPHERIE

Imperiumsanwärter betreiben verschiedenste Formen der Gegenmachtbildung

formell gleichberechtigte Staaten mit unterschiedlichen capabilities

formell gleichberechtigte Staaten mit unterschiedlichen capabilities

imperiale Feinde, Terrorismus, failed states, Antiamerikanismus, Hass, Nationalismus

IMPERIALES INNERES Zivilisiertheit – friedliche Ordnung – Recht

IMPERIALES AUSSEN Barbarei – Chaos – Unrecht

Abb. 2: Modell amerikanischer Übermacht als informelles Imperium

4 D IE B EGRIFFE F ETISCH UND TOTEM NACH F REUD 4.1 Fetisch In der 1905 entstandenen Schrift Drei Abhandlungen über die Sexualtheorie benutzt Freud den Begriff Fetisch im Kapitel Die sexuellen Abirrungen. Er übernimmt den Begriff von Alfred Binet und verwendet ihn für jene Fälle, in denen ein unbelebtes Objekt oder ein Körperteil (Fuß oder Haar) als Ersatz für das Sexualobjekt fungiert. »Dieser Ersatz wird nicht mit Unrecht mit dem Fetisch verglichen, in dem der Wilde seinen Gott verkörpert sieht«, so Freud (1905: 52). Eine Ersatzbildung kann nicht nur im Falle einer Perversion auftreten, sondern auch im normalen Liebesleben z.B. bei Abwesenheit der geliebten Person. Freud stellt fest, dass der »fortwirkende Einfluß eines zumeist in früher Kindheit empfangenen sexuellen Eindruckes« Ursprung der Fetischbildung ist (ebd.: 53). Um diesen Ursprung auf psychoanalytischem Wege verstehen zu können, entwirft

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Freud 20 Jahre später in seiner kleinen Schrift Fetischismus (1927) eine Szene, die folgendermaßen verläuft: Ein Knabe wirft einen ersten Blick auf das Genital der Mutter, und er nimmt wahr, dass die Mutter keinen Penis besitzt. Dies kann er sich nur als Folge einer Kastration vorstellen und entwickelt deshalb eine übermäßige, panische Kastrationsangst. Diese Kastrationsangst zwingt den Knaben zu Ersatzbildungen. Er stellt sich vor, die Mutter habe einen Penis. Freud kommt zum Schluss: »[D]er Fetisch ist der Ersatz für den Phallus des Weibes (der Mutter), an den das Knäblein geglaubt hat und auf den es […] nicht verzichten will.« (Freud 1927: 312) Das Kind kann sich nicht damit abfinden, dass die Mutter keinen Penis besitzt und verleugnet das Wahrgenommene. Dieser Prozess führt schließlich zur fetischistischen Objektwahl. Freud erklärt: »Ja, das Weib hat im Psychischen dennoch einen Penis, aber dieser Penis ist nicht mehr dasselbe, das er früher war. Etwas anderes ist an seine Stelle getreten, ist sozusagen zu seinem Ersatz ernannt worden und ist nun der Erbe des Interesses, das sich dem früheren zugewendet hatte.« (Ebd.: 313) Die Fetischbildung verläuft nach Freud über folgende zwei Schritte: Ň Es kommt zu einer Verleugnung einer Wahrnehmung aufgrund eines Bedrohungsgefühls und narzisstischer Regungen (Weigerung des Knaben, zur Kenntnis zu nehmen, dass die Frau keinen Penis besitzt, weil er sich seines eigenen Penisbesitzes bedroht fühlt und sich jede narzisstische Regung in ihm dagegen wehrt). Ň Die unerwünschte Wahrnehmung und der Gegenwunsch führen zu einem Kompromiss, indem ein Fetisch als Ersatz an die Stelle der verleugneten Realität tritt. Der Fetisch »bleibt das Zeichen des Triumphes über die Kastrationsdrohung und der Schutz gegen sie« (ebd.). Freud gibt auch einen Hinweis auf die politische, universelle Dimension des Fetischismus, wenn er die panische Reaktion und die durch den Narzissmus bestärkte Abwehr des Kindes auf die politische Bühne der Erwachsenen hebt: »Eine ähnliche Panik wird vielleicht der Erwachsene später erleben, wenn der Schrei ausgegeben wird, Thron und Altar sind in Gefahr, und sie wird zu ähnlich unlogischen Konsequenzen führen.« (Ebd.: 312) Diese Bemerkung ist für die Untersuchung des Fetischcharakters des Imperiums besonders interessant, weil gerade die imperiale Idee durch die panische Angst nicht eines Einzelindividuums, sondern einer Masse als Fetisch errichtet worden sein soll, wie später noch ausgeführt wird. Der Begriff der Masse leitet über zum zweiten Begriff, dem des Totems.

4.2 Totem In der 1912 entstandenen Schrift Totem und Tabu hat Freud die Frage gestellt, was ein Totem sei. Er gab mit Bezugnahme auf ethnologische Studien zur Antwort:

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Vom Fetisch unterscheide sich der Totem darin, »daß er nie ein Einzelding ist wie dieser, sondern immer eine Gattung, in der Regel eine Tieroder Pflanzenart, seltener eine Klasse von unbelebten Dingen und noch seltener von künstlich hergestellten Gegenständen« (ebd.: 126). Freud erkennt im Totemismus ein religiöses wie soziales System, das universelle Bedeutung hat. Der religiöse Aspekt liegt in der Schonung und Achtung zwischen dem Menschen und seinem Totem, der soziale in den Verpflichtungen der Totemgenossen gegeneinander. Dies zeigt sich etwa im Verbot, dass Mitglieder eines Totemclans einander nicht heiraten dürfen (Exogamie). Freuds Anliegen ist es, auf psychoanalytischem Wege zu erklären, wie Menschen dazu kommen, sich ein Totem zuzulegen und es zur Grundlage ihrer sozialen Verpflichtungen zu machen. Um eine Antwort auf diese Frage liefern zu können, entwirft Freud eine psychoanalytische Konstruktion. Dazu stellt er die These auf, »daß der Totem selbst nichts anderes ist als ein Vaterersatz« (ebd.: 178). Freuds Konstruktion ist als der Mythos des Urvaters bekannt. Am Beginn dieser Freud’schen Konstruktion steht ein »gewalttätiger, eifersüchtiger Vater, der alle Weibchen für sich behält und die heranwachsenden Söhne vertreibt« (ebd.: 171). Diesen Vater umgibt eine Urhorde, eine Brüderschaft, die er tyrannisiert. Diese hasst den Urvater, aber sie liebt ihn auch, weil sie ihn braucht. Die Brüder der Urhorde beschließen, den Vater zu ermorden, aber die Ambivalenz der Gefühle, die sie für den Vater verspüren, lässt sie Reue empfinden. So errichten sie an der Stelle des Urvaters ein Totem. »Sie widerriefen ihre Tat, indem sie die Tötung des Vaterersatzes, des Totem, für unerlaubt erklärten und verzichteten auf deren Früchte, indem sie sich die freigewordenen Frauen versagten.« (Ebd.: 173) Aus dieser Situation heraus bildeten sich nach Freud die Grundlagen für zwei maßgebliche kulturelle Gesetze: Ň das Schuldgefühl, das sich aus einem anfänglichen schlechten Gewissen durch die Verinnerlichung und die daraus entstandene Über-IchBildung im Sinne eines »nachträglichen Gehorsams« ergab;

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Ň das Inzestverbot, das nur aus praktischen Gründen zustande kam. Denn, wenn alle Nachkommen zeugen wollen und alle Macht haben wollen, bedeutet das den Zustand der Anarchie. Die Brüder versagten sich so der Frauen, um derentwillen sie eigentlich den Vater getötet hatten, damit sie die Organisation retten konnten. Damit näherten sie sich wieder der alten Ordnung: Einer steigt aus der Masse empor, der jüngste Sohn, der Liebling der Mutter, der zum Nachfolger des Vaters wird. Seine Legitimation findet er darin, dass er einen Mythos entwirft, indem er seine Heldentaten rühmt. »Er senkt sich somit zur Realität herab und hebt seine Hörer zur Phantasie empor. Die Hörer aber verstehen den Dichter, sie können sich aufgrund der nämlichen sehnsüchtigen Beziehung zum Urvater mit dem Heros identifizieren.« Der Heros wird vergottet. »Aber erst mit der Erhöhung des nie vergessenen Urvaters erhielt die Gottheit die Züge, die wir noch heute an ihr kennen.« (Freud 1921: 153) Freud fasst zusammen: »Der Tote wurde nun stärker, als der Lebende gewesen war.« (Freud 1912: 173) Die Ambivalenz der Gefühle gegenüber dem Vater und das Schuldgefühl werden die Urhorde und ihre Nachkommen wesentlich beeinflussen. An der Masse vollendet sich so, was am Vater begonnen wurde. Dies zeigt Freud in seiner 1930 entstandenen Schrift Das Unbehagen in der Kultur auf, denn das Unbehagen – eine Unzufriedenheit, ein Schuldbewusstsein –, welches die Masse durchfährt, kommt auf zwei Wegen zustande: Ň durch unterlassene Aggression: Nach Freud ist die Kultur eine Folge von Sublimierung; durch sie ist der Mensch gezwungen, ständig seine Wünsche und Triebe unter Kontrolle zu halten, sodass er ein Mittelmaß finden muss zwischen Lust und Aggression. Die gesamte Kultur ist demnach ein ständiger Kampf antagonistischer Kräfte, zwischen dem Liebestrieb und dem Todestrieb; Ň als Folge des Vatermordes, den Freud in Totem und Tabu entwirft. Beide Konzepte, das des Fetischs und das des Totems nach Freud, kommen zum Tragen, wenn im Folgenden untersucht wird, ob es hilfreich ist, bei der Analyse der gehäuften Verwendung des Imperiumsbegriffs nach 9/11 von einem Fetisch des Imperiums und einem narzisstischen imperialen Selbstbild zu sprechen.

5 D ER F E TISCH DES I MPERIUMS Wird Freuds Fetischkonzept auf die imperiale Idee angewandt, wie McNally dies tut, muss geklärt werden, wie es nach 9/11 aus psychoanalytischer Sicht zum Fetisch Imperium gekommen sein kann. Im Folgenden wird dieser Frage nachgegangen, indem Freuds psychoanalytischer Konstruktion der Fetischbildung, welche er in seiner Schrift Fetischismus entworfen

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hat, Schritt für Schritt gefolgt wird. Dazu ist es notwendig, folgende Fragen zu beantworten: 1) Wo liegt der Ursprung des Fetischs der imperialen Idee? 2) Welche Wahrnehmung wird verleugnet? 3) Worin liegt für wen eine Bedrohung? 4) Was sind die Merkmale des imperialen Narzissmus? 5) Wie erklärt sich die imperiale fetischistische Ersatzbildung? Diese Fragen werden durch fünf Thesen beantwortet, um feststellen zu können, ob die Verwendung des Begriffs Fetisch in psychoanalytischem Sinne für die Beurteilung der Idee einer imperialen Weltordnung sinnvoll ist.

5.1 Wo liegt der Ursprung des Fetischs der imperialen Idee? These 1: Der Ursprung des Fetischs der imperialen Idee gründet auf einem kollektiven Trauma und der Angst einer Masse. Ausgangspunkt sozialpsychologischer Erklärungsmuster für die Deutung der politischen Ereignisse nach 9/11 ist die Annahme, dass dieses geschichtliche Ereignis ein kollektives Trauma hervorgerufen habe. »Ein Trauma ist ein Erlebnis, das von solcher Intensität ist, dass es die seelischen Verarbeitungsmöglichkeiten überschreitet.« So erklärt Hans-Jürgen Wirth und fährt fort: »Mit dem Trauma gehen Gefühle von extremer Angst, häufig Todesangst, Schrecken, Ohnmacht und totaler Hilflosigkeit einher. Dies führt zu einem Zusammenbruch zentraler Ich-Funktionen und zu einer basalen Erschütterung der gesamten Persönlichkeit. Wenn dies gleichzeitig einer großen Gruppe von Menschen widerfährt, spricht man von einem kollektiven Trauma.« (Wirth 2004: 30)

Die sogenannten »Westlerinnen und Westler« hätten durch dieses kollektive Trauma ihr »Ur-Vertrauen« verloren und ein »Ur-Mißtrauen« entwickelt (Begriffe nach Erikson 1966: 62). Gefühle der Schwäche, der Ohnmacht, des Ausgeliefertseins, der Hilflosigkeit, der Bedrohung und des Sicherheitsverlustes hätten ein Gefühl der Angst erzeugt und zu einer Idealisierung der Macht und Autorität geführt. Dies habe ein Zusammenrücken der »Westler/-innen« zur Folge gehabt, welche sich in dieser Situation existentieller Bedrohung nach einer Zentralgewalt sehnten. Diese Rolle komme dem amerikanischen Imperium zu. Als prägnantes Beispiel hierfür wird häufig der Ausspruch Nous sommes tous Américains aus LeMonde vom 13. September 2001 genannt. In psychohistorischen Ansätzen im Sinne von Lloyd deMause wird der amerikanische Präsident zum Phantasieanführer (fantasy leader) des sogenannten »Westens«, in dem die Gruppenphantasien der westlichen Industrienationen miteinander korrelieren (Kurth 2004: 132).1 1 | »Ich bin mittlerweile der Meinung, daß in der Gruppendynamik der FantasieAnführer in der Regel der imaginierte Vater und die Gruppe selbst die Mutter ist. Die zentrale Kraft bei der Bewegung der Gruppenfantasie von einer Stufe zur

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Der sogenannte »Westen« wird hier als Masse im Freud’schen Sinne verstanden, wie dieser sie in der Schrift Massenpsychologie und Ich-Analyse von 1921 an der künstlichen Masse Heer entworfen hat. Die Freud’sche Masse zeichnet sich vor allem durch ihre libidinösen Verbindungen zum Führer aus. Weil die Führungspersönlichkeit alle gleich liebt, sind auch alle unter ihr gleich. In Freuds Worten: »[D]er Feldherr ist der Vater, der alle seine Soldaten gleich liebt, und darum sind sie Kameraden untereinander.« (Freud 1921: 102) Individuelle, narzisstische Regungen vermag diese Bindung zur Führungspersönlichkeit zu unterbinden. »Alle Einzelnen sollen einander gleich sein«, so beschreibt Freud einen zwingenden Grundsatz dieser Beziehung, »aber alle wollen sie von einem beherrscht werden. Viele Gleiche, die sich miteinander identifizieren können, und ein einziger, ihnen allen Überlegener, das ist die Situation, die wir in der lebensfähigen Masse verwirklicht finden.« (Ebd.: 135) Das Objekt, dem die libidinösen Verbindungen zufallen – in dem Falle der Feldherr als Führungspersönlichkeit –, zeichnet sich dadurch aus, »daß alle seine Eigenschaften höher eingeschätzt werden als die ungeliebter Personen oder als zu einer Zeit, da es nicht geliebt wurde« (ebd.: 123f.). Das Liebesobjekt wird idealisiert und spiegelt so das Ideal des eigenen Ichs wider. In der Form, »daß der Soldat seinen Vorgesetzten, also eigentlich den Armeeführer, zum Ideal nimmt, während er sich mit seinesgleichen identifiziert und aus dieser Ichgemeinsamkeit die Verpflichtungen der Kameradschaft zur gegenseitigen Hilfeleistung und Güterteilung ableitet. Aber er wird lächerlich, wenn er sich mit dem Feldherrn identifizieren will.« (Ebd.: 150) Die Freud’sche Masse definiert sich dementsprechend folgendermaßen: »Eine solche primäre Masse ist eine Anzahl von Individuen, die ein und dasselbe Objekt an die Stelle ihres Ichideals gesetzt und sich infolgedessen in ihrem Ich miteinander identifiziert haben.« (Ebd.: 128)

nächsten – das heißt, die elementare Quelle für die Bewegung der Geschichte selbst – ist somit die ständige Verschiebung erotischer (inklusive prä-ödipaler) Phantasien die vom ödipalen Drama, den Anführer-als-Vater zu töten und die Gruppe-als-Mutter zu gewinnen, veranlaßt wird. […] Der Anführer-Vater wird als ›Besitzer‹ der Gruppen-Mutter wahrgenommen, und das Bemühen jedes einzelnen, der in der Geschichte handelnd in Erscheinung tritt, wird von dieser zentralen Gruppenfantasie und ihren Folgen beeinflußt. Der Aufbau von Enttäuschung und Wut gegenüber dem Fantasie-Anführer ist Ursache des letztlich eintretenden Zusammenbruchs der gerade wirkenden Gruppenfantasie sowie Quelle des beim Anführer wahrgenommenen Schwächerwerdens und kann nur vermieden werden, wenn er etwas unternimmt, um seine augenfällige Macht über die Gruppe zu steigern, als ihr heroischer Retter aufzutreten oder die Wut von sich auf andere abzulenken.« (deMause 1979: 233)

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5.2 Welche Wahrnehmung wird verleugnet? These 2: Die »westliche« Masse erkennt in der panischen Angstsituation ihre verwahrloste, sich lösende Gesellschaftsstruktur. Diese Wahrnehmung wird verleugnet. Geht der Führer der Freud’schen Konzeption verloren, schwinden also die libidinösen Verbindungen, so entstehen verschiedenste Formen der Panik. Freud fasst zusammen: »Es verhält sich also so, daß die panische Angst die Lockerung in der libidinösen Struktur der Masse voraussetzt und in berechtigter Weise auf sie reagiert, nicht umgekehrt, daß die Libidobindungen der Masse an der Angst vor der Gefahr zugrunde gegangen wären.« (Ebd.: 105) Ein ähnlicher Prozess sei nach 9/11 im sogenannten »Westen« sichtbar geworden, indem einerseits ein idealisiertes Liebesobjekt in der Form des Imperium Americanum, andererseits die Lockerung der libidinösen Struktur der amerikanischen Nation greifbar wurden; »der Westen« habe in dieser Bedrohungssituation seine zerrissene Gesellschaftsstruktur erkannt (Janus 2003: 31). Die Reaktionen der amerikanischen Politik nach den Attentaten in New York seien daher nichts weiter als »eine immense innenpolitische Ablenkungs- und Stabilisierungsfunktion für eine Nation, die noch nie so zerrissen, sozial und ethnisch so tief gespalten war wie heute«, so der Essayist Michael Schneider (2003: 22; 2003a). Das habe folgende Gründe, welche die Verwahrlosung der amerikanischen Gesellschaftsstruktur aufzeigen sollen: Das gesamte tägliche Leben sei 1) zur war zone geworden, die beherrscht werde von Symbolen des Krieges, an deren Verbreitung die visuellen Medien keinen geringen Anteil haben. Dazu komme 2) die Militarisierung der Ausbildung amerikanischer Großstadtkinder. Besonders, wenn sie aus unstabilen Familienverhältnissen kommen, finden sie oft Halt in Gruppen, die vom Heer, der Luftwaffe, der Flotte oder den Marines geleitet werden. Daneben seien 3) die Abstiegsängste breiter Bevölkerungsschichten Auslöser der Angst. Die Kluft zwischen Arm und Reich erzeuge existentielle Bedrohungsängste. Die multimediale Kriegspropaganda könne schließlich 4) zu christlich-fundamentalistischen Massenbewegungen führen, die gemeinsam bereit seien, für die gemeinsame Nation einen gemeinsamen Krieg gegen einen gemeinsamen Feind zu führen. Dies sei Ausdruck einer »amerikanischen Paranoia«, die aus einer »Kultur der Gewalt« und einer »Kultur der Angst« entspringe. Aggression sei die Folge der Angst, mit der es der politischen Führung des Imperiums gelungen sei, die moralische Mehrheit seiner Bevölkerung zu gewinnen. Schneider erklärt in Berufung auf die psychoanalytische Theorie: »In unendlicher Wiederholung muss man wie der heilige Georg in dem anderthalb Jahrtausende alten Mythos den Drachen töten. Man braucht zum Niederkämpfen ewiger eigener ödipaler Unsicherheit ständig den Sieg über die Herren der Finsternis als Selbstbeweis.« (Schneider 2003: 37)

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5.3 Worin liegt für wen eine Bedrohung? These 3: Die Angst der imperialen Masse führt zur Bildung eines sogenannten »Phantomfeindes«. Dieser bedroht als dämonisierter Anderer das idealisierte Eigene. Angst und Aggression sind zwei Begriffe, die sich gegenseitig bedingen. Die Angst lernt das Kind nach Freud schon bei der Geburt kennen, weil es dort erkennen muss, dass es ohne fremde Hilfe nicht überlebensfähig ist. »Der Name Angst – angustiae, Enge – betont den Charakter der Beengung im Atmen, die damals als Folge der realen Situation vorhanden war und heute im Affekt fast regelmäßig wiederhergestellt wird. Wir werden es auch als beziehungsreich erkennen, daß jener erste Angstzustand aus der Trennung von der Mutter hervorging.« (Freud 1915/16 und 1916/17a: 411)

Im amerikanischen Imperium der Angst, wie es der amerikanische Politikwissenschaftler Benjamin R. Barber (2007) nennt, scheint vor allem die moralische Angst eine wichtige Rolle zu spielen. Diese Angst nämlich ergibt sich aus der Strafandrohung des Über-Ichs an das Ich, beim bloßen Gedanken an ein Es-determiniertes Verhalten. Diese Angst wird auch Gewissensangst genannt, welche kompensiert wird, um sie erträglich zu machen. Aggression kann eine Folge der Angst sein: »Wird durch Angst eine Gefahr signalisiert, so ist wohl die Flucht die primäre Reaktion. Ihre Funktion ist es, aus dem Gefahrenbereich zu entrinnen und sich in einen geschützten Ort oder eben in Geborgenheit zu begeben.« Die Flucht in ein imaginiertes sicheres Imperium sei die Reaktion der amerikanischen Nation auf den mangelnden inneren Zusammenhalt gewesen, so könnte die sozialpsychologische Erklärung zusammengefasst werden. »Sollte aber kein Fluchtweg offen sein, ist also der Weg zum Ort der Sicherheit versperrt, oder schätzt sich der Bedrohte stärker ein als die drohende Gefahr, so tritt eine aggressive Verteidigung oder eine Abwehr ein.« (Ausserer 1978: 58) Auch diese Reaktion habe sich in den Geschehnissen nach 9/11 gezeigt, indem der idealisierte imperiale Zufluchtsort als Bollwerk gegen die drohenden dämonisierten Gefahrenquellen propagiert worden sei. Diese Gefahrenquellen stellen den imperialen »Phantomfeind« dar (Begriff nach Schneider 2003). Mario Erdheim erklärt den Zusammenhang zwischen der psychoanalytischen Theorie und den politischen Ereignissen nach 9/11 wie folgt: »Wenn eine Gesellschaft am Auseinanderfallen ist, dann braucht sie einen Feind. Weil die neokonservative Politik die Gesellschaft zunehmend spaltet und aushöhlt, weil sie integrative Mechanismen wie öffentlichen Verkehr, allgemeine Bildung, Sozial-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung immer mehr einschränkt oder sogar – wie in den USA – ganz wegfallen lässt, wird die Bekämpfung eines äußeren Feindes immer mehr zum wichtigsten Integrationsme-

F ETISH OF E MPIRE chanismus. Der permanente Kriegszustand wird zum unentbehrlichen Mittel des gesellschaftlichen Zusammenhalts.« (Erdheim 2003: 146)

Die Freud’sche Angst wird in dieser Konstruktion zur imperialen Panik, in der sich die »Westler/-innen« die Opferrolle zugeschrieben hätten: »Zur Schuldentlastung muss unbedingt der eigene Status des unschuldigen Opfers betoniert werden: Wir sind die vollständig sinnlos und ungerechtfertigt Angegriffenen, die anderen sind die teuflischen, wahnsinnigen Angreifer.« (Brockhaus 2003: 371) Was hier passiert, könne aber nicht ausschließlich dadurch erklärt werden, dass aggressive Impulse nach außen projiziert würden; was da auf den Anderen projiziert wird, so lehrt Stavros Mentzos, sei der negativ besetzte Anteil der ambivalenten Beziehung zu diesem Anderen oder sich selbst (Mentzos 2003). Für die Definition des Eigenen bleibt so ein Ideal ohne jeglichen negativen Aspekt: das imperiale narzisstische Selbstbild. Was aber meint die Freud’sche Psychoanalyse, wenn vom Narzissmus die Rede ist, und welche Merkmale kennzeichnen den imperialen Narzissmus?

5.4 Was sind die Merkmale des imperialen Narzissmus? These 4: Das Hauptmerkmal des imperialen Narzissmus ist die Übertragung des eigenen Mangels auf einen Anderen. In der sogenannten psychischen Ursituation, dem Narzissmus, assoziiert das Subjekt das Ich mit dem Lustvollen, der Außenwelt aber begegnet es mit Gleichgültigkeit und bringt diese zum Teil auch mit Unlust in Verbindung, so lehrt die psychoanalytische Theorie nach Freud. Im Laufe der Entwicklung verleibe sich das Ich alles ein, was in der Außenwelt für das Ich Lustcharakter hat. Freud erklärt: »Die Außenwelt zerfällt ihm in einen Lustanteil, den es sich einverleibt hat, und einen Rest, der ihm fremd ist. Aus dem eigenen Ich hat es einen Bestandteil ausgesondert, den es in die Außenwelt wirft und als feindlich empfindet.« Fortan wird das Subjekt das Ich mit Lust und die Außenwelt mit Unlust assoziieren. Aus der anfänglichen Ablehnung des narzisstischen Ichs der Außenwelt gegenüber, entspringt der Hass. »Wir empfinden die ›Abstoßung‹ des Objekts und hassen es; dieser Hass kann sich dann zur Aggressionsneigung gegen das Objekt, zur Absicht, es zu vernichten, steigern.« (Freud 1915: 228f.) Freud unterscheidet zwischen primärem und sekundärem Narzissmus: Der erste zeichnet sich durch die Abwendung des Interesses von der Außenwelt und der Ausbildung eines Größenwahns aus; alle libidinösen Regungen werden dem Ich zugeführt. Zweiterer versucht, sich der Objektlibido wieder zu bemächtigen und entzieht sie den Liebesobjekten (Freud 1914). In der Phase des primären Narzissmus bildet sich das Prinzip der Verdoppelung, das dem Ich als Abwehr gegen die Vernichtung erscheint. Freud erkennt in seiner Schrift Das Unheimliche hierin das Motiv des Doppelgängers und schreibt: »[A]us einer Versicherung des Fortlebens wird er

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[der Doppelgänger] zum unheimlichen Vorboten des Todes.« (Freud 1919: 247) Hier zeigt sich das Eigentümliche am Unheimlichen des Doppelgängers: »[D]enn dies Unheimliche ist wirklich nichts Neues oder Fremdes, sondern etwas dem Seelenleben von alters her Vertrautes, das ihm nur durch den Prozeß der Verdrängung entfremdet worden ist.« (Ebd.: 254) Freud erläutert diese Erkenntnis durch ein Erlebnis, welches er einmal mit seinem eigenen Spiegelbild hatte. Die unvermutete Konfrontation mit seinem Ebenbild, seinem Doppelgänger, hatte auf ihn zunächst eine eigenartig verstörende Wirkung, bis er sich selbst in ihm wiedererkannte. Julia Kristeva hat Freuds Erkenntnis vom Unheimlichen des Doppelgängers in die viel zitierten Worte gekleidet: »Das Fremde ist in uns selbst. Und wenn wir den Fremden fliehen oder bekämpfen, kämpfen wir gegen unser Unbewußtes – dieses ›Uneigene‹ unseres nicht möglichen ›Eigenen‹.« Und sie folgert: »Wenn wir unsere Fremdheit erkennen, werden wir draußen weder unter ihr leiden noch sie genießen. Das Fremde ist in mir, also sind wir alle Fremde. Wenn ich Fremder bin, gibt es keine Fremden.« (Kristeva 1990: 208f.) Jacques Lacan geht einen Schritt weiter. Er zeigt auf Freuds Überlegungen aufbauend, warum das Spiegelbild, der Doppelgänger, auf das Subjekt verstörend wirkt, wenn er erklärt: »Was es [das Subjekt] im Spiegelbild wiedererkennt, ist das Ideal der Imago des Doppelgängers.« (Lacan 1938: 59) Das Subjekt sieht das Idealbild im Antlitz des Anderen, des Doppelgängers, und dieses zeigt ihm gleichzeitig seine eigene Unfertigkeit, seine Fremdheit und Zerrissenheit, seinen Mangel. Claus-Dieter Rath verdeutlicht, dass die Regungen, welche das Subjekt beim Anblick des Anderen verspürt, eine politische Dimension haben, weil sie die Selbstdefinition durch eine Fremdbestimmung deutlich machen. Rath schreibt: »Die Phantasie, daß der [A]ndersartige auf eine uns unzugängliche Weise tatsächlich Befriedigung am Objekt des Begehrens fände, sieht ihn im Besitz jenes gewissen Etwas, das uns zum vollkommenen Glück immer fehlt – als habe er das Verlorene wiedergefunden oder gar nie vermißt, für das unsereins immer nur Ersatz findet. Dafür wird ihm, der’s zu haben scheint, unser Mangel, der uns ein Leben lang umtreibt, angelastet – Grund genug, den anderen in seiner vermeintlichen Zufriedenheit zu stören, ihm das uns fehlende Etwas abzujagen oder es mitzugenießen, indem man versucht ihm gleichzutun.« (Rath 1991: 16)

5.5 Wie erklärt sich die imperiale fetischistische Ersatzbildung? These 5: Die fetischistische Ersatzbildung wird durch ein sogenanntes »Schuldgefängnis« einer imperialen Masse hervorgerufen. Die Liebe zum narzisstischen Selbstbild eines friedlichen Imperiums halte die zerrissene »westliche« Welt zusammen. Um von der eigenen Schuld an kriegerischen Auseinandersetzungen abzulenken, werde ein »Phan-

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tomfeind« erschaffen, so die Argumentation, wie die vorhergehende Ausführung gezeigt hat. Wie aber ist dieses Empfinden einer kollektiven Schuld auf psychoanalytischem Wege zu erklären? Die Antwort hierauf hat der Psychoanalytiker Willi Brüggen in Freuds Schrift Das Unbehagen in der Kultur zu finden versucht. Er spricht von einer Hysterisierung und Neurotisierung des Politischen, die nach 9/11 dazu geführt haben, dass politische Ereignisse zunehmend nicht mehr funktional betrachtet werden, sondern ihre symbolische Bedeutung immer wichtiger geworden sei; alles wirke plötzlich fremd und unheimlich. Dies führe dazu, dass beim Subjekt Abwehrmechanismen greifen: Das eigene »Böse« wird einem äußeren Feind übergestülpt, dieser wird zum Anderen, zum Fremden, zum »Bösen« (Brüggen 2003: 227; 2003a). Innerhalb des imperialen Denkmusters wird der Feind zum »Barbar«, wie aufgezeigt wurde. Die »zivilisierte« imperiale Masse sieht sich vom »unzivilisierten« Barbaren bedroht und greift ihn an. Mit der Konstruktion dieses äußeren Feindes finde eine kollektive Realitätsverleugnung ihren Ursprung. Brüggen identifiziert in der »westlichen« Gesellschaft nach 9/11 angelehnt an Freud ein Unbehagen in der Moderne und erkennt hierin ein Problem von allgemein psychologischer Dimension: ein »Schuldgefängnis«, für welches die richterliche Instanz der Psyche, das Über-Ich, verantwortlich sei. Nach Freud ist das Über-Ich »für uns die Vertretung aller moralischen Beschränkungen, der Anwalt des Strebens nach Vervollkommnung, kurz das, was uns von dem sogenannt Höheren im Menschenleben psychologisch greifbar geworden ist« (Freud 1932: 73). Bei Freud stellt das Kultur-Über-Ich hohe Idealforderungen auf, wie auch das Über-Ich jedes Einzelnen, wobei bei Nichteinhaltung Gewissensangst folgt (Freud 1930: 502). Das Über-Ich der Masse ist mit dem des Einzelnen verwoben, wie Freud schon 1914 erkannte: »Das Schuldbewußtsein war ursprünglich Angst vor der Strafe der Eltern, richtiger gesagt: vor dem Liebesverlust bei ihnen; an Stelle der Eltern ist später die unbestimmte Menge der Genossen getreten.« (Freud 1914: 169f.) Übertragen auf die politische Bühne nach 9/11 heißt das: Das Imperium Americanum habe sich mit seiner inneren Realität konfrontiert gesehen: dem wirtschaftlichen Niedergang, der Arbeitslosigkeit und vor allem den Schuldgefühlen, die Aufgaben eines Imperiums als Weltpolizist und Friedensstifter nicht erfüllen zu können (Segal 2003: 396). Dieses Schuldgefühl sei daher übertragen worden auf einen fremden Anderen, dem alles »Böse« angelastet, der selbst dämonisiert werde. Wendet sich die »westliche« Masse gegen einen äußeren Feind, so bewirkt dies nach Brüggen die Entlastung des Spannungsverhältnisses, welches das »Schuldgefängnis« hervorgerufen hat.

6 F A ZIT Der vorliegende Aufsatz hat aufzuzeigen versucht, was Imperiumskritikerinnen und -kritiker meinen, wenn sie vom Fetisch des Imperiums mit Blick auf die internationalen Beziehungen nach 9/11 im psychoanalytischen

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Sinne sprechen; und es wurde beleuchtet, worin der Fetischcharakter der imperialen Idee gesehen wird. Zudem wurde anhand von fünf Thesen ein Erklärungsversuch dafür geliefert, wo der Fetisch der imperialen Idee nach 9/11 seinen Ursprung haben könnte. Das Ergebnis lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Die kollektive Verleugnung der zerrissenen Gesellschaftsstruktur einer Masse, ausgelöst durch ein kollektives Trauma, hat zu einer Ersatzbildung geführt: der Vision eines Imperiums. Diese Vision verkörpert die imperiale Idee, welche geprägt ist durch das imperiale narzisstische Selbstbild, das sich gegen seinen »bösen« imaginierten Doppelgänger abgrenzt. Als »Phantomfeind« gezeichnet werden diesem die eigenen Übel – der eigene Mangel – angelastet, und somit wird das ideale Selbstbild von allen Schuldgefühlen befreit. Mit dem Begriff Fetisch soll darauf hingewiesen werden, dass die Anwendung eines imperialen Ordnungsschemas auf die internationalen politischen Beziehungen ein imaginäres Idealbild entwirft, das aus einem narzisstischen Selbstbild – dem Imperium – und einem bösen Doppelgänger als dem Anderen – dem Barbaren – besteht. Damit soll das Bewusstsein für die daraus entstehenden Folgen sensibilisiert werden, nämlich, dass dieses Idealbild eine Zweiteilung der Welt suggeriert: in das Eigene und das Fremde, das »Zivilisierte« und das »Unzivilisierte«, die demokratische Ordnung und das unkontrollierbare Chaos. Diese Zweiteilung verhindert ein friedliches Zusammenleben und fördert kriegerische Auseinandersetzungen (Leitner 2010a). Es stellt sich allerdings die Frage, ob sich das psychoanalytische Fetischkonzept nach Freud als heuristische Kategorie eignet, um die Idee einer imperialen Weltordnung kritisch zu hinterfragen. Um diese Frage beantworten zu können, ist es zunächst notwendig, sich die Merkmale vor Augen zu halten, welche die Verwendung des Begriffs Fetisch im Zuge der Imperiumskritik aufweist. Es sind die folgenden: Aufdeckung von Feindbildkonstruktionen durch Irritation: Wenn im Zusammenhang mit der imperialen Idee der Begriff Fetisch auftaucht – wie im Fall der Kritik des Politologen David McNally an Michael Ignatieffs Überlegungen zu einem möglichen Imperium Americanum – wollen Imperiumsgegner/-innen den Imperiumstheoretikern/-innen vorwerfen, dass die imperiale Sichtweise auf die internationalen Beziehungen Feindbildkonstruktionen zur Folge hat: Während das amerikanische Imperium im Glanz grenzenloser Tugenden erstrahlt, versinken andere politische Systeme im Sumpf politischer Abhängigkeiten und Fehlentscheidungen. Die Verwendung des Begriffs Fetisch in diesem politischen Kontext soll Irritationen bei der Leserschaft hervorrufen, wodurch die Kluft zwischen politischer Wirklichkeit und der von den Imperiumstheoretikern/-innen vermittelten Vision eines amerikanischen Weltpolizisten als glanzvolles Imperium aufgedeckt werden soll. Diese Irritation wird durch die negative Konnotation erreicht, welche dem Begriff anhängt (vgl. hierzu das Fetischkonzept nach Antenhofer in diesem Band).

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Politische Idee als kollektiver, nichtmaterieller Fetisch: Der hier beschriebene Fetisch verkörpert nichts Materielles mehr, wie der Freud’sche Fetisch, sondern steht für eine Weltanschauung, eine politische Vision, die Idee eines völlig neuartigen politischen Systems mit noch nie da gewesenen Ausdrucksformen politischer Macht; und doch hat diese beispiellose Kreatur ihre Ahnen, mit denen sie viele Merkmale teilt. Dieses Gemisch aus bekannten politischen Strukturformen und neuen Möglichkeiten politischer und militärischer Machtausübung bezeichnet die sogenannte imperiale Idee. Freud beschreibt in seiner Schrift Fetischismus einen individuellen Prozess sexueller Ersatzbildung, bei welchem ein Einzelding an die Stelle einer verleugneten Wahrnehmung eines Individuums gesetzt wird. Im Falle des Fetischs der imperialen Idee ist von der imperialen Vision der »westlichen« Masse die Rede; in psychohistorischen Ansätzen korrelieren die Gruppenphantasien der sogenannten »Westler/-innen« in der Idee des amerikanischen Präsidenten als Phantasieanführer der »westlichen« Masse. Einer großen Gruppe von Menschen, die mit vagen begrifflichen Bestimmungen als »Westler/-innen« bezeichnet werden, wird gemeinsame Substanz unterstellt. In McNallys Kritik an der Idee eines amerikanischen Imperiums wird klar, dass der Begriff Imperium bei undifferenzierter Gebrauchsweise Bilder der Eigen- und Fremdwahrnehmung evoziert. Mit Bezugnahme auf das psychoanalytische Fetischkonzept bringt McNally zum Ausdruck: Das sogenannte imperiale politische System existiert nicht in der politischen Wirklichkeit, sondern lediglich als politische Vision. Hierin ist der wesentliche Nutzen des Fetischkonzepts nach Freud bei der Analyse der imperialen Idee zu suchen. Der Ausspruch vom Fetisch des Imperiums weist auf die Suggestionen, welche dieser Begriff in Anwendung auf die internationalen Beziehungen mit sich gebracht hat; er zeigt auf, dass diese die politische Wirklichkeit entscheidend beeinflussen können, sie aber nicht darstellen. Der Großteil der Kritiken der amerikanischen Politik nach 9/11 hat lediglich imperiale Strukturen zu identifizieren versucht, um sie anprangern zu können. Dazu wurde der Begriff Imperium so verwendet, als sei er klar definiert und bedürfe keiner näheren Bestimmung. Die USA wurden so vielfach zum Referenzmodell eines imperialen politischen Systems. Damit verliehen diese Analysen der imperialen Idee erst den nötigen Aufschwung, den sie brauchte, um in der wissenschaftlichen und vor allem der publizistischen Sprache nach 9/11 einen derart hohen Niederschlag zu finden. Ob dieser nützliche Aspekt – nämlich das Aufzeigen einer Irritationslinie zwischen politischer Wirklichkeit und imaginärem Wunschdenken – ausreicht, um das psychoanalytische Fetischkonzept als heuristische Kategorie zur Analyse der Idee eines imperialen politischen Systems sinnvoll zu verwenden, scheint allerdings aus mehreren Gründen fraglich: Unschärfe und Negativbesetzung des Begriffs Fetisch: Beide Begriffe, sowohl der des Imperiums als auch der des Fetischs, werden zwar häufig verwendet, sind aber mit vagen Inhaltszuschreibungen konnotiert. Es wäre

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eine genaue Auseinandersetzung mit beiden vonnöten, um den einen als Untersuchungsgegenstand und den anderen als heuristische Kategorie verwenden zu können. Das Irritationspotential, welches der Begriff Fetisch hier hat, beruht zudem auf seiner Negativkonnotation. Wird der Begriff nämlich in Zusammenhang mit der imperialen Idee verwendet, so meist nur als negativ besetztes Schlagwort ohne genauere Bezugnahme zu einem theoretischen Fetischkonzept. Das hier dargestellte Beispiel – McNallys Kritik an Ignatieff mit der Bezugnahme zur psychoanalytischen Theorie – stellt ein Einzelbeispiel dar. Der unscharf verwendete Begriff müsste seine negative Besetzung verlieren, ohne dabei sein Irritationspotential einzubüßen, um als heuristische Kategorie wertvolle Dienste leisten zu können. Der imperiale Fetisch schließt massenpsychologische Phänomene mit ein: Die oben ausgeführten Thesen zu einem möglichen Ursprung des Fetischs der imperialen Idee zeigen, dass die Verwendung des Begriffs Fetisch nach Freud zur Analyse der imperialen Idee weit mehr einschließt, als die Feststellung einer Wahrnehmung, die verleugnet und ersetzt wird, da es sich nicht um die Wahrnehmung eines Einzelindividuums handelt und dieser Fetisch eine nichtmaterielle Vision darstellt. Das heißt, es würde einer gediegenen Auseinandersetzung mit der Freud’schen Fetischtheorie und ihrer Weiterentwicklung sowie ihrer Einordnung in massen- und gruppenpsychologische Studien bedürfen, um damit fundierte Aussagen zu den politischen Entwicklungen nach 9/11 und der Bedeutung des Begriffs Imperium hierin treffen zu können. Die Verwendung des Begriffs Fetisch in Bezug auf die Analyse der politischen Geschehnisse nach 9/11 weist Schwächen auf. Anstatt genauer Analysen beider Konzepte, des Imperiums und des Fetischs, finden sich unklare Zuschreibungen und die vage Verwendung von Begrifflichkeiten. Diese wiederum suggerieren eine problematische Sichtweise der politischen Wirklichkeit, was schwerwiegende Folgen nach sich zieht; eine Erkenntnis, auf die mit der Verwendung des Begriffs Fetisch in Hinblick auf die imperiale Idee eigentlich hingewiesen werden soll, oder besser: mit dem ein gesellschaftliches Bewusstsein für politisch-weltanschauliche Probleme aufgrund problematischer Zuschreibungen geweckt – vielmehr mit einer Irritation wachgerüttelt – werden soll. Der Begriff Fetisch kann somit auf die Diskrepanz zwischen politischer Vision und politischer Wirklichkeit hinweisen, welche der imperialen Idee innewohnt. Er kann aber keine Klarheit in die Vernetzung zwischen politischer Idee und politischer Wirklichkeit nach 9/11 bringen und leistet somit nur einen begrenzten Beitrag zur Klärung der brisanten Frage, welche die Menschheit unaufhörlich umzutreiben scheint: Warum Krieg?

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Grenzen der Vernunft Fetischismus als Argumentationsfigur im religionskritischen Diskurs der Aufklärung Marie-Luisa Frick

Der Vorwurf an Vertreter der christlichen Religion, durch ihre Glaubenspraxis auf die eine oder andere Art Fetischismus zu betreiben, ist deshalb eine bedeutende Argumentationsfigur der aufklärerischen Religionskritik, da sie sowohl von den »radikalen« Atheisten als auch den »gemäßigten« Deisten1 verwendet wird und daraus gefolgert werden kann, dass das Fetischismusargument als solches einen Schlüssel zum Verständnis der Religionskritik des 18. Jahrhunderts in ihrer Gesamtheit darstellt. Diese Argumentationsfigur ist aber im Kontext der übergreifenden Auseinandersetzung mit dem Fetisch als heuristische Kategorie auch dahingehend bedeutsam, als ihre Analyse den Weg zu unterschiedlichen Konzepten von Rationalität eröffnet und darauf aufbauend deren vergleichende Reflexion anregt. Der vorliegende Beitrag möchte, nach einer kurzen Einführung in die Religionskritik der Aufklärung, in den ethnographischen Horizont der Aufklärungsphilosophen sowie in ihre religionsphilosophische Auseinandersetzung mit dem Fetischismus, die Bedeutung und Funktion des Fetischismusarguments darstellen – unter besonderer Berücksichtigung der Schriften von Jean Meslier, Voltaire, Paul Henri Thiry d’Holbach, Immanuel Kant und Christoph Meiners –, um schließlich die verschiedenen 1 | Die Zuschreibungen »gemäßigt« bzw. »radikal« werden deshalb mit der durch Anführungszeichen ausgedrückten Zurückhaltung verwendet, da sie vielmehr unserer retrospektiven Betrachtung der religionsphilosophischen Debatten des 17./18. Jahrhunderts entsprechen. Denn als moderat kann eigentlich auch die deistische Position, deren Vorstellung eines nicht in die menschlichen Belange eingreifenden Gottes eine Zurückweisung aller übernatürlichen »Offenbarungen« impliziert, nicht wirklich bezeichnet werden. Wie radikal »deistische« Minimalismen in Sachen Religion tatsächlich sein können, zeigt nicht zuletzt die oft unterschätzte Radikalität der Religionskritik Kants (siehe Abschnitt 3.3).

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Auffassungen von Vernunft, die sich aus den einzelnen Gleichsetzungen von Fetischismus und Christentum extrahieren lassen, zu vergleichen und kritisch zu evaluieren.

1 R ELIGIONSKRITIK ALS S K ALPELL – Z WEI S CHNIT TFÜHRUNGEN Die Religionskritik der Aufklärung umfasst eine beachtliche Bandbreite an Themen und Zugängen, basierend auf unterschiedlichen ideologischen und philosophischen Hintergründen. Sie lässt sich am ehesten mit einem Skalpell vergleichen, das die Entstellungen der (Offenbarungs-)Religionen entfernt und auf diese Weise ihren natürlichen Kern freilegt bzw. in ihrer radikalen Ausprägung religiöse Gefühle und Glaubenssätze überhaupt aus dem wahren Menschsein abzutrennen versucht. Die »gemäßigte« aufgeklärte Religionskritik in Form des Deismus – das ist der Glaube an eine (unpersönliche) göttliche Macht, die zwar als Ursprung allen Seins, aber als nichtintervenierend und keiner Offenbarungsschriften, priesterlicher Mittler und religiöser Institutionen bedürftig aufgefasst wird – als auch die radikale Religionskritik der Aufklärung auf dem Boden von Materialismus und Atheismus forderten das Christentum und seinen Wahrheitsund Suprematieanspruch in bis dahin ungekannter Weise heraus. Deistische Religionskritiker wie Voltaire (geb. 1694), Hermann Samuel Reimarus (geb. 1694), Jean-Jacques Rousseau (geb. 1712), Immanuel Kant (geb. 1724)2 oder Thomas Paine (geb. 1737) gehen gemeinsam davon aus – auch wenn ihr Gottesbild mehr oder weniger abstrakt (Stichwort »Uhrmachergott«) bzw. persönlich ist –, dass der Glaube an eine transzendente Macht als Urheberin der Materie gleichsam vernünftig wie natürlich ist. Vernünftig, weil sich im Kosmos ein göttliches »Design« erkennen bzw. die Zurückweisung der Idee eines höchsten Wesens das menschliche Leben sinnlos erscheinen lasse; natürlich, da sich alle Völker und Kulturen der Erde in ihrem Transzendenzbezug gleichen; worin sie sich hingegen unterscheiden, seien allein kontingente, nichtwesentliche Ausgestaltungen der Religion, die den Spezifika der unterschiedlichen Kulturen, aber auch dem Priesterbetrug, d.h. der Irreführung der Menschen durch priesterliche Herrschaftsinteressen, geschuldet seien. Religiöse Unterschiede 2 | Die Frage, inwieweit Kant (oder aber auch der Skeptiker David Hume) als Deist bezeichnet werden kann, ist umstritten (vgl. insbesondere Wood 1991). Auch wenn Kants Religionsphilosophie stark vom deistischen Denken beeinflusst ist und tatsächlich unverkennbar Gemeinsamkeiten aufweist, trennt Kant von den meisten Deisten sein Kritizismus, demzufolge über die Existenz Gottes nichts mit Sicherheit behauptet werden kann. Die (reine) Vernunft kann Gott nicht erkennen oder beweisen, allein der Mensch darf hoffen – in Kants Diktion postulieren –, dass es ein höchstes Wesen gibt, das eines jüngsten Tages die Menschheit richtet und damit der menschlichen Existenz Sinn verleiht.

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sind demnach temporäre Oberflächenphänomene, die durch fortschreitende Aufklärung der »natürlichen Religion« weichen werden. Das Christentum erscheint Deisten als ein Sammelsurium aus überflüssigen, ja geradezu widervernünftigen Glaubenssätzen und abergläubischen Riten, dem lediglich eine geringe Anzahl wertvoller moralischer Anleitungen innewohnt. Nicht wenige werten das Christentum in toto als Irrlehre, aufbauend nicht nur auf dem Betrug der Priester, sondern bereits auf dem Betrug der Apostel Jesu (vgl. Reimarus 1972; Voltaire 1970a; 1970b). Die französischen Materialisten, auf der anderen Seite, vertraten weit radikalere Standpunkte. Philosophen wie Claude Adrien Helvétius (geb. 1715) oder Paul Henri Thiry d’Holbach (geb. 1723) waren überzeugt, dass die Vorstellung der Existenz von Göttern bzw. eines Gottes nicht nur falsch sei, gemessen an einer rein immanenten, materiellen Realität, sondern sogar brandgefährlich für das Wohlergehen und insbesondere die moralische Entwicklung der Menschheit. Nicht religiöse Werte und Vorschriften, sondern allein kluge, staatliche Gesetze könnten die gesellschaftliche Ordnung sicherstellen, die gerade durch religiöse Gewaltneigungen bedroht sei (vgl. Helvétius 1877: 146ff., 196ff.; Holbach 2010: 183ff.). Ungeachtet der Friktionen zwischen »gemäßigten« Gläubigen und »radikalen« Atheisten, teilen die religionskritischen Philosophen der Aufklärung folgende Überzeugungen und Anliegen: die Emanzipation der Moral von Religion, wie sie am berühmtesten von Pierre Bayle (geb. 1647) eingefordert wurde, der als Erster nicht nur das grundsätzliche Funktionieren einer Gesellschaft von Atheisten behauptete, sondern auch ihre Überlegenheit in moralischer Hinsicht gegenüber religiösen Gemeinschaften für möglich hielt (vgl. Bayle 2000: 179); die Kritik institutionalisierter Religion samt ihrer Machtansprüche; die Forderung nach religiöser Toleranz; die Kritik religiösen Aberglaubens. Letztere, die im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen steht, wird von den Aufklärern dabei weniger isoliert betrachtet, als es diese Aufzählung zunächst suggeriert: Dem Kampf gegen Aberglauben, d.h. dem Glauben an Wunder, Zauberei oder übernatürliche Offenbarungen, wird eine Schlüsselrolle in der Vorbeugung unerwünschter religiöser Nebenwirkungen eingeräumt. Oder wie Voltaire es zusammenfasst: »Kurz: je weniger Aberglaube, desto weniger Fanatismus, und je weniger Fanatismus, desto weniger Unheil.« (Voltaire 1985: 51)

2 D ER F E TISCH UND DIE A UFKL ÄRUNG Ein weiteres verbindendes Element deistischer und atheistischer Aufklärungsphilosophie ist die Verwendung des Fetischismusarguments.3 Dieses 3 | Als Fetischismus wird im Folgenden der Glaube an übernatürliche Kräfte in materiellen Objekten bzw. der diesem Glauben geschuldete ehrfürchtige oder verehrende Umgang mit den materiellen Objekten bezeichnet; als Fetisch wird das Objekt bezeichnet, auf das sich dieser Glaube bzw. der entsprechende Um-

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funktioniert dabei sowohl als komparative wie auch als normative Nivellierung: Christliche Glaubenspraxis und außereuropäische Religionen und Kulte werden in der Metaperspektive der vergleichenden Religionswissenschaft der Aufklärer, die subjektive Wahrheitsansprüche unterschiedlicher Glaubenssysteme und damit eine vertikale Hierarchisierung außer Acht lassen muss, horizontal nebeneinander gestellt, um ihre Unterschiede, aber auch ihre Gemeinsamkeiten offenzulegen (komparative Nivellierung). Als eine dieser Gemeinsamkeiten wird die Verehrung von Fetischen benannt, weshalb – und dies stellt den normativ nivellierenden Teil des Fetischismusarguments dar – der Anspruch der christlichen Religion, die einzig wahre und darum zur Vorherrschaft bestimmte zu sein, zurückgewiesen wird. Bevor jedoch auf die Einzelheiten der Benützung des Fetischismusarguments seitens der aufklärerischen Religionskritiker eingegangen wird (siehe Abschnitt 3), lohnt es sich, gleichsam als Hinführung, den ethnographischen Horizont dieser Denker auszuleuchten, wie auch den Stellenwert des Fetischismus innerhalb der Religionsphilosophie der Aufklärung zu klären: Was wussten die Aufklärer über außereuropäische Kulturen? Welche Assoziationen verband man im 17. und 18. Jahrhundert in Europa zwangsläufig mit dem Begriff des Fetischs? Welchen Stellenwert nahm der Fetischismus in den religionswissenschaftlichen Systemen der Philosophen der Aufklärung ein?

2.1 Die Goldküste, Reiseberichte und das Fetischismusbild der Aufklärer Die bei »Naturvölkern« verbreitete Verehrung physischer Gegenstände, denen übernatürliche Kräfte zugeschrieben werden, war den Philosophen der Aufklärung in erster Linie durch Reiseberichte bekannt. Als Fetisch – ein Lehnwort aus dem Portugiesischen – bezeichneten Missionare, Händler und Reisende dabei ursprünglich Götterbilder bzw. sakrale Gegenstände der Bewohnerinnen und Bewohner Westafrikas. In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts gewannen die Portugiesen, die zu Beginn an Stützpunkten für ihre Marine interessiert waren (rasch auch an Rohstoffen und Sklavinnen und Sklaven), Einfluss entlang der westafrikanischen Küste. Bereits im Jahr 1490 entsandten die Portugiesen eine missionarische Expedition ins Gebiet des heutigen Nord-Angola mit dem Ziel, den Herrscher des Kongoreiches aufzusuchen und nach Möglichkeit auch Wege nach Indien und zum sagenumwobenen Priesterkönig Johannes ausfindig zu machen (vgl. Bitterli 1991: 106). Die mitgeführten katholischen Missionare gingen sogleich daran, den »Fetischdienst« der Afrikanerinnen gang bezieht. Sofern die aufklärerische Religionsphilosophie und -kritik auf Phänomene im Sinne dieser operationalen Definition referieren, sind sie vom Interesse der vorliegenden Arbeit erfasst, unabhängig davon, welche Begrifflichkeiten (z.B. Fetisch oder Idol, Fetischdienst oder Idolatrie) sie dabei verwenden.

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und Afrikaner zu bekämpfen. Artefakte wurden – nicht selten unter begeisterter Teilnahme der Einheimischen selbst – zusammengetragen und verbrannt, hartnäckige »Fetischanhänger« verfolgt.4 Die Missionierungsbestrebungen waren nicht nachhaltig erfolgreich, wenn es auch gelang, Nzinga á Nkuwu (João I.), König des Kongoreiches, zum Christentum zu bekehren. Dessen Sohn Alfons I. – bereits von Missionaren in der neuen Religion erzogen – führte den Kampf gegen die afrikanischen religiösen Traditionen eifriger als sein Vater fort und galt den Portugiesen als Verbündeter, bis nach seinem Tod 1543 die kurze christliche Tradition wieder erodierte (vgl. ebd.: 107). In ihren Briefen beschrieben die Missionare die Praktiken, die sie in Westafrika vorfanden, mit Abscheu und Verständnislosigkeit: Die Verehrung von »Fetisch-Idolen« aus Holz, Stein, Körperteilen von Tieren, aber auch in der Form lebender Tiere zum Zweck des Schutzes, des Schadenszaubers oder der Heilung war ihnen Provokation und Auftrag zugleich. Die »Götzenbilder« der Afrikanerinnen und Afrikaner trachteten sie durch christlichen »Kirchenschmuck« zu ersetzen und führten zu diesem Zweck beachtliche Mengen an Monstranzen, Kreuzen, Heiligenbildern und Reliquien ein (vgl. Palme 1977: 18f.). Angesichts dieses Austausches von Kultobjekten muss die Frage erhoben werden, inwieweit die Fetische der Goldküste Hybridbildungen sind, die nicht etwa von den Europäern vorgefunden, sondern erst im Zuge interkultureller Interaktionen entstanden sind (vgl. Kohl 2003: 21f.). Auch wenn diese These vielleicht nicht auf alle beschriebenen Formen der sogenannten Fetischverehrung zutreffen mag, zumindest für die Entstehung der Spiegelfetische gilt sie als plausible Erklärung (vgl. Palme 1977: 18f.). Die Frage wiederum, weshalb die Bewohnerinnen und Bewohner der Westküste – zumindest kurzzeitig – ihre Sakralgegenstände zugunsten der katholischen scheinbar leichtfertig aufgaben, kann hingegen damit erklärt werden, dass ihnen die Überlegenheit der europäischen Kolonisatoren zugleich die Überlegenheit deren heiliger Objekte suggerierte (vgl. Bitterli 1991: 106f.). Die Missionare haben dabei von Anfang an übersehen, »dass die christlichen Gebräuche von den Afrikanern genau in dem Sinn verstanden wurden, in welchem die Missionare die heidnischen Sakralgegenstände […] deuteten: als magische Zaubermittel« (Böhme 2006: 181). 4 | Neben den Motiven, dem Licht der vermeintlich einzig wahren Religion zum Durchbruch zu verhelfen und dadurch die Seelen der »Heiden« zu erretten, könnten auch noch andere Beweggründe eine Rolle gespielt haben. So vermutet Hartmut Böhme, dass die Missionare in den Fetischen zugleich etwas zerstören ließen, »was in ihrem eigenen Kult zumindest ambivalent ist, wenn es nicht selbst fetischistische Züge aufweist« (Böhme 2006: 167). Deutlicher wird Karl-Heinz Kohl: »Möglicherweise waren es die Schwierigkeiten, das Dogma von der Anwesenheit der Gottheit in der materiellen Substanz des Abendmahls anzuerkennen, die zu einer radikalen Verwerfung des westafrikanischen ›Fetischkultes‹ führten.« (Kohl 2003: 28f.)

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Dass die Portugiesen lediglich afrikanische Fetische durch christliche ersetzt hätten, wurde später von protestantischen Händlern und Reisenden kritisiert, die sehr früh die Parallelen zwischen afrikanischen religiösen Traditionen und Katholizismus zogen (ebd.: 184; Kohl 2003: 17) und dadurch dem Fetischismusargument der Aufklärer den Weg bereiteten, das sie jedoch – anders als später etwa de Brosses oder Kant – allein auf die katholische Konfession bezogen und noch nicht universalisierten. So schrieb der deutsche Arzt Andreas Josua Ultzheimer (geb. 1578), der auf einem holländischen Schiff segelte, über die religiösen Gebräuche, die er bei der Bevölkerung der Guinea-Küste beobachtete, dass diese »fast solche Zeremonien wie die Papisten bei ihrer Messe« durchführten (zitiert nach Kohl 2003: 17). Der Reisende in den Diensten der Niederländischen Westindien-Kompanie und Autor des berühmten Reiseberichts Nauwkeurige Beschrijving van de Guinese Goud-, Tand- en Slavenkust, Willem Bosman (geb. 1672), diagnostizierte ebenfalls eine strukturelle Affinität von Katholizismus und afrikanischen Traditionen: »If it was possible to convert the Negro to the Christian Religion, the Roman-Catholics would succeed better than we should, because they already agree in several particulars, especially in their ridiculous ceremonies.« (Bosman 1705: 154) Seine Beschreibung der Goldküste war für das Fetischismusbild der Aufklärungsphilosophen besonders bedeutsam (vgl. Pietz 1988). Seine Einordnung des Fetischismus in ein gesellschaftliches System der Unterdrückung der Vernunft, des unmoralischen Lebenswandels, der Herrschaft von Priestern und der ungerechten Regierungsführung prägten die Vorstellungen der Aufklärer von afrikanischen religiösen Traditionen nachhaltig negativ. Es ist ebendiese hintergründige, polemische Konnotation des Begriffs Fetisch bzw. Fetischismus, der dem Fetischismusargument der Aufklärer seine eigentümliche Schärfe verleiht.

2.2 Urform aller Religion oder Degeneration? Fetischismus im Licht der aufklärerischen Religionsphilosophie Für Europäer der frühen Neuzeit, mit dem Phänomen des Fetischismus – sei es persönlich oder vermittelt durch Reiseberichte – konfrontiert, stellte dieses die weitgehend unhinterfragte Grenze zwischen der »Zivilisation« und der »Barbarei« der »Wilden«, zwischen ihrer »wahren« Religion und dem »Heidentum« der anderen dar. Aufbauend auf der protestantischen Polemik wider den Katholizismus entwickelten die Philosophen der Aufklärung die Idee des Fetischismus als Demarkationslinie weiter, radikalisierten sie und integrierten sie in ihren religionskritischen Diskurs. Die Grenze, die sich ihnen zufolge anhand des Fetischs vermessen lässt, ist dabei nicht etwa jene zwischen verschiedenen Kulturen, auch nicht verschiedenen Konfessionen, sondern vielmehr zwischen Vernunft und Unvernunft als solcher. Der Religionsphilosophie der Aufklärung und insbesondere der vergleichenden Religionswissenschaft – ein Sproß dieser Epoche – galt der

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Fetischismus bei »Naturvölkern« vor dem Hintergrund der Auseinandersetzungen mit dem europäischen Christentum als höchst spannendes Untersuchungsobjekt, da es Antworten auf die Fragen nach dem Verhältnis von Monotheismus und Naturreligionen bzw. Kosmotheismus sowie nach der von den Aufklärern betonten Entwicklung der Menschheit in religiöser Hinsicht bereitzuhalten schien, aber auch Zugänge zum Verständnis des Phänomens Religion als solcher eröffnete. Im Zentrum der Diskussion stand dabei die – ob ihrer Implikationen brisante – Fragestellung, inwieweit der Fetischismus die ursprüngliche Form der menschlichen Religionsausübung oder aber eine Verfallserscheinung darstellt. Für David Hume (geb. 1711) steht der Fetischismus (polytheism or idolatry) am Anfang der Religionsgeschichte. In seiner Natural History of Religion (1757) erklärte er das schwache Auffassungsvermögen des Menschen in Verbindung mit prekären Lebensumständen vormoderner Gesellschaften zum Hindernis für die Entwicklung der Vorstellung einer rein geistigen Gottheit. Der Fetischismus entspringe dabei widerstreitenden Neigungen des Menschen: »Wie stark demnach der Hang der Menschen auch sein mag, an eine unsichtbare, intelligente Macht in der Natur zu glauben; ihr Hang, mit ihrer Aufmerksamkeit bei den sinnlich wahrnehmbaren sichtbaren Dingen stehenzubleiben, ist gleich stark; und in der Absicht, diese einander entgegengesetzten Neigungen in Einklang zu bringen, werden die Menschen dazu veranlasst, die unsichtbare Macht mit einem sichtbaren Objekt zu vereinigen.« (Hume 1984: 22)

Der Verfallsthese, wonach die Menschheit bereits zu Beginn über richtige Gottesvorstellungen verfügt habe, hielt Hume den für die Aufklärungsphilosophie charakteristischen Fortschrittsoptimismus entgegen: »Dies hieße, sie [die Menschheit] hätte die Wahrheit erkannt, als sie unaufgeklärt war, wäre aber dem Irrtum verfallen, sobald sie Gelehrsamkeit und Bildung erlangte.« (Ebd.: 2) Auch der deutsche Gelehrte Christoph Meiners (geb. 1747) war überzeugt: »Alle Nationen beteten vormals, oder beten noch jetzo Fetischen an.« (Meiners 1787: 19) Die These, wonach die Fetischverehrung die ursprüngliche Form der Religion darstellt, wird später von Auguste Comte (geb. 1798) in seinem Drei-Stadien-Gesetz weiter ausgearbeitet. Das »theologische« oder »fiktive« Stadium, das nach Comte dem »metaphysischen« und »positiven« Stadium vorangeht, unterteilt er in drei Subformen: in den Fetischismus (fétichisme), den Polytheismus und schließlich den Monotheismus. Der Fetischismus, das erste geistige Regime der Menschheit (Comte 1907: 22), unterscheide sich dabei kaum von jenem »Geisteszustand, bei dem höhere Tiere stehenbleiben« (Comte 1994: 6). Nicht zufällig also setzt Comte den Fetischismus mit der Menschenfresserei gleich (vgl. Comte 1907: 23). Gegen die Verfallsthese argumentierte Comte mit Hinweis auf implizierte Motive derjenigen, die sie vertreten: »Eine derartige Hypothese kann nur für diejenigen wahrhaft

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haltbar sein, die in dieser Hinsicht eine förmliche und spezielle Offenbarung im Geiste des Katholischen Systems zugeben.« (Ebd.) In der Tat wurde und wird dem berühmtesten Vertreter der These, wonach Fetischismus einen Rückfall hinter die göttliche Uroffenbarung darstelle, Charles de Brosses (geb. 1709), häufig unterstellt, er hätte mit dieser Ansicht auf die Lehrmeinung der katholischen Kirche Rücksicht genommen (vgl. Kohl 2003: 72). In seinem einflussreichen Werk Über den Dienst der Fetischgötter oder Vergleichung der alten Religion Egyptens mit der heutigen Religion Nigritiens (1760; 1785 ins Deutsche übersetzt von Christian Brandanus Hermann Pistorius) beschreibt der Universalgelehrte de Brosses die Fetischverehrung bei den unterschiedlichsten Völkern, wobei er zwischen Fetisch und bloßem Idol unterscheidet.5 De Brosses trägt maßgeblich zu einer Generalisierung des Fetischkonzepts bei: Der Fetisch bzw. die Praxis des Fetischismus wird dekontextualisiert und auch außerhalb Afrikas »entdeckt«. Auch wenn sich der Begriff Fetisch »in seiner eigentlichen Bedeutung nur auf den Glauben der Afrikanischen Negern [sic!] bezieht«, so de Brosses gleichsam als Einführung in sein Werk, bediene er sich des Begriffs auch dann, »wenn ich von irgend einer andern Nation rede, welche die Gegenstände ihrer Verehrung aus dem Thierreiche genommen, oder unbeseelte Wesen vergöttert hat« (de Brosses 1785: 5). Dasselbe gelte auch für Völker, die »mit einer göttlichen Kraft begabte Dinge« verehrten: »[D]enn es ist gewiß genug, daß alle diese Arten zu denken einen und ebendenselben Ursprung haben.« (Ebd.) Mit de Brosses’ Schrift, »ist die Verbannung des Fetischs ins ferne Afrika prinzipiell aufgehoben und dem allgemeinen Parallelisieren ein weites Feld eröffnet« (Weder 2007: 64). Das Fetischismusargument findet sich bei de Brosses zwar nicht in seiner voll entwickelten Form, d.h. explizit formuliert als komparative und normative Nivellierung; jedoch ist dieses im Ansatz einer implizit formulierten komparativen Nivellierung bereits erkennbar, wenn de Brosses schreibt: »Geister von dieser Beschaffenheit [die Gegenstände für beseelt halten] sind selbst in aufgeklärter Zeit und unter civilisierten Völkern gar nichts seltenes.« (De Brosses 1785: 139) Diese Universalisierung ändert jedoch nichts an de Brosses’ Ablehnung der Fetischverehrung als »kindische[r] Gottesdienst« (ebd.: 8) sowie fetischverehrender Völker, »die ihr ganzes Leben hindurch Kinder am Verstande bleiben« (ebd.). Zusätzlich zur rationalen Inferiorität erscheinen Anhängerinnen und Anhänger des Fetischdienstes bei de Brosses im Lichte seiner Verfallsthese auch als unerlöste Sünder, die ihren Abfall von den unmittelbaren göttlichen Anleitungen mit der Sintflut und in weiterer Folge mit der Religion des Fetischismus bezahlt haben. Während 5 | Der Fetisch ist nach dieser Typologie das Objekt, das um seiner selbst verehrt wird, während Idole Kunstobjekte sind, die Gegenstände der Verehrung darstellen (de Brosses 1785: 44f.). Im Unterschied zum Idol fallen demnach beim Fetisch das Bezeichnete und das Bezeichnende zusammen. Zur Kritik an der Unterscheidung zwischen Idol und Fetisch siehe etwa Böhme (2006: 35).

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sich, so de Brosses, manche Völker aus dem Dunkel der Fetischverehrung mühevoll durch »Beyspiel, Erziehung und Übung ihrer Kräfte« herausgewunden hätten, verharrten andere noch immer darin (ebd.: 9). Es sind diese dargestellten religionsphilosophischen Deutungen des Phänomens des Fetischs bzw. Fetischismus, die der im Folgenden vorzustellenden Argumentationsfigur nicht nur anhaften, sondern ihre Wirksamkeit erst bedingen. Fetischismus, das ist für die Zeitgenossen von Hume, de Brosses und Meiners klar, ist das Primitive, das Rückständige, das zu Überwindende. Während die Reiseberichte des 15. und 16. Jahrhunderts den Fetisch fast ausschließlich – von einzelnen Hinweisen auf die Verwandtschaft katholischer und afrikanischer Glaubenspraxis abgesehen – im entfernten Afrika verorten, dient Fetischismus den Aufklärern des 18. Jahrhunderts als Sammelbegriff für religiöse Rationalitätsdefizite, die potentiell überall identifiziert werden können: im Kongo ebenso wie in Preußen oder im Vatikan.

3 D AS F E TISCHISMUSARGUMENT 3.1 Atheistische Religionskritik: Meslier und Holbach Einer der ersten Religionskritiker, der sich des Fetischismusarguments bediente, war Jean Meslier, der bis zu seinem Tod 1729 ein Doppelleben führte: Als katholischer Priester ließ er seine Umgebung nicht ahnen, welch tiefreichende Abneigung gegen alle Religion, die katholische im Besonderen, er in seinem innersten Denken und Fühlen verbarg. Erst nach seinem Ableben offenbarte Meslier in seinem Testament, der ersten systematischen atheistischen Religionskritik der Moderne, seine wahre Gesinnung. In dieser Schrift verwendet Meslier das Fetischismusargument gezielt in Bezug auf den Kern des christlichen Gottesdienstes: die Eucharistie.6 Gemäß der katholischen Lehre verwandelt der Priester während der Transsubstantiation Brot und Wein in das wirkliche Fleisch und Blut Jesu.7 Christen, die die Eucharistie praktizieren, und – so wie im Fal6 | Polemiken gegen die römisch-katholische Eucharistie, insbesondere von protestantischer Seite, waren in Frankreich hingegen nicht neu: Während der sogenannten Affaire des Placards im Jahr 1534 prangerten protestantische Plakate mit dem Titel Articles veritables sur les horribles grandz & importables abuz de la messe die Transsubstantiationslehre an und wandten sich gegen die Vorstellung, Gott sei Brot, wo Gott doch laut Heiliger Schrift im Himmel sei (vgl. Holt 1995: 18f.). Die Bedeutung des christlichen Abendmahls war auch vor der Reformation nicht unumstritten, wie sich am sogenannten Abendmahlsstreit im Mittelalter zeigt, der unter Theologen bis zum Vierten Laterankonzil 1215 geführt wurde, das letztlich die Transsubstantiationslehre festschrieb. 7 | In der lutherischen Tradition stellen Brot und Wein zwar nicht das wirkliche Fleisch und Blut Jesu dar, immerhin aber Gegenstände seiner realen Präsenz

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le Mesliers die französischen Katholiken – die konsekrierte Hostie nicht als Symbol, sondern als wirkmächtige Gottheitspartikel verehren, haben nach Meslier keinerlei Recht, auf die »Heiden« herabzublicken: »Unsere römischen Christgottgläubigen verurteilen und verdammen ebenso wie die nichtrömischen Christen die Heiden, weil jene Idole aus Holz, Stein, Kupfer, Bronze, Gips, Gold oder Silber anbeteten oder es jetzt noch tun, und sie meinen, daß es doch eine große Torheit und ungeheure Verblendung sei, derart Statuen und unbewegte Götterbilder zu verehren, die kein eigenes Leben und nicht das mindeste Gefühl haben, noch fähig sind, Gutes oder Böses zu tun. […] Sie haben in der Tat recht, sich über solche Götter und die, die sie verehren, lustig zu machen. Aber warum bloß sind sie dann selbst so dumm oder so närrisch, dasselbe zu tun und selbst ständig kleine armselige Idole oder Abbilder aus Teig zu verehren?« (Meslier 2005: 184)

Wenn die Gottheit durch die Worte eines Priesters in Brot und Wein verwandelt werden könne, so fragt Meslier, »warum sollte sie […] dann nicht ebensogut dem Holz oder Stein innewohnend […] verehrt werden wollen?« (ebd.: 185). Die Materialien Holz und Stein seien darüber hinaus dem Teig der Hostien vorzuziehen, denn immerhin könnten sie nicht von Mäusen gegessen und mit dem Wind davongetragen werden (ebd.: 186). Christen, die Anhänger außereuropäischer Religionen verurteilen, seien, so Meslier, wie Kessel und Topf, die sich gegenseitig ihre Schwärze vorwerfen würden: »Sie sehen […] den Splitter in den Augen ihrer Brüder und Gefährten, der Heiden, aber nicht den Balken, der ihnen selbst darin steckt. Erkennen sie doch bei ihren Brüdern, den Heiden, das törichte Wesen ihres Götzendienstes […].« (Ebd.: 184) Durch die komparative wie auch normative Nivellierung in Mesliers Argumentation transzendiert er die Binnenperspektive der unterschiedlichen Glaubenssysteme, die er zugleich relativiert: »Ihr eitler Wahn ist jeweils gleich gut begründet, da es der einen [Seite] ebenso leicht fällt zu behaupten, ihre Gottheit sitze wahrhaftig und wirklich in Götterbildern aus Holz oder Stein, Gold oder Silber, wie der anderen, daß sie in Abbildern aus Teig und Mehl sich befinde.« (Ebd.: 185) Letztlich fällt sein Urteil über die christlichen Götzendiener härter aus, insbesondere über die gebildeten Theologen, die »vor stummen Götzenbildern, armseligen kleinen Gebilden aus Teig wie die Einfältigsten und Ungebildetsten aus dem Volke auf die Knie […] fallen«

(vgl. Art. 10 Confessio Augustana unter http://www.reformatio.de/pdf/CALATDT.PDF [besucht am 30.11.2010]), weshalb sich die aufklärerische Kritik des Abendmahls als Form des Fetischismus auch auf die evangelisch-lutherische Konsubstantiation erstreckt; ebenso auf die orthodoxe Tradition. In anderen reformierten Traditionen hingegen, wie etwa in der Lehre von Zwingli, werden Brot und Wein vielmehr als Zeichen für den Leib und das Blut Jesu angesehen (vgl. Dorner 1867: 298ff.).

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(ebd.: 189). »Es gibt gewiß in keiner heidnischen Religion etwas, das unsinniger, lächerlicher und aberwitziger wäre.« (Ebd.) Inspiriert von Meslier führt der Philosoph Baron Paul Henri Thiry d’Holbach das Fetischismusargument weiter gegen die Transsubstantiation ins Feld, »den erstaunlichste[n] Taschenspielertrick, den die Priesterschaft erfunden hat« (Holbach 1970b: 288). In seinen Schriften bezichtigt er die Christen, denselben Fehler wie die Heiden zu begehen, indem sie mangels Wissens um die wahren Ursachen natürlichen Objekten übernatürliche Kräfte zuschreiben: »Die modernen Religionen sind bloß uralte Thorheiten, die mit einem neuen Gewand bekleidet oder in irgend einer neuen Weise vorgeführt werden. Wenn die alten Wilden Berge, Flüsse, Schlangen, Bäume, Fetische jeder Art angebetet haben; wenn die weisen Ägypter den Crocodilen, Ratten, Zwiebeln ihre Huldigungen darbrachten, sehen wir nicht Völker, welche sich weiter als sie dünken, mit Hochachtung Brot anbeten, in welches wie sie glauben, durch die Zaubereien ihrer Priester die Gottheit herab gebracht wird? Ist das ›Gott-Brot‹ nicht der Fetisch vieler christlicher Nationen, welche in dieser Hinsicht eben so wenig Vernunft besitzen als die wildesten Völkerschaften?« (Holbach 2010: 137)

In Das entschleierte Christentum (vermutlich um 1756), das wie die meisten Werke Holbachs unter Pseudonym erscheinen musste, kritisiert er die katholische Eucharistie als vollkommenen Verzicht auf die Vernunft, der »Anlaß zu höchstem Befremden« gebe (Holbach 1970a: 109): »Durch die furchterregende Stimme eines Priesters wird der Gott des Alls gezwungen, vom Sitz seines Ruhms herabzusteigen, um sich in Brot zu verwandeln. Und dieses in Gott verwandelte Brot ist der Gegenstand der Huldigung eines Volkes, das sich rühmt, die Götzendiener zu verabscheuen.« (Ebd.) Explizit vergleicht Holbach dabei die Transsubstantiation als Dienstbarmachung Gottes durch Worte mit Praktiken amerikanischer Ureinwohner (ebd.). Wie Meslier betont auch er, dass in der Transsubstantiation der Priester letztlich der Schöpfer seines eigenen Gottes sei (Holbach 1970c: 377). Wie sehr die im Fetischismusargument enthaltene Nivellierung dem Perspektivismus geschuldet ist, zeigt sich auch bei Holbach anhand seiner ironischen Definition von Idolatrie: »Religiöser Kult, der mit materiellen, unbeseelten Gegenständen getrieben wird. Dieser Kult gebührt allein dem wahren Gott und wird zum Verbrechen, wenn er auf Geschöpfe übertragen wird; es sei denn, dem wahren Gott wäre die Laune gekommen, sich in eine Oblate oder die Oblate in sich zu verwandeln; dann ändert sich die These.« (Holbach 1970b: 224)

In seiner Taschentheologie (1768) findet sich das Fetischismusargument auch in einer indirekten Form, und zwar auf die religiöse bzw. päpstliche Legitimation staatlicher Herrschaft bezogen:

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M ARIE -L UISA F RICK »Wie wir aus den Erzählungen Reisender erfahren, müssen an der Küste Guineas die Könige eine priesterliche Zeremonie erdulden, die mit ihrer Einsetzung verbunden ist und ohne die das Volk ihre Autorität nicht anerkennen würde. Der Prinz lässt sich auf die Erde nieder, der Priester tritt ihm auf den Leib, setzt den Fuß auf seine Kehle und lässt ihn schwören, der Priesterschaft stets gehorsam zu sein. Wenn der Oberpriester eines elenden Fetischs ein so ehrwürdiges Recht ausübt, wieviel größere Berechtigung hat dann die Macht des höchsten Oberpriesters der Christen, der Amtsträger Jesu Christi auf Erden, Stellvertreter des Herrn der Welt und König aller Könige ist.« (Holbach 1970b: 182)

Allgemeine religionsphilosophische Auseinandersetzungen mit dem Fetischismus sind in Holbachs Le Bon Sense (1772) sowie in seinem System der Natur (1770) enthalten. Den Ursprung des Fetischismus erkennt Holbach – bei »Wilden« ebenso wie bei europäischen Christen – in der Unkenntnis der wahren Ursachen sowie in einem Mangel an Erfahrung (Holbach 2010: 40). Die oder der fetischverehrende Wilde sei letztlich »ein Kind, welches gierig auf das Wunderbare ist […]; seine Unkenntnis mit den Mitteln der Natur ist die Ursache, dass [...] [der Wilde] Geistern und Zauberkünsten Alles, was ihm außerordentlich erscheint, zuschreibt.« (Ebd.: 137) Holbach analysiert – ähnlich wie bereits sein Bekannter Hume (vgl. Hume 1984: Kp. I, II) – nicht zuletzt auch die soziokulturellen Bedingungen, unter denen die Verehrung von Gegenständen ihrer vermeintlichen übernatürlichen Kräfte wegen gedeihen kann. Ein Leben in Furcht vor plötzlichem Tod, vor Krankheiten und ungünstigen Zufällen, die unter Umständen eine ganze Gemeinschaft dem Untergang preisgeben, aber vor allem die Notwendigkeit, durch harte Arbeit seinen Lebensunterhalt beständig aufs Neue zu sichern, sind die wichtigsten Ingredienzien des Nährbodens für Fetischismus. Die »spirituelle Fassung des Gottesbegriffes« hingegen sei ein Erzeugnis der Muße (Holbach 1841: 403). Holbach ist jedoch weit davon entfernt, das kosmotheistisch-materialistische Gottesbild gegenüber dem transzendent-monotheistischen als minderwertig abzustufen. Im Gegenteil hält er den »Wilden« gegenüber dem europäischen Theologen sogar für überlegen, da sich »seine Begriffe doch auf etwas Sichtbares und tatsächlich Vorhandenes« beziehen würden: »Der Lappländer, der einen Felsen anbetet, der Neger, der sich vor einer Schlange niederwirft, sieht doch wenigstens dasjenige, was er anbetet, vor Augen. […] Der abstrakte Denker dagegen, der Theolog der civilisierten Nationen, der vermöge seiner unverständlichen Wissenschaft sich für berechtigt hält, den Wilden, den Lappländer, den Neger, den Götzendiener zu verspotten, sieht nicht, daß er selbst sich vor einem Wesen beugt, welches nur in seinem eigenen Gehirne existiert […].« (Ebd.)

Bei unbefangener Prüfung zerfalle »der Gott der Christen geradezu ins Nichts« (ebd.: 407).

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3.2 Deistische Religionskritik: Voltaire und Meiners Wie groß bisweilen die weltanschaulichen Differenzen zwischen den atheistischen Aufklärungsphilosophen und ihren deistischen Pendants auch ausgefallen sind8, Fetischismus ist auch eine wichtige Argumentationsfigur in den Schriften »gemäßigter« Religionskritiker. In Meiners’ Allgemeinen kritischen Geschichte der Religionen (1806), in der der Göttinger Gelehrte, wie bereits erwähnt, den Fetischkult als »nicht nur […] älteste[n], sondern auch […] allgemeinste[n] Gottesdienst« definiert (Meiners 1806: 143), weist er auch Parallelen zwischen Christentum und Fetischismus auf. Er schreibt: »Man kann den Dienst der Reliquien unter den Christen […] am richtigsten mit dem Fetisch-Dienst vielgöttischer Völker […] vergleichen. Ich begreife viel leichter, wie die Christen an die Wunderkräfte von Reliquien zu glauben anfingen, als warum die Heidnischen Griechen und Römer nicht daran glaubten […].« (Ebd.: 364)

Der Ursprung des Fetischismus, wie überhaupt aller (bisherigen) Religionen, liege im »Mangel einer richtigen Kenntnis der Natur oder Unfähigkeit roher Menschen, die wahren Ursachen natürlicher Erscheinungen zu erforschen« (ebd.: 16). Zwar reiht Meiners den Fetischismus in die Kategorie »falsche Religion« ein, da er nicht zu Glück, wahrer Sittlichkeit und Aufklärung beitrage (ebd.: 74), gleichzeitig betont er aber auch die Relativität der Bewertung unterschiedlicher Glaubenssysteme als wahr oder falsch etc. Es sei evident, so Meiners, »daß eben die Meinungen und Handlungen, welche zu gewissen Zeiten und an gewissen Orten Rechtgläubigkeit und Frömmigkeit ausmachten, zu anderen Zeiten entweder als Unglaube, und Gottlosigkeit, oder als Irrglaube und Aberglaube gestraft oder getadelt wurden« (ebd.: 8). Eine ähnliche Sensibilität für die Fremdzuschreibungsdynamiken legt Voltaire in seinem Artikel Götze, Götzendienst (idole, idolâtrie) in der Encyclopédie an den Tag (Voltaire 2001: 160ff.). Seine komparative Nivellierung basiert dabei auf der gezielten Einführung der Wahrheitsfrage in den Fetischismusdiskurs. Der Irrtum antiker Götzendiener, führt Voltaire aus, »bestand nicht darin, ein Stück Holz oder Marmor anzubeten, sondern eine durch dieses Holz und diesen Marmor dargestellte falsche Gottheit anzubeten. Der Unterschied zwischen ihnen und uns ist nicht, daß sie Abbilder hatten und daß wir keine haben; […] Der Unterschied ist, daß ihre Bilder Phantasiewesen einer falschen Religion darstellten und daß unsere Bilder reale Wesen einer wahren Religion darstellen.« (Ebd.: 160) 8 | So hat sich etwa Voltaire mitunter energisch gegen die Atheisten gewandt und seiner Version von Mesliers Testament, die er edierte, nahezu alle Giftzähne der kämpferischen Gottlosigkeit gezogen und ihren Inhalt dadurch zum Teil entstellt.

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Indem Voltaire die Frage nach der wahren Religion ins Spiel bringt und argumentiert, dass der Götzendienst keine Fehlleistung auf der Ebene der äußerlichen Verehrung, sondern der Verehrung »falscher« Götter ist, produziert er geschickt jenes Maß an Verunsicherung, von dem das Fetischismusargument letztlich lebt: Wenn beide, Heiden und Christen, ihre Gottheiten mittels Bildern oder Idolen verehrt haben bzw. verehren, worin besteht dann die Basis für den Wahrheitsanspruch des Christentums? Voltaire legt Wert darauf, festzuhalten, dass etwa Griechen und Römer ihre Statuten keineswegs als Götter, sondern lediglich als deren Repräsentationen angesehen hätten. Sie hätten sich damit keines Fetischismus schuldig gemacht, im Unterschied zu jenen Christen, die Reliquien verehren und die Eucharistie feiern. An anderer Stelle entlädt Voltaire über das Fetischismusargument all seinen antichristlichen Furor: Im Dialog Das Diner beim Grafen Boulainvilliers lässt er einen Abbé seinen Gesprächspartner fragen: »Aber warum nennt M. Fréret uns Götzenanbeter?« (Voltaire 1970b: 438) Nachdem er Beispiele von Reliquien- und Heiligenkult aufgezählt hat, antwortet dieser: »Getraut ihr euch, euren Götzendienst zu leugnen, ihr, die ihr in tausend Kirchen der Milch der Jungfrau, der Vorhaut und dem Nabel ihres Sohnes einen Heiligenkult darbringt, den Dornen, von denen ihr behauptet, sie stammen aus seiner Krone, dem morschen Holz, auf dem, wie ihr vorgebt, das ewige Wesen gestorben ist? Ihr schließlich, die ihr in Form eines götzendienerischen Kults ein Stück Teig anbetet, das ihr aus Furcht vor den Mäusen in eine Schachtel einschließt? Ein Strauchdieb, den man zum Priester gemacht hat, ein Mönch, der eben aus den Armen einer Dirne kommt, stellt sich in der Tracht eines Komödianten bei mir ein, um mir für zwölf Sous in einer fremden Sprache, die ihr Messe nennt, etwas vorzubrabbeln, die Luft mit drei Fingern zu vierteilen, sich zu verneigen, sich wieder aufzurichten, sich nach links und rechts, nach vorne und hinten zu verbiegen, und so viele Götter zu machen, wie ihm beliebt, sie zu trinken und zu essen und sie hinterher seinem Nachttopf wiederzuerstatten. Und ihr wollt nicht zugeben, daß dies die ungeheuerlichste und lächerlichste Götzenanbetung ist, die je die menschliche Natur entwürdigt hat? Muss man nicht zum Tier geworden sein, um sich einzubilden, daß man Weißbrot und Rotwein in Gott verwandelt?« (Ebd.: 439)

3.3 Religion als »Fetischmachen« bei Kant Im Zuge der Religionskritik der Aufklärung wurde das Fetischismusargument nicht nur gegen die Reliquienverehrung und die Eucharistie gerichtet. Immanuel Kant hat es insofern radikalisiert, als er es auf alle Arten religiöser Glaubenspraxis ausdehnte, welche die Einsicht entbehrten, dass allein moralische Integrität den wahren Gottesdienst darstellt. In Der Streit der Fakultäten (1798) differenziert Kant zwischen »Religionsglauben« und »Kirchenglauben« (Kant 1968d: 36). Letzterer basiere

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auf der Befolgung von religiösen Gesetzen, die von anderen an das Subjekt herangetragen werden und damit mehr oder weniger willkürlich sind, während der Religionsglaube auf inneren Gesetzen beruhe, die die Vernunft gibt. Diese Unterscheidung entspricht Kants Abgrenzung der »Vernunftreligion«, welche sich jedem allein durch seine Vernunft erschließe, von der »Offenbarungsreligion« (Kant 1968a: 121). Die »natürliche Religion« unterscheidet sich nicht zuletzt dadurch von der geoffenbarten Religion, dass Vertreterinnen und Vertreter der letzteren etwas erst dann als ihre Pflicht anerkennen, nachdem es ihnen als göttliches Gebot ausgewiesen wurde. Umgekehrt begreife die Anhängerschaft der natürlichen Religion zuerst mittels Vernunft moralische Integrität als ihre Pflicht, noch bevor sie diese als göttliches Gebot (an-)erkennt (ebd.: 154f.). Der Mensch des Religionsglaubens gehorcht – ganz im Sinne der Kant’schen sittlichen Autonomie – nicht dem Gesetz, das Gott, sondern er sich selbst gibt, das aber im Idealfall mit dem Willen Gottes, der nicht durch heilige Bücher oder Propheten, sondern gerade durch die Vernunft geoffenbart ist, übereinstimmt. Der Wille Gottes wirkt bei Kant nicht mehr auf der Ebene der Pflichtgenese, sondern vielmehr auf jener der Motivation, diese Pflichten einzuhalten. Diese Kant’sche Konstruktion lebt von der für das Vernunftzeitalter bezeichnenden optimistischen Annahme, dass letztlich kein Gegensatz zwischen dem moralischen Gesetz, das sich der aufgeklärte Mensch selbst gibt, und dem Willen Gottes denkbar ist. Die Entwicklung der Menschheit vom Kirchenglauben zum Religionsglauben beschreibt Kant als ein Erwachsenwerden. Im Zeitalter der Aufklärung, das Kant berühmt als »Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit« charakterisiert (Kant 1999: 20), legt der Mensch nun auch in Religionssachen ab, was kindisch an ihm war (Kant 1968a: 122). Es ist diese Vernunftbegabung des Menschen, die bestimmte religiöse Riten und Praxen gleichsam ausschließt, wie Kant in seiner Metaphysik der Sitten (1797) im Abschnitt Von der Kriecherei festhält: »Das Hinknien oder Hinwerfen zur Erde, selbst um die Verehrung himmlischer Gegenstände sich dadurch zu versinnlichen, ist der Menschenwürde zuwider, sowie die Anrufung derselben in gegenwärtigen Bildern; denn ihr demütigt euch alsdann nicht unter ein Ideal, das euch eure eigene Vernunft vorstellt, sondern unter einem Idol, was euer eigenes Gemächsel ist.« (Kant 1959: 228)

Kant, der in seinen geographischen Studien (vgl. Kant 1968c) wie auch in seiner Schrift Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen die Fetischverehrung in Afrika als »eine Art von Götzendienst, welcher so tief ins Läppische sinkt, als es nur immer von der menschlichen Natur möglich zu sein scheint« beschreibt (Kant 1968b: 253), integriert den Begriff Fetisch bzw. Fetischmachen bewusst in seine Religionsphilosophie, wie er sie insbesondere in Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793) darlegt. Folgt man Kant, so ist Fetischismus die Grenze zwischen (Vernunft-)Religion und Heidentum, oder wie er es noch ausdrückt, »Re-

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ligionswahn«. Die (wahre) Religion wird von Kant definiert als »derjenige Glaube, der das Wesentliche aller Verehrung Gottes in der Moralität des Menschen setzt: Heidenthum, der es nicht darin setzt« (Kant 1968d: 49). Der Religionswahn besteht konkret darin, das Wesen der Religion in der »Befolgung statuarischer, einer Offenbarung bedürftiger Gesetze« zu sehen (Kant 1968a: 168, 178f.). Wer dies tue, verwandelt »den Dienst Gottes in ein bloßes Fetischmachen […]« (ebd.: 178f.). Er erklärt: »[A]lles was außer dem guten Lebenswandel der Mensch noch thun zu können vermeint, um Gott wohlgefällig zu werden, ist bloßer Religionswahn und Afterdienst Gottes.« (Ebd.: 170) Die Geisteshaltungen, die Kant dabei im Besonderen in den Blick nimmt, wenn er das Verdikt »Fetischmachen« fällt, sind der Glaube an Wunder, der Glaube an Geheimnisse sowie der Glaube an »Gnadenmittel«, die er als drei Arten von »Wahnglauben« ansieht (ebd.: 194). Dass Kants Kritik der Religion als Fetischmachen dabei weit über den herkömmlichen aufklärerischen Kampf gegen religiösen Aberglauben hinausreicht und wie radikal reduktionistisch sein Religionsentwurf tatsächlich ist, zeigt sich deutlich an seiner Kritik der »Gnadenmittel«, d.h. am Versuch, durch Naturmittel – bei Kant alles, was über die Befolgung des moralischen Gesetzes hinausgeht – auf Gott Einfluss nehmen zu wollen. Wallfahrten, religiöse Rituale aller Art, explizit auch die Fünf Säulen des Islams (ebd.) und das Beten sind – sofern sie in der Absicht erfolgen, auf Gott zu wirken – für Kant nichts als ein »abergläubischer Wahn (ein Fetischmachen)« (ebd.) und »frommes Spielwerk und Nichtsthuerei« (ebd.: 173).9 Kant betont ausdrücklich, dass es hinsichtlich der Verbreitung des Religionswahns keinen Unterschied zwischen Schamanen, Prälaten oder Puritanern gibt (ebd.: 176). Sie alle gehören »insgesamt zu einer und derselben Klasse, derer nämlich, die in dem, was an sich keinen besseren Menschen ausmacht […] ihren Gottesdienst setzen« (ebd.). Es ist interessant, dass Kant in seiner Religionskritik nicht von Fetischismus oder Fetisch, sondern von Fetischmachen spricht. Wenn man davon ausgeht, dass sich der lateinkundige Kant der etymologischen Wurzel von Fetisch, dem lateinischen facticius, bewusst war, könnte man die Frage aufwerfen, warum sich Kant für diesen tautologischen Begriff entschieden hat. Kant selbst gibt darauf keine Antwort, er erklärt lediglich, warum er anstatt von Fetischmachen nicht von Zauberei spricht, da Letztere zu sehr mit dem bösen Prinzip assoziiert werde (ebd.: 177). Man könnte jedoch auch argumentieren, dass der Begriff Fetischmachen bei Kant jeder semantischen Redundanz entbehrt, da der Fetisch, den die oder der unaufgeklärte Gläubige produziert, sie oder er selbst ist. Indem er sich wie im Falle des Bittgebets als ein Wesen vorstellt, das fähig ist, auf übernatürliche Art und Weise in Gott zu wirken, macht sich der vom Reli9 | Man täte Kant gewiss Unrecht, seine Religionskritik auf typisch protestantische Katholizismuskritik zu reduzieren und ihn als »Protestanten« zu bezeichnen, wie dies etwa bei Böhme erfolgte (vgl. Böhme 2006: 209).

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gionswahn Betroffene selbst zum Fetisch. Fetischmachen könnte daher in diesem Sinne verstanden werden als Selbstvergegenständlichung, als Entledigung der eigenen Würde als Subjekt.

4 G RENZEN DER V ERNUNF T : ATHEISTISCH , RELIGIÖS , SZIENTISTISCH Wie gezeigt werden konnte, haben religionskritische Philosophen der Aufklärung das Demarkationspotential des Fetischs bzw. Fetischismus für ihre Argumentation wider die behauptete Irrationalität von (bestimmten Formen von) Religion zu nutzen gewusst. Die anhand der Fetischverehrung vermessene Grenze zwischen »Zivilisation« und »Heidentum« (mitunter auch zwischen »wahrem« und »falschem« Christentum) haben sie dabei ihrer vormals geographischen (oder auch konfessionellen) Bedeutung entledigt und zu einer Kampfzone zwischen dem »Licht« der Vernunft und dem »Dunkel« des Aberglaubens erklärt. Dass Vernunft dabei mitunter durchaus unterschiedlich bestimmt wurde, geht nicht zuletzt aus der näheren Analyse des Fetischismusarguments hervor. Fetischistinnen oder Fetischisten sind, wie Kohl richtig bemerkt, immer die Anderen (Kohl 2003: 91). Im Fall der Aufklärer sind sie die vernunftdefizitären Anderen. Doch so unterschiedlich wie die religionsphilosophischen Positionen der Denker des Aufklärungszeitalters sind, so verschiedenartig sind auch ihre Vernunftverständnisse: Für die Atheisten Holbach und Meslier sind es pauschal alle, die an ein geistig-göttliches Wesen glauben, für die Deisten umgekehrt aber neben den Vertretern der herkömmlichen Religionen auch jene, die die Existenz eines höchsten geistigen Wesens in Abrede stellen.10 Für Kant wiederum zeichnet Vernunft diejenigen aus, die auch in religiösen Angelegenheiten selbstständig urteilen und insbesondere die Grenzen ihrer Vernunft anerkennen. Als Argumentationsfigur begrenzt demnach Fetischismus nicht die Vernunft als solche, sondern mitunter rivalisierende Vernünfte: die atheistische Vernunft ebenso wie die deistische oder die kantianisch-kritizistische. Neben diesem – unterschiedlich ausgefüllten und letztlich relativen – materiellen Vernunftbegriff kommt im religionskritischen Diskurs der Aufklärung auch ein formaler Vernunftbegriff zum Vorschein, wenn es darum geht, Fetischismus der Widervernunft zu überführen. Die Fehlinter10 | Stellvertretend für die deistische Vernunft siehe hier Voltaire: »Schon meine Vernunft beweist mir, daß es ein Wesen gibt, welches den Stoff dieser Welt geordnet hat.« (Voltaire 1985: 107) Auch Hume konzediert in Kontrast zu seiner grundsätzlich skeptischen Haltung: »Die gesamte Struktur der Welt verrät einen intelligenten Urheber und kein vernünftiger Forscher kann nach ernsthaftem Nachdenken […] auch nur einen Augenblick lang in Zweifel sein.« (Hume 1984: 1) Für die atheistische Vernunft plädiert Holbach: »Der vernünftige Mensch wird ungläubig.« (Holbach 2010: 215)

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pretation von Mittel-Zweck- bzw. Ursache-Wirkungs-Relationen ist Gegenstand der Kritik bei allen in diesem Beitrag vorgestellten Denkern. So ist in Kants Augen der Religionswahn bzw. das Fetischmachen nicht allein deshalb unvernünftig und letztlich falsch, da er bzw. es ein entwürdigender Gottesdienst sei, sondern auch weil es auf einer defizitären Auffassung vom Verhältnis Ursache und Wirkung beruhe, da bloße Naturmittel, »die zu dem, was nicht Natur ist (d.i. dem sittlich Guten) für sich schlechterdings nichts wirken können« (Kant 1968a: 174). Die oder der unaufgeklärte Gläubige will beispielsweise durch das Gebet Gottes Gnade erlangen (Zweck), wählt aber dafür aus der Sicht Kants gänzlich untaugliche Mittel, »denn es ist ein bloß erklärtes Wünschen gegen ein Wesen, das keiner Erklärung der inneren Gesinnung des Wünschenden bedarf« (ebd.: 194). Der formale Vernunftbegriff in der Religions- bzw. Fetischismuskritik findet sich auch bei Holbach, wenn er schreibt, dass alle menschlichen Irrtümer aus der mangelhaften Naturerkenntnis erwachsen und wenn er ebendiese Naturerkenntnis zum Unterschied zwischen dem aufgeklärten Menschen und dem nichtaufgeklärten »Wilden« erhebt (Holbach 1841: 12f.). Der Zweck, den der »Wilde« mit seiner Fetischverehrung verfolge, den des Schutzes, der Kraftsteigerung oder anderer begünstigender Effekte, wird nämlich von Holbach nicht in Frage gestellt. Lediglich das Mittel der Fetischverehrung sei falsch gewählt, weil eben das Wissen um die Natur und ihre Kausalzusammenhänge nicht im ausreichenden Maße vorhanden sei. Es ist diese szientistische Vernunft, die sich bis zu Aristoteles und seiner Lehre vom Ursachenwissen als höchstem Wissen zurückverfolgen lässt (Aristoteles 1984: 18) und die mehr als jede andere das neuzeitliche abendländische Denken und die Entwicklung der modernen Wissenschaft geprägt hat. Wenn die oder der »Wilde«, wie Holbach ausführt, ein zufälliges Ereignis beobachtet, und ihm dann eine bestimmte Auswirkung in dessen zeitlicher und räumlicher Nähe zuschreibt (Holbach 1841: 341f.), begehe sie oder er den Fehler des bequemen Denkens und verabsäume es, den Dingen auf den Grund zu gehen: »Erklärt man denn Sachen dadurch, dass man sie unbekannten wirkenden Wesen, unsichtbaren Mächten, unkörperlichen Ursachen zuschreibt?« (Holbach 2010: 240) Gemäß dieser szientistischen Vernunft können ohne systematische Beobachtung der Natur keine Korrelationen, geschweige denn Kausalitäten angenommen werden. Und ohne das Wissen um die Ursachen und Gründe lassen sich letztlich auch keine adäquaten Mittel zur Erreichung gewünschter Ziele verwenden. Als beispielhafte Folgen dieser Defizite an wissenschaftlicher Rationalität werden von den religionskritischen Philosophen das Beten, Wallfahrten, Fetischverehren in Unglücksfällen wie Krankheiten etc. anstelle der Entwicklung von wirksamen Arzneimitteln angeführt (vgl. Meiners 1806: 76; Holbach 2010: 243). Dass es Holbach als Spezifikum entwickelter Gesellschaften ansieht, über die nötige Muße zu verfügen, die Natur wissenschaftlich beobachten zu können, und dass er damit ein gewisses Maß an Verständnis für

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die Fetischverehrung bei »Naturvölkern« erkennen lässt, ändert nichts an seinem Standpunkt, wonach der Fetisch oder Gott im Denken der Menschen stets nur einen Lückenbüßer für noch nicht durchdrungene Kausalitätsbeziehungen darstellt (Holbach 1841: 344). Bereits de Brosses attestiert dem Fetischisten, dass dieser nicht in der Lage sei, »den geringsten Zusammenhang zwischen gewissen Dingen und den Wirkungen, die er davon erwartet, wahrzunehmen« (de Brosses 1785: 138). Holbach und de Brosses scheinen hier auf Bernard de Fontenelle (geb. 1657) und seine Schrift Vom Ursprung der Fabeln zu rekurrieren, der in ganz ähnlicher Weise die Religion (der »Naturvölker«) auf den Mangel an induktiver Methode zurückführt: »Wir haben es nicht errathen, sondern aus der Erfahrung wahrgenommen, was die Gewichte, die Federn, die Hebel vermögen: daher lassen wir auch die Natur durch Hebel, Federn und Gewichte wirken.« (Fontenelle 1751: 593) Unter Berücksichtigung dieses szientistischen Subtextes des Fetischismusarguments wird schließlich ersichtlich, dass sich die Kritik an der Fetischverehrung bzw. der Religion als solcher unter den Vorzeichen der formalen Vernunft weniger gegen den Glauben an den Fetisch richtet, als vielmehr gegen das Fundament dieses Glaubens, das in den Augen der Aufklärer zu instabil erscheint, um als Rechtfertigung für religiös-legitimierte Handlungsdirektive und Weltdeutungen dienen zu können. Es sind daher jene Einschätzungen zu hinterfragen, die der aufklärerischen Fetischismus- bzw. Religionskritik einen »kolonialen, kulturzerstörenden Impuls« attestieren (Böhme 2006: 185). Wenn etwa Böhme schreibt, es könne den Aufklärern »gar nicht in den Blick kommen, daß der afrikanische Fetischismus ein komplexes System der Ordnungserzeugung, der Handlungssteuerung, der Grenzbewahrung, des Schutzes, der Angstbewältigung, der symbolischen Sinnstiftung und der rituellen Integration von Gemeinschaft wie Individuum darstellt« (ebd.), so tut er Denkern wie de Brosses, Holbach, Voltaire, Kant oder Meiners Unrecht, für die es eben nicht darauf ankommt, dass Religion bzw. Fetischismus Ordnung erzeugt, Handlungen steuert und Angst bewältigt, sondern die nach der Qualität von gesellschaftlichen Ordnungen und Handlungssteuerungen fragen, und danach, wie sinnvoll es ist, Ängste zu bewältigen – wie etwa jene vor bösen Mächten –, die vielleicht gänzlich unbegründet sind, weil ihr Inhalt in der Realität über keine Entsprechung verfügt. Mit der Akzentuierung der Wahrheitsfrage stellen die Philosophen der Aufklärung auch heute eine Provokation für jenes Denken dar, das undifferenziert jeder Kultur und jedem Glaubenssystem seinen inhärenten Wert zubilligt. Ein objektives Kriterium der Wahrheit sucht man zwar im Bereich materieller Vernunftverständnisse vergebens, wo Voltaire die entscheidende Frage stellt, zugleich die entscheidende Einsicht liefert: »Wer wird diesen großen Streit entscheiden? Die Vernunft? Aber jede Sekte behauptet, die Vernunft auf ihrer Seite zu haben. Also wird die Gewalt entscheiden, bis die Vernunft so viel Köpfe erleuchtet, daß die Gewalt entwaffnet wird.« (Voltaire: 1985: 50)

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Hingegen dürfte es sich im Bezug auf ein formales Vernunftverständnis als schwierig erweisen, die Grenzen der szientistischen Rationalität herauszufordern. Der Vernunft des Fetischismus folgend wirkt ein Gegenstand, weil ihm eine bestimmte Bedeutung innewohnt. Der aufklärerischen Vernunft nach wirkt ein Gegenstand und hat folglich Bedeutung. Es ist letztlich dieses Kriterium der Effektivität, das gerade keine (kultur-) relativistische Urteilsenthaltung nahelegt, aber auch keine zwangsläufige Überheblichkeit im Umgang mit Fetischismus im Besonderen und religiösen Traditionen im Allgemeinen.

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Primitive Sprachen Primitivismus in der Sprachforschung? Claudia Posch

Der Fetisch ist (in) der Linguistik kein Begriff, denn sie befasst sich normalerweise weniger mit den realen Personen oder Gegenständen außerhalb der Sprache – mit der sogenannten »extralinguistischen Wirklichkeit« –, sondern mit jenen Lauten und Lautverbindungen, die diese Personen und Gegenstände bezeichnen. Sie untersucht, wie auf Gegenstände und Personen referiert wird. Verwendungen des Wortes Fetisch in der Sprachwissenschaft beschränken sich höchstens auf den alltagssprachlichen Gebrauch, der Begriff und das Konzept werden jedoch nicht diskutiert. Die, inzwischen bekannte, und in diesem Band mehrfach angesprochene Wortetymologie ist gerade noch der einzige Punkt, der auf den ersten Blick die Sprachwissenschaft zu berühren scheint. So gibt auch das Etymologische Wörterbuch der deutschen Sprache von Kluge (Kluge/Seebold 2002: 258) die schon genannte Wortherkunft als Entlehnung vom französischen fétiche (dieses wiederum aus dem portugiesischen feitiço in den Bedeutungen »Zauber, Zaubermittel«, eigentlich »künstlich Hergerichtetes«) wieder. In welcher Hinsicht kann das Konzept des Fetischs also für die Sprachwissenschaft von Bedeutung sein? Gerade die Beschäftigung mit Wortgeschichte bzw., breiter gefasst, die Suche nach dem Sprachursprung könnte sich eignen, um eine Verbindung mit den »Irritationslinien« des Fetischs aufzuzeigen (vgl. Antenhofer in diesem Band). Ein Hinweis auf eine dieser Irritationslinien findet sich im Beitrag von Rogério Brittes W. Pires. Er bezieht sich auf Saussure, einen der Begründer der modernen Linguistik. Es geht dabei um die Dualität des sprachlichen Zeichens; Brittes meint hierzu: »Die Beziehung zwischen dem Geist, der einen Fetisch animiert, und seiner materiellen Gestalt (dem Objekt) kann als gleichwertig gesehen werden, so wie die Beziehung zwischen dem Signifikat (Bedeutung) und dem Signifikant (akustischer Ausdruck) des Zeichens.« (Vgl. Brittes in diesem Band)

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Es wird hier nicht ein Verschwimmen verschiedener Begriffe angedeutet, sondern eher eine untrennbare Verbindung, ein gegenseitiges »Sich-Bedingen« von Sprache und Denken: »In diesem Sinne ist Sprache – inklusive Schall, akustischer Ausdruck – die Materie des Denkens selbst. Das Denken, das ja Konzepte voraussetzt, kann nicht vom Zeichen getrennt werden, diese komplexe, zweifache Erfahrung, diese Mischung von homogenen und untrennbaren Begriffen, die sich gegenseitig definieren.« (Vgl. ebd.)

Brittes spielt also auf das enge Verknüpftsein von Sprache und Denken an, eine Idee, die frühen Diskursen über den Sprachursprung zugrunde liegt. In dieser Idee spielt sich vielleicht auch das Reden über den Fetisch ab, der letztendlich ein sprachliches Konstrukt ist. So geht der Anthropologe Sansi davon aus, dass der Fetisch überhaupt erst durch die Begegnung mit den katholischen Emblemen der Portugiesen in der afrikanischen Kultur auftaucht, somit also in einer sprachlichen Kontaktzone entstand. In diesen Sprachkontaktzonen fanden auch Begegnungen mit »neuen« Sprachen sowie der Anfang der wissenschaftlichen Beschreibung dieser Sprachen statt. Um in diesen Diskursen, genauer in den frühen sprachwissenschaftlichen Diskursen des 18. und 19. Jahrhunderts, Irritationsmarker aufzuspüren, bietet sich ein diskursanalytischer Blick an. Geeignet ist im Besonderen die Kritische Diskursanalyse in ihrer Ausrichtung der Wiener Schule. Sie betrachtet die Sprache als »Form sozialer Praxis und will die gegenseitige Beeinflussung von Sprache und sozialen Strukturen aufzeigen« (Pöllabauer 2005: 143). Es soll hier also nicht der Wert einzelner sprachwissenschaftlicher Modelle, wie der Sprachtypologie, an sich kritisiert, sondern vielmehr deren Entstehung vor einem kolonialen Hintergrund beleuchtet werden. Methodisch werden die Texte auf folgende diskursanalytische Kategorien hin untersucht: Nomination: Gemeint sind verschiedene Strategien der Benennung und Bezugnahme. Als Beispiele linguistischer Einheiten gelten Mitgliedschaftskategorien, Metaphern, Metonymien oder Synekdochen. Im Fall der sprachwissenschaftlichen Untersuchungen afrikanischer Sprachen könnten dies Benennungen der Sprecherinnen und Sprecher als »Wilde« sein, oder auch: »Kinder am Verstande«, »Hamiten«, »Nation«. Prädikation: Hier werden einer Person oder Sache (Personen, Tieren, Objekten, Handlungen, Ereignissen, Sachverhalten, Phänomenen etc.) stereotype, wertende positive oder negative Eigenschaften explizit oder implizit zugeschrieben. Unter diesem Aspekt lässt sich beispielsweise untersuchen, welche Prädikationsstrategien in einem Text verwendet werden, um über die Unterschiedlichkeit von Sprachen zu sprechen. Ein Beispiel könnte in etwa so aussehen: »Die zur Gruppe G gehörigen Sprachen sind primitiver als die zur Gruppe A gehörigen Sprachen.«

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Argumentation: Damit sind Strategien gemeint, die sich bestimmter Topoi bedienen, die zur Legitimation von Inklusion oder Exklusion gebraucht werden. Wie wird also beispielsweise argumentiert, um Sprecherinnen und Sprecher einer Sprache auszugrenzen und zu diskriminieren? In diesem Fall sind vor allem der Fortschrittstopos (Fortschritt als Linie), der Geschichtstopos und der Topos der Trennung von Materie und Geist zu nennen. Abschwächung und Intensivierung der illokutionären Wirkung: Hier kann gefragt werden, ob die vorher genannten Kategorien im Diskurs verstärkt oder abgeschwächt werden. (Vgl. Hafez 2010: 70-73; Reisigl 2007: 10) Gerade aufgrund ihrer ursprünglichen Nähe zur anthropologischen Forschung, besonders im 19. Jahrhundert, kann man davon ausgehen, dass das Konzept Fetisch und seine »Irrititationslinien« zumindest in irgendeiner Art auch in der Sprachwissenschaft auftauchen müssten. Vor allem, weil in den ethnologischen und religionsgeschichtlichen Debatten der Neuzeit die Funktion des Fetischs als kommunikatives Mittel hervorgehoben wird. So weist etwa Pietz darauf hin, dass der Fetisch die Bezeichnung für etwas Neuartiges darstellte, das als Kommunikationsmittel in Westafrika zur Verständigung zwischen »Entdeckern« und »Entdeckten« diente (vgl. Antenhofer in diesem Band). Auch verschiedenste Sprachen wurden in dieser Zeit gewissermaßen »entdeckt« – viele von ihnen erstmals schriftlich festgehalten. Schließlich wurden vor allem im 19. Jahrhundert umfassende Theorien über die Struktur dieser Sprachen und ihre historische Entwicklung aufgestellt. Somit kann ein kritischer Blick auf die Diskurse des 18./19. Jahrhunderts vielleicht Auskunft geben, inwieweit die angenommene »Primitivität« afrikanischer Sprachen die These der geistigen Unterlegenheit von Afrikanerinnen und Afrikanern generell stützte und somit zur kolonialen Ideologie beitrug. Für diesen Beitrag wurde ein vergleichsweise kleines Korpus aus Texten des 19. Jahrhunderts in Auszügen untersucht.1 In den vorhandenen Texten finden sich Anknüpfungspunkte in Bereichen zweier sprachwissenschaftlicher Diskursfelder: 1) in der Erforschung des Sprachursprungs, der Sprachgeschichte und im Zusammenhang von Sprache und Denken; 2) in der Sprachpolitik der Kolonien: der Übersetzbarkeit und Normierung afrikanischer Sprachen.

1 | Problematisch für die hier vorgelegte Untersuchung ist die teils schlechte empirische Datengrundlage aus und zu den jeweils beschriebenen Einzelsprachen. Da eine wesentliche Erweiterung den Rahmen dieser Arbeit gesprengt hätte, soll sie als Pilotstudie zu weiteren Projekten verstanden werden, in denen die hier aufgestellten Thesen weiterverfolgt werden.

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Diese beiden Punkte und ihre Eignung als Rahmen für eine Diskursuntersuchung sollen im Folgenden kurz dargestellt werden. Der Erforschung des Sprachursprungs und der Sprachgeschichte widmeten sich namhafte Persönlichkeiten wie Johann Christoph Adelung (Umständliches Lehrgebäude der deutschen Sprache 1782; Mithridades oder allgemeine Sprachenkunde 1806; Volständige Geschichte der Schiffahrten nach den gröstentheils unbekanten Südländern 1767 [nach de Brosses]), Jacob Grimm (Über den Ursprung der Sprache 1857) und Johann Gottfried Herder (Abhandlung über den Ursprung der Sprache 1966 [1772]), Carl Meinhof (Die Christianisierung der Sprachen Afrikas 1905; Die Sprachen der Hamiten 1912). Den Zusammenhängen von Sprache und Denken spürten im 19. Jahrhundert beispielsweise die Gebrüder Schlegel (Über die Sprache und Weisheit der Indier 1808) und Wilhelm von Humboldt (z.B. Über das vergleichende Sprachstudium in Beziehung auf die verschiedenen Epochen der Sprachentwicklung 1820; Über die Entstehung der grammatikalischen Formen und ihren Einfluss auf die Ideenentwicklung 1822; Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts 1836) nach (vgl. auch Gardt 1999), welche in Auszügen hier nach den oben genannten Kategorien untersucht werden. Die Sprachursprungsforschung, der sogenannte glottogonische Ansatz, untersuchte genealogische Beziehungen zwischen Sprachfamilien ähnlich der Darwin’schen Evolutionstheorie (vgl. Haarmann 2010). Als Startpunkt der vergleichenden Sprachwissenschaft werden traditionell Sir William Jones’ Ausführungen in seiner Rede On the Hindus (1786) über Sanskrit, Griechisch und Latein gesehen (Welte 1985: 78). Der evolutionistische Erklärungsansatz für die sprachliche Diversität wurde also sogar schon vor Darwins Formulierung seiner Evolutionstheorie herangezogen (vgl. Ruhlen 1995: 4, 261). Ein großes Ziel dieser anthropologisch ausgerichteten Sprachwissenschaft im 19. Jahrhundert war es, eine Genealogie der Sprachen zu erstellen. Man wollte möglichst umfassend und lückenlos die genetische Verwandtschaft der Sprachen erklären. Hierzu wurden frühere Sprachstufen rekonstruiert und die Entwicklungsgeschichten von Einzelsprachen miteinander verglichen. Grundlage für die Theorie der Sprachgenealogie war die Evolutionstheorie. Die Sprachforscher des 19. Jahrhunderts, die sich auf die Suche nach dem Sprachursprung begaben2 , gingen davon aus, dass Sprache und Vernunft sich gegenseitig bedingen und somit die Komplexität einer Sprache auch Auskunft über den Geisteszustand ihrer Sprecherinnen und Sprecher geben könne. Es wird eine einfache Entwicklungslinie, ein Fort2 | Wegen der Absurdität der meisten Sprachursprungstheorien hat die französische Gesellschaft für Sprachwissenschaft (Société de linguistique de Paris) 1866 ihren Mitgliedern die Beschäftigung mit Fragen des Sprachursprungs verboten. (Für diesen Hinweis möchte ich Gerhard Rampl danken.) Vgl. auch Christian Lehmann in einem Vorlesungsskriptum zu den Grundlagen der Linguistik: http:// www.christianlehmann.eu/ling/elements/index.html (besucht am 08.04.2011).

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schrittsgedanke, angenommen, wie auch in anderen Gegenständen und Disziplinen: von »primitiv« zu »komplex«. So bezog sich Johann Christoph Adelung, wie Coseriu (1972) feststellt, in dieser Weise auf den morphologischen Aufbau der Sprachen, d.h. darauf, welche Funktionen einzelne Morpheme in einer Sprache übernehmen können. Jene Sprachen, in denen jeweils ein Morphem nur eine einzige grammatikalische Funktion übernehme, seien demnach diejenigen, die dem Sprachursprung »am nächsten« stünden. »J. Chr. Adelung ist der erste, der in Deutschland eine typologische Einteilung der Sprachen aufstellt. In der Einleitung zu seinem Werk Mithridates oder allgemeine Sprachenkunde, 1. Teil, Berlin 1806, unterscheidet er zwei Klassen von Sprachen: einsilbige und mehrsilbige, die er zugleich glottogonisch als primitive und entwickelnde Sprachen interpretiert.« (Coseriu 1972: 111)

Für Johann Christoph Adelung sind es vorerst vor allem die Sprachen Südostasiens und Chinas, die als besonders »primitiv« zu interpretieren seien. Auch Eckert (1986) geht davon aus, dass eine Vermischung der Sprachtypologie mit »stereotypen, wertenden positiven oder negativen Eigenschaften«, die man in den sogenannten »Wilden« suchte (und fand), gang und gäbe war. Bei Adelung finden sich beispielsweise folgende zwei Aussagen: »[Wo] ungefär 150 bis 180 Millionen Menschen noch die erste Sprache der Kindheit des menschlichen Geschlechts stammeln.«; »[…] daher auch diejenigen Völker, welche sie sprechen, ewig Kinder am Verstande bleiben, und es über manche mechanische Fertigkeiten nicht bringen.« (Adelung 1806: 27) Mit einer blumigen Metapher referiert Adelung in diesem Fall auf die Sprecherinnen und Sprecher des Chinesischen, indem er zweifach einen Vergleich mit Kind bzw. Kindheit verwendet. Die Entwicklung eines Kindes zum erwachsenen Menschen wird hier analog gesehen mit der Entwicklung der Menschheit, ebenfalls die Entwicklung von »weniger vernünftig/rational« zu »rational« implizierend. Sie verläuft somit parallel auf einer Zeitachse und einer Komplexitätsachse. Das Chinesische erfährt bei Adelung eine Abwertung, indem sein Aufbau als archaisch und damit »primitiv« dargestellt wird. Eckert (1986) benennt fünf problematische Argumentationsstränge bei Adelung, die sich in weiterer Folge auch bei vielen anderen Zeitgenossen wiederfinden: 1) die Parallelisierung von Sprache und Denken; 2) die Parallelisierung von Sprache und kulturellem Niveau eines Volkes; 3) die Hervorhebung einzelner Sprachen entweder in negativer oder positiver Hinsicht; 4) die Schaffung eines negativen »Mythos« (in diesem Fall für das Chinesische) einhergehend mit einer ästhetischen Höherbewertung flektierender Sprachen gegenüber Sprachen anderen Sprachbaus (besonders der isolierenden);

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5) die Idee eines »Stufengangs«, einer Höherentwicklung von primitiven zu komplexeren Sprachtypen (Eckert 1986: 24). In diesem Sinne liefert der von Adelung konstatierte gefundene Zusammenhang zwischen der Entwicklung der Vernunft und der Entwicklung der Sprache eine praktische Begründung für die Unterlegenheit »neu entdeckter« Völker. Die Sprachwissenschaft bot hier eine wissenschaftliche Erklärung für die Primitivität anderer Völker an, indem sie derartige Zuschreibungen im Diskurs produzierte und gleichzeitig wissenschaftliche Beweise dafür in Sprachen zu finden glaubte. Adelung waren sicherlich auch das Konzept des Fetischs und die mit ihm verbundenen Prädikationen (»primitiv«) nicht unbekannt, da er selbst Charles de Brosses’ Histoire des Navigations aux Terres Australes (1756) ins Deutsche übersetzt hatte. Tatsächlich findet sich in de Brosses’ Du Culte des Dieux Fétiches eine ähnlich negative Bewertung gegenüber dem primitiven Fetisch einerseits als »culte puéril« (kindische[n] Gottesdienst) und andererseits gegenüber fetischverehrenden Völkern, »qui passent leur vie dans une perpétuelle enfance« (die ihr ganzes Leben hindurch Kinder am Verstande bleiben) (de Brosses 1767: 14). Wir finden in diesen Argumentationen also einen Geschichtstopos (argumentum ad historiam), der gepaart wird mit der Idee einer linearen Entwicklung. In anderen Worten: »Der derartig gekennzeichnete ›Wilde‹ wird mit dem Primitiven gleichgesetzt und zugleich zum Spiegel des Anfangs der Menschheit.« (Vgl. Antenhofer in diesem Band) Das 19. Jahrhundert fuhr mit wichtigen linguistischen Taxonomien auf, besonders für die indoeuropäischen Sprachen, von denen einige noch heute Gültigkeit besitzen. So wird beim Sprachbau seitdem unterschieden zwischen isolierender, agglutinierender und flektierender Morphologie. Ein Beispiel für eine im Wesentlichen isolierende Sprache ist Mandinka.3 Isolierend bedeutet in diesem Zusammenhang, dass sich die Wortstämme durch Flexion o.Ä. nicht verändern, sondern es für einzelne grammatische Funktionen ein eigenes Element bzw. Wort gibt, wie das folgende Beispiel zeigt: lamin kari ngambo sƤnƤ Lamin IMPERF cassava grow »Lamin was growing cassava.« 4

Ein Beispiel für eine agglutinierende Sprache (von lat. agglutinare »ankleben«) wäre das Swahili. Agglutinierender Sprachbau bedeutet, dass grammatikalische Funktionen, wie Numerus, Kasus u.v.m., durch jeweils eine eigene Form (Morphem) ausgedrückt und an ein Wort (Lexem) »angeklebt« werden: 3 | Vgl. Sansi in diesem Band über bolsas de mandingo bzw. mandingo als Bezeichnung für einen Fetisch. 4 | Bsp. nach Childs (2003: 109).

P RIMITIVE S PRACHEN mimi ninakupenda wewe mimi ni -na -ku -penda wewe me I PRESENT TENSE you love you »I love you.« 5

Flektierend schließlich sind Sprachen wie Latein und Sanskrit (aber auch z.B. das moderne Deutsch, das Lettische u.v.m.). Flektierend bedeutet, dass beispielsweise eine Endung (Suffix) mehrere Funktionen gleichzeitig übernehmen kann, oder ein Wortstamm sich verändert, um eine grammatikalische Funktion auszudrücken. Im Satz »Die Türen der Häuser« beinhaltet das Suffix »-er« zugleich Information über Kasus und Numerus (GEN. PL.) und der Stamm »HAUS« wurde zu »HÄUS« umgelautet. Die Dreigliederung von isolierendem, agglutinierendem und flektierendem Sprachbau wurde von Willhelm Humboldt eingeführt (vgl. Heinz et al. 1982) und wird auch von einem weiteren Einflussnehmer bei der Suche nach genetischer Sprachverwandtschaft übernommen: August Schleicher. Ihm zufolge verlief die Entwicklung von Sprachen analog zur Entwicklung von Spezies durch das Konzept der natürlichen Auslese. Die Entwicklung verlief also inhaltlich und zeitlich auf einer »ideelle[n] Anordnung der Sprachen auf einer Linie der steigenden Vollkommenheit […]« (Eckert 1986: 116). Was man heute als isolierende Sprache versteht, wurde damals als mangelhaft gesehen – grammatischer Struktur mangelnd. Nach Aronoff und Rees-Miller (2001) verstand Schleicher diese Unterscheidung auch als evolutionären Prozess, in dem die isolierenden Sprachen auf der untersten Stufe zu sehen seien und sie den primitiven Anfangspunkt der Sprache überhaupt bildeten. Sprachen wurden in Typen nach ihrer morphologischen Struktur aufgeteilt; die einzelnen Typen repräsentierten dabei evolutionäre Entwicklungsstufen. Die Entwicklungsstufen der Sprachen korrelierten mit den damals angenommenen Zivilisationsentwicklungsstufen: Wildheit, Barbarei, Zivilisation (savagery, barbarianism, civilization: vgl. Aronoff et al. 2001: 94), woraus sich insgesamt eine Polarisierung zwischen zivilisiert und nichtzivilisiert ergab. Daraus folgte also weiter, dass die flektierenden Sprachen wie Latein, Griechisch und Sanskrit automatisch der zivilisierten Welt zuzuordnen waren, während die agglutinierenden oder isolierenden Sprachen in die Reiche der »Wilden« und der »Barbaren« platziert wurden. Im kolonialistischen Diskursfeld erwies es sich somit als recht »praktisch«, dass viele afrikanische Sprachen, z.B. die sehr große Klasse der Bantusprachen, zu den agglutinierenden Sprachen gehören. Eine Untergruppe dieses Sprachbaus sind solche Sprachen, die Nominalklassifikationen vornehmen. Das heißt, sie unterscheiden bei Nomina Klassen mit

5 | Bsp. nach Crystal (22007: 293).

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verschiedenen Bedeutungsfeldern, die jeweils durch Affixe markiert werden (z.B. menschlich vs. nichtmenschlich).6 Ein Beispiel7 für eine Sprache, die ihre Nomina rein semantisch klassifiziert, ist Zande. Zande wird von etwa 730.000 Menschen gesprochen8, und zwar im Kongo, in Teilen des Sudans sowie in Zentralafrika. Typologisch gehört die Sprache zu den Niger-Kongosprachen. Nomina werden nach den unten angeführten Kriterien den folgenden vier Genera zugeteilt: Kriterium

Genus

Beispiel

Übersetzung

männlich menschlich maskulin

kumba

Mann

weiblich menschlich

feminin

dia

Ehefrau

belebt

tierisch

nya

Vieh

restliche

neutrum

bambu

Haus

Tab. 1: aus Corbett (1999) Auf den ersten Blick sind diese Klassen recht klar, Männer gehören in die »männlicher Mensch«-Klasse, Frauen in die feminine Klasse. Es gibt allerdings die Möglichkeit, dass für kleine Kinder beispielsweise das Pronomen für Tiere verwendet wird. Corbett meint hierzu: »In various languages small children are treated grammatically as not being quite human.« (Corbett 1999: 14) Aber Zande unterscheidet nicht nur zwischen Menschen und Nichtmenschen, sondern auch zwischen belebt und nichtbelebt. Wie anhand der Tabelle ersichtlich, wird Belebtes in eine eigene Klasse eingeordnet, Unbelebtes in eine andere und in den meisten Fällen werden die Nomina ziemlich eindeutig nach dieser Regel eingeordnet. Interessant wird es bei den Ausnahmen, von denen es laut Corbett etwa 80 gibt: Diese bedeuten, dass etwas Unbelebtes in die Klasse »belebt« eingeordnet wird. Anders formuliert: Ein Ding wird grammatikalisch als »Tier« behandelt (vgl. Claudi 1985: 115). Corbett und Claudi ordnen diese Ausnahmen in fünf Unterkategorien ein (die Beispiele sind beiden Arbeiten entnommen und zusammengefügt): 1) Himmelskörper, Ereignisse am Himmel: diwi »Mond«, wangu »Regenbogen«, gumba »Blitz, Donner, Gewitter«; 2) Nomina, die auf metallische Gegenstände referieren: maugwa »Axt, Beil«, neri »Nagel«; Untergruppe der runden Metallgegenstände: tongo »Fingerring«, girisi »Piaster (Geld)« (Claudi zitiert hier Lagae [1921: 6 | Nominalklassen sind eng verwandt mit Genussystemen (Mel’cuk/Beck 2006: 322ff.). 7 | Bsp. nach Corbett (1999: 14). 8 | Vgl. Lewis, Paul M. (Hg.). Ethnologue: Languages of the World. SIL International, 2009. http://www.ethnologue.com (besucht am 20.03.2011).

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74], nach dem sämtliche europäischen Geldmünzen ebenfalls in diese Kategorie fallen); 3) Essbare Pflanzen (auch runde): abangbe »Süßkartoffel«, baundu »Erbse«; 4) Nichtmetallische Gegenstände (ebenfalls mit der Untergruppe: rund): mbasa »Pfeife«, badupo »Ball«, kpakiti »um den Hals getragene hölzerne Trommel«; 5) Andere: ze »Narbe«. Eine semantische Begründung lässt sich leicht für die erste Unterkategorie finden, da Himmelskörper auch in anderen Sprach- bzw. Kulturkreisen oft personifiziert werden. Zu den anderen Klassen sagt Corbett nur, dass sie »Ausnahmen« seien. Bei Claudi finden wir hierzu eine genauere Auseinandersetzung mit verschiedenen Theorien, warum diese Gegenstände in die Tierklasse fallen könnten. Sie bezieht sich hier vor allem auf Lagae, der zwei Überlegungen zu diesem Phänomen anstellt: 1) »Entweder sind diese Gegenstände weniger unbelebt, als die Zande es zugestehen wollen […]« oder aber 2) »es ist in ihnen eine Eigenschaft verborgen, die sich in den Augen der Zande nur bei den Tieren wiederfindet« (Lagae 1920: 152f. zitiert nach Claudi 1985: 115f.). Die Zande selbst hätten Lagae zufolge erzählt, dass sie die Gegenstände nicht für Tiere hielten. Claudi meint hierzu, dass es durchaus möglich wäre, dass die Zande Lagae ihre »animistische« Denkweise verheimlicht hätten, weil ihnen klar war, dass er darauf ablehnend reagieren würde (Claudi 1985: 120). Interessant für uns ist in diesem Zusammenhang weniger, ob eine solche animistische Denkweise bei den Zande (oder bei anderen Völkern, deren Sprachen derartige Klassifizierungen vornehmen) wirklich existiert oder nicht, sondern eben genau wie solche »Ausnahmen« von den Berichten über diese Sprachen bewertet wurden – es wurde ihnen mit Ablehnung begegnet. Die Einteilung der Nomina in Nominalklassen und die Möglichkeit, unbelebte Dinge grammatikalisch als belebt einzustufen, legt nahe, dass sogenannte Fetische, genauer gesagt deren Namen oder Bezeichnungen, möglicherweise auch zu einem großen Teil in grammatikalische Klassen fallen, die »belebt« beinhalten. Sehr viele afrikanische Sprachen teilen Nomina in Nominalklassen ein. In diesen Sprachen gibt es Wörter, mit denen Fetische bezeichnet werden. Ein Hinweis, dass Fetische sich vielleicht auch sprachlich an der Grenze der Animiertheit bewegen könnten, findet sich bei Thiel (1986): »Bei den Pangwe wird diese im Körper lokalisierte Zauber-Kraft evu genannt und als Tier aufgefaßt. Die Zande bezeichnen eine solche, im Dünndarm gefundene ›Hexereisubstanz‹ (witchcraft-substance) als mangu […].« (Thiel 1986: 64) Es wäre also naheliegend, dass die Fetische, die eben auch menschliche Eigenschaften beinhalten, sich gramma-

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tikalisch ebenso an den Grenzen des Menschseins aufhalten.9 Schließlich wird, so Böhme, »mit Fetisch […] ein Ding bezeichnet, an das Individuen oder Kollektive Bedeutungen und Kräfte knüpfen, die diesem Ding nicht als primäre Eigenschaft zukommen« (Böhme 22006: 316). Dieses Verschwimmen der Übergänge zwischen »belebt« und »unbelebt«, das Fehlen einer klaren Trennlinie zwischen diesen zwei Polen sowie die Tatsache, dass diese Linie nicht einmal in der Grammatik klar feststellbar ist, stellten sicherlich für Sprachforscher wie Adelung einen »Primitivitätsbeweis« dar. Nicht zuletzt wurden die Beobachtungen der Fetische sowie der afrikanischen Sprachen von Reisenden gemacht, welche auch diejenigen waren, die diese Fetische und Sprachen diskursiv definierten. Ein sexualisiertes Verständnis von Grammatik war zu dieser Zeit sehr weit verbreitet. Viele der wichtigen Sprachforscher, wie beispielsweise Schlegel oder vor allem Grimm, nahmen an, dass insbesondere das Genus sich entwickelt habe, weil die menschlichen Vorfahren in früherer Zeit glaubten, dass alles um sie animiert sei und sie deswegen alles in weiblich und männlich aufgeteilt hätten. Die »Wilden« Afrikas befänden sich nach dieser Logik auf einer frühen Sprachstufe, in der sie alle Dinge animierten und mit einem Geschlecht versehen würden, ohne zu abstrahieren. Auch Irvine deutet auf die wichtige Stellung hin, die das grammatikalische Genus in den Studien des 19. Jahrhunderts einnahm: »Nineteenth-century studies of African languages […] gave special prominence to grammatical gender, as if this were the essence of language structure and the touchstone of language-family relationships. For many linguists of the time, how a language handled gender distinctions was the basis for its relationship to other languages, and (moreover) revealed its speakers’ mentality and socio-political condition.« (Irvine 1995: 140)

Diejenigen Sprachen, die also keine Genera haben, wie wir sie im Deutschen kennen, sondern eher in Nominalklassen einteilen, wurden somit als »animistisch«-denkend – gleichgesetzt mit »primitiv« – dargestellt. Man ging davon aus, dass sich die Sprache (und mit ihr das Denken) von metaphorisch über animistisch zu konkret entwickelt habe, ganz analog zu den zuvor erwähnten Entwicklungsstufen: primitiv, barbarisch, zivilisiert. »There is the idea that language progress from being metaphorical and taken from natural objects to less metaphorical and more concrete.« (Albus 2001: 98) Nach dieser Logik befanden sich also all jene Sprachen, die in Nominalklassen einteilen, also alle »wilden« Sprachen genau in diesem ersten Entwicklungsstadium: »[…] the ›savages‹ known from travelling stories were in this stadium of language development.« (Ebd.) Der offensichtlich direkte Zusammenhang von »animistischer« Sprache und 9 | Diese These kann, wie oben bereits erwähnt, mit empirischem Material derzeit nicht bewiesen werden, weil das Recherchieren der einzelsprachlichen Belege den Rahmen dieser Untersuchung gesprengt hätte.

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»primitiver« Denkfähigkeit wurde durch weitere, eurozentrische Erklärungen bestätigt. Ein Kernpunkt hierfür war das metaphorische Denken.10 In den Abhandlungen über die sogenannten »primitiven« Sprachen gehen die Forscher davon aus, dass die Naturvölker alles »personifizieren« und jedes Ding als belebt betrachten, was wiederum als Beweis für deren begrenzte Abstraktionsfähigkeit gewertet wurde: »Languages differ greatly in the semantic combinations represented by one formal unit. This fact leads to various ethnocentric value judgements. One often reads in early treatments that in a certain ›primitive‹ language there are different words for ›black cow‹, ›brown cow‹, and so on, but no generic word for ›cow‹ (Zulu). […] ›Primitive‹ here really means ›different‹.« (Anttila 1989: 10)

Eine derartige Erklärung findet sich auch bei Johann Gottfried Herder. Herder unterscheidet das Zeitalter der Poesie, der Prosa und der Philosopie (Albus 2001: 97) – man bemerke den erneuten Dreischritt. Er setzt die Entwicklung der Metapher eben in diesem poetischen Zeitalter an, und auch die aus Reiseberichten bekannten »Wilden« befänden sich auf dieser Stufe: »Der in allen wilden Sprachen lebende ›Metapherngeist‹, oder auch der ›Symbolgeist‹, ›Bildergeist‹ oder die ›Bilderdenkart‹ sind nun am Werke.« (Ebd.) In dieser ersten Phase der Menschheit sei die Metapher also kein rhetorisches Mittel, sondern würde durch sich selbst verstanden werden. Die Europäer befänden sich schließlich in der letzten Phase der Entwicklung, wo vielmehr die Wahrheit und nicht die Schönheit zähle (ebd.: 104). »Indem die ganze Natur tönt: so ist einem sinnlichen Menschen nichts natürlicher, als daß sie lebt, sie spricht, sie handelt. Jener Wilde sahe den hohen Baum mit seinem prächtigen Gipfel und bewunderte: der Gipfel rauschte! das ist webende Gottheit! der Wilde fällt nieder und betet an! sehet da die Geschichte des sinnlichen Menschen, das dunkle Band, wie aus den verbis nomina werden – und den leichtesten Schritt zur Abstraktion.« (Herder 1772: 82f.)

Metaphern und metaphorisches Denken wurden als »phantasieren« abgetan und waren somit auf einer »unteren« Sprachstufe anzusiedeln. Der europäische Mensch, der vernünftige Mensch, denke nicht mehr in Metaphern sondern »vernünftig«. Direkte Sprachbilder, die nicht als rhetorische Stilmittel verwendet werden, deuteten demnach auf ein weniger entwickeltes Denken hin. Der »primitive« Geist der Naturvölker (Natur vs. Kultur) verbinde animiert und nichtanimiert einfach irgendwie und ver10 | Die heutige Linguistik nimmt an, dass metaphorisches Denken jeglicher Sprache zugrunde liegt und Menschen ohne Metaphern gar nicht denken können; für eine ausführliche Darstellung der konzeptuellen Metapherntheorie siehe beispielsweise Lakoff/Johnson (2003), Gallese/Lakoff (2005) und Kövecses (2007).

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stehe also die Nichtbelebtheit der Dinge nicht. Der »Wilde« an sich und seine Sprache werden somit zum Spiegel der Menschheit. »Indem der Mensch aber alles auf sich bezog, indem alles mit ihm zu sprechen schien und würklich für oder gegen ihn handelte, indem er also mit oder dagegen teilnahm, liebte oder haßte und sich alles menschlich vorstellte; alle diese Spuren der Menschlichkeit drückten sich auch in die ersten Namen! Auch sie sprachen Liebe oder Haß, Fluch oder Segen, Sanftes oder Widrigkeit, und insonderheit wurden aus diesem Gefühl in so vielen Sprachen die Artikel! Da wurde alles menschlich, zu Weib und Mann personifiziert; überall Götter, Göttinnen, handelnde, bösartige oder gute Wesen! Der brausende Sturm und der süße Zephyr, die klare Wasserquelle und der mächtige Ozean – ihre ganze Mythologie liegt in den Fundgruben, den Verbis und Nomibus der alten Sprachen, und das älteste Wörterbuch war so ein tönendes Pantheon, ein Versammlungssaal beider Geschlechter, als den Sinnen des ersten Erfinders die Natur. Hier ist die Sprache einer alten, einfältigen, wilden Nation ein Studium in den Irrgängen menschlicher Phantasie und Leidenschaften, wie ihre Mythologie.« (Ebd.) »Bei den Wilden von Nordamerika z.B. ist noch alles belebt: jede Sache hat ihren Genius, ihren Geist, und daß es bei Griechen und Morgenländern ebenso gewesen, zeugt ihr ältestes Wörterbuch und Grammatik – sie sind wie die ganze Natur dem Erfinder war, ein Pantheon! ein Reich belebter, handelnder Wesen!« (Ebd.: 83)

Herder nennt dies »Spuren der Menschlichkeit« und spricht von einer »einfältigen, wilden Nation«, womit er sich auf Sprachvergangenheit bezieht. Im zweiten Beispiel vergleicht er die indigene Bevölkerung Nordamerikas mit den vergangenen Zivilisationen der Griechen und Römer. Die erste Entwicklungsstufe der Sprache überhaupt wird gleichgesetzt mit der zeitgenössischen Vorstellung vom »Wilden«. Die semibelebten Nomina in der Grammatik konnten somit beweisen, dass die »Wilden« immer noch alles »auf sich bezogen«, d.h., dass die, für westliche Begriffe leblose, Welt mit ihnen kommunizierte, ihre Primitivität war somit erwiesen. Ein weiteres Beispiel von Bleek zeigt dies ebenfalls: »The nations speaking Sex-denoting languages are distinguished by a higher poetical conception, by which human agency is transferred to other beings, and even to inanimate things, in consequence of which their personification take place, forming the origin of almost all mythological legends. This faculty is not developed in the Kafir mind, because not suggested by the forms of their language, in which the nouns of persons are not (as in the Sex-denoting languages) thrown together with those of inanimate beings into the same classes or genders, but are in separate classes […].«11 (Bleek 1862: ix) 11 | Mit »Kafir« waren die Sprecherinnen und Sprecher des Xhosa, einer Bantusprache gemeint (Herbermann et al. 2002).

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Was Bleek hier erklärt, ist einerseits, dass den »Wilden« ein Verständnis für die Naturgesetze unter anderem deswegen fehle, weil ihre Sprachen nicht auf diese Weise organisiert seien. Das »Fehlen« der Genera sei dafür verantwortlich, dass sie alles »beleben« würden und alles personifizierten. Bleek begründet, dass man eben deshalb an »Zauberei« und »Belebtheit« von Dingen glaube, weil die Sprache so beschaffen sei und deshalb der Geist nicht zu »Vernunft«, wie ein europäischer Geist, fähig sei (Irvine 1995: 147). Somit liefert Bleek ein sprachwissenschaftliches Stützargument für die Primitivität der Fetische, einen Beweis für die Nichtfähigkeit der afrikanischen Menschen zur Abstraktion. Ein Fetisch ist ein Objekt, das direkt ist, kein Symbol, sondern Sprache selbst, und zwar nicht in abstrakter Form, sondern konkret vorhanden. Es konnte den Afrikanern als kommunikatives Mittel dienen (vgl. Antenhofer in diesem Band), doch diente es vielmehr den Europäern als Beweis dafür, dass die Afrikaner nicht in der Lage wären, Geist und Materie zu trennen und sich deshalb noch im »poetischen« Zeitalter befänden. Dahinter finden wir auch das Dogma, dass geistig und materiell trennbar sein müssen, dass es diese beiden Kategorien überhaupt als Gegensatz gibt. Die Texte über die Sprache waren also nicht nur reine Beschreibungen sprachlicher Funktionen und grammatikalischer Strukturen, sondern sie lieferten ebenfalls eine wissenschaftliche Legitimation für den Kolonialismus: »And while these texts purport to be about languages, they also construct claims about those languages’ speakers, their social and moral condition, and their place in a global community.« (Irvine 1995: 139) Um die kolonialistischen Intentionen der Europäer zu begründen, musste ein wissenschaftlicher Hintergrund geschaffen werden. Die Sprachwissenschaft trug also zur Konstruktion der Primitivität Westafrikas entscheidend bei. Der Afrikanist Meinhof klassifizierte beispielsweise als hamitische Sprachen jene »der hellfarbigen Afrikaner und nicht die Sprache der dunkelhäutigen […]«. Die Sprachen der hamitischen Gruppe verfügten nämlich über ein grammatikalisches Genus, was als Zeichen ihrer Höherwertigkeit interpretiert wurde. Sprachen mit anderen Nominalklassifikationssystemen wurden als primitiver gewertet und gleichzeitig wurde damit die These der hellhäutigen Überlegenheit gestützt. So ging Meinhof ebenfalls davon aus, dass die »Hamitischen Sprachen und Völker« aus diesem Grund eine Art »Herrenrasse« unter den Afrikanern darstellten (Meinhof 1936: 81f.). Er bezeichnet die hamitischen Sprachen an anderer Stelle als »sehr entwickelt« (vgl. Heine/Schadeberg/Wolf 1981). Eine wichtige Aufgabe der Sprachwissenschaft als Disziplin begann also mit der Erforschung vergangener Sprachen und dem Versuch, Verwandtschaften von modernen Sprachen festzustellen. Im 19. Jahrhundert galt das Hauptinteresse der Herleitung einer gemeinsamen Protosprache aufgrund bestimmter grammatikalischer Eigenheiten und Regeln. Früher Ausgangspunkt für die Untersuchungen waren die »Mütter« aller Sprachen, Sanskrit bzw. Latein. Mit einem, für das 19. Jahrhundert typischen, normativen und sprachideologischen Zugang wurden andere Sprachen

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mit dieser Basis verglichen und klassifiziert. Aus der heutigen Perspektive betrachtet, scheint es, als habe dabei folgende Faustregel gegolten: »Je näher an der lateinischen Grammatik, desto höherwertig die Sprache.« Strukturelle Unterschiede einzelner Sprachen wurden also hierarchisch bewertet und damit jene Sprachen, die wenig Nähe zum Lateinischen aufwiesen, vorsichtshalber erst einmal als »primitiv« eingeordnet. Die Beispiele der europäischen Sprachforschung des 19. Jahrhunderts zeigen »[…] nicht nur, zu welchen Verzerrungen in der Beschreibung außereuropäischer Sprachen das Modell der lateinischen Schulgrammatik führen mußte, das ihr in früheren Jahrhunderten normalerweise zugrunde gelegt wurde, sondern wie stark auch neuere allgemeine Linguistik ›eurozentrisch‹ gewesen ist« (Lehmann 2010 : 2f.).

Nicht zufällig und offensichtlich eurozentrisch fielen somit alle afrikanischen Sprachen wie auch alle anderen »neu« entdeckten Sprachen sofort in diese Kategorie. Theorien, die für Sprachentwicklung eine derartige Hierarchie annehmen, sehen auch immer eine Verbindung der sprachlichen Entwicklungsstufe mit der kognitiven »phylogenetischen« Entwicklung des Menschen im Laufe der Zeit. Sprachen hätten sich also an einer zeitlichen wie evolutionären Linie entwickelt, die von isolierend über agglutinierend bis zu flektierend fortschreitet, wobei die isolierende Sprachstufe Primitivismus darstellt, während die flektierende am zivilisiertesten war. In ähnlicher Weise ging man bei der Entstehung von Genussystemen von einer fortschreitenden Entwicklung von belebt vs. unbelebt (»alles ist beseelt«) über Nominalklassen nach grammatikalischem Genus aus. Somit galt das Als-belebt-Ansehen eines Gegenstandes automatisch als primitiv, als unaufgeklärt: »Personification as the attribution of purpose and intentionality to natural objects proper to the order of mechanical or cintingent causality, along with anthropomorphism as implying personification of impersonal material entities, thus becomes the characteristic mental operation of the superstitious mind cut off from that rational enlightenment provided by a scientific view of causality in the natural world […].« (Pietz 1988: 121)

Ein weiterer Beitrag der Linguistik zum Großprojekt der Kolonisierung war es, gemeinsame sprachliche Standards herzustellen. Das heißt, in der unzähligen Vielfalt der Sprachen, die man in den Kolonien antraf, wurden bestimmte Sprachen als Standard gesetzt, welche im Folgenden auch höheres Prestige als Dialekte genossen. Somit konnten in die Bevölkerungsgruppen hierarchische Unterschiede eingeführt werden. Es galt, die große Bandbreite an verschiedenen Sprachen sowie die Mehrsprachigkeit an sich zu reduzieren, denn nur durch eine Standardisierung waren Verschriftlichung, missionarische Tätigkeit und letztlich Kontrolle möglich. Ein Ziel der Mission war es beispielsweise, die »primitiven Menschen«

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zur fortschrittlichen Religion hinzuführen, weg vom Aberglauben. Dafür mussten vorhandene, religiös behaftete Gegenstände sprachlich durch neue »Dinge« ersetzt werden, welche sich mit dem christlichen Glauben vereinbaren ließen. Man musste also eine gewisse Übersetzbarkeit der christlichen Religion schaffen, um diese für die Afrikanerinnen und Afrikaner attraktiv zu machen. Ein großes Problem, vor dem die europäischen Eroberer dabei standen, war die Nichtschriftlichkeit der meisten in den Kolonien vorgefundenen Sprachen. Das Problem ging in zwei Richtungen: Einerseits war es für die Eroberer schwierig, eine Sprache ohne Schriftlichkeit zu erlernen, andererseits konnte man in einer rein mündlich tradierten Sprache wesentlich schwerer gesetzliche Vorschriften schaffen. Durch die Konstruktion einer verschrifteten lingua franca konnten die Kolonialisten leichter Kontrolle über die Vielsprachigkeit ausüben. Errington nennt solche linguistische Zugänge zur Kolonialisierung »Koloniallinguistik« und definiert diese als Zusammenhang von »[…] technology (literacy), reason, and faith and as a project of multiple conversion: of pagan to Christian, of speech to writing, and of the alien to the comprehensible« (Errington 2001: 21). Die Linguistik konnte also einerseits leisten, dass man die »Wilden« verstehen, ihre Sprachen normieren und sie damit christianisieren konnte: »Historiographic reviews of colonial linguistics in sub-Saharan Africa and insular Southeast Asia recurringly point to the capacity of linguistics to concretize and normalize the territorial logic of power exercised by English, French and Belgian, and Dutch colonial states.« (Ebd.: 23) So beschreibt beispielsweise Meinhof die Schwierigkeit, eine afrikanische Sprache zu lernen, als weit über das übliche Maß der »Metamorphose« der Gedanken hinausgehend. Er nimmt Bezug darauf, dass schon das Erlernen des Lateinischen oder Hebräischen die Anpassung der Gedankenwelt an eine »neue Welt« erfordere. Diese Sprachen verfügten zumindest über ein Flexionssystem sowie ein Genus. Die Sprachen Afrikas seien aber zum Großteil agglutinierend. Meinhofs Ziel war es vor allem, eine Lösung für das Problem zu finden, wie man christliche Gedanken in afrikanischen Sprachen ausdrücken könne, trotz der völligen Verschiedenheit der Sprachen. Er sieht die Schwierigkeiten darin zuerst auf der grammatikalischen, dann auf der geographisch-historischen und zuletzt erst auf der theologischen Ebene angesiedelt (vgl. Pugach 2000). »Die Schwierigkeit liegt vielmehr darin, daß die Grammatik des größten Teils der afrikanischen Missionssprachen von der Grammatik europäischer Sprachen vollständig abweicht, und daß es dem Europäer sehr schwer fällt, seine Denkweise so ganz aufzugeben, wie es die afrikanische Grammatik verlangt.« (Meinhof 1905: 7)

Meinhof geht auch auf das Nichtvorhandensein eines Genussystems in den von ihm untersuchten Bantusprachen ein: Hier unterscheide man gern »Person« und »Sache« (also belebt vs. unbelebt). Doch gäbe es noch

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weitere Nominalklassen, und vor allem würde der Mensch immer sehr klar von allem anderen abgehoben (vgl. ebd.: 14f.). Pugach führt weiter an, dass afrikanische Sprachen derart schwer zu erlernen wären, dass die europäischen Missionare dazu tendierten, die Kategorien europäischer Sprachen den afrikanischen einfach überzustülpen. Ein großes Problem war also die Übersetzung religiöser Terminologie in die jeweiligen afrikanischen Sprachen. Mit welchen Worten sollte man sich hier behelfen? Meinhof schlug beispielsweise vor, die nichtschriftlichen Sprachen zuerst zu verschriftlichen und ihnen dann die »Seele« des Christentums einzuhauchen. Der Plan war, das »geistige Universum« der Afrikaner zu verändern, sodass die Menschen die Überlegenheit des Christentums auch erkennen würden (vgl. Pugach 2000). Die »Irritationslinien«, die der Fetisch aufwirft, lassen sich recht klar in der frühen sprachwissenschaftlichen Literatur verorten. Obwohl es nie eine Beschäftigung mit den Fetischobjekten selbst gab, weil diese traditionell als »außersprachliche« Gegenstände betrachtet wurden, finden sich in sprachwissenschaftlichen Texten immer wieder Spuren der außergewöhnlichen Eigenschaften dieser Objekte. Die genannten Irritationslinien befinden sich am Scheitelpunkt zwischen »außersprachlicher Wirklichkeit« und »sprachlichem Ausdruck«. Einerseits werden jene Menschen, die Fetische anbeten, als primitiv beschrieben, eben weil sie augenscheinlich diese scharfe Grenzziehung zwischen Materie und Geist nicht verstünden. Andererseits werden grammatikalische Phänomene (wie die Unterscheidung zwischen »belebt« und »unbelebt«) in einer Weise beschrieben, dass sie als Beweis für die eingeschränkten geistigen Fähigkeiten der Afrikaner herangezogen werden können. Dass dieser Mythos der Steinzeitsprache noch immer in den Köpfen herumgeistert, zeigt ein von der Zeitschrift Geo geführtes Interview mit der Afrikanistin Christa Kilian-Hatz zu der Frage, ob es primitive Sprachen gebe. »Stanforder Genetiker« hätten demnach herausgefunden, dass die Sprache der »Buschmänner«12 ein »Erbe der Frühmenschen« sei. Doch für Kilian-Hatz ist der Befund klar: »Aus linguistischer Perspektive gibt es keine primitive Sprache. Primitiv sind allenfalls unsere Vorstellungen von Ureinwohnern.« (Kilian-Hatz 2003: online)

Q UELLEN UND L ITER ATUR Adelung, Johann Christoph. Umständliches Lehrgebäude der deutschen Sprache. Leipzig: J.G.I. Breitkopf, 1782. http://www.books.google.com (besucht am 01.03.2011). Adelung, Johann Christoph. Mithridates oder allgemeine Sprachenkunde: mit dem Vater Unser als Sprachprobe in bey nahe fünfhundert Sprachen 12 | Veraltete Bezeichnung für Khoisan. Dazu gehört beispielsweise die Sprache ɪXóõ, die für ihre Klick- oder Schnalzlaute berühmt ist.

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Fetische im Recht – Recht als Fetisch Andreas Th. Müller

Auf den ersten, aber auch auf den zweiten Blick ist Fetisch kein genuin rechtswissenschaftliches Thema. Gewiss, fast jedes Phänomen kann in einem engeren oder weiteren Sinne zum Gegenstand der Jurisprudenz werden, ähnlich wie das für die Philosophie, die Theologie und andere Disziplinen der Fall ist. Doch bleibt es dabei, dass die Rede vom Fetisch bei vielen juristischen Fachvertretern eine Reaktion auslösen wird, die von Kopfschütteln, einem Ausdruck des Unbehagens bis hin zur offenen Zurückweisung der Beschäftigung mit dem Fetisch als adäquatem Thema der rechtswissenschaftlichen Forschung reichen kann. Dieser Beitrag teilt diese Haltung nicht. Dennoch bleibt viel an Zögern und Zaudern, wie man sich angemessen und fruchtbringend dem Thema nähern soll. Die Stärke liegt hier, so würde ich meinen, zuvörderst in der Bescheidenheit. Wenn für das Thema Fetisch und Recht etwas gewonnen werden soll, hat man sich des Gegenstands gemessenen Schritts und mit Umsicht anzunehmen. Dann mag am Ende des intellektuellen Weges, den wir im Folgenden gemeinsam zurücklegen möchten, die eine oder andere ertragreiche Erkenntnis stehen. Zugleich soll man sich nicht zu viel erwarten, keine bahnbrechende Einsicht und – obschon das Konzept heute inflationär gebraucht wird – auch nicht die Verkündung eines fetischbasierten Paradigmenwechsels in den und für die Rechtswissenschaften. Insofern versteht sich der vorliegende Beitrag ausdrücklich nicht als Advokat des Fetischbegriffs im Recht, sondern sucht Letzteres in experimenteller, spielerischer Weise mit einem ungewohnten Konzept zu konfrontieren. Dementsprechend werden im Folgenden auch durchwegs mehr Fragen gestellt als Antworten gegeben. In Hinblick darauf scheint es angezeigt, zunächst drei Vorbehalte zu artikulieren, mit denen sich der Verfasser in verschiedenen Richtungen abgrenzen und absichern möchte. Auf diesen zugegebenermaßen recht defensiven Ausführungen aufbauend, aber dann eben auch auf einem weitgehend entminten und planierten Feld, werden wir drei reflexive Annäherungsversuche an den Begriff des Fetischs im Recht unternehmen.

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D REI V ORBEHALTE 1. Vorbehalt Zunächst ist festzuhalten, dass die vielleicht unmittelbar ergiebigsten Quellen für den gegenständlichen Beitrag weitgehend ausgespart bleiben werden. Manche werden in diesem Zusammenhang zunächst an rote Schuhe oder sonstige Accessoires in allerhand Farben und Formen denken. Neben dem Konnex zu sexuellen Präferenzen werden andere sich auf den ursprünglicheren Gebrauch des Fetischbegriffs besinnen (de Brosses 1760; Iacono 1992) und ihn in Zusammenhang mit gewissen religiösen Praktiken, bestimmten Kult- und Ritualformen sehen. Wohl sind Fetische in diesem Sinne einer rechtlichen Regelung keineswegs entzogen. Gewisse Formen von Fetischen können sehr wohl etwa straf-, aber auch grundrechtliche Probleme aufwerfen, die zu untersuchen sich lohnte. Der zulässige Gebrauch von Fetischen (sei es solcher des Sexual- oder Kultlebens oder von beidem) und die Grenzen desselben wären dann wohl regelmäßig im Kontext der Religionsfreiheit und des Rechts auf Schutz des Privatlebens zu verorten.1 Uns wird es aber im Folgenden weder um Fetische im einen noch im anderen Sinne gehen. Zum einen würden die offensichtlichen und starken Konnotationen, die dem Fetischbegriff in seinem alltagssprachlichen Gebrauch eigen sind, die viel zaghafter angelegten Reflexionen der folgenden Seiten in unerwünschter Weise überlagern. Wenn die hier angestellten Überlegungen zum Fetischkonzept im Recht überhaupt zu einem lohnenden Unterfangen werden sollen, sind sie als zarte Pflänzchen zu sehen, die gehegt und gepflegt werden wollen. Zum anderen würden die zumeist negativen Assoziationen2, die mit dem Gebrauch des Fetischbegriffs einhergehen, dem Gang der Untersuchung eine Richtung geben, die sich mit den hier verfolgten Absichten nur schlecht verträgt. Kurzum, uns ist es nicht um eine Studie von typischen Erscheinungsformen von Sexual- und Kultfetischen und der für sie allenfalls existierenden rechtlichen Regeln zu tun. Was diese negative Abgrenzung des Untersuchungsgegenstandes an positivem Material für unsere Überlegungen übrig lässt, gilt es im Folgenden zu ergründen. Wir wissen bislang lediglich, dass dieses nicht im alltäglichen, offensichtlichen Gebrauch des Begriffs zu finden sein wird. 1 | Vgl. dazu Artikel 12 und 18 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vom 10. Dezember 1948; Artikel 17 und 18 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte vom 19. Dezember 1996; Artikel 8 und 9 der (Europäischen) Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 sowie nunmehr Artikel 7 und 10 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union vom 7. Dezember 2000 in der am 12. Dezember 2007 in Straßburg angepassten Fassung. 2 | Vgl. dazu sogleich unten Fußnote 4.

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2. Vorbehalt Insofern im Folgenden von Fetisch die Rede ist, arbeiten wir nicht mit dem Anspruch, ein wohl abgegrenztes und stabiles Konzept vor uns zu haben. Die intellektuelle Redlichkeit gebietet jedoch, sich vorab dieses hier omnipräsenten Begriffs terminologisch zu versichern. Dem dienen die nachstehend aufgeführten Kriterien, die darauf abzielen, wenn nicht das Wesen des Fetischbegriffs zu erfassen, so doch die nachstehenden Überlegungen konzeptuell zu verorten. Die genannten Kriterien scheinen in der Tat charakteristisch für den Fetischbegriff zu sein, wie er sich über die Jahrhunderte entwickelt hat, ohne dass diese jeweils vollständig und gleichzeitig erfüllt sein müssten. Vielmehr können sie im einen oder anderen Fall stärker oder schwächer ausgeprägt sein. Es kann kein Zweifel bestehen, dass der Fetischbegriff im Vergleich zu anderen Begriffen ausgesprochen breit und volatil ist und sich sohin jedenfalls einer Definition im strengen Sinne entzieht. Nichtsdestotrotz mag man sich im Umgang mit dem Fetischbegriff an folgenden konzeptuellen »Leitplanken« orientieren: a) Ein Fetisch ist das Produkt menschlichen Handelns. In diesem Sinne ist er niemals ein bloß natürliches Phänomen – obgleich aus der Stofflichkeit der Natur geformt –, sondern jederzeit zugleich und vor allem Kulturprodukt.3 Dies lässt sich auch deutlich an der Etymologie des Begriffs ablesen.4 Der Fetisch ist also gleichzeitig geschaffen und nichtgeschaffen, insofern sein menschlicher Ursprung, essentieller Wurzelgrund des Fetischs, im Gebrauch des Fetischs im umfassenden Sinne aufgehoben ist.5 3 | Nach dem hier gepflogenen Begriffsverständnis ist indes die Individualität des Fetischs nicht konstitutiv für das Konzept. Darüber scheint es keine Einigkeit zu geben, ebenso wenig wie zur Frage, ob der Fetisch zwingend nonverbalen Charakter haben muss; vgl. dazu noch unten die Fußnoten 8 und 11. 4 | Das Wort Fetisch rührt vom lateinischen facticius (von facere »machen«) her und sagt ganz allgemein aus, dass etwas gemacht ist. Insofern hat es in der Antike und Spätantike durchaus verschiedene Bedeutungen einnehmen können, einschließlich einer Bezeichnung für Eunuchen. Portugiesische Kaufleute haben dann ab dem 16. Jahrhundert in Bezug auf gewisse religiöse Praktiken der lokalen Bevölkerungen Westafrikas und die dabei eingesetzten Gegenstände den Begriff feitiço verwendet und damit Praktiken der Magie und Zauberei konnotiert. In dieser Form verbreitete sich der Begriff dann in Europa und wurde im Deutschen zum Fetisch. Gleichzeitig weckt er spätestens seit damals die für ihn so typischen negativen Assoziationen, die einen neutralen Gebrauch des Wortes fast unmöglich machen (siehe Antenhofer in diesem Band). 5 | Vgl. den Dreifachsinn der Aufhebung bei Hegel, der die Negation (tollere), die Aufbewahrung (conservare) sowie die Erhöhung (elevare) beinhaltet; vgl. hierzu etwa Hegel (1979: 113f.); Die objektive Logik. Die Lehre vom Sein. Werden. Aufheben des Werdens (Anm. A.M.).

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b) Als kulturelles Phänomen ist der Fetisch stets unauflösbar in sozialkommunikative Zusammenhänge eingebunden und kann nur im Rahmen dieser sozialen Interdependenzen angemessen verstanden werden. c) Charakteristisch für einen Fetisch ist darüber hinaus, dass er Einfluss und Wirkung ausübt, die über seine bloße Materialität, Gegenständlichkeit und Stofflichkeit (d.h. über seine physikalischen, chemischen etc. Eigenschaften) hinausreichen und -weisen, oder wenigstens, dass ihm eine solche Wirkung zugeschrieben wird. d) Der Fetisch, wiewohl die Materialität transzendierend, transzendiert jedoch nicht diese Welt, wie das bei einem genuin religiösen Objekt der Fall ist. Der Fetisch, obschon über-menschlich, bleibt weltimmanent und wird auch so verstanden. e) Dennoch gebietet der Fetisch nicht nur Anerkennung oder Respekt oder dergleichen, sondern mehr als das: Verehrung. Damit geht einher, dass es sich dabei nicht um einen einmaligen, sich unmittelbar konsumierenden Akt der Respektbezeugung handeln kann, wo sich der Fetisch in der Verehrung selbst verzehrte. Der Fetisch muss der Verehrung standhalten, d.h. er muss Akten der Verehrung und ihrer Wiederholung gegenüber wie auch der Verehrung durch eine Mehrzahl von Menschen gegenüber offen sein. Denn der Fetisch ist weder Einwegkultobjekt noch tauglicher Gegenstand für einen Privatkult. Zusammenfassend, aber ohne im eigentlichen Sinne definitorischen Anspruch, kann man einen Fetisch also verstehen als Gegenstand von Menschenhand, der aus der Welt und in der Welt Macht über Menschen ausübt und als solcher Verehrung durch die Menschen gebietet.

3. Vorbehalt Die folgenden Seiten können lediglich als Skizze verstanden werden. In ihrem Mittelpunkt steht die Frage, ob und inwieweit das Konzept des Fetischs als Instrument der Reflexion über das Recht taugt oder, anders formuliert, ob und inwieweit es eine adäquate heuristische Kategorie (vgl. Antenhofer in diesem Band) für die Rechtswissenschaften darstellt. Dies wird eher im Wege der Beleuchtung paradigmatischer Beispiele denn methodischer rechtswissenschaftlicher Beweisführung erfolgen. Dementsprechend werden die gewählten und nachstehend untersuchten Beispiele auch mit einem recht groben Pinsel gemalt und dienen vornehmlich der Illustrierung der Existenz bisher wenig erschlossener Denkräume. Man darf sich von ihnen nicht erwarten, dass sie jeweils bis zum Ende durchexerziert werden, mag das bei manchen auch den schalen Beigeschmack zurücklassen, dass es sich hierbei um hinkende Analogien von Fetischen handelt. Mit diesem Vorbehalt kann die folgende Reflexion jedoch zu einer bereichernden intellektuellen Erfahrung werden – trotz und

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gerade wegen der methodischen Distanz, die sie zum sonstigen rechtswissenschaftlichen Schaffen einnimmt.

D REI A NNÄHERUNGSVERSUCHE 1. Annäherungsversuch: Die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika als Staats-/Rechtsfetisch In einem ersten Anlauf wollen wir uns einem ganz spezifischen, singulären Kulturprodukt zuwenden, geschaffen zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort, und es daraufhin befragen, ob es sich als Staats- oder Rechtsfetisch qualifiziert: die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika vom 4. Juli 1776. Bevor wir uns derselben im Rahmen einer kleinen Fallstudie zuwenden, sei vorausgeschickt, dass im Folgenden zwischen Staatsfetisch und Rechtsfetisch nicht streng unterschieden wird. Dazu muss man kein Anhänger von Hans Kelsens Gleichsetzung von Staat und Recht sein (Kelsen 1992: 289ff.), sondern sich lediglich bewusst machen, dass zwischen den beiden Phänomenen vielfältige Bezüge bestehen. Und gerade auch der Umstand, dass die Verwendung des Fetischkonzepts in Bezug auf den Staat ebenso wie das Recht zunächst ähnlich unglaubwürdig erscheinen muss, mag rechtfertigen, weshalb im Folgenden die beiden unter einem abgehandelt werden. Zurück zur Declaration of Independence vom 17766, einem historischen Ereignis allerersten Ranges, nicht nur weil es den Geburtsmoment des Hegemons unseres gegenwärtigen Zeitalters markiert. In ihr erklärten insgesamt 56 Vertreter von 13 britischen Kolonien an der Ostküste Nordamerikas ihre Unabhängigkeit von der britischen Krone. Sie enthält die berühmten Sätze: »We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness, That to secure these rights, Governments are instituted among Men, deriving their just powers from the consent of the governed, That whenever any Form of Government becomes destructive of these ends, it is the Right of the People to alter or to abolish it, and to institute new Government […]. Prudence, indeed, will dictate that Governments long established should not be changed for light and transient causes […]. But when a long train of abuses and usurpations, pursuing invariably the same Object evinces a design to reduce them under absolute

6 | Ihr offizieller Titel lautet: The Unanimous Declaration of The Thirteen United States of America.

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A NDREAS T H . M ÜLLER Despotism, it is their right, it is their duty, to throw off such Government, and to provide new Guards for their future security […]. We, therefore, the Representatives of the united States of America, in General Congress, Assembled, appealing to the Supreme Judge of the world for the rectitude of our intentions, do, in the Name, and by Authority of the good People of these Colonies, solemnly publish and declare, That these United Colonies are, and of Right ought to be Free and Independent States; that they are Absolved from all Allegiance to the British Crown, and that all political connection between them and the State of Great Britain, is and ought to be totally dissolved.«

Lassen wir einmal das Pathos, die Bedeutungsschwere, die historische Wirkmacht dieser Zeilen beiseite und wenden uns dem Dokument selbst zu: Das Original der millionenfach kopierten Unabhängigkeitserklärung – sei es in Schulbüchern, als Wandbehang oder als Werbeartikel – findet sich bekanntermaßen in der prächtig ausgestalteten Rotunde des National Archives Building in Washington, D.C., gemeinsam mit dem Original der US-Verfassung und der sogenannten Bill of Rights, d.h. den ersten zehn Verfassungszusätzen von 1789, die den bis heute maßgeblichen Grundrechtekatalog der Vereinigten Staaten beinhalten. Diese drei bilden zusammen gleichsam das Triptychon der Grundlagendokumente der Vereinigten Staaten. Unter ihnen ist vor allem der Unabhängigkeitserklärung ein besonderer Nimbus eigen. Vornehmlich ihretwegen stehen Jahr um Jahr Tausende von Besucherinnen und Besuchern – Staatsbürger wie Touristen – vor den Toren der National Archives Schlange, wiewohl das Staatsarchiv der USA daneben eine bemerkenswerte Sammlung an Dokumenten von höchster historischer Bedeutung beherbergen würde. Durch die Unabhängigkeitserklärung, allen US-Bürgerinnen und Bürgern von Kindesbeinen an vertraut, ist der Staatsfeiertag der Nation, der 4. Juli, als Independence Day definiert. Die Zahl der Darstellungen der Declaration of Independence – in stehenden wie in bewegten Bildern7 – ist Legion. Die Unabhängigkeitserklärung gehört zweifellos zum Kernbestand staatlicher Symbolik und Metaphorik in den Vereinigten Staaten. Die Berufung auf die Unabhängigkeitserklärung bildet auch ein Standardelement der USRechtsrhetorik, und den sich aus ihr speisenden Argumenten wird großer Respekt gezollt (Henkin 1992: 215). Worin besteht jedoch die außergewöhnliche Anziehungskraft dieses Dokuments? Zugegeben, in den USA findet alles, was mit den founders und framers der Nation zu tun hat, ausgesprochenen Anklang. Historische Werke über diese Zeit sind auch im Massenmarkt sehr erfolgreich. Allgemeiner betrachtet mag das mit dem sprichwörtlichen, jedem An7 | Vgl. etwa den Kassenschlager Das Vermächtnis der Tempelritter (orig. National Treasure, 2004), produziert von Jon Turteltaub und Jerry Bruckheimer, Regie ebenfalls Jon Turteltaub, 25'30''-27'00''.

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fang innewohnenden Zauber zusammenhängen. Die Unabhängigkeitserklärung steht hierbei für den Zauber des Anfangs katexochen, nämlich jenen der Geburt. Wiewohl ein Schriftstück ist sie nicht so sehr die Geburtsurkunde des neu entstandenen Staates. Sie verkörpert vielmehr die durchtrennte Nabelschnur, ist die Erklärung der Unabhängigkeit doch in sich und für sich performativer Akt, mit dem und durch den das neue Gemeinwesen in Existenz tritt. Von daher darf man sich auch nicht über Status und Ehrerbietung wundern, die diesem in einem der Prunksäle der amerikanischen Republik aufbewahrten und dort Hof haltenden Dokument zugestanden werden. Man mag sich vor diesem Hintergrund wohl fragen, ob die Erklärung nicht den Charakter eines Staatsfetischs hat. Die oben angeführten Kriterien als Referenzpunkt nehmend, scheint sich die Declaration of Independence durchaus der Subsumption unter den Begriff des Fetischs nicht kategorisch entziehen zu wollen. Zweifellos ist die Erklärung das Ergebnis menschlichen Handelns und damit ein Kulturprodukt. Über seine bloße Materialität als Pergamentbogen mit Tintenaufsatz hinaus zeitigt es machtvolle Wirkungen in der Welt. Nicht seiner stofflichen Grundlage wegen hat es seinen privilegierten Sitz im Herzen der Hauptstadt der Nation gefunden. Zugleich ist es kein religiöses Objekt, sondern verbleibt Menschenwerk, wenn auch jenes von Über-Menschen, den Vätern der Nation. Dies ändert nichts daran, dass die Erklärung Verehrung erheischt, die ihr auch willig und konstant gewährt wird. Und doch wird man zögern, die amerikanische Unabhängigkeitserklärung in einem anderen als dem metaphorischen Sinne als Staatsfetisch zu beschreiben. Denn, so drängt sich die Frage auf, werden diese Kriterien nicht auch für eine ganze Reihe anderer historisch bedeutsamer Gegenstände erfüllt? Führte das nicht zu einem inflationären Gebrauch des Fetischkonzepts? Und qualifizieren sich Sprachobjekte – Schriftzeichen, Dokumente, Texte – überhaupt als Fetische? Müssen Fetische nicht nonverbalen Charakters sein?8 Und schließlich: Machte es, die Unabhängigkeitserklärung betreffend, einen relevanten Unterschied, von einem Staatssymbol oder einer Staatsreliquie zu sprechen? Gewiss, letzterer Begriff hebt den kultisch-religiösen Charakter hervor, während jener des Symbols ihn eher ausklammert oder zumindest ohne ihn auskommen kann. Insofern wir aber Verehrungswürdigkeit als Kennzeichen des Fetischs benannt haben, ist nicht klar, wo genau in der sich auftuenden »Respektsskala« der Fetisch adäquaterweise anzusiedeln ist. Ist er mehr in der Welt der Symbole oder in jener der Reliquien zu Hause? Und wenn in letzterer, was unterscheidet ihn dann von einer säkularisierten Version einer Reliquie, mit dem Staat und dem Recht als Gottes- und Religionsersatz? Diese Fragen zeigen auf, dass mit dem Exempel der US-amerikanischen Unabhängigkeitserklärung allein, aller ihrer Außerordentlichkeit zum Trotz, jedenfalls »kein Fetisch zu machen« ist. Die Verwendung 8 | Zu diesem (nicht unumstrittenen) Definitionselement vgl. Fußnote 3.

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des Fetischkonzepts in diesem Zusammenhang muss sehr zweifelhaft bleiben. Es bedarf eines weiteren Anlaufes, um sich der angemessenen Verwendung dieses Begriffs im staatlichen bzw. rechtlichen Kontext anzunähern.

2. Annäherungsversuch: Die Flagge als Staats- oder Rechtsfetisch Wollen wir uns damit also als zweitem Exempel dem Phänomen der Flagge zuwenden. Einige Unterschiede zum Vorbeispiel stechen sofort ins Auge: Die Staatsflagge ist, von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen9, nonverbalen Charakters. Das heißt nicht, dass die verwendeten Farben, die Zahl der Streifen oder andere Merkmale (Sterne, Kugeln, Planeten, Löwen, Drachen, Bäume etc.) und die Form ihrer Anordnung nicht regelmäßig hoch symbolischen Charakter haben. Ebenso sind Symbole im engsten Sinn oft Bestandteile von Flaggen, sei es das mittlerweile rar gewordene Hammer-und-Sichel-Symbol10, seien es Kreuz, Halbmond oder Davidstern. Vielleicht bringt der weniger verbale und in diesem Sinn stofflichere Charakter der Flagge diese dem Fetischphänomen näher als ein Schriftstück wie die vorher erörterte US-Unabhängigkeitserklärung. Gleichzeitig scheint die Flagge etwas einzubüßen dadurch, dass sie nicht einmalig, individuell, sondern beliebig replizierbar ist; ob dieses Merkmal schon für sich allein genommen den Fetischcharakter ausschließt, muss hier offenbleiben.11 Im Übrigen präsentiert sich die Flagge als Verwirklichungsort zahlreicher Elemente des Fetischkonzepts: Sie ist ein Kulturprodukt, eingebettet in vielfältige sozial-kommunikative Zusammenhänge, wovon sogleich noch ausführlicher zu reden sein wird. Als Kulturprodukt übt sie – unabhängig von ihrer Materialität, die in einem Arrangement gefärbten und genähten Stoffs besteht – starken Einfluss auf menschliches Handeln aus, ohne dabei (zumindest regelmäßig) den Kontext der Weltimmanenz zu verlassen. Es ist allerdings durchaus nicht ungewöhnlich, dass eine Flagge in einen religiösen, d.h. genuin transzendenten Kontext eingebettet gesehen wird, namentlich wenn man bereit ist, einen Blick in die Geschichte zu tun.12 In diesem letzteren Sinne gebietet die Flagge Verehrung 9 | Vgl. etwa die brasilianische Flagge mit ihrer (durch das Denken Auguste Comtes inspirierten) Aufschrift ordem e progresso (Ordnung und Fortschritt) oder aber die saudische Flagge, die – in kalligraphischer Form – die Schahada (d.h. das islamische Glaubensbekenntnis) beinhaltet. 10 | Soweit erkennbar ziert es nur noch die Staatsflagge der Republik Österreich, und auch bei dieser nicht aus Anhänglichkeit an eine dezidiert kommunistische Weltanschauung. 11 | Vgl. dazu Fußnote 3. 12 | Vgl. hierzu die berühmte Vision Kaiser Konstantins des Großen vor der Schlacht an der Milvischen Brücke (312), wo ihm das Christusmonogramm mit

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für das dahinterstehende Noumenon. Der Regelfall ist indes, dass sie als solche Verehrung erheischt. Die Beispiele für die außerordentliche und außergewöhnliche Verehrung, die der Staatsflagge zuteilwird, sind zahllos. Das fängt schon damit an, dass zahlreiche Verfassungen, also die normativen Grundlagen der jeweiligen Staatswesen, eine ihrer Anfangsbestimmungen darauf verwenden, die Flagge neben anderen Staatssymbolen zu definieren.13 Um die verschiedenen Verrichtungen, zu deren Gegenstand die Flagge im öffentlichen Leben der Staaten werden kann, ist ein ganzes Wortfeld entstanden: An vielen Orten wird die Staatsflagge feierlich gehisst und wieder eingeholt. Über dem Sitz des Staatsoberhaupts weht allenthalben die Flagge, wenn ein Präsident oder eine Monarchin dort weilt. Zu den Staatsfeiertagen werden die Häuser beflaggt. Das Flagg-Schiff, das Leitschiff eines Kriegsschiffsverbandes, führt die Flagge des Befehlshabers. Flaggen werden gegrüßt, auf sie werden Eide geschworen, zu verschiedenen Anlässen werden sie auch geküsst. Bei Ereignissen, die die Nation in Trauer stürzen, wird die Staatsflagge auf Halbmast gesetzt.14 Bei Staatsbegräbnissen, bei der Heimkehr für die Nation gefallener Soldaten und bei anderen Heldentoden wird der Sarg in die Staatsflagge gehüllt. Um ein Beispiel zur Illustrierung des Gesagten zu bemühen: Die Flagge spielt eine tragende Rolle in der offiziellen Zeremonie, die den mexikanischen Nationalfeiertag am 16. September im wahrsten Sinne des Wortes einläutet. Jeweils am 15. September, kurz vor Mitternacht, zeigt sich der Staatspräsident am Balkon des Präsidentenpalastes am Zócalo, dem zentralen Platz von Mexiko-Stadt, über dem eine überdimensionale mexikanische Fahne weht. (Sie wird übrigens jeden Morgen von Armeeangehörigen zeremoniell gehisst, am Abend wieder eingeholt und über Nacht in den Präsidentenpalast verbracht.) Der Präsident läutet sodann die Glocke von Miguel Hidalgo y Costilla, einem katholischen Priester, der diese schon am 16. September 1810 zum Klingen brachte, und zwar in der Nähe der Stadt Dolores. Mit der Glocke – vielleicht auch sie ein Fetisch, hält der Präsident bei diesem Staatszeremoniell doch die historische Glocke in Händen? – spornte der Priester seine Gefährten im Unabhängigkeitskampf gegen Spanien an und tat den berühmten Schrei von Dolores (Grito de Dolores). Diesen wiederholt der Präsident rituell und schwingt die mexikanische Flagge. Sodann wird die Nationalhymne angestimmt. Der Flagge kommt mithin eine zentrale Rolle im mexikanischen Staatsritus zu. der Botschaft in hoc signo vinces (In diesem Zeichen wirst du siegen) erschienen sei. 13 | Vgl. Artikel 8a Absatz 1 des (österreichischen) Bundes-Verfassungsgesetzes, Artikel 22 Absatz 2 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland oder aber Artikel I-8 des (schlussendlich nicht in Kraft getretenen) Vertrages über eine Verfassung für Europa. 14 | Dies gilt aber etwa bei der saudischen Flagge wegen der Heiligkeit der auf ihr aufgedruckten Schahada (vgl. oben Fußnote 9) als unzulässig.

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Wichtig ist, zu sehen, dass die Flagge nicht nur verschiedene Bedeutungsinhalte transportiert – die Identität des Staates und damit verbundene Werte: Patriotismus, Ehrfurcht, Opferbereitschaft etc. –, sondern auch unmittelbar handlungsrelevant ist. Ihr kommt sohin nicht nur semantische, sondern auch pragmatische Relevanz zu: Wenn die Flagge förmlich präsentiert wird, hat man in so manchem Land zu salutieren, jedenfalls als Militärangehöriger, teilweise auch als Zivilperson. Mit dem Aufstellen und Aufziehen der Flagge wurden, zumindest historisch, Gebäude und Territorien in Besitz genommen – jüngst wird diese Praxis für den Tiefseeboden wiederzubeleben versucht. Die Eroberung von Flaggen und Standarten der gegnerischen Truppen war nicht nur Demütigung, sondern auch ein zentraler Faktor in der Bewertung des Ausgangs der Schlacht und entschied insofern über Sieg und Niederlage mit. Gewisse Akte gegenüber der Flagge sind strafrechtlich sanktioniert, so etwa das Zerreißen, das Verbrennen, das In-den-Staub-Treten der Flagge, ganz zu schweigen vom Spucken oder Urinieren auf die Flagge. In diesem Zusammenhang ließe sich im Übrigen nochmals die vorher angerissene Frage nach der zwingenden Individualität des Fetischs aufgreifen.15 Gehen die Sympathien in diese Richtung, dann lässt sich noch immer argumentieren, dass das Verwerfliche am Missverhalten gegenüber der Flagge nicht die Untat gegenüber dieser oder jener konkreten Manifestation der Flagge ist, sondern die dadurch vermittelte Schändung der platonisierend zu denkenden Urflagge, die als unmittelbares Attribut des Staatswesens selbst gedacht wird. Im Lichte einer solchen Betrachtung könnte die Flagge einmal mehr als Staatsfetisch, und zwar im Sinne der Verkörperung des Staates und der in ihm gebündelten Energien und Ansprüche seinen Subjekten gegenüber, gesehen werden. Diese und ähnliche Intuitionen bündeln sich auch in den Analysen des französischen Philosophen Bernard-Henri Lévy, der das Anfangskapitel seines Buches American Vertigo (Lévy 2006) bezeichnenderweise mit A People and Its Flag überschrieben hat. Wenn er seine Untersuchung der amerikanischen Befindlichkeiten in Newport, Rhode Island beginnen lässt, fällt sein Blick auf die auffallende Präsenz von amerikanischen Flaggen: »And then, those flags: a riot of American flags, at crossroads, on building fronts, on car hoods, on pay phones, on the furniture displayed in the windows along Thames Street, on the boats tied to the dock and on the moorings with no boats, on beach umbrellas, on parasols, on bicycle saddlebags – everywhere, in every form, flapping in the wind or on stickers, an epidemic of flags that has spread throughout the city […]. One is struck by the omnipresence of the StarSpangled Banner, even on the T-shirts of the kids who came to watch the sumo wrestlers as the little crowd cheers on them.

15 | Vgl. oben Fußnote 11 und insbesondere den Text zu Fußnote 3.

F ETISCHE IM R ECHT – R ECHT ALS F ETISCH It’s the flag of the American cavalry in westerns, the flag of Frank Capra movies. It’s the fetish that is there, in the frame, every time the American president appears. It’s the beloved flag, almost a living being, the use of which, I understand, is subject not just to rules but to an extremely precise code of flag behaviour: don’t get it dirty, don’t copy it, don’t tattoo it onto your body, never let it fall on the ground, never hang it upside down, don’t insult it, don’t burn it. On the other hand, if it gets too old, if it can no longer be used, if it can’t be flown, then you must burn it; yes, instead of throwing it out or bundling it up, better to burn it than abandon it in the thrash.« (Ebd.: 9f.; Hervorhebungen A.M.)

Es ist bezeichnend, dass die amerikanische Fahne hier ausdrücklich als Fetisch apostrophiert wird. Dennoch bleibt unklar, ebenso wie im vorigen Beispiel, ob dies in einem strengen oder bloß metaphorischen Sinne gemeint ist. Jedenfalls wird der handlungsleitende Charakter der Fahne hervorgehoben. Ganz besonders betont, ja im Mittelpunkt der vorhergehenden Überlegungen steht das Ehrfurchtgebietende der Flagge: Sie verlangt Verehrung, die sich in einem umfassenden und fixierten Code von Ge- und Verboten16 manifestiert. Lévy macht es schwer, die Flagge von einem sakralen Gegenstand zu unterscheiden – einem säkular-sakralen Gegenstand wohl, da die US-Fahne Wohl und Wehe der amerikanischen Nation verkörpert. Und diese ist, abgesehen von einem eher abstrakten, aber zugegebenermaßen allgegenwärtigen Gottesbezug17, doch vorrangig ein weltimmanentes Projekt. 16 | Die gegebenen Beispiele verdienten aber, jeweils genauer unter die Lupe genommen zu werden; vgl. hierzu etwa die eigenartige Ambivalenz des Verbrennens der Flagge in der amerikanischen normativen Vorstellungswelt. Namentlich mit der Entscheidung des US Supreme Court in Texas v. Johnson, 491 U.S. 397 (1989), in der der Gerichtshof zu einer im Bundesstaat Texas unter Strafe gestellten Flaggenverbrennung durch Herrn Johnson bei Protesten gegen den Wahlkampf von Ronald Reagan Stellung zu nehmen hatte und dieses Verbot als unzulässige Einschränkung der Meinungsäußerungsfreiheit für mit der US-Bundesverfassung unvereinbar erklärte. Damit werden die Flagge und der Umgang damit gleichsam zum Doppelfetisch, nicht nur für jene, die damit Nationalstolz, Patriotismus und Einigkeitsgefühl verbinden, sondern auch für jene, die darin eine besonders starke Möglichkeit sehen, ihre Meinung im öffentlichen Raum zu artikulieren und dadurch zum politischen Diskurs beizutragen. 17 | Vgl. die Berufung auf den creator and supreme judge of the world in der Unabhängigkeitserklärung selbst. Vgl. auch die – einmal mehr flaggenbezogene – Pledge of Allegiance: »I pledge allegiance to the flag of the United States of America, and to the republic for which it stands, one nation under God, indivisible, with liberty and justice for all.« (Hervorhebungen A.M.) Der Zusatz under God wurde bekanntermaßen erst durch eine am 14. Juni 1954 verabschiedete Novelle zum Flag Code 1942 von 1954 eingeführt. Gegenwärtig tobt eine heftige, über die Gerichte ausgetragene Diskussion, ob dieser Zusatz verfassungskonform sei; vgl. eine am 11. März 2010 ergangene Entscheidung des US Court of Appeal for

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Deckt sich die Funktion solcher säkular-sakraler Gegenstände, die diese im Kontext einer bestimmten Gruppe von Menschen erfüllen, nun nicht gerade weitgehend mit jener des Fetischs, wie sie oben beschrieben worden ist? Qualifiziert sich demnach die Flagge als moderner Fetisch? Das Zögern bleibt – die Parallelen, wiewohl erkennbar, wirken immer noch eher oberflächlich und die Wahl des Fetischbegriffs irgendwie zufällig. Hätte man, vielleicht nicht so pointiert, aber im Kern gleichwertig, nicht auch (in stärker religiös konnotierter Weise) Kultobjekt oder (etwas nüchterner gefasst) Symbol sagen können? Will man durch die Verwendung des Fetischbegriffs nicht oft von der speziellen Strahlkraft, vom Aufrüttelnden und Provozierenden des Begriffs profitieren, ohne nach dem Spezifischen des Fetischkonzepts zu fragen? Das recht Eigentliche am Fetisch scheint auch in diesem zweiten Durchgang nicht greifbar geworden zu sein, jedenfalls nicht in Bezug auf Staatsgebilde und Rechtssystem.

3. Annäherungsversuch: Recht und Rechtssystem als Fetisch Ein letztes Schlaglicht soll schließlich auf das Rechtssystem als solches geworfen werden. Nach zwei Beispielen der Mikroanalyse begeben wir uns damit auf die Ebene der Makroanalyse. Aber in welchem Sinne soll man vom Recht selbst als einem Fetisch reden können? Hierbei mag uns eine wohlbekannte Fußnote aus dem Werk von Immanuel Kant anleiten: »Man hat die hohen Benennungen, die einem Beherrscher oft beigelegt werden (die eines göttlichen Gesalbten, eines Verwesers des göttlichen Willens auf Erden und Stellvertreters desselben) als grobe, schwindlig machende Schmeicheleien oft getadelt; aber mich dünkt, ohne Grund. – Weit gefehlt, dass sie den Landesherrn sollten hochmütig machen, so müssen sie ihn vielmehr in seiner Seele demütigen, wenn er Verstand hat (welches man doch voraussetzen muss), und es bedenkt, dass er ein Amt übernommen habe, was für einen Menschen zu groß ist, nämlich das Heiligste, was Gott auf Erden hat, das Recht der Menschen zu verwalten, und diesem Augapfel Gottes irgend worin zu nahe getreten sein jederzeit in Besorgnis stehen muss.« (Kant 1912: 343; Erster Definitivartikel zum ewigen Frieden, 2. Anm. A.M.; Hervorhebung laut Original)

Es erscheint in der Tat bemerkenswert, dass der ansonsten für seine Nüchternheit und Trockenheit bekannte, ja berühmt-berüchtigte Königsberger Philosoph in solchem Pathos schwelgt. Immerhin spricht er vom Recht als dem »Heiligsten, was Gott auf Erden hat« und als dem »Augapfel Gottes« und betont, dass die Wahrung des Rechts eine für einen Menschen zu große Aufgabe sei. Fühlt man sich da nicht an so the Ninth Circuit in der Sache Newdow v. Rio Linda Union School District, wo die Wortfolge under God von den Richterinnen und Richtern mehrheitlich als nicht in erster Linie religiöser Zusatz, sondern als Beteuerung einer ceremonial and patriotic nature gesehen wurde.

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manches Element des Fetischkonzepts erinnert? Zweifellos ist das Recht Menschenwerk und Kulturprodukt, wiewohl es als solches des stofflichen Substrats entbehrt. Es gebiert sozial-kommunikative Zusammenhänge, die in vielfältiger Weise Wirkungen auf die Menschen ausüben. Dabei verlässt das »Menschenrecht« den Bereich der Weltimmanenz nicht, auch wenn Kant mit der Bezeichnung »Augapfel Gottes« eine transzendente, eine über-menschliche Dimension suggeriert. Schließlich, und darauf legt Kant besonderen Wert, erheischt das Recht ob seiner über-menschlichen Größe Ehrfurcht und Verehrung. Es gehört also zu seiner Eigenart, den Menschen zu übersteigen, zu überhöhen, und dazu gehört auch die »Aufhebung« seiner menschlichen Wurzeln. Bezeichnend ist, dass Jacques Derrida in seiner Auseinandersetzung mit Franz Kafkas Erzählung Vor dem Gesetz auf einen ganz ähnlichen Punkt hinweist: »[Das Gesetz] gibt sich, indem es sich versagt, ohne seine Herkunft und seinen Ort anzugeben. Dieses Schweigen und diese Diskontinuität konstituieren das Phänomen des Gesetzes. Mit dem Gesetz, demjenigen, das sagt ›Du sollst‹ und ›Du sollst nicht‹, in Beziehung zu treten, heißt zugleich, so zu tun, als ob es keine Geschichte hätte oder jedenfalls nicht mehr von seiner historischen Präsentation abhinge, und zugleich sich von der Geschichte dieser Nicht-Geschichte faszinieren, provozieren, ansprechen zu lassen.« (Derrida 1992: 48)

Derrida sucht hier herauszustellen, dass das Recht nicht bloß ein Instrument zugunsten, geschweige denn zu Diensten der Menschen ist. Vielmehr hat es ein Eigenleben und übt als solches gravierenden, teils fatalen Einfluss auf die menschliche Existenz aus. Die Unverfügbarkeit des Gesetzes, obschon von seiner Genese her Menschenwerk, verschafft ihm seine Erhabenheit und Verehrungswürdigkeit. Vielleicht kann man in diesem Sinne sagen, dass das Recht dem Menschen zum Fetisch wird, als Objekt, dessen er sich zu gewissen Zwecken bedient, aber zugleich auch als Objekt, das ihm entzogen ist, das über ihm steht und ihn übersteigt, dem er ausgeliefert ist und das er durch Verehrungshandlungen einzuholen und zu er-fassen sucht. Diese Betrachtungsweise verträgt sich mehr schlecht als recht mit dem Selbstverständnis des modernen Rechts als einem Kind der Aufklärung. Man denke nur an die klassischen vernunftrechtlichen Kodifikationen des beginnenden 19. Jahrhunderts, etwa den Code Napoléon von 1804 oder das österreichische Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch von 1811. Sie fühlten sich dem Ideal verpflichtet, Regeln zu kodifizieren, die man damals als »geronnene Vernunft« verstand. Im (zumindest seinem Anspruch nach) perfekt rationalen und rationalisierten Recht scheint der Fetisch, dem der Ruch des Irrationalen durch und durch anhängt, keinen Platz zu haben. So mag man Hans Kelsen und seiner Reinen Rechtslehre zwar mit einigem Grund entgegenhalten, dass sie dem Recht einen zu hohen, zu isolierten, zu privilegierten Stellenwert einräumten. Kelsen aber wegen der Zentralität, die

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das Recht in seinem Denken einnimmt, zum Rechtsfetischisten erklären zu wollen, kann man nur um den Preis, sich einmal mehr im metaphorischen Bereich zu bewegen. Das heißt nicht, dass es untunlich wäre, zu untersuchen, ob und inwieweit Recht und Rechtssystem selbst fetischhafter Charakter zugesprochen wird. Es heißt lediglich, dass man es auf seinen berechtigten Anspruch zu beschränken hat. Einem Denker, einer Theorie vorzuhalten, dass sie das Recht zum Fetisch macht, bedeutet regelmäßig nicht viel mehr, als Kritik daran anzubringen, dass die Relevanz von Rechtsordnung und Rechtsregeln zu hoch angesetzt wird. Es ist zumeist ein Plädoyer für die Menschen, die nicht zugunsten der Bedürfnisse eines abstrakten, starren, gnadenlosen Rechtssystems geschunden, verbraucht, instrumentalisiert, geopfert werden sollen. Ein solcher Diskurs kann hochrelevant und zutiefst human sein. Nichtsdestotrotz wird er regelmäßig auch bedeuten, dass das Fetischkonzept nicht in einem tieferen Sinne verwendet wird, d.h. nicht innerhalb der an sich nennenswerten Bandbreite, die durch die eingangs skizzierte Begriffsbestimmung eröffnet wird. Dieses und nicht viel mehr scheint bei nüchterner Betrachtung für die Verwendung des Fetischkonzepts in Bezug auf das Rechtssystem zu gewinnen zu sein.

S CHLUSSFOLGERUNGEN Zusammenfassung und Schlussfolgerungen können relativ knapp ausfallen. Wir haben sowohl auf der Ebene der Mikro- wie auch der Makroanalyse gesehen, dass die Verwirklichung charakteristischer Elemente des Fetischbegriffs in Bezug auf bestimmte Rechtsphänomene ausgemacht werden kann. Allerdings haben wir bei allem Bemühen kein Beispiel, keinen Bereich finden können, bei dem man das Konzept des Fetischs in einem engeren Sinne in Bezug auf ein rechtliches Phänomen hätte anwenden können. Es bleibt also letztlich der Befund eines untechnischen, wenn auch deshalb nicht automatisch nutzlosen oder problematischen Gebrauchs des Fetischkonzepts in den Rechtswissenschaften. Allein der Umstand, dass das seinem Selbstverständnis zufolge rationale/rationalisierte moderne säkulare Rechtssystem in sich keinen Platz für den Fetisch sieht, vermag diesen noch nicht »wegzurationalisieren«. Im Gegenteil: Besonders gewinnbringend kann er in seiner kritischen Funktion gegen ein zu leichtfertiges, oberflächliches Rationalitätsbewusstsein sein. Besonderen Nutzen darf man sich vom Fetischkonzept als Warner vor der übersteigerten Bedeutung erwarten, die einzelnen Rechtsinstituten und insbesondere dem Rechtssystem als Ganzem auf Kosten der Einzelmenschen gegeben wird. In Anbetracht dessen kann man den mächtigen »Irritationslinien« (vgl. Antenhofer in diesem Band), die vom Fetischbegriff ausgehen, mit gutem Gewissen besonderes Augenmerk schenken.

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Q UELLEN UND L ITER ATUR Bill of Rights. Washington 8. Juni 1789: National Archives Washington, D.C. http://www.archives.gov/legislative/features/bor (besucht am 28.01.2011). Brosses, Charles de. Du culte des Dieux Fétiches. Ou parallèle de l’ancienne religion de l’Egypte avec la religion actuelle de Nigritie. Paris: Fayard, 1988 [1760]. Declaration of Independence. Washington 4. Juli 1776: National Archives Washington, D.C. http://www.archives.gov/exhibits/charters/declaration.html (besucht am 28.01.2011). Derrida, Jacques. Préjugés. Vor dem Gesetz. Wien: Passagen Verlag, 1992. Hegel, Georg W.F. Wissenschaft der Logik. Nürnberg: Johann Leonhard Schrag, 1812-1816. Bd. 5. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1979. Henkin, Louis. »A Decent Respect to the Opinions of Mankind.« The John Marshall Law Review 25 (1992): S. 215-233. Iacono, Alfonso M. Le fétichisme. Histoire d’un concept. Paris: Presses Universitaires de France, 1992. Kant, Immanuel. Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf. Bd. 8. Berlin: Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften, 1912. Kelsen, Hans. Reine Rechtslehre. Wien: Österreichische Staatsdruckerei, 1992 [Nachdr. 21960]. Lévy, Bernard-Henri. American Vertigo. On the Road From Newport to Guantánamo (In the Footsteps of Alexis de Tocqueville). London: Gibson Square, 2006. National Treasure. Regie: Jon Turteltaub. Darsteller: Nicolas Cage, Diane Kruger. DVD erschienen bei Buena Vista Home Entertainment, 2005 (Walt Disney Studios, 2004).

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Fetisch und Fetischismus als historische Sachverhalte? Fallstudien

Batailles großer Zeh Fetischismus und Subversion in der Politischen Ästhetik von Documents Andreas Oberprantacher

»Nicht weniger gilt, daß die Rose, ihrer Blütenblätter beraubt, die Rose bleibt […].« André Breton, Zweites Manifest des Surrealismus (1930)1 »Andererseits sind die schönsten Blumen in der Mitte durch den behaarten Schandfleck der Sexualorgane entstellt. Von daher entspricht das Innere einer Rose keineswegs seiner äußerlichen Schönheit, so daß, zupft man die Blätter der Blütenkrone bis zum letzten aus, nichts bleibt als Büschel von schmutzigem Aussehen.« Georges Bataille, Die Sprache der Blumen (1929)

B EAUCOUP TROP D ’EMMERDEURS IDÉALISTES In seinem 1946 verfassten Vorwort zur Neuausgabe des Zweiten Manifests des Surrealismus erinnert sich André Breton an »ärgerliche Spuren der Gereiztheit« (Breton 2004a: 47), die an seiner Entscheidung aus dem Jahr 1929 kleben, angesichts sich addierender Unruhen den Aufruf zu einem surrealistischen Nonkonformismus zu erneuern. Breton beruft sich in seinen retrospektiven Stimmungsanalysen nicht allein darauf, dass »die unweigerliche Wiederkunft der Weltkatastrophe« für »die wachen Geister« (ebd.), für die sich die Surrealisten in seiner Diktion selbstredend halten 1 | Bretons Second manifeste du surréalisme erschien erstmals in der Dezemberausgabe 1929 der Zeitschrift La Révolution Surréaliste. Ein knappes halbes Jahr später, am 25. Juni 1930, wurde sein Zweites Manifest des Surrealismus ein weiteres Mal veröffentlicht, diesmal im Verlag Kra als eigenständiger und mehrfach erweiterter Text. Diesem Beitrag liegt die deutsche Übersetzung der zweiten Fassung zugrunde.

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durften, zur damaligen Zeit bereits festgestanden habe und die Zukunft des surrealistischen Projekts somit bedroht schien. Wie das Vorwort zudem zu erkennen gibt, waren es »gewisse Fälle von Abtrünnigkeit« (ebd.) gewesen, die Breton dermaßen unruhig werden ließen, dass er letztlich die Kontinuität seines Entwurfs in Frage gestellt sah und glaubte, diese nur durch gezielte Ächtungen wieder herstellen zu können. Und einer der Stachel, der Breton besonders tief im Fleisch zu sitzen schien, sein Gemüt entzündet hatte und deshalb so rasch wie nur möglich entfernt werden sollte, war jener namens Georges Bataille. Von diesem »Monsieur Bataille« (Breton 2004b: 95) wird im Zweiten Manifest des Surrealismus allerlei Absonderliches und Kurioses berichtet: So soll er es sich, laut Breton, zur Aufgabe gemacht haben, »auf der Welt nur das Niedrigste, Entmutigendste, Verdorbenste zu berücksichtigen« (ebd.), während er mit Ausdrücken wie »besudelt, senil, ranzig, unfähig, schwachsinnig […] aufs Lyrischste sein Wohlbehagen ausdrückt« (ebd.: 97). Dass er sich »des Nachts an dem Unrat, mit dem er sich gern beladen sehen möchte« (ebd.), weide, wird nicht weiter verwundern, sofern man Bretons Ausführungen Vertrauen schenkt, dass dieser Monsieur Bataille auf nicht weniger bedenkliche Art »Fliegen mag« (ebd.: 96). Diese und andere Pathologien in Betracht ziehend, könne für das dem Surrealismus geneigte Publikum wohl nur feststehen, was Breton zufolge ohnehin auch Ärzte diagnostizieren würden, und zwar, dass ein solcher Mensch an einem »Bewußtseinsausfall generalisierender Form« (ebd.: 96f.) leide. Der Streich Bretons ist bezeichnend – nicht allein deshalb, weil er mit außergewöhnlicher lexikalischer Schärfe und mit entschiedener Vehemenz geführt wurde, sich insbesondere auf eine Person richtete und der surrealistischen Aktion nur insofern eine Aussicht auf Gelingen zugestand, als diese »unter Bedingungen moralischer Asepsie« (ebd.: 98) stattfände und von weiteren »Almosen an ›Talenten‹« (ebd.) absähe, um endlich das »Krebsgeschwür des Geistes« (ebd.) auszukurieren. An Bedeutung gewinnt die Polemik, auf die sich das Zweite Manifest des Surrealismus als ästhetische und diskursive Strategie versteht, insbesondere dann, wenn sie in ein Verhältnis gebracht wird zu jener Aufgabe, der sich Breton ebenso wie sein Kontrahent Bataille gewidmet haben, wenngleich ihre Antworten, Forderungen und Einsätze selten Gemeinsames erkennen lassen – ausgehend vom »›kolossalen Scheitern‹ des Hegelschen Systems« (ebd.: 66) den Versuch zu wagen, Materie anders zu denken und Denken anders zu materialisieren als unter dem Vorzeichen einer formvollendeten, reibungsfreien Dialektik.2 Tatsächlich liefert Bretons Zweites Manifest des Surrealismus mehr als nur einen schwachen Hinweis dafür, dass er jenen feindlich gesinnt sein konnte, die eingefahrene Wege des Surrealismus verlassen wollten, 2 | Zum spannungsreichen Verhältnis Hegel-Bataille-Surrealismus vgl. u.a. Peter Bürgers Ausführungen in seinem Essay Das Denken des Herrn. George Bataille zwischen Hegel und dem Surrealismus (Bürger 1992: 38-62).

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und dass er sich potentiell von Personen bedroht fühlte, die sich mit und auf Bataille verstanden.3 Diverse autobiographische Notizen Batailles geben zwar zu erkennen, dass von einer dezidiert gegen Breton organisierten Gruppe im Jahr 1929 (noch) keine Rede sein kann.4 Doch die den Tod Bretons insinuierende Persiflage Un Cadavre (1930), die von Robert Desnos angeregt und von Bataille, Jacques-André Boiffard und anderen mehr unmittelbar nach der Erstausgabe des Zweiten Manifests des Surrealismus umgesetzt worden war, lässt zumindest vermuten, dass schon damals schwelende Differenzen bestanden, die auch innerhalb kürzester Zeitspannen leidenschaftlich gegeneinander ausgespielt werden konnten. Immerhin war es Bataille gewesen, der Anfang des Jahres 1929 Bretons Aufforderung, sich an einer gemeinsamen surrealistischen Aktion zu beteiligen, »wie ein Eber lospreschend« (Leiris 1985: 70) mit folgenden Worten quittiert hat: »Beaucoup trop d’emmerdeurs idéalistes« (zitiert nach Surya 1992: 146) – zu viele idealistische Arschlöcher!

D OCUMENTS Das Jahr 1929 ist ein in mehrfacher Hinsicht aufschlussreiches, gerade für das Verständnis des avantgardistischen Begehrens, mit dem Idealismus und seinen diversen Formen und Einstellungen brechen zu wollen, um auf unerhörte Weise auf Erfahrungen Bezug zu nehmen. Es markiert 3 | Die mitunter paranoid strapazierte Überzeugung Bretons, Bataille liege ihm auf der Lauer, bricht an mehreren Stellen hervor, auch an dieser: »Um Monsieur Bataille scharen sich bereits die Herren Desnos, Leiris, Limbour, Masson und Vitrac; daß Monsieur Ribemont-Dessaignes zum Beispiel noch nicht dabei ist, ist verwunderlich. Ich finde, daß es höchst aufschlußreich ist, daß sich all die von neuem zusammenschließen, die wegen irgendeines Fehlers ein festes erstes Engagement gebrochen haben weil ihnen höchstwahrscheinlich nur ihre Unzufriedenheit gemeinsam ist. Der Gedanke belustigt mich übrigens, daß man den Surrealismus nicht verlassen kann, ohne auf Monsieur Bataille zu treffen; denn der Abscheu vor jeder Strenge weiß sich nun einmal in nichts anderes umzusetzen, als in die erneute Unterwerfung unter eine andere Strenge.« (Breton 2004b: 95f.) 4 | In seiner späten Replik auf die Aktion Un Cadavre beteuert Bataille, dass man sich zum damaligen Zeitpunkt keineswegs zu einer Gruppe zugehörig gefühlt hatte: »In truth there was never anything that amounted to a new heterodox group which would have locked horns with the first. Personally, my only interest at that time was eroticism and erotic subversion.« (Bataille 1994a: 30) Es dürfte wohl Bretons eigenes Verlangen nach einem dezidierten surrealistischen Bekenntnis gewesen sein, das die Bewegung sukzessive und in mehrere Richtungen spaltete und nicht wenige für Batailles Projekte öffnete. Wie Bataille gesteht, handelte es sich hierbei allerdings um eine alles andere als positive Form der Vergemeinschaftung: »In fact the signatories of the second ›Cadavre‹, which appeared on 15 January 1930, were never united by anything other than hostility.« (Ebd.: 31)

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Abb. 1: Bataille, Georges et al. Un cadavre. (1930). Fotomontage von JacquesAndré Boiffard somit nicht allein den Höhepunkt der persönlichen Animositäten, die zwischen Breton und Bataille offen ausgebrochen waren und sich erst Jahre später wieder legen sollten.5 Es ist insbesondere das Jahr der Gründung jener Zeitschrift, deren einzelne Ausgaben von Breton mit Skepsis und Vorsicht gelesen wurden, wohl auch deshalb, weil sich darin eine radikale Ästhetik6 ankündigte, die auf den ersten Blick mit jener des 5 | Bretons versöhnlicher Ton, den er in seinem Vorwort zur Neuausgabe des Zweiten Manifests des Surrealismus angeschlagen hatte, wird gespiegelt von Batailles Geständnis, dass Bretons Wille zur Aktion und die Kraft seiner Provokationen absolut einzigartig sei: »Not that his actions remain uncontestable, not that one does not immediately notice continual errors and misunderstandings. But the mistakes of surrealism, insofar as they affect both works and people, re present, rather, its strength. Despite its general ensemble – which remains deceptive – of works and men, [Breton’s] surrealism is what remains vibrant and genuinely compels recognition.« (Bataille 1994b: 57) Wenngleich Breton und Bataille ihre inhaltlichen und persönlichen Differenzen mitunter polemisch ausgetragen haben, wäre es also verfehlt, von zwei genuin entgegengesetzten Projekten ausgehen zu wollen. Vermutlich behält Saran Alexandrian mit seiner Einschätzung Recht, wonach zwischen den beiden ein gespanntes Naheverhältnis bestanden habe: »Those critics who want to oppose Breton and Bataille are very poorly informed. These two men are closely united, like day and night, like conscious and unconscious.« (Zitiert nach Richardson 1994b: 6) 6 | Im Wissen um die Irritationen, die der Begriff Ästhetik in Hinblick auf das Selbstverständnis von Documents auszulösen vermag (vgl. Holliers Aussage, wonach Documents »von einer oppositionellen Haltung gegenüber der Ästhetik aus[gehe]« [Hollier 1994: 77]), halte ich dennoch an ihm fest, allerdings, indem ich ihn mit dem Zusatz versehe, dass er in diesem Beitrag nicht zur Bezeichnung

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surrealistischen Nonkonformismus verwandt schien, ihr aber im Grunde gleichgültig bis feindselig gegenüberstand. Die Rede ist von der Zeitschrift Documents. Die Geschichte dieser Zeitschrift ist so kurzlebig, wie sie bedeutend ist. In nicht mehr als 15 Ausgaben verdichten sich hier experimentelle wie programmatische Texte, ethnographisches Material und archäologische Artefakte, fotografische Studien und Menschen, die einen neuen, radikal anderen Bezug auf Leben sichtbar werden lassen wollten. Der Mäzen und Mitherausgeber des Magazins, der Kunsthistoriker und Sammler Georges Wildenstein, mag wohl an eine weitere Kunstzeitschrift, wie die sich bereits in seiner Kontrolle befindliche und als internationale Referenz geltende Gazette des beaux-arts, gedacht haben, als er sich schließlich bereit erklärte, das gemeinsame Vorhaben von Bataille und Pierre d’Espezel, die damals als Numismatiker im Cabinet des Médailles der Bibliothèque Nationale arbeiteten, zu fördern. Und tatsächlich ließ die vierfache Rubrik, unter der Documents bis zur vierten Nummer erschien – Doctrines, Archéologie, Beaux-Arts, Ethnographie –, zumindest teilweise darauf hoffen, dass hier ein Format aufgegriffen wurde, das sich in den späten 1920er Jahren in Paris, wo der Primitivismus gerade en vogue war, besonders gut verkaufte – jenes der Gazette des beaux-arts primitifs. Allein, Bataille und die überwiegende Mehrzahl der am Unterfangen Mitwirkenden hatten anderes im Sinn, als der vorherrschenden Ästhetik ihre Ehre zu erweisen und den allgemeinen Erwartungen zu entsprechen7, wie die Vorankündigung des Magazins enthüllte:

der »Schönen Künste« taugen wird, sondern zur problematischen Aufteilung des Sinnlichen (vgl. Rancière 2008) dienen soll. 7 | Bataille firmierte als Generalsekretär der Zeitschrift. De facto hatte er aber bereits von Anfang an sämtliche editorische Aufgaben übernommen, selbst wenn bis zur sechsten Ausgabe eine eigenständige, elfköpfige Redaktion angeführt wurde, zu der unter anderem auch Wildenstein, Carl Einstein und Georges Henri Rivière gehörten. Seine Arbeitsweise verstand Bataille grundsätzlich als »in agreement with Georges Henri Rivière […] and against the titular editor, the German poet Carl Einstein« (Bataille 1994a: 31). Laut Uwe Fleckner dürfte es allerdings Einstein gewesen sein, der dem Projekt Documents in zwei Briefen, die er im August 1928 an den Sammler und Freund Gottlieb Friedrich Reber geschrieben hatte, erste Konturen verlieh (vgl. Fleckner 2006: 331-356). Die Mitarbeit von Einstein an Documents ist bezeichnend, jedoch nicht so sehr wegen des »editorischen Zweikampf[es]« (ebd.: 332) mit Bataille oder der spezifischen Ästhetik, die er tatsächlich ins Werk setzen konnte, sondern aufgrund seines Versuches, aus Paris die Kontakte zum Warburg Institut in Hamburg zu intensivieren, war er doch von Aby Warburgs Methode, von dessen Mnemosyne-Atlas sehr angetan. Zu diesem weitgehend ungeklärten Verhältnis, gerade auch in Hinblick auf das radikale Programm von Documents, siehe Joyce (2002), aber auch Didi-Huberman (2010a; 2010b: 369-372).

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A NDREAS O BERPRANTACHER »Die irritierendsten, noch nicht klassifizierten Untersuchungen sowie bestimmte, bis jetzt vernachlässigte heteroklite Schöpfungen sollen Gegenstand ebenso strenger und wissenschaftlicher Untersuchungen werden wie in der Archäologie […]. Es sollen hier im allgemeinen die beunruhigendsten Phänomene beleuchtet werden, deren Konsequenzen noch nicht definiert sind. Der bisweilen absurde Charakter der Resultate und Methoden dieser verschiedenen Forschungen wird keineswegs verheimlicht, wie es die Rücksicht auf die Regeln der Wohlausgewogenheit immer gebietet, sondern soll bewußt, sowohl aus Haß auf die Seichtheit als auch aus Humor, unterstrichen werden.« (Zitiert nach Leiris 1985: 71)

Abb. 2: Documents. Doctrines, Archéologie, Beaux-Arts, Ethnographie 1 (1929) Von Michel Leiris als »›unmögliche‹ Mischung« sowie als Batailles »Kriegsmaschine gegen vorgeprägte Meinungen und Ideen« im Dienst »seiner aggressiv antiidealistischen Philosophie« (Leiris 1985: 71f.) apostrophiert, von Denis Hollier als »aggressiv realistische Zeitschrift« (Hollier 1994: 84) eingeschätzt und von Georges Didi-Huberman als »Werkzeug der Kritik« (Didi-Huberman 2010b: 28) ausgewiesen, war Documents vor allem eines: eine radikale Aufkündigung und Demontage von Strukturen formaler Ähnlichkeit, die Schönheit garantieren hätten sollen. Bereits der Titel Documents8 kündigte einen unqualifizierten Pluralismus von Positio8 | Laut Denis Hollier, der Anfang der 1990er Jahre einen Nachdruck von Documents veröffentlicht hat, hatte »dieser Titel für die Gründer […] einen programmatischen Wert, ja beinahe den Wert eines Abkommens« (Hollier 1994: 76). Dieser Wert erklärt sich unter anderem auch daraus, dass mit Documents eine radikale dokumentarische Aufzeichnung von Gebräuchen und Gebrauchswerten versucht wurde (vgl. Didi-Huberman 2010b: 25ff.).

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nen und Bezügen an, ohne mit den vier darauf folgenden Rubriken versichern zu wollen, dass es eine makellose Mitte bzw. eine hermeneutische Klammer geben werde, welche die einzelnen Beiträge oder Ausgaben (ver-)binden könnte. So verwundert es auch nicht, dass die »skandalöse und subjektive Seite [von Documents] rasch empfunden wurde«, wie DidiHuberman unterstreicht, während »deren beträchtliche heuristische und theoretische Bedeutung jedoch unbemerkt blieb« (ebd.: 26). Die erste Rubrik des Magazins dürfte womöglich jene gewesen sein, die am meisten Verwirrung stiften sollte – Doctrines. In Anbetracht der diversen Arbeiten, die in Documents vorgelegt, abgebildet, verrichtet oder zumindest angefangen wurden, ging es selten darum, (wissenschaftliche) Lehrsätze auf bescheidene und distanzierte Weise vorzutragen, mit klaren Argumenten zu belegen oder einer akademischen Diskussion zu stellen. Im Gegenteil. In Anlehnung an den Eintrag »Formlos« aus dem Kritischen Wörterbuch, das ab der zweiten Ausgabe ein integraler Bestandteil von Documents war, ließe sich auch in Bezug auf Batailles editorisches Verständnis sagen, dass für ihn nicht die Abbildung eines sinnvollen und in sich stimmigen Ganzen im Vordergrund stand, sondern die Rohheit, Materialität und Brüchigkeit von Leben und dessen Ausdruck. Ein Wörterbuch, und womöglich auch ein Magazin, dürfte für ihn daher auch erst »in dem Augenblick beginnen, in dem es nicht mehr den Sinn, sondern die Verrichtungen der Wörter verzeichnen würde. So ist formlos nicht nur ein Adjektiv, das einen Sinn hat, sondern auch ein Ausdruck, der der Deklassierung dient und im Allgemeinen erfordert, daß jedes Ding seine Form hat. Was er bezeichnet, hat keine Rechte in irgendeinem Sinne und lässt sich überall wie eine Spinne oder einen Wurm zertreten. Damit die akademischen Menschen zufrieden sind, ist es in der Tat erforderlich, daß das Universum Form annimmt. Die ganze Philosophie hat kein anderes Ziel: Es geht darum, alles in einen Gehrock, in einen mathematischen Reitmantel zu stecken. Dagegen läuft die Annahme, daß dem Universum nichts ähnelt und es nur formlos ist, auf die Aussage hinaus, daß das Universum so etwas wie eine Spinne oder wie Spucke sei.« (Bataille 2005a: 44) 9

Voreilig wäre es, wollte man von dieser Passage auf die Annahme schließen, Bataille wolle uns überzeugen, dass das »Universum« insgesamt unvorstellbar sei, zu gewaltig, zu undurchdringlich und eben deshalb formlos. Eher scheint die provokatorische Spannkraft und heuristische Bedeutung dieses kurzen Eintrages darin zu bestehen, dass den Dingen in Aktion, sprich der materiellen Kultur, eine neue Aufmerksamkeit zuteilwerden sollte, die bis dato von akademischen Wahrheitswerten in ein

9 | Der Eintrag »Formlos« ist in der siebten, d.h. in der letzten Ausgabe von Documents des Jahres 1929 erschienen. Das Attribut critique des Dictionnaire critique entfällt mit dem vierten Heft.

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allzu enges, d.h. formales Korsett gezwängt wurde oder von Schönheitsidealen überlagert worden war.10 Tatsächlich lassen weder die Texte noch die Bilder, die in den einzelnen Ausgaben von Documents abgedruckt wurden, einen Zweifel an der Radikalität des Einspruches aufkommen, der gegen ein schöngeistig verklärtes Verständnis von Kunstgeschichte bzw. von künstlerischen Objekten erhoben wurde. Was man im weitesten Sinne als »Schöne Künste«, als BeauxArts, bezeichnen könnte, wird in Documents zwar zitiert, allerdings nur um diese in ein Verhältnis zu setzen mit jenen Ambivalenzen, die unter den Rubriken Archéologie und Ethnographie vorgestellt wurden. Gerade für das Selbstverständnis der ethnographischen Arbeiten in Documents war entscheidend, wie der französische Anthropologe Marcel Griaule in der ersten Ausgabe des Magazins mit seinem Beitrag Coup de fusil betonte, dass sie sich niemals nur für das Schöne verwenden ließen, sondern auch für das Hässliche interessiert zeigten, »im europäischen Sinn dieser absurden Wörter« (zitiert nach Kiesow/Schmidgen 2005: 100). Nur wenige Nummern später führte André Schaeffner mit seinem Beitrag Des instruments de musique dans un musée d’ethnographique diese Diskussion mit folgendem Zusatz fort: »Wer Ethnographie sagt, nimmt notwendigerweise an, daß kein Objekt […] so ›primitiv‹, so formlos es erscheinen mag, […] von einer methodischen Klassifizierung ausgeschlossen werden kann.« (Ebd.)11 Das Interesse am Beunruhigenden, die Dokumentation heterogener Kulturformen und die Respektlosigkeit vor den Altären der abendländischen »Hochkultur« ist mit Sicherheit bezeichnend für das Verständnis der ethnographischen Dimension von Documents. Allerdings wird selbst diese Dimension in dem Maße suspendiert oder gebrochen, wie außereuropäische, aber auch antike Artefakte nicht von anderen gesondert behandelt, sondern z.B. den Werken von zeitgenössischen Künstlern wie Picasso, Klee oder Braques gegenübergestellt wurden. Damit stellt sich ein, was auch Aby Warburg mit seiner Methodologie zu erzeugen versucht haben dürfte – ein komplexes Referenzsystem bzw. ein prekäres Gleichgewicht heterogener Elemente, die in formaler Hinsicht keine Gemeinsamkeiten aufweisen, jedoch auf symbolischer Ebene in geselliger Beziehung zu stehen scheinen. Um eine Wendung von Didi-Huberman zu übernehmen, handelt es sich hierbei um eine Ästhetik der formlosen Ähnlichkeit – als solche 10 | In ihrem Buch Formless: A User’s Guide charakterisieren Yve-Alain Bois und Rosalind E. Krauss die »operation«, die den Willen zur Formlosigkeit auszeichnet, folgendermaßen: »[E]verything that resembles something, everything that is gathered into the unity of a concept – that is what the informe operation crushes, sets aside with an irreverent wink.« (Bois/Krauss 1997: 79) 11 | Tatsächlich wurde in Documents keine eindeutige Antwort auf die Frage geboten, inwiefern formlos ein Attribut sei, das zur weiteren Bestimmung von Dingen angewandt werden könnte. Wie ich in diesem Beitrag herausarbeiten möchte, vertrat Bataille eine Position, die sich Schaeffners Glauben an eine inklusive »methodische Klassifizierung« zumindest teilweise widersetzte.

B ATAILLES GROSSER Z EH »verleiht [sie] zwar Form und schafft Verbindungen in der Erkenntnis; gleichzeitig versteht sie es jedoch, aus der Berührung ein Zerreißen zu machen, die Verbindungen zu zerreißen und sich gerade in der Zersetzung der verwendeten Elemente herzustellen [construire]. Eben dadurch wird sie zu jener formlosen Ähnlichkeit, an die Bataille unablässig appellierte und die er im infernalistischen Spiel – in der wesentlichen Dialektik – des Ähnlichen und Unähnlichen erzeugte.« (Didi-Huberman 2010b: 372)

Die vierte Ausgabe von Documents markiert insofern einen Bruch in der unförmigen Architektur und Ästhetik des Magazins, als die Rubrik Doctrines von Variétés abgelöst wird, die allerdings nicht an die erste, sondern an die letzte Position gesetzt wurde.12 Diese Rubrik ist nicht weniger enigmatisch als die durch sie ersetzte. Unter Berücksichtigung der Dichte von außereuropäischen »Dingen«, die in Documents versammelt, abgebildet und besprochen wurden, stellt sich insbesondere die Frage, wie sich das Magazin zu jenen Rassismen verhält, die in den 1920er Jahren nicht allein in der Politik eine erste Konjunktur erlebten, sondern auch künstlerische und wissenschaftliche Kreise erfasst hatten. Wie Simon Baker in seinem Essay zur Rubrik Variétés und den rassistischen Politiken der 1920er und 1930er Jahre ausführt, gab es beträchtliche Unterschiede zwischen Documents und anderen Magazinen, was den Umgang mit kulturellen Differenzen betrifft. Während sich im europäischen Bürgertum anerkannte Illustrierte wie die französische Jazz, die deutsche Der Querschnitt oder die belgische Variétés gekonnt darauf verstanden, in einem »gehobenen« Format Stereotype und Vorurteile zu reproduzieren, aber auch explizit rassistische Ansichten zu verbreiten, übte sich Documents in anderen Ansichten. Wenngleich im Magazin keine dezidiert antirassistischen Perspektiven formuliert wurden oder afrikanische und afroamerikanische Positionen zur Sprache kamen, unterliefen die beitragenden Personen mit ihren Versuchen, Differenzen und Brüche quer über alle kulturellen Felder sichtbar zu machen, ohne diese wiederum in eine Hierarchie zu betten, explizit die rassistischen Konventionen ihrer Zeit. Oder, um es mit den Worten Bakers auszudrücken: »[Documents’] ›politics of race‹, if we can call it that, was not a strategy or a policy, but more of an inoculation: an attempt to infect the sterile, complacent body of white European opinion.« (Baker 2006: 68)

L E GROS ORTEIL Wenden wir uns nun jener Schnittmenge von Text und Bildern zu, anhand welcher ich exemplarisch die Frage aufwerfen und behandeln möchte, inwiefern die subversive Ästhetik einer formlosen Ähnlichkeit, auf die

12 | Parallel dazu wird das Attribut critique des Kritischen Wörterbuches fallengelassen.

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sich Documents beruft, auch ein Bekenntnis zum Fetischismus des (unmöglichen) Gebrauchens ist: Le gros orteil (Der große Zeh). Es handelt sich hierbei um einen Beitrag von Bataille, der für die sechste Ausgabe von Documents verfasst wurde und programmatischen Charakter hat. Bereits im Titel verweist der Text auf die gleichnamige fotografische Serie von Boiffard, die in derselben Nummer abgedruckt wurde. Boiffards Serie besteht aus insgesamt drei Großaufnahmen von jeweils einem großen Zeh. Während die ersten beiden Fotos den Zeh eines männlichen Subjekts zeigen – höchstwahrscheinlich handelt es sich um dieselbe Person –, führt das dritte Foto an, dass dieser große Zeh einem weiblichen Subjekt gehöre. Bezeichnend ist sowohl die Kontrastschärfe der Fotos, die durch das Schwarzweiß der Serie besonders stark zur Geltung gebracht wird, als auch der klinische Blick, der durch die Kameralinse auf die phallisch angeschwollenen Extremitäten gerichtet ist. Unterstrichen wird die symbolisch bereits sehr dichte Situation durch die drei Bildnachweise, welche in Anlehnung an die medizinische Praxis dem interessierten Blick allein lakonische Hinweise bieten: Gros orteil. Sujet masculin, 30 ans oder Gros orteil. Sujet feminin, 24 ans.13

Abb. 3: Boiffard, Jacques-André. »Gros orteil. Sujet masculin, 30 ans.« Documents. Archéologie, Beaux-Arts, Ethnographie, Variétes 6 (1929): 298

13 | Abgesehen von Boiffard gab es eigentlich nur einen weiteren Fotografen, der Documents ähnlich stark verbunden war und prägte: Eli Lotar. Während dieser auch in anderen Magazinen seine Fotos veröffentlichte, scheint sich Boiffard ganz auf seine Arbeit für Documents konzentriert zu haben, bis er 1935 wieder sein Medizinstudium aufnahm (siehe Walker 2006: 174-181).

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Was hat es nun mit dem großen Zeh auf sich? Bataille eröffnet seinen Beitrag damit, dass er aus einer anthropologischen Perspektive den großen Zeh als den »menschlichste[n] Teil des menschlichen Körpers« (Bataille 1994c: 500) bestimmt, und zwar in expliziter Abgrenzung zu anderen Hominidae. Während Affen in erster Linie Baumbewohner seien, bewege sich der Mensch bevorzugt am Boden fort, »anstatt sich durchs Astwerk zu hangeln, da er selbst zum Baum geworden ist, das heißt, sich wie ein Baum in die Höhe reckt, – nur schöner als dieser, da das menschliche Sichaufrichten mustergültig gelingt« (ebd.). Mit reichlich Sinn für Sarkasmus knüpfen Batailles Überlegungen an einen klassischen Topos der abendländischen Philosophie an, aber nicht ohne diesen an entscheidenden Stellen zu untergraben. Was als Leib-Seele-Problem Eingang in Bücher zur Geschichte der Philosophie gefunden und wiederholt Anlass geboten hat zu erregten Debatten in den Bereichen Metaphysik, Ontologie und Erkenntnistheorie, wird von Bataille als Spannung ausgelegt, die sich durch den gesamten menschlichen Körper zieht, im Kopf und im Fuß jedoch eine entschiedene Polarisierung erfährt. Sofern Dichotomien niemals nur ein Gleichgewicht von Äquivalenten zum Ausdruck bringen, sondern hierarchische Verhältnisse markieren, steht auch für Bataille fest, dass der Mensch die »Füße im Schmutz und den Kopf fast im Licht, […] nicht davon ab[lässt], sich einzubilden, eine Flut trüge ihn unwiederbringlich empor in den reinen Raum. Zum menschlichen Leben gehört ja auch die Wut darüber, realisieren zu müssen, daß es sich um eine stete Auf-und-Ab-Bewegung von der Scheiße zum Ideal und vom Ideal zur Scheiße handelt, eine Wut, die man leicht an einem so niedrigen Organ wie dem Fuß auslassen kann.« (Ebd.)

Batailles »Re-Lektüre« des Leib-Seele-Dualismus unter dem Vorzeichen einer organischen Anspannung läuft keineswegs auf seine Internalisierung, d.h. auf seine Verkörperung und monistische Aufhebung hinaus. Viel eher handelt es sich um den Versuch einer neuen, heterokliten Erdung: Der Fuß, und im Speziellen der große Zeh, ist nicht »monströs«, wie uns der Kopf gerne glauben lassen würde, oder etwas, worauf man spuckend sich hinunterbeugen kann und was gefoltert werden darf, einer höheren Vorstellung zuliebe. Für Bataille ist der große Zeh zuallererst eine basale Wahrheit menschlichen Lebens, ein Organ, ohne das wir gar nicht aufrecht stehen und ein Gefühl für Balance entwickeln könnten. Aber selbst wenn die Beziehung von Fuß und Kopf eine von heftigen Spannungen umwitterte ist, wäre es nach Bataille vermessen, Fuß und Kopf als dichotome Bedingungen des Menschseins verstehen zu wollen.14 Denn die

14 | Wohl eher kann die zwischen ihnen bestehende Spannung, wie von Olivier Chow geleistet, als fragile »inter-repulsion« (Chow 2006) bezeichnet werden.

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A NDREAS O BERPRANTACHER »Hühneraugen an den Füßen unterscheiden sich von Kopf- oder Zahnschmerzen durch ihre Niedrigkeit, und sind nur aufgrund jener Schande sichtbar, die sich durch den Dreck erklären läßt, in dem die Füße stecken. So wie sich die menschliche Spezies durch ihre Körperhaltung so weit wie möglich vom Dreck der Erde entfernt, aber andererseits ein krampfartiges Lachen ihre Freude auf die Spitze treibt, wann immer ihre reine Begeisterung damit endet, daß die eigene Arroganz im Dreck landet, so wird man auch gewahr, daß der stets mehr oder weniger anrüchige und erniedriegende Zeh psychologisch eine Analogie zum brutalen Fall des Menschen darstellt, also letzten Endes zum Tod. Das gleichzeitig abscheulich leichenartige und marktschreierisch stolze Aussehen des großen Zehs entspricht dieser Verhöhnung und bringt die Unordnung des menschlichen Körpers, dieses Ergebnisses eines gewaltsamen Konflikts der Organe, aufs schärfste zum Ausdruck.« (Ebd.: 502)

Indem er dem unwürdigen Leben bzw. der »obskure[n] Niedrigkeit« (ebd.) eine Bedeutung abgewinnt, die sich nicht vom Begriff des Vornehmen oder Idealen herleiten lässt, gibt Batailles Artikel eine Haltung zu erkennen, die von Surya zur Charakterisierung des gesamten Magazins wie folgt umschrieben wird: »The tone is set. Documents would be the abscess burst each month from surrealism: what the latter had not dared be […].« (Surya 2010: 21) In diesem Sinne also ist Der große Zeh weit mehr als eine lyrische Würdigung eines extremen Objekts der Wollust. Es handelt sich um einen, wie bereits erwähnt, programmatischen Text, der konsequent und in dem Maße eine antipositivistische und antiidealistische Position definiert, wie er dazu einlädt, akribisch genau Orte zu frequentieren und Praktiken zu illustrieren, die zu verstörend sind, um von den sich bereits am internationalen Kunstmarkt orientierenden Surrealisten aufgesucht zu werden. Zusätzlich verstärkt wird dieser Eindruck durch die Fotos, die vom französisch-rumänischen Fotografen Eli Lotar aufgenommen und in der vorausgehenden sechsten Nummer von Documents abgedruckt wurden – Fotos, die in vielerlei Hinsicht bestürzender sein dürften als jene Boiffards. In einer weit beachteten Serie, welche auf Batailles Eintrag »Schlachthof« im Kritischen Wörterbuch antwortet, laut dem »der Schlachthof unserer Tage verfemt und wie ein Schiff, das von Cholera betroffen ist, unter Quarantäne gestellt« (Bataille 2005c: 33) wird, zeigt Lotar Ausschnitte des Abattoir La Villette: an einer Hausmauer geordnet aneinandergereihte Vorder- und Hinterbeine von Schweinen; nach Ausweidungen blutverschmierte Böden; Metzger beim Zerlegen von Kuhkadavern. Ohne an dieser Stelle in weitere Details zu gehen, dürfte anhand der wenigen Beispiele bereits deutlich geworden sein, dass sich Tod, Qual, Misshandlung und Opfer thematisch keineswegs auf den äußeren Umlaufbahnen des Magazins bewegen. Wohl eher ist es so, dass sie sich zu jener dunklen Materie verdichten, um die ein Großteil der scheinbar losgelösten und disparaten Bilder und Texte rotieren, ohne jedoch einen eindeutigen oder sicheren Kern an Wissensbeständen auszubilden. Und

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Abb. 4: Lotar, Eli. »Aux abattoirs de La Villette.« Documents. Archéologie, Beaux-Arts, Ethnographie, Variétes 6 (1929): 328 wenngleich es auf den ersten Blick so scheinen mag, als hätte Bataille gemeinsam mit den anderen, am Projekt Documents beteiligten Personen repräsentative archäologische, kunsthistorische oder ethnographische Artefakte durch Übelkeit erregende Objekte ersetzen wollen, hat der Sinn ihrer gemeinsamen »Verrichtungen« primär nicht darin bestanden, für einen Schockeffekt zu sorgen oder alte Idole zu stürzen, um anschließend neue aufzurichten. Batailles Beharren auf dem Rohen und Viszeralen erschließt sich insbesondere dann, wenn sein streng gefasster Vorsatz berücksichtigt wird, mit all jenen Verständnissen und Praktiken des Materialismus zu brechen, die sich nur vordergründig von der idealistischen Umklammerung gelöst haben. Gerade der Surrealismus bot für Bataille wiederholt Anlass zu vehementen Wutausbrüchen, weil dieser seinen Analysen zufolge ein Musterbeispiel dafür war, wie selbst eine avantgardistische Praxis im Dienste einer idealistischen Sublimierung von Erlebtem stehen konnte.15 In seinem Eintrag »Materialismus«, der in der dritten Nummer von Documents im Kritischen Wörterbuch veröffentlich wurde, trägt Bataille seine Vorwürfe, die implizit auch gegen die Surrealisten gerichtet sind, wie folgt vor:

15 | Zur vielschichtigen und wandelbaren Beziehung Batailles zum Surrealismus siehe insbesondere Richardson (1994a) und Surya (2010: 116-142, 407-414).

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A NDREAS O BERPRANTACHER »Obwohl sie jede geistige Größe beseitigen wollten, ist die Mehrzahl der Materialisten dahin gekommen, eine Ordnung von Dingen zu beschreiben, die aufgrund hierarchischer Beziehungen als spezifisch idealistisch zu kennzeichnen ist. Sie haben die tote Materie am Gipfel einer konventionellen Hierarchie von Tatsachen verschiedener Ordnungen platziert, ohne sich darüber im Klaren zu sein, daß sie damit dem Zwang zu einer idealen Form der Materie nachgaben, die sich, mehr als jede andere, dem annäherte, was die Materie sein sollte. […] Es ist an der Zeit, daß, wenn man das Wort Materialismus benutzt, damit die direkte, jeden Idealismus ausschließende Interpretation roher Erscheinungen bezeichnet wird, und nicht ein System, das auf den fragmentarischen Elementen einer ideologischen Analyse gegründet ist, die im Zeichen religiöser Verhältnisse erarbeitet wurde.« (Bataille 2005b: 12f.)

F E TISCHISTISCHER M ATERIALISMUS In dem kurzen, nur 15 Ausgaben währenden Zwischenspiel, das Documents gegönnt war, blitzt der Name Marx kein einziges Mal auf. Und dennoch lassen selbst die äußersten Winkel des avantgardistischen Magazins in aller Deutlichkeit erkennen, dass von der Debatte um das »Geheimnisvolle der Warenform« (Marx 1962: 86) und von der Analyse des Verhältnisses von Gebrauchswert und Tauschwert, die von Marx dem Kapital vorangestellt wurde, eine solch ungeheure Faszination ausging, dass sich kaum ein Beitrag in Documents finden wird, der sich ihrer zu entziehen wüsste. Gerade die unwahrscheinliche Allianz von heterodoxen Surrealisten und ethnographisch oder archäologisch geschulten Wissenschaftlern, die in der damaligen Medienlandschaft einzigartig war, wird erst dann verständlich, wenn berücksichtigt wird, inwiefern Fragen des Gebrauchs und eine umfassende Kritik des Tauschwerts bestimmend waren für das Verständnis und die Gestaltung der gemeinsamen Arbeit. Analog zu Marx’ Bestimmung und Kritik des Tauschwerts, dass dieser an die Vorstellung eines aufgeschobenen Genusses sowie an die Möglichkeit eines örtlich oder zeitlich verzögerten Gebrauchs geknüpft sei und in dem Maße auf einer Entwertung von Dingen beruhe, wie in einem System monetärer Äquivalenzen alles gehandelt werden könne, war insbesondere den Ethnographen um Georges Henri Rivière und Michel Leiris daran gelegen, eine neue museale Praxis vorzuschlagen und eine wissenschaftskritische Haltung einzunehmen, die die (ästhetische) Nivellierung von Artefakten nicht länger unkritisch in Kauf nehmen wollte. Denn gerade für die ethnographische Arbeit in Museen war bezeichnend, dass Dinge zunächst von ihrem sakralen oder profanen Gebrauch gelöst werden mussten, bevor sie den aufmerksamen, aber nicht weniger aus der Distanz genießenden Blicken des bürgerlichen Subjekts als Objekte der Kontemplation oder des Voyeurismus in einem sterilen Raum angeboten werden konnten. Was die Fabriken des 19. Jahrhunderts für die arbeitende Klasse waren, ist das Museum für die ausgestellten Objekte – ein Ort der

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Verfremdung und Entfremdung. Vor dem Hintergrund dieser problematischen Transformationsprozesse, ohne welche die Geschichte der Museen kaum denkbar wäre, wurde in Documents exemplarisch der Versuch unternommen, die performative Dimension materieller Kulturen kritisch ins Bewusstsein zu heben, ohne jedoch die Möglichkeit einer öffentlichen Schau und Auseinandersetzung ausschlagen zu wollen. Wie Denis Hollier in seinem, die französische Neuausgabe der Documents einleitenden, Beitrag Der Gebrauchswert des Unmöglichen. Schönheit wird unwiederbringlich oder gar nicht sein formuliert, wird auf diese Weise die »Utopie eines Raumes [erzeugt], wo man, wie die Amerikaner sagen, ›have one’s cake and eat it, too‹. Es sind nicht die Sonntagsschuhe, sondern die Wochentagsschuhe, aber am Tag der Ruhe. Die Arbeitskleider am Tag der Ruhe.« (Hollier 1994: 78)16 Hollier ist jedenfalls zuzustimmen, wenn er behauptet, dass der radikalste Einspruch gegen den Tauschwert und die bürgerliche Kultur − die sich darauf beruft − nicht von einem der Ethnographen erhoben wurde, sondern von Bataille selbst. Im Unterschied zum Willen der Ethnographen, aber auch der Archäologen, sich aus der formalisierenden Umklammerung der Schönen Künste und der herrschenden Ausstellungspraxis zu befreien, um sich auf Fragen des Brauchs und Gebrauchs von Dingen mit all ihren Ambivalenzen und hässlichen Seiten konzentrieren zu können, galt Batailles Aufmerksamkeit nämlich schon sehr früh der Erwägung, inwiefern es ein »Gebrauchen von …« geben könne, das keiner Ordnung der Nützlichkeit und somit auch keiner Verwertungslogik entspricht. Wenn er in seinem Beitrag L’esprit moderne et le jeu des transpositions, der in der siebten Nummer von Documents erschienen ist, wettet, »daß kein Kunstliebhaber ein Bild so lieben kann, wie ein Fetischist einen Schuh lieben kann« (zitiert nach Hollier 1994: 80), so wird diese Wette nicht allein gegen den – letzten Endes überwiegend formalen – Ästhetizismus der am Kunstmarkt reüssierenden Surrealisten abgeschlossen, sondern potentiell auch gegen die befreundeten Ethnographen, die Batailles Auffassung zufolge ihr Verständnis von Gebrauch zu stark auf Erwägungen der Nützlichkeit stützten und unbemerkt ein ästhetisches Paradigma mit einem funktionalistischen zu ersetzen versuchten. Während Schaeffner an die Möglichkeit einer »methodischen Klassifizierung« von formlosen 16 | Darüber hinaus macht Hollier (1994: 79f.) auf einen weiteren Punkt aufmerksam, der – ähnlich wie das Verhältnis von Documents und Einstein – einer vertiefenden Untersuchung bedürfte: Viele der Themen, denen sich Bataille so intensiv wie nur möglich widmete, waren auch für Walter Benjamin, der den Zirkeln Batailles zeitweilig sehr nahestand, entscheidende Fragen. Ob es sich um die Kritik der Wertform, um die Analyse des Faschismus oder um die Erfahrung des Schocks handelte, Bataille und Benjamin standen sich in vielerlei Hinsicht nahe, wenngleich ihre Antworten irreduzibel sind. Schließlich war es auch Bataille gewesen, dem Benjamin u.a. Materialien für sein Passagenwerk überantwortete, bevor er 1940 Paris ein letztes Mal verließ.

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und primitiven Objekten glaubte, wagte sich Bataille bis an den äußersten Rand des Denkbaren vor, wo das Formlose keine neue Ordnung begründet und schon gar kein ästhetisches Prinzip benennt, sondern alle bis dahin gültigen Einteilungen ent-setzt, um in Nietzsches Sinne des Wortes Ja zu sagen zu einem »Rest von Ungestehbarem« (Hollier 1994: 80). Dies verdeutlicht auch, warum Bataille wiederholt das Sujet des fetischistischen Schuhliebhabers aufgriff, um es einer nichtpathologisierenden Resignifikation zu unterziehen: In Batailles Analysen gewinnt für einen Fetischisten ein Schuh nämlich gerade dann an Wert, wenn er seinem unmittelbaren Gebrauch, d.h. dem Gehen, entzogen und als dieser Schuh genossen wird.17 Der fetischistische Materialismus Batailles resultiert damit weder aus einer linearen marxistischen Rezeptionstradition noch beruht er auf einem regressiven Primitivismus, demzufolge man – naiv – an die Macht einfacher Dinge glauben dürfte. Laut Hollier ist es vielmehr »der Gebrauchswert eines Schuhs außer Gebrauch«, der Bataille reizt. In diesem Sinne »wird sich [Batailles Fetischismus] von diesem Schuh nie genug lösen können, um mittels des Bildes auf seine Kosten zu kommen: Er will den Schuh, ohne ihn deswegen wieder zum Laufen zu bringen, dem Stillstand im Bild entziehen.« (Ebd.) Der große Zeh, die verfaulte Sonne (vgl. Bataille 1994e), der »Schandfleck der Sexualorgane« (Bataille 1994d: 497), welcher die schönsten Blumen in der Mitte entstellt, sind also mehr als irritierende und erotisch aufgeladene Bilder. Bataille beruft sich auch nicht deshalb auf sie, um eine traditionelle Ordnung des Schönen zu invertieren und an ihrer Stelle das Obszöne und Verfemte zu krönen. Wenn Bataille auf Materie besteht, an ihre »obskure Niedrigkeit« glaubt, dann deshalb, um Alternativen anzubieten angesichts von Verführungsstrategien, die unser Begehren hegemonial regulieren und berechneten Zwecken unterstellen, die katastrophale Konsequenzen nach sich ziehen können. Seinem Experiment einer fetischistischen Revitalisierung des Materialismus folgend, hebt Bataille in Der große Zeh denn auch zwei »Arten der Verführung« (Bataille 1994c: 502) voneinander ab, die dem Menschen offenstehen, »wenngleich man dauernd zwischen der einen und der anderen hin- und herschwankt« (ebd.). Während sich die exaltierte Art der Verführung auf die Eleganz, aber auch auf den Respekt, auf die Leichtigkeit sowie auf die Schönheit eines Objekts des Begehrens beruft, ist das andere Extrem eine Art der Verführung, die ihre Kraft von der Niedrigkeit einer Sache gewinnt, von ihrer Hässlichkeit, Absonderung, Missgestalt und Verschwommenheit. Im Bewusstsein dieser idealtypischen Unter-

17 | Diese Charakterisierung des Fetischismus entspricht im Übrigen jener, die von William Pietz in The Problem of the Fetish wie folgt vorgenommen worden ist: »The fetish is always a meaningful fixation of a singular event; it is above all a ›historical‹ object, the enduring material form and force of an unrepeatable event.« (Pietz 1985: 12)

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scheidung sowie der Interdependenz sämtlicher Verführungsarten erinnert Bataille abschließend daran, dass der Sinn seines Artikels »in dem Beharren darauf [liegt], das, was verführt, direkt und explizit in Frage zu stellen, ohne dabei auf die poetische Werkstatt zurückzugreifen, die letztlich immer nur eine Umgehung ist. […] Eine Rückkehr zur Realität impliziert keinerlei neue Akzeptanz, sondern möchte lediglich anmerken, daß man niederträchtig verführt wird – ohne Transponierung und bis man schreit –, indem man die Augen aufsperrt, sie aufsperrt auch angesichts eines großen Zehs.« (Ebd.)

U MGEHUNGEN Angesichts der abgeklärten Geschäftigkeit und latenten Hoffnungslosigkeit des aktuellen Wissenschaftsbetriebs mag es Verwunderung, aber auch Verunsicherung auslösen, dass sich Bataille Ende der 1920er und Anfang der 1930er Jahre so vehement für einen subversiven Fetischismus materialistischer Färbung ausgesprochen hat – als wollte er von der metaphysikkritischen Wende der modernen Philosophie nichts wissen und als hätte er von der Unmöglichkeit einer Hinwendung zum Ding an sich nicht gewusst. Wie also sollen oder wollen wir uns das Aufsperren der Augen vorstellen, zu dem uns Bataille auffordert? Um auf diese Frage zu antworten, möchte ich zunächst jene Worte Marx’ in Erinnerung rufen, mit denen er dramatisch Das Kapital eröffnet: »Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht, erscheint als eine ›ungeheure Warensammlung‹, die einzelne Ware als seine Elementarform.« (Marx 1962: 49) Die Ungeheuerlichkeit der Warensammlung besteht in Marx’ Analyse darin, dass der kapitalistische Akkumulationsprozess immer auch ein Transformationsprozess ist. In dem Maße, wie in kapitalistisch verfassten Gesellschaften Arbeitskräfte gebunden und am Markt als Ware feilgeboten werden, um partikulare Profitinteressen zu bedienen, findet nicht allein eine systematische Proletarisierung und Entfremdung breiter Bevölkerungsschichten statt, die so gut wie keine Kontrolle mehr über die Produktionsmittel ausüben können. Parallel dazu setzt auch eine Warenzirkulation ungeahnten Ausmaßes ein, die laut Marx von einer »einfachen« unterschieden werden muss: »Die einfache Warenzirkulation – der Verkauf für den Kauf – dient zum Mittel für einen außerhalb der Zirkulation liegenden Endzweck, die Aneignung von Gebrauchswerten, die Befriedigung von Bedürfnissen. Die Zirkulation des Geldes als Kapital ist dagegen Selbstzweck, denn die Verwertung des Werts existiert nur innerhalb dieser stets erneuerten Bewegung. Die Bewegung des Kapitals ist daher maßlos.« (Ebd.: 167)

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Anders gesagt: Das kapitalistische Regime verlangt, dass eine kontinuierliche und reibungsfreie Verwandlung von Gebrauchswerten in Tauschwerte stattfinde, dass Lüste aufge- und verschoben würden, ohne dass es aber je zu einer dezidierten Befriedigung von auch nur elementaren Bedürfnissen kommen würde. In diesem Sinne erscheint der Reichtum tatsächlich als Ware, ihre Wahrheit jedoch ist für viele – bittere – Armut. Wenn sich nun Bataille in seinen Beiträgen für Documents für einen Materialismus begeisterte, der sich fetischistisch nennt und Obszönes und Verfemtes bejaht, so bricht er damit sowohl mit jenen Ästhetiken, die sublimierend wirken wollten und den Wert von Dingen am Kunstmarkt zu berechnen versuchten, als auch mit einer, wenngleich subtilen, Verwertung des Gebrauchens. Wie Hollier hervorhebt, findet sich Bataille mit dieser eigentümlichen Kritik am Gebrauchswert in deutlicher Nähe zum französischen Essayisten und Historiker Emmanuel Berl, der für seinen kompromisslosen Pazifismus sowie für seine Sympathien für heterodoxe sozialistische Positionen bekannt geworden ist und in seinem 1930 erschienen Pamphlet Mort de la morale bourgeoise jene Materialismen verurteilte, die »der Materie einen ontologischen Wert zu verleihen« (zitiert nach Hollier 1994: 85) versuchten, während es doch darauf ankommen würde, die einfachsten und niedrigsten Gründe zu erkennen, die etwas in Erscheinung bringen. So sei der Materialismus »so etwas wie eine Entwertung. Er findet gewissermaßen Geschmack daran, die Dinge zu entwerten.« (Ebd.) Ähnlich wie Berl, mit dem er kurz in Kontakt stand, glaubte auch Bataille an die Notwendigkeit, in aller Radikalität auf die Materialität des Lebens Bezug nehmen zu müssen, angesichts der analytischen und politischen Schwäche, die seiner Meinung nach von der surrealistischen Bewegung, welche sich inzwischen bequem um Breton versammelt hatte, ausging. Eine Schwäche, die Bataille umso bedrohlicher erscheinen musste, je schneller und bereitwilliger die bürgerliche Kultur in die faschistische oder nationalsozialistische Politik einzusinken verstand. Wie Pierre Lamarche in seinem trefflichen Artikel The Use Value of G. A. M. V. Bataille aufzeigt, sollte der selbstgefällige Moralismus, der die surrealistische Bewegung auszeichnete, nämlich eines verbergen – dass es sich bei dem Aufruf zu einem surrealistischen Nonkonformismus um einen lauen Aktionismus handelte, der jenen Gewalten, die sich totalitär zu organisieren wussten, eigentlich nichts entgegenzusetzen hatte: »The impotence of surrealist subversion, the vacuousness of the surrealist’s ›license to shock‹ laid bare by the rise of fascism as bourgeois Europe’s true shock experience, betrays its function in dutifully reproducing the system it farcically rages against.« (Lamarche 2007: 61) So bizarr es erscheinen mag, die Spannungen, die sich in den einzelnen Ausgaben von Documents sowie in Batailles früher Arbeit an einem fetischistischen Materialismus abzeichnen und die Texte wie Le gros orteil inspiriert haben, sind tatsächlich ein Lehrstück in Ästhetik angesichts der Gefahr von katastrophaler Politik. Ob es sich um Batailles, in der siebten Ausgabe von La Critique Sociale im Jahr 1933 veröffentlichten Text

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La notion de dépense (Der Begriff der Verausgabung; Bataille 1985) handelt oder um seinen nur wenige Nummern später erschienenen Beitrag La structure psychologique du Fascisme (Die psychologische Struktur des Faschismus; Bataille 1997), die Spuren, die Der große Zeh als Syntagma einer unmöglichen, aber nicht weniger beschworenen Körperhaltung hinterlassen hat, führen uns bis zu dem »verborgenen Kreuzungspunkt« (Agamben 2002: 16), wo sich einst extreme Mächte kreuzten und Menschen brutal deformiert und getötet wurden. Mit der komfortablen, aber nicht weniger desolaten Einsicht Hinterbliebener ausgestattet, dass keine der kollektiven Operationen, zu denen Bataille während der 1930er Jahre aufgerufen hat und die uns als Contre-Attaque, Acéphale oder als Collège de Sociologie in Erinnerung bleiben werden, die Massaker, die im 20. Jahrhundert an Millionen von Menschen verübt wurden, auch nur annähernd verhindern konnte, dürfte es uns wieder leichtfallen, auf unsere Füße und großen Zehen vorwurfsvoll herabzuschauen, »als handle es sich um Auswurf« (Bataille 1994c: 500). Vielleicht ist aber genau das ein Zeichen unserer gefährlichen Kopflastigkeit.

Q UELLEN UND L ITER ATUR Agamben, Giorgio. Homo Sacer. Die Souveränität der Macht und das nackte Leben. Aus dem Italienischen von Hubert Thüring. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2002. Baker, Simon. »Variety [Civilizing ›Race‹].« Undercover Surrealism: Georges Bataille and Documents. Hg. Dawn Ades, Simon Baker und Fiona Bradley. London: Hayward Gallery, 2006. S. 65-71. Bataille, Georges. »Der Begriff der Verausgabung.« Die Aufhebung der Ökonomie. Aus dem Französischen von Traugott König, Heinz Abosch und Gerd Bergfelth. 2., erweiterte Auflage. München: Matthes & Seitz, 1985. S. 7-31. Bataille, Georges. »Notes on the Publication of ›Un Cadavre‹.« The Absence of Myth: Writings on Surrealism. Übersetzt und mit einer Einleitung von Michael Richardson. London/New York: Verso, 1994a. S. 30-33. Bataille, Georges. »Surrealism and How it Differs from Existentialism.« The Absence of Myth: Writings on Surrealism. Übersetzt und mit einer Einleitung von Michael Richardson. London/New York: Verso, 1994b. S. 57-67. Bataille, Georges. »Der große Zeh.« Elan Vital oder Das Auge des Eros. Kandinsky, Klee, Arp, Miró, Calder. Hg. Hubertus Gaßner. München: Haus der Kunst, 1994c. S. 500ff. Bataille, Georges. »Die Sprache der Blumen.« Elan Vital oder Das Auge des Eros. Kandinsky, Klee, Arp, Miró, Calder. Hg. Hubertus Gaßner. München: Haus der Kunst, 1994d. S. 495-498.

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Bataille, Georges. »Verfaulte Sonne.« Elan Vital oder Das Auge des Eros. Kandinsky, Klee, Arp, Miró, Calder. Hg. Hubertus Gaßner. München: Haus der Kunst, 1994e. S. 509. Bataille, Georges. »Die psychologische Struktur des Faschismus.« Die psychologische Struktur des Faschismus. Die Souveränität. Aus dem Französischen von Rita Bischof, Elisabeth Lenk und Xenia Rajewsky. Hg. Rita Bischof. München: Matthes & Seitz, 1997. S. 7-43. Bataille, Georges. »Formlos.« Kritisches Wörterbuch. Hg. und übersetzt von Rainer Maria Kiesow und Henning Schmidgen. Berlin: Merve Verlag, 2005a. S. 44f. Bataille, Georges. »Materialismus.« Kritisches Wörterbuch. Hg. und übersetzt von Rainer Maria Kiesow und Henning Schmidgen. Berlin: Merve Verlag, 2005b. S. 12f. Bataille, Georges. »Schlachthof.« Kritisches Wörterbuch. Hg. und übersetzt von Rainer Maria Kiesow und Henning Schmidgen. Berlin: Merve Verlag, 2005c. S. 33. Bois, Yve-Alain und Rosalind E. Krauss. Formless: A User’s Guide. New York: Zone Books, 1997. Breton, André. »Vorwort zur Neuausgabe des Zweiten Manifestes (1946).« Die Manifeste des Surrealismus. Deutsch von Ruth Henry. Reinbek: Rowohlt, 112004a. S. 45-48. Breton, André. »Zweites Manifest des Surrealismus (1930).« Die Manifeste des Surrealismus. Deutsch von Ruth Henry. 11. Auflage. Reinbek: Rowohlt, 2004b. S. 49-99. Bürger, Peter. »Das Denken des Herrn. George Bataille zwischen Hegel und dem Surrealismus.« Das Denken des Herrn. George Bataille zwischen Hegel und dem Surrealismus. Essays. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1992. S. 38-62. Chow, Olivier. »Idols/Ordures: Inter-repulsion in Documents big toes.« Drain: A Journal of Contemporary Art and Culture, »Desire issue« 7 (2006). http://www.drainmag.com/contentDESIRE/Essay/Chow. html (besucht am 27.10.2010). Didi-Huberman, Georges. Das Nachleben der Bilder. Kunstgeschichte und Phantomzeit nach Aby Warburg. Übersetzt von Michael Bischoff. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2010a. Didi-Huberman, Georges. Formlose Ähnlichkeit oder die Fröhliche Wissenschaft des Visuellen nach Georges Bataille. Aus dem Französischen von Markus Sedlaczek. München: Wilhelm Fink, 2010b. Fleckner, Uwe. Carl Einstein und sein Jahrhundert. Fragmente einer intellektuellen Biographie. Berlin: Akademie Verlag, 2006. Hollier, Denis. »Der Gebrauchswert des Unmöglichen. Schönheit wird unwiederbringlich oder gar nicht sein.« Elan Vital oder Das Auge des Eros. Kandinsky, Klee, Arp, Miró, Calder. Hg. Hubertus Gaßner. München: Haus der Kunst, 1994. S. 76-89. Joyce, Conor. Carl Einstein in Documents and His Collaboration with Georges Bataille. Philadelphia: Xlibris, 2002.

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Der Marx’sche Fetischbegriff und seine Bedeutung für eine Kritik des Antisemitismus Stephan Grigat

Stefan Petzner, geschäftsführender Landesparteiobmann der FPÖ-Abspaltung Bündnis Zukunft Österreich in Kärnten, machte sich Ende Juli 2010 in einem Gespräch mit der Woche Gedanken über die globale Krise, die auch seine Heimat arg gebeutelt hat: »Wo ist das Geld, das verspekuliert wurde? Wer ist im Hintergrund so mancher großer [sic!] Bank?« Auf die Bitte des Interviewenden, deutlicher zu werden, legte er nach: »Das verspekulierte Geld ist ja nicht weg, es hat nur jemand anderes. Nämlich Banker und Spekulanten an der Wall Street. Wenn man dann noch forscht, woher Goldmans und Lehmans so kommen, wird man auf spannende Ergebnisse stoßen.« Gefragt, ob er ernsthaft auf »jüdische Wurzeln« anspielen wolle, antwortete Petzner ganz in der kryptischen Manier seines politischen Ziehvaters Jörg Haider: »Ich verweise nur drauf, dass Herr Goldman und die Brüder Lehman schon eine Geschichte haben.« (Petzner 2010) Zum einen ist dies die Sprache des postnazistischen Antisemitismus, die gänzlich darauf verzichten kann, das eigentlich Gemeinte, nämlich »Die Juden sind unser Unglück«, auch auszusprechen. Zum anderen liefert das Petzner-Zitat ein aktuelles, keineswegs allein für die äußerste politische Rechte charakteristisches Beispiel für ein wesentliches Element des modernen Antisemitismus: die Personalisierung globaler Krisenerscheinungen und die Markierung der prospektiven jüdischen Opfer, an denen der Krisencharakter der Kapitalverwertung exorziert werden soll. Zur Kritik dieses Antisemitismus ist eine Rückbesinnung auf die Marx’sche Fetischkritik, wie sie in der Kritik der politischen Ökonomie formuliert wurde, zwingend erforderlich. Soll der Antisemitismus nicht als bloßes Vorurteil verharmlost, sondern im Sinne einer Kritik an der »antisemitischen Gesellschaft« (Horkheimer/Adorno 1947: 209) dechiffriert werden, muss der antijüdische Hass in Beziehung zur grundsätzlichen Verfasstheit dieser Gesellschaft gesetzt werden (Markl 2006: 143).

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Im Folgenden soll der Marx’sche Fetischbegriff kurz skizziert und seine Bedeutung für eine Kritik des Antisemitismus dargestellt werden. Anschließend wird auf die Differenzen zwischen Waren-, Geld- und Kapitalfetisch im Marx’schen Sinne auf der einen Seite und dem Antisemitismus auf der anderen Seite eingegangen, um abschließend die Bedeutung dieser Differenzen hinsichtlich einer praktischen Kritik des Fetischismus und des Antisemitismus zumindest anzudeuten. Dabei wird davon ausgegangen, dass die bestehende Gesellschaft als eine von Herrschaft und Ausbeutung geprägte und durch den »Wert« vermittelte – im Sinne der Kritik der politischen Ökonomie – zu begreifen ist, die zugleich das Potential zur allgemeinen Emanzipation beinhaltet, den Schritt zur Freiheit aber zum einen durch die im Staat materialisierte Gewalt, zum anderen durch den Fetischismus mit seinen wahnhaften Implikationen, wie sie exemplarisch im Antisemitismus zum Ausdruck kommen, nahezu unmöglich macht. Im Sinne der Kritischen Theorie gehen die folgenden Überlegungen davon aus, dass Gesellschaftstheorie nur als Gesellschaftskritik zu haben ist, dass die Darstellung gesellschaftlicher Kategorien und Ideologien, dass ihre begriffliche Rekonstruktion immer ihre Verurteilung impliziert. In Abgrenzung zu einem traditionellen Theorieverständnis fühlen sie sich dem Anspruch verpflichtet, ein »einziges entfaltetes Existentialurteil zu sein« (Horkheimer 1937: 244). Das bedeutet, die Beschäftigung mit Fetischismus und Antisemitismus erfolgt keineswegs aus einem rein akademischen, sondern aus einem in der Unzufriedenheit mit den bestehenden Verhältnissen gründenden Interesse an allgemeiner Emanzipation. Soll diese Emanzipation doch noch einmal Wirklichkeit werden, kann es nicht weiterhin ganz im Stil der traditionellen Linken darum gehen, aus der Existenz von Staat und Kapital, von Herrschaft und Ausbeutung ein revolutionäres Bewusstsein zu folgern. Vielmehr gilt es, zum einen über die Schwierigkeiten Rechenschaft abzulegen, die aus der von den Herrschaftsimperativen des Staates und den Verwertungsimperativen des Kapitals dominierten Gesellschaft für die Bedingungen der Emanzipation resultieren. Zum anderen ist es notwendig, zu erklären, wie aus der Unzufriedenheit mit den gesellschaftlichen Verhältnissen und dem Willen zur Veränderung eine mal ressentimenthafte, mal regressive, mal mörderische Partizipation am gesellschaftlichen Unheil im Wege seiner scheinbaren Bekämpfung werden kann. Ersteres verweist auf die Kritik des Fetischismus, in der thematisiert wird, wie die wertverwertende Gesellschaft aus sich selbst heraus Verkehrungen und Mystifikationen produziert, denen die diese Gesellschaft konstituierenden Subjekte unabhängig von ihrer Klassenzugehörigkeit oder sonstiger soziologischer Zuschreibungen unterliegen. Zweiteres verweist im Anschluss an die Fetischkritik auf den Antisemitismus, der hier als konformistische Revolte gegen das Kapital auf seiner eigenen Grundlage und als antiemanzipatorische Ideologie und Praxis schlechthin charakterisiert werden soll.

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In der Marx-Rezeption der traditionellen Ausprägungen des Marxismus, seien sie sozialdemokratisch, marxistisch-leninistisch oder operaistisch orientiert, spielte der Fetischbegriff aus der Kritik der politischen Ökonomie stets nur eine untergeordnete Rolle. Nichtsdestotrotz existierten stets dissidente Strömungen einer sich auf Marx berufenden Gesellschaftskritik, für welche die Rückbesinnung auf die Marx’sche Kritik des Fetischismus zentral war. Zu nennen sind hier neben Georg Lukács, Karl Korsch und Walter Benjamin insbesondere die Kritische Theorie Theodor W. Adornos oder auch die Spektakelkritik des französischen Situationisten Guy Debord. Aus neuerer Zeit sind in diesem Zusammenhang die sogenannte »fundamentale Wertkritik« eines Robert Kurz und vor allem jene Ideologiekritik in der Tradition der Kritischen Theorie zu erwähnen, die beispielsweise von Gerhard Scheit oder Joachim Bruhn formuliert wurde, wobei für letztgenannte der Zusammenhang von Fetischismus im Marx’schen Sinne und Antisemitismus eine konstitutive Bedeutung hat (Grigat 2007).1

W AREN -, G ELD - UND K APITALFE TISCH BEI M AR X Wenn bei Marx von Fetischismus die Rede ist, meint dieser Begriff die unverstandene Verdinglichung sozialer Verhältnisse, die in den Verkehrungen der politischen Ökonomie und ihrer alltagsbewussten Rezeption ihre Grundlage hat, sowie die Realität fetischistischer Praxis. Der Fetisch1 | Aus den letzten Jahren liegen eine Reihe akademischer Neuerscheinungen vor, die im Anschluss an die »Neue Marx-Lektüre«, wie sie seit den 1970er Jahren beispielsweise von Hans-Georg Backhaus und Helmut Reichelt auf den Weg gebracht wurde, der Kritik des Fetischismus im Marx’schen Werk größere Aufmerksamkeit zuteilwerden lassen, als das in traditionellen Interpretationen der Marx’schen Kritik üblich war (Elbe 2008; Wallat 2009). Auch die Verwendung des Marx’schen Fetischbegriffs in der Kultur- und Kunstkritik der Kritischen Theorie hat in letzter Zeit verstärkte Aufmerksamkeit erfahren (Hesse 2006). Gleichzeitig hat sich mit dem Poststrukturalismus eine Theorierichtung ausgebreitet, in deren unterschiedlichen Ausprägungen zwar gerne auf den Fetischbegriff im Kapital und insbesondere auf die Freud’schen Überlegungen zum Fetischismus rekurriert wird, die aber im eindeutigen Gegensatz zur subversiven Intention einer sich auf Marx und die Kritische Theorie stützenden Ideologiekritik stehen. An Jacques Derridas Marx-Rezeption lässt sich beispielsweise zeigen, wie das kritische Potential des Fetischbegriffs in eine Affirmation verkehrt wird, die sich aber stets das Kostüm des Nonkonformismus überstreift (Grigat 2007: 227ff.). Exemplarisch für einen derartigen Umgang mit dem Fetischbegriff ist auch die Arbeit von Hartmut Böhme (2006). Eine Kritik an seiner anthropologisierenden Kulturwissenschaft findet sich bei Ingo Elbe (2007). Eine grundsätzliche Kritik zentraler Annahmen des Poststrukturalismus liefern die Beiträge in Gruber/Lenhard (2011).

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charakter und die Fetischisierung konstituieren bei Marx gemeinsam den Fetischismus – den aus der zugleich realen wie scheinhaften Verkehrung gesellschaftlicher Verhältnisse in quasi naturhafte Dinge resultierenden objektiven wie subjektiven Mystizismus der kapitalisierten und staatlich organisierten Gesellschaft. Den Begriff des Fetischs hat Marx der ethnologischen, philosophischen und religionswissenschaftlichen Fetischismustheorie entnommen. Im Jahre 1842 las und exzerpierte er Benjamin Constants Werk De la religion, Karl August Böttigers Ideen zur Kunst-Mythologie, Christoph Meiners Allgemeine kritische Geschichte der Religionen und Charles de Brosses’ Ueber den Dienst der Fetischgötter. De Brosses, dessen Einfluss auch bei Hegel unverkennbar ist, kann als eigentlicher Stichwortgeber für die Marx’sche Fetischkritik angesehen werden. In den Debatten über das Holzdiebstahlsgesetz, jenem Text, in dem Marx sich 1842 erstmals unmittelbar mit Fragen der Ökonomie auseinandersetzt, verwendet er Formulierungen, die er von de Brosses exzerpiert hat: »Die Wilden von Kuba hielten das Gold für den Fetisch der Spanier. Sie feierten ihm ein Fest und sangen um ihn und warfen es dann ins Meer.« (Marx 1842a: 147) Hier zeigt sich bereits deutlich, wie Marx es schafft, sich von einem diffamierenden Gebrauch des Fetischbegriffs zu lösen. Zwar spricht er von den »Wilden«, zeigt aber mittels des Fetischbegriffs auf, dass jene Gesellschaften, in denen diese Begriffe bereits zu Marx’ Zeiten seit mehreren Jahrhunderten in abwertender Absicht und zur Legitimation des Kolonialismus gebraucht wurden, aufgrund ihrer Verfasstheit kaum für sich in Anspruch nehmen können, über den vermeintlich primitiven Gesellschaften der »Wilden« zu stehen. So ist es zwar durchaus richtig, darauf hinzuweisen, dass der Fetischbegriff eine gefährliche Konnotation aufweist, da er von Kolonialisten, Ethnologen und Missionaren »orchestriert« wurde (Baudrillard 1972: 317), aber gerade die Marx’schen Ausführungen können nicht als Diffamierung des vermeintlich primitiven Fetischkults beispielsweise der kubanischen Ureinwohner verstanden werden. Sie stellen eine frühe Kritik des Privateigentums dar und verweisen auf die später in der Kritik der politischen Ökonomie entwickelte umfassende Kritik der in Europa oder Nordamerika, also in bürgerlichen Gesellschaften existierenden, aus dem Privateigentum zugleich resultierenden und es konstituierenden Fetischformen. Marx bricht mit der Tradition, da er den Fetischbegriff in polemischer und kritischer Absicht dreht und auf die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft bezieht, anstatt ihn, wie beispielsweise Hegel, nur auf außereuropäische Gesellschaften anzuwenden. Der ethnologische und kolonialistische Fetischbegriff ist eine Form der unbewussten Projektion, und ist als solche mit einer »rassistische[n] Hypothek« (Funk/Bettinger 1996: 31) belastet. Bei Marx hingegen wird diese unbewusste Projektion in bewusste Selbstreflexion übertragen (vgl. Scheit 1999: 78). Doch die ersten Verwendungen des Fetischbegriffs in den Frühschriften von Marx haben noch wenig zu tun mit jener Kritik des Fetischismus,

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wie Marx sie später in der Kritik der politischen Ökonomie entwickelt hat. Das Problem an dieser Stelle besteht darin, dass der Begriff des Fetischs im Marx’schen Werk nur sinnvoll darzustellen ist, wenn die Wertformanalyse, wie sie auf den ersten 100 Seiten des ersten Bandes des Kapitals entfaltet wird, detailliert rekonstruiert wird, was in diesem Rahmen aber unmöglich ist (vgl. dazu Grigat 2007: 41-64; Heinrich 1999: 220-251; Heinrich 2004: 37-77). Die Darstellung beschränkt sich daher im Weiteren auf einige allgemeine Ausführungen zum Warenfetisch, um sich anschließend − im Hinblick auf die folgende Kritik des Antisemitismus − auf den Marx’schen Begriff des Kapitalfetischs konzentrieren zu können. Die in der Wertformanalyse entwickelten Eigentümlichkeiten der Äquivalentform bilden die Grundlage für die Kritik des Warenfetischismus. Wesen und Existenzbedingung des Warenfetischismus sind es, von den Individuen nicht als solcher wahrgenommen zu werden.2 Der Wert der Waren scheint den Dingen von Natur aus anzuhaften. Aber ebenso wenig wie ein Stück Holz, das als Fetisch angebetet wird, Regen herbeiführen kann, hat ein Ding von sich aus Wert oder kann von Natur aus den Wert eines anderen Dings ausdrücken. Dafür ist es notwendig, dass die Dinge zu Waren werden und die Menschen den in der Warenform existierenden Dingen natürliche Eigenschaften zuschreiben, die ihnen tatsächlich nur aufgrund der sozialen Gegebenheiten anhaften. Der Wert der Waren ist nichts Reales, insofern er nicht greifbar ist. Er existiert nur wegen eines bestimmten gesellschaftlichen Verhältnisses der Menschen. Seine Existenzform ist es, Ausdruck dieses gesellschaftlichen Verhältnisses von Menschen zu sein. Dennoch erscheint er den Menschen als etwas außerhalb ihrer selbst Existierendes. Der Wert gibt sich den »Schein des Ansichseins« (Bolte 1995: 34) und beherrscht die Menschen, die sich der Logik des Werts unterwerfen, da sie diese für natürlich halten. Das bedeutet, dass die sozialen Verhältnisse in den Waren verdinglicht werden. Der Wert, hier immer verstanden im Sinne der Marx’schen Kritik der politischen Ökonomie, ist ein Fetisch von ähnlich merkwürdiger Realität wie beispielsweise ein Holzfetisch in Afrika. Auch wenn die gesamte Gesellschaft das Holz anbetet, so wird es doch − wie gesagt − niemals die Eigenschaft haben, Regen zu bringen. Als Fetisch scheint es diese Eigenschaft aber tatsächlich zu haben. Wenn der Fetisch gesamtgesellschaftlich wirksam ist, bringt er Realität hervor und wird dadurch selber real. Die Menschen schreiben im Fall eines Holzfetischs jedoch einem bereits existierenden Ding Eigenschaften zu, die es nicht hat. Anders beim Wert. 2 | Hier zeigt sich ein wichtiger Unterschied zum sexuellen Fetischismus. Freud beobachtete, dass die Anhänger eines Fetischismus diesen nicht zwangsläufig als Leid verursachende Krankheit empfinden und meist mit ihrem Fetisch recht zufrieden sind (Freud 1927: 383). Voraussetzung dafür ist aber, dass der Gegenstand, dem die Fähigkeit zu sexueller Stimulans zugeschrieben wird, als Fetisch erkannt wird. Es handelt sich hier um eine Form von bewusstem Fetischismus.

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Der Wert existiert nur in den Vorstellungen der Menschen, die auf ihren alltäglichen Erfahrungen beruhen. Aber gerade dadurch wird er real. Er ist nicht real und doch nicht abstrakt, sondern eine Realabstraktion. Der Wert »kann nur in der Vorstellung existieren, aber in der Vorstellung eines Bewußtseins, das es vorstellt als außerhalb des Bewußtseins existierend – objektiv« (Backhaus/Reichelt 1995: 90f.). Ausgehend von seiner Kritik des Warenfetischismus, die aus der Wertformanalyse entwickelt wird, formuliert Marx eine umfassende Fetischkritik, in der die Begriffe des Geld- und Kapitalfetischs gebildet werden. Die Eigenschaft, den Wert aller anderen Waren ausdrücken zu können, die Funktion, als allgemeines Äquivalent zu dienen, scheint die natürliche Eigenschaft der zum Geld gewordenen Ware zu sein. Da die Werte vergegenständlichte Arbeit repräsentieren und das Geld all diese Werte ausdrücken kann, erscheint es als »unmittelbare Inkarnation aller menschlichen Arbeit. Daher die Magie des Geldes.« (Marx 1867: 107) Insbesondere in Form von Geldscheinen, als Papiergeld, also in der zumindest materiellen Ablösung von einer konkreten Geldware, »hat das Gelddasein der Waren ein nur gesellschaftliches Dasein. Es ist der Glaube, der selig macht. Der Glaube in den Geldwert als immanenten Geist der Waren […].« (Marx 1894: 606) Die Verrätselung der hinter der verdinglichten Welt der Waren liegenden sozialen Beziehungen der Menschen ist mit dem Erscheinen des Geldfetischs bereits fortgeschritten. Sein Ursprung – und daher auch der Ort, an dem er entzaubert werden muss – ist das Rätsel des Warenfetischs. Seine endgültig mystifizierte Form erhält das Geld, wenn es sich in Kapital verwandelt. Zunächst einmal hat Geld die Funktion, als Maß der Werte und als Zirkulationsmittel zu dienen. Als Zirkulationsmittel sorgt es für den Austausch von zwei Waren. Ein Warenbesitzer veräußert eine Ware gegen Geld und kauft mit diesem Geld eine andere Ware. Aber auch wenn diese Zirkulationsform tagtäglich im Kapitalismus vollzogen wird, so ist sie doch nicht die Bewegungsform des Kapitals. Geld wird zu Kapital, wenn es mit der Absicht in den Zirkulationsprozess eingeht, am Ende als mehr Geld wieder hervorzukommen. Der Geldbesitzer wird »als bewußter Träger dieser Bewegung« (Marx 1867: 167) Kapitalist. Kapitalbesitzer sind die »mit eignem Willen, Persönlichkeit begabte Schöpfung der Arbeit im Gegensatz zur Arbeit« (Marx 1862/63: 290). Das Kapital erscheint im Kapitalisten als eigenständige produktive Kraft. Die Personifikationen des Kapitals kaufen mit ihrem Geld Waren, um sie später für mehr Geld zu verkaufen. Dazwischen liegt die Produktion, in der den Waren durch Verausgabung von Arbeit Wert zugesetzt wird. Geleistet wird diese Arbeit von den vom Kapitalbesitzer für die Produktion gekauften Arbeitskräften. Damit die Personifikationen des Kapitals am Ende mehr Geld herausbekommen, als sie investiert haben, müssen die Arbeitskräfte den Waren mehr Wert zusetzen, als sie selber wert sind. Dieser Mehrwert kann sich im Verkauf der Waren in Geld realisieren. In den Waren ist die verausgabte Arbeit aber nicht mehr unmittelbar

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gegenwärtig. Die Erscheinungsform des Werts der Ware Arbeitskraft, der Arbeitslohn, verschleiert die mehrwertbildende Potenz der Arbeitskraft, sodass man ergänzend zum Waren-, Geld- und Kapitalfetisch von der Existenz eines »Lohnfetischs« (Altvater 1999: 136) sprechen kann. Der Wert als Kapital setzt seine Selbstverwertung in Gang. Als Kapital hat er »die okkulte Qualität erhalten, Wert zu setzen, weil er Wert ist« (Marx 1867: 169). Der Wert erscheint hier in der Form des Kapitalfetischs. Das Kapital scheint sich gegenüber der Gesellschaft zu verselbstständigen. Es entsteht nicht mehr aus ihr heraus, sondern steht ihr gegenüber. Die mystifizierteste Form des Kapitalfetischs ist die Form des zinstragenden Kapitals, worauf bei der Kritik des Antisemitismus zurückzukommen sein wird: »Als zinstragendes Kapital […] erhält das Kapital seine reine Fetischform.« (Marx 1894: 405) Der Wert drängt in den Erscheinungsformen der Oberfläche der kapitalistischen Gesellschaft zu seinem empirischen Dasein. An der Oberfläche der Gesellschaft werden die Verhältnisse der kapitalistischen Produktion in ihrer »fetischartigsten« (Marx 1862/63: 445) Form ausgedrückt. Die Form dieses Ausdrucks sind die Revenuen und ihre Quellen in ihrer unvermittelten Erscheinung. Der Wert der Ware Arbeitskraft hat sich in den Arbeitslohn verwandelt und erscheint als Preis der Arbeit. Der Mehrwert verwandelt sich in Profit. Dadurch entfernt sich der Blick von der Mehrwertrate, bei welcher der Mehrwert auf das eingesetzte variable Kapital bezogen wird und der Zusammenhang zwischen Ausbeutung der Arbeitskraft und Gewinn des ausbeutenden Kapitalisten relativ offen zu Tage liegt, und richtet sich nur mehr auf die Profitrate, bei welcher der Mehrwert auf das gesamte eingesetzte Kapital, also sowohl das variable als auch das konstante, bezogen wird, und die Ausbeutung schwerer zu erkennen ist. Im Verhältnis zum Profit erscheint das Kapital als »Verhältnis zu sich selbst« (Marx 1894: 58). Der Profit ist die Form des Kapitals, »worin es im Bewußtsein seiner Träger […] lebt, sich in ihren Vorstellungen abspiegelt« (Marx 1862/63: 474). Die Kategorie des Profits treibt die Mystifizierung und Fetischisierung weiter voran. »In dieser ganz entfremdeten Form des Profits […] erhält das Kapital mehr und mehr eine sachliche Gestalt, wird aus Verhältnis immer mehr Ding.« (Ebd.) Dennoch kann es nie ein normales Ding neben anderen sein. Denn es wird zu einem Ding, »das das gesellschaftliche Verhältnis im Leib hat, in sich verschluckt hat, mit fiktivem Leben und Selbständigkeit sich zu sich selbst verhaltendes Ding« und damit, wie schon die Ware, »sinnlich-übersinnliches Wesen« (ebd.). Im Zins, im Profit, im Produktionspreis und im Arbeitslohn liegt die Struktur der bürgerlichen Ökonomie verdunkelt da. In der Form der Grundrente erscheint schließlich noch ein Teil des Mehrwerts direkt aus der Natur zu entspringen, wodurch selbst der Boden zu einem sozialen Charakter verklärt wird. Erst in dieser »ökonomischen Trinität« der Verhältnisse von Kapital zu Zins, von Boden zu Grundrente und von Arbeit zu Arbeitslohn, »ist die Mystifikation der kapitalistischen Produktionswei-

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se, die Verdinglichung der gesellschaftlichen Verhältnisse […] vollendet« (Marx 1894: 838). Es kann von einer Kette der Mystifikationen gesprochen werden, die im zinstragenden Kapital ihren Höhepunkt findet. Marx hat auf die Steigerung der Mystifikation vom Warenfetisch über den Geldfetisch bis zum Kapitalfetisch mehrfach hingewiesen. Im dritten Band vom Kapital liefert er eine Zusammenfassung dieser Mystifikationskette. In den Theorien über den Mehrwert schreibt er, dass im Kapitalfetisch die Verkehrungen von Verhältnissen in Sachen, die Verschleierung sozialer Beziehungen »ganz anders herausgearbeitet [ist] als in der einfachen Mystifikation der Ware und der schon komplizierteren des Geldes« (Marx 1862/63: 484f.). Auf dieser Ebene der Mystifikation, deren Grundlage der Fetischcharakter der Waren darstellt, entstehen neue, von Marx nicht explizit thematisierte Formen des Fetischismus, die über den Bereich der Ökonomie hinausgehen und die Gesellschaft in ihrer Totalität als mystifizierten Zusammenhang zeigen. Dieser Mystizismus entzieht sich in einem gewissen Sinne herkömmlicher Theoretisierung. Der Zusammenhang zwischen dem Nichttheoretisierbaren einer, ebenso irrationalen wie unmenschlichen, Gesellschaft und dem Fetischbegriff wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass Marx genau an jenen Stellen auf religiöse Metaphern zurückgreift, bei denen es um jenes an sich selbst Unvernünftige geht, vor dem jeder analytisch-logische Erklärungsversuch kapitulieren muss. Die von Marx gebrauchten Metaphern und Begriffe sind stets in sich widersprüchlich, da sie Dinge bezeichnen, die tatsächlich an sich widersinnig und doch real sind: »Von ›automatischem Subjekt‹, und ›sich selbst verwertendem Wert‹ bis zu ›abstrakter Arbeit‹, ›gespenstischer Gegenständlichkeit‹ und ›Charaktermaske‹: es sind immer verrückte, in sich widersinnige sprachliche Fügungen: etwas, das darin besteht, selbst auszuschließen, was es sein könnte; eine bloße Form, die als Inhalt fungiert; also das real existierende Nichts; ein Unwesen.« (Scheit 2001: 166)

Das Kapital setzt sich als Allmächtiges durch, als Gott, der aber, anders als all seine theologischen Vorgänger, leibhaftig und real ist: »Das Kapital ist der erste und einzige Gott, der sich wirklich vom Opfer ernährt, der nicht anders kann als verschlingen, um das Verschlungene sogleich wieder in neuer Form und vermehrt von sich zu geben.« (Türcke 1994: 112) Die Zauberei und die Magie des Kapitals, auf welche die Kritik des Fetischismus abzielt, bestehen darin, dass es seine eigenen Voraussetzungen unsichtbar macht (vgl. Scheit 2001: 10). Alle Voraussetzungen werden im fortschreitenden Prozess der Subsumtion in Resultate verwandelt (Initiative Sozialistisches Forum 2000: 39). Diese kaum greifbaren Mechanismen versucht die Kritik der politischen Ökonomie durch die Begriffe des Werts und des Fetischs zu fassen. Sie thematisiert damit die unbegriffene Ir-

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rationalität der herrschenden Gesellschaft, welche die Grundlage für den modernen Antisemitismus liefert.

D IE WAHNHAF TE K ONKRE TISIERUNG DES A BSTR AK TEN Die Kritik der Kette von Mystifikationen, wie Marx sie im Kapital und in den Theorien über den Mehrwert entwickelt, ist zentral für die Kritik des modernen Antisemitismus: Die mystifizierteste Form des Kapitalfetischs ist nach Marx die Form des zinstragenden Kapitals. Das produktive Kapital erscheint in der Bewegung G-G', in der aus Geld (G) scheinbar ohne äußeres Zutun einfach mehr Geld (G') wird, nicht mehr. Der Kapitalfetisch kommt damit nach Marx zu seiner vollen Entfaltung: »Im zinstragenden Kapital ist daher dieser automatische Fetisch rein herausgearbeitet, der sich selbst verwertende Wert, Geld heckendes Geld, und trägt es in dieser Form keine Narben seiner Entstehung mehr.« (Marx 1894: 405) Auch wenn der Zins nur ein Anteil am, in der Produktion durch die Aneignung fremder Arbeit produzierten, Mehrwert ist, scheint es doch so, als würde hier Geld aus sich selbst heraus mehr Geld produzieren. Bereits Marx war bewusst, dass das Kapital in »dieser seiner wunderlichsten und zugleich der populärsten Vorstellung nächsten Gestalt« der bevorzugte »Angriffspunkt einer oberflächlichen Kritik« (Marx 1862/63: 458) sein wird – einer Kritik, die in der sozialistischen Bewegung nie mehr verschwinden sollte, maßgeblich zu den Affinitäten linker Kapitalismuskritik zum Antisemitismus beigetragen hat und auch heute im Rahmen der Globalisierungsdebatte erschreckend gegenwärtig ist (vgl. Grigat 2010). Die Begriffsschärfe der entfalteten Kritik der politischen Ökonomie ist notwendig, um das Umschlagen einer Ökonomiekritik in ein verfolgendes Ressentiment zu verunmöglichen oder zumindest entscheidend zu erschweren. Eine Kapitalismuskritik, die keinen Begriff von kapitaler Vergesellschaftung hat, die nichts wissen will von den realen Abstraktionen, welche die Menschen beherrschen und sich hinter dem Rücken und doch durch ihr Handeln durchsetzen, die nichts wissen will von den Gesetzen der kapitalen Warengesellschaft, wie Marx sie in der Wertformanalyse und in seiner Kritik des Fetischismus ins Visier genommen hat, wird über eine ressentimenthafte Suche nach Schuldigen nicht hinauskommen, keinerlei Beitrag zur allgemeinen Emanzipation leisten und statt dessen immer wieder den Antisemitismus bedienen oder selbst zu seinem Protagonisten werden, wie man heute wohl besonders deutlich beim venezolanischen Präsidenten Hugo Chavez studieren kann. Ein zentrales Moment des modernen Antisemitismus ist der Hass auf die abstrakte Seite der kapitalistischen Warenproduktion, die in den Juden biologisiert wird. Am deutlichsten wurde das bei der im Nationalsozialismus vorgenommenen Trennung in deutsches »schaffendes Kapital« und jüdisches »raffendes Kapital«. Die Grundlage dieser Trennung ist aber keine Erfindung der nationalsozialistischen Ideologie, sondern

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die tendenziell allen Subjekten der bürgerlichen Gesellschaft geläufige Unterscheidung in Arbeitsplätze schaffende, verantwortungsbewusste Industriekapitalisten einerseits und das unproduktive Kapital der Zirkulationssphäre andererseits. Ein Paradebeispiel aus der Populärkultur für die Unterscheidung von bösem raffenden und gutem schaffenden Kapital ist der Spielfilm Pretty Woman, in dem der wurzellose Zirkulationskapitalist von der schönen Prostituierten zum bodenständigen Produktionskapitalisten bekehrt wird. Die Unbegriffenheit der globalen Kapitalverwertung und die ressentimenthafte Kritik an ihren Erscheinungsformen in Kombination mit der Tendenz, den Staat als Hüter des Allgemeinwohls gegen die als verwerflich wahrgenommenen Kräfte der Ökonomie in Anschlag zu bringen und diese Ökonomie in eine konkretistisch verklärte produktive und eine moralisch zu attackierende spekulative aufzuspalten, führen mit einer gewissen Notwendigkeit zu einem ressentimenthaften Konkretisierungswahn im Angesicht des Realabstrakten der wertverwertenden Gesellschaft, sprich: zur Ideologie des Antisemitismus. Adorno und Horkheimer sahen in der Fixierung auf die Zirkulationssphäre in unmittelbarer Fortführung der Marx’schen Fetischkritik einen der wesentlichen Gründe für antisemitische Projektionen in wertverwertenden Gesellschaften: Erst in der Sphäre der Zirkulation wird den Produzierenden der Wechsel präsentiert, »den sie dem Fabrikanten unterschrieben haben. […] Die Verantwortlichkeit der Zirkulationssphäre für die Ausbeutung ist gesellschaftlich notwendiger Schein.« (Horkheimer/ Adorno 1947: 198) Der vom Waren-, Geld- und Kapitalfetisch getrübte Blick der bürgerlichen Subjekte tendiert dazu, an der Zirkulationssphäre hängen zu bleiben. Die gesichtslosen und jederzeit auswechselbaren Charaktermasken, die sie dort vorfinden, substituieren die Antisemiten durch die Juden. Dass sich gerade diese als Substitut eignen, liegt nach Adorno und Horkheimer neben historisch-sozioökonomischen Gründen wie dem Abdrängen von Juden in die Sphäre der Zirkulation zum einen an ihrer »künstlich gesteigerten Sichtbarkeit« (ebd.: 194) und zum anderen daran, dass sich die Wut gegen den entlädt, »der auffällt ohne Schutz« (ebd.: 180). Dagegen ist allerdings einzuwenden, dass die zu fast allen Zeiten bestehende relative Rechtlosigkeit von Juden, ihre gesteigerte Sichtbarkeit und auch ihre weitestgehende Beschränkung auf die Zirkulationssphäre bereits Resultate des Antisemitismus waren. Es ist nicht möglich, Antisemitismus durch die reale Erscheinung von Juden zu erklären. Worauf sich der Antisemitismus bezieht, ist das antisemitische Bild von Juden. Stärker noch als bei der traditionellen Judenfeindschaft legitimiert sich im modernen Antisemitismus Verfolgung durch bereits erfolgte Verfolgung. Der Antisemitismus bündelt die Ressentiments gegen die Moderne und richtet sich gleichermaßen gegen Zivilisation und Individualität wie gegen Abstraktheit und Intellektualität. Er hasst Geld und Geist, Liberalität und Selbstreflexion. Ihm gilt nicht nur alles Jüdische als böse, sondern

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auch alles Böse als jüdisch, wodurch er sich tendenziell von Juden als konkreten Opfern ablöst, ohne je von seiner geradezu manischen Fixierung auf alles Jüdische loszukommen: »Dass sich das antisemitische Ressentiment keineswegs nur auf Jüdinnen und Juden beschränkt, sondern – wie Sartre betont hat – in der antisemitischen Phantasie prinzipiell jede/r die Funktion eines Juden einnehmen kann, ändert allerdings nichts an der historischen Tatsache, dass sich der Antisemitismus immer und mit barbarischer Brutalität gegen Jüdinnen und Juden gerichtet hat und richtet.« (Salzborn 2010: 319)

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, inwieweit ähnlich strukturierte Ressentiments mit dem Antisemitismus vergleichbar sind. Der Massenmord an den Armeniern beispielsweise wurde durch Propaganda gegen nichttürkische »Ausbeuter« und »Blutsauger« vorbereitet. Die antichinesischen Ressentiments in Indonesien, die sowohl in den 1960er als auch in den 1990er Jahren zu Pogromen geführt haben, weisen zahlreiche Übereinstimmungen mit den Elementen der antisemitischen Ideologie auf. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts agitierten Antisemiten in Mexiko nicht nur gegen Juden, sondern auch gegen Chinesen als Repräsentanten der Zirkulationssphäre. Doch trotz der strukturellen Ähnlichkeiten bleibt darauf hinzuweisen, dass diese Übergriffe eher Gemeinsamkeiten mit den mittelalterlichen Formen des Antisemitismus aufweisen. Ein zentrales Element des modernen Antisemitismus, die wahnhafte Vorstellung von der weltbeherrschenden Macht der Juden, findet sich bei diesen strukturell verwandten Ressentiments nicht. Moishe Postone hat ausgeführt, wie mit der Entwicklung und zunehmenden Mystifizierung des Warenfetischs zum Kapitalfetisch die bereits dem Warenfetisch innewohnende Naturalisierung zunehmend biologisiert wird. Und er hat gezeigt, wie die Abstraktheit versucht wird, dies bei den Juden festzuhalten und dingfest zu machen. Aus solcherart wahnhafter Projektion resultiert eine Form von fetischistischem Antikapitalismus, der letztlich bei der Biologisierung des Kapitalismus im internationalen Judentum landet (vgl. Postone 2005: 177ff.). Darin unterscheidet sich der Antisemitismus grundlegend von anderen Formen des Rassismus. Es ist allein der Antisemitismus, der als allumfassende Welterklärung auftritt und eine existentielle Feinderklärung vornimmt, die ohne Rücksicht auf alle individuellen und sozialen Eigenschaften vorgeht und alle von ihm Betroffenen auf bloße Opfer, auf zu vernichtendes Material reduziert. Er speist sich aus dumpfen Ressentiments und exekutiert die barbarischen Züge, welche die Zivilisation in ihrem Verlauf aus sich selbst heraus produziert. Er ist die denkbar barbarischste Reaktionsweise auf den Zwang zu Kapitalproduktivität und Staatsloyalität, zugleich die weitestgehende Einverständniserklärung mit diesem Zwang, und, in dieser Gleichzeitigkeit von Rebellion und Affirmation, das Paradebeispiel für eine konformistische Revolte. Rassismus und Antisemitismus stehen in einem

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jeweils unterschiedlichen Verhältnis zur Wertverwertung und dem ihr eigenen Fetischismus. Im fetischistischen Bewusstsein der bürgerlichen Warensubjekte nehmen sie unterschiedliche Plätze ein. Das bürgerliche Subjekt ist nicht in der Lage, Identität aus sich selbst zu erlangen. Es erlangt sie nur in einem »Prozeß einer ständigen Abgrenzung und eines permanenten Zweifrontenkrieges gegen das ›unwerte‹ und gegen das ›überwertige‹ Leben« (Bruhn 1994: 84). Die Abgrenzung gegen die Unterwertigen findet im Rassismus seinen Ausdruck. Gegen die Überwertigen richtet sich der Antisemitismus. Den Opfern des Rassismus wird nicht ihre Überlegenheit, sondern ihre Unterlegenheit vorgeworfen. Nicht gegen ihre Allmacht, sondern gegen ihre Ohnmacht wendet sich der Rassismus. Die Rassifizierten erscheinen dem rassistischen bürgerlichen Subjekt nicht als Verkörperung des Werts, sondern »als die willenlosen Objekte des Marktes, als Verkörperung des Gebrauchswerts – als Natur« (Scheit 1997: 6). Juden hingegen gelten als allmächtig. In ihrer Abstraktheit beherrschen sie für das antisemitische Bewusstsein die ganze Welt. Ihre Identifikation mit der abstrakten Seite der kapitalistischen Warenwirtschaft, mit dem Wert, macht sie zur Personifikation des globalen Prinzips subjektloser Herrschaft. In beiden Fällen, beim Rassismus wie beim Antisemitismus, handelt es sich um fetischistische Reflexionen der kapitalistischen Gesellschaft und um Bedrohungsszenarien, die sich die staatsbürgerlichen Warensubjekte halluzinieren. Im Rassismus wenden sie sich gegen ihre Rückführung auf die erste Natur. Im Antisemitismus hingegen imaginieren sie ihre Vernichtung durch den überlegenen Geist, durch die Allmacht des Abstrakten, der sie durch die Vernichtung der Abstraktheit zuvorzukommen gedenken. Im Rahmen einer Kritik des Fetischismus ist Rassismus als die Biologisierung realer Produktivitätsgefälle zu begreifen, Antisemitismus hingegen als die wahnhafte Personalisierung und Biologisierung der abstrakten Dimensionen des globalen Kapitalismus. Ideologiekritische Ansätze können darüber hinaus, ausgehend von der Marx’schen Kritik der politischen Ökonomie und in Fortführung der Kritischen Theorie zeigen, inwiefern der Antizionismus eine geopolitische Reproduktion des Antisemitismus darstellt (vgl. Initiative Sozialistisches Forum 2002: 17ff.). Der Antisemitismus als ökonomische Seite des Judenhasses konstruiert sich das Bild des Shylock-Juden und spaltet darin jene notwendigerweise zum Kapital gehörenden, aber als bedrohlich, unmoralisch, illegitim, volksfremd, zersetzend und zerstörend empfundenen Elemente des ökonomischen Prozesses ab. In neueren Diskussionen ist darauf verwiesen worden, wie dieses schon für den vormodernen Antisemitismus charakteristische Bild in der antizionistischen Propaganda ergänzt wird durch das Bild des Rambo-Juden, dessen exemplarische Verkörperung der israelische Soldat ist (vgl. Markovits 2004: 218). So wie sich der Antisemitismus im Gegensatz zum Rassismus nicht gegen die tatsächlich oder vermeintlich Unterlegenen richtet, sondern gegen die als überlegen Wahrgenommenen, die als Versinnbildlichung der fetischi-

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sierten Abstraktheit attackiert werden, so richtet sich der Antizionismus ebenso wie der Antiamerikanismus nicht gegen die Loser-Staaten in der internationalen Konkurrenz der Souveräne, sondern gegen jene, denen ihr Erfolg verübelt wird. Schon dadurch kann sich der Antizionismus ganz ähnlich wie der Antiamerikanismus den Schein des Rebellischen und die Aura moralischer Dignität geben, die ihn gerade für Linke interessant macht, auch wenn er damit nur seinen Konformismus und seine Perfidie zu kaschieren versucht.

F E TISCHISIERUNG UND P ERSONALISIERUNG Doch der Antisemitismus ist nicht einfach das Gleiche wie der von Marx kritisierte Fetischismus und Mystizismus. Die sich im Waren-, Geld- und Kapitalfetisch ausdrückende Verdinglichung der sozialen Verhältnisse ist eine automatische, unbewusste, durch die gesellschaftlichen Verhältnisse vorgegebene und in ihnen selbst liegende Fetischisierung. Im Konkretisierungswahn des Antisemitismus gerät die Verblendung jedoch zu einer, die vom je einzelnen Subjekt aktiv vollzogen werden muss: Der Antisemitismus beinhaltet daher immer auch eine persönliche Entscheidung. Dennoch ist gegen Versuche, den Antisemitismus im Zusammenhang mit einer Kritik an der fetischistischen Praxis und dem fetischistischen Bewusstsein in der wertverwertenden und staatlich organisierten Gesellschaft zu untersuchen, der Vorwurf erhoben worden, zu einer Entschuldigung der Subjekte des Antisemitismus beizutragen (Jacob et al. 1998: 18; Küntzel et al. 1998: 16f.). Derartiges ist auch keineswegs ausgeschlossen. Ulrich Enderwitz hat bezüglich der bürgerlichen Subjekte und dem Zwang, sich in der fetischistischen Gesellschaft kapitalproduktiv und staatsloyal zu betätigen, festgehalten, dass die Menschen zu ihrem Handeln »gezwungen [sind], aber das bedeutet nicht unbedingt, daß sie es wider Willen tun« (Enderwitz 1998: 53). Das kann nicht in gleicher Weise für den Antisemitismus gelten, da der Zwang hier ein anderer ist. Enderwitz suggeriert aber, dass der Zwang zum antisemitischen Handeln jenem ebenbürtig wäre, der Menschen in kapitalakkumulierenden und staatlich organisierten Gesellschaften zu ihrem fetischistischen Verhalten führt. Den Subjekten wird jegliche Autonomie abgesprochen. Sie handelten nicht aus freiem Willen, sondern aufgrund von Zwängen, die auf sie einwirken. Deshalb sei es auch keine »individuelle Entscheidung, ob jemand als Antisemit agiert oder nicht«. Diese Auflösung des unauflösbaren Widerspruchs von Freiheit und Determination kulminiert in der Aussage, die Subjekte agierten im Nationalsozialismus als »Marionetten der gesellschaftlichen Zwänge« (Enderwitz/Scheit 2002). Die Marionette wird hier nicht wie in einer treffenden Formulierung der »fundamentalen Wertkritik« als eine verstanden, »die selber die Fäden zieht« (Kurz 1993: 57), sondern als in vollkommener Unfreiheit ferngesteuerte Puppe, die nur entscheiden kann, ob sie das, was sie ohnehin tut

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und tun muss, auch noch subjektiv begrüßt. Die Volksgenossen, die von niemandem gezwungen wurden, sich derart mit dem nationalsozialistischen Staat und seinem Vernichtungsprojekt zu identifizieren, dass sie in ihrer überwiegenden Mehrheit bereit waren, ihm bis in den eigenen Untergang zu folgen, werden so von jeder Verantwortung für ihr Morden freigesprochen.3 Die Kennzeichnung von Antisemiten als Träger von falschem Bewusstsein im Sinne der Kritik der politischen Ökonomie gerät stets dann zu einer Entschuldigung, wenn keine Unterscheidung zwischen dem Waren-, Geld- und Kapitalfetisch einerseits und dem Antisemitismus andererseits getroffen wird. Im Antisemitismus wird die Verdinglichung der gesellschaftlichen Verhältnisse aber personifiziert, wobei es zum Wesen dieser Personifizierung gehört, dass »die Weltverschwörung, die der Antisemit phantasiert, ebenso in der anonymen Masse des Judentums ungreifbar bleiben, wie in der einzelnen Person greifbar werden muss« (Scheit 2002: 23). Blättler und Schmieder zeigen, wie es von der Personifizierung, in der »Monsieur le Capital und Madame la Terre als soziale Charaktere und zugleich unmittelbar als bloße Dinge ihren Spuk treiben« (Marx 1894: 838), nur ein kleiner Schritt zu einer Personalisierung gesellschaftlicher Strukturen ist und inwiefern darin eine »systematische Scharnierstelle von modernem Fetischismus und Antisemitismus« liegt (Blättler/Schmieder 2010: 9). Ausgehend von der Enthistorisierung und Naturalisierung, von den Verkehrungen, der Verdinglichung und den Mystifikationen, wie sie für den Fetischismus im Marx’schen Sinne bestimmend sind, verdeutlichen sie: »Im Unterschied zur Personifikation, bei der eine Person nur der Logik einer Sache gehorcht – wie der Kapitalist als Personifikation des Kapitals –, geht es bei der Personifizierung um eine gegenläufige Bewegung: in ihr wird ein gesellschaftliches Verhältnis wie das Kapital als Person vorgestellt und mit einem Eigenleben ausgestattet. In der Personalisierung schließlich wird dieser kausale Zusammenhang umgedreht; nun soll eine Person bestimmte gesellschaftliche Strukturen verursachen.« (Ebd.)

Bei dem in der Kritik der politischen Ökonomie thematisierten, aus der Wertform zugleich entspringenden und sie konstituierenden Fetischismus kann von einem notwendig falschen Bewusstsein gesprochen werden. Darin unterscheidet sich der Fetischismus, wie er der Warenproduktion und Kapitalakkumulation zu eigen ist, vom Antisemitismus. Zwar ist man angesichts der Geschichte und der Gegenwart verleitet, auch beim 3 | Zur entscheidenden Rolle, welche die Identifikation mit dem Staat für den Antisemitismus spielt, siehe Scheit (2004: 247ff.), der den Staat als das »A priori der antisemitischen Revolte gegen das Kapital, die Bedingung der Möglichkeit, Personifikationen des ›Kapitalismus‹ zu schaffen«, bestimmt.

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Antisemitismus von einem notwendig falschen Bewusstsein zu sprechen, aber es handelt sich dabei zumindest um eine andere Art von Notwendigkeit. Der Fetischismus der bürgerlichen Produktionsweise ist schon insofern notwendig, als er alleine durch das Handeln, unabhängig vom Bewusstsein, praktiziert wird und praktiziert werden muss. Für die Identifikation der Juden mit der Wertdimension, mit der abstrakten Seite der Warenwirtschaft, bedarf es hingegen der Agitation. Auch der Nationalsozialismus musste für den Antisemitismus agitieren. Dieser war alles andere als eine automatische Reaktionsweise, was nochmals auf die individuelle Verantwortung eines jeden Antisemiten verweist und zugleich völlig andere Handlungsmöglichkeiten in der praktischen Bekämpfung von Fetischismus und Antisemitismus eröffnet. Die Kritik des Fetischismus zeigt, wie sehr die Subjekte in der wertverwertenden Gesellschaft von den von ihnen selbst konstituierten gesellschaftlichen Strukturen determiniert sind. Doch jede Festlegung auf diesen Determinismus wäre falsch. Die Kritik der Gesellschaft ist zum ständigen Schwanken zwischen Determinismus und Voluntarismus verurteilt. Die Auflösung dieses Widerspruchs würde weder den gesellschaftlichen Zwängen noch der Freiheit des Individuums, die trotz dieser Zwänge immer bestehen bleibt, gerecht. Die Freiheit jedes einzelnen Menschen, sich jederzeit entscheiden zu können, dagegen zu sein, bleibt gerade in der fetischhaft konstituierten Gesellschaft konstitutiv für die Kritik. Der gewöhnliche Bürger muss permanent Dinge tun, von denen er nichts weiß und damit die Selbstmystifizierung der Gesellschaft exekutieren. Antisemit muss er nicht sein. Der Fetischkonstitution bürgerlicher Vergesellschaftung kann sich niemand entziehen, da sie selbst noch den Fetischkritiker zum fetischistischen Verhalten in der kapitalakkumulierenden Gesellschaft nötigt; aber auf diese fetischistische Vergesellschaftungsform mit der Identifizierung alles Bösen und als bedrohlich Wahrgenommenem mit den Juden oder dem jüdischen Staat zu reagieren und einen mit allen Mitteln zu führenden Kampf gegen das »jüdische Prinzip« auszurufen, bleibt selbst in einer noch so unfreien Welt eine zu verantwortende Entscheidung jedes Einzelnen. Antisemitismus und Fetischismus sind also nicht in eins zu setzen, aber der Zusammenhang von Antisemitismus und Fetischismus der wertverwertenden Vergesellschaftungsform ist durchaus mehr als nur eine Analogisierung oder Parallelisierung. Der Antisemitismus ist wesentlich eine Reaktionsweise auf die nichtbegriffene fetischistische Gesellschaftsstruktur. Insofern ist er nichts einfach Hinzutretendes, sondern sowohl theoretisch als auch historisch mit dem Waren-, Geld- und Kapitalfetisch unmittelbar Zusammenhängendes. Und deshalb wäre, ähnlich wie Ökonomie nur als Einheit von Ökonomie und Staat zu begreifen ist, auch der Fetisch nur als Einheit von Fetisch und wahnhafter Konkretisierung der Abstraktion zu verstehen. Genau in diesem Sinne ist der Antisemitismus eine Basisideologie der bürgerlichen Gesellschaft. Die in der Marx’schen

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Kritik der politischen Ökonomie entwickelte Kritik des Fetischismus und Mystizismus der wertverwertenden Gesellschaft ist von entscheidender Bedeutung für die Kritik dieser Basisideologie. Doch gegen die antisemitische Agitation, die notwendig ist, um das verfolgende Bewusstsein hervorzubringen oder am Leben zu erhalten, ist man keineswegs machtlos. Gegen sie kann anders vorgegangen werden als gegenüber dem Waren-, Geld- und Kapitalfetisch, der durch den bloßen Vollzug der Gesetzmäßigkeiten der kapitalakkumulierenden Produktionsweise permanent für sich selbst agitiert, dem, da es sich keineswegs um ein bloßes Bewusstseinsphänomen handelt, auch die Kritikerinnen und Kritiker des Fetischismus nicht entfliehen können, und der nur durch die Überwindung von Staat und Kapital aus der Welt zu schaffen ist. Der Antisemitismus kann letztlich ebenfalls nur durch die Aufhebung seiner gesellschaftlichen Gründe aus der Welt geschafft werden. Gegen die antisemitische Agitation und Praxis helfen aber auch in der falschen Gesellschaft die Waffen der Kritik und die Kritik der Waffen. Jene Aktionen der israelischen Armee beispielsweise, die unmittelbar auf die Verhinderung antisemitischer Propaganda gerichtet sind – sei es eine des Wortes oder der Tat –, zeigen, dass es effektive Mittel gibt, um sich gegen den Antisemitismus zur Wehr zu setzen. Aus der Welt schaffen kann diese Gegenwehr den Antisemitismus allerdings nicht – weder jenen der djihadistischen Rackets und Regimes, noch jenen von so skurrilen Politikerdarstellern wie dem eingangs zitierten Stefan Petzner.

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Das System Metternich und der Nacktscanner Sicherheit als Fetisch? Karin Schneider

Die Kombination des Namens von Clemens Wenzel Lothar Fürst von Metternich1 und eines Nacktscanners im Titel dieses Beitrags enthält ein Irritationspotential. Was verbindet den Namen des österreichischen Staatskanzlers, der im populären Verständnis synonym für ein konservativ-autoritäres Staatswesen in der Ära des Vormärz steht, mit einem technischen Gerät, das zu Beginn des 21. Jahrhunderts die Sicherheit von Flugpassagieren erhöhen soll? Am 15. Juni 2009 erschien in der renommierten Wochenzeitung Die Zeit eine Würdigung Metternichs anlässlich seines 150. Todestags. Der Artikel trägt die Überschrift Metternichs IM.2 Der Autor, Ralf Zerack, geht darin der Frage nach, Wie Österreichs Staatskanzler Anfang des 19. Jahrhunderts den ersten modernen Überwachungsstaat in Deutschland schuf. Er präsentiert den Staatsmann als Architekten und Drahtzieher eines umfassenden Spitzelsystems, welches das Leben Einzelner gründlich durchleuchtet, sie entmündigt und ihren Alltag in Berichten schriftlich festgehalten habe. Der Metternichs Verständnis von Staatsführung zugrunde liegende Gedanke war jener der Sicherheit3; Sicherheit vor den drohenden sozialen Umwälzungen, welche in Frankreich zur Französischen Revolution und zum Terror geführt hatten (Walter 1972: 119). Der Nacktscanner verdankt seine Daseinsberechtigung auf Flughäfen in den USA und Europa ebenfalls der Angst vor dem Terror. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 auf das World Trade Center und das Pentagon wurden in den Vereinigten Staaten 40 Geräte an 19 Flughäfen aufgestellt. Inzwischen hat sich ihre Zahl auf rund 500 bereits in Betrieb 1 | Geboren 1773 in Koblenz, gestorben 1859 in Wien. 2 | IM steht für Instant Messaging (Sofortige Nachrichtenübermittlung). 3 | Vgl. zum Begriff Sicherheit auch Kampmann (2010: Sp. 1143, 1146-1150) sowie Conze (1984: 831-862).

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befindliche oder georderte Scanner vervielfacht.4 Doch nicht nur in den USA soll diese mit Terahertz-Strahlung operierende sicherheitstechnische Neuerung für ein erhöhtes Sicherheitsgefühl an Flughäfen sorgen. Seit Februar 2010 sind diese Geräte verstärkt auch in Europa im Einsatz. Der Zusammenhang zwischen Metternich und dem Nacktscanner ist nicht geradlinig und unmittelbar, sondern erschließt sich durch die vom Begriff der Sicherheit ausgehende Perspektive. Der Name Metternich steht für ein System, das gemeinhin als reaktionär und illiberal gilt und in der Angst vor revolutionärem Umsturz, Terror wurzelte. Eng verbunden mit diesem System sind die Begriffe Zensur, Spitzelwesen und Postüberwachung sowie die 1819 gefassten Karlsbader Beschlüsse. Kurz zusammengefasst: Das System Metternich steht als Chiffre für das vormärzliche Überwachungssystem im Deutschen Bund, für Spitzelwesen, Postüberwachung und Zensur. Der folgende Beitrag spürt dem Themenkomplex System Metternich, Nacktscanner und Sicherheit auf zwei Ebenen nach. Der Zweck sowohl des Systems Metternich als auch des Nacktscanners war und ist die Evozierung des Gefühls der Sicherheit; eines Zustands, der stets relativ durch die Abwesenheit von Angst gekennzeichnet ist (Sofsky 2005b: 24f., 92; Sofsky 2005a: 30ff., 147). In Hinblick auf das zentrale Thema – Fetisch als heuristische Kategorie – stellt sich folglich die Frage, inwiefern die Anwendung des Fetischbegriffs auf vermittelte Begriffe wie das System Metternich im Gegensatz zu konkreten Objekten wie dem Nacktscanner gerechtfertigt ist. Ausgangspunkt der Überlegungen ist allerdings nicht das Fetischobjekt, sondern eine der Funktionen des Fetischs nach William Pietz: die Regelung sozialer Beziehungen, konkret die Hervorrufung des Gefühls von Sicherheit (Pietz 2005: 16ff.).

1 TERROR Bereits Metternich selbst sprach zu seinen Lebzeiten davon, die Wortkombination System Metternich »hätte den Wert eines Schibboleths erhalten«. Dieser Begriff aus dem Alten Testament diente dem Volk der Gileaditer als Losungswort, um sich gegenseitig zu erkennen und sich von den mit ihnen verfeindeten Ephraimitern abzugrenzen. Auf die gleiche Weise funktionierte nach Metternich das Schlagwort vom System Metternich, das der liberalen Opposition als Losung diente (Metternich Bd. 8 1884: 200, 286, 393, 517; Srbik Bd. 1 1979: 321; Siemann 2010: 8) und das auch der Zeit-Autor Zerack unkritisch übernimmt. Metternich selbst sprach seiner Art, Politik zu betreiben, im Übrigen jegliche Form von System ab. Er sah 4 | Vgl. http://www.zeit.de/wissen/2010-01/nacktscanner-fragen?page=7 (besucht am 18.05.2010). Vgl. auch Gutes Geschäft mit der Angst auf http://www. spiegel.de/wirtschaft/unternehmen/0,1518,671652,00.html (besucht am 18.05.2010).

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sich als Praktiker der Staatslenkung, der den Erfordernissen der Gegenwart Genüge tat.5 Neben der Chiffre des Metternich’schen Systems und dem Nacktscanner muss ein weiterer Begriff in einen Zusammenhang gestellt werden: jener des Terrors (vgl. Walther 1990). Theoretiker des Staatsrechts des 17. Jahrhunderts wie Thomas Hobbes6 sprachen dem Staat das Recht des Terrors zu, da nur durch die Furcht vor der Bestrafung die Durchsetzung von Normen und Gesetzen möglich sei. Diese Differenzierung bezeichnet den grundsätzlichen Unterschied zwischen Terror als Machtausübung von Seiten des Staates, während Terrorismus eine spätere Form der »Nachahmung und Praxis von Terrormethoden« von »unten« definiert, welche von jenen eingesetzt wird, »die glauben, auf keine andere Weise als durch Terrorismus ernst und für voll genommen zu werden« (Hacker 1973: 27). Während der Französischen Revolution wandelte sich die Bedeutung des Begriffs und wurde Synonym für die Schreckensherrschaft der Jakobiner unter Maximilien de Robespierre, die »durch Einschüchterung von Konterrevolutionären, subversiven Elementen und allen anderen Andersdenkenden« (Mader 2001: 6f.; Andress 2005) der Festigung der Macht diente. Im Vormärz bezeichnete Terror, wie bereits ausgeführt, auch den gewaltsamen Umsturz der bestehenden, als legal betrachteten Ordnung: die Revolution. Als Revolutionäre galten die Mitglieder der geheimen Sekten und Verbindungen wie etwa die Carbonari, aber auch der studentischen Burschenschaften und des sogenannten Tugendbundes7, welche – z.T. mit Mitteln der Gewalt – antimonarchistische Ziele verfolgten, bürgerliche Rechte und Freiheiten forderten und die nationale Einigung Italiens respektive Deutschlands anstrebten. Dem Ancien Régime verhaftete Staatsmänner des Vormärz wie Metternich interpretierten diese Ziele freilich als eine Fortsetzung der Französischen Revolution, welche Europa 25 Jahre Krieg und hunderttausende Tote beschert, die legitime Ordnung umgestoßen

5 | Nach seinem erzwungenen Rückzug in das Privatleben meinte er in einem Schreiben an Karl Friedrich von Kübeck vom 31. Dezember 1849: »In der Natur der Systeme liegt die Leichtigkeit ihrer Beseitigung durch andere Systeme; dieselbe Leichtigkeit bietet die Beseitigung der Sachen nicht. Hätte ich ein System vertreten, so würde dasselbe mit mir den Platz […] geräumt haben […]. Mein Abtreten von der Scene spricht sich in den Sachen nicht aus; es beschränkt sich auf den Tatbestand – Eines Mannes, aber nicht eines Bedürfnisses oder einer Not weniger!« (Breycha-Vauthier 1962: 77f.; Hervorhebungen laut Original) 6 | Geboren 1588 in Westport/Wiltshire, gestorben 1679 in Hardwick Hall/ Derbyshire. 7 | Beim Tugendbund handelt es sich um einen 1808 in Königsberg (Preußen) gegründeten »sittlich-moralischen« Verein, der humanitäre und »patriotische« Ziele verfolgte. Bereits 1809 wurde er durch König Friedrich Wilhelm III. verboten (vgl. Voigt 1850; Lehmann 1867).

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und so Anarchie und Chaos Tür und Tor geöffnet hatte (Metternich Bd. 3 1881: 382ff., 391-394). Wenn es das Ziel des Terrorismus ist, »durch ständige Einschüchterung, gezielte Furchterregung, totale Verunsicherung und Androhung von Gewalt und Tod, Kontrolle über das Denken, Fühlen und letztlich Handeln der Mitmenschen zu gewinnen« (Hacker 1973: 28), waren die Bemühungen der Zellen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts insofern von Erfolg geprägt, als sie die Gestaltung der Innenpolitik8 im Deutschen Bund massiv beeinflussten. Im Jahr 1820 jedenfalls meinte Metternich im Hinblick auf Italien: »Der Hauptcharakter der Carbonari, jener Secte, welche Alles allein herbeigeführt hat, ist die Angst.« (Metternich Bd. 3 1881: 343) Im 20. Jahrhundert gewann der Aspekt der Asymmetrischen Kriegsführung im Bereich des Terrorismus verstärkt an Bedeutung. Eine – meist kleine – politische Gruppe, die im Verborgenen agierte und bestimmte Ziele verfolgte, versuchte mit gezielten Angriffen auf bestimmte Personen, die meist dem politischen oder wirtschaftlichen Establishment angehörten, Angst und Schrecken zu verbreiten, um so ihre Anliegen durchzusetzen. Nach dem 11. September 2001 gewann der Terrorismus jedoch eine andere, völlig neue Dimension. Er ist, mit den Worten des Soziologen Wolfgang Sofsky, »summarisch, willkürlich. Wen es trifft, ist völlig zufällig.« (Sofsky 2005b: 78) Es wird ein allgemeines Klima der Ängstlichkeit geschaffen, in welchem Maßnahmen gegen eine allfällige Gefahr bereits im Voraus ergriffen werden. Nur so kann die Illusion der Sicherheit aufrechterhalten werden, wodurch auch der Einsatz der Nacktscanner auf Flughäfen gerechtfertigt wird. Dass das Gefühl der Sicherheit ein weit verbreitetes Bedürfnis ist, bestätigte kürzlich eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts IMAS. In einer Befragung wurde erhoben, dass das Wort Sicherheit in Österreich mit 69 Prozent die höchsten Sympathien genießt, vor den Begriffen Gerechtigkeit und Ordnung.9 Sicherheit und Ordnung waren zweifellos auch Begriffe, welche Metternich hochschätzte. Sie standen dem von ihm gefürchteten Chaos und der Willkür entgegen und sollten den unabwägbaren Folgen nationaler Bewegungen wie der Carbonari in Italien und des Tugendbundes oder der studentischen Burschenschaften in Deutschland einen Damm entgegenstellen (vgl. z.B. Metternich Bd. 2 1921: 38-41). Noch im Vorfeld des Wiener Kongresses wurden Österreich die Lombardei und Venetien und damit die Hegemonie auf der italienischen Halbinsel zugesprochen. Die lokale Bevölkerung stand dem neuen Machthaber anfänglich neutral bis abwartend-freundlich gegenüber. Hauptsächlich 8 | In diesem Zusammenhang sind insbesondere die Karlsbader Beschlüsse zu nennen, deren Umsetzung in den einzelnen Mitgliedsstaaten des Deutschen Bundes allerdings nicht einheitlich war (vgl. Büssem 1974). 9 | Vgl. http://derstandard.at/1271377919013/Umfrage-Die-meisten-Oester reicher-moegen-Sicherheit-die-wenigsten-Islam (besucht am 15.10.2010).

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wurde eine Minderung der Steuerlast erwartet, welche unter dem französischen Satelliten-Königreich Italien exorbitante Höhen erreicht hatte. Als diese Hoffnung sich nur mit langer Verzögerung und nicht im erwarteten Ausmaß erfüllte, gewannen national-lombardische Gruppierungen an Boden; (dilettantische) Verschwörungen gegen die habsburgische Obrigkeit versetzten die Behörden in Alarmbereitschaft (Rath 21951; 1969: 243-315). Eine nationale Bewegung in Italien aber hätte den Zusammenhalt des gesamten Vielvölkerstaats Österreich gefährdet (vgl. Haas 1963). Im Deutschen Bund wurde der innenpolitische Kurs durch die Karlsbader Beschlüsse aus dem Jahr 1819 bestimmt, welche nach der Ermordung des Schriftstellers August von Kotzebue erlassen wurden. Sie stützten sich im Wesentlichen auf zwei Säulen: zum einen auf eine verstärkte Überwachung der Universitäten durch eigens dafür abgestellte Bevollmächtigte sowie das Verbot der Burschenschaften, zum anderen auf eine rigide Zensur von Presseerzeugnissen von unter 20 Bogen im Druck (vgl. Büssem 1974). In Mainz wurde eine Zentral-Untersuchungskommission zur Überwachung der Vorschriften eingerichtet. In der 1820 erlassenen Bundesexekutionsordnung10 wurde darüber hinaus festgelegt, dass gegen jene Länder, welche revolutionäre Bewegungen nicht unterbanden, eine Bundesexekution eingeleitet werden konnte (Angelow 2003: 36-44). Die Karlsbader Beschlüsse wurden im Kaisertum Österreich nicht in Geltung gebracht, da die staatlichen Vorschriften betreffend Überwachung und Zensur in der Habsburgermonarchie ohnehin restriktiver waren (Marx 1959: 15).

2 H ISTORIOGR APHIE Im Zuge der Ereignisse des und der politischen Entwicklung seit dem 11. September 2001 erfährt die Person Metternich in der historischen Forschung eine Neubewertung. Insbesondere die innenpolitischen Maßnahmen erscheinen in aktuellen Publikationen in den Kontext der Terrorbekämpfung gestellt. Die Interpretation des 21. Jahrhunderts ist von der gegenwärtigen Leseweise des Vormärz abhängig, wodurch die beiden zeitlichen Ebenen in einer unmittelbaren Interdependenz zueinander stehen. In den letzten Jahren sind zwei Monographien erschienen, die sich mit der Person Metternichs und seiner Politik intensiv auseinandersetzen. Im Jahr 2008 publizierte der britische Historiker Alan Sked seine Abhandlung Metternich and Austria. An Evaluation. Dabei handelt es sich um eine entlang von Leitfragen systematisierte Hinterfragung bisheriger 10 | Eine provisorische Bundesexekutionsordnung stammte vom 20. September 1819 und wurde durch den definitiven Beschluss des Bundestags vom 3. August 1820 in Geltung gesetzt. Vgl. Exekutions-Ordnung (03.08.1820). document Archiv.de (Hg.). http://www.documentArchiv.de/nzjh/bdexe.html (besucht am 15.10.2010).

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Beurteilungen der Politik Metternichs. Zudem ist seit dem Frühjahr 2010 die sorgfältig recherchierte und sehr differenzierte Biographie von Wolfram Siemann Metternich. Staatsmann zwischen Restauration und Moderne11 im Handel erhältlich, in welcher der Autor insbesondere den in seinem politischen Verständnis vielfach auf dem Alten Reich aufbauenden Europapolitiker Metternich thematisiert. Anhand dieser beiden Beispiele wird die Rückwirkung der Kontingenzerfahrung nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 auf die historische Bewertung der gegen die im damaligen Verständnis Revolutionäre respektive Terroristen gerichteten Innenpolitik Metternichs im Deutschen Bund nachgezeichnet.12 Alan Sked befasst sich bereits seit drei Dezennien mit der Geschichte der Habsburgermonarchie im 19. Jahrhundert und der Person Metternich.13 Metternich and Austria. An Evaluation ist eine (zeitweilig polemisch überzogene) Auseinandersetzung mit vorherrschenden Verdikten über das System Metternich. Kritisch unterzieht Sked die bisher erschienene Metternich-Literatur einer Revision und versucht, vorgeblich selbstverständliche Urteile in Frage zu stellen. Er stellt fest: »[…] Metternich was no democrat or liberal and made no pretence to be one. So historians, most of whom, quite rightly, are democrats and liberals, have condemned him. […] Yet this is fantasy.« (Sked 2008: 2) Sein Fazit der Metternich’schen Ära ist durchgehend positiv: »[T]he main points of this evaluation must simply be that Metternich was the most important and successful diplomat of his time and that while he was in office after 1815 the Habsburg Monarchy experienced three decades of peace, prosperity, stability, cultural renewal and economic transformation.« 14 (Ebd.: 246)

Bereits in der Einleitung nimmt Sked das Ergebnis seiner Untersuchung vorweg: Er charakterisiert das Kaisertum Österreich in der Ära Metternich als ruhenden Pol inmitten europäischer Umwälzungen: 11 | Demnächst wird eine umfangreichere Biographie Metternichs vom selben Autor erscheinen. 12 | Zur Wechselwirkung Terrorismus – Terrorkrieg vgl. Sofsky (2005a: 114ff.). 13 | Vgl. dazu auch seine Monographie The Decline and Fall of the Habsburg Empire 1815-1918 (Sked ²2001). 14 | Skeds Charakterisierung des Kaisertums Österreich im Vormärz bedarf einer Hinterfragung: Zwischen 1820 und 1822 führte die Monarchie antirevolutionäre Interventionen im Königreich Piemont-Sardinien und im Königreich beider Sizilien durch (Schulz 2009: 76-87). Der polnische Aufstand in Krakau 1846 führte zur Annexion der ehemals freien Stadt durch die Habsburgermonarchie (Rumpler ²2005: 159-162). Auch von einer »kulturellen Erneuerung« kann nicht pauschal gesprochen werden, setzte die nicht nur über literarische Werke verhängte Zensur der Freiheit der Kunst zuweilen enge Grenzen (vgl. dazu hier Abschnitt 3; Rumpler 2005: 216-227).

D AS S YSTEM M ETTERNICH UND DER N ACK TSCANNER »For almost the whole of this period [1815-1848] the Habsburg Monarchy was a peaceful and prosperous place, while many other states in Europe were troubled by revolutions, radical republican and reform movements, secret societies, riots and changes of dynasty. Nothing like this happened in Austria.« (Ebd.: 1)

Dieses »goldene Zeitalter« verdankt die Habsburgermonarchie Metternichs entschlossenem Vorgehen. Dessen innen- wie außenpolitische Arbeit sei nämlich hauptsächlich dem »war on terror« (ebd.: 3) gewidmet. »Throughout his period in office […] Metternich’s main concern was to protect Europe from revolutionary violence, which might once again engulf the Continent […].« (Ebd.: 23) Diesem Zweck war das System Metternich, waren die Karlsbader Beschlüsse und die Postüberwachung ebenso geschuldet wie die Ausübung der Zensur oder die Nutzung der durch die Geheimpolizei erworbenen Informationen. Das Metternich’sche System, das der Sicherheit der Bevölkerung und Europas dienen sollte, habe im Endeffekt zur unheilvollen Reputation seines Namensgebers geführt. Darüber hinaus kommt Sked zu dem Schluss, dass Spitzelwesen, Postüberwachung und Zensur bei Weitem nicht so effektiv und weit verbreitet gewesen seien, wie die Chiffre System Metternich nahelegt, und er belegt dies mit einer Reihe von zeitgenössischen Berichten (ebd.: 123-177). In der Metternich-Biographie von Wolfram Siemann erweist sich das Kapitel über die Karlsbader Beschlüsse für unsere Fragestellung als zentral. Darin beschreibt der Autor weniger die Beschlüsse und deren Auswirkungen auf das universitäre Leben und die Presselandschaft, sondern wendet sich vielmehr der Ursachenforschung zu. Die Beschlüsse seien als Resultat der um sich greifenden Attentate und Attentatsversuche, Aufstände und Revolutionen in Europa zu interpretieren; sie seien eine Präventivmaßnahme gegen drohende revolutionäre Umstürze in Europa. Siemann bezeichnet Carl Sand, der mit der Ermordung des Schriftstellers August von Kotzebue Auslöser für den Erlass der Karlsbader Beschlüsse von 1819 war, in Anlehnung an die heute für islamistische Terroristen verwendete Terminologie als »Gotteskrieger«, der durch seine Tat »als nationaler Märtyrer […] ein Zeichen setzen« (Siemann 2010: 64) wollte. Die mediale und – bis in höchste adelige Kreise – private Zustimmung und Verherrlichung, die Sands Tat europaweit erfuhr, bestärkten Metternich in der Vermutung einer konspirativen revolutionären Verschwörung. Siemann selbst bewertet den publizistischen Chor als »kommunikatives Netzwerk« (ebd.: 66). »Zerstreute, locker miteinander kommunizierende revolutionsähnliche Zellen planten unvorhersehbare gezielte Anschläge auf Repräsentanten des verhassten politischen Systems.« (Ebd.: 68) Das Ziel des Netzwerks lag in der Zerstörung der herrschenden staatlichen Ordnung in Europa und stimmt darin mit dem Ziel der heutzutage weit häufiger genannten Terrornetzwerke überein. Julie Zeh und Ilja Trojanow bezeichnen Netzwerke als den »perfekte[n] Staatsfeind« (Zeh, Trojanow 3 2009: 124), denn sie hätten keinen Anfang und kein Ende. Das Netzwerk rechtfertige durch seine Struktur umfassende Überwachungsmaßnah-

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men; und so betrafen die Karlsbader Beschlüsse alle Universitätsangehörigen sowie die gesamte Presse, obwohl nur rund zehn Prozent der insgesamt 10.000 Studenten Mitglied in einer der deutschen Burschenschaften waren (Angelow 2003: 34). Metternich selbst sah in der Verabschiedung der Karlsbader Beschlüsse grundsätzlich einen positiven Schritt, wie er seinem Sekretär Friedrich von Gentz15 anvertraute: »Hier wird wahres Übel auch einiges Gute erzeugen, weil der arme Kotzebue nun einmal als ein Argumentum ad hominem dasteht […]. Meine Sorge geht dahin, der Sache die beste Folge zu geben, die möglichste Partie aus ihr zu ziehen und in dieser Sorge werde ich nicht lau vorgehen.« (Metternich Bd. 3 1881: 227)

Gegenüber jenen deutschen Fürsten, welche sich die Überwachung der Nationalbewegung nicht mit der – aus seiner Sicht – notwendigen Strenge und Konsequenz angelegen sein ließen, hatte Metternich nun ein Argument in der Hand. Denn der Haltung der Obrigkeit räumte er maßgeblichen Einfluss auf die Bildung revolutionärer Bewegungen ein. In Anspielung auf den Tod von Kotzebue und die studentischen Umtriebe schrieb er am 10. Juli 1819 an Kardinal Ercole Consalvi16: »Il y a longtemps qu’un homme d’esprit a dit que ce sond les rois qui font les Jacobins. Ce fait est de nouveau prouvé par tout ce qui se passe en Allemagne.« (Vor langer Zeit hat ein geistreicher Mann gesagt, dass die Könige die Jakobiner machen. Diese Tatsache wird wiederum durch all das bestätigt, was sich in Deutschland abspielt.) (Breycha-Vauthier 1962: 89)

In dem von Siemann betonten Terrorismuskontext ist es darüber hinaus folgerichtig, dass Metternich im Zusammenhang mit dem Krim-Krieg als »einer der ersten europäischen Politiker« präsentiert wird, welcher »Worte zur Bedeutung des ›Islamismus‹« (Siemann 2010: 114) fand. Siemann zeichnet Metternich als hellsichtigen Vorkämpfer gegen den revolutionären Terrorismus politisch verführter, in göttlichem Auftrag handelnder Märtyrer, welcher der innenpolitischen Stabilität und Sicherheit im Deutschen Bund oberste Priorität einräumt. Dabei rechnet der Historiker die hohe Opferzahl der Napoleonischen Kriege gegen die geringere der »staatliche[n], nach innen gerichtete[n] Gewalt« auf und relativiert dadurch die gemeinhin immer wieder beschworene »verbrecherische und repressive Qualität« des Systems Metternich (ebd.: 70).

15 | Geboren 1764 in Breslau, gestorben 1832 in Wien. 16 | Geboren 1757 in Rom, gestorben 1824 in Rom.

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3 D AS S YSTEM M ET TERNICH IM K AISERTUM Ö STERREICH Die Implementierung von Maßnahmen zur Kontrolle und Überwachung politisch unliebsamer Individuen in der Habsburgermonarchie geht nicht auf Metternich selbst zurück, sondern hat ältere Wurzeln, die bis in die Zeit Josephs II. zurückreichen. Drei Säulen stützten den Apparat, durch welchen Ruhe und Sicherheit im Staat gewährleistet werden sollten: 1) die Geheimpolizei; 2) die Zensur; 3) die Postlogen. Durch diese drei Einrichtungen wurden das gesprochene, das handschriftlich festgehaltene und das gedruckte Wort überwacht. Hinweise auf verdächtige Passagen und Schriftstücke wurden an die Polizeihofstelle als zuständige Behörde weitergeleitet; verbotene Druckwerke hingegen eingezogen. Auf diese Art sollten das Eindringen und die Verbreitung gefährlichen, staatszersetzenden und letztlich revolutionären Gedankenguts, aber auch sittenverderbender und der Religion und der Moral widersprechender Vorstellungen verhindert werden.

3.1 Die Geheimpolizei Der frühneuzeitliche Begriff der Policey, welcher ursprünglich die gute Ordnung und die allgemeine Wohlfahrt der gesamten Gesellschaft bezeichnet hatte, erfuhr im 17. Jahrhundert einen grundlegenden Bedeutungswandel. Durch die innerhalb der Reichsterritorien entstehenden zentralstaatlich-absolutistischen Tendenzen wurde auch die Policey einer Reform unterzogen. Der Begriff definierte nun die gesamte innenpolitische Machtausübung und stand stellvertretend für die Staatsgewalt, personifiziert in der Person des Monarchen (Walter 1927: 22-27; Härter 2009: Sp. 170-180).17 Dieser Wandel des Polizeiwesens zeigt sich auch auf administrativer Ebene: In den habsburgischen Erblanden lagen Polizeiangelegenheiten bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts im Zuständigkeitsbereich der Stände. 1754 unterstellte Maria Theresia mit der Berufung eines Polizeikommissärs in und für Wien die Agenden der Polizei der direkten 17 | Der Ökonom Johann Heinrich Gottlob von Justi (geb. 1717 in Brücken, gest. 1771 in Küstrin) etwa definierte Policey wie folgt: »[D]ie Policey beschäftige sich mit nichts als das gesamte Vermögen des Staats durch gute innerliche Verfassung zu erhalten und zu vergrößern und der Republik alle innerliche Macht und Stärke zu verschaffen, deren sie nach ihrer Beschaffenheit nur immer fähig sei.« Der Zweck der Polizei sei daher »die Beförderung der gemeinschaftlichen Glückseeligkeit« (Justi 21759: 8). Die Polizei selbst unterteilt Justi in zwei Kategorien, wobei die Polizei »im engeren Verstande« für die Sicherheit des Staates, »im weiteren Verstande« aber für die Sicherheit der Bevölkerung zu sorgen habe. Joseph von Sonnenfels (geb. 1732/33 in Nikolsburg, Mähren [heute Mikulov, Tschechien], gest. 1817 in Wien), wohl auch Justi rezipierend, definierte die Polizeywissenschaft als »Grundsätze, die innere Sicherheit des Staates zu gründen und handzuhaben« (Sonnenfels 31770: 23).

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landesfürstlichen Kontrolle. Tatsächlich folgte die Einrichtung einer Polizeidirektion wenig später. Unter ihrem Sohn, Kaiser Joseph II., schritt der Ausbau des landesfürstlichen Polizeiwesens – nach Walter »[e]ine wirklich originelle Schöpfung auf dem Gebiet des Behördenwesens« (Walter 1972: 113) – stetig voran, und 1782 ernannte der Herrscher Johann Anton Graf von Pergen18 zum Staatsminister in inneren Geschäften. Die Hauptaufgabe der Geheimpolizei sah dieser darin, die in der Bevölkerung kursierenden Ansichten und Meinungen zu erfahren, damit der Herrscher über die Stimmung seiner Untertanen informiert sei. Ein besonderes Augenmerk wurde dabei auf Personen mit Einfluss auf breite Bevölkerungskreise gelegt: auf den Klerus, das Militär und die Beamten. Dabei wurden verschiedene Überwachungsmethoden praktiziert: Dienstleute wurden als Spitzel geworben, die Post wurde geöffnet19 und das Meldewesen diente der räumlichen Lokalisierung einer Person (Fournier 1913: 1ff.; Walter 1927, 44f.; Walter 1972: 112f.).20 1785 übernahm Pergen die Leitung der Polizei in allen nichtungarischen Ländern, ab 1786 existierten in den Landeshauptstädten eigene Polizeidirektionen, welche regelmäßig ihre Berichte an den Staatsminister schickten. Kaiser Franz II./I. folgte im Ausbau des Polizeiwesens dem Vorbild seines Onkels (vgl. Walter 1972: 133); 1793 wurde eine Polizei-Hofstelle eingerichtet, Pergen hatte nun das Amt eines Obersten Polizeiministers inne. War Joseph II. allerdings an den Ansichten seiner Untertanen interessiert gewesen, galt es nach der Erfahrung der Französischen Revolution die Verbreitung von als umstürzlerisch eingestuften Ideen hintanzuhalten. Besondere Aufmerksamkeit widmete die Geheimpolizei den Geheimgesellschaften. 1794 waren die Umsturzpläne Wiener Jakobiner, die sogenannte Jakobinerverschwörung, bekannt geworden (Silagi 1962; Reinalter 1988: 408-449; Vocelka 2001: 276).21 1803 warnte der inzwischen 80-jährige Pergen in einem Vortrag an den Kaiser vor den europaweiten Umtrieben »geheime[r] philantropische[r] Gesellschaften« (Fournier 1913: 3-7). 18 | Geboren 1725 in Wien, gestorben 1814 ebenfalls in Wien. 19 | Vgl. hier Abschnitt 3.3. 20 | In einem Vortrag vom 2. März 1790, den er Kaiser Leopold II. erstattete, definierte Pergen fünf Aufgabenbereiche für die Geheimpolizei: 1) das Aufspüren verdächtiger Personen; 2) die Beobachtung des Verkehrs der Gesandtschaften untereinander sowie mit Staatsbeamten; 3) die Beobachtung und – wenn möglich – Verhinderung schlechter Stimmungen in der Bevölkerung; 4) die Vorbereitung der Bevölkerung auf kaiserliche Verordnungen; 5) die Verhinderung von Anschlägen auf die kaiserliche Familie (vgl. Walter 1927: 44f.). 21 | Der nach der Aufdeckung der Verschwörung folgende Schauprozess endete mit der Hinrichtung von Franz Hebenstreit von Streitenfeld. Ein Verdächtiger nahm sich im Gefängnis das Leben. Die anderen Angeklagten, wie Andreas von Riedel, wurden zu Festungshaft verurteilt und z.T. wenige Jahre später zu milderen Haftformen begnadigt oder amnestiert.

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Wenige Monate später gab Pergen das Amt auf; ihm folgte Baron Sumerau als Oberster Polizeiminister. Unter seine Ägide fiel die Ausweitung des Spitzelwesens auf Adel und gebildetes Bürgertum, hoffte man doch durch die Anwerbung von Konfidenten aus diesen Kreisen Informationen aus den diplomatischen Zirkeln zu erlangen. Nach der Niederlage gegen Napoleon im Jahr 1805 erschien es notwendiger als jemals zuvor, Zugang zu den Gesandten der anderen europäischen Mächte zu erlangen. In der Organisation der Geheimpolizei schlug sich diese Erkenntnis in der Schaffung einer eigenen Abteilung »für das auswärtige Interesse Seiner Majestät« nieder, welche als eigentliche Staatspolizei galt. Daneben existierte weiterhin die geheime Polizei für die inländische Überwachung. Diese neue Regelung hatte direkten Einfluss auf Ausländer, welche als Diplomaten oder Touristen in die Habsburgermonarchie einreisten. In den Wirtshäusern mit Übernachtungsmöglichkeit wurden ebenso Spitzel gedungen wie in den Häusern der Gesandten. Daneben wurde an dem Aufbau eines Pools von Dienstboten gearbeitet, welche bei Bedarf Ausländern zur Verfügung gestellt wurden, welche jedoch auch als Informationslieferanten fungieren sollten (ebd.: 8f.).22 Einsicht in die amtlichen Berichte der Spitzel und Konfidenten hatten nur der Polizeiminister sowie der Kaiser selbst. Letzterer erhielt regelmäßig eine Zusammenstellung von als zentral beurteilten Berichten, über welche er nach Gutdünken verfügte (ebd.: 26). In welchem Ausmaß Metternich Zugang zu diesen Informationen hatte, ist unklar.23 Für die Zeit des Wiener Kongresses ist jedoch bekannt, dass er über ein eigenes Netzwerk an Informationszuträgern verfügte, zu welchem angeblich Wenzel Prinz Liechtenstein und der jüngere Graf Schulenberg, der Flügeladjutant Karl Philipps zu Schwarzenberg zählten (ebd.: 20, 186f.).

3.2 Die Zensur Die gesetzliche Grundlage für die österreichische Zensur im Vormärz war zum einen die Zensurvorschrift vom 22. Februar 1795 und zum anderen die Zensurvorschrift vom 14. September 1810, welche den früheren Erlass spezifizierte und ergänzte. Beide stammen aus der Zeit der Revolutionskriege bzw. Napoleonischen Kriege und sind vor dem Hintergrund des allgemein befürchteten drohenden Überschwappens revolutionären 22 | Diese Praxis der Geheimpolizei wurde rasch bekannt. Als der britische Außenminister Robert Stewart, Lord Castlereagh (geb. 1769, gest. 1822) zum Wiener Kongress anreiste, lehnte er das gestellte Dienstpersonal ab und warb eigenständig Stubenmädchen an. Dennoch war er vor den Übergriffen der Geheimpolizei nicht gefeit, bestach diese doch die Stubenmädchen (Fournier 1913: 25). 23 | Während des Wiener Kongresses berichteten Spitzel immer wieder von heftiger Kritik an der Politik Metternichs aus Kreisen rund um den ehemaligen Außenminister Johann Philipp Graf Stadion (geb. 1763 in Mainz, gest. 1824 in Baden [Niederösterreich]) (ebd.: 168, 181).

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Gedankenguts auf die Länder der österreichischen Monarchie zu interpretieren. Angesichts dieser Herausforderung erschien die bis zum Ausbruch der Französischen Revolution geübte Praxis, Werke erst nach dem Druck einer behördlichen Examination zu unterziehen, nicht mehr ausreichend; die Einführung der Präventivzensur, wie sie in den Vorschriften beschrieben ist, schien eine adäquate Lösung (ebd.: 3; Marx 1959: 65). Das Ende der Kriege brachte freilich nicht das Ende der Bücherzensur; die Vorschriften blieben während des gesamten Vormärz in Kraft. Bei der Verordnung von 1795 (vgl. Marx 1959: 68-73) handelt es sich nicht um eine neue Regelung, sondern um eine Zusammenfassung bereits bestehender Normen, welche »in Rücksicht auf Zeiten, und Umstände« (ebd.: 12, 68) in ein systematisches Schema gebracht werden sollten. Schon zu Zeiten der Herrschaft Maria Theresias war die Zensur gang und gäbe gewesen, und nur vorübergehend war es unter Joseph II. zu einer Lockerung der Vorschriften gekommen. Bereits während seiner Regierungszeit wurden die Restriktionen wieder verschärft (Wangermann 1991: 1-5). Um einen geordneten Verkauf der Druckwerke zu erreichen, wurde 1795 festgesetzt, dass diese ausschließlich in öffentlichen Lokalen angeboten werden durften. Fahrenden Händlern hingegen war ihr Verschleiß untersagt. Jene, die Zensur im engeren Sinne betreffenden Teile der Verordnung beinhalteten die Androhung von Geldstrafen beim Verkauf von verbotenen Büchern, das Gebot der Vorlage der Manuskripte bei den Revisionsämtern oder die Verpflichtung, Auflage sowie Name und Adresse des Auftraggebers eines Druckwerks in demselben zu vermerken. Grundsätzlich behandelte diese Zensurvorschrift, deren Adressaten die Drucker waren, Verfahrensfragen. Sie legte die administrativen Vorgänge fest, welche im Verlauf der Zulassung eines Druckwerks zu beachten waren (Marx 1959: 12). Die Zensurvorschrift des Jahres 1810 hingegen stellte die Bücher selbst in den Mittelpunkt der normativen Regelung. Waren die Adressaten des Textes von 1795 noch die Drucker gewesen, so waren es 15 Jahre später die Zensoren. Bei der Regierung hatte sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass ein rigides Verbot aller Werke, welche Staat, Sitte und Moral oder Religion gefährdeten, der »Verbreitung nützlicher Kenntnisse«, der »Vervollkommnung der Einsichten, verbunden mit der Veredlung der Gesinnung« (ebd.: 73) hinderlich sein konnte.24 Der Entwurf für die Zensurvorschrift von 1810 stammte vom damaligen Präsidenten der Polizeihofstelle, 24 | Das unsichere Schwanken zwischen der Öffnung zu Bildung und Wissen und der Angst vor der Verbreitung von als gefährlich betrachtetem Gedankengut illustriert folgender pathetischer Absatz der Arenga: »Kein Lichtstrahl, er komme woher er wolle, soll in Hinkunft unbeachtet und unerkannt in der Monarchie bleiben, oder seiner möglichen nützlichen Wirksamkeit entzogen werden; aber mit vorsichtiger Hand sollen auch Herz und Kopf der Unmündigen vor den verderblichen Ausgeburten einer scheußlichen Phantasie, vor dem giftigen Hauche

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Franz von Hager25, wurde jedoch im Verlauf der Begutachtung und Ausarbeitung verschärft (ebd.: 13). An diesem Vorgang war Metternich, seit 1809 Außenminister, maßgeblich beteiligt (ebd.: 27). Überhaupt geht aus den erhaltenen Quellen hervor, dass sich der österreichische Staatskanzler während seiner Amtszeit immer wieder mit Zensurfragen befasste und selbst Entscheidungen über einzelne Werke fällte. Generalisierend ist dabei festzustellen, dass er zum Teil härter als die Polizeihofstelle und weniger liberal als Polizeiminister Josef Graf Sedlnitzky von Choltitz26 urteilte; wenn er sich milde zeigte, waren spezielle Interessen mit dieser Verfügung verknüpft (ebd.: 66). In Paragraph 1 der Zensurvorschrift (vgl. dazu Marx 1959: 73-76) wurde jene grundlegende Unterscheidung getroffen, welche den Tenor des gesamten Gesetzes ausmacht: Auf der einen Seite standen die Werke, welche nur für Gelehrte und Wissenschaftler bestimmt waren, auf der anderen die große Zahl an Unterhaltungsschriften für die breite Masse der Bevölkerung. Jene wissenschaftlichen Werke, welche sich durch die Veröffentlichung von neuen Erkenntnissen auszeichneten, sollten mit der »größten Nachsicht« (§ 4) behandelt werden, während alle anderen Schriften »nach der ganzen Strenge der bestehenden Censurgesetze behandelt werden« (§ 6) mussten. Werke, welche »mit Würde und Bescheidenheit« (§ 8) die Staatsverwaltung kritisierten und Verbesserungsvorschläge unterbreiteten, sollten keiner Beschränkung unterliegen. Insgesamt existierten vier Grade der Zensur (vgl. § 15), welche von den jeweiligen Zensoren an die Werke vergeben wurden. Admittitur erhielten jene Schriften, welche frei verkäuflich waren und öffentlich in Zeitungen angekündigt werden durften. Transeat war jenen Werken vorbehalten, welche zwar öffentlich verkauft, jedoch nicht angekündigt werden durften. Erga schedam conced erhielten Werke, die für den allgemeinen Umlauf als zu gefährlich angesehen wurden. Wissenschaftler und Geschäftsleute, die ein professionelles Interesse am Inhalt dieser Bücher hatten, konnten sie jedoch über einen Revers der Polizeihofstelle beziehen. Werke, welche Damnatur erhielten, untergruben aus der Sicht der Regierung die Fundamente des Staates und der Moral. Ein Dispens konnte bei der Polizeihofstelle erlangt werden; die Listen der Bezieher jener Werke, welche mit Damnatur beurteilt worden waren, wurden dem Kaiser vier Mal pro Jahr vorgelegt. Bei Manuskripten (Handschriften) fand schließlich noch die Formel Toleratur für Schriften Verwendung (§ 17), welche zwar in Katalogen angekündigt und gedruckt werden durften, deren Inserierung in Zeitungen jedoch verboten war. Dadurch sollte verhindert werden, dass sie in die Hände ungeeigneten Publikums gelangten. selbstsüchtiger Verführer, und vor den gefährlichen Hirngespinnsten verschrobener Köpfe gesichert werden.« (Marx 1959: 73) 25 | Geboren 1750 in Wien, gestorben 1816 in Stra bei Venedig. 26 | Geboren 1778 in Tropplowitz, Schlesien (Linhartovy-Opavice, Tschechien), gestorben 1855 in Baden (Niederösterreich).

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Die vagen Zensurbestimmungen der verschiedenen Verordnungen ließen breiten Raum für Auslegungen und Diskussionen. Diesem Manko wurde durch Dekrete abgeholfen, welche anlassbedingt erlassen wurden und von tagespolitischen Fragen abhängig waren (Marx 1959: 14). Zusätzlich zu dieser Unzukömmlichkeit waren die Kompetenzen der einzelnen für die Zensur verantwortlichen Behörden nicht klar voneinander abgegrenzt; insbesondere zwischen den Zentral- und den Landesbehörden sowie zwischen der Polizeihofstelle und der Staatskanzlei kam es häufig zu umständlicher zwischenbehördlicher Korrespondenz und Doppelgleisigkeiten (ebd.: 18-21). Verbunden mit einem steten Personalmangel führten diese administrativen Probleme zu Verzögerungen im Zensurverfahren selbst, was Proteste, aber auch Spott und Hohn hervorrief, welche sich über die Behörden ergossen. Reform- und Strukturbereinigungsmaßnahmen in den 1840er Jahren führten jedoch nicht zu den geforderten respektive erhofften Verbesserungen (ebd.: 20). Für das Publikum bedeutete die Zensur eine Einschränkung der Zugänglichkeit von Lesestoff27, welche sich bei näherer Betrachtung jedoch als sozial gestaffelt erweist. Personen mit höherer Schulbildung, Geschäftsleute und Aristokraten konnten bei Bedarf begründete Vorstellungen bei der Staatskanzlei machen und so Dispense erhalten. Darüber hinaus waren diese Bevölkerungsschichten häufig in Netzwerke eingebunden, welche den Import von verbotenen Werken aus dem Ausland ermöglichten. Wesentlich stärker unter den Zensurvorschriften hatten jene Personen zu leiden, die zwar kein Interesse an politischen Ideen, aber eine Vorliebe für »leichte« Literatur hegten. Schriften, welche die Moral verletzen und religiöse Gefühle beleidigen konnten, durften nicht verlegt werden; Bücher mit sexuellen Anspielungen (oder was dafür gehalten werden konnte), Kriminal- oder Gruselgeschichten sowie Werke, die Aberglaube (Traumbücher, Kabbala etc.) verbreiteten, waren nicht erhältlich (Marx 1959: 62; 1956: 168f., 180).

3.3 Die Postlogen Waren die Spitzel der Geheimpolizei hauptsächlich dazu angeworben, das gesprochene Wort weiterzuleiten, und sollte die Präventivzensur die Verbreitung unerwünschter Druckwerke verhindern, so war es die Aufgabe der Postlogen, den privaten und offiziellen Briefverkehr zu überwachen. In administrativ-organisatorischer Hinsicht unterstanden diese Einrichtungen entweder der Polizeihofstelle oder der Geheimen Ziffernkanzlei, welche wiederum zur kaiserlichen Kabinettskanzlei gehörte. Ähnlich wie bei den für die Zensur zuständigen Stellen sind im Bereich der Postüberwachung unklare Verwaltungsstrukturen festzustellen. Dies hatte jedoch 27 | Auch Presse, Theater, durch Kupferstich verbreitete Bilder etc. waren der Zensur unterworfen, doch kann auf diese Sparten aus Platzmangel nicht weiter eingegangen werden.

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wenig Einfluss auf die Effizienz der Postlogen selbst, welche unter der Ägide Metternichs ein hohes Maß an Vollkommenheit erreicht zu haben scheint.28 Die Listen jener Personen, deren Schriftverkehr überwacht werden sollte, erhielten die Postlogen vom Kaiser, von Metternich oder der Polizeihofstelle. In den Ländern stellten das Gubernium und die Polizeidirektion die jeweiligen Verzeichnisse zusammen. Einsicht in die gesammelten Interzepte hatten dieselben Personen, welche auch den Auftrag zur Überwachung gegeben hatten: der Herrscher, der Staatskanzler und die Polizei. Durch Mängel in der Organisation des Postdienstes selbst wie durch das Fehlen befähigten Personals war jedoch die Möglichkeit einer vollständigen Überprüfung des Posteingangs und -ausgangs insbesondere in den Provinzen genommen (Mayr 1935: 4). Die Personalfrage stellte sich als schwierig dar, mussten doch die Mitarbeiter in den Postlogen nicht nur vertrauenswürdig und verschwiegen, sondern auch mit besonderen manuellen Fähigkeiten ausgestattet sein. Da die Öffnung der Briefe heimlich erfolgen sollte, durften auf den Umschlägen keine Spuren der vorgenommenen Manipulation zurückbleiben. Sowohl das Papier als auch das Siegel mussten unversehrt erscheinen (ebd.: 4-7). Den Absendern und Empfängern der Briefe war die Praxis der Postüberwachung nicht unbekannt, war sie doch nicht nur in der Habsburgermonarchie die Regel (vgl. ebd.: 18ff.). Aus diesem Grund war es beim diplomatischen Schriftverkehr üblich, diesen in einer dem Nichteingeweihten unverständlichen Geheimschrift verschlüsselt abzufassen. Nur wer den richtigen Chiffrenschlüssel besaß oder den Code selbstständig entschlüsselte, konnte den Text transkribieren. Mit diesen Spezialfällen von Interzepten befasste sich in Wien die Geheime Ziffernkanzlei, welche bereits unter Kaiser Karl VI. begründet worden war. Bis 1812 eine selbstständige Behörde, wurde sie dann in das kaiserliche Kabinett eingegliedert; 1848 erfolgte schließlich ihre Auflösung. Metternich scheint der Geheimen Ziffernkanzlei großes Interesse entgegengebracht zu haben und strebte als Staatskanzler – erfolglos – eine Leitungsfunktion über sie an. Dieser Anspruch erschien insofern nicht unbegründet, als das Budget der Geheimen Ziffernkanzlei aus geheimen Geldern der Staatskanzlei stammte (ebd.: 28). Der Staatskanzlei direkt unterstellt war jedoch das Ziffernkabinett, welches die auslaufenden und eingehenden diplomatischen Schreiben ver- und entschlüsselte. Die Schlüssel hierfür erhielt das Ziffernkabinett von der Geheimen Ziffernkanzlei (ebd.: 30f.). 28 | Quellen zur Überwachungstätigkeit der Postlogen sind rar, da dieser Aufgabenbereich inoffiziell und geheim war. Nur drei Mal kam Metternich während seiner langen politischen Laufbahn selbst auf diese Einrichtung zu sprechen. Lediglich ein Bruchteil der Interzepte ist in den Archiven erhalten geblieben (Mayr 1935: 2f.).

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Die Bedeutung von Interzepten als Informationsquelle, die einen Einfluss auf politische Entscheidungen ausübte, ist weit höher zu veranschlagen als jene der Konfidentenberichte. So wurde etwa in Wien die nach Konstantinopel gehende diplomatische Post der westeuropäischen Höfe vollständig gesichtet, um den Inhalt der österreichischen Erlässe daran anzupassen (ebd.: 8). Auch fanden sich in der diplomatischen Post immer wieder Berichte und Eindrücke ausländischer Gesandter über und von Gespräche(-n) mit dem österreichischen Staatskanzler, der auf diesem Weg direkt Informationen über Aufnahme und Resonanzen, welche seine Politik hervorriefen, erhielt. Darüber hinaus fielen Metternich auch sogenannte Kommunikate – Akten, welche fremde Höfe zur Einsicht und Abschrift übersandten – häufig bereits als Interzepte in die Hände. So war nach der offiziellen Überbringung derselben ein Vergleich auf Vollständigkeit des Schriftstücks möglich. Auf die gründliche Durcharbeitung dieser Schriften weisen zahlreiche handschriftliche Notizen von Metternich an deren Rändern hin (ebd.: 22). Die Leistungsfähigkeit der jeweiligen örtlichen Postloge beeinflusste die Wahl jener Orte, in welchen die Nachfolgekongresse zum Wiener Kongress stattfanden. Der Wunsch nach Einsichtnahme in die Korrespondenz der verschiedenen Teilnehmer bestimmte 1819 Karlsbad zum Tagungsort; 1820 erlangte die Postloge in Troppau (Opava) und 1821 jene in Laibach (Ljubljana) große Bedeutung (ebd.: 3, 12). Der Kongress des Jahres 1822 hingegen wurde von Florenz nach Verona verlegt, um eine bessere Überwachung des Umfeldes zu gewährleisten. Die österreichische Polizei schien Metternich zur Beobachtung von Fremden, Neugierigen und ausländischen Agenten besser qualifiziert zu sein als die toskanische, wie er gegenüber Zar Alexander I. erklärte (Schroeder 1962: 206).

4 S ICHERHEIT ALS F E TISCH ? Nach den Überlegungen zur sozialen Funktion des Fetischs, welche sowohl der Nacktscanner als auch das System Metternich erfüllen, sind noch die weiteren Kriterien eines Fetischs nach Pietz zu berücksichtigen: Materialität, Singularität und Historizität sowie Personalität und Individualität (Pietz 2005). Die Spannung zwischen den Begriffen Nacktscanner und System Metternich macht dabei auf den grundlegenden Unterschied in einer – möglichen – Fetischfunktion dieser beiden Schlagwörter aufmerksam. Der Nacktscanner ist ein materielles Objekt, das durch ein besonderes historisches Ereignis, nämlich die Terroranschläge vom 11. September 2001, eine besondere Bedeutung gewinnt. Es verspricht Sicherheit und dessen Wirksamkeit gegen das Böse, den gewaltsamen Tod, wird durch die Naturwissenschaften anscheinend unangreifbar untermauert. Durch seine Aufgabe, die Flugpassagiere zu durchleuchten, strukturiert und hierarchisiert der Nacktscanner zumindest die auf dem Flughafen anwesen-

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den Personen. Es gibt die potentiell Verdächtigen – alle Passagiere –, und die Hüter der Sicherheit, die mithilfe des Geräts ihre Aufgabe effizienter und umfassender erfüllen können als zu Zeiten der Metalldetektoren. Das System Metternich hingegen bezeichnet ein immaterielles Maßnahmenbündel, das gesellschaftliche Ordnung und Stabilität im Deutschen Bund gewährleisten sollte. Die einzelnen dazu verwendeten Mittel konnten zwar durchaus materiellen Charakter aufweisen – etwa ein Siegel oder die verschiedenen schriftlichen Anweisungen – doch zeichnet sich das System Metternich durch die Heterogenität seiner einzelnen Aspekte aus, die erst in der Person des Staatskanzlers als Namensgeber sowie jener des österreichischen Kaisers zusammenlaufen. Über die Wirksamkeit des Maßnahmenbündels besteht Uneinigkeit – es ist jedenfalls unleugbar, dass es im Vormärz im Deutschen Bund, anders als etwa in Paris, St. Petersburg, Spanien oder vielen italienischen Staaten, nicht zu großräumigen Revolutionen und Aufständen kam. Metternich selbst zeigte sich Zeit seines Lebens davon überzeugt, stets richtig und für das allgemeine Wohl gearbeitet zu haben. Wie der Nacktscanner die Menschenmassen eines Flughafens diszipliniert und ordnet, regulierte das System Metternich die Gesellschaft – jedoch nicht im Sinne einer Einzementierung ständischer Strukturen, sondern in Hinblick auf die Verbreitung von Ideen und Überzeugungen. Evoziert der Nacktscanner Sicherheit durch die Sichtbarmachung verborgener Gegenstände am Körper, sucht das System Metternich in die Köpfe der Menschen einzudringen und sie vor – aus der Sicht jener, welche die Deutungshoheit innehaben – gefährlichen Ideen zu schützen. Dabei handelt es sich nicht nur um politische Utopien, sondern auch um moralisch und religiös verwerfliche Inhalte. Schließlich ist noch ein Punkt offen: Wie ist die Neuinterpretation des Systems Metternich nach den Terroranschlägen des Jahres 2001 zu bewerten? Offenbar zog das erhöhte Bewusstsein der eigenen Verletzlichkeit, die durch den Terror hervorgerufene Ängstlichkeit, ein erhöhtes Sicherheitsbedürfnis nach sich. Dieses sensibilisierte die Forschung für den Sicherheits- und Ordnungsaspekt, welcher die Politik Metternichs stets, nicht nur im Zusammenhang mit seiner Innenpolitik, begleitete. Die Parallelisierung der Bedrohungssituation im Vormärz zur angeblich beständigen Terrorgefahr im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts führt zur Verwendung von Begriffen des 21. Jahrhunderts, welche in der gewaltsamen Auseinandersetzung mit Islamisten semantisch geprägt wurden, bei der Beschreibung der Verhältnisse in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Metternich rückt in die Position eines visionären Sicherheitspolitikers, der gegen den Terror der »Gotteskrieger« die Prinzipien Ordnung und Legitimität setzt; sodass er zwar selbst nicht als Fetisch, aber vielfach als Vorbild fungiert.

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Andreas Hofer als Ikone, Idol, Reliquie, Popanz, Objekt, Statue? Zu Konstruktion, Verwendung und Dekonstruktion eines fetischähnlichen Konzepts im historiographischen, »nationalen«, künstlerischen und politischen Diskurs Andreas Oberhofer

Was hat Andreas Hofer, der im Jahr 1809 die Tiroler Aufständischen gegen die bayerischen und französischen Truppen anführte, mit dem Konzept des Fetischs gemein? Der Begriff Fetisch selbst kommt in der gesamten Andreas-Hofer- und 1809-Rezeption, soweit sie bis dato überprüft werden konnte, nicht explizit vor. Dies hängt wohl in erster Linie damit zusammen, dass sich der Fetischbegriff des 19. Jahrhunderts im Großen und Ganzen auf eine »Religion der Naturvölker« beschränkte, »bei welcher sinnliche Gegenstände (Fetische), denen Zauberkraft zugeschrieben [wurde], religiöse Verehrung [genossen]«; der Fetisch war dabei ein »beliebiger sinnlicher, meist unscheinbarer Gegenstand«, welcher »selbst mit Zauberkraft begabt« war und somit »weder als Symbol noch als Vermittler einer übersinnlichen Welt angesehen« wurde (Brockhaus 141894-1896: 718). Meyers Konversationslexikon von 1885 bis 1892 setzte den Begriff des Fetischs mit jenem des Götzen gleich. Auch hier wurden Fetische als jene »sinnlich anschaulichen« Gegenstände betrachtet, welche »in den ältern und neuern Naturreligionen« vergöttert wurden bzw. werden. Fetischismus sei demnach eine Form von Religion, welche annehme, »daß Gottheiten in gewissen materiellen Gegenständen eingekörpert leben können, und diese deswegen anbetet«. Der Fetisch sei durch einen in ihm wohnenden Geist wirksam und werde verehrt (Meyer 41885-1892: 195f.). Erst die Arbeiten eines Karl Marx und Sigmund Freud – um nur zwei Beispiele zu nennen – unterschieden zwischen »archaischem« und »modernem« Fetischismus, führten den Fetischbegriff somit aus dem Diskurs über »Wilde« und »frühe Menschen« heraus und übertrugen ihn auf die westliche Zivilisation. In der Hofer- und 1809-Rezeption spielen dennoch

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– obwohl die Kategorie Fetisch nun für neue Konnotationen »frei« war – im 20. und 21. Jahrhundert andere Konzepte eine Rolle, die aber teilweise Assoziationen zu Formen des Fetischismus (wie auch immer Letzterer definiert sein mag) wecken. Einige dieser Assoziationen fasst der Titel des vorliegenden Beitrags zusammen; die Begriffe sind dabei keinesfalls gleichwertig und somit nicht als Vorschlag einer Klassifizierung zu verstehen. Es ist deshalb notwendig, sie genauer zu analysieren, mit dem Ziel, den Fetischbegriff selbst hinsichtlich seines heuristischen Werts für die Untersuchung eines fetischähnlichen Konzepts zu prüfen. In diesem Beitrag wird anhand eines konkreten historischen Beispiels aufgezeigt, welche Begrifflichkeiten im rezeptionsgeschichtlichen Diskurs gängig und sinnvoll sind, um schließlich die Frage nach Bedeutung und (Mehr-) Wert des Fetischbegriffs in Hinblick auf die Andreas-Hofer-Rezeption zu beantworten.

K ONZEP TE : M Y THOS UND F ETISCH In der Aufstellung im Titel dieses Beitrags, welche Produkt eines spontanen Brainstormings war, fehlt das wesentliche und zentrale Konzept der Rezeptionsforschung: der Mythos. Dieser Begriff taucht in der Literatur über die Ereignisse im Jahr 1809 in Tirol ständig auf, wenngleich er selten hinterfragt wird. Andreas Hofer ist ein prototypisches Beispiel für die Mythisierung einer historischen Persönlichkeit. Die Tradition des sogenannten Freiheitskampfes kann ihrerseits als Gründungsmythos der »Tirolischen Nation« betrachtet werden, einer Idee, welche ihren Höhepunkt zwar zwischen ca. 1790 und 1820 erlebte (Egg 21984), allerdings bis heute im Gedanken an ein wiedervereintes Land, vielleicht sogar an einen »Freistaat« Tirol, weiterlebt. Es ist hier nicht der Ort, das Konzept des Mythos an sich zu diskutieren, es sei nur erwähnt, dass der politische Mythos prinzipiell eine Narration ist (Speth 2000: 12), eine – so Jan Assmann – fundierende Erzählung, welche den Status quo einer Gemeinschaft legitimiere und vor verändernden Eingriffen schütze (Assmann 1992: 39). Darüber hinaus wollen wir auch den von Mircea Eliade und Claude Lévi-Strauss postulierten Antagonismus von Mythos und Geschichte im Hinterkopf behalten, wonach die Hauptfunktion des Mythos darin bestehe, »Geschichte auszublenden zugunsten zeitloser Ordnungsmuster« (ebd.; vgl. auch Assmann 42002). Hofer, geboren 1767 und erschossen in Mantua 1810, gilt bis heute als Identifikationsfigur für Teile der Tiroler Bevölkerung, als Verkörperung von Identität und einer fragwürdigen Tradition von Wehrhaftigkeit, Selbstbehauptung und Freiheitswillen, welche sich im Zuge einer beinahe 200-jährigen Rezeptionsgeschichte herausgebildet hat. Damit stellt sein Mythos in geradezu vorbildhafter Weise ein Beispiel für »bewohnte«, d.h. nicht nur »gewusste«, sondern »erinnerte« Geschichte dar, die in der Form der identitätsfundierenden, handlungslei-

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tenden und gegenwartsdeutenden Erzählung auf uns gekommen ist und als mythisierte Vergangenheit zur schwer verzichtbaren Identitätssicherung für Gegenwart und Zukunft dient (Assmann 1992: 41, 47). Der Mythos als Erzählung zeigt sich nicht nur in narrativen Formen der Überlieferung, sondern er verdichtet sich auch in der Form des Bildes (Harth 1992: 10), das wiederum zu einem regelrechten Bildprogramm (historia) anwachsen kann (Belting 21991: 9). Der Begriff des Bildes an sich ist ein mehrdeutiger: Können wir das Bild in einer ersten Bedeutung aufgrund seiner Materialität haptisch wahrnehmen oder sogar berühren (imago), so ist es in einer zweiten Bedeutung abstrakt und nur in der gedanklichen Sphäre (er-)fassbar, eine Metapher – es wird zur rhetorischen Figur und hat damit eine Mittlerfunktion zwischen narrativer und ikonischer Darstellung. Für die Untersuchung des Mythos Hofer als Bild, das sich Zeitgenossen und Nachwelt machten und machen, und dessen Verehrung in Hinblick auf seinen Charakter als Fetisch bzw. Fetischverehrung benötigen wir beide Bedeutungen des Bild-Begriffs. Setzen wir die Auflistung der Konzepte im Titel (Ikone, Reliquie, Objekt, Statue etc.) jenen gegenüber, die in der Rezeptionsgeschichte von »Anno neun«, also der Ereignisse von 1809, immer wieder begegnen (Mythos, Klischee, Tradition, Legende, Vorurteil, Topos), so zeigt sich nämlich in erster Linie der Unterschied zwischen zwei »Welten« oder Zuordnungssystemen: der – wenn wir so wollen – dinglichen und der konzeptuellen, abstrakten »Welt«. Eine letzte Form der Manifestation des Mythos schließlich ist die regelmäßig wiederkehrende und wiederbelebte Erinnerung in der Form des Rituals (Speth 2000: 30), welches gerade in der Verehrung Andreas Hofers in Tirol eine wesentliche Rolle spielt. Was die Definition des Fetischs betrifft, folge ich dem gängigen jüngeren Diskurs (vgl. Antenhofer in diesem Band), wonach der Fetisch ein vom Menschen gefertigtes Objekt ist, welches Verehrung erfährt und welchem Kräfte zugeschrieben werden. Er ist somit nicht ein Zeichen oder Symbol, und – wie Rogério Brittes W. Pires in seinem Beitrag konstatiert – nicht figurativ, repräsentativ oder transzendent. Deshalb ist der Fetisch klar vom Idol zu scheiden, welches allein figurativen Charakter, Bildcharakter, hat, und auf außerhalb des Bildes liegende Kräfte verweist (s.u.). Für Sigmund Freud galt – im Gegensatz zu allen früheren Definitionen – der Fetisch als Stellvertreter, Verkörperung eines Objekts der Verehrung; er stand für etwas Nichtvorhandenes (Kohl 2003: 102). Dieses Fetischkonzept wird für die folgenden Ausführungen von besonderer Bedeutung sein. Karl Marx und Freud gingen außerdem davon aus, dass der Fetisch anthropomorph sei und ein Objekt sein könne; beide sahen im Fetisch ein elementares und wesentliches Mittel zwischenmenschlicher Kommunikation (ebd.: 106ff.). Dem Fetisch kam stets eine kommunikative und soziale Funktion zu – er hat einen sozialen Wert in einem sozialen System. In der politischen Auseinandersetzung und (Selbst-)Definition kann er zum Argument und Schlagwort werden; er regelt soziale Beziehungen und kann mitunter

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auch disziplinierende Aufgaben ausüben – bisweilen kann er auch todbringend sein. Der Fetisch ist zudem an ein einmaliges historisches Ereignis geknüpft, welches ihn erst zum Fetisch macht. Der Effekt dieses Ereignisses kann sich jederzeit wiederholen, der Fetisch kann seine Wirksamkeit wieder und wieder unter Beweis stellen. Dieses Ereignis wird erinnert; die Erinnerung und die Fortschreibung sind wesentliche Motoren für die Erhaltung der Identität bzw. politischen Imagination (Assmann 42002: 16). Es ist die Art des Sich-Erinnerns, die Zelebration, der Gebrauch dieser Erinnerung, die uns im Folgenden interessiert: Wir bewegen uns an den Grenzen zwischen religiöser Überhöhung und patriotischer Mythifizierung, zwischen der Verortung von Reliquien im sakralen und von säkularen bzw. profanen (pro fanum = sich vor dem Heiligtum befindend) Kriegerdenkmälern im öffentlichen Raum, zwischen dem Gedenken an ein historisches Ereignis und dessen herausragende Akteure und der Konstruktion eines Idealbildes, das zugleich auch als Schreckensbild dienen kann. Nach dieser Betrachtung wenden wir uns zunächst der Frage zu, was vom Menschen Andreas Hofer übrig geblieben ist und welche Verbindungen über diese Relikte zum Fetischkonzept gezogen werden könnten.

A NDRE AS H OFERS K ÖRPER Meint der Fetischbegriff in seiner engsten Bedeutung tatsächlich ein konkretes, berührbares Objekt, von welchem in den Augen der Verehrenden eine natürliche oder übernatürliche Kraft ausgeht (Pietz 1987: 24), so können wir diese Auffassung auf die Wahrnehmung von Hofers Körper als natürlichen, lebenden und sterblichen Leib des Leaders umlegen. Von ungleich größerer Bedeutung als die Idealisierung seines Körpers zu Lebzeiten aber ist die Verehrung, die Hofer nach seinem Tod zuteilwurde. Wir bewegen uns bei der Analyse des Fetischs Hofer in unterschiedlichen historischen Phasen, deren Wechsel durch zwei, für die aufkommende Verehrung wesentliche, punktuelle Ereignisse markiert ist: den Tod durch die Hinrichtung Hofers am 20. Februar 1810 in Mantua, und die 1823 erfolgte Exhumierung und Umbettung der Gebeine in die Hofkirche in Innsbruck. Beide Daten stehen für den Übergang des sterblichen Körpers zum toten Leib und damit zur Reliquie, aber auch zur Abstraktion, die zum Ziel der Verehrung werden kann. Voraussetzung hierfür ist, dass der Körper gewissermaßen zum »heiligen Körper«, zum erhaltenswerten »heiligen Leib« wird, und sich das herausbildende Konzept des unsterblichen »Helden« auf die sterblichen Überreste überträgt. Das »›erste Bild‹ des Toten (als Leiche)« wird zu »seinem ›zweiten Bild‹ (seiner kulturellen Repräsentation)« (Macho 2000: 118). Erst mit der Mythifizierung des Sandwirts − wie Hofer als Besitzer des Wirtshauses »Am Sand« auch genannt wurde − begann man, sich für dessen toten Körper zu interessie-

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ren, der vorher in einem gewöhnlichen Erdgrab ohne Markierung bestattet und somit der anonymen Verwesung überlassen worden war.

H OFER ALS M ANN : D ER LEBENDE K ÖRPER Zeitgenössische Zeugnisse über Hofers Körperlichkeit sind rar. Dennoch fällt ein bestehendes Interesse an der Beschreibung seines Äußeren auf, was vor allem mit seiner herausragenden Erscheinung zusammenhängt. Nicht zufällig war gerade Hofers Bart jener »Körperteil«, der als ihn am meisten charakterisierend beschrieben wurde. Ein Bart war seit jeher Merkmal und Sinnbild von Männlichkeit, Patriarchat und Heldentum; Hofers bemerkenswerte Gesichtszier wurde sowohl von den Zeitgenossen als auch von Historiographen und Literaten als Erklärung für die herausragende Position, die er 1809 innehatte, herangezogen (vgl. Schneider/Oberhofer 2010). Beschrieben wurden aber auch seine Tracht, sein Bauch, seine insgesamt behäbige Figur, sein weinrot gefärbtes Gesicht. Ein Zeitgenosse des Sandwirts charakterisierte diesen zwar als »saubre[n] Mensch[en]«, jedoch als »nit grad was die Diandlen sauber hoaßn« (Wolf 1902: 109), was wohl darauf hinweist, dass Hofer nicht dem »klassischen« Schönheitsideal der Zeit entsprach. Er wurde niemals – zumindest nicht in den Darstellungen der Ereignisse von 1809 – als verletzt oder krank beschrieben. Diente eine Verletzung oder gar Verstümmelung gerade in der nationalen Tradition oft als besondere Auszeichnung für einen »Feldherrn«, die dessen Aura von Kraft und Stärke noch mehr unterstrich, so wurde auf diesen Topos in der Rezeption von 1809 und Andreas Hofer gänzlich verzichtet – der Körper blieb bis zur Hinrichtung unversehrt und vital, wenngleich er in der Endphase der Erhebung etwas aus dem Gleichgewicht geriet (Oberhofer 2007). Dass die Zeugnisse über Hofers Körper weitestgehend von Männern verfasst wurden, erklärt sich aus der Tatsache, dass der Diskurs über »Anno neun« sowohl im Jahr 1809 selbst als auch nachher männlichen Augenzeugen, Historiographen und Literaten vorbehalten war. Allein Julie von Pauer, geborene Gräfin Zarivarij, hat eine Anekdote über die Begegnung mit Andreas Hofer hinterlassen. Ihre Beschreibung des Sandwirts beschränkt sich allerdings auf dessen Hut und Pfeife. Aufgrund des Standesunterschiedes war erotisches Interesse vermutlich von vornherein undenkbar, weshalb die Gräfin auf jeden Hinweis auf Körperlichkeit verzichtete. An einem anderen Passeirer, d.h. einem anderen Bewohner des Passeiertales im heutigen Südtirol und somit einem Landsmann Hofers, hingegen fielen ihr zumindest dessen nackte Knie auf (Schweiger 1931: 403f.). Eine sexuelle Komponente in der Beschreibung von Hofers Körper ist am ehesten im öfters begegnenden Hinweis auf den guten Raufer oder Robler zu sehen, der er gewesen sein soll. Josef Rohrer schrieb dazu 1796:

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Neben der Darstellung des »kampflustigen« Bergbewohners als eigene »Race« ist hier der Verweis auf die Hahnenfedern am Hut von Interesse. In Goethes Faust kann eine Hahnenfeder sowohl als Sinnbild von Mut und Tapferkeit als auch als Phallussymbol gelesen werden (Tobin 2000: 141). Der Ringkampf spielte wohl nicht nur für das Kräftemessen, sondern auch für die ländlich-bäuerliche Form der alpinen Brautwerbung eine Rolle. Nach seinem Tod wurde Hofers Körper vermehrt Objekt literarischer Beschreibungen. Andreas Hofer wurde nun bevorzugt als besonders herausragendes Beispiel des Passeirer »Bergbewohners« dargestellt, er erfüllte die Kriterien von körperlicher Größe, Kraft, Schönheit, sittlicher Stärke usw. Noch 1893 entstand ein Gedicht mit den Zeilen: »Straff sind die blauen Strümpfe, denn diese bergen wohl/Das mächtigste Paar Waden im ganzen Land Tirol.« (Scheichl 2009: 273) In der bildenden Kunst ist Hofer als Mensch oder besser: Mann mit entsprechendem Körper, der nicht nur der Illustration diente, sondern auch sexuell attraktiv sein konnte bzw. kann, erst seit den 1980er Jahren ein Thema. 1984 war er auf dem Titelblatt der Kulturzeitschrift Sturzflüge in einer Fotomontage als nackter Gegenpart zur jungen »modernen« Frau abgebildet, womit die Herausgeberinnen und Herausgeber versuchten, den »Helden« seiner heroisch-militärischen Aura gänzlich zu entledigen und ihn einem zeitgemäßen Männlichkeitsideal – ohne Lederhose, Hut und Stutzen – anzupassen. Siegfried Steinlechner setzte einen nackten Hofer auf das Titelblatt seines im Jahr 2000 erschienenen Buches Des Hofers neue Kleider. In beiden Fällen geht es aber dezidiert nicht um Sexualisierung, sondern um Vermenschlichung, um die Entweihung eines »nationalen« Heiligtums gewissermaßen. Im Mai 2007 startete Roland Halbritter eine Mail-Art-Sammlung, welche sich das Ziel setzte, künstlerisch gestaltete Postkarten einzuwerben, die sich visuell mit der Figur Hofers auseinandersetzen sollten. Die Werke wurden in der Form eines Internet-Blogs als Dokumentation öffentlich zugänglich gemacht (Halbritter 2009: 233f.).1 Es ging in erster Linie darum, aufzuzeigen, welche Rolle – wenn überhaupt – Hofer heute noch spiele, ob er auf ein reines Werbesymbol oder »Schützenemblem« reduziert worden sei. Ein nicht unbedeutender Teil der Einsendungen aber beschäftigte sich mit Hofers Körperlichkeit, was als Zeichen dafür gewertet werden kann, dass die 1 | »Hero« Andreas Hofer (1767-1810) – Mail Art Call for Postcards. http:// andreas-hofer.blogspot.com (besucht am 16.09.2010).

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Hemmschwelle, dem »Helden« einen weiblichen, hermaphroditischen, tierischen, vervielfältigten, umgefärbten, (halb-)nackten, verwesten, verjüngten, abstrahierten, reduzierten (»famous hands«, »famous feet«; ebd.: 242) oder auf eine andere Weise verfremdeten Körper zu verleihen, heute deutlich niedriger ist als etwa noch in den 1980er Jahren. Von einigen Künstlerinnen bzw. Künstlern wurde Hofers Figur auf eine Silhouette reduziert, da – wie Halbritter treffend bemerkt – »von Andreas Hofer keine authentische Physiognomie überliefert ist« (ebd.: 251). Hier spielt aber wohl auch die Auffassung von der »leeren Hülle« Hofer (s.u.) eine Rolle.

Abb. 1: Postkarte (Nr. 21) aus der Sammlung: http://andreas-hofer.blogspot. com. Künstler: Miguel Jimenez – El Taller de Zenon (Spanien). Collage und Malerei. Mit freundlicher Genehmigung von Roland Halbritter

D ER S ANDWIRT ALS R ELIQUIE : D ER TOTE K ÖRPER Die Überreste von Andreas Hofers Körper wurden im Zuge der Geschichtsschreibung und -verherrlichung im 19. und 20. Jahrhundert gleichsam zu Reliquien. Hubert Mumelter bezeichnete sie noch im Jahr 1954 satirisch als »Landesreliquie« (Feichtinger 1984: 430). Ihre Bedeutung für das heutige politische Tirol zeigt sich allein darin, dass sowohl in Innsbruck als auch in Mantua jährlich Kranzniederlegungen erfolgen – in Mantua aufgrund des Fehlens eines eigentlichen Reliquiars bei einem Gedenkstein. Dennoch stand das Grabmal in der Innsbrucker Hofkirche, welches die tatsächlichen, körperlichen Überreste birgt, niemals im Zentrum der Hofer-Verehrung. Andere »Reliquiare« mit weniger »offiziellem« oder

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gar sakralem Charakter spielten und spielen wichtigere Rollen. Im Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum in Innsbruck beispielsweise führten im Jahr 2009 im Rahmen einer groß angelegten Sonderschau Hofers Barthaare – platziert neben Essbesteck und Tabakspfeife – den Körper des »Helden« vor Augen. Als die Autoritäten im 19. Jahrhundert das Fehlen einer »nationalen« Kultstätte in Tirol als Defizit zu empfinden begannen, waren sie sich wohl bewusst, dass Hofers Grab im Schatten des Grabmals für Kaiser Maximilian I. stand. Das 1896 eröffnete Riesenrundgemälde in Innsbruck stellte eher den vermeintlichen Tiroler Verteidigungswillen und den »Freiheitskampf« an sich als die Person Hofers in den Mittelpunkt. Der Sandhof im Passeiertal hatte – trotz 1899 eingeweihter Gedächtniskapelle – als ehemaliges Wirts- und Wohnhaus kaum das notwendige Flair. Die neu konzipierte Ausstellung am Sandhof trägt heute den Titel Helden+Hofer, im Vorwort zum Katalog ist von Hofer als »Modell-Tiroler« die Rede und von einem Museum, das eine »patriotische Huldigungsstätte«, ein »Tempel« sein könnte (MuseumPasseier 2009: 7), es aber offensichtlich nicht sein will. Wie in allen Erinnerungsstätten, welche an Tirols »heldenhafte« Vergangenheit erinnern sollen, gibt es auch hier nach wie vor keine »echten« Reliquien im Sinne körperlicher Überreste, wenn auch Stimmen, die die »Heimführung« von Hofers Körper in das Passeiertal fordern, bis heute nicht verstummen. Bereits im Vorfeld der Feierlichkeiten von 1959 wurde die »Entrümpelung« des Bergisel, jenes Bergrückens südlich von Innsbruck, auf dem 1809 wiederholt gekämpft worden war, und die Errichtung einer Ehrenhalle als einer »Art Walhalla Tirols mit religiösem Einschlag« angedacht, aber nicht verwirklicht (Steinlechner 2000: 89). Erst 52 Jahre später, 2011, ist hier ein neues Museum eröffnet worden – auch dieses ohne »echte« Reliquien. Ein Ort der Verehrung der »Helden« von 1809 und Andreas Hofers im Speziellen sowie die Erinnerung an sie ist also nicht auf körperliche Überreste angewiesen, was einen wesentlichen Unterschied zur christlichen Heiligenverehrung darstellt: Die Heiligen »wohnen« in den Tempeln, in denen ihre Reliquien liegen; die Reliquiare in den Altären machen diese zugleich zu Heiligengräbern (Kohl 2003: 46f.). Hofer aber »wohnt« in den Augen seiner »Glaubensgemeinschaft« nicht in einem Tempel, sondern im gesamten historischen Tirol (s.u.); sein Grabmal ist Erinnerungsund Ritualort, keineswegs aber Ort eines Reliquienkults.

B ERÜHRUNGSRELIQUIEN Mit dem Begriff Berührungsreliquie bezeichne ich im Folgenden die Gruppe von Überresten, die nicht Teile eines toten Körpers sind, sondern mit denen die oder der Verstorbene zu Lebzeiten – vermeintlich – in Beziehung gestanden hat und in Berührung gekommen ist: Karl-Heinz Kohl

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fasst derartige Gegenstände als »Reliquien dritter Ordnung« zusammen (ebd.: 51). Was den Umgang mit Objekten betrifft, welche aus dem Umfeld des Tiroler »Freiheitskampfes« und damit auch Andreas Hofers stammen, wird der Begriff Reliquie heute bevorzugt verschämt unter Anführungszeichen gesetzt oder durch das vermeintlich neutralere Wort Relikt ersetzt (z.B. Universalmuseum Joanneum; Tiroler Landesmuseen 2010: 2). Heinrich Heine aber spricht in seinen Reisebildern noch von »Reliquien aus dem Tirolerkrieg«, welche in Innsbruck im Gasthof Goldener Adler in einem »dunkeln Stübchen« aufbewahrt wären (Kalischer/Pissin 1927: 23). Er meint damit natürlich keine Knochen, sondern beispielsweise Schriftstücke oder Gewehrkugeln. Die Unterscheidung zwischen den Begriffen Reliquie und Relikt scheint im 18. und frühen 19. Jahrhundert nicht stringent gewesen zu sein. Das Grimm’sche Wörterbuch kennt für den Begriff der Reliquie sowohl eine Bedeutung im engeren (»menschliche[n] reste«) als auch im weiteren, »weltliche[n]« Sinn: Das Wort konnte beispielsweise für Goethe durchaus auch etwas »Zurückgelassenes« bezeichnen, das nicht Teil eines Körpers gewesen war (Grimm 1889: 803). Neben privaten Sammlern begannen auch »nationale« Institutionen im frühen 19. Jahrhundert, Relikte systematisch zu sammeln. Im Tiroler Nationalmuseum Ferdinandeum in Innsbruck bemühte man sich sofort nach der Gründung, eine Sammlung »vaterländischer Erinnerungen« anzulegen. Die Witwe Andreas Hofers wurde 1823 um die Übersendung eines persönlichen Gegenstands ihres Mannes gebeten, worauf unter anderem dessen Hosenträger nach Innsbruck gingen. Hofer sollte in musealisierter Form weiterhin sein »Vaterland« verkörpern – im wahrsten Sinne des Wortes. In Catherine Swanwicks Drama Hofer von 1879 äußert sich ein alter Mann: »Let me touch his garments, hear his voice – Where is he?« (Wolfram 2009: 47) Helmuth Schönauer geht in seiner 2009 erschienenen Satire Der Hofburgkomplex sogar so weit, Hofer selbst als für seine Memoria Sorgenden darzustellen: »So treten die [Tiroler] Landeshauptleute jeweils mit einem Gerät oder einem Begriff an, der sie unsterblich machen wird. Hofer beispielsweise hat sich einen extra dicken Bauchgurt im Sarntal nähen lassen, damit man nach seiner Hinrichtung etwas für die Vitrine hat, sollte etwas mit dem Grab nicht funktionieren. Und tatsächlich hat es ja nicht funktioniert, nur ein paar miserable Knochen sind in die Hofburg [recte: Hofkirche] gewandert, und Hofer wäre schon längst vergessen, hätte er nicht schon vorher seinen Bauchgurt in die Vitrine gelegt.« (Schönauer 2009: 100f.)

Neben Berührungsreliquien wie Handschreiben, Reitsattel, Geschirr, Rosenkränzen und anderem Sammelgut ist heute auch ein Teil von Hofers Kleidung im Museum am Sandhof ausgestellt und drapiert, als ob ihr Träger sie jederzeit wieder anziehen würde. (Das wohl wichtigste Stück allerdings – das blutige Hemd, welches er bei seiner Hinrichtung trug –

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ist nicht erhalten.) Der Student und Freizeitlyriker Bernhard Mazegger bezeichnete 1851 den Sandhof als »heiligen Ort«, das dort aufliegende Fremdenbuch als »heilig’ Denkmal«. Dies bezeuge, so Josef Feichtinger, »den Reliquienkult am Sandhof« (Feichtinger 1984: 154). Um das Bedürfnis nach Berührungsreliquien befriedigen zu können, setzte auch bald deren Vervielfältigung ein: Der Innsbrucker Wirt Alois Niederkircher soll bevorzugt »unzählige ›echte‹ Andreas Hofer-Stiefel« verkauft haben, »so daß die Innsbrucker Schuster mit der Anfertigung neuer sich nicht genug beeilen konnten« (Schiffner 61910: 11).

D E VOTIONALIEN Darstellungen von Hofers Äußerem, eventuell in Verbindung mit dem Faksimile der Unterschrift, erschienen in verschiedenen Formen im Druck und verteilten sich auf öffentliche und private Sammlungen – es hatte sich ein gänzlich neuer Markt aufgetan. Die Sehnsucht nach bildlichen Darstellungen des Sandwirts war groß, nachdem vor allem bürgerliche und adelige Kreise in England und Deutschland von seinen vermeintlichen Leistungen erfahren hatten. Die Künstler waren weniger an der Verherrlichung von Hofers »Soldatenkörper« als an der möglichst naturgetreuen Darstellung im Sinn von Illustration interessiert. Der durch Tirol reisende Schriftsteller Heinrich Laube schrieb über den sich um Hofer-Bilder entwickelnden Kult, der auf ihn offensichtlich beunruhigend wirkte: »In unsrer Wirthsstube gab’s so viel Bilder von Hofer, als Kouverts [Gedecke] auf dem Tische. Aber der Kaiser Franz hing einsam hinter dem Ofen, von Fliegen verunglimpft.« (Laube 21847: 109) Das Lexikon für Theologie und Kirche (LThK) definiert Devotionalien als »Gebrauchsgegenstände der privaten Religiosität«, welche sich vor allem durch ihr »›Zuhandensein‹ für den Besitzer, der damit seine Andacht und Frömmigkeit fördern« wolle, auszeichnen würden. Sie seien allerdings von Votivgaben, welche »als öff[entliche] Spenden in den Besitz der Gottheit (des Heiligen) übergehen«, und Amuletten, von welchen »man magische Wirkung erhofft«, zu unterscheiden (Hain 21959: Sp. 314). Die relativ preiswerte Druckgraphik erlaubte es allen, ebenso wie die Vervielfältigung gemalter und gerahmter Porträts, eine intime Nähe zum »Idol« aufzubauen und es nicht mit anderen teilen zu müssen (vgl. Belting 2005: 20). In Hofers Fall aber scheint die reiche Produktion von Graphiken weniger der Ermöglichung persönlicher Andacht als der Verbreitung von Aussehen und dahinterstehender Lebensgeschichte gedient zu haben. Der Themenbereich berührt somit die unscharfe Grenze zwischen Devotionalien- und Souvenirwesen, denken wir hinsichtlich des Letzteren allein an die Fülle von Postkarten, welche mit Hofers Konterfei bedruckt wurden. Eine Devotionalie sei an dieser Stelle besonders hervorgehoben: Es handelt sich um eine Reliefdarstellung von Hofers Büste, angeblich ange-

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fertigt aus Erde vom Bergisel, eingelegt in eine Kapsel aus Holz, welches am Bergisel gewachsen sein soll. Das Objekt vereint somit die Handlichkeit der Devotionalie mit dem Überrestcharakter der Reliquie in sich. Sogar der Gedanke des brandeums könnte hier eine Rolle spielen, zu dessen Kategorie auch die Erde von Märtyrergräbern gezählt wird (Kohl 2003: 51). Zwar finden sich im konkreten Fall keine Hinweise darauf, dass in Mantua an Hofers Grab Erde entnommen worden wäre, jedoch scheint der Humus des Bergisel − als vermeintlich wichtigste Wirkungsstätte des Sandwirts − zumindest für die Devotionalienverehrung von Bedeutung gewesen zu sein.

H OFER ALS K ONZEP T : D ER POLITISCHE , E WIGE K ÖRPER »Of mortal Parents is the Hero born/By whom the undaunted Tyrolese are led?/Or is it Tell’s great Spirit, from the dead/Returned to animate an age forlorn?« (Jacobsen 1820: 134) Mit diesen Versen, entstanden im Jahr 1809, beginnt der vielleicht früheste poetische Text über Andreas Hofer: ein Sonett des englischen Dichters William Wordsworth (1770-1850). Es stellt – abgesehen von der Andeutung einer Reinkarnation Wilhelm Tells – die Sterblichkeit von Hofers Eltern in Frage und deutet damit an, dass der »Held« selbst unsterblich sei. Dies entspricht der gängigen Auffassung, dass Helden unvergänglich seien, wenn auch nicht körperlich, so doch in der Erinnerung ihrer Anhängerinnen und Anhänger. Andreas Hofer ist heute in der kollektiven Erinnerung ein feststehender historischer und politischer Begriff. Dieser ist das Resultat des Prozesses, der den wesentlichen Schritt in der Transformation einer historischen Persönlichkeit zum Mythos darstellt: die Abstraktion. Was heute mit »Andreas Hofer« bezeichnet wird, bezieht sich nicht auf die historische Figur, sondern auf eine Idee bzw. ein Konzept, das Idealbild eines Menschen, wie es im Lauf einer reichen Rezeptionsgeschichte ausgeformt wurde. Beda Weber, in Tirol geborener Schriftsteller und Theologe, deutete bereits 1825 in einem Gedicht die Entmaterialisierung von Hofers Gestalt, das Verschwinden der konkreten Persönlichkeit, an (Feichtinger 1984: 69). Die Idee Hofer begegnet in Tirol bis heute im öffentlichen Raum und Diskurs mit auffallender Regelmäßigkeit.2 Sie ist dermaßen kanonisiert, dass sie als schablonenhafte Verkürzung normalerweise ausreicht; man weiß oder glaubt, zu wissen, wer Hofer war. Das – verkürzte – Konzept kommt dabei in zwei Ausformungen vor: einerseits in der sprachlichen Variante durch die Verwendung des Namens oder eindeutig konnotierter 2 | Allein die Tatsache, dass – wie Klaus Nutzenberger primär für die Zwischenkriegszeit feststellt – der Name Andreas Hofer »fast wie selbstverständlich von den Gemeinderäten als Reservoir für Straßenbenennungen gesehen« wurde (Nutzenberger 1998: 316), spricht für diese Allgegenwärtigkeit.

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Phrasen (z.B. der berühmten, Hofer zugeschriebenen Aussage »Mander, es isch Zeit«); andererseits in der bildlichen, visuellen Ausprägung, in der Form des Porträts.

D ER N AME ALS F E TISCH ? Dass der Name an sich als Verkörperung des gesamten Wesens einer Persönlichkeit steht, ist bekannt. So verliert in Märchen und Sage jeder Geist oder jede Emanation der beseelten Natur ihre Kraft, sobald sein bzw. ihr Name offenbar wird. Der Name ist insofern ein abstraktes, aber kraftvolles Objekt, er ist allgemein verständlich und erfährt gerade aufgrund dieser Verständlichkeit Zuspruch. Hofers Name wird zudem vor allem im politischen Diskurs bis heute mit Werten in Verbindung gebracht, die sein Träger vertreten habe: Bodenständigkeit, Vaterlandsliebe, Treue gegenüber Gott, Religion und Kaiser bis zum Tod. In einem 1818 erschienenen Buch lesen wir: »Sein [Hofers] Name hatte eine magische Kraft, die alle Gemüther fesselte, man betrachtete ihn in Tyrol als einen Heiligen.« (Gesellschaft 1818: 61) Im Vorwort zu Andreas Hofer auf der Bühne schrieb Anton Dörrer 1912: »Heute ist der Name des Sandwirtes für den Tiroler ein Bekenntnis, ein Programm geworden, es ist der Ausdruck des historisch überlieferten Tirolertums, fast schon losgelöst von allem Persönlichen.« (Feichtinger 1984: 136) Anton Graf Bossi-Fedrigotti schrieb 1935, dass »von Ostfriesland bis nach Siebenbürgen und von der Kurischen Nehrung bis in die Täler des Jura, jedes Kind einen Namen kennt: Andreas Hofer! Und er verkörpert auch das Tirol jener Tage!« (Ebd.: 388) 1946 schließlich stand in der Zeitschrift Die Woche zu lesen: »Sein Name lebt für immer fort als der eines großen Patrioten.« (Steinlechner 2000: 78) Der Name kann also durchaus für sich selbst stehen und repräsentiert das Konzept Andreas Hofer. 2009 wurde neben Armbanduhren, Gürteln, T-Shirts, Mützen und anderen Kleidungsstücken vermehrt auch Unterwäsche mit dem Schriftzug »Andreas Hofer« zum Kauf angeboten. Die Werbebranche hat längst den Reiz darin erkannt, Konsumartikel mit Namen zu versehen, sei es mit jenem einer Modeschöpferin bzw. eines Modeschöpfers, oder sei es mit jenem eines (historischen) Mythos. In beiden Fällen zielt die Kennzeichnung darauf ab, Produkte ihrer Anonymität zu entreißen und sie zu personifizieren (Kohl 2003: 114f.). Der Name Andreas Hofer kann also durchaus auch Marke sein. Im konkreten Fall allerdings ist zu vermuten, dass sich der Handel durch den gezielten Missbrauch des Schriftzuges, d.h. den Ersatz politischer und religiöser Ideale durch die Konnotation mit Körperlichkeit, Libido und Erotik, hohe Umsätze erwartete. Nicht der erotische Appell sollte also in erster Linie zum Kauf anregen, sondern die dem Appell anhaftende Provokation, der Hauch des Aufbegehrens gegen konservative Werthaltungen.

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H OFER ALS I KONE : D IE BILDLICHE V ERKÜRZUNG Das Konzept Andreas Hofer wirkt unter anderem durch das Medium der Ikone. Mit dem Begriff bezeichne ich im Folgenden nicht das (östliche) Heiligenbild bzw. heilige Bild, sondern das, was die englische Übersetzung des Begriffs – icon – treffender zu umschreiben vermag: ein »grafisches Sinnbild« (Duden 2000: 488). Es geht also nicht um das Kultbild an sich, sondern um das Sinnbild als Symbol für etwas Größeres, Dahinterliegendes. Als Verkörperung des Konzepts Hofer möchte ich im Folgenden die Ikone als verkürzte bzw. abstrahierende Darstellung der historischen Persönlichkeit, sei es als Statue, Gemälde, Zeichnung oder Druckgraphik verstehen. Jede Form des Porträts ist naturgemäß eine Abstraktion. Es steht nicht für sich selbst, verkörpert nicht nur einen Menschen, sondern verlangt nach persönlicher Deutung und Analyse; es lenkt Auge und Phantasie auf etwas »hinter dem Visuellen« Liegendes (Belting 2005: 25; Harth 1992: 16). Die Ikone Hofer ist an und für sich die Abbildung einer Hülle. Bezeichnend ist der Vergleich, den Claus Gatterer 1969 in seinem Buch Schöne Welt, böse Leut zog. Er sah Cesare Battisti und Andreas Hofer als Männer, zwischen denen »ein Zusammenhang bestehen mußte«, als zwei »Helden«, welche in ihrer eigenen Sprache angebetet (!) und in der jeweils anderen Landessprache (d.i. Deutsch oder Italienisch) verflucht würden. Die Schicksale der beiden aber seien so ähnlich, dass »Maler und Photograph sie ähnlich darstellen mußten, abweichend nur in den Gestalten am Rande« (Feichtinger 1984: 456). Gatterer betrachtete die beiden »Helden« also als prototypische und austauschbare Schablonen, welche je nach Bedarf mit Inhalt gefüllt werden können. Ist Hofer durchaus mit anderen historischen Figuren austauschbar, so ist er selbst auch wandelbar und kann jederzeit den Bedürfnissen einer politischen Strömung oder einer Epoche angepasst werden (vgl. Steinlechner 2000: 52). Roland Halbritter betont deshalb, dass er Hofer als »gesichtslose Gliederpuppe« dargestellt habe (Halbritter 2009: 244). Das pressewirksam platzierte Porträt des »Helden« verleiht Politikerinnen und Politikern bis heute hin und wieder die Legitimation für das Amt des »Gurus«, und – in Anlehnung an das historische Wirken und Selbstverständnis Andreas Hofers als »Landesvater« in Vertretung des Kaisers – eine Monopolstellung. Denselben Zweck erfüllt das ebenfalls öffentlichkeits- und pressewirksame Tragen der (Schützen-)Tracht. Diese traditionalistische Kleidung, »worn like an ornament«, stiftet Gemeinsamkeit und Zugehörigkeit und symbolisiert – durch gemeinsame Nachahmung – soziale Identität (Pietz 1987: 38, 45). Die Legitimation wird somit historisch begründet und immer wieder untermauert.

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Abb. 2: Der ehemalige Tiroler Landeshauptmann und nunmehrige Präsident des Tiroler Landtages, DDr. Herwig van Staa. Foto: © Land Tirol

D IE H OFER -I KONE ALS V ERKÖRPERUNG DER »TIROLISCHEN N ATION « Die Verehrung Andreas Hofers erlebte im späten 19. Jahrhundert, der Epoche des Nationalismus, ihre erste Blütezeit. Dementsprechend wurde der Sandwirt zum Stellvertreter für eine Nation, zeitweilig sogar für die »deutsche« (Bossi Fedrigotti 1935: 104), meistens aber die sogenannte »Tirolische Nation« (Egg 21984: 6f.). Er symbolisierte sowohl das Land Tirol selbst als auch das Kollektiv der Bevölkerung dieses Landes, welche Karl Schönherr als »kollektive Helden« interpretierte (Feichtinger 1984: 313). Hofers Schicksal steht noch heute für das Schicksal der »Nation«, was sich allein in der Tiroler Landeshymne mit dem ursprünglichen Titel »Sandwirth Hofer«3 zeigt. In der Literatur begegnet die Gleichsetzung Hofers mit Tirol und seiner Bevölkerung sehr häufig. Es seien hier nur einige Beispiele genannt. Anastasius Grün bzw. Alexander Maria Graf von Auersperg schrieb 1846 die Verse: »Tut auf! Es pocht Tirol, das Heldenland,/Statt aller einer nur, der Wirt vom Sand!« (Ebd.: 132) Der bereits erwähnte Heinrich Laube bezeichnete Hofer als »Mittelpunkt«, der er 1809 gewesen und »heute« (1847) immer noch sei, als »Inkarnation«, welche Deutschland fehle: »Für die besten Gedanken brauchen die Völker Fleisch und Blut, sie müssen sie wie der Apostel Thomas mit Händen greifen können.« (Laube 21847: 3 | Das Andreas-Hofer-Lied »Zu Mantua in Banden« wurde mit Beschluss des Tiroler Landtages vom 2. Juni 1948 als Landeshymne Tirols eingesetzt, die Wirksamkeit begann am 31. August 1948 (Steinlechner 2000: 81).

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109) Der Drehbuchautor des Fernsehfilms Ach Himmel, es ist verspielt (Regie Jochen Bauer, Erstausstrahlung 1975) äußerte sich folgendermaßen: »Andreas Hofer war keine heldische Figur, aber ein Volksheld, der stellvertretend für das Volk litt, der aus dem Nichts durch das Volk an die Spitze kam, der alles exemplarisch zu spüren bekam, was die große Politik mit den Völkern aufführen kann.« (Pizzinini 2008: 295) Auch in der bildenden Kunst wird Hofer zuweilen mit Tirol gleichgesetzt. Das Vorsatzblatt einer Notenschrift, bereits 1810 in London erschienen und betitelt mit Tyrolese March, zeigt Hofer mit einer Gruppe von Schützen als Repräsentanten »Tyrols«. Das Gemälde Der Landsturm anno 1809 (1819) von Joseph Anton Koch stellt die Verkörperung des Landes durch den Sandwirt bildlich dar. Der Begriff Land Tirol ist als Schriftzug auf einer Fahne direkt an seiner Seite platziert, Hofer weist mit der Linken darauf hin. (Als Kompensation findet sich auch die Versinnbildlichung Frankreichs, ausgedrückt durch eine Militärstandarte.) Das Gemälde Der Fahnenschwur (1838) von Josef Arnold d.Ä. hingegen zeigt eine repräsentative Gruppe, die sich um Hofer schart, welcher die Tiroler Fahne in der Linken hält und die Rechte in einer Schwurgeste zum Himmel streckt. Der Sandwirt wirkt als Zentrum der Darstellung und Verbindung zwischen irdischer und himmlischer Sphäre. Rudolf Holzinger stellte Hofer noch um 1930 flankiert vom Tiroler Wappenadler dar und versinnbildlichte damit die offenbar nach wie vor gültige Bindung zwischen dem »Helden« und seiner »Nation«. Eine Druckgraphik von Olaf Gulbransson von 1929 mit dem Titel Andreas Hofer an Noldins Grab und der seitenfüllenden Darstellung des gewichtig-erdverbundenen und zugleich geisterhaften Sandwirts trägt die Unterschrift: »Die Unterdrücker wechseln – aber Tirol bleibt!« Das Andreas-Hofer-Denkmal am Südtiroler Platz in Wien schließlich zeigt – in extremer Reduktion – allein den Schriftzug »Andreas Hofer« und den Tiroler Adler (Abb. in Pizzinini 2008: 299, 304, 305, 314, 321; Meighörner 2009: 36, 160). Jedes Denkmal für Andreas Hofer konnte durch die Gleichsetzung der historischen Figur mit der »Tirolischen Nation« somit zum »nationalen« Gedenk- und Wallfahrtsort avancieren, zum Ort für die Zelebration einer spezifischen Tiroler Identität. Die Reproduktion von Hofers Gestalt in Form der Plastik wurde zur Projektionsfläche nationaler Sehnsucht: Das Denkmal über dem Grab in der Innsbrucker Hofkirche trägt stets einen schwarzen Trauerflor als Symbol für den Schmerz über die Trennung Tirols nach dem Ersten Weltkrieg (Abb. in Meighörner 2009: 110). Doch wer trauert hier? Weder der Mensch Hofer noch seine Statue, sondern die »Tirolische Nation«. Wer wird betrauert? Wiederum nicht Hofer, sondern das »alte«, vereinte Tirol. Die Verkörperung der »Nation« Tirol durch einen Menschen brachte strenge Auflagen in der Gestaltung der Denkmäler mit sich. Im Fall der östlichen, orthodoxen Ikone wäre die authentische Abbildung Voraussetzung dafür, dass die oder der Heilige nach dem Tod im Bild »wohnt«; nur authentische Abbildungen besitzen nämlich übernatürliche Wirkkraft,

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nur sie garantieren das Erlebnis der persönlichen Begegnung (Belting 2 1991: 16, 22). Derartige Überlegungen spielten bei Hofers Grabmal wohl kaum eine Rolle, wenngleich auch in diesem Fall streng auf die möglichst authentische Abbildung des Sandwirts geachtet wurde. Vordergründig weist die angedeutete Kleidung auf den Status des Dargestellten hin, es ging aber doch um mehr: Die Professoren der Wiener Akademie der bildenden Künste, welche 1824 die Auswahl unter den Konkurrenzentwürfen trafen, konnten sich nicht einigen, ob Hofer als antiker Heros, Tiroler Bauer oder gar vom Himmel Gesandter dargestellt werden sollte. Erst der Kaiser (oder Metternich) entschied für den Bauern »in seiner Tracht und in keiner anderen Gestalt und auch nicht als Märtyrer« (Krasa-Florian 2009: 39).

D IE H OFER -I KONE ALS K ULTBILD Der Mythos besitzt gemeinschaftsbildende Kraft und erzeugt im Ritual historische Identität (Belting 21991: 55ff.), was im Allgemeinen die Einrichtung eines Ortes für den Kult notwendig macht. Öffentliche (heilige) Bilder, denen eine Kraft innewohnt, werden in der Regel an »privilegierten« Standorten aufgestellt (Belting 2005: 26f.). Im Fall der Hofer-Statuen sind jene, welche im Freien, also in einem als öffentlich empfundenen Raum, stehen, in höherem Maß populär (und damit zum beliebten Postkartenmotiv) geworden als etwa das Grabmal in der Hofkirche. Vor allem das Denkmal am Bergisel hat zur touristischen Vermarktung des »heiligen« Ortes unter dem einfachen Nenner Hofer = Bergisel = Innsbruck geführt, was auch bei der Wahl des Standortes des neuen Bergisel-Museums mit dem Namen Das Tirol Panorama ausschlaggebend war. Tatsächlich scheint hier neben praktischen Aspekten der Raumplanung die besondere Aura, der Genius Loci jenes Platzes, an dem 1809 gekämpft wurde, eine Rolle zu spielen. Das Bild und der Ort, an dem es aufgestellt ist, stehen nämlich in einem engen Verhältnis zueinander (Belting 21991: 24). Allerdings ist diese Beziehung zwischen Ort und Bild im konkreten Fall erst nachträglich – aufgrund der Notwendigkeit einer »nationalen« Kultstätte – konstruiert worden. Im 20. und 21. Jahrhundert trat die militaristische Verherrlichung des Schauplatzes kriegerischer Vergangenheit (der u.a. auch mit Schießständen ausgestattet worden war) zugunsten politischer Repräsentation bzw. Inszenierung und touristischer Vermarktung in den Hintergrund. Während heute die Touristinnen und Touristen den Bergisel in erster Linie wegen der olympischen Skisprungschanze als Ausflugsziel schätzen, scheint auch der Großteil der »Einheimischen« die historische Stätte weder als Kultort noch als Postkarten- und Plakatmotiv zu benötigen – das Repertoire der Tirol-Werbung ist nicht mehr auf den historischen Mythos angewiesen. Kultbilder sind – nach Hans Belting – Platzhalter der Macht, die sie repräsentieren (Belting 2005: 26f.), und können somit von den Autoritäten

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als Instrumente der Kontrolle verwendet und zu ihrem Nutzen gestaltet werden. Der Kapuzinerpater Norbert Stock ließ Andreas Hofer 1893 in einem Gedicht über das ihn verkörpernde Standbild am Bergisel sagen: »O glaub’ der Standbildlüge nicht,/die von Rebellentrotze spricht. […] Mein Standbild? Nein! Hier steht es nicht./Es steht umstrahlt von Wahrheitslicht./Befreit von jeder Lügenwolke/Tief in dem Herzen meinem Volke.« (Scheichl 2009: 284) In einem zweiten literarischen Werk (1900) kritisiert Hofer sein Grabdenkmal in der Innsbrucker Hofkirche, welches er als Darstellung eines »Betbruder[s]« abtut (ebd.: 287). In beiden Texten kommt die Auffassung zum Ausdruck, dass Hofer keinen Ort der Verehrung wünsche und brauche; er bzw. sein Vermächtnis »wohne« vielmehr in ganz Tirol und sei in allen Tirolerinnen und Tirolern lebendig. Trotzdem signalisieren sowohl der Bergisel als auch die Hofkirche kultischen Anspruch, wobei am Bergisel weniger die Veneratio als vielmehr die Präsenz, die Memoria, im Vordergrund steht – der Ort an sich ist abgesehen von seiner Aura als »Schlachtfeld« kein sakraler. Die Neue Freie Presse schrieb deshalb am 28. September 1893 erklärend: »[D]ie Stätte, wo ihr Blut [das Blut der Kämpfenden von 1809] floß, ist dem Freunde der Freiheit ebenso heilig, als dem Gottesverehrer der innere Raum eines Tempels.« (Neue Freie Presse 1893: 2) Die Verehrung der von den Autoritäten installierten Kultbilder allerdings ist kein Produkt des Zufalls: Die Tiroler Bevölkerung hatte anfangs mit der 1809- und Hofer-Verherrlichung wenig am Hut. 1876 schrieb Eduard Dorn in einem Volksstück, das Hofer-Denkmal in der Hofkirche sei von »Tiroler Bauern, Weibern und Kindern« umgeben, »die das Standbild in liebevoller Verehrung bekränzen«, während es von oben beleuchtet werde (Wolfram 2009: 55). Eine derartige Vorstellung ist allein angesichts der Aufstellungssituation der Statue (s. Abb. 3) leicht als literarische Fiktion zu entlarven. Es ist vielmehr so, dass es wiederholter Impulse von außen bedurfte, um den Kult zu entwickeln. Im Rahmen der 100-Jahr-Gedenkfeiern 1909 beispielsweise zielten die Veranstalter darauf ab, dass »patriotische und kaisertreue Einstellungen in Tirol wieder verstärkt« würden (Steinlechner 2000: 43). Während Repräsentanten der Kirchen religiöse Gegenstände und Bilder zu Vehikeln für Glauben und göttliche Kraft werden lassen (Pietz 1987: 30), sind es somit in unserem Fall Vertreterinnen und Vertreter von Politik, Wissenschaft und Kunst, welche immer wieder die Aufgabe der Vermittlung des historischen Mythos übernehmen und sich bemühen, die Erinnerung wachzuhalten.

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Abb. 3: Hofers Grabdenkmal in der Innsbrucker Hofkirche. Stahlstich von Johann Sonnleiter nach einer Fotografie von Josef Mühlmann, ca. 1880 (?). Privatbesitz A.O.

D IE » BESEELTE « I KONE Wenngleich wir, wie bereits dargelegt, davon ausgehen, dass es sich bei den Abbildern Andreas Hofers nicht um tatsächliche Ikonen – also Bilder, in denen der bzw. die Heilige »wohne« – handle, so ist doch zumindest in der literarischen Rezeption die starke Tendenz auffallend, die Hofer-Denkmäler als »beseelt« zu empfinden. Anton Renk beispielsweise schrieb in einem 1902 publizierten Gedicht: »Wir Bauern leiden’s nit,/ Daß eure Blicke [der Briten] unsern Hofer schänden/Am Iselberg! – Steig’ nieder von dem Stand,/Du Held […].« (Feichtinger 1984: 253f.) Renk gehörte zur sogenannten Jungtiroler Gruppe, einem Zusammenschluss oppositioneller Jugend, welcher sich »für deutsche Freiheit gegen welsche Gier« stark machte und Abwehrkräfte (»deutsche Bauernkraft«) gegen das irredentistische Italien mobilisierte (ebd.: 265). Robert Michel schrieb 1910 mit mehr »Distanz zur Vergangenheit« (Josef Feichtinger) über dasselbe Denkmal: »[H]ier steht der Bauernheld ganz leibhaftig da und in der Geberde seiner erzenen Hand ist soviel Kraft, daß man es spürt, wie seine Schar dem Winke dieser Hand gehorchen mußte.« (Ebd.: 301f.) Ida Gräfin Hahn-Hahn bezeichnete die Statue in der Hofkirche als Wächterin über das Grab Kaiser Maximilians (ebd. 1984: 333). Auch die Tagespresse hauchte den Hofer-Statuen euphorisch Leben ein. Als etwa das Denkmal am Bergisel am 28. September 1893 enthüllt wurde, schrieb die Neue Freie Presse davon als »Inbegriff der Urkraft von Tirol« (Steinlechner 2000: 42).

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Dies suggeriert, dass das Monument gewissermaßen einen Ort der Kraft, einen energetischen Brennpunkt markiere. Die genannten Beispiele hängen eng mit der jeweiligen politischen und sozialen Einstellung ihrer Urheberinnen bzw. Urheber zusammen. Allen gemeinsam ist der Verweis auf eine besondere Kraft, die den HoferStatuen innewohne, bzw. die Gleichsetzung der Porträts mit einem lebenden Menschen. Noch im Jahr 2000 wies der Historiker Siegfried Steinlechner darauf hin, nach der Sprengung der Statue am Bergisel (s.u.) sei Hofer »für viele gleichsam ein zweites Mal für ›Ein Tirol‹ als Märtyrer gestorben« (ebd.: 94), und sagte damit implizit nichts anderes aus, als dass die Statue sterblich sei. Für die Künstler hingegen, die an der Ausarbeitung der Denkmäler beteiligt waren, können wir konstatieren, dass sie wie auch die Auftraggeber die Sache naturgemäß nüchterner sahen und – dies geht aus ihren Akten und Briefen hervor – die Statuen als behauene Steine, als »Arbeit«, keineswegs aber als belebte Wesen, betrachteten (Krasa-Florian 2009; Schmid 1984).

D IE H OFER -I KONE ALS G NADENBILD? Andreas Hofer gilt bis heute als Supernatural Defender (Hans Belting), als Schutzpatron Tirols. Er wird von Teilen der Bevölkerung hochgehalten wie ein Landesheiliger oder – wie es Johanna Matt 1984 im Club 2 formulierte – als »zweiter Herrgott« (Steinlechner 2000: 120). Der österreichische Kulturhistoriker Friedrich Heer schrieb noch 1982: »Andreas Hofer arbeitet heute als Heiliger und ›heiliger Narr‹, als Landespatron und als ›abergläubischer Querkopf‹ in alten, jungen und mittleren Tirolern.« (Pizzinini 2008: 330) Er muss als Modell für tugendhaftes Leben herhalten, teils auch als Nothelfer − Charakteristika, welche eigentlich typisch für eine Heilige bzw. einen Heiligen sind (Belting 21991: 23). Diese Auffassung war noch in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts dermaßen präsent, dass Joseph Georg Oberkofler in seinem Text Südtirol (1962) bei einer Aufzählung »berühmter« Bewohner dieses Landes (es sind nur Männer) explizit zwischen »Heiligen und Helden« unterschied, worauf eine hagiographische Beschreibung folgt: »Andreas Hofer opferte sein Leben für die Heimat, die er verteidigte.« (Feichtinger 1984: 450f.) Hier wird ein alter Topos gebraucht, der bereits in der Lyrik von 1809 (Georg Hofer) begegnet: »O Gott! Erhalte unsern Treuen,/Dessen Ruhm wir Lorber streuen,/Stäts bewaffnet mit Geduld;/Daß er kann der Kirche nützen,/Unser Vaterland beschützen/Durch Mariä Gnad und Huld.« (Ebd.: 30) Dass es sich hier wahrscheinlich um ein Gedicht über den lebenden Hofer handelt, sei betont, da dieser auch nach seinem Tod für den Schutz des »Vaterlandes« zuständig blieb. Die aufgeklärt-bürgerliche »Gesellschaft von Freunden der Geschichte« lastete 1818 der Bevölkerung Tirols an, Hofer als »Dalai Lama«, »Ab-

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gott« oder »Heiligen« zu verehren (Gesellschaft 1818: 61). Diese Begriffe wurden somit von Außenstehenden verwendet, welche die Ereignisse in Tirol von einem idealisierenden und romantisierenden Standpunkt aus beobachteten. In der Folge wurden in der Rezeption, vornehmlich jener »von außen«, öfters Attribute des Heiligenkults auf Hofer übertragen, der als Märtyrer (vgl. Oberhofer 2011), abwehrender und segnender Schutzgeist, aber auch als gottgesandtes Wesen betrachtet wurde. Johann Kaspar von Wörndle legte 1816 einem »Tyroller« die Worte in den Mund: »Deinen Seegen Hofer – deinen Seegen!« Und der Angerufene antwortet: »Ich seegne Euch, aus Fülle meines Herzens!« (Feichtinger 1984: 58) Hofer wurde somit zum Beschützer stilisiert. In den zeitgenössischen Quellen lässt sich ein derartiger Segensgestus des lebenden Hofer nicht nachweisen. Nach dessen eigener Einschätzung waren vielmehr himmlische Mächte für die Segnung zuständig; dies geht aus seinen Briefen und Schreiben eindeutig hervor (Oberhofer 2011: 102ff.). Allein die ihm angedichtete Rolle als Fürbitter hatte er zum Teil selbst verschuldet, da er in seinem letzten Brief aus Mantua, geschrieben wenige Stunden vor seinem Tod, versprochen hatte: »[I]ch werde Piden Bei gott, fir sie alle.« (Oberhofer 2008: 613) Der Sandwirt wurde folglich als Fürbitter wahrgenommen, der von einem nicht näher bestimmten Jenseits aus weitersegnete: »Und Hofer schwebt im Haingetön/Verklärt auf seinen Felsenhöh’n!/Er hebt mit Thränen seine Hand,/Um dich zu segnen, Vaterland!« (Beda Weber 1824 zitiert nach Feichtinger 1984: 67) Hier wird angedeutet, dass Hofer nicht in einem entfernten himmlischen Paradies weile, sondern als Schutzinstanz in den Tiroler Bergen präsent sei. Für dieses Konzept ist der Glaube an ein Weiterleben der Seele nach dem körperlichen Tod Voraussetzung. Über die reine Ahnenverehrung geht ein derartiger Kult insofern hinaus, als die Hofer-Ikone in gewisser Weise auch immer »Gnadenbild« war und ist; die »öffentlichen« Bilder des Sandwirts sind und waren Stätte der Huldigung durch eine »Glaubensgemeinschaft«. Allerdings ist – wie bereits erwähnt – der Sandwirt jeweils authentisch dargestellt, weder als in die Antike projiziertes Idealbild noch als aus dem Jenseits wirkende Heiligenfigur. Die Statuen und Gemälde wirken lebendig, erdverbunden, präsent, an Ort und Stelle Grab bzw. Wirkungsstätte markierend. Es fehlt ihnen der Nimbus des Überirdischen und Heiligen. Dementsprechend sollten sie wohl nicht zum Gebet (adoratio) einladen – weder für, noch zu Hofer. Hierin liegt der wesentliche Unterschied zur christlichen Heiligenverehrung: Die Hofer-Bilder bzw. -Ikonen wirken keine Wunder, für welche die Betenden Dank schuldig wären. Die Gedenkveranstaltungen dienen niemals (explizit) der Danksagung, sondern vielmehr der Erhaltung und Fortschreibung des Kults bzw. der Erinnerung an sich. Der in den Himmel aufgefahrene oder besser: in die Berge entrückte Sandwirt fungiert – abseits der literarischen Überhöhung – vermutlich nicht als

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Nothelfer. Der Glaube an ein überirdisches Wirken des Sandwirts kann allerdings weder bestätigt noch widerlegt werden.4

I KONOKL ASMUS Die materiell existierende Ikone, die den Mythos bzw. das Konzept Hofer repräsentiert, kann in Extremfällen Opfer physischer Gewalt werden. Hans Belting bezeichnet Bildersturm als »Bilderkult unter umgekehrten Vorzeichen«, als Verweigerung des obrigkeitlich verordneten Kults, welcher zum Angriff auf die Bilder im öffentlichen Raum führe (Belting 2 1991: 57; 2005: 27). Am 24. Mai 1961 wurde das Denkmal für Andreas Hofer in Mantua gesprengt, am 1. Oktober 1961 jenes am Bergisel, am 26. September 1979 schließlich jenes in Meran. Die Attentate waren wohl eine Form der italienisch-nationalistischen Vergeltung als Reaktion auf die Serie von Sprengstoffanschlägen in Südtirol. Die selbstdefinierten Südtiroler »Freiheitskämpfer« hatten damals Andreas Hofer als Vorbild und »historische Leitfigur« vor Augen (Steinlechner 2000: 60). Wenn Siegfried Steinlechner darauf hinweist, die Attentäter hätten den Mythos um Hofers Person durch die Entfernung der Zeichen und Symbole zerstören wollen (ebd.: 94), so ist eine derartige Damnatio memoriae wohl von der Hand zu weisen. Es ging nicht um die Zerstörung des Mythos, sondern von Heiligtümern, in welchen sich der Mythos materialisiert und manifestiert. Vandalismus ist hierbei der »Versuch, auf sich aufmerksam zu machen, indem man die Tabus einer Gesellschaft verletzt. Aber die tiefere Bedeutung liegt darin, dass ein Attentäter der Versuchung nachgibt, Objekte zu beschädigen, die als solche noch einen öffentlichen Ort besitzen und kultisch konnotiert sind.« (Belting 2005: 15)

Ein gänzlich anderer Hintergrund bildete den Ausgangspunkt für einen weiteren Angriff auf das Bergisel-Denkmal: Am 27. Februar 1984 fand sich am Sockel die aufgesprayte Schrift: »DANIEL DÜSENTRIEB – Hofer was a NAZI« (Abb. in Steinlechner 2000: 112). Wird das öffentliche Bild bzw. ein öffentlicher Erinnerungsort verfremdet, dient dies in erster Linie der Bedeutungssteigerung und einer Bündelung der Aufmerksamkeit, was 4 | Im Archiv der Diözese Trient (Archivio Diocesano Tridentino) – die orographisch linke Seite des Passeiertales und somit auch St. Leonhard in Passeier und der Sandhof gehörten bis zur Errichtung der Diözese Bozen-Brixen im Jahr 1964 der Diözese Trient an – gibt es keine Dokumente oder Akten, die den Versuch bestätigen, einen Seligsprechungsprozess Andreas Hofers in Gang zu setzen. Freundliche Mitteilung von Don Livio Sparapani und Dott. Claudio Andreolli (24. August 2010). Eine mögliche Kanonisierung Hofers wurde in der Kunst allerdings durchaus thematisiert, etwa durch Johannes J. Musolf (Halbritter 2009: 235).

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beispielsweise die Verhüllungsaktionen des Künstlerduos Christo und Jeanne-Claude vor Augen führen. Die Ikone Hofer wurde nicht nur auf den von Roland Halbritter gesammelten Postkarten und in der Werbung, sondern eben auch durch vandalische Akte verfremdet. Mitunter haben sogar der mittlerweile kanonisierten Kunst angehörende Künstler (wieder sind es ausschließlich Männer) die Hofer-Figur (teilweise) unkenntlich gemacht, so etwa Arnulf Rainer (Andreas Hofer 1989) oder Hannes Weinberger (Sandwirth Andreas Hofer, Oberkommandant der Tyroler Insurgenten in Tyrol 1809 2009). Max Weiler hat Hofer ohne den ihn eindeutig charakterisierenden Vollbart dargestellt (Innsbrucks Geschichte 1954). Wird die Figur hingegen »enthüllt«, d.h. als nackter Mann dargestellt (Norbert Brunner, À Hofer Brunner 2007), erzielt das einen anderen Effekt: die Vermenschlichung des »Helden« (vgl. Abb. in Meighörner 2009: 39, 42, 45, 47).

H OFER ALS I DOL Joseph Freiherr von Hormayr, im Jahr 1809 kaiserlicher Intendant in Tirol, sah Hofer rückblickend auf die Ereignisse von 1809 als seinen »Gehilfen«, als »Mittler« und »Werkzeug« für seine Absichten. Er schrieb in seinen Memoiren, Hofer hätte an den »großen Erfolgen des Jahres 1809 […] eigentlich keinen thätigern und unmittelbarer eingreifenden Antheil […], als die Bundeslade bey den Israeliten, und der hölzerne Antonius, Generalissimus der Portugiesen«, gehabt (Hormayr 1817: 5). Damit weist er Hofer Fetischcharakter zu, indem er ihn mit zwei Objekten vergleicht, von denen laut Überlieferung eine wirkende Kraft ausging. Weiter schrieb er: »Darum erkohr ihn Hormayr vor Allen, darum suchte er aus ihm täglich mehr einen furchtbaren Popanz für den Feind, einen Götzen für seine Landsleute zu bilden, darum vergötterte er ihn planmäßig immer mehr.« (Ebd.: 59) Gottfried Wilhelm Becker gab 1841 dieses Zitat in abgewandelter Form wieder, indem er die Bezeichnung Götze durch Idol ersetzte (Becker 1841: 147f.). Das Konzept des Idols in Hinblick auf Hofer begegnet ein zweites Mal im Reisebericht Carl Friedrich von Rumohrs, der über Innsbruck schrieb, »wo eben damals Andreas Hofer mehr noch das Idol, als der Führer des Aufstandes war« (Rumohr 1832: 150). Diese Begrifflichkeiten stehen mit dem Fetischkonzept, wie es die Portugiesen im 15. Jahrhundert entwickelten, in enger Verbindung (Pietz 1987: 36f.), entsprechen aber den sprachlichen Gepflogenheiten des beginnenden 19. Jahrhunderts: Nach der Definition in Johann Heinrich Zedlers Universallexicon (entstanden 1732-1754) entspricht die »Idololatrie« dem Götzendienst, der »Abgötterey«, dem Erweisen göttlicher Ehre einem Bild oder einer Statue gegenüber. Der Begriff des Idols ist bis heute negativ behaftet: Hans Belting bezeichnet ihn als »zutiefst religiös aufgeladen«, er meine Trugbilder, Phantome und innere, flüchtige Bilder; der Unterschied zwischen Ikone und Idol liege darin, dass Idole »leere Bilder« seien, also »Bilder ohne Referenz und ohne symbolische Kraft« (Belting 2005: 14f.).

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Hormayr jedenfalls erzielte – nach eigener Aussage – durch die Konstruktion des Götzen Hofer eines: »[D]ie Summe des Bösen ist wahrlich nicht gering, die dadurch abgewendet worden ist!« (Hormayr 1817: 59) Der von Hormayr in obigem Zitat verwendete Begriff »Popánz« oder »Pópanz« – je nach Aussprache – bezeichnet an und für sich eine vermummte und (bevorzugt Kindern) Schrecken einjagende Gestalt, ein Trug-, Schreck- oder Scheinbild (Grimm 1889: Sp. 1999). Er weist auf das frühe Erkennen und den gezielten Einsatz Hofers als Disziplinierungsinstanz hin. Die Begriffe »Popanz« und »Puppe« sind – auch in der Bedeutung von »Vogelscheuche« – eng verwandt: Im Grimm’schen Wörterbuch ist die Rede von »ein[em] aus lumpen zusammengeflickte[n] und mit gehacktem stroh ausgestopfte[n] popanz« (ebd.). P. Josef Malsiner versuchte 1809, Hofers Rolle für den Aufstand wie folgt zu charakterisieren: »Er war […] blos Figurant, die Puppe, an der die Giovanelli, Rinhart, die Prälaten, die Rebellen-Chefs und Häupter der Mitverschwornen nach Belieben zogen, um ihr blutiges Marionettenspiel sicher hinter derselben vollenden zu können.« (Malsiner 1809: 32f. Anm. ff) In der weiteren Hofer-Rezeption wurde das Motiv des »Popanz«, der Puppe oder Marionette, noch öfter aufgegriffen: Der Dramatiker Franz Kranewitter rügte sich selbst 1933 dafür, über Hofer zu schreiben: »Aber so was tut man doch nicht und stört die biederen Kreise, solange der blutleere Popanz, mit dem Sägemehl der Phrase gefüllt, wie sie ihn zweckbewußt geschaffen, zum dynastischen Kundenfang ausreicht.« (Feichtinger 1984: 242f.) Josef Schmid sah 1968 das Land Tirol (personifiziert durch Hofer!) als Marionette der »Herrschaftsideologie«. Andreas Hofer sei »heute von Partei und Kirche hemmungslos zum tirolischen Über-Ich aufgebläht« und »die Personifizierung der offiziellen Herrschaftsideologie und in diesem Sinne auch Objekt derselben« (ebd.: 452f.). Der Begriff »Puppe« in Hinblick auf Hofer konnte aber auch durchaus wörtlich gemeint sein: Für die Irredenta im Trentino wurde der Sandwirt zum Symbol alles politisch Abzulehnenden. Ihn traf im Jahr 1909 der ganze italienisch-nationale Protest, als am Denkmal für Dante Alighieri in Trient eine Andreas-Hofer-Puppe »gehängt« wurde (Pizzinini 2008: 324).

D IE R EKONKRE TISIERUNG DES K ONZEP TS Die Seele Andreas Hofers ist unsterblich und lebt – dem christlichen Jenseitsglauben entsprechend – weiter. »Helden« sind in den Augen ihrer Anhängerinnen und Anhänger prinzipiell unsterblich, das Konzept Hofer aber ist ohnehin kanonisiert und deshalb unauslöschlich. Es hat sich bereits öfter in einem Gegenstand rematerialisiert, welcher somit zu einem wirklichen ertast- und berührbaren Fetisch geworden ist: Die berühmt-berüchtigte eiserne Dornenkrone, welche den »Schmerz des Tiroler Volkes über die gewaltsame Trennung des Landes« symbolisiert (Steinlechner 2000: 91), wurde erstmals 1959 aus Anlass des 150-Jahr-Gedenkens an

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1809 beim Festumzug in Innsbruck mitgetragen. Eine zweite Krone, angefertigt für den Umzug 1984, lag anschließend zehn Jahre im Bauhof des Zeughauses (des die kulturhistorischen Sammlungen beherbergenden Teils des Tiroler Landesmuseums Ferdinandeum), bevor sie »wiederentdeckt« wurde. Die Aufstellung vor der Innsbrucker Hofburg scheiterte durch den Widerstand des italienischen Außenministeriums und der Südtiroler Volkspartei. Erst 1998 fand die Krone auf einem Privatgrundstück ihren letzten und endgültigen Standort und wurde dort eingeweiht (!) (ebd.: 117f.). Die mittlerweile drei Kronen (die jüngste wurde für den »Landesfestumzug« 2009 gefertigt) sind quasisakrale Gegenstände mit hohem symbolischem Gehalt. Sie können im Rahmen einer »Prozession« wie eine Heiligenfigur oder ein Reliquiar durch den öffentlichen Raum getragen und als Vergegenständlichung des Konzepts Hofer verehrt werden. In den Augen vieler wirken die Kronen heute beängstigend und anachronistisch, weshalb das Exemplar des »Landesfestumzuges« 2009 mit dem Symbol der Rose als Zeichen des Friedens und der Versöhnung »entschärft« wurde. Siegfried Steinlechner bezeichnet den Kult um die Dornenkrone als »Teil einer Apotheose des Kampfes der Tiroler gegen Bayern und Franzosen und damit ebenfalls einer Apotheose Andreas Hofers« (ebd.: 90f.).5 Die künstlerische Aufarbeitung von »Anno neun« bietet darüber hinaus mehrere Möglichkeiten an, dass nicht nur das Konzept, sondern auch der Mensch Hofer bei Bedarf wieder lebendig werden und sich rematerialisieren kann. Das Motiv der körperlichen Auferstehung zieht sich wie ein roter Faden durch den historiographischen und literarischen Diskurs; die Meinung, Hofer wäre gewissermaßen ein »Untoter«, begleitet die gesamte Rezeptionsgeschichte. Bereits unmittelbar nach der Hinrichtung wurde das Hinscheiden angezweifelt: Während der Totenmesse in Mantua soll das auf dem Leichnam liegende weiße Tuch in eine »sichtbare zitternde Bewegung« geraten sein (Rapp 1852: 804). Der Tiroler Germanist Ignaz Vinzenz Zingerle schrieb Mitte des 19. Jahrhunderts: »Und längst, nachdem der Edle in Mantua sein Leben verloren, glaubte das Volk, daß Hofer nicht erschossen, sondern nur entrückt worden sei, zur Stunde der Gefahr erscheinen werde, um sein Land vor den Wälschen zu schützen.« (Hörmann et al. 1880: 98) Die Entrückung bzw. Apotheose symbolisiert den Übergang in eine jenseitige Welt, aus der Hofer jedoch zurückkehren könne. In der Tradition älterer Heldensagen wird der Sandwirt zum Deus ex Machina und »Nothelfer«, ob er nun im christlichen Himmel oder – wie Kaiser Friedrich Barbarossa im Kyffhäuser – im Inneren eines Berges die Zeit überbrückt (Oberhofer 2009: 385f.). 5 | Steinlechner setzt implizit den Tiroler Aufstand von 1809 mit Andreas Hofer gleich: Letzterer wäre demnach nicht nur Symbol für das Kollektiv der sich wehrenden Bevölkerung, sondern des Kampfes an sich.

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Eine Ode von Alois Weißenbach (vorgetragen erstmals 1816) beschwört die Wiederauferstehung von Hofers Schatten aus dem Grab im Rahmen eines Triumphzuges (Feichtinger 1984: 60ff.). Bemerkenswert sind folgende Gedichtzeilen von Rudolf Greinz (1915): »Der Hofer geht um!/Der Hofer, der ist auferwacht,/Der Sandwirt von Passeier,/Der ziacht aus seiner Totentruch/Gögn die walschen Schreier.« (Pizzinini 2008: 325) Der Lyriker, Priester und Heimatforscher Josef Thaler schließlich lässt Hofer ähnlich wie Jesus Christus selbst auferstehen (1867): »Doch nein! – er mußte zum Tode geh’n,/Denn herrlicher sollt’ er aufersteh’n!« (Feichtinger 1984: 164) In diesen Texten spiegelt sich der Gedanke des »Wiederkommens« durch Auferstehung aus eigener Kraft. In einem Gedicht Peter Paul Rainers (1921) hingegen bedarf es eines Gebetes (zu Gott, nicht zu Hofer), um die Auferstehung herbeizuführen: »Gott! Weck’ ihn auf,/Daß er uns ’s Land erhaltet! […] Geh, Hofer, wach’ vom Schlafen auf!/Vertreib die Walschen wieder!« Das Trachten hat schließlich Erfolg und führt zur Auferstehung: »Da rüttelt’s in dem Felsengrab/Und hebt den Stein, den großen,/Der Hofer suecht die Baner z’samm,/Den Sabl, den Huet, die Hosen –/Mit weiß’, schneeweißem, wallendem Bart/So ist er auferstanden …« (Feichtinger 1984: 359f.) Die Parallelen zur Auferstehung Christi sind auch hier offensichtlich (außerdem bieten die Verse eine Zusammenstellung wichtiger tradierter Attribute Hofers: Säbel, Hut, Lederhose und Bart). Angesichts der Fülle an Wiedergängerszenarien ist es nicht verwunderlich, dass Thomas Flora 1971 Hofer als Vampir und Zombie darstellte. Als »Nichttoter« beißt er alle Tirolerinnen und Tiroler, die sich 2084 – ebenfalls als »Nichttote« – zu einem gemeinsamen Tirol wiedervereinigen (Steinlechner 2000: 167). Dieser Text könnte (auch) als Persiflage auf das Erwarten einer Wiederkunft Hofers im Sinn eines »Jüngsten Tages« und somit der religiösen Überhöhung dieser »Heilserwartung« gesehen werden. Abgesehen von der körperlichen Wiedergeburt gibt es eine weitere Möglichkeit der Rematerialisierung des Konzepts Hofer, nämlich in der Form der Übertragung auf andere Personen. Dass Denken, Fühlen und Streben eines Menschen auf dessen natürliche Nachkommen übergehen, ist ein gängiger schriftstellerischer Topos. Im Fall des Sandwirts, der als »Nationalheld« weniger für seine Kinder und Kindeskinder als für alle Tirolerinnen und Tiroler als Vorbild fungieren sollte, sahen sich aber bald auch politische Vertreter als »Nachlassverwalter«. Siegfried Steinlechner liefert die passende Formulierung, wenn er schreibt, der Mythos um 1809 sei jahrzehntelang »instrumentalisiert und erweitert, ja in der Person Eduard Wallnöfers gar teilweise personifiziert« worden (ebd.: 106). Als am 25. Mai 2010 der Südtiroler Altlandeshauptmann Silvius Magnago starb, wurde ein Online-Kondolenzbuch eingerichtet, in dem sich unter anderem folgende Einträge finden: »Der größte Südtiroler nach Andreas Hofer ist nicht mehr unter uns. Ich bin sehr traurig.« Und: »[E]in

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Land trauert um ihren [sic!] größten Kämpfer nach Andreas Hofer!«6 Ein Objekt der Verehrung (Magnago) wird hier an einem stärkeren Objekt, einem stärkeren Fetisch vielleicht (Hofer), gemessen. Die Südtiroler Tageszeitung Dolomiten schrieb am 20. Februar 2009, Silvius Magnago wäre »hofergleich […] eine der wenigen Ikonen der Tiroler Geschichte geworden« (Parteli 2010: 17), und titelte in derselben Ausgabe: »Der Hofer von heute ist für viele Silvius Magnago.« Aus diesem Vergleich wird die Stärke des archaischen Fetischs Hofer augenscheinlich, welcher nach wie vor mehr Kraft zu besitzen scheint als ein moderner Fetisch Magnago, der im Entstehen begriffen sein könnte. Die Zerstörung eines Mythos kann zwar durch die Ersetzung durch einen neuen Mythos bzw. durch die Konstruktion eines Gegenmythos7 versucht werden, wobei die Verehrung des Alten, Archaischen Voraussetzung für die Popularisierung des Neuen ist (Scheichl 1996: 153). Wenn allerdings in den letzten Jahrzehnten vermehrt versucht wurde, Michael Gaismair8 an die Stelle Andreas Hofers zu setzen, so ist dies nicht wirklich gelungen. Für jede Variante der »Wiedergeburt« ist – zusammenfassend – notwendig, dass Hofer prinzipiell als unsterblich akzeptiert wird. Sein Geist kann erst dann wirklich Ruhe finden, wenn Tirol von jeder Art der »Fremdherrschaft« befreit sein wird. Er bleibt auf jeden Fall abrufbereit; 6 | Kondolenzbuch Silvius Magnago: http://www.kondolenzbuch-online.de/cgibin/2010/books/000262.pl (besucht am 27.05.2010). 7 | Zum Begriff des Gegenmythos vgl. z.B. Speth (2000). 8 | Michael Gaismair (1490?-1532), Sohn eines Bauern und Bergwerksunternehmers und studierter Jurist, schloss sich im Zuge der Bauernrevolte im Mai 1525 den Aufständischen seiner näheren Heimat im heutigen Südtirol an. Er beteiligte sich an Plünderungen, aber auch an der Formulierung von Beschwerden. In seiner »Landesordnung« propagierte Gaismair ein alternatives Modell zur staatlichen und gesellschaftlichen Organisation in Tirol, welches etwa die komplette Ausschaltung der Geistlichkeit als weltliche Macht, aber auch den Verzicht auf alle Abgaben an adlige und klerikale Feudalherren sowie auf Steuern und Kriegsdienste forderte. Die politische Gewalt sollte nur noch auf zwei Säulen ruhen: dem Landesfürsten auf der einen und den bäuerlichen Dorfgemeinschaften und freien Städten auf der anderen Seite (Höller 2011: 100f.). 1526 verfasste Gaismair im Schweizer Exil eine zweite Tiroler Landesordnung, die gegenüber dem ersten Entwurf weitaus radikaler ausfiel: Er wollte den südlichen Landesteil Tirols in eine »freie Bauernrepublik« umwandeln, in eine Gesellschaft von Gleichen ohne Standesunterschiede (ebd.: 144f.). Gaismair wurde von Friedrich Engels als Vorkämpfer eines frühen Sozialismus gefeiert, die marxistische Forschung führte diesen Gedanken weiter. Ralf Höller aber sieht ihn weniger als Revolutionär denn als politischen Reformer; auch ordnet der Biograph Gaismairs Programm eher einem frühkapitalistischen als einem frühsozialistischen Denken zu (ebd.: 102). Sein Modell einer egalitären und agrarkommunistischen Gesellschaft sei demnach auch nicht als frühe Form der Demokratie, sondern als »autoritäre Regierungsform« zu bezeichnen (ebd.: 145).

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das Konzept Hofer kann sich jederzeit neu materialisieren – und im ungünstigen Fall auch Schaden anrichten.

H OFER ALS » BÖSER G EIST« Der Fetisch hat – zumindest im Verständnis des 18. Jahrhunderts – auch eine negative Seite und sogar todbringende Macht (Pietz 1987: 43). Die dunkle Seite Andreas Hofers erklärte sich für einen bayerischen Autor bereits früh durch die unheimliche Zeugung: »Es zitterte die Erde, der Himmel trauerte, Als du den Stoff zum Leben empfingst. Nacht war’s, als dich die Mutter zeugte, Schwarz war die Nacht, wie keine war. Ein Rudel Höllengeister tanzte, Die Furien freuten wüthend sich Und schwangen hoch des Mordes Fackeln; Der Raben scheusliches Geschrey Ließ sich voll Schaur im Walde hören; […] Er ist gebohren zum Verderben Des Vaterlands. – Er ist des Volkes Fluch!« (Pizzinini 2008: 288)

Wenngleich Propaganda erinnert das Gedicht an das Konzept des Golem oder anderer, durch »dunkle« Mächte gezeugter bzw. belebter Wesen, welche in enger Beziehung zum Fetisch gesehen werden können. Gerade im 19. Jahrhundert war die Golem-Legende in Literatenkreisen populär (Mayer 1975). Die »dunkle« Seite Andreas Hofers manifestierte sich nach dessen Tod aber auch als unruhige Seele, als »böser Geist«, dem man zutraute, die Welt »zugrund« zu richten (Oberhofer 2009: 384). Hofers »Rebellengeist« treibt etwa in einem Gedicht von Arthur von Wallpach (1902) sein bedrohliches Unwesen: »Doch Hofers Geist, den lodernden Empörer,/ Den zwingt ihr nicht, der schreitet frei und froh/Durchs Land Tirol, ein ewiger Ruhestörer,/Wie Hofer einst: ›Derzeit unwissend wo!‹« (Feichtinger 1984: 255) Dass die Erinnerung an den Tiroler Aufstand von 1809 gerade für die Bevölkerung Tirols nicht oder nur zum Teil positiv besetzt war, ist heute ein offenes Geheimnis (vgl. Schennach 2009: 614-617). Ludwig Steub etwa schrieb in Drei Sommer in Tirol (1846): »Die Stunden der Begeisterung sind vergangen – man berechnet jetzt nur die Erfolge. […] [W]ir wollen aber […] keines von den vielen bittern Worten wiederholen, die wir hörten, wenn seines [Hofers] Namens gedacht wurde.« (Steub 1846: 351f.)

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S TÄNDIGE R E AK TIVIERUNG DES M Y THOS – KONTINUIERLICHES W IRKEN DES F E TISCHS Der Fetisch ist an ein einmaliges historisches Ereignis geknüpft, welches ihn erst zum Fetisch macht. Der Effekt dieses Ereignisses kann sich jederzeit wiederholen, der Fetisch kann seine Wirksamkeit wieder und wieder unter Beweis stellen (Pietz 1985: 12). Die Erwartung der Wiederkehr Andreas Hofers bei Bedarf ist somit durchaus verständlich. Um die Wiederholung der Wirksamkeit, im konkreten Fall die »Verteidigung« des Landes und seine Befreiung von fremden Einflüssen unter der Führung eines dazu berufenen Menschen herbeizuführen, beschränken sich Hofers Anhänger allerdings nicht auf das Abwarten, sondern durch die Ritualisierung und Traditionsbildung wird das Konzept Hofer regelmäßig neu be- und erlebt. Der Mythos bleibt in Ritual und Kult lebendig, wobei der Begriff Kult im engeren Sinn ein Gedächtnisfest mit Gedächtnisübungen am Gedächtnisbild, die Akklamation des Bildes nach einem vorgeschriebenen Programm und an einem festgelegten Tag bezeichnet (Belting 21991: 24). Prinzipiell gewinnt Hofers Mythos durch die kollektive Verehrung seine Wirksamkeit. Der Fetisch hingegen wirkt durch priesterliches Handeln, durch innewohnende göttliche oder dämonische Kraft oder etwa die einem bestimmten Material anhaftende natürliche »Magie« (Pietz 1987: 35). Während der Fetisch zudem ohne saisonale Höhepunkte funktioniert, erlebt der Mythos in Zeiten des Gedenkens und des Rituals erhöhte Aufmerksamkeit und kann unmittelbar danach wieder in die Beinahe-Belanglosigkeit absinken. Als Beispiele seien nur die Hofer- bzw. 1809-Gedenkfeierlichkeiten genannt: Anton Pelinka stellte 1984 fest, dass »der Mythos um die Figur Hofers in diesen Tagen wieder auflebt« (Steinlechner 2000: 119). Die folgenden 20 Jahre blieb es relativ ruhig bis zu den »Vorwehen« von 2009 und dem Gedenkjahr selbst. Im Augenblick (2011) befinden wir uns wieder in einer Phase des – wenn auch aufarbeitenden und reflektierenden – Schweigens. Viele Tirolerinnen und Tiroler pflegen, im Mythos Hofer sich selbst zu sehen und sich dadurch geradezu selber zu verehren (die Definition Hofers als »tirolische[s] Über-Ich« durch Josef Schmid [s.o.] ist insofern von besonderem Interesse). Sigurd Paul Scheichl sprach 1996 von »Selbstvergafftheit« und einer »Selbstbespiegelung des konservativen Tirol« (Scheichl 1996: 151f.) und bezieht sich auf das Gedenkjahr 1984, in welchem das Ritual der Erinnerung an 1809 einmal mehr groß begangen wurde. Der Mythos Hofer konstituiert sich somit durch die Verehrung und wird zugleich zum Spiegelbild seiner Anhängerinnen und Anhänger, zum Abbild der Gesellschaft, die ihn kultiviert. Damit sind folglich jene, die sich an der Verehrung nicht beteiligen, ausgeschlossen, und können sich mit dem Mythos nicht mehr identifizieren, sie bleiben verständnislos außen vor. Wird diese Gruppe größer, verliert der Mythos – oder Fetisch – zunehmend seine Kraft. Bereits 1909 gab es Kritik an den pompösen

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Zeremonien der Erinnerung, wie auch 1959 wurde diese aber so gut wie möglich unter den Teppich gekehrt. 1984 gelang es nicht mehr, den Widerstand zu übertünchen (Scheichl 1996: 147f., 153). In Tirol gibt es heute Menschen, welche den Mythos verehren, sich ihm verweigern oder ihn zerstören. Das Wort Mythos kann in dieser Aufstellung durchaus durch Fetisch ersetzt werden.

D AS E NDE DES M Y THOS Der Mensch ist prinzipiell unfähig, vollständig zwischen Objekt und Mythos zu unterscheiden. Entmythologisiert er ein Objekt, zerstört er es damit (Steinlechner 2000: 25f.). Versuchen wir beispielsweise, Andreas Hofers mystisch-mythische Aura als nachträgliche Zutat zum historischen Kern der »Geschichte« zu entlarven, so kann dies dem Mythos Schaden zufügen. Vor allem durch Infragestellung und Kritik nämlich hören Mythen auf zu existieren (ebd.: 106), aber auch etwa durch Langeweile oder gar eine Form der Scham (Scheichl 1996: 139), die bei der Beschäftigung mit ihnen aufgrund geänderter Rahmenbedingungen und Lebensumstände aufkommen kann. Die Hofer-Verehrung wurde tatsächlich seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts vermehrt tradierter Klischees entkleidet und in Frage gestellt. In politischer Hinsicht verlor der Mythos von Hofer als Vorkämpfer für die Landeseinheit mit der Ausarbeitung des SüdtirolPaketes und des Autonomiestatuts von 1972 in den Augen weiter Teile der Bevölkerung an Bedeutung; rund um die Feiern des Gedenkjahres 1984 kam dies vielfach zum Ausdruck (Steinlechner 2000: 60). Ist der kraftvolle Fetisch für die Mitglieder der »Glaubensgemeinschaft« noch tabu, verliert der entkräftete Fetisch diese Eigenschaft und wird zunehmend fragil. N.C. Kaser griff 1981 die Heldenverehrung (in Südtirol) offen an: »Es ist ein typisches Faktum in der Südtiroler Literatur – und das macht sie unlesbar und unmöglich –, daß immer wieder mit der nun genügend glorifizierten Andreas-Hofer-Zeit die heutige Lage kaschiert wird. Maderneid [eine Erzählung von Hubert Mumelter (1951)] ist das Paradebeispiel. Flucht in die Vergangenheit paart sich hier mit politischer Aussage zu einem reinrassig nationalistischen Monstrum. Dazu kommt noch ein Schuß Aufgeklärtheit, der eigentlich nur verschleiern soll, was man sich nicht zu sagen getraut. […] Maderneid ist der Märtyrerroman eines leidenden Bergvolkes. Maderneid ist eine Schweinerei.« (Feichtinger 1984: 426)

Freilich stellt sich die Frage nach der Reichweite eines derartigen Textes. Die Zerstörung des Mythos hängt nämlich von der Rezeption seiner Infragestellung ab. Hat das Konzept Andreas Hofer eine Zukunft? Sigurd Paul Scheichl stellte sich und den Leserinnen und Lesern 1996 die Frage, ob denn der Andreas-Hofer-Mythos in einer Zeit des europäischen Zusammenwach-

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sens nicht eigentlich verschwinden müsste. Und: »Wird den Jubiläumsfeiern der Jahre 1909, 1934, 1959 und 1984 im Jahre 2009 noch eine folgen?« (Scheichl 1996: 154) 1984 blickten Wissenschaft, Kunst, Publizistik und insgeheim vielleicht auch die Politik skeptisch in die Zukunft des Fetischs Hofer. Dieser hat aber im Gedenkjahr 2009 ein kräftiges Lebenszeichen von sich gegeben und – umgekehrt – einen neuen, bedeutenden Energieimpuls erhalten.

F A ZIT Andreas Hofer wird durch ein historisches Ereignis, d.i. die Tiroler »Landesverteidigung« im Jahr 1809, zum Fetisch. Wie der Mythos nach Jan Assmann als »die zur fundierenden Geschichte verdichtete Vergangenheit« zu betrachten ist (Assmann 1992: 78), werden Hofers Überreste – sowohl die körperlichen als auch die Berührungsreliquien und Devotionalien, aber auch posthume Rematerialisierungen wie beispielsweise die Dornenkronen, Schützentrachten, Abzeichen etc. – zur materiellen Verdichtung des historischen Ereignisses. Daneben bleiben die Marke Andreas Hofer, der Name, Kategorien, die ebenfalls zur verdichteten Vergangenheit gehören und gemeinsam mit dem sich stets wandelnden und erneuernden Klischee im Mythos einzementiert sind. Einen Sonderstatus allerdings nehmen die Bilder (im Sinn von imagines) ein. Sie scheinen nicht in den Fetischdiskurs zu passen, da sie im konkreten Fall an und für sich nicht beseelt sind, sondern allein auf Dahinterliegendes verweisen wollen und sollen. Hofer kann – was die Definition des Fetischs ausschließt – also sehr wohl auch Idol sein, figurativen Charakter haben und auf Kräfte verweisen, welche weniger seinem Abbild als vielmehr der Tiroler Gesellschaft innewohnen: Als Beispiele seien nur die Fähigkeit zur Nationsbildung oder zur Abwendung fremder Einflüsse genannt. Der Begriff der Ikone stellt sich in dieser Hinsicht als besonders problematisch heraus, da er im ursprünglichen Sinn tatsächlich ein »bewohntes« Bild meint. Obwohl der literarische Diskurs öfter versucht hat, die Hofer-Statuen als bewohnte imagines zu klassifizieren, wurden diese Beschreibungen nie in den Kanon des allgemeinen und populären »Tirolertums« aufgenommen. Die Abbildungen des »Helden« sind für die Bevölkerung niemals zu Objekten für die Verehrung oder gar Anbetung geworden, vor allem deshalb, da sie von jeweils herrschenden Autoritäten gemacht bzw. stilisiert sind; Letzteres gilt auch für die Erinnerungsorte, welche zwar regelmäßig für traditionalistische und politische Inszenierungen geeignete Kulissen bieten, für den Großteil der Bevölkerung jedoch kaum von kultischer Bedeutung sind. Auch die Reliquien als tatsächliche Überreste des Körpers sind keine Objekte der Verehrung, obwohl sie sich durch ihre Materialität dafür anbieten. Weder für den Mythos noch für das Konzept Hofer sind sie von

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besonderer Relevanz, wenngleich in der politischen Diskussion die Idee einer translatio, der Überführung der sterblichen Überreste in ihre »Heimat«, hin und wieder kurz aufflammt. Aus dem Fetischdiskurs um Hofer und 1809 können sie – im Gegensatz zu anderen Relikten wie beispielsweise den genannten Berührungsreliquien und Devotionalien – ausgeklammert werden, da sogar am Ort des Grabmals nicht die eigentliche Reliquie, sondern die bildliche Darstellung des »Helden« im Vordergrund steht. Um zur Ausgangsfrage zurückzukehren. Wir hatten uns das Ziel gesetzt, den Fetischbegriff hinsichtlich seines Werts für die Untersuchung des fetischähnlichen Konzepts Andreas Hofer zu prüfen. Nun: Es scheint mir naheliegend, dass es Sinn mache, den Fetischbegriff tatsächlich nicht nur in der »dinglichen Welt« anzusiedeln, sondern ihn auch für die konzeptionelle, abstrakte »Vorstellungswelt« als Kategorie anzuwenden. In Annahme der Zulässigkeit dieser Prämisse wurden die Begriffe Fetisch und Mythos in den vorangegangenen Ausführungen teilweise kommentarlos synonym verwendet, was tatsächlich tadellos funktioniert hat. Mit der Definition des Konzepts Hofer als Fetisch können wir also arbeiten, wenn der Objektcharakter des Fetischs im engeren Sinn auch auf die idealisierte Erinnerung an eine historische Persönlichkeit umgelegt werden kann. Dies ist nicht allzu abwegig, da etwa William Pietz Städten, Dörfern und Nationen zubilligt, Fetische sein zu können (Pietz 1985: 14); auch der Marx’sche Fetischbegriff setzt keinerlei Dinglichkeit voraus (Kohl 2003: 93). Der Freud’sche Fetisch als Verkörperung von etwas Abwesendem, etwas nicht (mehr) Vorhandenem erweist sich für die Betrachtung der Hofer-Verehrung als Kult einer idealisierten und abstrahierten historischen Figur als brauchbar. Der Fetisch Hofer ist – zusammenfassend – nicht in der Reliquie, im Bild (als imago) oder in der Statue zu suchen, überhaupt nicht in einem Objekt, welches an einen Ort gebunden ist und zum Ziel der Verehrung werden könnte. Vielmehr ist er am ehesten in der kollektiven Erinnerung an die Zeit zu sehen, in der die Tirolerinnen und Tiroler vermeintlich gegen eine ihnen aufgezwungene fremde Regierung aufstanden, in der sie ihre »Freiheit« behaupten konnten. Gerade der Begriff der Erinnerung bindet uns wieder an Jan Assmanns Mythenbegriff zurück, womit sich der Kreis zu schließen scheint: Erinnerte bzw. verinnerlichte Vergangenheit findet ihre Form in der Erzählung, im Mythos (Assmann 42002: 75). Dem Mythos um die historische Person werden bestimmte Kräfte zugeschrieben und er erfährt Verehrung, wenngleich nicht durch die gesamte Bevölkerung, sondern durch eine »Glaubensgemeinschaft«. Der Mythos hat für diese Gemeinschaft − welche sich gemeinsam seiner erinnert − und für die Führungsriege dieser Gemeinschaft − eine Art Priesterschaft, welche die gemeinsame Erinnerung organisiert und forciert − kommunikative und soziale Funktion. Sowohl für die historische als auch die politische Argumentation kann er zum Schlagwort werden. Er regelt soziale Beziehungen und diszipliniert durch seinen Vorbildcharakter.

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Hierin zeigt sich besonders klar die Austauschbarkeit der Begriffe Mythos und Fetisch unter der Vorbedingung der Aufgabe der Objekthaftigkeit. Zweifelsohne ist eine pauschale Gleichsetzung problematisch; dennoch möchte ich für das konkrete Beispiel von einer kultischen Verehrung des historischen Mythos sprechen. Die Narration um Andreas Hofer und das Jahr 1809 ist zum Fetisch geworden, der begeistern, polemisieren oder einfach ignoriert werden kann – auf jeden Fall aber ist er präsent.

Q UELLEN [Becker, Gottfried Wilhelm.] Andreas Hofer und der Freiheitskampf in Tyrol 1809. Leipzig: B.G. Teubner, 1841. Bossi Fedrigotti, Anton Graf. Andreas Hofer, Sandwirt von Passeier. Leipzig: Franz Schneider Verlag, 1935. »Fetischismus.« Brockhaus’ Konversationslexikon. Bd. 6. Leipzig/Berlin/ Wien: F.A. Brockhaus, 141894-1896. S. 718. »Fetischismus.« Meyers Konversationslexikon. Bd. 6. Leipzig/Wien: Bibliographisches Institut, 41885-1892. S. 195f. Gesellschaft von Freunden der Geschichte (Hg.). Sammlung interessanter historischer Skizzen aus der neueren Zeit. Frankfurt a.M.: Hartknoch, 1818. Hörmann, Ludwig et al. Wanderungen durch Tirol und Vorarlberg, Geschildert von Ludwig von Hörmann, Hermann von Schmid, Ludwig Steub, Karl von Seyffertitz, Ignaz Zingerle. Stuttgart: Kröner, 1880. [Hormayr, Josef von.] Geschichte Andreas Hofer’s, Sandwirths aus Passeyr, Oberanführers der Tyroler im Kriege von 1809. Leipzig: F.A. Brockhaus, 1817. »Idololatrie.« Johann Heinrich Zedlers Grosses vollständiges Universallexicon aller Wissenschafften und Künste. Bd. 14. Halle/Leipzig: Johann Heinrich Zedler, 1732-1754. Sp. 340. Jacobsen, Friedrich Johann. Briefe an eine deutsche Edelfrau, über die neuesten englischen Dichter, herausgegeben mit übersetzten Auszügen vorzüglicher Stellen aus ihren Gedichten und mit den Bildnissen der berühmtesten jetzt lebenden Dichter Englands. Altona: J.F. Hammerich, 1820. Kalischer, Erwin und Raimund Pissin (Hg.). Heines Werke Fünfter Teil: Almansor – Ratcliff – Der Doktor Faust – Die Göttin Diana. Heines Werke in fünfzehn Teilen 5. Berlin: Deutsches Verlagshaus Bong & Co., 1927. Laube, Heinrich. Reisenovellen Erster Theil, Mannheim: Heinrich Hoff, 2 1847. Malsiner, Joseph. »Zwei Aktenstücke über die Meutereien in Tyrol, als Kommentar zu dem Artikel aus Innsbruck in der allgemeinen Zeitung Nro. 25. Zum Beßten der Witwen und Waisen der in Tirol gebliebenen Soldaten.« [o.O.] [ohne Verlag] 1809. Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum Innsbruck, Ferdinandeums-Bibliothek 3704, Nr. 166.

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Meighörner, Wolfgang/Tiroler Landesmuseen-Betriebsgesellschaft m.b.H. (Hg.). Hofer Wanted. Ausstellung 24. April 2009 − 15. November 2009. Innsbruck: Tiroler Landesmuseen-Betriebsgesellschaft m.b.H., 2009. »Pópanz, Popánz.« Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Bd. 13. Leipzig: S. Hirzel, 1889. Sp. 1999f. Rapp, Joseph. Tirol im Jahre 1809. Nach Urkunden dargestellt. Innsbruck: Felizian Rauch, 1852. »Reliquie.« Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm. Bd. 14. Leipzig: S. Hirzel, 1889. Sp. 803. Rohrer, Joseph. Uiber die Tiroler. Ein Beytrag zur Oesterreichischen Völkerkunde. Wien: Verlag der Dallischen Buchhandlung, 1796. Rumohr, C[arl] F[riedrich] von. Drey Reisen nach Italien. Erinnerungen von C. F. v. Rumohr. Leipzig: F.A. Brockhaus, 1832. Schiffner, Ludwig. Der »Goldene Adler« in Innsbruck. Historisch-literarische Erinnerungen. Innsbruck: Wagner’sche Universitäts-Buchdruckerei, 6 1910. Schönauer, Helmuth. Schluiferers Erben. Was aus den Tarrolan geworden ist. Erweiterte Neuauflage. Innsbruck: loewenzahn, 2009 [1995]. Steub, Ludwig. Drei Sommer in Tirol. München: Verlag der literarisch-artistischen Anstalt, 1846. Tiroler Landesmuseen-Betriebsgesellschaft m.b.H. (Hg.). Die Tiroler Landesmuseen 2010. Innsbruck, 2010. Universalmuseum Joanneum, Museumsakademie. Reliquie. http://www. museum-joanneum.at/de/museumsakademie/glossar/reliquie (besucht am 17.05.2010). Wolf, Karl. Aus dem Volksleben Tirols. Innsbruck: Adolf Bonz Verlag, 1902.

L ITER ATUR Assmann, Jan. »Frühe Formen politischer Mythomotorik. Fundierende, kontrapräsentische und revolutionäre Mythen.« Revolution und Mythos. Hg. Dietrich Harth und Jan Assmann. Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag, 1992. S. 39-61. Assmann, Jan. Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. Beck’sche Reihe. München: C.H. Beck, 42002. Belting, Hans. Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst. München: C.H. Beck, 21991. Belting, Hans. Das echte Bild. Bildfragen als Glaubensfragen. München: C.H. Beck, 2005. Egg, Erich. »Die tirolische Nation.« Die Tirolische Nation 1790-1820. Landesausstellung 6. Juni − 14. Oktober 1984. Hg. Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum Innsbruck. Innsbruck: Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum, 21984.

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Feichtinger, Josef. Tirol 1809 in der Literatur. Literarische Zeugnisse aus Tirol 4. Bozen: Athesia, 1984. Hain, Mathilde. »Devotionalien.« Lexikon für Theologie und Kirche. Bd. 3. Hg. Josef Höfer und Karl Rahner. Freiburg: Herder, 21959. Sp. 314f. Halbritter, Roland. »Mander es isch Zeit … für Mail Art.« Andreas Hofer: Ein Tourismusheld?! Un Eroe del Turismo?! Tourismus und Museum 3. Hg. Paul Rösch und Konrad Köstlin. Innsbruck: StudienVerlag, 2009. S. 233-259. Harth, Dietrich. »Revolution und Mythos. Sieben Thesen zur Genesis und Geltung zweier Grundbegriffe historischen Denkens.« Revolution und Mythos. Hg. Dietrich Harth und Jan Assmann. Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag, 1992. S. 9-35. Höller, Ralf. Eine Leiche in Habsburgs Keller. Der Rebell Michael Gaismair und sein Kampf um eine gerechtere Welt. Salzburg/Wien: Otto Müller Verlag, 2011. »icon.« Duden. Die deutsche Rechtschreibung. Mannheim/Leipzig/Wien/ Zürich: Dudenverlag, 2000. S. 488. Kohl, Karl-Heinz. Die Macht der Dinge. Geschichte und Theorie sakraler Objekte. München: C.H. Beck, 2003. Krasa-Florian, Selma. Johann Nepomuk Schaller. Bild- und Sprachspiele 2. Innsbruck: StudienVerlag, 2009. Macho, Thomas. »Tod und Trauer im kulturwissenschaftlichen Vergleich.« Jan Assmann: Der Tod als Thema der Kulturtheorie. Todesbilder und Totenriten im Alten Ägypten. Erbschaft unserer Zeit. Vorträge über den Wissensstand der Epoche 7. Hg. Gary Smith. Frankfurt a.M.: edition suhrkamp, 2000. S. 89-120. Mayer, Sigrid. Golem. Die literarische Rezeption eines Stoffes. Utah Studies in Literature and Linguistics 2. Bern/Frankfurt a.M.: Herbert Lang, 1975. MuseumPasseier (Hg.). Helden+Hofer. Als Andreas Hofer ins Museum kam. Das Buch zur Ausstellung im MuseumPasseier. St. Leonhard in Passeier: verlag.Passeier, 2009. Neue Freie Presse. 28. September 1893, S. 2. Artikel zitiert nach: http://anno. onb.ac.at/cgi-content/anno?apm=0&aid=nfp&datum=18930928&seite=2&zoom=2 (besucht am 26. Juni 2011). Nutzenberger, Klaus. Das Bild Andreas Hofers in der historischen, literarischen und künstlerischen Rezeption des 19. und 20. Jahrhunderts. Univ. Diss. Münster, 1998. Oberhofer, Andreas. »›Ich wuaß mir nit z’helfen‹: Die tragische Unentschlossenheit Andreas Hofers.« Politik Konflikt Gewalt. Innsbrucker Historische Studien 25. Hg. Robert Rebitsch und Elena Taddei. Innsbruck: StudienVerlag, 2007. S. 203-220. Oberhofer, Andreas. Weltbild eines »Helden«. Andreas Hofers schriftliche Hinterlassenschaft. Schlern-Schriften 342. Innsbruck: Universitätsverlag Wagner, 2008. Oberhofer, Andreas. Der Andere Hofer. Der Mensch hinter dem Mythos. Schlern-Schriften 347. Innsbruck: Universitätsverlag Wagner, 2009.

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Oberhofer, Andreas. »Das religiöse Selbstverständnis Andreas Hofers.« Opfer – Helden – Märtyrer. Das Martyrium als religionspolitologische Herausforderung. Innsbrucker theologische Studien 83. Hg. Józef Niewiadomski und Roman Siebenrock in Zusammenarbeit mit Hüseyin Cicek und Mathias Moosbrugger. Innsbruck/Wien: Tyrolia-Verlag, 2011. S. 95-108. Parteli, Othmar. »Vom Vollwaisen zum Weinhändler. Der ›private‹ Andreas Hofer.« Dolomiten 42 (2010): S. 17. Pietz, William. »The Problem of the Fetish. I.« RES Journal of Anthropology and Aesthetics 9 (1985): S. 5-17. Pietz, William. »The Problem of the Fetish. II: the origin of the fetish.« RES Journal of Anthropology and Aesthetics 13 (1987): S. 23-46. Pizzinini, Meinrad. Andreas Hofer. Seine Zeit – Sein Leben – Sein Mythos. Innsbruck: Tyrolia-Verlag, 2008. Scheichl, Sigurd Paul. »1809 – Eine Geschichte – Viele Bedeutungen.« Klischees im Tiroler Geschichtsbewusstsein. Symposium anläßlich des zehnjährigen Bestehens des Tiroler Geschichtsvereines 8. bis 10. Oktober 1992. Hg. Tiroler Geschichtsverein am Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum. Innsbruck: Tiroler Geschichtsverein am Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum, 1996. S. 137-159. Scheichl, Sigurd Paul. »Tiroler Adler, hüt’ dein Nest.« Facetten des Jahres 1809 in der Literatur. Abschied vom Freiheitskampf? Tirol und 1809 zwischen politischer Realität und Verklärung. Schlern-Schriften 346. Hg. Brigitte Mazohl und Bernhard Mertelseder. Innsbruck: Universitätsverlag Wagner, 2009. S. 271-293. Schennach, Martin P. Revolte in der Region. Zur Tiroler Erhebung von 1809. Veröffentlichungen des Tiroler Landesarchivs 16. Innsbruck: Universitätsverlag Wagner, 2009. Schmid, Hildegard. »Archivalien zur Errichtung des Andreas-Hofer-Monuments in der Hofkirche zu Innsbruck.« Tiroler Heimatblätter 59.4 (1984): S. 114-137. Schneider, Karin und Andreas Oberhofer. »Der ›Generale Barbone‹. Andreas Hofer und sein ›Heldenbart‹.« Der Schlern 84.2 (2010): S. 32-55. Schweiger, C.L. »Aus Andreas Hofers Tagen.« Der Schlern 12 (1931): S. 401406. Speth, Rudolf. Nation und Revolution. Politische Mythen im 19. Jahrhundert. Opladen: Leske + Budrich, 2000. Steinlechner, Siegfried. Des Hofers neue Kleider. Über die staatstragende Funktion von Mythen. Innsbruck: StudienVerlag, 2000. Sturzflüge. Eine Kulturzeitschrift 7. Bruneck: Redaktion Sturzflüge, 1984. Tobin, Robert Deam. Warm brothers. Queer theory and the age of Goethe. New Cultural Studies. Philadelphia: University of Pennsylvania Press, 2000. Wolfram, Ilse. 200 Jahre Volksheld Andreas Hofer auf der Bühne und im Film. Münchener Universitätsschriften Theaterwissenschaft 16. München: Herbert Utz Verlag, 2009.

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Dank

Dieses Buch ist im Rahmen meines laufenden Habilitationsprojekts zur materiellen Kultur des Mittelalters und der Renaissance entstanden. Viele Personen und Institutionen haben dieses Projekt von seinen Anfängen an unterstützt, denen ich an dieser Stelle danken möchte. Zunächst danke ich der Südtiroler Landesregierung, der Universität Innsbruck sowie der Firma Swarovski, die mein Habilitationsprojekt mit der Forschungsförderung für die Leopold-Franzens Universität Innsbruck durch die Südtiroler Landesregierung 2008 und den Förderungsbeiträgen der Leopold-Franzens Universität Innsbruck Aktion D. Swarovski & Co 2008 großzügig unterstützt haben. Diese Förderungen haben einen Großteil der Kosten für mehrere Forschungsaufenthalte, für die Tagung sowie die Drucklegung dieser Publikation gedeckt und mir damit ein finanziell sorgenfreies Forschen ermöglicht. Zusätzlich wurden die Tagung und die Drucklegung der Publikation durch das österreichische Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung sowie durch Förderungen des Vizerektorats für Forschung der Universität Innsbruck, der Philosophisch-Historischen Fakultät, der Forschungsplattform politik religion kunst. plattform für konflikt- und kommunikationsforschung, des Italienzentrums der Universität Innsbruck und durch das Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie unterstützt. Besonders gedankt sei hier den entsprechenden Verantwortlichen, namentlich Vizerektor Tilmann Märk, Dekan Klaus Eisterer, den Sprecherinnen und Sprechern der Forschungsplattform, Brigitte Mazohl, Johann Holzner und Roman Siebenrock, der Leiterin des Italienzentrums, Barbara Tasser, und nochmals Brigitte Mazohl, der Leiterin des Instituts für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie. Die Entstehung des Buches verdankt sich zudem den intensiven interdisziplinären Diskussionen, an denen ich seit 2005 im Rahmen der Forschungsplattform politik religion kunst teilhaben konnte. Hier möchte ich allen Kolleginnen und Kollegen der Plattform für diesen produktiven Denk- und Diskussionsraum danken, insbesondere jenen des Clusters Politische Ästhetik: Theorie & Methode, die großteils auch als Autorinnen und Autoren in diesem Band vertreten und somit eng mit diesem Projekt

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verbunden sind, namentlich Marie-Luisa Frick, Ulrich Leitner, Andreas Oberhofer, Andreas Oberprantacher, Claudia Posch, Kordula Schnegg und Karin Schneider. Für konstruktive und kritische Diskussionen im Vorfeld danke ich zudem besonders Sybille Moser-Ernst vom Institut für Kunstgeschichte der Universität Innsbruck sowie meinen Fachkolleginnen und -kollegen aus dem Bereich Geschichte des Mittelalters: Mark Mersiowsky, Ellen Widder, Klaus Brandstätter und Julia Hörmann-Thurn Valsassina Taxis. Ebenso danke ich dem Internationalen Graduiertenkolleg Politische Kommunikation von der Antike bis ins 20. Jahrhundert (Universitäten Frankfurt, Bologna, Pavia, Trento, Innsbruck), in dem ich ebenfalls seit 2005 einen intensiven Raum des epochen- und disziplinenübergreifenden Denkens gefunden habe, und das viele der Fragestellungen dieses Buches entscheidend mitbestimmt und in Diskussionen im Vorfeld mitgeformt hat. Schließlich danke ich den Personen, die in unterschiedlicher Weise an der Arbeit zu diesem Band beteiligt waren: zuallererst Claudia Posch, die freundlicherweise die mühsame Bearbeitung des Manuskript-Layouts übernommen hat, ebenso wie Übersetzungen und Korrekturlektüre; Ulrich Leitner danke ich für viele konstruktive Gespräche zur Konzeption und Gestaltung der Publikation sowie für die Korrekturlektüre einzelner Beiträge. Andreas Oberprantacher danke ich ebenfalls für Korrekturlektüre zu philosophischen Aspekten. Schließlich gilt mein Dank allen Autorinnen und Autoren, die den sehr straffen Zeitplan eingehalten haben und sowohl die Tagung als auch diesen Band zu einem kreativen, konstruktiven und ungemein positiven gemeinschaftlichen Projekt werden ließen. Dazu beigetragen hat schließlich auch der Verlag transcript, dem ich an dieser Stelle ebenfalls für die hervorragende Zusammenarbeit danke. Christina Antenhofer New Orleans, 24. Februar 2011

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Christina Antenhofer | MMag. phil., Dr. phil., Jahrgang 1973. Studium der Geschichte, Germanistik und Romanistik (Französisch) an den Universitäten Innsbruck und Sorbonne (Paris IV). Mag. Phil. 1999. Dr. phil. 2004. Assistenzprofessorin am Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie der Universität Innsbruck. 2011 Visiting Professor an der University of New Orleans/USA. Arbeitet an einer Habilitation zur materiellen Kultur des Mittelalters und der Renaissance. Assoziierte des Internationalen Graduiertenkollegs (IGK) Politische Kommunikation von der Antike bis ins 20. Jahrhundert (Frankfurt, Innsbruck, Bologna, Pavia, Trento). Mitarbeiterin der Forschungsplattformen politik religion kunst. plattform für konflikt- und kommunikationsforschung sowie Geschlechterforschung: Identitäten – Diskurse – Transformationen an der Universität Innsbruck. Forschungsschwerpunkte: Renaissance und spätes Mittelalter, Historische Politikforschung, Materielle Kultur, Kommunikationsgeschichte, Geschlechtergeschichte, Namenkunde. Publikationen (Auswahl) Antenhofer, Christina. Briefe zwischen Süd und Nord. Die Hochzeit und Ehe von Paula de Gonzaga und Leonhard von Görz im Spiegel der fürstlichen Kommunikation (1473-1500). Schlern-Schriften 336. Innsbruck: Wagner, 2007. Antenhofer, Christina und Mario Müller (Hg.). Briefe in politischer Kommunikation vom Alten Orient bis ins 20. Jahrhundert. Göttingen: V&R unipress, 2008. Antenhofer, Christina, Lisa Regazzoni und Astrid von Schlachta (Hg.). Werkstatt politische Kommunikation. Netzwerke, Orte und Sprachen des Politischen. Officina Comunicazione politica. Intrecci, luoghi e linguaggi del »politico«. Göttingen: V&R unipress, 2010. Antenhofer, Christina, Andreas Oberprantacher und Kordula Schnegg (Hg.). Methoden und Wahrheiten. Geistes- und sozialwissenschaftliche Forschung in Theorie und Praxis. Innsbruck: iup, 2011.

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Antoine Artous | Dr. der Sozialwissenschaften, Jahrgang 1946. Codirektor der Reihe Mille marxismes, Editions Syllepse, und Mitglied des Herausgeberteams von Contre Temps. Publikationen (Auswahl) Artous, Antoine. Marx, l’Etat et la politique. Paris: Editions Syllepse, 1989. Artous, Antoine. Travail et émancipation sociale – Marx et le travail. Paris: Editions Syllepse, 2003. Artous, Antoine. Le fétichisme chez Marx. Le marxisme comme théorie critique. Paris: Editions Syllepse, 2006.

Rogério Brittes W. Pires | geboren 1983 in Rio de Janeiro/Brasilien. Abschluss in Sozialwissenschaften der Universidade Federal de Minas Gerais/Brasilien; Master in Sozialer Anthropologie bei PPGAS, Museu Nacional, Universidade Federal do Rio de Janeiro. Für seine Masterarbeit verfasste er eine Abhandlung über die anthropologische Verwendung des religiösen Fetischismuskonzepts mit dem Titel The Anthropological Concept of Fetish: African Objects, European Regards. Gegenwärtig bereitet er seine PhD-Arbeit über afrikanisch-amerikanische Religionen vor (bei PPGAS) und befindet sich auf Feldforschung in Suriname, wo er mit den Maroons im Regenwald arbeitet. Publikation Brittes W. Pires, Rogério. »Pequena história da ideia de fetiche religioso, de sua emergência a meados do séc. XX« (A Brief History of the Idea of Religious Fetishism, from its Emergence until the mid-20th Century). Religião & Sociedade (erscheint voraussichtlich in Ausgabe 30/2).

Albrecht Diem | Abschluss in Mediävistischen Studien (post-graduate licentiate), Geschichte des Mittelalters (PhD) sowie Geschichte und Deutscher Philologie (MA); Studium unter anderem an den Universitäten Nijmengen und Groningen, Forschungsassistent am Institut für Mittelalterforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien und Mitglied der American Historical Association, der Medieval Academy of America, der Magnus-Hirschfeld-Society und der North American Patristic Society. Gegenwärtig ist Albrecht Diem Assistenzprofessor an der Syracuse University/USA. Publikationen (Auswahl) Diem, Albrecht. Das Monastische Experiment. Die Rolle der Keuschheit bei der Entstehung des westlichen Klosterwesens. Vita Regularis 24. Münster: LIT Verlag, 2005. Diem, Albrecht. »Das Ende des monastischen Experiments: Liebe, Beichte und Schweigen in der Regula cuiusdam ad virgines.« Female Vita

V ERZEICHNIS DER A UTORINNEN UND A UTOREN

Religiosa (Arbeitstitel). Vita Regularis. Hg. Anne Müller. Münster: LIT Verlag, 2010 (under review). Diem, Albrecht. »Inventing the Holy Rule. Some observations on the history of monastic normative observance in Early Medieval West.« Western Monasticism ante litteram: The spaces of monastic observance in late antiquity and the early Middle Ages (proceedings of a conference held at the American Academy in Rome). Disciplina Monastica. Hg. Hendrik Dey. Turnhout: Brepols, 2010 (accepted). Diem, Albrecht. »On opening and closing the body: Techniques of discipline in early monasticism.« Körper er-fassen: Körpererfahrungen, Körpervorstellungen, Körperkonzepte. Hg. Kordula Schnegg und Elisabeth Grabner-Niel. Innsbruck/Wien/München: StudienVerlag, 2010. S. 89-112.

Marie-Luisa Frick | Dr. phil., geboren 1983 in Lienz. Studium der Philosophie und der Rechtswissenschaften; Assistenzprofessorin am Institut für Philosophie der Universität Innsbruck. Forschungsschwerpunkte: Ethik, Rechtsphilosophie, Religionsphilosophie, Philosophie der Aufklärung. Publikationen (Auswahl) Frick, Marie-Luisa. Moralischer Relativismus. Antworten und Aporien relativistischen Denkens in Hinblick auf die weltanschauliche Heterogenität einer globalisierten Welt. Wien/Münster: LIT Verlag, 2010. Frick, Marie-Luisa und Andreas Oberprantacher (Hg.). Power and Justice in International Relations. Farnham: Ashgate, 2009. Frick, Marie-Luisa, Pascal Mbongo und Florian Schallhart (Hg.). PluralismusKonflikte – Le Pluralisme en Conflits. Österreichisch-Französische Begegnungen. Wien/Münster: LIT Verlag, 2010.

Stephan Grigat | Dr. phil., Jahrgang 1971, hat in Berlin und Wien Politikwissenschaft studiert, an der FU Berlin promoviert, war Forschungsstipendiat in Tel Aviv, ist Lehrbeauftragter für Politikwissenschaft an der Universität Wien und ist für die Kampagne www.stopthebomb.net in Österreich als wissenschaftlicher Mitarbeiter tätig. Publizistische Tätigkeit unter anderem für Jungle World, Konkret, Der Tagesspiegel, Der Standard und Die Presse. Publikationen (Auswahl) Grigat, Stephan. Fetisch und Freiheit. Über die Rezeption der Marxschen Fetischkritik, die Emanzipation von Staat und Kapital und die Kritik des Antisemitismus. Freiburg: ça ira, 2007. Grigat, Stephan (Hg.). Feindaufklärung und Reeducation. Kritische Theorie gegen Postnazismus und Islamismus. Freiburg: ça ira, 2006. Grigat, Stephan und Simone D. Hartmann (Hg.). Der Iran – Analyse einer islamischen Diktatur und ihrer europäischen Förderer. Innsbruck/Wien: StudienVerlag, 2008.

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Grigat, Stephan und Simone D. Hartmann (Hg.). Iran im Weltsystem. Bündnisse des Regimes und Perspektiven der Freiheitsbewegung. Innsbruck/Wien: StudienVerlag, 2010.

Alfonso M. Iacono | Professor für Geschichte der Philosophie am Institut für Philosophie der Universität Pisa. Alfonso M. Iacono war Gastprofessor für Philosophie an der Universität Paris 1/Panthéon-Sorbonne (2002), Präsident des Rats für das Doktorat der Philosophischen Disziplinen an der Universität Pisa sowie Mitglied des Herausgeberteams verschiedener internationaler und italienischer Zeitschriften. Er arbeitet für italienische und ausländische Zeitschriften, darunter die Zeitung Il Manifesto, und ist Direktor der Zeitschrift Il Grandevetro. Forschungsschwerpunkte: Philosophie, Politik und Anthropologie vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. Außerdem interessiert er sich für Epistemologie, vor allem für das Problem des Beobachters, für die Konzepte System, Komplexität, autopoiesis und die Frage der visuellen Repräsentation. Er hat über das Konzept des zòon politikòn gearbeitet sowie über theoretische und historiographische Fragen der politischen Philosophie. Publikationen (Auswahl) Iacono, Alfonso M. Teorie del feticismo. Il problema filosofico e storico di un »immenso malinteso«. Milano: A. Giuffrè, 1985. Iacono, Alfonso M. Le fétichisme. Histoire d’un concept. Paris: Presses Universitaires de France, 1992. Iacono, Alfonso M. Storia, verità, finzione. Roma: Manifestolibri, 2006. Iacono, Alfonso M. L’illusione e il sostituto. Milano: Bruno Mondadori, 2010.

Ulrich Leitner | MMag. phil., Dr. phil., Jahrgang 1981. Studium der Geschichte, Politikwissenschaft und Erziehungswissenschaften (Spezialisierung in psychoanalytischer Pädagogik) an der Universität Innsbruck. Politologische Dissertation zum Thema Imperium – Ein politisches System. Mitglied der Forschungsplattform politik religion kunst. plattform für konflikt- und kommunikationsforschung der Universität Innsbruck. Forschungsschwerpunkte: Imperien und politische Macht im historischen Vergleich, Politische Bildung und Politische Ästhetik. Publikationen (Auswahl) Leitner, Ulrich. »Imperiale Macht – Imperiale Gewalt. Ein Beitrag zur politologischen Imperiums-Debatte.« Methoden und Wahrheiten. Geistes- und sozialwissenschaftliche Forschung in Theorie und Praxis. Hg. Christina Antenhofer, Kordula Schnegg und Andreas Oberprantacher. Innsbruck: iup, 2011. Leitner, Ulrich. Imperium. Geschichte und Theorie eines politischen Systems. Frankfurt a.M./New York: Campus (erscheint 2011).

V ERZEICHNIS DER A UTORINNEN UND A UTOREN

Leitner, Ulrich. »Der imperiale Ordnungskomplex. Die theoretische Fiktion eines politischen Systems.« Imperien in der Weltgeschichte. Hg. Michael Gehler, Robert Rollinger und Sabine Fick, Wiesbaden: Harrassowitz (erscheint 2012).

Barnaba Maj | lehrt Philosophie der Geschichte und Theorie der Historiographie an der Universität Bologna. Er ist Mitglied des Internationalen Graduiertenkollegs (IGK) Politische Kommunikation von der Antike bis ins 20. Jahrhundert (Frankfurt, Innsbruck, Bologna, Pavia, Trento) und des PhD-Programms für Literaturen und Kulturen der englischsprachigen Länder, nun LMCP, an der Universität Bologna. Er ist der Herausgeber der Zeitschrift Discipline Filosofiche (Quodlibet), Mitglied des Herausgeberteams des Magazins Nuova Informazione Bibliografica (Il Mulino) sowie Leiter des Forschungszentrums Abteilung für Fremde Sprachen und Literaturen an der Universität Bologna. Publikationen (Auswahl) Maj, Barnaba. Italienische Übersetzung zu: Belting, Hans. Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst. München: C.H. Beck, 1990. Il culto delle immagini. Storia dell’icona dall’età imperiale al tardo Medioevo. Roma: Carocci, 2001. Maj, Barnaba. »Colonialismo, postcolonialismo e neocolonialismo: questioni generali di rappresentazione storica.« Periferie della storia. Il passato come rappresentazione nelle culture omeoglotte. Hg. Silvia Albertazzi, Barnaba Maj und Roberto Vecchi. Macerata: Quodlibet, 2004. S. 15-38. Maj, Barnaba. Il volto e l’allegoria della storia. L’angolo di inclinazione del creaturale. Macerata: Quodlibet, 2007. Maj, Barnaba. »›Les traces de l’autre‹: Robinson Crusoe e il problema della storia.« Sulla »traccia« di Michel de Certeau. Interpretazioni e percorsi. Hg. Barnaba Maj und Rossana Lista. Macerata: Quodlibet. Discipline Filosofiche XVIII.1 (2008): S. 135-148.

Andreas Th. Müller | Mag. iur., Mag. phil. fac. theol. LL.M. (Yale), Universitätsassistent am Institut für Europarecht und Völkerrecht an der Universität Innsbruck. Forschungsschwerpunkte: Internationales Strafrecht, Internationales Humanitäres Recht, Internationales Recht der Menschenrechte, Islamisches Internationales Recht, Institutionelles Recht der EU, Asylrecht der EU, Philosophie des Rechts und Rechtstheorie. Publikationen (Auswahl) Müller, Andreas Th. Der Internationale Strafgerichtshof als Faktor der Globalisierung. Eine Annäherung aus rechtsphilosophischer und staatsrechtlicher Sicht. Frankfurt a.M./Wien: Peter Lang, 2005.

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Müller, Andreas Th. »›Peace through Law‹ Revisited. Kelsen’s Vision of International Law at the Beginning of the 21st Century.« Power and Justice in International Relations. Interdisciplinary Approaches to Global Challenges. Hg. Marie-Luisa Frick und Andreas Oberprantacher. London: Ashgate, 2009. S. 87-114. Müller, Andreas Th. »The US Supreme Court and International Law – A Liaison Dangereuse? Reflections on Medellín v. Texas.« Legal Narratives: European Perspectives on US-American Law in Cultural Context. Hg. Gudrun M. Grabher und Anna M. Gamper. Wien: Springer, 2009. S. 123-158. Müller, Andreas Th. »Solidarität als Rechtsbegriff im Europarecht.« Solidarität. Vom Wert der Gemeinschaft. Grundwerte Europas. Bd. 1. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2010. S. 77-104.

Andreas Oberhofer | Mag. phil., Dr. phil., Universitätsassistent am Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie der Universität Innsbruck; Koordinator der interfakultären Forschungsplattform politik religion kunst. plattform für konflikt- und kommunikationsforschung. Forschungsschwerpunkte: Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des 18./19. Jahrhunderts, Politische Kommunikation, Rezeptionsgeschichte des Tiroler Aufstandes von 1809 und der Figur Andreas Hofers. Publikationen (Auswahl) Oberhofer, Andreas. Weltbild eines »Helden«. Andreas Hofers schriftliche Hinterlassenschaft. Schlern-Schriften 342. Innsbruck: Wagner, 2008. Oberhofer, Andreas. Der Andere Hofer. Der Mensch hinter dem Mythos. Schlern-Schriften 347. Innsbruck: Wagner, 2009.

Andreas Oberprantacher | Dr. phil., Assistenzprofessor an der Universität Innsbruck. Assistenz UNESCO Chair for Peace Studies, Universität Innsbruck; Lehrbeauftragter für Philosophie und Soziologie am Institute of International Studies, Ramkhamhaeng University, Bangkok/Thailand; Lehrbeauftragter für Peace Studies am Oslo University College in Zusammenarbeit mit Kulturstudier, Puducherry/Indien; Lehrbeauftragter im MA-Programm in Peace, Development, Security and International Conflict Transformation der Universität Innsbruck. Forschungs- und Publikationsschwerpunkte: Politische Theorie (insbesondere im Bereich radikaldemokratischer Ansätze), Sozialphilosophie (insbesondere im Bereich von Gemeinschafstheorien) und Religionsphilosophie (insbesondere im Bereich des Verhältnisses von Religion und Gewalt). Publikationen (Auswahl) Oberprantacher, Andreas. Iste ego sum. Notizen zur (Un)Möglichkeit des Selbstseins. Wien/Innsbruck/Bozen: StudienVerlag, 2011.

V ERZEICHNIS DER A UTORINNEN UND A UTOREN

Oberprantacher, Andreas und Marie-Luisa Frick (Hg.). »Power and Justice in International Relations.« Interdisciplinary Approaches for Global Challenges. Farnham: Ashgate, 2009. Antenhofer, Christina, Andreas Oberprantacher und Kordula Schnegg (Hg.). Methoden und Wahrheiten. Geistes- und sozialwissenschaftliche Forschung in Theorie und Praxis. Innsbruck: iup, 2011.

Claudia Posch | Dr. phil., Universitätsassistentin für feministische Linguistik am Institut für Sprachen und Literaturen der Universität Innsbruck. Abschluss der Anglistik und Amerikanistik sowie Linguistik; beteiligt an der Forschungsplattform Geschlechterforschung: Identitäten – Diskurse – Transformationen der Universität Innsbruck. Forschungsinteressen: Feministische Linguistik und Theorien, Politische Rhetorik und Argumentation, Korpus- und Computerlinguistik. Publikationen (Auswahl) Posch, Claudia. »This World He Created Is of Moral Design.« The Reinforcement of American Values in the Rhetoric of George W. Bush. Studia Interdisciplinaria Ænipontana 7. Wien: Praesens, 2006. Posch, Claudia. »›Ich halte es für den falschen Weg, sich täglich weiter in die Krise hineinreden zu lassen.‹ Das (nicht) Sprechen über die globale Wirtschafts- und Finanzkrise in österreichischen Medien.« Aptum. Zeitschrift für Sprachkritik und Sprachkultur 02.6 (2010): S. 121137. Posch, Claudia. »From Aktieninhaberin to Freakin. A corpus-based study on the usage of the suffix ›-in‹ in German.« IGALA 6 Proceedings (DVD). Hg. Claire Maree und Kyoko Satoh. Tokyo, 2011. S 285-299.

Roger Sansi | Senior Lecturer am Institut für Anthropologie der Goldsmiths University of London. Er legte Arbeiten vor zu afrobrasilianischer Kunst und Kultur sowie zum Fetischkonzept in der lusophonen Welt. Derzeit beschäftigt er sich mit zeitgenössischer Kunst und Politik in Spanien. Publikationen (Auswahl) Sansi, Roger. Fetishes and Monuments. Afro-brazilian art and culture in Bahia. Oxford/New York: Berghahn Books, 2007. Sansi-Roca, Roger, Nancy Priscilla Naro und Dave Treece (Hg.). Cultures of the lusophone Black Atlantic. Studies of the Americas. New York: Palgrave Macmillan, 2007. S. 19-39. Sansi, Roger und Lluis Nicolau Pares (Hg.). Sorcery in the Black Atlantic. Chicago: University of Chicago Press, 2010.

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F ETISCH ALS HEURISTISCHE K ATEGORIE

Kordula Schnegg | Dr. phil., Universitätsassistentin am Institut für Alte Geschichte und Altorientalistik (Universität Innsbruck). Studium der Geschichte, Alten Geschichte und Altertumskunde. Arbeitet an einer Habilitation zu Geschlechter-Transgressionen in der römischen Kaiserzeit und ist an den Forschungsplattformen Geschlechterforschung: Identitäten – Diskurse – Transformationen und politik religion kunst. plattform für konflikt- und kommunikationsforschung der Universität Innsbruck beteiligt. Forschungsschwerpunkte: Antike Historiographie, Geschichte der ausgehenden römischen Republik, Geschlechtergeschichte der griechischen und römischen Antike, Geschlechtertheorien sowie Geschichtstheorien. Publikationen (Auswahl) Schnegg, Kordula. Geschlechtervorstellungen und soziale Differenzierung bei Appian aus Alexandrien. Philippika. Wiesbaden: Harrassowitz, 2010. Schnegg, Kordula. »Der narrative Körper. Die Entmannten der Dea Syria.« Körper im Kopf. Antike Diskurse zum Körper. Nummeri et Litterae 3. Hg. Peter Mauritsch. Graz: Grazer Universitätsverlag, 2010. Schnegg, Kordula und Elisabeth Grabner-Niel (Hg.). Körper er-fassen. Körpererfahrungen, Körpervorstellungen, Körperkonzepte. Innsbruck/Wien/ München: StudienVerlag, 2010. Antenhofer, Christina, Andreas Oberprantacher und Kordula Schnegg (Hg.). Methoden und Wahrheiten. Geistes- und sozialwissenschaftliche Forschung in Theorie und Praxis. Innsbruck: iup, 2011.

Karin Schneider | Mag. phil., Dr. phil., geboren 1974 in Bregenz. Studium der Geschichte sowie Publizistik und Kommunikationswissenschaften in Wien; ehemalige Mitarbeiterin am Kunsthistorischen Museum in Wien sowie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften; seit 2007 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie der Universität Innsbruck; seit 2009 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geschichte der Universität Klagenfurt. Forschungsschwerpunkte: Wiener Hof im 19. Jahrhundert, Bürgertumsforschung, Internationale Beziehungen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Publikationen (Auswahl) Schneider, Karin. »Zwischen den Autoritäten. Kirchliche Gebote und weltliche Ideale im Spannungsfeld sozialpolitischer Konflikte um 1900. Dornbirn als Beispiel.« Sekularizace venkovského prostoru v 19. století. Hg. Lukáš Fasora, Jiří Hanuš und Jiři Malíř. Brünn: Matice moravská, 2009. S. 189-216. Schneider, Karin. »Hofgesellschaft und Hofstaat. Die Habsburgermonarchie 1848-1918.« Bd. IX/1. Soziale Strukturen. Von der feudal-agrarischen zur bürgerlich-industriellen Gesellschaft. Hg. Helmut Rumpler, Peter

V ERZEICHNIS DER A UTORINNEN UND A UTOREN

Urbanitsch Wien: Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 2010. S. 1327-1348. Schneider, Karin. »Der Wiener Hof in der franzisko-josephinischen Zeit. Organisation, Personal und Hierarchien.« Die Wiener Hofburg und der Residenzenbau in Mitteleuropa im 19. Jahrhundert. Monarchische Repräsentation zwischen Ideal und Wirklichkeit. Hg. Werner Telesko, Richard Kurdiovsky und Andreas Nierhaus. Wien: Böhlau, 2010. S. 63-85.

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Namensregister A Adelung, Johann Christoph 218220, 224 Adorno, Theodor W. 92, 277, 284 Aischylos 116 Alexander I., Zar 308 Alexandrian, Saran 256 Alfons I. von Kongo (Nzinga Mpangu oder Nzinga Mbemba Alfonso) 197 Alighieri, Dante 116-117, 120, 335 Antonius »der Große« (Antonius der Einsiedler, Antonius Eremita, Antonius Abbas) 147 Apter, Emily S. 13, 35 Ardo Smaragdus, Mönch 160-161 Aristoteles 116, 210 Arnold, Joseph d. Ä. 327 Aronoff, Mark 221 Assmann, Jan 11, 314, 342-343 Atkins, John 13 Audoin von Rouen 160 Auersperg, Alexander Maria Graf von (Grün, Anastasius) 326 Augé, Marc 69-72, 78 Augustinus von Hippo, Kirchenvater 17, 121, 127-129, 138, 161

B Backhaus, Hans-Georg 277 Bacon, Francis 116 Baker, Simon 261 Balibar, Etienne 92, 108 Balthild 160

Barbarossa, Friedrich, Kaiser 336 Barber, Benjamin R. 182 Barbot, Jean 15-17, 51 Bataille, Georges 32, 35, 253-71 Battisti, Cesare 325 Baudelaire, Charles 93 Bauer, Jochen 327 Bauerlein, Mark 145 Bayle, Pierre 88, 195 Becker, Gottfried Wilhelm 334 Belting, Hans 18, 120, 328, 331, 333-334 Benedict, Ruth 75 Benedikt von Aniane 152, 160-161 Benedikt von Nursia 147, 155-156, 161 Benjamin, Walter 92, 118-119, 267, 277 Berl, Emmanuel 270 Binet, Alfred 175 Bleek, William Heinrich Immanuel 226-227 Blumenberg, Hans 116-117 Bluteau, Raphael 45-46 Boas, Franz 55 Böhme, Hartmut 22, 25, 33, 35, 115, 126, 197, 200, 208, 211, 224, 277 Boiffard, Jacques-André 255-56, 262, 264 Bois, Yve-Alain 260 Boulainvilliers, Graf 206 Bosman, Willem (William) 10, 15, 49-52, 56, 198 Bossi-Fedrigotti, Anton Graf 324 Böttiger, Karl August 278

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F ETISCH ALS HEURISTISCHE K ATEGORIE

Braques, Georges 260 Breton, André 253-256, 270 Brosses, Charles de 9, 11, 15, 27, 29-30, 52, 60, 63, 77, 85-86, 90-92, 98, 100, 125, 198, 200201, 211, 218, 220, 278 Brown, Peter 158 Bruckheimer, Jerry 240 Brüggen, Willi 185 Bruhn, Joachim 277 Brunichildis 158 Brunner, Norbert 334 Bürger, Peter 254

C Cadamosto (ein Händler) 13 Caesarius of Arles 150, 153, Capra, Frank 245 Caravaggio, Michelangelo Merisi da 116 Cassirer, Ernst 118 Castlereagh, Robert Stewart 303 Castro, Viveiros de 61-62 Certeau, Michel de 33, 122-123 Chavez, Hugo 283 Choltitz, Josef Graf Sedlnitzky von 305 Chow, Olivier 263 Christo und Jeanne-Claude 334 Churchill, Awnsham 16 Churchill, John 16 Cicero, Marcus Tullius 87 Claudi, Ulrike 222-223 Coleridge, Samuel Taylor 93 Columban von Luxeuil (Columban von Bobbio, Columban der Jüngere) 146152, 155, 155-160 Comte, Auguste 14-15, 60, 68-69, 98, 117, 199, 242 Consalvi, Ercole 300 Constant, Benjamin 278 Corbett, Greville G. 222-223 Coseriu, Eugenio 219 Costilla, Miguel Hidalgo y 243

D Damascenus, Johannes (Johannes von Damaskos) 85, 91, 120-121 Daniel Düsentrieb 333 Dante Alighieri 116-117, 120, 335 Darwin, Charles 218 Debord, Guy 92, 277 deMause, Lloyd 179-180 Demokrit von Abdera 87 Derrida, Jacques 92, 247, 277 Desnos, Robert 255 Diderot, Denis 90 Didi-Huberman, Georges 257-261 Dobschütz, Ernst von 122 Dodds, Eric R. 121 Donatus von Besançon 152 Dorn, Eduard 329 Dörrer, Anton 324 Dostojewski, Fjodor Michailowitsch 118, 122 Dreyer, Carl Theodor 117

E Eckert, Gabriele 219-221 Einstein, Carl 257, 267 Elbe, Ingo 277 Eliade, Mircea 158, 314 Eligius von Noyon 160 Ellen, Roy 62 Enderwitz, Ulrich 287 Endres, Johannes 25, 35 Engels, Friedrich 338 Erdheim, Mario 182 Erikson, Erik 179 Errington, Joseph 229 Espezel, Pierre de 257 Evans-Pritchard, Edward E. 45, 51

F Feichtinger, Josef 322, 330 Feuerbach, Ludwig Andreas 100 Fitzgerald, Benedict 115 Fleckner, Uwe 257 Flora, Thomas 337 Fontenelle, Bernard le Bovier de 88, 211

N AMENSREGISTER

Foucault, Michel 10, 33 Francisco (ein Sklave) 47 Franz I./II., Kaiser 302, 322 Fredouille, Jean-Claude 126-127 Freedberg, David 86 Freud, Sigmund 11, 14-15, 19, 22, 27, 30, 34, 85-86, 92, 169-170, 173-178, 180-188, 279, 313, 315 Friedrich Barbarossa, Kaiser 336 Friedrich Wilhelm III., König 295 Frye, Northrop 120

G Gaismair, Michael 338 Gallese, Vittorio 86, 225 Gatterer, Claus 325 Gentz, Friedrich von 300 Gibbon, Edward 87 Gibson, Mel 28, 115, 117-118, 123 Girard, René 117 Gnaeus Pompeius Magnus 119 Goethe, Johann Wolfgang von 118, 318, 321 Goldman, Márcio 35, 73-75, 77, 79 Gombrich, Ernst 119 Gomes, Ambrósio 47 Graeber, David 35, 42, 52-53, 56 Gregor I. der Große, Kirchenvater 147 Gregor von Tours 150 Greinz, Rudolf 337 Griaule, Marcel 260 Grimm, Jacob 218, 224 Gruber, Alex 277 Grün, Anastasius (Auersperg, Alexander Maria Graf von) 326 Gulbransson, Olaf 327

Hebenstreit von Streitenfeld, Franz 302 Heer, Friedrich 331 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 14-15, 51-52, 98, 100-101, 121, 237, 254, 278 Heine, Heinrich 321 Helvétius, Claude Adrien 195 Henry, Christine 73-74 Herder, Johann Gottfried 218, 225-226 Hieronymus, Sophronius Eusebius, Kirchenvater 121, 127, 147 Hobbes, Thomas 53, 295 Hofer, Andreas 32, 36, 313-344 Hofer, Georg 331 Hoffmann, E.T.A. 29 Holbach, Paul Henri Thiry de 193, 195, 201-204, 209-211 Holbein, Hans 122 Holbraad, Martin 61, 73-74, 76-77 Hölderlin, Johann Christian Friedrich 119 Höller, Ralf 338 Hollier, Denis 256, 258, 267-268, 270 Holzinger, Rudolf 327 Honoratus von Fondi 149 Horkheimer, Max 284 Hormayr, Josef Freiherr von 334335 Hourmant, Louis 62 Humboldt, Wilhelm von 218, 221 Hume, David 26-27, 68, 85-91, 194, 199, 201, 204, 209

I H Habermehl, Peter 128 Hac, Tran Hai 104, 107 Hager, Franz von 305 Hahn-Hahn, Ida Gräfin 330 Haider, Jörg 275 Halbritter, Roland 318-319, 325, 334

Iacono, Alfonso Maurizio 11-12, 22, 36, 60 Ignatieff, Michael 170, 172-173, 186, 188 Irvine, Judith T. 224

J Jacobsen, Friedrich Johann 323

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F ETISCH ALS HEURISTISCHE K ATEGORIE

Jimenez, Miguel 319 João I. von Kongo (Nzinga á Nkuwu) 197 Johannes (Priesterkönig) 196 Johannes von Damaskos (Johannes Damascenus) 85, 91, 120-121 Johannes von Reomée 150 Jonas von Bobbio 146-151, 155, 158-160 Jones, William Sir 218 Joseph II., Kaiser 302, 304 Joyce, Conor 257 Justi, Johann Heinrich Gottlob von 301

K Kafka, Franz 119, 247 Kant, Immanuel 14-15, 30, 94, 123, 193-194, 198, 206-211, 246-247 Karl der Große, Kaiser 160-161 Karl VI., Kaiser 307 Kaser, Norbert Conrad 341 Kazantzakis, Nikos 115 Keane, Webb 56, 62 Kelsen, Hans 239, 247 Kilian-Hatz, Christa 230 Klee, Paul 260 Koch, Joseph Anton 327 Kohl, Karl-Heinz 20, 33, 35, 197, 209, 320 Konstantin der Große, Kaiser 242 Korsch, Karl 277 Kotzebue, August von 297, 299300 Kranewitter, Franz 335 Krauss, Rosalind E. 260 Kreuzer, Johann 119 Kristeva, Julia 184 Kübeck, Karl Friedrich von 295 Kurz, Robert 277

L Lacan, Jacques 22, 25, 34-35, 92, 184 Lagae, Constant Robert 222, 223

Lamarche, Pierre 270 Lanzmann, Claude 123 Latour, Bruno 12, 20-22, 24, 26, 34-35, 61-62, 64, 68, 75, 80, 92, 142 Laube, Heinrich 322, 326 Lehmann, Christian 218 Leiris, Michel 55, 255, 258, 266 Lenhard, Philipp 277 Leopardi, Giacomo 93 Leopold II., Kaiser 302 Leskov, Nikolai 118 Lévinas, Emmanuel 123 Lévi-Strauss, Claude 19, 63, 72, 314 Lévy, Bernard-Henri 244-245 Lévy-Bruhl, Lucien 74, 80 Liechtenstein, Wenzel von 303 Lima, Luis de 47 Limbour, Georges 255 Lory, Pierre 62 Lotar, Eli 262, 264-265 Ludwig der Fromme, Kaiser 160 Lukács, György (Georg) 92, 277 Lukrez (Titus Lucretius Carus) 87 Luther, Martin 101

M MacGaffey, Wyatt 65-69, 72 Magnago, Silvius 337-338 Malsiner, Josef 335 Maniglier, Patrice 77-79 Manuel (der erste Konvertit) 45 Manuel da Piedade 47 Marees, Pieter de 49 Maria Theresia, Kaiserin 301, 304 Marquis de Sade, Donatien Alphonse François 116 Marrou, Henri-Irénée 121 Martin von Tours 149, 161 Marx, Karl 11, 13, 15, 19, 25, 27, 32, 34, 51-52, 92, 97-111, 266, 269, 277-283, 287, 313, 315 Masson, André 255 Masuzawa, Tomoko 63 Matt, Johanna 331

N AMENSREGISTER

Mauss, Marcel 12, 26, 34-35, 41, 61, 64, 74, 98 Maximilla (Glaubensschwester von Montanus) 128 Maximilian I., Kaiser 320, 330 Mazegger, Bernhard 322 Mazzarino, Santo 121 McNally, David 170, 173-174, 178, 186-188 Meiners, Christoph 193, 199, 201, 205, 211, 278 Meinhof, Carl 218, 227, 229-230 Mentzos, Stavros 183 Merleau-Ponty, Maurice 9, 99 Meslier, Jean 193, 201-203, 205, 209 Metternich-Winneburg, Clemens Wenzel Lothar von 293-309, 328 Michel, Robert 330 Momigliano, Arnaldo 88 Mommersteeg, Geert 62 Montanus 128 Morais, Vicente de 47 Moses 17, 91, 139 Mühlmann, Josef 330 Mumelter, Hubert 319, 341 Münkler, Herfried 173-174 Musolf, Johannes J. 333

N Napoleon Bonaparte, Kaiser 303 Niederkircher, Alois 322 Nietzsche, Friedrich 93, 268 Noldin, Josef 327 Nutzenberger, Klaus 323 Nye, Joseph S. 172 Nzinga á Nkuwu (João I. von Kongo) 197 Nzinga Mpangu oder Nzinga Mbemba Alfonso (Alfonso I. von Kongo) 197

O Oberkofler, Joseph Georg 331 Odysseus 120

P Paine, Thomas 194 Pasolini, Pier Paolo 116-117 Pasukanis, Evgeny B. 109 Pauer, Julie von, geb. Gräfin Zarivarij 317 Paulus von Tarsus 28, 119 Paulus von Theben (Heiliger Paulus der erste Einsiedler) 147 Peirce, Charles Sanders 45 Pelinka, Anton 340 Peres, Crispina 47 Pergen, Johann Anton Graf von 302-303 Petronius (Titus Petronius, genannt Arbiter) 87 Petrus (Simon Petrus, Apostel) 153 Petzner, Stefan 275, 290 Phua, Richard Liong-Seng 28 Picasso, Pablo 260 Pietz, William 9-11, 13, 15, 17-19, 27, 30, 35, 41-43, 48, 51, 53-55, 5961, 67, 70, 92, 137-138, 146, 217, 268, 294, 308, 343 Pirandello, Luigi 93 Pistorius, Christian Brandanus Hermann 200 Plinius (C. Plinius Secundus) 138 Pompeius, Gnaeus Magnus 119 Pontecorvo, Gillo 123 Postone, Moishe 108, 285 Pouillon, Jean 35, 77 Priesterkönig Johannes 196 Priscilla (Prisca, Glaubensschwester von Montanus) 128 Proudhon, Pierre-Joseph 104 Proust, Marcel 116 Pugach, Sara 230

R Rainer, Arnulf 334 Rainer, Peter Paul 337 Rath, Claus-Dieter 184 Reagan, Ronald 245

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F ETISCH ALS HEURISTISCHE K ATEGORIE

Reber, Gottlieb Friedrich 257 Reichelt, Helmut 277 Reimarus, Hermann Samuel 194 Renk, Anton 330 Ribemont-Dessaignes, Georges 255 Ricardo, David 101, 104-105 Richardson, Michael 256, 265 Riedel, Andreas von 302 Rivière, Georges Henri 257, 266 Robespierre, Maximilien de 295 Rohrer, Josef 317 Roubine, Isaak I. 99 Rousseau, Jean-Jacques 194 Rumohr, Carl Friedrich von 334

S Sade, Donatien Alphonse François Marquis de 116 Sahlins, Marshall 55 Salama, Pierre 104-105 Sand, Carl 299 Sansi, Roger 19-20, 35, 61, 73, 216 Sartre, Jean-Paul 285 Saussure, Ferdinand de 29, 78-79, 215 Schaeffner, André 260, 267 Scheichl, Sigurd Paul 340-341 Scheit, Gerhard 277, 288 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von 119 Schlegel, Friedrich von 218, 224 Schleicher, August 221 Schmid, Josef 335, 340 Schmieder, Falko 288 Schneider, Michael 181 Scholem, Gershom 119-120 Schönauer, Helmuth 321 Schönherr, Karl 326 Schrader, Paul 115 Schulenberg, Graf 303 Schulz-Flügel, Eva 134 Schwarzenberg, Karl Philipp von (zu) 303 Scorsese, Martin 28, 115, 117-118, 123

Sedlnitzky von Choltitz, Josef Graf 305 Shakespeare, William 93 Siemann, Wolfram 298-300 Simeon der Säulenheilige (Simeon Stylites der Ältere) 149 Sked, Alan 297-299 Smith, Adam 87, 101, 104 Snell, Bruno 116 Sofsky, Wolfgang 296, 298 Sonnenfels, Joseph von 301 Sonnleiter, Johann 330 Sontag, Susan 116 Staa, Herwig van 326 Stadion, Johann Philipp von 303 Statius, Publius Papinius 87 Steinlechner, Siegfried 318, 331, 333, 336-337 Steub, Ludwig 339 Stock, Brian 150 Stock, Norbert 329 Streitenfeld, Franz Hebenstreit von 302 Sumerau, Baron 303 Surgy, Albert de 65, 73, 75 Surya, Michel 264-265 Swanwick, Catherine 321

T Tacitus, P. Cornelius 119 Tell, Wilhelm 323 Tertullian (Q. Septimius Florens Tertullianus) 28, 125-142 Thaler, Josef 337 Theuderich II., König 147, 158 Thiel, Josef F. 223 Titus Petronius (genannt Arbiter) 87 Tobia-Chadeisson, Michèle 60, 66 Trojanow, Ilja 299 Turteltaub, Jon 240 Tylor, Edward Burnett 68, 77, 86

N AMENSREGISTER

U Ultzheimer, Andreas Josua 198

V Vaz, Gaspar 47 Vico, Giambattista 116 Vitrac, Roger 255 Voltaire (François Marie Arouet) 88, 193-195, 205-206, 209, 211

W Wallnöfer, Eduard 337 Wallpach, Arthur von 339 Walter, Friedrich 302 Warburg, Aby 257, 260 Waszink, Jan H. 126-127, 133, 135 Weber, Beda 323, 332 Weber, Max 97 Weder, Christine 25, 29-30 Weiler, Max 334 Weinberger, Hannes 334 Weiss, Peter 123 Weißenbach, Alois 337 Wiesengrund, Theodor 92 Wildenstein, Georges 257 Wilhelm Tell 323 Winden, Jacobus C.M. van 126127, 133, 135 Wirth, Hans-Jürgen 179 Wittgenstein, Ludwig Josef Johann 51, 90 Woolf, Virginia 115 Wordsworth, William 323 Wörndle, Johann Kaspar von 332

X Xenophanes von Kolophon 86-87

Z Zarivarij, Julie Gräfin (Julie von Pauer) 317 Zedler, Johann Heinrich 334 Zeh, Julie 299 Zerack, Ralf 293-294 Zingerle, Ignaz Vinzenz 336 Zwingli, Ulrich 202

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Kultur- und Medientheorie Erika Fischer-Lichte, Kristiane Hasselmann, Alma-Elisa Kittner (Hg.) Kampf der Künste! Kultur im Zeichen von Medienkonkurrenz und Eventstrategien Dezember 2011, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-89942-873-5

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Sebastian Hackenschmidt, Klaus Engelhorn (Hg.) Möbel als Medien Beiträge zu einer Kulturgeschichte der Dinge Juni 2011, 316 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1477-0

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Kultur- und Medientheorie Annette Jael Lehmann, Philip Ursprung (Hg.) Bild und Raum Klassische Texte zu Spatial Turn und Visual Culture Dezember 2011, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1431-2

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Barbara Eder, Elisabeth Klar, Ramón Reichert (Hg.) Theorien des Comics Ein Reader September 2011, 464 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1147-2

Lutz Hieber, Stephan Moebius (Hg.) Ästhetisierung des Sozialen Reklame, Kunst und Politik im Zeitalter visueller Medien Oktober 2011, 352 Seiten, kart., zahlr. Abb., 31,80 €, ISBN 978-3-8376-1591-3

Henry Keazor, Thorsten Wübbena Video thrills the Radio Star Musikvideos: Geschichte, Themen, Analysen September 2011, 494 Seiten, kart., 250 Abb., 39,80 €, ISBN 978-3-89942-728-8

Dorothee Kimmich, Schamma Schahadat (Hg.) Kulturen in Bewegung Beiträge zur Theorie und Praxis der Transkulturalität Januar 2012, ca. 260 Seiten, kart., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1729-0

Albert Kümmel-Schnur, Christian Kassung (Hg.) Bildtelegraphie Eine Mediengeschichte in Patenten (1840-1930) März 2012, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1225-7

Peter Moormann, Albrecht Riethmüller, Rebecca Wolf (Hg.) Paradestück Militärmusik Beiträge zum Wandel staatlicher Repräsentation durch Musik Januar 2012, ca. 368 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1655-2

Dorit Müller, Sebastian Scholz (Hg.) Raum Wissen Medien Zur raumtheoretischen Reformulierung des Medienbegriffs Dezember 2011, ca. 366 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1558-6

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