Die Karibik: Zur Geschichte, Politik und Kultur einer Region. 3 neu bearbeitete und erweiterte Auflage 9783964565778

Diese neu bearbeitete und erweiterte Einführung in den karibischen Kulturraum gilt als Standardwerk.

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Die Karibik: Zur Geschichte, Politik und Kultur einer Region. 3 neu bearbeitete und erweiterte Auflage
 9783964565778

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Vorwort zur 3. Auflage
Einführung
TEIL 1: Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in Geschichte und Gegenwart
TEIL 2: Kulturen zwischen kolonialer Assimilation und postkolonialer Kreolisierung
Literaturverzeichnis
Register

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Frauke Gewecke Die Karibik

Frauke Gewecke

Die Karibik Zur Geschichte, Politik und Kultur einer Region

3. neu bearbeitete und erweiterte Auflage

VERVUERT VERLAG



FRANKFURT AM

2007

MAIN

Bibliografrsche Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. © Vervuert Verlag 2007 Wielandstr. 40 D-60318 Frankfurt am Main [email protected] www.ibero-americana.net ISBN 978-3-86527-314-7 Umschlaggestaltung: Michael Ackermann

Gedruckt auf säure- und chlorfreiem, alterungsbeständigem Papier gemäß ISO-Norm 9706 Printed in Spain D.L.: Z-176/2007

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

7

Einfuhrung

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T E I L 1: P O L I T I K , W I R T S C H A F T

UND GESELLSCHAFT

IN

GESCHICHTE

UND GEGENWART

13

1

Eroberung und Hegemonie der Spanier: 1 4 9 2 - c a . 1600

13

2

Wettrennen der europäischen Großmächte: das 17. Jahrhundert . . . .

15

3

Von der Siedlergesellschaft zur Sklavenhaltergesellschaft:

4 5

das 17. und 18. Jahrhundert

16

Revolution, Abolition und Desintegration: das 19. Jahrhundert

19

Der US-amerikanische Imperialismus: Karibische Doktrin, „big stick policy" und Politik der Guten Nachbarschaft: 1 8 9 8 - 1958

25

6

Revolution, Isolation und erste Ansätze zur Integration: 1 9 5 9 - 1979

28

7

Das verlorene Jahrzehnt: die 80er Jahre

36

8

Die Karibik in einer globalisierten Welt: die 90er Jahre und der Aufbruch in ein neues Jahrtausend •Jamaika (60) • Trinidad und Tobago (64) • Barbados (68) • Dominica (70) • St. Lucia (73) • St. Vincent und die Grenadinen (75) • Antigua und Barbuda (76) • St. Kitts und Nevis (78) • Grenada (80) • Bahamas (82) • Kuba (84) • Dominikanische Republik (93) • Haiti (99) • Guyana (105) • Suriname (109) • Belize (112) • Aruba, Niederländische Antillen (115) • Guadeloupe, Martinique, Französisch-Guayana (119) • Puerto Rico (122)

56

6

Die Karibik 9 Die Offensive der USA: vom Kalten Krieg zur pax americana 10 Das Engagement anderer Staaten: ein Gegengewicht? • Kanada (139) • Die lateinamerikanischen Anrainerstaaten: Mexiko, Kolumbien, Venezuela, Brasilien (141) • Die Europäische Gemeinschaft/ Europäische Union (147) 11 Die Antwort der Region: Gratwanderung zwischen regionaler Solidarität und nationalem Egoismus

TEIL 2: K U L T U R E N ZWISCHEN KOLONIALER ASSIMILATION

2 3

4

5

6

7

Koloniale Dependenz und romantischer Patriotismus: der englische, niederländische und französische Sprachraum im 19. Jahrhundert . . . Kampf um politische Unabhängigkeit und Ringen um ein kreolisches Selbstverständnis: der spanische Sprachraum im 19. Jahrhundert . . . . Engagement oder Eskapismus: der Autor angesichts neokolonialer Dependenz und diktatorialer Gewalt (Kuba, Puerto Rico, Dominikanische Republik) Auf der Suche nach der verlorenen (afrikanischen) Identität: Harlem Renaissance, afrocubanismo, haitianischer Indigenismus und negrittide Los pasosperdidos oder: die Herausforderung der konfliktiven Gegenwart • Westlndies (199) • Niederländische Antillen und Suriname (210) • Martinique, Guadeloupe, Französisch-Guayana (213) • Haiti (220) • Puerto Rico (226) • Dominikanische Republik (230) • Kuba (235) „Binnenkultur" und „Gegenkultur": von der literarischen und musikalischen Folklore zu Calypso, Reggae, Rasta-Ideologie und Latino Rap Migration, Exil und transterritoriale Lebenswelten: die Karibik in Europa und den USA • Cubanos und Cuban Americans (254) • Nuyoricans und AmeRtcans (259) • West Indians und Black Britons (262) • Antillais und negropolitains (265)

Literaturverzeichnis Register

159

UND

POSTKOLONIALER KREOLISIERUNG

1

127 137

165

166 171

177

186 197

243 252

269 277

Vorwort zur 3. Auflage

Seit Erscheinen der 2. Auflage sind fast 20 Jahre vergangen: zwei Jahrzehnte, in denen sich die Welt verändert hat. Mit der Auflösung der Sowjetunion und dem Ende des Ost-West-Konflikts wandelte sich die politische Großwetterlage, wandelten sich auch die geostrategischen Interessen und Prioritäten der Vereinigten Staaten von Amerika, der einzig verbliebenen Supermacht. Unter dem vielzitierten Stichwort der Globalisierung dominiert heute ein wirtschafte- und entwicklungspolitisches Konzept, das bereits in den 1980er Jahren den Kleinstaaten der Karibik schmerzhafte, mit hohen sozialen Kosten verbundene Reformen abverlangte und über dessen Chancen und Risiken keine Einigkeit besteht. Die Veränderungen, die die Region in den vergangenen zwei Jahrzehnten im Bereich von Politik, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur erlebte, waren so einschneidend, dass sie nicht allein über eine aktualisierende Fortschreibung erfasst werden konnten. So wurden einzelne Kapitel neu entworfen, wurden andere hinzugefügt. Die grundlegende Konzeption des Buches ebenso wie Anspruch und Ziele blieben dagegen unverändert. Der Band liefert eine Einführung in zwei getrennt dargestellte, aber inhaltlich aufeinander bezogene Bereiche: Teil 1 behandelt Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in Geschichte und Gegenwart; Teil 2 widmet sich den kulturellen, insbesondere literarischen Äußerungsformen und Zeugnissen im Konflikt zwischen kolonialer Assimilation und der Behauptung nationaler oder „karibischer" Identität. Der Versuch, einen politisch und kulturell so vielfältigen Raum wie die Karibik in einer knapp gehaltenen Einführung vorzustellen, birgt Probleme und Gefahren, die mir bewusst sind. Um den Charakter (und

8

Die Karibik

Umfang) einer Überblicksdarstellung zu wahren, musste aber auf manch wünschenswerte Vertiefung und Differenzierung verzichtet werden. Mein Anliegen ist, eine erste Orientierung zu bieten und Interesse zu wecken. Mein Bemühen gilt der sachlichen Darstellung: eine Selbstverständlichkeit. Ebenso selbstverständlich erscheint mir aber auch das Recht, das eigene - auch politische - Engagement einzubringen, solange die daraus resultierende Bewertung für den Leser nachvollziehbar ist.

Einfuhrung

Einheit in der Vielfalt: mit dieser nur vordergründig plakativ anmutenden Aussage könnte man den karibischen Raum als in sich geschlossenen Kulturraum charakterisieren. Die Vielfalt gründet in der naturräumlichen und politischen Fragmentierung ebenso wie in den unterschiedlichen ethnisch-kulturellen Traditionen; die Einheit beruht auf der gemeinsamen historischen Erfahrung ebenso wie auf der aktuellen Situation. Diese ist dadurch gekennzeichnet, dass trotz weitgehender Ansätze zu einer regionalen Integration auf politischer und wirtschaftlicher Ebene die Jahrhunderte währende Außenabhängigkeit geblieben ist, auf kultureller Ebene dagegen über den Prozess der Transkulturation oder „Kreolisierung" vielfach eigenständige und binnenorientierte Ausdrucksformen entwickelt wurden. Die Konstanten Fragmentierung, Außenabhängigkeit und Kreolisierung bilden neben bestimmten Faktoren der kolonialzeitlichen Entwicklung die Kriterien für die kulturräumliche Zuordnung und Eingrenzung, bei der das Konzept der „kleinen" Karibik dem der „größeren" Karibik entgegengestellt wird. Während die „größere" Karibik (Greater Caribbean, Caribbean Basin) neben der karibischen Inselwelt auch Mexiko, Zentralamerika und die Anrainerstaaten des Karibischen Meeres auf dem südamerikanischen Kontinent umfasst, schließt das hier zugrunde gelegte engere Konzept des karibischen Raums nur jene Gebiete des Küstensaums mit ein, deren historische Entwicklung mit jener der karibischen Inseln verknüpft ist. So ergibt sich als naturräumliche Gliederung: neben den Großen Antillen (Kuba, Hispaniola, Jamaika, Puerto Rico), den Kleinen Antillen („Inseln über dem Winde" und „Inseln unter dem Winde"), den Cayman-Inseln, den Bahamas sowie den Türks- und Caicos-Inseln auf der zentral-

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Die Karibik

amerikanischen Landbrücke Belize und auf dem südamerikanischen Kontinent Guyana, Suriname und Französisch-Guayana. Dieser noch relativ übersichtlichen naturräumlichen Gliederung entspricht eine politische Gliederung, die auf den ersten Blick wie ein verwirrendes Puzzle erscheint. Sie umfasst 28 Staaten und Verwaltungseinheiten, deren Status im Falle staatsrechtlicher Abhängigkeit sehr unterschiedlich ist und historisch gewachsene Kolonien ebenso umfasst wie neuerlich „assoziierte" Staaten und „Überseedepartements". Im Einzelnen erschließt sich die politische Gliederung wie folgt:

1 . U N A B H Ä N G I G E S T A A T E N ( J A H R DER

UNABHÄNGIGKEIT)

Haiti (1804), Dominikanische Republik (1844; endgültig 1865), Kuba (1902), Jamaika (1962), Trinidad und Tobago (1962), Barbados (1966), Guyana (1966), Bahamas (1973), Grenada (1974), Suriname (1975), Dominica (1978), St. Lucia (1979), St. Vincent und die Grenadinen (1979), Antigua und Barbuda (1981), Belize (1981), St. Kitts und Nevis (auch: St. Christopher und Nevis, 1983)

2 . ABHÄNGIGE

GEBIETE

(a) von Großbritannien: Anguilla, Montserrat, Cayman-Inseln, (br.) Jungfern-Inseln, Turks- und Caicos-Inseln (= Overseas Territories) (b) von Frankreich: Guadeloupe (mit Marie Galante, Les Saintes, La Désirade, Saint-Barthélemy und dem Norden von Saint-Martin/Sint Maarten), Martinique, Französisch-Guayana (= Départements d'Outre-Mer) (c) von den Niederlanden: Aruba, Niederländische Antillen (Bonaire, Curaçao, Saba, Sint Eustatius und der Süden von Sint Maarten/Saint-Martin) (= autonome Gebiete mit Königreichsstatut) (d) von den USA: Puerto Rico (= Estado Libre Asociado/Commonwealth of Puerto Rico), (US-)Jungfern-Inseln (= unincorporatedterritory)

Die meisten Staaten und Territorien gehören zum englischen Sprachraum; spanischsprachig sind Kuba, die Dominikanische Republik und Puerto Rico; frankophon ist neben den französischen Uberseedepartements Haiti; niederländisch ist die Amtssprache in Aruba, den Niederländischen Antillen und Suriname. (Mit den europäischen Standardsprachen Französisch und Niederländisch konkurrieren verschiedene auf ihnen basierende Kreolsprachen.) Um Heterogenität wie Homogenität des karibischen Kulturraums zu begreifen, ist ein Rückgriff auf die gemeinsame historische Erfahrung unerläss-

Einfuhrung

11

lieh: die koloniale Abhängigkeit, die fiir den Großteil der Region über vier Jahrhunderte andauerte und aufgrund der Rivalitäten zwischen den europäischen Kolonialmächten für einige Territorien einen vielfachen Besitzerwechsel mit sich brachte; die Verschleppung und Versklavung als kollektive Erfahrung fiir den zahlenmäßig dominierenden Bevölkerungsteil der Farbigen oder Afroamerikaner; der Aufbau einer monokulturellen, ausschließlich auf die Bedürfnisse der Metropole ausgerichteten Plantagenwirtschaft, die über Jahrhunderte auf der Sklaverei, nach deren Abschaffung auf der Arbeitsleistung von Kontraktarbeitern vornehmlich aus Indien, China und Indonesien beruhte; seit Mitte des 20. Jahrhunderts die massive Emigration in die (ehemaligen) Metropolen und in die USA, wo sich neue, transkulturelle oder border-\Acntitäten formierten; schließlich für die völkerrechtlich unabhängigen Staaten der noch heute andauernde Prozess der Entkolonisierung auf politischer und wirtschaftlicher Ebene, überlagert durch weitgehende Außenabhängigkeit, insbesondere von den USA. Spätestens mit Beginn des 20. Jahrhunderts wurde der karibische Raum zum „Hinterhof' der Vereinigten Staaten mit dem Karibischen Meer als mare nostrum, das aufgrund seiner strategischen Bedeutung als lebenswichtige Verkehrsader notfalls auch durch den Einsatz von marines gegen US-feindliche Einflüsse und Bestrebungen verteidigt wurde. Nach der Kubanischen Revolution von 1959 wurde mit zunehmender innen- und außenpolitischer Stabilisierung Kubas der Einfluss der Vereinigten Staaten in der Region zunächst empfindlich geschwächt. Mit Ronald Reagan, der versprach, den karibischen Raum vom „Hinterhof' der USA in ihren „Vorhof' zu verlegen, wurde während der 80er Jahre durch finanz- und wirtschaftspolitische wie durch militärische Initiativen dem US-amerikanischen Hegemonialanspruch erneut Geltung verschafft, wodurch das mühsam aufrecht erhaltene Gleichgewicht in der Region gestört und der zuvor initiierte Prozess der regionalen Integration behindert wurde. Seit den 90er Jahren haben sich die sicherheits- und wirtschaftspolitischen Prioritäten der Vereinigten Staaten erneut gewandelt, ist die Karibik wieder in ihren „Hinterhof geraten. Stattdessen traten andere Akteure in Erscheinung: die Europäische Union, deren Außengrenze in 7 000 km Entfernung von Europa in der Karibik liegt und die über eine gemeinsame Politik vorrangig ihre Wirtschaftsinteressen in der Region gegen die Konkurrenz der USA zu verteidigen sucht; und die „strategische Allianz" einiger lateinamerikanischer Staaten, die unter Führung der „Bolivarianischen Republik" Venezuela einen progressiv-nationalistischen Kurs eingeschlagen haben und der von den USA dominierten Weltwirtschaftsordnung entgegenzusteuern suchen.

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Die Karibik

Die Kleinstaaten der Karibik hatten seit den 60er Jahren auf eine importsubstituierende Industrialisierung und eine protektionistische Wirtschaftspolitik gesetzt. In die Schuldenfalle geraten, beugten sie sich den Auflagen der vom Internationalen Währungsfonds und der Weltbank verfugten Strukturanpassungsprogramme, die auf einen Rückzug des Staates und die Liberalisierung der Märkte abzielten. Ende der 80er Jahre hatte sich die verordnete Kursänderung weithin durchgesetzt, wähnte man sich fit fur das heraufziehende Zeitalter der neoliberalen Globalisierung. Doch die Risiken sind hoch, denn die Kleinstaaten verfügen nur über beschränkte Ressourcen und erscheinen kaum wettbewerbsfähig in einer asymmetrischen Weltwirtschaftsordnung, deren Rahmenbedingungen Außenabhängigkeit nicht abbauen, sondern verstärken. Die Uberwindung der wirtschaftlichen und damit auch politischen Abhängigkeit ist bislang keinem karibischen Staat gelungen. Für die Überwindung kultureller Abhängigkeit und die Definition oder Konstruktion einer nationalen oder „karibischen" Identität gibt es hingegen ausreichend Belege: von den ersten literarischen Zeugnissen eines patriotischen bzw. kreolischen Selbstbewusstseins im 19. Jahrhundert über die afroamerikanischen Bewegungen des afrocubanismo, des haitianischen Indigenismus und der négritude bis hin zu Äußerungsformen einer „Binnen-" oder „Gegenkultur", von der sogenannten Folklore bis zu Rasta-Ideologie und Karneval, Calypso, Reggae und Latino Rap. Dem Prozess der kulturellen Entkolonisierung sind aber auch Grenzen gesetzt. Z u m einen fehlen in vielen Ländern die für ein reiches und binnenorientiertes Kulturschaffen unerlässlichen infrastrukturellen Voraussetzungen ebenso wie ein interessiertes und kaufkräftiges Publikum, da häufig unzureichende Bildung und/oder mangelnde Kaufkraft diesem den Zugang zur (Schrift-) Kultur erschweren. Zum andern gilt don, wo im Rahmen der „offiziellen" Kultur um Identität und kulturelle Eigenständigkeit gerungen wird, die Zurückweisung fremder und entfremdender Einflüsse weithin nur ftir Minderheiten, nicht jedoch fur die Mehrheit der Bevölkerung. Die Globalisierung ist auch ein kulturelles Phänomen, das zwar weltweite Kommunikation fördert, das aber eine Standardisierung von Kultur bewirkt, die sich nicht an der Peripherie, sondern - in Form der vielzitierten „McDonaldisierung" oder „CocaColonialisierung" - am Zentrum orientiert. Die Migration von Millionen Menschen aus der Karibik in die USA und nach Europa mag einem solchen Phänomen Vorschub leisten. Sie bewirkte aber auch, dass neue, bikulturelle oder „transnationale", Identitäten und Ausdrucksformen entstanden — eine Kultur, der ein subversives Potential innewohnt und die im Fall der Latinos in den USA oder den Westlndians in Großbritannien mittlerweile den mainstream im Zentrum erreicht und verändert hat.

TEIL 1

Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in Geschichte und Gegenwart

1 E R O B E R U N G U N D H E G E M O N I E DER S P A N I E R : 1 4 9 2 - CA.

1600

Als Kolumbus auf seiner ersten „Indien-Reise" 1492 die Inseln der Karibik fxir Europa und die Europäer entdeckte, lebten in diesem Raum (nach vorsichtigen Schätzungen) etwa 1 Million Menschen, 100 000 bis 300 000 davon auf jener Insel, die Kolumbus die „Spanische Insel" (Hispaniola) nannte. Die Eingeborenen, denen die Spanier dort begegneten, waren Tainos aus der Sprachfamilie der Aruak oder Arawak. Sie waren friedliche, den Europäern äußerst anmutig erscheinende Lebewesen, welche die Fremden mit allen Zeichen der Freundschaft und Ergebenheit empfingen. Doch die Begegnung mit den weißen Männern, die den Eingeborenen zunächst wie gottähnliche Wesen erschienen, sollte für sie verheerende Folgen haben. Die Grausamkeit und Habgier der Konquistadoren, die zumeist die Aussicht auf schnellen Reichtum zu der nicht ungefährlichen Uberfahrt bewogen hatte, begünstigt durch das System der repartimientos, das den Spaniern die Verfügungsgewalt über eine bestimmte Anzahl Indios übertrug und de facto deren Versklavung beinhaltete, führten neben eingeschleppten Krankheiten innerhalb weniger Jahrzehnte zur fast vollständigen Ausrottung der Tainos in der Region. Denn diese waren zu sehr in kleinere Stammesverbände zersplittert und aufgrund der relativ niedrigen Entwicklungsstufe ihrer Kultur den neuen Herren allzu sehr unterlegen, als dass sie ihnen - wie es auf dem Kontinent geschah — mit der Macht eines gefestigten, kulturell in Blüte stehenden Staatswesens hätten entgegentreten können.

14

Die Karibik

Nur den kriegerischen Kariben, die vor allem auf den kleinen peripheren Inseln weitab von den üblichen Schiffahrtswegen lebten und somit den Interessenbereich der Spanier nicht direkt berührten, gelang es, bis in das 17. Jahrhundert in zahlreichen Enklaven Unabhängigkeit und kulturelle Eigenständigkeit zu bewahren. Sie leisteten bei gelegendichen Übergriffen der Spanier erbitterten Widerstand. Ihre „barbarischen" Sitten, ihre vorgebliche Grausamkeit und der ihnen zugeschriebene Kannibalismus lieferten hinreichendes Material für die phantastischsten Berichte und eine willkommene Rechtfertigung der spanischen Eroberungspraxis. In den ersten Jahren der Erforschung und Eroberung Amerikas war Hispaniola Zentrum der spanischen Besiedlung und Brückenkopf für weitere Aktivitäten in der Karibik und auf dem Kontinent. Cortés, Pizarra, Alonso de Ojeda, Núñez de Baiboa, Ponce de León, ja selbst Bartolome de Las Casas, der später als ,Apostel der Indios" hervortrat, hatten teil an dem ungeheuren wirtschaftlichen Aufschwung dieser Jahre. In dem Fundament der Prosperität dieser ersten spanischen Besitzung in der Neuen Welt lag aber auch der Keim ihres Niedergangs. Nachdem bereits im Zuge der großen „Befriedungskampagne" im Sommer/Herbst 1503 die einheimische Bevölkerung drastisch dezimiert worden war, taten das System der repartimientos und die Zwangsverpflichtung der Indios zur Arbeit in den Minen ein Übriges. Um 1510 waren die ursprünglich auf Hispaniola ansässigen Tainos um etwa die Hälfte reduziert, und durch den zusätzlichen Abzug der bereits knapp gewordenen Arbeitskräfte aus der Landwirtschaft fiir ihren Einsatz in den Minen konnte die Versorgung der weißen Bevölkerung - um 1508 ca. 12 000 Menschen — nicht mehr gewährleistet werden. Und da die Spanier nicht willens waren, für den eigenen Unterhalt die eigene Arbeitskraft einzusetzen, sahen sich die meisten gezwungen, ihr Glück woanders zu suchen. An die Stelle Hispaniolas als Zentrum der spanischen Expansion trat zunächst Kuba. Doch mit der Entdeckung der Gold- und Silberschätze auf dem Kontinent verlagerte sich das Schwergewicht der spanischen Aktivitäten von Kuba endgültig auf das Festland, und nur die strategische Bedeutung der Insel ftir den Transatlantikverkehr verhinderte ihren Ruin. Um 1570 war die Präsenz der Spanier in der Karibik so weit zurückgegangen, dass die nun verstärkt nachrückenden anderen europäischen Staaten in ein Machtvakuum stießen. Neben etwa 22 000 Indios lebten auf den karibischen Inseln noch knapp 7 500 Spanier. Durch die Rassenmischung und den bereits mit Beginn des 16. Jahrhunderts einsetzenden Sklavenhandel aber war eine neue, heterogene gesellschaftliche Gruppe entstanden, die sich aus

1. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in Geschichte und Gegenwart

15

Schwarzen, Mulatten und Mestizen zusammensetzte und die bereits um 1570 mit etwa 56 000 Menschen 65% der Gesamtbevölkerung in dieser Region ausmachte.

2 W E T T R E N N E N DER EUROPÄISCHEN DAS 1 7 .

GROßMÄCHTE:

JAHRHUNDERT

Mit dem Ende des 16. Jahrhunderts endete auch die spanische Vorherrschaft in der Karibik. Zwar hatten bereits zuvor Franzosen und vor allem Engländer - unter ihnen so berühmte Freibeuter oder Piraten wie John Hawkins und Francis Drake - zahlreiche Versuche unternommen, die Position der Spanier im karibischen Raum zu schwächen; doch hatten sie sich zumeist darauf beschränkt, Hafenstädte zu plündern und spanische Schiffe zu kapern, die mit den in Mexiko und Peru erbeuteten Schätzen an Bord von Kuba oder Puerto Rico aus den Rückweg nach Spanien antraten und stets reiche Beute versprachen. Erst nach dem Sieg der englischen Flotte über die spanische Armada (1588) sowie dem Ende der Religionskriege in Frankreich (1598) und der nachfolgend gelungenen Konsolidierung des französischen Königtums wuchs auch das Interesse der aufsteigenden europäischen Großmächte an einer gezielten Expansion in den spanischen überseeischen Besitzungen. Die Niederländer waren die ersten, die sich im Wettrennen um die Teilhabe am Reichtum der Neuen Welt behaupten konnten. Auf dem südamerikanischen Kontinent gelang es ihnen im heutigen Suriname, eine erste dauerhafte Kolonie zu gründen, um dann die kleinen, strategisch wichtigen Inseln vor der Küste des heutigen Venezuela zu besetzen. Um 1640 hatten sie mit Hilfe der 1621 gegründeten Westindischen Handelskompanie das spanische Handelsmonopol durchbrochen und kontrollierten - bis zum 2. Englisch-Holländischen Krieg 16651667 — den gesamten Handel im karibischen Raum. Selbst vor Akten der Piraterie schreckten die Niederländer nicht zurück, um den spanischen Erzfeind zu treffen. So gelang es dem legendären Piet Heyn, einem Angestellten der Westindischen Handelskompanie, 1628 vor Havanna die gesamte spanische Silberflotte zu kapern. Da durch die Niederlande die spanischen Positionen empfindlich geschwächt waren, wurde das Nachrücken der Engländer und Franzosen schließlich entscheidend begünstigt. Die Engländer wandten sich nach einem ersten Misserfolg auf dem südamerikanischen Kontinent zunächst den Kleinen Antillen zu. Sie besetzten St. Kitts, Barbados, Nevis, Antigua und Montserrat, konnten aber auf anderen Inseln wie St. Lucia und Tobago ihre Stützpunkte gegen den Widerstand der ein-

16

Die Karibik

heimischen Kariben nicht halten. Ein großer Nachteil der englischen Expansionspolitik in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts bestand in der Existenz mehrerer miteinander rivalisierender Handelskompanien, und erst um die Mitte des Jahrhunderts wurde unter Thomas Gage ein zentral gelenkter Angriff auf die spanischen Besitzungen im karibischen Raum gestartet. Doch das großangelegte Unternehmen — Oliver Cromwells berühmtes Western Design — endete in einem Fiasko, und nur das relativ unbefestigte Jamaika fiel 1655 in die Hände der Engländer. Den Franzosen gelang es mit Hilfe der von Kardinal Richelieu 1635 gegründeten Compagnie des Iles d'Amérique, auf Martinique und Guadeloupe beständige Siedlungskolonien zu gründen. Diese dienten als Basis für die weitere Expansion nach Saint-Barthélemy, Saint-Martin, Grenada, St. Lucia (SainteLucie) und dem westlichen Teil von Hispaniola, Saint-Domingue, dem heutigen Haiti. Unter Colbert wurde dann durch die Reorganisation der staatlichen Handelskompanie die koloniale Verwaltung neu strukturiert und unter direkte Kontrolle der Krone gestellt. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts war für Spanien das Ende der Hegemonialstellung im karibischen Raum nicht nur de facto, sondern auch de jure besiegelt. Nachdem die Spanier bereits im Westfälischen Frieden 1648 gleichzeitig mit der Unabhängigkeit der Niederlande deren überseeische Besitzungen anerkannt hatten, mussten sie auch den Verlust Jamaikas an England (im Madrider Friedensvertrag 1670), der nun französischen Kolonien auf den Kleinen Antillen sowie Hispaniolas (im Friedensvertrag von Rijswijk 1697) hinnehmen. 3 V O N DER S I E D L E R G E S E L L S C H A F T ZUR S K L A V E N H A L T E R G E S E L L S C H A F T : DAS 1 7 . U N D 1 8 . J A H R H U N D E R T

Das 17. Jahrhundert erlebte im karibischen Raum den Übergang von der Siedlungskolonie zur Herrschafts- oder Ausbeutungskolonie. Die Siedlungskolonie basierte im Wesentlichen auf dem Anbau verschiedener Produkte wie Tabak, Baumwolle und Zuckerrohr sowie der Viehhaltung in relativ kleinen Betriebseinheiten. Sie war zwar vornehmlich auf den Handel mit dem Mutterland ausgerichtet, hatte aber im Laufe der Zeit eine gewisse Unabhängigkeit von der Metropole sowie ein eigenes Selbstverständnis gewonnen. Die Ausbeutungskolonie hingegen, deren Angelpunkt die monokulturell angelegte Plantagenwirtschaft war, verfolgte in der Regel ausschließlich die rasche Ver-

1. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in Geschichte und Gegenwart

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mehrung des eingesetzten Kapitals, ohne dass sich die Plantageneigner der Kolonie in irgendeiner Weise verpflichtet fühlten. Dies galt insbesondere für die englischen Besitzungen, deren weiße Oberschicht sich die meiste Zeit im Mutterland aufhielt und auf den Plantagen durch Vorarbeiter vertreten ließ. Durch die Umstellung bzw. exklusive Ausrichtung der Agrarproduktion auf Zuckerrohr, bedingt durch eine schnelle Steigerung der diesbezüglichen Nachfrage in den europäischen Metropolen, war die Ausweitung der Anbaugebiete immer dringlicher geworden. Gleichzeitig war auch der Bedarf an Arbeitskräften gestiegen, den der vorwiegend im Auftrag der europäischen Regierungen durch private Konzessionsgesellschaften betriebene Sklavenhandel mit afrikanischen Schwarzen stets nur mühsam zu decken vermochte. Von den insgesamt etwa 10 Millionen Schwarzen, die in der über 300-jährigen Geschichte des atlantischen Sklavenhandels die Verschiffung nach Amerika überlebten - etwa 2 Millionen starben während der Überfahrt - , gelangte die Hälfte in die europäischen Besitzungen im karibischen Raum und bestimmte fortan die ethnische wie die soziale Struktur der karibischen Gesellschaften. Diese Sklavenhaltergesellschaften waren geprägt durch eine Kastenordnung, 1 die ihre Entstehung und ihre Sanktionierung durch das erfuhr, was man als „Pigmentokratie" bezeichnen kann. Das heißt: die jeweilige Gesellschaft war streng hierarchisch in klar definierte und gegeneinander abgegrenzte Gruppen gegliedert, deren Zusammensetzung und interne Rangordnung neben dem Faktor Arbeit durch die Rasse bzw. die Hautfarbe bestimmt wurde. Die Rassenmischung förderte allerdings über Generationen eine gewisse soziale Mobilität sowohl in vertikaler als auch in horizontaler Richtung. Drei Kasten — oder clases, wie es im spanischsprachigen Raum hieß — bestimmten die Gesellschaftsstruktur: die der Sklaven, die der freien Farbigen und die der Weißen. Die Kaste der Sklaven gliederte sich in die noch in Afrika geborenen ,Afrikaner", die in Amerika geborenen und daher bereits in gewisser Weise „akklimatisierten" Afroamerikaner und die Mulatten. Das höchste Ansehen innerhalb dieser Gruppe genossen die Letztgenannten, die in der Re-

1 Das Konzept der „Kastenordnung" entwickelte für die gemischtrassigen Gesellschaften in Amerika der schwedische Historiker Magnus Mörner (u.a. in RaceMixture in the History of Latin America, 1967). Es muss aber betont werden, dass die ursprüngliche, etwa im Zusammenhang mit dem indischen Kastensystem entwickelte Begriffsbestimmung von „Kaste" und „Kastenordnung" nur mit Einschränkungen verwendbar ist, da in Lateinamerika die für das indische Kastensystem gegebene religiöse Sanktionierung fehlte und die Trennung zwischen den einzelnen gesellschaftlichen Gruppen nicht so strikt war, als dass sie nicht - insbesondere durch die Rassenmischung - überwunden werden konnte.

18

Die Karibik

gel nicht bei der schweren Feldarbeit, sondern im Haus eingesetzt wurden und als erste die Freiheit erlangten. Die Kaste der freien Farbigen bildeten überwiegend Mulatten; Schwarze waren während der Blütezeit der Sklavenhaltergesellschaft in dieser Gruppe nur als Minderheit vertreten. Sie konzentrierte sich auf den Urbanen Sektor und konnte bis zum Ende des 18. Jahrhunderts weite Bereiche von Handel und Gewerbe in ihrer Hand konzentrieren. Gesellschaftliches Ansehen wie Selbstverständnis des Einzelnen bestimmte neben der materiellen Situation die Schattierung der Hautfarbe. Auch innerhalb der Kaste der Weißen war der soziale Status unterschiedlich; er hing vor allem von der wirtschaftlichen Macht und damit von der Möglichkeit der politischen Einflussnahme ab. An der Spitze dieser Gruppe standen die Adligen und die Eigner der großen Plantagen, die principal whites, grands blancs oder peninsulares. Ihnen folgten die höheren Chargen der Armee und Verwaltung sowie die reichen Kaufleute, darauf die Vertreter der freien Berufe und schließlich die Mehrheit von kleinen Händlern und Farmern, Tagelöhnern und Gewerbetreibenden, die poor whites, petits blancs oder guajiros. Neben dieser „offiziellen" Gesellschaftsformation existierten sogenannte transfrontier groups, die sich zwar als Alternative zur kolonialen Sozialstruktur etablierten, diese aber zu keiner Zeit ernsthaft gefährdeten. Die bestorganisierten und am längsten überdauernden Gemeinwesen dieser Art bildeten entlaufene Sklaven (maroons, marrons, cimarrones), die sich in entlegenen und schwer zugänglichen Gegenden niederließen und sich erfolgreich gegen die Strafexpeditionen ihrer ehemaligen Herren verteidigen konnten. In Jamaika waren diese maroon towns so gut organisiert, dass sie nach zahlreichen bewaffneten Auseinandersetzungen 1739 und 1795 mit der Kolonialmacht Friedensverträge aushandeln konnten. In Saint-Domingue gelang dies den marrons von Le Maniel, denen von Seiten der Autoritäten eine gewisse formale Unabhängigkeit vertraglich zugesichert wurde. Doch dafür, dass sie sich mit den lokalen Behörden arrangierten und einen halb legalen Status erhielten, zahlten die maroons und marrons einen hohen Preis: Verlust an innerer Autonomie und Vitalität und - damit gekoppelt - Verlust an kultureller Identität. Schließlich wurden sie sogar so weit in das koloniale Gesellschaftssystem wieder eingegliedert, dass sie mit den weißen Herren kollaborierten und entlaufene Sklaven, die bei ihnen Zuflucht suchten, (zumeist gegen Kopfgeld) an ihre Besitzer überstellten. Die zweite transfrontier society bildeten die Flibustier oder Freibeuter, die in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts ihre Blütezeit erlebten. Waren sie ur-

1. Politik, Wirtschaft u n d Gesellschaft in Geschichte u n d Gegenwart

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sprünglich von den Regierungen Frankreichs, Englands und der Niederlande geduldet, bei ihren gegen den gemeinsamen Feind Spanien gerichteten Aktionen häufig sogar mit offiziellem Auftrag betraut worden, so wurden sie ab 1670 mit zunehmender militärischer Stärke der europäischen Großmächte und wachsender Prosperität der Kolonien als simple Piraten und outlaws behandelt und verfolgt. Im Gegensatz zu den entlaufenen Sklaven gründeten die Freibeuter und Piraten zu keiner Zeit langlebige organische Gemeinwesen und versuchten nie, eine eigene kulturelle Identität zu finden. Vielen gelang es, sich wieder in die Herkunftsgesellschaft einzugliedern, wobei diese Rückkehr nicht selten mit sozialem Aufstieg verbunden war. Das berühmteste Beispiel war Henry Morgan, der Anfuhrer der Piraten auf Jamaika, der als Sir Henry Morgan zum „General von Jamaika" und Gouverneur dieser englischen Kolonie befördert wurde. 4 REVOLUTION, ABOLITION UND DAS 1 9 .

DESINTEGRATION:

JAHRHUNDERT

Mit dem 19. Jahrhundert begann der Niedergang der Sklavenhaltergesellschaften. Der Verfall der Zuckerrohrplantagen, das zunehmende demographische und wirtschaftliche Gewicht der freien Farbigen, die Zersplitterung innerhalb der weißen Führungsschicht, Sklavenaufstände, wachsende Schwierigkeiten bei der Beschaffung von Sklaven und schließlich das endgültige Verbot des Sklavenhandels waren nur einige Faktoren, die diesen Prozess bewirkten und beschleunigten. In der französischen Kolonie Saint-Domingue enduden sich die in der Sklavenhaltergesellschaft angelegten Konflikte bereits gegen Ende des 18. Jahrhunderts in einer blutigen Revolution, die zwar Haiti (nach den USA) als zweitem amerikanischen Staat die Unabhängigkeit bescherte, die aber für die Wirtschaft des Landes katastrophale Folgen hatte. Auslöser war - wie bei den meisten bis dahin in der Region ausgebrochenen Konflikten - ein europäisches Ereignis: die Französische Revolution von 1789. Unter dem Banner der im Mutterland propagierten Ideale von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit sammelten sich in Saint-Domingue (zunächst unter Ausschluss der Sklaven) alle Sektoren der freien Bevölkerung, um ein jeder für sich von der revolutionären Bewegung im Mutterland zu profitieren. Die grands blancs, die vermögenden Plantagenbesitzer, verlangten mehr Freiheit angesichts der politischen und wirtschaftlichen Abhängigkeit von der Metropole. Die finanziell schlechter gestellten und daher politisch marginalisierten petits blancs forderten die Gleichheit der Weißen ohne Ansehen ihres

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Die Karibik

Vermögens und damit die eigene Beteiligung in allen Bereichen der kolonialen Verwaltung. Und die gens de couleur, die freien Farbigen, propagierten neben dem Prinzip der Gleichheit das der Brüderlichkeit, das über alle Rassenschranken hinweg auch die gesellschaftliche Gleichstellung der freien Farbigen (nicht aber der Sklaven) mit den Weißen beinhaltete. Mit Unterstützung der kurz zuvor in Frankreich gegründeten Société des Amis des Noirs (Gesellschaft der Freunde der Schwarzen), der so wortgewaltige und einflussreiche Männer wie der Graf Mirabeau und der Marquis de La Fayette angehörten, errang die Partei der freien Farbigen 1791 einen ersten Sieg. Im Mai verabschiedete die Pariser Nationalversammlung ein Dekret, in dem ihnen in allen kolonialen Angelegenheiten ein Stimmrecht zuerkannt wurde. Dieses Dekret in der Praxis durchzusetzen, erwies sich aber als äußerst schwierig. Und während sich die drei Fraktionen der freien Bevölkerung in Saint-Domingue in wechselhaften Allianzen bekriegten, erwuchs ihnen Gefahr von einer Seite, die weder die Weißen noch die Mulatten zu irgendeinem Zeitpunkt ihrer Auseinandersetzungen in ihr Kalkül einbezogen hatten. Im August 1791 kam es auf den Plantagen des Nordens zu einem Sklavenaufstand, dem die Mehrheit der weißen Bevölkerung zum Opfer fiel und der wie ein Feuersturm den gesamten Nordteil von Saint-Domingue verwüstete. Im Süden hingegen blieben die Sklaven willig und gefügig. Sie wurden von ihren Herren bewaffnet und gegen die Mulatten in einen mörderischen Kampf geschickt. Während der nachfolgenden zehn Jahre herrschte in Saint-Domingue ein blutiges Chaos, in das zeitweilig auch englische Invasionstruppen verwickelt waren. Frankreich betrieb, bedingt durch die wechselnden politischen Konstellationen im eigenen Land, eine recht unbeständige Kolonialpolitik. Nachdem sich zunächst das republikanische Expeditionskorps - entschlossen, die Ideale der Revolution auch gegen den Widerstand der Weißen durchzusetzen und jede Spur einer royalistischen Gesinnung auszumerzen — mit den Sklaven verbündet und deren Freilassung durchgesetzt hatte (was wiederum den Unmut der freien Farbigen hervorrief, die zum Teil selbst Sklaven besaßen), kämpften die 1802 entsandten napoleonischen Truppen unter General Leclerc gegen die aufständischen Sklaven, um im Einklang mit Napoleons Traum vom französisch-amerikanischen Imperium die alte, fur die Interessen des Mutterlandes so vorteilhafte Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung wiederherzustellen. In der Zwischenzeit war es einem ehemaligen Sklaven aus dem Norden, François Dominique Toussaint Louverture (oder L'Ouverture), gelungen, die zur Anarchie entartete Erhebung der Sklaven in geordnete Bahnen zu lenken,

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eine disziplinierte und kampfstarke Truppe aufzubauen, die englischen Invasionstruppen von der Insel zu vertreiben, den von dem Mulatten Rigaud beherrschten Süden in einem blutigen Feldzug zu unterwerfen und - allerdings unter weitgehender Missachtung der einst von der Revolution verfochtenen Prinzipien - einen politischen Neubeginn zu setzen, dem ein langsamer Prozess der wirtschaftlichen Erholung folgen sollte. Als es aber Leclerc gelang, durch mancherlei Versprechungen viele der Mitstreiter Toussaints, unter ihnen die schwarzen Generäle Jean-Jacques Dessalines und Henri Christophe, auf seine Seite zu ziehen, wurde Toussaint isoliert, schließlich verhaftet und nach Frankreich deportiert, wo er 1803 starb. Doch die Erfolge Leclercs waren ephemer. Bei dem Versuch, Toussaints Truppen aufzulösen, sah er sich dem erbitterten Widerstand der Schwarzen gegenüber, die nicht zu Unrecht seinen Absichten misstrauten. Unter dem Kommando von Dessalines konnten sie nach einem für beide Seiten verlustreichen Feldzug die Franzosen schlagen, und am 1. Januar 1804 wurde die Republik Haiti ausgerufen. Noch im selben Jahr ließ sich ihr erstes Staatsoberhaupt, Jean-Jacques Dessalines, angeregt durch das Beispiel Napoleons, als Jacques I. zum Kaiser krönen. Als Dessalines 1806 ermordet wurde, kam es noch einmal zu einem blutigen Bürgerkrieg, diesmal zwischen dem Norden - unter dem Schwarzen Henri Christophe, der als König Henri I. ein despotisches, jedoch nicht einer gewissen grandeur entbehrendes Regiment führte - und dem Süden, der dem Mulatten-General Alexandre Petion unterstand. Erst nach dem Tod von Henri Christophe, der sich 1820 in seinem Palast „Sans-Souci", wie überliefert wird, mit einer silbernen Kugel erschoss, wurde die territoriale Einheit Haitis wiederhergestellt. Die Hypothek, die auf der jungen Republik lastete, war unermesslich. Zwar konnte Haiti sich rühmen, als erste „Negerrepublik" der Welt in die Geschichte eingegangen zu sein; der Preis für die Unabhängigkeit aber war hoch, zumal sich Frankreich die Anerkennung seiner ehemaligen Kolonie als nun unabhängiger Staat teuer bezahlen ließ. Um die exorbitant hohe Entschädigungssumme (in Raten) zu begleichen, geriet Haiti bereits während des 19. Jahrhunderts in die Schuldenfalle. Die einst blühende französische Kolonie, durch den langen Bürgerkrieg verwüstet, wurde zu einem Ödland, in dem fortan für die Mehrheit der Bevölkerung materielle Not Hand in Hand ging mit autoritärer Herrschaft und Repression. Von den blutigen Kämpfen in Saint-Domingue/Haiti blieb auch der Ostteil der Insel nicht verschont. Während des 18. Jahrhunderts war Santo Domingo in spanischem Besitz geblieben, musste aber 1795 im Friedensvertrag von Basel

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D i e Karibik

— im Tausch gegen das im 1. Koalitionskrieg von französischen Truppen auf der Iberischen Halbinsel besetzte Territorium — an die Franzosen abgetreten werden. Die nachfolgenden 70 Jahre bis zur endgültigen Unabhängigkeit 1865 waren für Santo Domingo ausgesprochen turbulent und für die Beziehungen zwischen den beiden Nachbarn nicht sehr förderlich. Um die von der Metropole immer wieder hinausgezögerte Angliederung des nunmehr auch französischen Ostens an den Westen zu vollziehen, marschierte im Januar 1801 Toussaint Louverture mit einem größeren Truppenkontingent ein.2 Nachdem Reste des französischen Expeditionskorps die Haitianer wieder vertrieben hatten, wurden 1809 die Franzosen ihrerseits verjagt, und Santo Domingo wurde wieder spanische Kolonie. 1822 kam es erneut zur Besetzung durch haitianische Truppen. Nach deren Vertreibung 1844 erklärten die Dominikaner ihre Unabhängigkeit, kehrten aber aufgrund lokaler Interessenkonflikte und unter Beschwörung der vorgeblichen Gefahr einer neuerlichen haitianischen Invasion 1861 unter die spanische Kolonialherrschaft zurück, bis sich die Dominikanische Republik 1865 endgültig als unabhängiger Staat konstituierte. Die Furcht vor dem haitianischen Nachbarn bewirkte in der Dominikanischen Republik ein Trauma, das die Beziehungen beider Länder bis in die Gegenwart belastet. Ein ähnliches Trauma bewirkte während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Erinnerung an die Haitianische Revolution bei der politisch und wirtschaftlich dominierenden, aber zahlenmäßig unterlegenen weißen Oberschicht in den anderen Nachbarkolonien. Doch war die Furcht vor einem Überspringen des revolutionären Funkens unbegründet. Mit Ausnahme von Guadeloupe, wo Victor Hugues, der „Robespierre der Antillen", einen Sklavenaufstand anzettelte und die Aufhebung der Sklaverei verfugte eine Maßnahme, die er dann unter massivem Einsatz der Guillotine wieder rückgängig machte —, waren die etablierten sozioökonomischen Strukturen trotz mehrfacher blutiger Aufstände beispielsweise der maroons auf Jamaika und der Kariben auf St. Vincent zu keinem Zeitpunkt ernsthaft durch ein Aufbrechen interner Konflikte gefährdet, was vor allem auf die starke militärische Präsenz der Engländer, aber auch auf die geringere Explosivkraft der Gegen-

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Das entscheidende Motiv für den Einmarsch Toussaints zu diesem Zeitpunkt war der

U m s t a n d , dass auf Seiten der Spanier in Santo D o m i n g o eine Emigrationswelle eingesetzt hatte u n d es diesen gestattet war, die Kolonie unter M i t n a h m e ihrer „beweglichen H a b e " und damit unter M i t n a h m e auch ihrer Sklaven - zu verlassen. In Saint-Domingue hatte die Republik aber die Sklaverei abgeschafft; und nach französischem Verständnis galt dies automatisch auch für den Ostteil der Insel.

1. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in Geschichte und Gegenwart

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sätze innerhalb des freien Bevölkerungssektors in diesen Kolonien zurückzuführen war. Die Desintegration der Sklavenhaltergesellschaften in der Karibik bewirkte letztlich ein von außen ins Spiel gebrachter Faktor: das von den europäischen Metropolen erlassene Verbot des Sklavenhandels und die erst Jahrzehnte später durchgesetzte Aufhebung der Sklaverei - in England 1833, in Frankreich 1848, in den Niederlanden 1863, in Spanien erst 1873 (für Puerto Rico) bzw. 1880 (für Kuba). 3 Das Verbot des Sklavenhandels hatte die englische Regierung für die englischen Schiffe, die über 50% dieses einträglichen Geschäfts betrieben, bereits 1807 verfügt; und bis 1820 waren die meisten europäischen Staaten dem Beispiel Englands gefolgt. Durch die stillschweigende Duldung von Seiten der französischen und spanischen Behörden und durch einen blühenden Schmuggel auch unter Beteiligung englischer Schiffe hatte man dieses Verbot teilweise umgehen können. In den 30er Jahren aber war die Versorgung der karibischen Zuckerrohrplantagen mit den nötigen Arbeitskräften immer prekärer geworden. Hinzu kam, dass infolge der mit Beginn des 19. Jahrhunderts in Europa einsetzenden Produktion von billigerem Rübenzucker die Zuckerpreise einen katastrophalen Einbruch erlebten, so dass die nicht mehr konkurrenzfähigen, weil kaum technisierten und von daher kostenintensiven Plantagen vollends dem Bankrott anheimfielen. Das Ende der Plantagenwirtschaft führte in weiten Teilen der Karibik zu einer wenn auch nur geringfügigen Diversifizierung der Anbauprodukte. Das radikale Absinken der Bodenpreise bewirkte eine weitgehende Parzellierung der Anbauflächen, was zwar Kleinbauern und Landarbeiter, vor allem die ehemaligen Sklaven, begünstigte, gleichzeitig aber das Volumen der Agrarproduktion drastisch verringerte. Dort wo die Zuckerrohrkulturen erhalten blieben, wurden die bankrotten Plantagen zu riesigen Latifundien zusammengefasst, und die Beschaffung der hierfür erforderlichen Arbeitskräfte wurde durch Anwerbung von Kontraktarbeitern vornehmlich aus Asien gesichert. Das größte Kontingent stellten Inder - von 1838 bis 1917 nahezu eine halbe Million —, die insbesondere im heutigen Guyana, in Suriname und Trinidad einen hohen Anteil an der Gesamtbevölkerung repräsentieren.

3 In Kuba blieb die Sklaverei noch de facto über mehrere Jahre erhalten, da die Sklaven bei ihrer Freilassung dem „Patronat" ihrer früheren Eigentümer unterstellt wurden und die Plantagen nicht verlassen durften. Erst 1 8 8 6 wurde dieses Patronatssystem abgeschafft und die Sklaverei damit endgültig aufgehoben.

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D i e Karibik

Ausgenommen von dem allgemeinen Niedergang der Sklavenhaltergesellschaften war Kuba, das durch weitgehende Mechanisierung der Zuckerproduktion und dank des der Madrider Regierung 1818 abgetrotzten Zugeständnisses des Freihandels nach dem Ausfall von Saint-Domingue zum wichtigsten Zuckerlieferanten der europäischen Metropolen aufstieg. Dank des großen wirtschaftlichen Gewichts der Kolonie für die spanische Krone, auch dank der innenpolitischen Wirren im Mutterland vermochte sich Kuba während des 19. Jahrhunderts der politischen und administrativen Kontrolle Spaniens weitgehend zu entziehen, so dass die Aufhebung der Sklaverei von den Plantagenbesitzern über 50 Jahre erfolgreich bekämpft werden konnte. Als die Abolition schließlich nicht mehr zu verhindern war, bedeutete die Sklaverei für die kubanische Wirtschaft ohnehin nichts weiter als einen Anachronismus, da nur noch ca. 20% der Arbeitskraft von Sklaven gestellt wurden. Auch hinsichtlich der Bevölkerungsstruktur und der sozioökonomischen Verhältnisse nahm Kuba in der Karibik eine Sonderstellung ein. Neben den im Westen der Insel vorherrschenden, auf Kaffee- und Zuckerrohranbau basierenden exportorientierten Großplantagen hatte insbesondere im Osten der Typ der Siedlungskolonie aus der Pionierzeit überlebt. Und da dieser aufgrund der expandierenden Tabakkulturen am allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwung der Insel partizipierte, besaß das ökonomische wie das soziale Gefälle innerhalb der weißen Bevölkerungsgruppe - um 1870 betrug ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung etwa 60% — bei weitem nicht die konfliktiven Ausmaße wie etwa zwischen den grands blancs und den petits blancs in Saint-Domingue vor Beginn des haitianischen Unabhängigkeitskampfes. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts aber wurde ein Großteil der Kaffee- und Tabakpflanzungen durch die weiterhin expandierende Zuckerindustrie verdrängt; diese war bereits in den 80er Jahren zunehmend unter die Kontrolle US-amerikanischer Unternehmen geraten.

1. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft in Geschichte und Gegenwart

5 DER US-AMERIKANISCHE

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IMPERIALISMUS:

K A R I B I S C H E D O K T R I N , „BIG STICK P O L I C Y " UND P O L I T I K DER G U T E N N A C H B A R S C H A F T :

1898 -

1958

Als gegen Ende des 19. Jahrhunderts für die Vereinigten Staaten von Amerika die Erfüllung eines langgehegten Wunsches, die Kontrolle über einen interozeanischen Kanal in Zentralamerika, greifbar nahe war,4 rückte der karibische Raum aus strategischen Gesichtspunkten verstärkt in die US-amerikanische Interessensphäre. Zwar hatten die USA schon im 19. Jahrhundert wiederholt versucht, durch Unterstützung abenteuerlicher Expeditionen sowie durch verlockende Kaufangebote - für Kuba wurden bis zu 120 Millionen Dollar geboten — Inseln der Karibik dem US-amerikanischen Territorium anzugliedern; doch waren die Unternehmungen im Vergleich zu dem, was das 20. Jahrhundert bringen sollte, eher zaghaft und keineswegs Produkt einer systematisch betriebenen Expansionspolitik. Erst mit der US-amerikanischen Intervention im 2. Kubanischen Unabhängigkeitskrieg5 wurde die Monroe-Doktrin von 1823 — Prinzip des InterventionsVerbots für europäische Mächte im Interessenbereich der USA - zusammen mit der sogenannten Roosevelt Corollary - Interventionsgi?£oi fiir die USA bei Bedrohung ihrer Interessen - zu einer fundamentalen „Karibischen Doktrin". Im Verbund mit dem häufig angeführten Argument, im Fall einer Bedrohung Leben und Interessen US-amerikanischer Bürger schützen zu müssen, diente diese Doktrin fortan als Vorwand und Rechtfertigung für den in Zentralamerika und der Karibik aus häufigem Anlass kritisierten „Yankee-Imperialismus". Als 1895 kubanische Aufständische einen erneuten Versuch unternahmen, die Kolonialherrschaft der Spanier abzuschütteln, von diesen aber relativ schnell zurückgeschlagen wurden, kam für die USA der Moment zu intervenieren. Eine bis heute ungeklärte Explosion auf dem nach offiziellen Verlautbarungen zum Schutz US-amerikanischer Bürger vor Havanna liegenden Kriegsschiff Maine diente den USA 1898 als Vorwand, Spanien den Krieg zu erklären und US-amerikanische Truppen nach Kuba zu entsenden. Nach einem nur 4 Zu ihrem Ziel gelangten die U S A 1 9 0 3 , als sich die kolumbianische Provinz Panama mit US-amerikanischer Rückendeckung fiir unabhängig erklärte und den 1 8 8 1 von den Franzosen begonnenen Kanalbau ebenso wie Kontrolle und Nutzungsrechte den U S A übertrug, die den Bau 1 9 1 4 fertig stellten. 5 Der 1. Unabhängigkeitskrieg 1 8 6 8 - 7 8 scheiterte, da weder die Plantagenbesitzer noch die Sklaven sich den Nationalisten anschlössen, diese zudem untereinander insbesondere in der Frage des anzustrebenden Status - Autonomie, Unabhängigkeit oder Anschluss an die U S A - zerstritten waren.

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Die Karibik

kurzen Feldzug musste Spanien noch im selben Jahr kapitulieren und im Friedensvertrag von Paris neben den Philippinen und Guam sowohl auf Kuba als auch auf Puerto Rico verzichten. Puerto Rico blieb zunächst von den USA militärisch besetzt; 1917 erhielten die Puertoricaner das Bürgerrecht der Vereinigten Staaten; und seit 1952 besitzt die Insel als unincorporated territory den Status eines Estado Libre Asociado oder Commonwealth-Status. Kuba blieb bis 1902 von US-Truppen besetzt, erhielt dann die nominelle Unabhängigkeit. Doch das Platt Amendment von 1901, das von den Kubanern, wenn auch widerstrebend, als Ergänzung zu ihrer Verfassung akzeptiert worden war, garantierte den USA auch fiir die Zukunft ein umfassendes Interventionsrecht, wodurch Kuba faktisch zu einem US-amerikanischen Protektorat wurde. Bis zum Ende der 20er Jahre kam es unter Berufung auf diesen Verfassungszusatz mehrfach (1906-09, 1912, 1917-19) zu militärischen Interventionen und vorübergehender Besetzung — dies stets dann, wenn es galt, ein konservatives oder gar korruptes, den USA jedoch genehmes Regime zu stützen. Von 1920 bis zum Sturz der Batista-Diktatur Ende 1958 war der Einfluss der USA auf Kuba in Wirtschaft und Verwaltung derart gefestigt, dass es einer militärischen Intervention nicht mehr bedurfte, um die ,Amerikanisierung" der Insel weiter voranzutreiben. Bevor die Kubanische Revolution diesem Prozess ein unerwartetes Ende setzte, waren 36% der ertragreichsten Ländereien, 90% der Bergbauproduktion und 90% der Dienstleistungsbetriebe in USamerikanischer Hand, war die Außenhandelsverflechtung mit den USA so extrem verlaufen, dass 77% des kubanischen Exports und 70% des kubanischen Imports über die USA abgewickelt wurden. Doch die Mehrheit der Bevölkerung, insbesondere die der Rassendiskriminierung ausgesetzten Afrokubaner, profitierte kaum von dem immensen wirtschaftlichen Aufschwung, der Kuba zum Paradies US-amerikanischer Investoren und Havanna zum „Bordell" der USA machte. Misswirtschaft und Korruption beherrschten die politische Szene, öffentliche Ämter dienten vorrangig der persönlichen Bereicherung. „Die Präsidentschaften von Gerardo Machado (1925-33) und Fulgencio Batista (1940-44; 1952-59; Kubas 'starker Mann' seit 1933)", so das Urteil des Historikers Franklin W. Knight, „unterschieden sich voneinander allein in der Art und Weise, wie sie in aller Öffentlichkeit politischen Mord, Manipulation der Verfassung und militärische Gewalt einsetzten, entweder um in ihr Amt zu gelangen oder um es zu behalten."6 6 The Caribbean. The Genesis ofa Fragmented Nationalism. New York: Oxford University Press 1978, S. 174.

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Die von Theodore Roosevelt eingeleitete „big stick policy", die sich in Kuba in einer für die Vereinigten Staaten so vorteilhaften Weise bewährt hatte, erwies sich auch in anderen formal unabhängigen Staaten der Karibik, in Haiti und in der Dominikanischen Republik, als vorzügliches Instrument, die Interessen US-amerikanischer Investoren durchzusetzen. Beide Länder waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch zum Teil korrupte, repressive Militärregime und fortgesetzte Bürgerkriege an den Rand des politischen wie wirtschaftlichen Bankrotts geraten, so dass einer Intervention von Seiten der USA kein ernstzunehmender Widerstand entgegengesetzt werden konnte. Als die Dominikanische Republik 1905 mit der Rückzahlung ihrer hohen Auslandsschulden an europäische Bankhäuser in Verzug geriet, übernahmen die USA zunächst die Kontrolle über die Zolleinnahmen, um einem befürchteten Eingreifen von Seiten der betroffenen europäischen Staaten zuvorzukommen — eine Maßnahme, die zwei Jahre später vertraglich abgesichert wurde und den USA fortan die Kontrolle über die Finanzen und damit auch über die politischen Entscheidungsprozesse garantierte. Als durch einen Aufstand in Santo Domingo 1916 die Vereinigten Staaten ihre Position gefährdet sahen, kam es zur Besetzung des dominikanischen Territoriums, die bis 1924 andauerte. Nahezu gleichzeitig wurde auch Haiti Ziel einer militärischen Intervention von Seiten der USA. Anlass und Vorwand war die politische Instabilität, verschärft durch Aufstände von Kleinbauern und Pächtern, den sogenannten cacos, die 1915 den amtierenden Präsidenten ermordeten. In Haiti gelang es, durch gezielte Maßnahmen die Infrastruktur zu verbessern und die wirtschaftlichen Aktivitäten merklich anzukurbeln. Doch als die USA 1934 das Land verließen, war es ihnen dort ebensowenig wie in der Dominikanischen Republik gelungen, die Basis dessen zu schaffen, was sie stets als Ziel ihrer „zivilisatorischen" Erziehungsarbeit proklamiert hatten: die Herausbildung demokratischer Institutionen und Traditionen sowie die Schaffung eines verantwortlichen gesellschaftlichen Bewusstseins innerhalb der nationalen Eliten. In der Dominikanischen Republik kam 1930, sechs Jahre nach dem Abzug der US-Truppen, mit Rückendeckung der USA Rafael Leonidas Trujillo durch einen Putsch an die Macht. Bis zu seinem gewaltsamen Tod 1961 beherrschte er faktisch die Schaltstellen der Macht, kontrollierte nahezu 7 5 % der nationalen Wirtschaft und führte ein unerbittliches Terrorregime. In Haiti dauerte die Rückkehr zur offenen Diktatur etwas länger. Nach einer Zeit relativer politischer Stabilität, in der die Präsidenten - nicht ohne aktive Mitwirkung der einheimischen Militärs - abwechselnd von den „Nationalisten" (der Partei der Schwarzen und Bauern) und den „Liberalen" (der Partei der Mulatten und ge-

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hobenen Mittelschicht) gestellt wurden, übernahm 1957 François Duvalier („Papa Doc") nach einem beachtlichen, allerdings manipulierten Wahlsieg das Präsidentenamt. Zweifellos genoss Duvalier zu Beginn seines Aufstiegs vom engagierten Landarzt zum einflussreichen Politiker besonders unter der schwarzen, vorwiegend kleinbäuerlichen Bevölkerung große Sympathien. Doch schon bald nach seinem Amtsantritt wurde deutlich, dass er nach dem Vorbild seiner (zu diesem Zeitpunkt noch) prosperierenden Amtskollegen — die Somozas in Nicaragua, Pérez Jiménez in Venezuela, Trujillo in der Dominikanischen Republik, Batista in Kuba - sein Mandat als legitimes Mittel zur persönlichen Bereicherung und diktatorialen Alleinherrschaft betrachtete. Mit Hilfe der von ihm gegründeten Spezialtruppe der tonton makout (offizielle Bezeichnung: Volontaires de la Sécurité Nationale) wurde jeder Funke eines sich regenden Widerstands brutal unterdrückt und Haiti trotz formalrepublikanischer Verfassung in eine Art „Erbdiktatur" verwandelt, die beim Tod François Duvaliers 1971 auf seinen Sohn Jean-Claude („Baby Doc") überging. Duvalier prosperierte (wie andere seiner Amtskollegen) auch durch internationale Unterstützung, insbesondere die massive Finanz- und Wirtschaftshilfe der USA, die es sich mit wachsender „Stabilisierung" der karibischen Staaten leisten konnten, trotz gelegentlicher „Rückfälle" — etwa in Guatemala 1954 und in der Dominikanischen Republik 1965 - der „big stick policy" den Rücken zu kehren, um im Geist der von Franklin D. Roosevelt proklamierten „Politik der Guten Nachbarschaft" auf subtilere Weise ihre Vormachtstellung in der Karibik zu behaupten und auszuweiten: durch finanzielle, wirtschaftliche und technische Hilfestellung. Die von den Vereinigten Staaten ausgearbeiteten und finanzierten Programme haben sicher einen nicht geringen Beitrag zum wirtschaftlichen Aufschwung in Teilregionen der Karibik geleistet. Die strukturell bedingte soziale Ungerechtigkeit, diktatoriale Gewalt und (neo-) koloniale Abhängigkeit haben sie durch ihren Beitrag jedoch nicht beseitigt, sondern durch ihren „Imperialismus des Kapitals" verstärkt.

6 R E V O L U T I O N , ISOLATION U N D ERSTE A N S Ä T Z E ZUR

INTEGRATION:

1959 - 1979 Mit der Vertreibung des verhassten Diktators Batista und dem Sieg der Guerilla unter Fidel Castro am 1. Januar 1959 begann in der Geschichte der Karibik eine neue Phase, die auf gesamtamerikanischer Ebene, ja sogar weltweit die politische Kultur veränderte. Zwar gelang den Kubanern nicht, ihre

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Revolution zu „exportieren" und dem bewaffneten Befreiungskampf, wie auf der Tricontinentale in Havanna 1966 gefordert, auch auf dem südamerikanischen Kontinent zum Sieg zu verhelfen; doch nach anfänglicher Isolation konnte sich Kuba in den 70er Jahren immer mehr als Wortführer der Dritten Welt profilieren und die - trotz starker wirtschaftlicher und infolgedessen auch politischer Verflechtung mit der Sowjetunion - zweifelsfreie Originalität des kubanischen Sozialismus unter Beweis stellen. Die Anfänge der Revolution waren noch nicht von marxistischem Gedankengut inspiriert. Weder zum Zeitpunkt des missglückten Sturms auf die Moncada-Kaserne in Santiago am 26. Juli 1953 noch während des zweijährigen Guerillakampfes, der dem Sieg der Aufständischen vorausging, waren die Ziele andere als die einer radikal-bürgerlichen Revolution: Sturz des Diktators, Rückkehr zur Verfassung von 1940 und damit zur parlamentarischen Demokratie, Reformen im Agrarsektor, im Bildungs- und Gesundheitswesen. Erst im Verlauf des Jahres 1959, als deutlich wurde, dass das Batista-Erbe nicht allein durch eine reformistische Politik zu bewältigen war, gewann die Kommunistische Partei (Partido Socialista Populär, PSP) zunehmend an Einfluss, nachdem sie sich noch 1958 von der Bewegung ferngehalten und einem Aufruf der Aufständischen zum Generalstreik sogar widersetzt hatte. Die anfänglichen internen Flügelkämpfe wurden von der Offendichkeit angesichts der Versorgungsprobleme und der Möglichkeit einer militärischen Intervention von außen kaum wahrgenommen. Nach der Verstaadichung US-amerikanischen Privatbesitzes errichteten die Vereinigten Staaten 1960 ein Exportembargo.7 Im Januar 1961 erfolgte der Abbruch der diplomatischen Beziehungen,8 1964

7 Dieser Maßnahme ging eine Reihe von Schritten voraus, die im Zusammenhang mit der Agrarreform und der zunehmenden innenpolitischen Radikalisierung auf eine Eskalation in den Beziehungen zwischen beiden Staaten hinsteuerten. Auf die Weigerung der in Kuba ansässigen US-amerikanischen Raffinerien, das im Rahmen eines sowjetisch-kubanischen Handelsvertrags gelieferte Rohöl zu verarbeiten, stellte die Regierung diese Ende Juni 1960 unter staatliche Treuhandverwaltung. Die USA antworteten mit der Kürzung der von ihnen bis dahin als Abnahmegarantie gewährten Zuckerquote, woraufhin die kubanische Regierung ein Gesetz erließ, das die Verstaatlichung von Vermögen US-amerikanischer Unternehmen und Privatpersonen (gegen Entschädigung) ermöglichte. Darauf erfolgte von Seiten der USA die völlige Streichung der Zuckerquote, woraufhin die Kubaner neben anderen USamerikanischen Firmen alle 36 US-amerikanischen Zuckerfabriken enteigneten. Die Antwort der USA hierauf war im Oktober 1960 die Verhängung zunächst eines Export-, dann eines generellen Handelsembargos. 8 Trotz des Abbruchs der diplomatischen Beziehungen kam es im Verlauf der Jahrzehnte durchaus zu Kontakten, insbesondere im Zusammenhang mit der Regelung von Ausrei-

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Die Karibik

schließlich der unter massivem Druck der USA zustande gekommene Ausschluss Kubas aus der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) und nachfolgend der Abbruch der diplomatischen Beziehungen von Seiten aller lateinamerikanischen Staaten mit Ausnahme Mexikos. Doch die USA bedienten sich nicht nur diplomatischer und wirtschaftlicher Druckmittel und Sanktionen. Über die CIA unterstützten sie im April 1961 die exilkubanische Invasion in Playa Girón (die sogenannte „Schweinebucht-Invasion"), die ohne allzu große Schwierigkeiten zurückgeschlagen wurde und den von den USA sicher nicht bedachten Effekt hatte, dass die Kubaner in einer beispiellosen Kampagne fiir die Verteidigung „ihrer" Revolution mobilisiert werden konnten. Im darauffolgenden Jahr konnten dagegen die Vereinigten Staaten einen Erfolg verbuchen. Sie errichteten ein Handelsembargo, dessen Einhaltung auch bei den westlichen Verbündeten (vorübergehend) durchgesetzt wurde, und erzwangen im Oktober 1962 während der sogenannten „Raketen-Krise" den Abbau kurz zuvor installierter sowjetischer Raketenbasen. Die einzelnen Phasen des Entwicklungsprozesses der Revolution nachzeichnen hieße, den Rahmen dieses historischen Überblicks zu sprengen; benannt seien daher nur die wichtigsten Etappen. Nach Einleitung einer umfassenden Agrarreform zugunsten einer Konzentration der landwirtschaftlich genutzten Fläche in staatlicher Hand und Überführung kleinbäuerlichen Privatbesitzes in Kooperativen,9 die zu einem Ende der Unterbeschäftigung in der Landwirtschaft führte, wurde in einer großangelegten Alphabetisierungskampagne die Zahl der Analphabeten praktisch auf null reduziert, wurden das Bildungs- und Gesundheitswesen ausgebaut, qualitativ verbessert und als unentgeltliche Dienstleistung des Staates allen zugänglich gemacht. Die Umstrukturierung der 1965 als Einheitspartei gegründeten (neuen) Kommunistischen Partei (Partido Comunista de Cuba, PCC) auf ihrem 1. Kongress 1975, die im Jahr darauf durch Referendum erfolgte Annahme einer sozialistischen Verfassung und die kurz danach durchgeführten Wahlen zu den Organen der

seanträgen. Diese werden über die Ständige Vertretung abgewickelt, die unter Jimmy Carter 1 9 7 7 in Havanna errichtet wurde. 9 Die erste, noch gemäßigte Agrarreform von 1959, die Grundbesitz über 4 0 0 ha enteignete, richtete sich vorrangig gegen die US-amerikanischen Konzerne. Die zweite Agrarreform von 1 9 6 3 war radikaler, indem sie privaten Grundbesitz auf 6 7 ha begrenzte, wovon nicht nur die einheimische Agraroligarchie, sondern auch die größeren bäuerlichen Betriebe, nicht ohne Widerspruch hervorzurufen, betroffen waren.

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„Volksmacht", des Poder Populär,10 waren die entscheidenden Etappen in einem Prozess der Demokratisierung und gleichzeitigen Institutionalisierung der Revolution. Doch mit der wachsenden Einflussnahme der Partei auf alle Bereiche des öffentlichen Lebens und der zunehmenden Hierarchisierung in Armee, Verwaltung und politischem Apparat wurde die basisdemokratische Verfassung der Gesellschaft ausgehöhlt, wurden zudem nicht überwundene wirtschaftliche Probleme noch virulenter: wirtschaftliche Schwierigkeiten aufgrund des Handelsembargos, unzureichende Versorgung mit Nahrungsmitteln und Verbrauchsgütern, steigende Inflation, Ineffizienz und Bürokratismus im Verwaltungsapparat, niedrige Produktivität der Arbeitskraft aufgrund fehlender materieller Anreize, Unzufriedenheit beim Verbraucher aufgrund mangelnder Konsummöglichkeiten und schließlich Unmut angesichts einer Presse, deren geistige Armut auch von Fidel Castro wiederholt angeprangert wurde. Er ebenso wie sein Bruder Raul, der „zweite Mann" im Staat, verwiesen mehrfach auf die „Schwächen des Sozialimus", wobei als Grund für den „berechtigten Ärger" in weiten Teilen der Bevölkerung vorrangig die mangelnde Disziplin und Nachlässigkeit der Führungskader genannt wurde. Steigen musste der Arger in der Bevölkerung weiterhin durch die 1978/79 im Gefolge einer vorübergehenden Annäherung zwischen Kuba und den Vereinigten Staaten möglich gewordene besuchsweise Rückkehr von etwa 100 000 Exilkubanern, den gusanos, den „Würmern", wie Fidel Castro sie einst genannt hatte - dieselben, die nun den Kubanern auf der Insel vor Augen führten, welche Konsummöglichkeiten die als kapitalistisch geschmähten USA bereithielten. Doch trotz aller wirtschaftlichen Probleme, trotz des „berechtigten Ärgers" vieler Kubaner erreichte die Bevölkerung in ihrer Gesamtheit im sozialen Bereich eine Lebensqualität, wie sie vor der Revolution und ohne die Revolution nicht denkbar gewesen wäre; dies allerdings nicht ohne auf manches verzichten zu müssen, was in westlichen Industrienationen als unverzichtbar gilt: etwa Freizügigkeit fiir Ausreisewillige oder Bereitstellung eines größeren Konsuman-

10 Bis zur Wahlrechtsreform von 1991 wählten die Gemeindeversammlungen, fiir die jeder Bürger über 16 Jahre das aktive und passive Wahlrecht besitzt, für eine Amtsperiode von fünf Jahren die Delegierten der Provinzversammlungen und der zweimal im Jahr zusammentretenden Nationalversammlung. Diese bestimmt die Zusammensetzung des 31-köpfigen Staatsrats, der (auf Vorschlag des Staatsratsvorsitzenden) den Ministerrat als oberstes Exekutivorgan ernennt. Staatsrats- und Ministerratsvorsitzender ist in Personalunion Fidel Castro, der auch die Position des Ersten Sekretärs der Kommunistischen Partei und die des Oberkommandierenden der Streitkräfte innehat.

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Die Karibik

gebots, was sich Kuba als (nach eigenem Verständnis) immer noch unterentwickeltes Land nicht leisten konnte. In der Karibik gewann das Beispiel Kuba während der 70er Jahre zunehmend an Attraktivität, wenn auch Fidel Castro aufgrund seiner prosowjetischen Haltung in der Afghanistan-Debatte der UNO innerhalb der Blockfreien-Bewegung an Prestige einbüßen musste. Die internationalen Implikationen der Afghanistan-Krise und die (in einer Botschaft an die UN-Konferenz für Handel und Entwicklung abgeschwächte) Bündnistreue gegenüber der Sowjetunion waren jedoch fiir viele Regierungschefs der vor allem mit wirtschaftlichen Nöten geplagten Staaten in der Karibik kein Thema, das sie hätte veranlassen können, angesichts der Leistungen der Revolution Castro ihren Respekt zu versagen. Dies galt für Michael Manley in Jamaika, der nach dem 1972 und 1976 errungenen Wahlsieg seiner People's National Party (PNP) weitreichende wirtschaftliche und soziale Reformen einleitete und den mit Fidel Castro persönliche Freundschaft verband. Sein Programm des demokratischen Sozialismus, das neben einer Agrarreform die Verstaatlichung weiter Bereiche im Dienstleistungssektor wie in der Industrie beinhaltete, zielte auf eine grundlegende Strukturveränderung zugunsten der ärmeren Bevölkerungsschichten ab und sollte gleichzeitig eine binnenorientierte, die strukturelle Abhängigkeit überwindende wirtschaftliche Entwicklung ermöglichen. Einen prokubanischen Kurs verfolgte auch Linden Forbes S. Burnham in Guyana, der - nachdem er sich in den 60er Jahren noch gemäßigt und prowestlich gegeben hatte" - 1970 das Land zur „Kooperativen Republik" erklärte und 1980 eine sozialistische

11 Bumhams politische Karriere hatte bereits 1950, noch vor der Unabhängigkeit Guyanas, begonnen, als er zusammen mit dem marxistisch orientierten Cheddi Jagan die People's Progressive Party (PPP) gründete, die als nationales Sammelbecken alle ethnischen Gruppen vertrat und 1 9 5 3 die ersten allgemeinen Wahlen gewann. Doch Burnham, Erziehungsminister in der Regierung Jagan, verließ die PPP und gründete 1 9 5 7 den People's National Congress (PNC) als Partei der „Afrikaner", womit er in Opposition zur Partei des „Inders" Cheddi Jagan den schwelenden Konflikt zwischen den ethnischen Gruppen wieder aufflammen ließ. Als Jagan, der mit seiner PPP auch 1 9 5 7 und 1961 die Wahlen gewann, Ansätze zu einer weitgreifenden Reformpolitik unternahm, intervenierte - unter Beschwörung einer drohenden „kommunistischen Gefahr" - die Kolonialmacht Großbritannien, verschob die ursprünglich für 1 9 6 3 vorgesehene Unabhängigkeit auf 1 9 6 6 und verhalf durch eine Änderung des Wahlrechts wie durch beständige Versuche, die Regierung Jagan zu destabilisieren, dem PNC 1 9 6 4 zu einem (knappen) Wahlsieg, galt doch Forbes Burnham im Gegensatz zu Cheddi Jagan den Briten als Garant fiir die Wahrung demokratischer Gepflogenheiten - was sich als Irrtum erweisen sollte.

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Verfassung verabschieden ließ, sich mit seinem People's National Congress (PNC) aber nur durch Repression und massive Wahlfälschung an der Macht halten konnte. Die größte Resonanz in der Region wie in der Weltöffentlichkeit gewann Maurice Bishop in Grenada, der nach seinem im März 1979 durchgeführten Putsch gegen den diktatorial regierenden Eric Gairy einen prokubanischen, nach eigenem Bekunden „national-progressistischen" Kurs steuerte und von Kuba technische Hilfe erhielt, der aber gleichzeitig auf die Hilfsangebote Kanadas, Venezuelas und der Europäischen Gemeinschaft zurückgriff- bis er im Oktober 1983 von den eigenen Leuten ermordet und der revolutionäre Prozess in Grenada durch US-amerikanische Invasionstruppen, unterstützt durch einige Inselstaaten der Region, beendet wurde. Das Ziel Maurice Bishops und seines People's Revolutionary Government war, eine selbstbestimmte, von den Prinzipien der internationalen Arbeitsteilung und den Mechanismen des Welthandels weitgehend unabhängige Entwicklung einzuleiten, und er verstand es, die Mehrheit der Bevölkerung für seine Revolution zu gewinnen. Und da es den USA nicht gelang, Grenada wie seinerzeit Kuba in der Region und der gesamten westlichen Welt zu isolieren, trat Maurice Bishop unter weit günstigeren Bedingungen an als 1959/60 Fidel Castro. Doch den Ansätzen zu einer autonomen Entwicklung waren enge Grenzen gesetzt, da der kleine Inselstaat bei Konsumgütern ebenso wie bei Investitionsgütern auf den Import angewiesen war, somit ein hoher Bedarf an Devisen bestand, so dass die Ausweitung der Anbauflächen für Grundnahrungsmittel des eigenen Bedarfs nicht zu Lasten jener Produkte gehen durfte, die traditionell für den Export bestimmt und als wichtigste Devisenquelle unverzichtbar waren. Einem solchen Dilemma sahen sich auch die anderen Kleinstaaten der Region ausgesetzt, die zwischen 1978 und 1983 die Unabhängigkeit von Großbritannien erhielten — Dominica, St. Lucia, St. Vincent und die Grenadinen, Antigua/Barbuda, St. Kitts/Nevis (oder St. Christopher/Nevis) — und die erkennen mussten, dass ihre wirtschaftlichen und sozialen Probleme nur gelöst werden konnten, wenn es gelang, gemeinsam neue Wege zur wirtschaftlichen, möglicherweise auch politischen Integration des karibischen Raums zu finden. Einen ersten diesbezüglichen Versuch für die anglophone Karibik hatte Großbritannien unternommen, als es 1958 den größten Teil seiner karibischen Besitzungen in der West Indies Federation zusammenschloss, um sie als solche in die Unabhängigkeit zu entlassen. Doch diese „von oben" verordnete Föderation von zehn administrativ unabhängigen, aufgrund ihrer unterschied-

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liehen Ressourcen und Interessen auseinander strebenden Verwaltungseinheiten oder provinces12 war nicht von Bestand, da sie einer gemeinsamen sozioökonomischen Basis entbehrte und vor allem den Bedürfnissen der beiden größten Provinzen, Jamaika und Trinidad/Tobago, entgegenstand, die aufgrund reicher Rohstoffvorkommen (Jamaika: Bauxit; Trinidad/Tobago: Erdöl) eine relative Prosperität genossen. Nach dem Austritt Jamaikas 1961 brach die Föderation im Jahr darauf zusammen. Jamaika und Trinidad/Tobago wurden noch 1962 selbständig; die anderen Provinzen, die „Little Eight", verblieben (zunächst) als Associated States in der Abhängigkeit von Großbritannien. Ein neuerlicher Versuch der Integration führte 1968 über die Gründung der Caribbean Free Trade Association (CARIFTA) zur Schaffung einer Freihandelszone, der sich bis 1971 mit Ausnahme der Bahamas alle ehemaligen und noch verbliebenen britischen Besitzungen der Karibik anschlössen. Als 1974 CARIFTA in der ein Jahr zuvor gegründeten Caribbean Community (CARICOM) und dem angegliederten Caribbean Common Market (CCM) aufging, war ein weiterer Schritt in Richtung auf eine umfassendere, über rein handelsund zollpolitische Vereinbarungen hinausgehende Integration der karibischen Commonwealth-Staaten getan, da CARICOM auch in Fragen der Außenpolitik und der Förderung von Entwicklungsprojekten sowie des Fremdenverkehrs eine Koordination anstrebte.13 Gestützt wurden die Kooperationsbemühungen durch die 1969 gegründete Caribbean Development Bank (CDB) und das 1975 in Havanna ins Leben gerufene Caribbean Development and Cooperation Committee (CDCC), dem neben anglophonen Staaten und Territorien auch

12 Die Verwaltungseinheiten oder provinces waren: Antigua/Barbuda, Barbados, Dominica, Grenada, Jamaika (mit den Cayman-Inseln und den Türks- und Caicos-Inseln), Montserrat, St. Kitts/Nevis/Anguilla, St. Lucia, St. Vincent und die Grenadinen, Trinidad/Tobago. Die Bahamas und die (br.) Jungfern-Inseln sowie Britisch-Honduras (Belize) und Britisch-Guayana (Guyana), die in historischer und geokultureller Perspektive zu den West Indies gehören, verweigerten sich der Föderation, da sie der Option einer Anbindung an die Vereinigten Staaten bzw. Mittel- und Südamerika den Vorzug gaben. 13 Unterzeichnet wurde der Gründungsvertrag der Caribbean Community am 4. Juli 1 9 7 3 in Chaguaramas (Trinidad) von Barbados, Jamaika, Guyana und Trinidad/Tobago, die zu diesem Zeitpunkt die Unabhängigkeit erlangt hatten. (Die Bahamas wurden genau sechs Tage später unabhängig.) Die noch von Großbritannien abhängigen Territorien Antigua, Britisch-Honduras (Belize), Dominica, Grenada, St. Lucia, Montserrat, St. Kitts/ Nevis/Anguilla und St. Vincent - traten dem Abkommen am 1. Mai 1 9 7 4 bei; die Bahamas folgten als 13. Mitglied am 4. Juli 1983. Das Akronym C A R I C O M stand sowohl für Ca-

ribbean Community (Karibische Gemeinschaft) als auch für Caribbean Community Common

Market

(Karibische Gemeinschaft und Gemeinsamer Markt).

and

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Kuba, Haiti, die Dominikanische Republik und die Niederländischen Antillen beitraten und das vornehmlich in der Landwirtschaft, aber auch in der industriellen und technologischen Forschung und Entwicklung eine verstärkte Zusammenarbeit vorsah. Mit der Dominikanischen Republik und Haiti war die Zusammenarbeit zunächst nur gering, da beide Staaten bis in die 80er Jahre innerhalb der Region weitgehend isoliert waren. In der Dominikanischen Republik war es nach dem gewaltsamen Tod des Diktators Trujillo am 30. Mai 1961 zu innenpolitischen Turbulenzen gekommen, bis im Dezember 1962 bei den fairsten und saubersten Wahlen in der dominikanischen Geschichte - mit fast 60% der abgegebenen Stimmen und einer Wahlbeteiligung von über 90% — Juan Bosch zum Präsidenten gewählt wurde. Bosch, der während derTrujillo-Diktatur im Exil gelebt und dort eine sozialdemokratisch orientierte Partei, den Partido Revolucionario Dominicano (PRD), gegründet hatte, ließ eine neue, liberale und progressive, Verfassung verabschieden, die auch eine tiefgreifende Agrarreform ermöglichte. Er stieß jedoch auf den Widerstand sowohl der Katholischen Kirche als auch der Bourgeoisie. Nur sieben Monate nach seinem Amtsantritt, im September 1963, wurde er durch einen Militärputsch gestürzt und ins neuerliche Exil gezwungen. Als im April 1965 die breite Opposition gegen die ungeliebte Ubergangsregierung in einen Bürgerkrieg mündete, landeten 42 000 US-amerikanische Marineinfanteristen, um die von den Aufständischen geforderte Rückkehr Juan Boschs und damit eine vermeintliche „Kubanisierung" der Dominikanischen Republik zu verhindern. Die bald darauf abgehaltenen Wahlen brachten mit Joaquín Balaguer, einst enger Mitarbeiter und Vertrauter Trujillos, wieder einen Mann in das Präsidentenamt, der den USA genehm war. Über drei Amtsperioden, von 1966 bis 1978, gelang es Balaguer, begünstigt durch die massive US-amerikanische Wirtschaftshilfe, einen beträchtlichen wirtschaftlichen Aufschwung des Landes in Gang zu setzen. Doch durch seine autoritäre, personalistische Herrschaft und die systematische Verfolgung der Opposition bescherte er den Dominikanern eine — wenn auch gemäßigte Neuauflage der Trujillo-Diktatur. Haiti erlebte eine ähnliche Kontinuität wie die Dominikanische Republik. Nach dem Tod von François Duvalier 1971 wurde das Land, der Verfassung nach eine parlamentarische Demokratie, von dessen Sohn Jean-Claude gewissermaßen als Erbe übernommen. Nachdem sein Vater die „politische Revolution" vollbracht hatte, so verkündete der bei seinem Amtsantritt gerade 18-jährige Präsident, würde er als Beitrag zum Wohl seines Volkes die „wirtschaftliche

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Revolution" vollbringen. Die „politische Revolution" bedeutete fur Haiti eine Schreckensherrschaft, die in der an blutigen Regimen keinesfalls armen Geschichte des Landes kaum ihresgleichen hatte. Und die „wirtschaftliche Revolution" bedeutete: fur den Präsidenten und seine engsten Vertrauten die Uberführung weiter Sektoren der Volkswirtschaft in ihren Familienbesitz, fiir die große Mehrheit der Bevölkerung dagegen Lebensbedingungen, die Haiti (als einzigem Land Lateinamerikas und der Karibik) einen Platz im Kreis der Least Developed Countries (LLDC's) oder ärmsten Länder der Welt brachte. Während 1% der Haitianer 95% des nationalen Reichtums besaß, während der kleine Kreis um den Präsidenten neben anderen lukrativen Transaktionen ca. 35% der Staatseinnahmen für den eigenen Bedarf beiseite schaffte und allein Jean-Claude Duvalier während seiner Amtszeit (nach unterschiedlichen Schätzungen) ein persönliches Vermögen von 200 bis 800 Millionen US-$ auf ausländische Banken transferierte, waren 65% der Haitianer ohne Arbeit, ohne soziale Unterstützung und ohne medizinische Versorgung, lebten in der Hauptstadt Port-au-Prince 60%, auf dem Land über 90% der Menschen unterhalb der absoluten Armutsgrenze. Angesichts dieser Zahlen verwunderte es nicht, dass von etwa 6 Millionen Haitianern eine Million emigrierte: Menschen, die in ihrer Mehrheit als „Wirtschaftsflüchtlinge" bezeichnet wurden, die aus Rücksicht auf zurückgebliebene Familienangehörige oder in der Hoffnung auf Rückkehr auch nur selten politisches Asyl beantragten, die aber nicht nur aus rein ökonomischen Gründen ihr Land verließen. Denn die desolate wirtschaftliche Lage war in Haiti eng verknüpft mit den Machtstrukturen und dem repressiven Apparat, verkörpert vor allem durch die von François Duvalier gegründete Spezialtruppe der tonton makout, die durch psychischen Druck und physische Gewalt insbesondere die Bevölkerung in den ländlichen Gebieten terrorisierte — bis sich die Haitianer durch einen Volksaufstand zur Wehr setzten und Jean-Claude Duvalier im Februar 1986 (unter Mitwirkung der USA) aus dem Amt jagten.

7

DAS

VERLORENE JAHRZEHNT:

DIE 8 0 E R

JAHRE

Der Sturz Eric Gairys in Grenada durch Maurice Bishop und sein New JEWEL Movement—JEWEL stand für Joint Endeavour for Weifare, Education and Liberation - im März 1979, dem nur wenige Monate später der Sturz Somozas durch die Sandinisten in Nicaragua folgte, signalisierte für die Region einen Aufbruch und beinhaltete fur viele die Hoffnung auf einen strukturellen Wandel, der geeignet schien, das größtenteils immer noch nicht überwundene ko-

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loniale Erbe in Wirtschaft und Gesellschaft zu beseitigen. Doch mit dem Ende desselben Jahres veränderte sich aufgrund verschiedener Faktoren die innenund außenpolitische Konstellation. In mehreren Staaten wurden bei Wahlen Regierungen mit (gemäßigt) sozialistischen oder sozialdemokratischen Programmen von der konservativen Opposition abgelöst, geriet die am Grenada Maurice Bishops orientierte „neue karibische Linke" ins politische Abseits. Die Wahl Ronald Reagans, der sich bereits als Präsidentschaftskandidat als Verfechter der bekannten „big stick policy" zu erkennen gegeben hatte, ließ erwarten, dass die Vereinigten Staaten ihre Präsenz in der Region fortan verstärken würden. Das für die anglophone Karibik bedeutsamste Ereignis zu Beginn des neuen Jahrzehnts war der überwältigende Wahlsieg des Konservativen Edward Seaga und seiner Jamaica Labour Party (JLP) bei den Parlamentswahlen in Jamaika im Oktober 1980. Damit hatten die Wähler - vor dem Hintergrund einer schweren Wirtschaftskrise und extremer Ausmaße von politischem Terror und gewöhnlicher Kriminalität - dem demokratischen Sozialismus Michael Manleys eine Absage erteilt und einen Wandel herbeigeführt, der wirtschafts- und sozialpolitisch ebenso wie außenpolitisch einer Kehrtwendung gleichkam. Seaga, ein bedingungsloser Verfechter des Wirtschaftsliberalismus, ging sogleich ans Werk, die „sozialistischen Experimente" seines Vorgängers rückgängig zu machen. Um das übernommene Haushaltsdefizit zu verringern, wurden die öffentlichen Ausgaben, insbesondere bei den Sozialleistungen, drastisch gekürzt, woraufhin der Internationale Währungsfonds (IWF), dessen Auflagen sich Manley immer wieder verweigert hatte, einen über drei Jahre laufenden 650Millionen-Dollar-Kredit gewährte. Und um die stagnierende, in einigen Sektoren sogar rückläufige wirtschaftliche Entwicklung anzukurbeln, wurde ein Maßnahmenkatalog erlassen, der vorrangig den von Manley verprellten Privatsektor begünstigte: (u. a.) Aufhebung staatlicher Kontrollmaßnahmen im Finanzsektor, Schaffung von Investitionsanreizen fiir einheimische und ausländische, insbesondere US-amerikanische Unternehmen und Privatisierung von Staatsbetrieben. In den ersten Jahren seiner Amtszeit als Regierungschef, Finanz-, Bergbauund Planungsminister gelang es Seaga, ein beträchtliches Wirtschaftswachstum zu erzielen, die hohe Inflationsrate zu senken, das Investitionsklima zu verbessern und aufgrund des weitgehenden Entgegenkommens der USA wie des IWF durch Kredite die größten Finanzlücken kurzfristig zu schließen. Doch die Erfolge waren ephemer, denn ebenso wenig wie Michael Manley gelang es Edward Seaga, der 1983 durch vorgezogene, von der oppositionellen

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People's National Party (PNP) boykottierte Wahlen für weitere fünf Jahre in seinem Amt als Regierungschef bestätigt wurde, die strukturellen Schwächen der jamaikanischen Wirtschaft zu beheben und einen dauerhaften Aufschwung einzuleiten. Das schwerwiegendste Problem war die Abhängigkeit vom Export solcher Produkte, die - wie Zucker und Bauxit und seine Derivate - weltweit einen katastrophalen Preiseinbruch erlitten. Angesichts des weiterhin steigenden Handelsbilanzdefizits und des selbst durch drastische Sparmaßnahmen kaum verminderten Haushaltsdefizits sah sich Seaga immer wieder gezwungen, um den Beistand des IWF und anderer Kreditgeber nachzusuchen. Dieser wurde ihm zwar stets gewährt, war aber an eine strikte Austeritätspolitik gebunden: weitere Reduzierung der öffentlichen Ausgaben durch massive Entlassungen im öffentlichen Dienst und zusätzliche Kürzungen vor allem im Gesundheits- und Bildungswesen, drastische Preis- und Steuererhöhungen, periodisch verfugte Abwertung des jamaikanischen Dollars. Die Auflagen trafen diejenigen am härtesten, die ohnehin strukturell marginalisiert waren, bedrohten aber auch zunehmend weite Teile der Mittelschichten in ihrer Existenz. Eine ähnliche Entwicklung wie Jamaika erlebte Trinidad/Tobago, der zweite aufgrund seiner wirtschaftlichen Vormachtstellung innerhalb der Caribbean Community fuhrende Inselstaat. Das Land, das sein Wirtschaftswachstum der 70er Jahre weniger dem umsichtigen Handeln der Regierenden verdankte als dem Umstand, über größere Erdöl- und Erdgasvorkommen zu verfügen, erlebte Anfang der 80er Jahre eine Krise, deren gesellschaftspolitische Implikationen einen solchen Sprengstoff bargen, dass man fürchtete, sie würden sich - ähnlich wie bei der durch die Black Pötzer-Bewegung beeinflussten „Februar-Revolution" von 197014 - in blutigen Unruhen entladen. Die Ursachen für diese Krise waren vor allem auf politische Faktoren zurückzuführen. Regiert wurden die beiden Inseln, seitdem sie 1956 die Selbstverwaltung erhalten hatten, vom People's National Movement (PNM), einer Partei, die ausschließlich von einer Persönlichkeit geprägt war: Eric Williams, 14 Ende Februar 1970 hatten die sozialen Spannungen in Trinidad/Tobago zu wilden Streiks und gewalttätigen Demonstrationen von Arbeitern und Studenten sowie zahlreichen Bombenattentaten gefuhrt, verübt von Mitgliedern oder Sympathisanten des National Joint

Action Congress, der radikalsten, an der University ofWest Indies etablierten Gruppe militanter Schwarzer. Die Polizei vermochte die explosive Situation zunächst noch zu meistern. Als aber jüngere Offiziere der 8 0 0 Mann starken Armee, die offenbar mit der Black /Wir-Bewegung sympathisierten, einen Putsch versuchten, griff die Küstenwache ein. Ihr gelang es, die meuternden Teile der Armee zu neutralisieren.

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renommierter Universitätsprofessor und Historiker, einst radikaler Vorkämpfer fiir die Unabhängigkeit im Sinne einer Ablösung von kolonialen Machtverhältnissen und Strukturen, der sich zwar (nach eigener Aussage) weder dem kapitalistischen noch dem sozialistischen Modell verpflichtet fühlte, der aber im Laufe seiner 25-jährigen Regierungszeit als Premier trotz mancher Ansätze einer nationalistischen Wirtschaftspolitik die Erschließung der natürlichen Ressourcen des Landes multinationalen Konzernen ermöglichte und - in Abkehr von einst verfochtenen Prinzipien - seine Macht auf eben jene weiße Mittelschicht gründete, die er vor der Unabhängigkeit als Stütze und Nutznießer der Kolonialherrschaft bekämpft hatte. Zwar gelang es Williams, als „buffer" zwischen den rivalisierenden ethnischen Gruppen (Weiße, Schwarze/Mulatten und Inder) ein gewisses Gleichgewicht zu halten; doch Misswirtschaft und Korruption in der Verwaltung, katastrophale strukturelle Mängel im Gesundheits- und Bildungsbereich, im Verkehrs- und Nachrichtenwesen und insbesondere auf dem Bausektor15 führten in der Bevölkerung zu einem tiefen Unbehagen, das sich in zunehmender Apathie und Staatsverdrossenheit manifestierte. Welche Ausmaße die daraus resultierende Verweigerungshaltung annehmen sollte, zeigte sich anlässlich der Parlamentswahlen im November 1981. Nach dem für die Partei wie für die Öffentlichkeit überraschenden (möglicherweise durch Selbstmord herbeigeführten) Tod von Eric Williams im März desselben Jahres präsentierte sich als Kandidat der Regierungspartei der relativ unbekannte vormalige Landwirtschafts- und Industrieminister George Chambers, der dem PNM gegen eine zersplitterte Opposition zwar wieder die Mehrheit bescherte, dies aber bei einer Wahlbeteiligung von gerade mal 55%. Nur wenig höher lag die Beteiligung an den Kommunalwahlen im August 1983, bei denen die Partei von Chambers, der nicht über die charismatischen Führungsqualitäten eines Eric Williams verfügte, gegen eine nun im Bündnis angetretene Opposition schwere Verluste hinnehmen musste. Dieser in Trinidad/Tobago über nahezu drei Jahrzehnte gänzlich unbekannte Faktor einer geeinten Opposition sollte drei Jahre später, bei den Parlamentswahlen im Dezember 1986, für die Regierungspartei zu einer Niederlage fuhren, die umso verheerender ausfiel, als mittlerweile die Wirtschaft des Landes auf-

15 Um nur ein Beispiel zu nennen: Während fiir den (unter Williams' Nachfolger dann gestoppten) Bau eines Rennbahnkomplexes mit vollklimatisierten Pferdeställen 100 Millionen US-$ bereitgestellt wurden, waren Mietwohnungen so rar, dass Wohnungssuchende nur eine - höchst geringe - Chance sahen: die monatliche Verlosung im staatlichen Fernsehen.

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grund externer wie interner Faktoren in eine schwere Krise geraten war. Der die Rezession auslösende Faktor war der Einbruch der Erdölpreise; Erdöl und seine Derivate bescherten Trinidad/Tobago bis zu 80% der Deviseneinnahmen. Der sich nun als fatal erweisenden Abhängigkeit vom Erdöl hatte die Regierung zwar durch Investitionen v. a. in der Schwerindustrie entgegenzuwirken versucht; doch die Opposition konnte mit Recht behaupten, dass die Jahre der Prosperität unzureichend genutzt und die seit 1974 erwirtschafteten über 50 Milliarden Petro-Dollar durch Fehlplanung und Misswirtschaft verschwendet worden waren. Das aus vier Parteien gebildete Regierungsbündnis, das sich - programmatisch — National Alliance for Reconstruction (NAR) nannte, machte sich unter seinem Premier Arthur N. Raymond Robinson sogleich an die Aufgabe der „reconstruction", indem defizitäre Staatsbetriebe privatisiert wurden und man entsprechend den Auflagen des zu Hilfe gerufenen IWF eine strikte Austeritätspolitik verfolgte. Doch das Projekt einer „National Alliance" scheiterte schon bald an den tief verwurzelten Rivalitäten sowohl zwischen den ethnischen Gruppen als auch zwischen den beiden Inseln und mündete 1990 in den spektakulären Putschversuch einer Gruppe schwarzer Islamisten, die für sechs Tage nahezu die gesamte Regierungsmannschaft einschließlich des Premiers als Geiseln nahm. In Guyana verlief die innenpolitische Auseinandersetzung weniger turbulent, dies aber auf Kosten elementarer politischer Freiheiten und mit Hilfe einer Verfassung, die Forbes Burnham 1980 verabschieden ließ und die ihm als Präsident und Staatsoberhaupt nahezu uneingeschränkte, das parlamentarische System praktisch außer Kraft setzende Vollmachten verlieh. Damit verschuf er sich die (vorgebliche) Legitimation dessen, was er bereits in den voraufgegangenen Jahren praktiziert hatte: die Konzentration politischer und wirtschaftlicher Macht in den Händen des People'sNationalCongress (PNC). Und das hieß konkret: Besetzung aller Schlüsselpositionen in Verwaltung, Armee, Polizei und Medien mit Angehörigen des den P N C stützenden afroamerikanischen Bevölkerungsteils. Gleichzeitig betrieb er - zum Teil mit handfester Unterstützung US-amerikanischer Sekten 16 — die Ausschaltung der Opposition: der marxistisch orientierten, sich auf den ethnisch dominierenden indischstämmigen Bevölkerungssektor stützenden People's Progressive Party (PPP) von Cheddi Jagan

16 Z u diesen pseudoreligiösen Gruppierungen, die durch Geldzuwendungen an die Partei und an Regierungsmitglieder, gelegentlich auch durch Einsatz von Schlägertrupps das Regime Burnhams unterstützten, gehörte auch jene Sekte People's Temple, die im November 1978 durch den kollektiven „Selbstmord" von mehr als 900 Anhängern des „Reverend" Jim Jones in die Schlagzeilen der Weltpresse geriet.

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und der gleichfalls marxistischen Working People's Alliance (WPA), die den traditionellen Konflikt zwischen den beiden wichtigsten ethnischen Gruppen der .Afrikaner" und „Inder" zu überwinden suchte. 17 In seiner Wirtschaftspolitik hatte Burnham für die „Kooperative Republik" auf eine Ausweitung staatlicher und genossenschaftlicher Organisation gesetzt und bereits in den 70er Jahren 80% des vorwiegend in ausländischer Hand konzentrierten produktiven Sektors - neben Zucker vorrangig Bauxit und Nutzhölzer — gegen Entschädigung in Staatsbetriebe überfuhrt. Doch die extreme Bürokratisierung, gepaart mit Cliquenwirtschaft, Missmanagement und Korruption, führte in den 80er Jahren in allen Bereichen zu einem drastischen Produktionsrückgang, der umso folgenschwerer war, als aufgrund weltwirtschaftlich bedingter Preiseinbrüche bei den traditionellen Exportgütern die Deviseneinnahmen dramatisch zurückgingen. Den Staatsbankrott abzuwenden gelang bisweilen mit Hilfe von Krediten des IWF und der USA, die Burnham als „geringeres Übel" gegenüber Cheddi Jagan auch zu Zeiten unterstützten, da er sich über eine Annäherung an Kuba als Sprecher der Blockfreien-Bewegung zu profilieren suchte. Doch nach der US-amerikanischen Invasion in Grenada, die Burnham scharf verurteilte, kam es zu einer Krise in den Beziehungen beider Länder, die 1984 die Reagan-Administration - und in ihrem Gefolge auch die anderen ausländischen Geldgeber - zur Einstellung ihrer Finanzhilfe bewog. Burnhams Tod im August 1985 brachte außen- wie wirtschaftspolitisch eine Wende, die eine neuerliche Annäherung an die Vereinigten Staaten und damit auch eine Wiederherstellung der Kreditwürdigkeit Guyanas ermöglichte. Burnhams Nachfolger im Amt des Präsidenten wurde der vormalige Premierminister Desmond Hoyte, der sich sowohl von der prokubanischen Position seines Vorgängers als auch vom Konzept der „Kooperativen Republik" verabschiedete, um nunmehr einen prowestlichen und marktwirtschaftlich orientierten Kurs zu steuern. So gelang es Hoyte denn auch, über Umschuldungsverhandlungen und neue Kredite die Staatsfinanzen kurzfristig zu sanieren. Den wirtschaftlichen Aufschwung aber bewirkte er ebenso wenig wie eine substantielle Verbesserung der Lebensbedingungen in einem Land, das Ende

17 Gegründet hatte die Working People's Alliance Walter Rodney, ein angesehener und in der gesamten Region als Integrationsfigur der Linken geschätzter Historiker und politischer Aktivist. 1980 wurde er (vermutlich auf Anstiftung der Regierung) ermordet; er starb durch die Detonation einer Bombe, die in seinem Wagen versteckt war. Sein Bruder Donald, der den Wagen gesteuert und bei dem Attentat schwere Verletzungen erlitten hatte, wurde kurz darauf verhaftet und 1982 - wegen illegalen Sprengstoffbesitzes — zu 18 Monaten Gefängnis verurteilt.

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der 80er Jahre mit einem jährlichen Pro-Kopf-Einkommen von 340 US-$ (neben Haiti) zum Armenhaus der Region geworden war. Genauso wenig änderten sich die politischen Verhältnisse, denn die im Dezember 1985 abgehaltenen Wahlen, die der Regierungspartei (nach amtlicher Verlautbarung) 77% der abgegebenen Stimmen und damit 42 der 53 Parlamentssitze bescherten, wiesen dasselbe Maß an Manipulation auf, mit dem sich Burnham an der Macht gehalten hatte. In den kleineren Inselstaaten der anglophonen Karibik wurden die demokratischen Spielregeln weitgehend respektiert, auch wenn es aufgrund ideologischer Polarisierungen zwischen einzelnen Parteien gelegentlich zu Protestkundgebungen und gewalttätigen Demonstrationen kam. In Barbados bürgte das ursprünglich nach britischem Vorbild entworfene, dann aber zunehmend unter US-amerikanischen Einfluss geratene Zwei-Parteien-System mit nur geringen ideologischen Unterschieden zwischen den beiden (sozialdemokratischen) Gruppierungen - Barbados Labour Party (BLP) und Democratic Labour Party (DLP) - für ein gewisses politisches Gleichgewicht, das zwar tiefgreifenden Strukturveränderungen entgegenstand, mögliche soziale Spannungen aber kanalisierte und nivellierte. In den anderen Inselstaaten der Ostkaribik dominierten während der 80er Jahre zumeist konservative Regierungen, geprägt durch herausragende und durchsetzungsfähige Persönlichkeiten: etwa Mary Eugenia Charles in Dominica,18 die sich bereits nach kurzer Amtszeit — in Anlehnung an die britische Premierministerin Margaret Thatcher - den (als wenig schmei-

18 Dem Wahlsieg von Eugenia Charles im Juli 1 9 8 0 waren einige Turbulenzen vorausgegangen. Im Juni 1 9 7 9 wurde nach schweren Unruhen und einem Generalstreik - und nachdem sich zahlreiche hohe Regierungsfunktionäre ins Ausland abgesetzt hatten - der autoritär regierende Premier Patrick John von der Dominica Labour Party (PLD) zum Rücktritt gezwungen und eine Interimsregierung zur „nationalen Errettung" gebildet, die unter Führung des einer linken Gruppierung angehörenden ehemaligen Landwirtschaftsministers Oliver Seraphine Neuwahlen vorbereiten sollte. Die somit geschaffene günstige Ausgangsposition für die Linke wurde jedoch zunichte gemacht, als im August desselben Jahres der Hurrikan „David" die Insel verwüstete und sich die Regierung in den darauffolgenden Monaten des nur schleppend vorankommenden Wiederaufbaus verschliss. So kam der Wahlsieg der konservativen Dominica Freedom Party (DFP) und ihrer Vorsitzenden Mary Eugenia Charles nicht überraschend. Doch bis es der neuen Regierungschefin gelang, die innenpolitische Lage zu stabilisieren, musste sie mehrere Umsturzversuche überstehen, darunter den sogenannten „Carnival Coup" vom März 1 9 8 1 , in den neben dem ehemaligen Premier Patrick John auch am Drogenhandel beteiligte Kreise verwickelt waren: die führenden Köpfe der Dreads, der religiös-politischen Bewegung der Rastafari; Spitzen der Armee, die von den Dreads für Schutzdienste bezahlt wurden; sowie der US-amerikanische Geheimbund Ku Klux Klan, der weite Bereiche des Marihuanahandels kontrollierte und

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chelhaft verstandenen) Beinamen einer „Eisernen Lady" zuzog und sich in der Region als verlässlicher Partner der USA profilierte; oder John Compton in St. Lucia, der - in Abwandlung des Slogans der Revolution in Grenada „Forward ever, backwards never" - antrat unter dem Motto „Christians ever, Communists never". Barbados erfreute sich seit langem als Paradies für zahlungskräftige Urlauber aus den westlichen Industrienationen eines gewissen Wohlstands. Und obgleich der Tourismus spürbar zurückging und die zweite wichtige Devisenquelle, die Zuckerproduktion, kaum noch als rentabel gelten konnte, waren die wirtschaftlichen Probleme weniger virulent als in den anderen ostkaribischen Kleinstaaten und Territorien.19 Da diese über keine nennenswerten Bodenschätze verfugen und die Landwirtschaft, ein Erbe der monokulturell ausgerichteten Plantagenökonomie der Kolonialzeit, kaum diversifiziert wurde, mussten nicht nur fehlende Industrie- und Konsumgüter, sondern auch Nahrungsmittel in großem Umfang eingeführt werden. Die Zucker- und Bananenproduktion, wichtigste Devisenquelle, erwies sich als extrem krisenanfällig, dies aufgrund periodisch wiederkehrender Naturkatastrophen ebenso wie aufgrund erheblicher Schwankungen der Weltmarktpreise und der Senkung garantierter Abnahmequoten. 20 Die Folge war eine extrem hohe Arbeitslosigkeit, der auch durch die Ankurbelung der gleichermaßen krisenanfälligen Tourismusindustrie nur unzureichend begegnet werden konnte.

dessen Anfuhrer Michael Purdue wegen des Umsturzversuchs in Dominica von einem USamerikanischen Gericht verurteilt wurde. 19 Zu den von Großbritannien abhängigen, mit innerer Selbstverwaltung ausgestatteten Overseas Territories gehören: Anguilla und Montserrat im nördlichen Teil der „Inseln über dem Winde"; die (br.) Jungfern-Inseln (Virgin Islands), die östlich von Puerto Rico liegen; die Turks- und Caicos-Inseln nördlich von Haiti; und die Cayman-Inseln südlich von Kuba. (Die Bermuda-Inseln oder Somers Islands gehören aufgrund ihrer Lage im Atlantik nicht mehr zum karibischen Raum.) Der Tourismus und das o/^orf-Finanzwesen sind die wichtigste Einnahmequelle, die insbesondere den drei letztgenannten Territorien ein relativ hohes Pro-Kopf-Einkommen beschert. Montserrat geriet 1997 in die Weltpresse, als der Vulkan Soufrière Hills, der bereits seit zwei Jahren aktiv war, etwa zwei Drittel der Insel einschließlich der Hauptstadt Plymouth und des Flughafens unter Asche und Schlamm begrub und ein Großteil der Bevölkerung die Insel verlassen musste. Heute leben etwa 10 000 Menschen im Nordteil der Insel, wo eine neue Hauptstadt und ein neuer Flughafen errichtet wurden und mit dem Besuch des zerstörten Inselteils für einen „Volcano Adventure"Tourismus geworben wird. 20 Eine Abnahmegarantie fur bestimmte Mengen ihrer Agrarexporte hatte zunächst Großbritannien seinen ehemaligen Kolonien zugestanden. Seit 1975 gewährte dies die Europäische Gemeinschaft über die Lomé-Abkommen (vgl. hierzu Kap. 10).

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Die Einsicht, dass die Überlebensfähigkeit der kleinen Inselökonomien nur durch eine stärkere regionale Kooperation und Integration gesichert werden konnte, führte 1981 zum Zusammenschluss von sieben ostkaribischen Staaten und Territorien - Antigua/Barbuda, Dominica, Grenada, Montserrat (Kronkolonie), St. Kitts/Nevis, St. Lucia, St. Vincent und die Grenadinen — in der Organisation Ostkaribischer Staaten {Organization of Eastern Caribbean States, OECS), in die wenig später Anguilla und die britischen Jungfern-Inseln als „assoziierte" Mitglieder aufgenommen wurden.21 Neben der wirtschaftlichen Integration, die bereits 1968 durch die Gründung des Eastern Caribbean Common Market (ECCM) eingeleitet worden war, suchte man nun auch eine gemeinsame außenpolitische Linie zu verfolgen, flankiert von einem gemeinsamen Sicherheitssystem, das sich in der Bildung einer (von den USA gestützten) mobilen Regional Defense Force22 materialisierte. Ihren ersten politisch motivierten Einsatz erlebte diese Interventionstruppe 1983 anlässlich der Invasion Grenadas, an der sie sich mit 300 Mann beteiligte - ein Beitrag, der nur als symbolisch zu werten war und dem keinesfalls alle OECS-Mitglieder zustimmten. Die Revolution in Grenada hatten gewiss nicht alle Regierungschefs in der Region mit Sympathie verfolgt. Ihren Leistungen vermochten sie aber den Respekt nicht zu versagen: neben Verbesserungen im Bildungswesen und in der me-

21 Nach dem Auseinanderbrechen der West Indies Federation und der Unabhängigkeit von Jamaika und Trinidad/Tobago (vgl. Kap. 6) hatte Großbritannien die „Little Eight" in der West Indies States Association (W1SA) zusammengefasst. Doch dieser wiederum nur kurzlebige Verbund zerfiel, als Barbados sich 1966 unabhängig erklärte. Die anderen Territorien erlangten bis 1981 die Unabhängigkeit, mit Ausnahme von St. Kitts/Nevis, das erst zwei Jahre später unabhängig wurde. Die seit dem 19. Jahrhundert mit St. Kitts und Nevis in einer Föderation verbundene Insel Anguilla ging einen Sonderweg. Aus Protest gegen die von Großbritannien vorgesehene, ungeliebte Unabhängigkeit innerhalb der Föderation - in einem Referendum votierten 1 8 1 3 anguillans dagegen und nur 5 dafür - kam es 1967 auf der Insel zu gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der aus St. Kitts anrückenden Polizei. Erst nachdem 1969 britische Truppen auf der Insel gelandet waren, konnte die Rebellion beendet werden. 1980 wurde die Trennung offiziell vollzogen und Anguilla wieder der direkten britischen Verwaltung unterstellt. 22 Diese regionale Sicherheits- und Verteidigungstruppe rekrutierte sich im Wesentlichen aus der mit britischer Hilfe aufgebauten Barbados Defense Force, die ursprünglich nur gegen Schmuggel und illegalen Drogenhandel eingesetzt werden sollte und zum ersten Mal zum Einsatz kam, als 1979 30 Rastafari unter ihrem Anfuhrer „Rasta Bomba" durch einen bewaffneten Aufstand versuchten, die zum Archipel der Grenadinen gehörende Union-Insel abzuspalten und in einen autonomen extraterritorialen Umschlagplatz für das von ihnen angebaute Marihuana umzuwandeln.

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dizinischen Versorgung auch Steigerungen in der Nahrungsmittelproduktion für den eigenen Bedarf sowie in der Kleinindustrie, wodurch sich die Arbeitslosenzahl von 49% (vor dem Sturz Eric Gairys) auf 14% (Ende 1982) reduzierte und für das Jahr 1982 ein Wirtschaftswachstum von 5,5% erzielt wurde. Des Weiteren begann man, als Devisenquelle den internationalen Tourismus zu erschließen, indem der Bau eines für Langstreckenflugzeuge geeigneten Flughafens in Angriff genommen wurde.23 Maurice Bishop erwies sich als Pragmatiker, indem er internationale Hilfe suchte, wo immer er sie bekommen konnte, und selbst mit den Vereinigten Staaten einen modus vivendi auszuhandeln strebte, was ihm bei seinem Besuch in Washington im Juni 1983 allerdings nicht gelang. Dies rief nun aber den Widerspruch der hardliner innerhalb der Revolutionsregierung hervor, die sich um den orthodox-marxistischen Vizepremier und Finanzminister Bernard Coard gruppierten und Bishop (neben seinem als autoritär erachteten Führungsstil) vorwarfen, den revolutionären Prozess in Grenada — inbesondere die Verstaadichung der einheimischen Wirtschaft - nicht energisch genug voranzutreiben. So war denn auch Coard an dem Putsch gegen Bishop im Oktober 1983 maßgeblich beteiligt, wurde aber offenbar durch die nachfolgenden Ereignisse, die am 19. Oktober zu Bishops Ermordung durch die Sicherheitskräfte unter ihrem Oberbefehlshaber Hudson Austin führten, überrollt. Die am 25. Oktober im Rahmen der Operation „Urgent Fury" erfolgte Landung einer US-amerikanischen Invasionstruppe von knapp 2 000 Marinesoldaten, die aufgrund des unerwarteten bewaffneten Widerstands von Seiten der am Bau des Flughafens beteiligten Kubaner in den nachfolgenden Tagen

23 Der Flughafen in Point Salines, der mit kubanischer Hilfe - aber auch mit der Unterstützung Kanadas, Venezuelas und der Europäischen Gemeinschaft - gebaut werden sollte, war in den Augen der USA von Anbeginn der offenkundige Beweis für die These von der Bedrohung der eigenen Sicherheit. Denn die Anwesenheit von 7 0 0 beim Bau eingesetzten Kubanern verdeutliche, so die Reagan-Administration, die bereits weit fortgeschrittene „Kubanisierung" Grenadas, und die geplante 3 2 0 0 m lange, für zivile Flugzeuge als überflüssig erachtete Landepiste offenbare den eigentlichen Zweck des Unternehmens: die Errichtung eines Militärflughafens als Sprungbrett für eine Expansion Kubas und der Sowjetunion in der Karibik und Zentralamerika. Nach der Invasion bestätigte die britische Elektronikfirma Plessey Industries, die mit leitenden Ingenieuren am Bau beteiligt war, dass die für eine militärische Nutzung notwendigen Einrichtungen nicht vorgesehen waren und der Flughafen ausschließlich für zivile Zwecke entworfen war. Der Einsicht in die Nützlichkeit eines solchen internationalen Flughafens für das Tourismusgeschäft - über einen solchen verfügten innerhalb der anglophonen Karibik bereits Barbados und St. Lucia, ohne dass hier je die Notwendigkeit in Frage gestellt worden war - mochten sich dann auch die USA nicht verschließen, die nach ihrer Intervention den Flughafen zu Ende bauten.

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auf 6 000 Mann verstärkt wurde, begründete die Reagan-Administration mit der Notwendigkeit, das Leben der zu diesem Zeitpunkt auf Grenada weilenden etwa 1 000 US-Bürger zu schützen. Und sie berief sich auf das Hilfeersuchen, das die Organisation Ostkaribischer Staaten zusammen mit Jamaika und Barbados an die USA gerichtet hatten. Nach Abzug der Kampftruppen war man denn auch bemüht, durch ein „politisch-wirtschaftliches Entwicklungsprogramm" Grenada fest an die USA zu binden. Doch schon wenige Monate nach der Invasion, die von der Bevölkerungsmehrheit als Vergeltung für den Mord an Maurice Bishop begrüßt worden war, stellte sich Ernüchterung ein, da durch den Abbruch diverser Entwicklungsprojekte und die weitgehende Reprivatisierung im Agrarbereich die Arbeitslosenzahl auf annähernd 45% hochschnellte und trotz massiver US-amerikanischer Finanzhilfe alternative entwicklungspolitische Ansätze nicht oder nur unzureichend vorgesehen waren. Vorrang hatte für die Übergangsregierung unter Nicholas Brathwaite die innenpolitische Stabilisierung und Rückkehr zur Demokratie durch Wahlen, die im Dezember 1984 abgehalten wurden. Um dem Einfluss des weder von den Nachbarstaaten noch von den USA erwünschten Ex-Diktators Gairy, der sogleich nach der Invasion aus dem Exil zurückgekehrt war, wirkungsvoll begegnen zu können, hatten sich nach einer diplomatischen Intervention der Regierungschefs von Barbados, St. Lucia und St. Vincent (mit Unterstützung der USA) die Parteien der Mitte zu einem Bündnis zusammengeschlossen. Angeführt wurde dieses Bündnis, das sich in der Gründung der New National Part y (NNP) konkretisierte, von Herbert A. Blaize, der seit Mitte der 50er Jahre in wechselnden Allianzen - mit der Grenada United Labour Party (GULP) Eric Gairys ebenso wie mit dem New JEWEL Movement Maurice Bishops - höchste Regierungsämter bekleidet hatte. Die Rechnung ging auf: Nach einem aufwendigen, von den karibischen Nachbarstaaten verbal und US-amerikanischen Unternehmern finanziell unterstützten Wahlkampf gewann die NNP 14 der 15 Sitze im Abgeordnetenhaus, während die GULP zwar 36% der abgegebenen Stimmen errang, aufgrund des in Grenada (wie in den anderen anglophonen Staaten und Territorien der Karibik) geltenden Mehrheitswahlrechts aber nur ein Mandat erhielt. Doch die von Herbert A. Blaize angeführte Koalitionsregierung erbrachte nicht die erhoffte innenpolitische Stabilität, da zwei Parteien aus dem Bündnis ausscherten und 1987 eine neue Partei gründeten: den New Democratic Congress (NDC), der bei den Wahlen im März 1990 zwar die meisten Sitze errang, aber über keine Mehrheit im Parlament verfügte, so dass sich die politische Krise in den 90er Jahren fortsetzte.

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In Suriname bedurfte es keiner US-amerikanischen Intervention, um den „national-progressistischen", prokubanischen und antiimperialistischen Kurs, den nach dem unblutig verlaufenen Putsch vom 25. Februar 1980 die „Revolutionäre Front" unter Oberstleutnant Desi Bouterse proklamierte, zu beenden. Diese Organisation, in der alle politischen Kräfte des Landes vertreten, die herkömmlichen Parteien aber ausgeschlossen sein sollten, definierte sich als Gegenentwurf zu ebendiesen Gruppierungen, die nur eine zahlenmäßig kleine, privilegierte Oberschicht repräsentierten und denen man vorwarf, ähnlich wie im benachbarten Guyana die Konflikte zwischen den ethnischen Gruppen - neben wenigen Europäern, Chinesen und einer indianischen Minderheit Hindustani, Javaner, (negroide) Kreolen und bosnegers (Buschneger) - verschärft zu haben. 24 Der Kurs der „Revolutionären Front", die auch ein Programm tiefgreifender sozialer und wirtschaftlicher Reformen vorsah, wurde von der Bevölkerungsmehrheit zunächst begrüßt. Doch zwei Faktoren bewirkten, dass sich Widerstand formierte: Zum einen hatten die Militärs zu lange gezögert, klare politische Aussagen zu machen, was sich innenpolitisch und wirtschaftlich negativ auswirkte; zum andern drohten die USA und die Niederlande 25 mit der Einstellung ihrer Militär- und Wirtschaftshilfe, wenn die versprochene Rückkehr zur Demokratie nicht schnell in Angriff genommen würde. Die somit entstandene Verunsicherung in der Bevölkerung, verschärft durch wachsende wirtschaftliche Probleme, eskalierte Ende 1982 in zahlreichen Demonstrationen und Streiks, denen Bouterse mit scharfen Repressionsmaßnahmen begegnete und die er schließlich dadurch zu beenden suchte, dass er die aus Militärs und Zivilisten gebildete Übergangsregierung auflöste und politische Gegner summarisch exekutieren ließ. Die ab 1982 getroffenen politischen Entscheidungen prägte die Einsicht Bouterses, dass dem wirtschaftlichen und sozialen Druck ohne eine Normali-

24 Zum Zeitpunkt des Militärputsches von Desi Bouterse gab es in Suriname - bei einer Einwohnerzahl von 3 5 0 0 0 0 - 6 2 politische Parteien, die aufgrund der ethnisch-religiösen und politisch-ideologischen Differenzierung zu einer unsäglichen Zersplitterung der politischen Kräfte geführt hatten. Das von den Niederlanden übernommene parlamentarische System funktionierte als Demokratie eines Elitekartells, in dem die in verschiedenen Interessengruppen und Koalitionen geeinten Eliten der Kreolen und der Javaner durch Amterpatronage und Korruption die indischstämmige Bevölkerung politisch und wirtschaftlich zu neutralisieren suchten. 25 Als die Niederlande 1 9 7 5 Suriname in die Unabhängigkeit entließen, gewährten sie neben einem Schuldenerlass zur Entlastung des Staatshaushalts eine Entwicklungshilfe in Höhe von etwa 1,5 Milliarden US-$, zahlbar über einen Zeitraum von 15 Jahren.

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sierung der Beziehungen zu den Niederlanden, die ebenso wie die USA ihre Drohung, die Finanzhilfe einzustellen, wahrgemacht hatten, auf Dauer nicht begegnet werden konnte. Ohne diese substantielle Unterstützung geriet die bis dahin mit ftir die Region überdurchschnittlichen Wachstumsraten florierende Wirtschaft in eine Krise, die durch den Preisverfall von Bauxit und seinen Derivaten (= 70% der Exporte) noch verschärft wurde. Die notwendige Konsequenz war eine drastische Reduzierung der bis dahin für die Region gleichermaßen überdurchschnittlich hohen Importe vor allem von Nahrungsmitteln. Da aufgrund der massiven Abwanderung von Arbeitskräften26 in die ehemalige Metropole die einheimische Produktion den Grundbedarf ohnehin nicht einmal annähernd zu decken vermochte, wurde die Nahrungsmittelverknappung zu einem schwerwiegenden, das Regime gefährdenden Problem. Im Januar 1985 wurde ein Oberster Rat einberufen, in dem neben Arbeitnehmer- und Arbeitgeberverbänden Bouterses eigene, ein Jahr zuvor als Nachfolgeorganisation der „Revolutionären Front" gegründete „Sammelbewegung 25. Februar" vertreten war. Doch sehr bald wurde deutlich, dass ohne die einst verfemten Eliten eine innen- und wirtschaftspolitische Stabilisierung des Landes nicht zu bewerkstelligen war,27 so dass die einflussreichsten unter den traditionellen Parteien wieder zugelassen wurden. 1987 wurde ein Verfassungsentwurf vorgelegt, der in einem Referendum von 94% der Stimmberechtigten angenommen wurde. Bei den kurz darauf abgehaltenen Wahlen errang die absolute Mehrheit ein kurz zuvor geschlossenes Bündnis der wichtigsten herkömmlichen Parteien — darunter die Nationale Partij Suriname (NPS) der Kreolen und die Vooruitstrevende Hervormingspartij (Fortschrittliche Reformpartei, VHP) der in-

26 Vor der Unabhängigkeit, zwischen 1 9 7 3 und 1975, verließen etwa 7 0 0 0 0 Menschen und damit 2 0 % der Bevölkerung das Land. Nach der Unabhängigkeit ebbte der Strom ab; 1 9 8 0 aber kam es erneut zu einem sprunghaften Anstieg von Emigranten, da die von den Niederlanden für eine unbeschränkte Einwanderung gewährte Frist im November desselben Jahres ablief. 27 Die in den Niederlanden exilierte Opposition hatte im Land selbst einen Verbündeten gefunden, der zwar keinerlei politisches Profil, wohl aber den Willen besaß, Bouterse zu Fall zu bringen: Ronnie Brunswijk, ein bosneger, ehemals Leibwächter Bouterses und des Bankraubs verdächtigt, eine abenteuerliche Gestalt und Anfuhrer einer bewaffneten Bande von zunächst knapp 150 Mann, die sich gegen finanzielle Unterstützung den Politikern als „Befreiungsarmee" anbot. Den bald auf 1 0 0 0 Mann angewachsenen, durch ausländische Söldner unterstützten, aber nur unzureichend bewaffneten Verbänden gelangen durch Sabotageakte und teilweise Zerstörung von Industrieanlagen einige spektakuläre Erfolge; gegen Bouterses 2 0 0 0 Mann starke, gut ausgerüstete Armee konnten sie aber auf Dauer nicht bestehen, so dass sich Ronnie Brunswijk 1 9 8 8 zu einem Waffenstillstand gezwungen sah.

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dischstämmigen Landbevölkerung —, das Ramsewak Shankar zum Staatspräsidenten bestimmte. Desi Bouterse selbst hatte nicht kandidiert. Doch bereits im Dezember 1990 kehrte er über einen neuerlichen Putsch auf die politische Bühne zurück. Unruhige Zeiten erlebte während der 80er Jahre auch die Dominikanische Republik. Als 1978 — nach 12-jähriger Herrschaft Joaquín Balaguers - der sozialdemokratische Partido Revolucionario Dominicano (PRD) nach Wahlen die Regierungsgewalt übernahm, geschah dies mit den Stimmen jener Wähler, die nicht nur auf eine politische Öffnung, sondern auch auf tiefgreifende Reformen hofften. Die politische Öffnung wurde Wirklichkeit, und bis 1980 konnte auch der letzte Exilierte zurückkehren. Doch die von der PRD-Regierung - zunächst unterAntonio Guzmán, nach dem neuerlichen Wahlerfolg 1982 unter Salvador Jorge Blanco — versprochenen wirtschaftlichen und sozialen Reformen blieben aus, so dass die Hauptstadt wie die Provinz immer häufiger zum Schauplatz sogenannter „Hungerunruhen" wurden, ausgelöst durch drastische Preiserhöhungen, die stets dann verfugt wurden, wenn es galt, bei dringlichen Umschuldungsverhandlungen oder der Aushandlung neuer Kredite den Auflagen des allseits gegenwärtigen IWF zu entsprechen. Und welche Ausmaße der Verfall der politischen Kultur mittlerweile angenommen hatte, offenbarten die zum Teil gewaltsam ausgetragenen Auseinandersetzungen innerhalb der Regierungspartei im Vorfeld der Wahlen 1986 wie auch der geradezu grotesk anmutende Wahlverlauf. Die Aussichten auf einen grundlegenden Wandel waren denkbar schlecht. Für den regierenden Partido Revolucionario Dominicano hatte sich mit Jacobo Majluta ein Präsidentschaftskandidat durchgesetzt, der als vehementer Befürworter einer vorrangig auf privatwirtschaftlicher Initiative basierenden Entwicklungsstrategie die traditionell vom PRD vertretenen sozialdemokratischen Prinzipien aufgegeben hatte. Für den oppositionellen konservativen Partido Reformista Social Cristiano (PRSC) hatte sich der mittlerweile nahezu erblindete, fast 80-jährige Joaquín Balaguer erneut zur Wahl gestellt. Der dritte, allerdings wenig aussichtsreiche Kandidat war Juan Bosch, der einst unabhängige, radikal-reformerische Positionen vertreten hatte, nun aber mit seinem Partido de la Liberación Dominicana (PLD) die Dringlichkeit guter Beziehungen zu den USA ebenso wie die Notwendigkeit der Erfüllung von IWF-Auflagen betonte und schlicht die Absicht bekundete, sich an das „Mögliche" halten zu wollen.28 28 Juan Bosch hatte sich nach dem 1 9 6 3 gegen ihn inszenierten Putsch im neuerlichen Exil (nach eigener Aussage) vom Sozialdemokraten zum Marxisten gewandelt und nach seiner

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Das Wahlergebnis mochte niemanden überraschen. Balaguer, der wie Bosch von der inneren Zerrissenheit der Regierungspartei profitierte, gewann mit einem knappen Vorsprung vor seinem Kontrahenten Majluta; und Juan Bosch konnte seinen Stimmenanteil gegenüber 1982 mit 18% immerhin nahezu verdoppeln. Während seiner neuerlichen, seit dem Sturz Trujillos vierten Amtsperiode respektierte Balaguer die demokratischen Freiheiten. Doch auch wenn er zunächst in einer beispiellosen Kampagne gegen die endemische Korruption zu Felde zog - und in ihrem Verlauf sogar seinen Amtsvorgänger Jorge Blanco wegen Bestechlichkeit und persönlicher Bereicherung im Amt unter Anklage stellte —, stützte auch er seine Macht im Wesentlichen auf das bewährte System von Klientelismus und Korruption. Die folgenreichste innenpolitische Wende erlebte in den 80er Jahren das der Dominikanischen Republik benachbarte Haiti: einst Wegbereiter der lateinamerikanischen Unabhängigkeit, bis 1986 letzte Bastion jener spezifischen, längst als anachronistisch geltenden Ausprägung diktatorialer Herrschaft, wie sie ein Batista in Kuba oder ein Trujillo in der Dominikanischen Republik repräsentiert hatten. Unter Jimmy Carter hatten die USA das Duvalier-Regime unter Legitimationszwang gesetzt und bewirkt, dass in beschränktem Maße demokratische Freiheiten zugelassen wurden. Mit Ronald Reagan kam das abrupte Ende dieser kurzen und nur halbherzig eingeleiteten Liberalisierungsphase, galt doch das Haiti Duvaliers den Vereinigten Staaten als unverzichtbares Bollwerk gegen kommunistische Infiltration und Subversion und von daher unbedingter Unterstützung würdig. Aber die Beziehungen zwischen den USA und Haiti waren auch unter Reagan nicht ungetrübt, denn Korruption und Misswirtschaft nahmen so skandalöse Ausmaße an, dass sich die Reagan-Administration im Gleichklang mit dem Internationalen Währungsfonds gelegentlich bemüßigt sah, ein Mindestmaß an Effektivität innerhalb des Verwaltungsapparats anzumahnen. Allerdings wurde (bis Anfang 1986) weder von den USA noch vom IWF die Drohung wahr gemacht, der Regierung die eingeforderten Kredite zu versagen.

Rückkehr in die Dominikanische Republik 1970 folgerichtig den von ihm einst gegründeten PRD verlassen, um mit dem PLD eine neue Partei zu gründen. Seine dann vertretene politische Zielsetzung, insbesondere das von ihm entworfene Konzept einer „Diktatur des Volkes" als „Diktatur mit Unterstützung des Volkes" wies neben marxistischen Inhalten aber Elemente auf, die ihm den Vorwurf eintrugen, in der Tradition des für die Geschichte des Landes so unheilvollen caudiUismo eine autoritäre Alleinherrschaft anzustreben - Positionen, die Juan Bosch zum Zeitpunkt der Wahlen 1986 nicht mehr vertrat.

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Die Ende Januar 1986 verfügte Einstellung der Wirtschafts- und Finanzhilfe hätte bereits zu einem früheren Zeitpunkt, als dies dann geschah, das Regime gefährden können. Doch die Intervention der USA war nicht der einzige Faktor, der Jean-Claude Duvalier zu Fall brachte. Denn die Apathie, mit der die Haitianer in ihrer Mehrheit fast drei Jahrzehnte lang die Herrschaft der Duvaliers hingenommen hatten, war bereits seit längerem wachsender Unruhe gewichen, die sich zwar nicht in einem gemeinsamen politischen Willen artikulierte, wohl aber einen ungeheuren Mobilisierungseffekt hervorrief. Massive Unterstützung fanden die spontanten Protestaktionen durch die Katholische Kirche, nachdem Papst Johannes Paul II. bei seinem Besuch im März 1983 mit deutlichen Worten die menschenunwürdigen Lebensbedingungen der Bevölkerungsmehrheit angeprangert hatte und sich Priester in den ärmeren Gemeinden zum Sprachrohr des kollektiven Widerstands gemacht hatten. Ende November 1985, nachdem anlässlich einer friedlichen Demonstration in der nördlichen Hafenstadt Gonai'ves mehrere Schüler von Sicherheitskräften erschossen worden waren, gewannen die Protestaktionen eine neue Qualität, und der nun aufbrechende Volkszorn entlud sich immer häufiger in gewaltsamen Demonstrationen. Duvalier versuchte, durch mehrere eilig verfügte Kabinettsumbildungen die Protestwelle einzudämmen; dies jedoch vergeblich, zumal auch gesellschaftliche Kräfte wie Berufsverbände und Sektoren der Privatwirtschaft, die vordem als Verbündete dem Regime zur Seite gestanden hatten, für die Protestierenden Sympathie bezeugten und die Regierung immer offener der Inkompetenz bezichtigten. Als schließlich die Reagan-Administration — möglicherweise aus Furcht vor einer Politisierung und Radikalisierung der Revolte und im Bewusstsein der Gefahr, durch weitere Unterstützung des diskreditierten Regimes in der internationalen Öffentlichkeit wie im eigenen Kongress an Glaubwürdigkeit zu verlieren 29 — dem Regime ebenjene Unterstützung versag-

29 Der US-amerikanische Kongress hatte in der Vergangenheit mehrfach die Bewilligung von Finanzhilfen an Haiti an die Menschenrechtsfrage geknüpft; und Präsident Reagan hatte sich - etwa im Februar 1984 - beeilt, der haitianischen Regierung spürbare Anstrengungen in dieser Frage zu bescheinigen. Die von der Reagan-Administration ausgemachten Fortschritte wurden durch die im Februar 1 9 8 4 abgehaltenen Parlamentswahlen jedoch kaum bestätigt, da die Behörden (mit Erfolg) alles unternahmen, um eine Beteiligung oppositioneller Kandidaten zu verhindern, wobei den im Exil lebenden Haitianern schlichtweg das (für die Einreise in ihr eigenes Land notwendige) Einreisevisum verweigert wurde. Die haitianische Regierung, so schien es, vertraute eher auf ein anderes Mittel, wenn es darum ging, ihr Ansehen in den USA zu verbessern: Sie beauftragte mit dieser Aufgabe die Werbeagentur

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te, blieb Duvalier nur der Weg ins Exil, das ihm die USA am 7. Februar durch die Bereitstellung eines Militärflugzeugs ermöglichten. Den unrühmlichen Abgang Jean-Claude Duvaliers feierten die Haitianer im Jubel über „ihre" Revolution in einem unbeschreiblichen, über Tage andauernden Freudentaumel, der von Plünderungen und anarchisch anmutenden Exzessen bis hin zu Menschenjagd und Lynchjustiz begleitet wurde. Das Losungswort der ersten Stunde hieß „dechoukaj": Ausmerzen all dessen, was das Duvalier-Regime beinhaltet und verkörpert hatte.30 Doch sehr schnell wurde deutlich, dass das Abrechnen mit der Vergangenheit und Setzen eines Neubeginns eine unerfüllte Erwartung bleiben sollte. Die 6-köpfige Ubergangsregierung (Conseil National de Gouvernement, CNG) unter dem noch von Duvalier in sein Amt berufenen General Henri Namphy traf zwar sofort einige populäre Maßnahmen, u. a. Amnestie für politische Gefangene und Auflösung der Sondereinheit der tonton makoutr, doch die Duvalieristen in der Armee sowie im Staats- und Verwaltungsapparat blieben in ihrer Mehrzahl weiterhin im Amt, und die geforderte strafrechtliche Verfolgung von Gewalttätern und korrupten Profiteuren des Regimes wurde nur zögerlich und bei wenigen unteren Chargen in Angriff genommen, während bei höheren Chargen das Untertauchen oder die Ausreise begünstigt wurde. Die im März 1987 zur Volksabstimmung vorgelegte Verfassung — die liberalste unter den 23 Verfassungen, die sich das Land seit der Unabhängigkeit 1804 gegeben hatte — wurde praktisch einstimmig angenommen. Doch das Verspre-

Gray & Co., die in einer großangelegten Anzeigenkampagne die vom Kongress geäußerten Vorbehalte - unter Berufung auf Aussagen des IWF und des State Department - auszuräumen suchte. 30 Geschürt wurde die kollektive Hysterie und latente Bereitschaft zu Plünderung und Lynchjustiz auch durch individuelle oder gruppenspezifische Eigeninteressen, zur persönlichen Abrechnung und Vergeltung oder Ausschaltung missliebiger Konkurrenten. So versuchten insbesondere im Südwesten des Landes protestantische Sekten, allen voran fundamentalistische Baptisten mit Hauptsitz in den USA, sich der Konkurrenz des Vodu-Kults zu entledigen. (Es heißt gemeinhin, 80% der Haitianer seien Katholiken, 20% Protestanten und 100% Anhänger des Vodu.) Zahlreiche Vodu-Priester hatten mit dem Duvalier-Regime kollaboriert oder galten sogar als tonton makoutr, und allein in den ersten drei Monaten nach dem Sturz Jean-Claude Duvaliers wurden im Zuge der „Operasyon Dechoukaj" über 100 Priester und deren Anhänger getötet. Um diesem fanatischen „Kreuzzug", der in fataler Weise an die 1941 von der Katholischen Kirche angeführte „Kampagne gegen den Aberglauben" erinnerte, Einhalt zu gebieten, gründeten haitianische Intellektuelle eine Schutzgemeinschaft. Denn, so der Schriftsteller Franck Etienne, bei aller Kritik an obskurantistischen Praktiken dürfe nicht vergessen werden, dass der Vodu der haitianischen Kultur, Weltsicht und Identität zugrunde liegt.

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chen, das sie enthielt, wurde nicht eingelöst, da die überkommenen Machtverhältnisse nicht angetastet wurden und den Protestaktionen der sich ihrer neugewonnenen Stärke bewussten Massen mit scharfer Repression begegnet wurde. Die turbulenten Ereignisse bis zu den Wahlen im November 1990 seien nur kurz benannt: im November 1987 Präsidentschafts- und Parlamentswahlen, die aufgrund gewaltsamer Ubergriffe von paramilitärischen, von der Armee unterstützten Banden abgebrochen wurden; im Januar 1988 erneute Wahlen, aus denen Leslie F. Manigat, Wunschkandidat des Militärs, durch Manipulation als Sieger hervorging; im Juni Sturz Manigats durch General Namphy; im September Sturz Namphys durch einen Militärputsch und Ernennung von General Prosper Avril zum Präsidenten; im März 1990 Sturz Avrils durch General Herard Abraham und Ernennung von Ertha Pascal-Trouillot, Richterin am Obersten Gerichtshof, zur Ubergangspräsidentin; im Dezember 1990 schließlich freie Wahlen, bei denen der populäre Priester Jean-Bertrand Aristide als Hoffnungsträger der breiten Massen einen erdrutschartigen Sieg erlangte - ein Sieg, der allerdings nur sieben Monate nach Aristides Amtsantritt, im September 1991, durch einen neuerlichen Militärputsch zunichte gemacht wurde. Während in Haiti unter den Duvaliers die Missachtung demokratischer Spielregeln ebenso wie die eklatanten Menschenrechtsverletzungen die Vereinigten Staaten nicht bewogen hatten, dem Regime ihre politische und finanzielle Unterstützung zu verwehren, galten im Verhältnis zu Kuba die Einhaltung der Menschenrechte und die Rückkehr zur Demokratie (nach westlichem Verständnis) als unverzichtbare Voraussetzung für eine Verständigung. Und Ronald Reagan setzte seit seinem Amtsantritt alles daran, das Kuba Fidel Castros, das er für die Krisen im großkaribischen Raum verantwortlich machte, bei den westlichen Verbündeten und den Staaten der Region zu diskreditieren. In Kuba selbst erreichte die Reagan-Administration mit ihrer aggressiven, auf eine Destabilisierung des Regimes abzielenden Haltung das Gegenteil. Nachdem 1980 in einem beispiellosen Exodus etwa 125 000 von den US-amerikanischen Behörden als politische Flüchtlinge willkommen geheißene Kubaner über den Hafen Mariel das Land verlassen hatten, stieg in den nachfolgenden Jahren angesichts der als Herausforderung empfundenen Bedrohung von außen der Kampfgeist der Kubaner erneut - dies trotz der Kritik an den Missständen, die den Alltag der Kubaner weiterhin erschwerten und bei vielen Unmut und Verdrossenheit hervorriefen. Um der mangelnden Produktivität der einheimischen Wirtschaft entgegenzuwirken und das Warenangebot zu erhöhen, wurde 1980 eine umfassende Wirtschaftsreform verfugt, die der Unternehmensleitung mehr Eigenverant-

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wortung übertrug und den Arbeitnehmern zwecks Verbesserung der Arbeitsmoral durch Lohnfächerung und Prämien, also Bezahlung nach Leistung, zusätzliche materielle Anreize in Aussicht stellte. Entscheidend für die Verbesserung der Versorgungslage war die Schaffung paralleler „freier" Märkte, auf denen Bauern Überschussprodukte gemäß Angebot und Nachfrage zu höheren, allerdings vom Staat überwachten Preisen verkaufen konnten. Und schließlich wurden auch im Dienstleistungsgewerbe Privatisierungstendenzen gefördert, mit der Folge, dass kleine Pensionen und Restaurants durch Privatinitiative eingerichtet werden konnten. Das zentrale Problem der Devisenknappheit aber wurde nicht gelöst - ein Problem, das die Kubaner vornehmlich im starken Abrutschen der Preise fiir Zucker begründet sahen. Denn Zucker war mit einem Anteil von 70-85% am Gesamtexport das Hauptausfuhrprodukt Kubas geblieben; und nur wenn es gelang, über eine stärkere Importsubstitution und eine Diversifizierung der fiir den Export insbesondere in das westliche Ausland bestimmten Produkte die Devisenknappheit zu beheben, konnte man längerfristig die extreme Außenabhängigkeit überwinden.31 Einen erheblichen Devisenrückgang bescherte zudem die 1986 erfolgte Verschärfung des US-Embargos, wodurch Zahlungen von in die USA emigrierten Kubanern an ihre Familien in Kuba, die bis dahin zwar nur auf dem Umweg über Panama, aber durchaus legal getätigt werden konnten, von den US-amerikanischen Behörden unter Strafe gestellt wurden. Einen willkommenen Zustrom von Devisen erbrachte dagegen der stetig ansteigende Tourismus aus westlichen Ländern, der aber auch eine weniger willkommene, Formen verdeckter Prostitution aufweisende Unterminierung der „revolutionären Moral" mit sich brachte. Die Reformen bewirkten eine substantielle Verbesserung der Versorgungslage ebenso wie ein beträchtliches Wirtschaftswachstum: bis 1985 eine Steigerung des Bruttosozialprodukts um jährlich über 7% und einen Anstieg der industriellen Produktion sogar um fast 9%. Doch aufgrund des rückläufigen Exports in westliche Länder und des gestiegenen Konsums importierter Waren wuchs gleichzeitig das Haushaltsdefizit, so dass Kuba 1986 in eine schwere Schuldenkrise geriet und sich gegenüber westlichen Gläubigern fiir zahlungsunfähig er31

Der Export in nicht sozialistische Länder belief sich Anfang 1985 auf 13% des gesamten Außenhandels. Das Gros der Zuckerproduktion, zwischen 60 und 80%, wurde von der Sowjetunion abgenommen, dies (u.a.) gegen Erdöllieferungen im Wert des vier- bis fünffachen Zuckerpreises auf dem Weltmarkt - eine Preisdifferenz, aus der sich (neben dem im internationalen Vergleich extrem niedrigen Zinsniveau sowjetischer Kredite) jene unbestimmte Summe von jährlich 4 bis 6 Millarden US-$ ergab, die häufig als Beweis fiir die großzügige Unterstützung Kubas durch die Sowjetunion angeführt wurde.

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klären musste. Dieser Umstand war fiir die unversöhnlichen Gegner jeder nicht ausschließlich an marktwirtschaftlichen Prinzipien orientierten Wirtschaftspolitik eine längst fällige Bankrotterklärung des kubanischen Sozialismus. Für die einer differenzierteren Betrachtungsweise verpflichteten Beobachter lieferte er aber nur den Beweis dafür, dass eine monokulturelle, exportorientierte Wirtschaft (auch im Fall Kubas) keineswegs dazu beiträgt, Außenabhängigkeit zu überwinden. Für Fidel Castro war die Schuldenkrise der Anstoß zu jenem Prozess der rectificación, der „Berichtigung von Irrtümern und negativen Tendenzen" (wie es im offiziellen Sprachgebrauch hieß), der als Ergebnis eines „natürlichen Entwicklungsprozesses" in seiner Tragweite bagatellisiert wurde, der in seinen politischen und wirtschaftlichen Implikationen aber einer radikalen Kurskorrektur gleichkam. Verkündet wurde der neue Kurs auf dem III. Kongress der Kommunistischen Partei im Februar 1986. Worin konkret die „negativen Tendenzen" der marktwirtschaftlichen Reformen bestanden, entwickelte Fidel Castro in seinem Rechenschaftsbericht in der gewohnten Ausführlichkeit: neben Spekulantentum und Korruption das Aufkommen einer den Geist der Revolution verratenden (kapitalistischen) Mentalität, die individuelles Gewinnstreben förderte und Ungleichheit innerhalb der Gemeinschaft zur Folge hatte.32 Der Prozess der rectificación bedeutete eine Abkehr von pragmatischen Ansätzen und eine Re-Ideologisierung, die sich auch in der Rückkehr zu moralischen Arbeitsanreizen manifestierte; und das hieß konkret: die neuerliche Mobilisierung über Arbeitsbrigaden und andere Formen freiwilliger zusätzlicher Arbeit. Die direkten Auswirkungen insbesondere der Abschaffung der Bauernmärkte auf die ohnehin prekäre Versorgungslage der Kubaner waren katastro32 Mit seiner Kritik berührte Castro zutreffend Entwicklungen, die das Entstehen einer privatkapitalistischen Parallelwirtschaft bewirkt hatte. So war im Umfeld der Bauernmärkte eine unproduktive Schicht von Zwischenhändlern und Spekulanten entstanden, die neben den Bauern selbst höchste Gewinne erzielten. Und dass schließlich durch Egoismus und Gewinnstreben sogar auf höchster Ebene die Revolution untergraben wurde, erfuhr die kubanische Öffentlichkeit im Juli 1989, als hohe Chargen in Militär und Verwaltung unter dem Vorwurf des Devisenschmuggels und Drogenhandels von einem Kriegsgericht zu langjährigen Haftstrafen, vier von ihnen sogar zum Tode verurteilt wurden. Unter letzteren befand sich der Divisionsgeneral Arnaldo Ochoa, nach Fidel und Raúl Castro ranghöchster Militär und gefeierter Held des Angola-Feldzugs. Ihm wurde im westlichen Ausland von Castro-feindlichen Kritikern nachgesagt, in Opposition zu Fidel Castro einen Reformkurs zu befürworten, wodurch sich denselben Kritikern die Verurteilung Ochoas als politisch motivierte Ausschaltung eines möglichen Konkurrenten des MScimo Lider darstellte.

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phal; und die Versuche, das revolutionäre Bewusstsein der Menschen zu (re-) aktivieren, mochten vor allem bei der Jugend kaum auf Resonanz stoßen. Denn für sie war die Zeit vor 1959 eine ferne, nicht selbst erlebte Vergangenheit, waren die durch die Revolution erbrachten Leistungen etwa in der Arbeits- und Sozialgesetzgebung, im Gesundheitswesen und im Bildungsbereich selbstverständlich. Und der weitgehende Konsumverzicht fiel umso schwerer, als durch den von staatlicher Seite geförderten Tourismus die Attraktivität eines westlichen Lebensstils erheblich zugenommen hatte — ein Lebensstil, der für viele Jugendliche im Besitz US-amerikanischer (Marken-)Jeans seinen höchsten Ausdruck fand. Wachsen musste der Unmut in weiten Teilen der Bevölkerung angesichts der Entwicklung in der Sowjetunion, wo Michail Gorbatschow seit seinem Amtsantritt als Generalsekretär der KPdSU 1985 mit seiner Politik der perestroika eben jene Reformen einführte, die der Prozess der rectificación in Kuba rückgängig gemacht hatte. Mögliche Erwartungen, Kuba würde dem Beispiel der Sowjetunion folgen, wurden enttäuscht. Die Entwicklung in den osteuropäischen Staaten bis zur Auflösung der Sowjetunion Ende 1991 bedeutete für Kuba den Verlust der wichtigsten Handelspartner und Kreditgeber, und bereits im Sommer 1990 sah man sich gezwungen, ein Notprogramm für die dekretierte „Sonderperiode in Friedenszeiten" - den Período Especial en Tiempos de Paz — zu verabschieden. Sie bedeutete auch eine Zunahme des internationalen Drucks und in Kuba selbst eine Sinnkrise, die das Fundament und damit auch die Legitimation der Revolution in Frage stellte.

8 D I E K A R I B I K IN E I N E R G L O B A L I S I E R T E N

WELT:

DIE 9 0 E R J A H R E U N D DER A U F B R U C H IN EIN N E U E S J A H R T A U S E N D

Der Zusammenbruch der Sowjetunion und das Ende des Ost-West-Konflikts bewirkten in den Vereinigten Staaten von Amerika, der nunmehr einzig verbliebenen Supermacht, eine Verlagerung der Interessen und das Setzen neuer Prioritäten. Die Karibik, bis dahin als (Neben-)Schauplatz der ideologischen Konfrontation von größter strategischer Bedeutung, geriet ins politische Abseits, und die USA konzentrierten sich in ihrer Interventionspolitik auf Belange, die unmittelbar die eigene Gesellschaft tangierten: die Bekämpfung des Drogenhandels, der illegalen Migration und (seit den Anschlägen vom 11. September 2001) des internationalen Terrorismus. Innenpolitische Faktoren bestimmten auch die Haltung gegenüber Kuba, denn das Gewicht der Exilku-

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baner in Florida, die den Ausgang einer Präsidentschaftswahl entscheiden konnten, mochten weder die Republikaner George und George W. Bush noch der Demokrat Bill Clinton ignorieren, so dass mit Beginn der 90er Jahre das seit 1960 bestehende Handelsembargo nochmals verschärft wurde — auch wenn sich in den USA selbst Stimmen erhoben, die das Embargo nicht nur als anachronistisch, sondern auch als den US-amerikanischen Wirtschaftsinteressen abträglich erachteten. In Kuba wirkt das Fortbestehen des Embargos zweifellos als Stabilisierungsfaktor, und regelmäßig wiederkehrende Konfrontationen mit den USA vermögen noch immer die Massen zu mobilisieren. Nach dem Ende der Sowjetunion hatten internationale Beobachter nahezu einhellig auch für Kuba das Ende des „realen Sozialismus" prognostiziert. Aber das sozialistische Kuba überlebte, auch wenn die Zukunft - eine Zukunft ohne den nunmehr 80-jährigen Fidel Castro - ungewiss und Gegenstand wilder Spekulationen ist. Die Uberlebensstrategien, die man ersann, und die strukturellen Veränderungen, die daraus folgten, zeugten von Pragmatismus und der Einsicht in die Notwendigkeit vorsichtiger marktwirtschaftlicher Reformen, wie sie bereits 1980 verfügt und 1986 wieder zurückgenommen worden waren. Der 1993 eingeleiteten rectificación der rectificación folgte jedoch Anfang des neuen Jahrtausends eine neuerliche rectificación, die eine Re-Ideologisierung der Revolution bedeutete und deren wirtschaftliche wie innenpolitische Folgen nicht abzusehen sind. Die kubanische Revolution befindet sich innenpolitisch in einer Legitimationskrise. Außenpolitisch aber gelang es, sich innerhalb der Karibik als Partner zu positionieren, so dass Kuba in den regionalen Integrationsprozess, den 1994 die Gründung Act Association of Caribbean States (ACS) fortschrieb, einbezogen ist. Begünstigt wurde dies nicht nur durch den von kubanischer Seite (seit langem) manifestierten Verzicht auf den „Export" ihrer Revolution, sondern auch durch die Tatsache, dass frühere Berührungsängste schwanden, denn seit dem Ende der 80er Jahre waren sozialistische Positionen in keinem Land der Region noch mehrheitsfähig. Michael Manley in Jamaika hatte dies sehr wohl begriffen, als er im Wahlkampf 1989 (erfolgreich) sein politisches Comeback versuchte, indem er von den einst vertretenen Prinzipien eines demokratischen Sozialismus abrückte und denselben neoliberalen Kurs propagierte, den Edward Seaga in den 80er Jahren verfolgt hatte. In der „Kooperativen Republik" Guyana hatte nach dem Tod Forbes Burnhams 1985 sein Nachfolger Desmond Hoyte bereits zu einem früheren Zeitpunkt - aufgrund der Notwendigkeit, zwecks Abwendung des Staatsbankrotts auf den Interna-

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tionalen Währungsfonds zu rekurrieren - eine wirtschaftliche Liberalisierung eingeleitet. Cheddi Jagan, der 1992 über die ersten fairen Wahlen seit mehr als 15 Jahren an die Macht kam, gab sich in seiner Rhetorik zwar weiterhin als Marxist, übernahm aber, wie im Wahlkampf versprochen, die von Hoyte eingeleitete Reformpolitik. Die in Jamaika wie in Guyana gewährleistete politische Kontinuität konnte nicht verhindern, dass die sozialen Gegensätze sich sporadisch in gewalttätigen Auseinandersetzungen entluden. Doch hier wie auch in den anderen Staaten der anglophonen Karibik sind die Unterschiede zwischen den Parteien nicht so groß, dass Konflikte über ideologische Richtungskämpfe ausgetragen werden. Das Einhalten formaldemokratischer Prinzipien garantiert eine relative politische Stabilität. Aufgrund des vorherrschenden Mehrheitswahlrechts haben kleinere Formationen als Alternativen zu den traditionellen Parteien aber kaum eine Chance; und die Gewerkschaften, die noch in den 50er Jahren als Motor der Unabhängigkeitsbewegungen gelten konnten, haben ihren Einfluss als politisch wirksame Kraft verloren. Die Folge ist eine weit verbreitete Desillusionierung und eine Apathie, die sich regelmäßig in einer geringen Wahlbeteiligung äußert, die aber gelegentlich auch in zerstörerische Wut und Verzweiflung umschlagen mag und generell zu einem Anstieg der Gewaltkriminalität gefuhrt hat. Innenpolitische Turbulenzen in den kleinen Staaten der Karibik werden von der Weltöffentlichkeit kaum wahrgenommen. Die Ereignisse in Haiti nach dem 1991 erfolgten Putsch gegen den Präsidenten Jean-Bertrand Aristide gewannen dagegen internationale Aufmerksamkeit, zumal die Rückkehr Aristides aus dem Exil durch eine von den Vereinten Nationen sanktionierte und den USA angeführte militärische Intervention bewerkstelligt wurde. Haiti blieb über ein Jahrzehnt in den Schlagzeilen der Weltpresse, denn trotz Rückkehr zur Demokratie und Wiederwahl des populären Aristide erschien das Land unregierbar, führten Rechtlosigkeit und Gewalt in ein Chaos, das im Februar 2004 den einstigen Hoffnungsträger der verelendeten Massen wiederum durch ausländische Intervention in ein neuerliches Exil zwang. In Haiti nahm die Verelendung der Bevölkerung Ausmaße an, die unvorstellbar sind, verstärkt durch die Blockierung bereits gewährter Kredite internationaler Geldgeber, die ihre Verweigerungshaltung mit der chaotischen innenpolitischen Lage begründeten. Auch nach dem Amtsantritt des neu gewählten, von der internationalen Gemeinschaft gestützten Präsidenten René Préval im Mai 2006 sind die Perspektiven einer innenpolitischen und wirtschaftlichen Konsolidierung eher düster. In anderen Ländern der Region verlief die wirtschaftliche Entwicklung dagegen zumindest in Ansätzen positiv. So

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konnten nach dem „verlorenen Jahrzehnt" der 80er Jahre in einigen Sektoren hohe Wachstumsraten erzielt werden, die allerdings nicht in jedem Fall der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung nachhaltige Impulse gaben. Die verarbeitende Industrie erlebte einen beträchtlichen Aufschwung durch „industrialization by invitation" in Industriezentren und Freihandelszonen, in denen US-amerikanische oder transnationale Unternehmen, angelockt durch weitgehende Zoll- und Steuerfreiheit sowie niedrige Löhne, hohe Gewinne erzielten, während die Regierungen durch die Bereitstellung der Infrastruktur erhebliche Vorleistungen zu erbringen hatten und der Nutzen dieser weltmarktorientierten, als Enklaven operierenden Produktionsstätten für die jeweilige Volkswirtschaft gering war. In der Landwirtschaft waren gelegentlich Ansätze zu einer Diversifizierung der für den Export bestimmten Produktion erfolgreich; doch blieb die Abhängigkeit von traditionellen „Kolonialwaren" wie Zucker und Bananen, blieb auch die Notwendigkeit des Imports von Nahrungsmitteln. Das höchste Wachstum erbrachte der Dienstleistungssektor: in der gesamten Region der internationale Tourismus und der Finanzsektor in ofßhore-'Lzntren wie den Bahamas oder den Cayman-Inseln. Der Entwicklungsimpuls der von transnationalen Unternehmen dominierten und saisonalen Schwankungen unterworfenen Tourismusindustrie ist jedoch begrenzt. Denn die Gastgeberländer müssen für die Bereitstellung der notwendigen Infrastruktur hohe Investionen leisten und zwecks Anpassung an den Lebensstil der Touristen Konsumgüter importieren, während die Gewinne für die einheimische Wirtschaft gering ausfallen - dies insbesondere durch die Zunahme von Kreuzfahrten sowie Pauschalreisen, die nach dem Konzept des „all inclusive" operieren. Die offihore-Finanzplätze, in denen transnationale Banken und Versicherungen häufig nur als „Briefkastenfirmen" operieren, erbringen dem Standort über Gebühren und Provisionen zwar hohe Einnahmen, schaffen aber nur wenige Arbeitsplätze, wobei einige Standorte aufgrund des (berechtigten) Verdachts illegaler Transaktionen und der Verflechtung mit international operierenden Mafiaorganisationen in Verruf gerieten. Derartige Transaktionen zu unterbinden ist das vorrangige Interesse der Vereinigten Staaten ebenso wie der Organisation für wirtschaftliche Zu-

sammenarbeit und Entwicklung (Organization for Economic Cooperation and Development, OECD), die eine regelmäßig aktualisierte Liste der Länder führt, welche sich im Kampf gegen Steuerhinterziehung und Geldwäsche „unkooperativ" zeigen. Für den Kampf gegen den illegalen Drogenhandel wird eine solche Liste vom US-State Department erstellt, und wer sich auf ihr wiederfindet, muss mit der Einstellung jedweder Finanz- und Wirtschaftshilfe rechnen.

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Während noch Ronald Reagan mit seiner „Karibik-Initiative" eine zwar als politisches Instrument eingesetzte, aber durchaus als „Mini-Marshall-Plan" intendierte handels- und finanzpolitische Hilfestellung leistete, war seit Beginn der 90er Jahre, in denen die U S A eine generelle Kürzung ihrer Entwicklungshilfe vornahmen, ein vergleichbarer Einsatz nicht zu verzeichnen. Und die Europäische Union, die (als Europäische Gemeinschaft) seit 1975 über die LomeVerträge den meisten Staaten und Territorien der Region für ihre wichtigsten landwirtschaftlichen Exporte weitgehende handelspolitische Präferenzen eingeräumt hatte, sah sich gleichermaßen veranlasst, ihre Politik mit Blick auf die neuen Rahmenbedingungen des Welthandels zu überdenken. Diese Rahmenbedingungen implizieren eine Deregulierung und Liberalisierung der Märkte: Ziele, die bereits während der 80er Jahre der Internationale Währungsfonds über Strukturanpassungsprogramme den meisten Staaten der Region verordnet hatte, deren Umsetzung aufgrund der hohen sozialen Kosten aber auch zu einer Verschärfung der sozialen Gegensätze und der Armut geführt hat. Der weitere Abbau von Handelshemmnissen im intra- wie interregionalen Warenaustausch — auch im Rahmen der von den Vereinigten Staaten propagierten, aber nicht durchgesetzten Free Trade Area ofthe Americas — wird von den karibischen Staaten und Territorien begrüßt, doch mögen sie sich von den bislang genutzten präferentiellen Handelsbedingungen nicht ganz verabschieden, denn aus ihrer Perspektive sind freier Handel und fairer Handel nicht unbedingt identisch.

Jamaika Der überwältigende Sieg Michael Manleys und seiner People's National Party (PNP) bei den Parlamentswahlen 1989 kam nicht überraschend, denn bereits anlässlich der Kommunalwahlen drei Jahre zuvor hatte sich die Partei, nach ihrem Machtverlust 1980 zunächst in sich zerstritten und handlungsunfähig, erneut als politische Kraft profilieren können. Allerdings war das Ergebnis, das der P N P fast 6 0 % der abgegebenen Stimmen bescherte, weniger auf ein überzeugendes politisches Konzept zurückzuführen als auf die offensichtliche Hilflosigkeit der Regierung, der wachsenden sozialen Unruhe zu begegnen. Während der zweiten Hälfte der 80er Jahre war es aufgrund der von Edward Seaga und seiner Jamaica Labour Party (JLP) unter dem permanenten Druck des IWF verfolgten Austeritätspolitik immer wieder zu Streiks und Protestmärschen gekommen. So konnte Manley, nach eigener Aussage durch den

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Misserfolg seiner früheren Politik „gereift", nunmehr unter Verzicht auf klassenkämpferische Rhetorik in Opposition zu dem weithin ungeliebten Seaga seine einstige Popularität zurückgewinnen. Als Manley sich 1992 aus gesundheitlichen Gründen aus allen politischen Amtern zurückzog, übernahm die Regierungsgeschäfte der Vizepremier Percival James Patterson, der ein Jahr später über vorgezogene Neuwahlen in seinem Amt als Premier bestätigt wurde. Patterson verfolgte den von Manley eingeschlagenen Kurs und konnte sich aufgrund seiner weithin um Ausgleich bemühten Politik gegenüber dem eher auf Konfrontation abzielenden Seaga als populärer Staatsmann profilieren, so dass er bei den Parlamentswahlen 1997 mit 50 von 60 Sitzen für die regierende PNP wiederum einen überzeugenden Sieg errang. Den Möglichkeiten einer alternativen Außen- und Wirtschaftspolitik waren aber Grenzen gesetzt. Die unter Seaga abgebrochenen diplomatischen Beziehungen zu Kuba wurden zwar wiederaufgenommen; doch war der Spielraum gegenüber dem Internationalen Währungsfonds, ohne den nach dem Urteil kritischer Beobachter in Jamaika „nichts lief', äußerst gering, wurden zudem aufgrund interner wie externer Faktoren die Chancen einer wirtschaftlichen Erholung nicht genutzt. Während der 80er Jahre war Jamaika weltweit (nach Australien und Guinea) der drittgrößte Produzent von Bauxit, abgebaut durch kanadische und US-amerikanische Unternehmen; und noch immer erwirtschaftet Bauxit mit seinen Derivaten einen Großteil der Deviseneinnahmen. Aber seit langem erscheint dieser Industriezweig nicht mehr (wie noch in den 70er Jahren) als ideale Option für eine gesamtwirtschaftliche Entwicklung des Landes. Zwar wurde der Rückgang der Produktion, die Mitte der 90er Jahre noch hinter das Niveau der 70er Jahre zurückfiel, inzwischen wettgemacht; doch sind die Weltmarktpreise für Bauxit erheblich zurückgegangen, so dass sich der Gewinn für das Förderland Jamaika, das aufgrund des Fehlens an billiger Energie in seiner Kapazität der Verhüttung seines Bauxits zu Aliminium ohnehin eingeschränkt ist, in Grenzen hält. Als wenig zukunftsträchtig erwies sich auch die Option einer verarbeitenden Industrie in freien Produktionszonen, die in den 80er Jahren aufgrund der besonderen Beziehungen Edward Seagas zu den USA und der diesem im Rahmen der „Karibik-Initiative" Ronald Reagans gewährten Handelspräferenzen einen Aufschwung erlebten. Denn mittlerweile haben sich zahlreiche US-amerikanische Unternehmen zurückgezogen, da ihnen andernorts, seit dem Zustandekommen der Nordamerikanischen Freihandelszone (NAFTA) 1994 insbesondere in Mexiko, profitablere Bedingungen geboten werden.

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In der Landwirtschaft dominiert neben Bananen - und dem illegalen Anbau von Marihuana — noch immer der Zucker, der nach Bauxit den höchsten Anteil am Exporterlös erwirtschaftet, aber aufgrund der hohen Produktionskosten unrentabel ist. Bleibt als dynamischer Sektor allein der Tourismus, der seit dem Ende der 80er Jahre einen Boom erlebte, mittlerweile etwa zwei Drittel des Bruttosozialprodukts erwirtschaftet und im Gegensatz zu den meisten anderen Ländern der Karibik über Hotels abgewickelt wird, die sich zu 90% in der Hand einheimischer Unternehmer befinden. Doch wie überall in der Region operiert die Tourismusindustrie auch in Jamaika zunehmend nach dem „all inclusive"-Konzept und ist saisonalen, durch externe Entwicklungen und Ereignisse bedingten Schwankungen unterworfen, was sich nach dem 11. September 2001 sogleich in einem drastischen Rückgang ausländischer Besucher manifestierte. Mittlerweile ist diese jüngste Krise überwunden. Langfristig wird sich der Tourismus aber nur dann als zukunftsträchtiger Industriezweig etablieren, wenn es gelingt, der extrem hohen Kriminalität und der sporadisch ausbrechenden politischen Gewalt entgegenzuwirken - eine Realität, die zwar den Pauschaltouristen in den Enklaven in Montego Bay oder Ocho Rios nicht direkt tangiert, die aber die Legitimität jeder Regierung in Frage stellen mag und dem internationalen Ansehen des Landes erheblichen Schaden zufugt. Primäre Ursache der extremen Gewaltkriminalität ist die weithin herrschende Armut, die auf dem Lande vor allem auf die ungleiche Landverteilung zurückzuführen ist. Die Regierung war bemüht, die Situation dadurch zu entschärfen, dass sie - im Rahmen der „Operation Pride" - brachliegendes Land an Kleinbauern vergab. Etwa 14 000 Familien profitierten von diesem Programm, dem die PNP einen Großteil ihrer Popularität verdankt. Doch die Lage der Betroffenen wurde nur unwesentlich verbessert, und die Umsetzung des Programms führte zu solchen Auswüchsen von Manipulation und Betrug, dass im April 2002 der zuständige Minister zum Rücktritt gezwungen wurde. In den Städten, insbesondere unter den Jugendlichen in den Ghettos von Kingston, herrscht weithin Arbeitslosigkeit, so dass viele, um zu überleben, am lukrativen Drogenhandel zu partizipieren suchen. Doch ist dies ein höchst gefährliches Geschäft, dem pro Jahr weit über 1 000 Morde geschuldet sind: Opfer rivalisierender Gangs, die sich regelrechte Bandenkriege liefern, oder Opfer der brutal vorgehenden Polizei, die, mit außerordentlichen Vollmachten ausgestattet, auch vor summarischen Exekutionen nicht zurückschreckt.33

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Der offensichtliche Machtmißbrauch der Sicherheitskräfte, die (in der Regel straffrei)

bei der Verfolgung und Verhaftung Verdächtiger allzu schnell von der Waffe Gebrauch ma-

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Eine kurzfristige Lösung ist aufgrund der gesamtwirtschaftlichen Lage nicht in Sicht. Zwar konnte die Inflationsrate von bis zu 30% Anfang der 90er Jahre auf etwa die Hälfte gesenkt werden; doch das Bruttoinlandsprodukt, das während der 80er Jahre noch ein durchschnittliches Wachstum von 2,2% erreichte, stagnierte und wies ab 1996 sogar eine negative Tendenz auf, bis es mit Beginn des neuen Jahrtausends wieder ein allerdings nur bescheidenes Wachstum verzeichnen konnte. Das größte Problem aber ist die hohe Auslandsverschuldung von über 7 Milliarden US-$, welche die Regierung zwingt, zwei Drittel des Staatshaushalts auf den Schuldendienst zu verwenden. Der Spielraum fiir soziale Programme ist daher gering, und so kam es seit Ende der 90er Jahre anlässlich weiterer Sparmaßnahmen wiederholt zu regierungsfeindlichen Demonstrationen, gefolgt von Plünderungen, denen die Regierung mit dem Einsatz der Armee zu begegnen suchte. Politisch motivierte Gewalt beherrschte denn auch die Auseinandersetzungen im Vorfeld der Parlamentswahlen vom Oktober 2002, die zwar nicht die Ausmaße von 1980 annahm - in jenem Jahr wurden während des Wahlkampfs 700 Personen ermordet —, die aber allein in den vier Wochen vor dem Wahltermin 40 Menschen das Leben kostete. Der Hintergrund ist die spezifisch jamaikanische Ausprägung parteipolitischer Loyalität, über die sich ganze Stadtbezirke als Hochburg (und Klientel) einer Partei organisiert haben. Diese werden nicht selten von Banden kontrolliert, die den illegalen Drogen- und Waffenhandel beherrschen und die in der Regel darauf bedacht sind, die absolute Kontrolle über die Community, auch wenn es um deren Wahlverhalten geht, notfalls mit Gewalt durchzusetzen. Das Wahlergebnis erbrachte einen neuerlichen Sieg der regierenden Peoples National Party, die mit 34 von 60 Sitzen eine (knappe) Mehrheit errang; doch konnte die oppositionelle Jamaica Labour Party mit 26 Sitzen ihr Ergebnis gegenüber den Wahlen von 1997 wesentlich verbessern. Das Ergebnis der Kommunalwahlen im Juli 2003 setzte für die Regierungspartei den Negativtrend fort. Nachdem die PNP bei den vormaligen Kommunalwahlen 1998 neben der Stadtverwaltung von Kingston und St. Anchen, veranlasste die britische Regierung, eine für die jamaikanische Polizei bestimmte Frachtsendung von Handfeuerwaffen und Munition zurückzuhalten und erst nach über einem Jahr (Anfang 2 0 0 1 ) der Auslieferung zuzustimmen, nachdem die jamaikanische Regierung beteuert hatte, sie würde ihre Sicherheitskräfte dem geforderten „Sensibilitätstraining in Menschenrechtsfragen" unterziehen. In der Kriminalitätsstatistik liegt Jamaika in Lateinamerika und der Karibik weiterhin an der Spitze: So wurden im Jahr 2 0 0 5 nahezu 1 7 0 0 Morde registriert, 6 4 auf 100 0 0 0 Einwohner.

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drew alle 12 Gemeinderäte erobert hatte, verblieb ihr nun gerade noch ein einziger Gemeinderat, so dass Edward Seaga - nach vier Niederlagen in Folge immer noch amtierender Oppositionsführer — „den Anfang vom Ende" der politischen Vorherrschaft der PNP heraufbeschwor. Seaga war es gelungen, einen Teil seiner traditionellen Klientel erneut zu mobilisieren. Aber das Ergebnis der Kommunalwahlen, die so wenig öffentliches Interesse hervorriefen, dass sie nicht einmal von der sonst üblichen Gewalt begleitet wurden, und die gerade mal eine Wahlbeteiligung von 31 % aufwiesen, war eher Ausdruck zunehmender Staatsverdrossenheit und Apathie als ein Votum für Seaga und die JLP. Die beiden dominierenden Parteien haben sich mittlerweile in ihrem Programm wie in ihrer Rhetorik so sehr angenähert, dass über den Erfolg bei Parlamentswahlen letztlich die Persönlichkeit des Parteiführers und potentiellen Regierungschefs entscheidet. Edward Seaga hatte sich über ein Jahrzehnt weder durch die parteiinterne Kritik an seinem als autoritär erachteten Führungsstil noch durch die vernichtenden Wahlniederlagen beirren lassen. Erst 2004 gab er dem massiven Druck, vom Parteivorsitz zurückzutreten, nach und ermöglichte - wie sein einstiger Konkurrent Michael Manley zuvor - für die Jamaica Labour Party den längst fälligen Generationswechsel. Ende März 2006 zog sich auch Percival James „PJ" Patterson, der in der Popularitätsskala im Vergleich zu Seaga weit vorn gelegen hatte, aus der aktiven Politik zurück. Seine Nachfolgerin im Amt des Premiers wurde Portia Simpson Miller, „Sista P" genannt, die ihrerseits aufgrund hoher Popularitätswerte gute Chancen hat, bei den 2007 anstehenden Parlamentswahlen der People's National Party erneut zum Sieg zu verhelfen. Trinidad und Tobago (Republic of Trinidad and Tobago) Im Gegensatz zu Jamaika verlief die politische Entwicklung in Trinidad und Tobago seit Beginn der 90er Jahre ausgesprochen chaotisch. Der im Juli 1990 von der Islamistengruppe Jamaat al Muslimeen34 inszenierte Putschversuch

34 Die von dem ehemaligen Polizisten Lennox Philip oder Yasin Abu Bakr angeführte Gruppe, die vorgibt, als Sprachrohr der etwa 70 000 in Trinidad/Tobago lebenden Moslems zu fungieren, machte auch nach ihrem Putschversuch von sich reden, indem die Umstände, unter denen dieser beendet worden war, mehrfach die Gerichte und sogar den Privy Counc i l s London als den für Trinidad/Tobago zuständigen Obersten Gerichtshof beschäftigten. Ein (nicht eindeutig entschiedener) Streitpunkt war die Frage, ob die zunächst erfolgte Inhaftierung der am Putsch Beteiligten rechtmäßig war, obgleich die Regierung ihnen vor

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konnte zwar nach kurzer Zeit von den Sicherheitskräften niedergeschlagen werden; doch die nachfolgenden Straßenschlachten und Plünderungen waren gewaltsamer Ausdruck einer weit verbreiteten Enttäuschung und Frustration angesichts der Misserfolge einer Regierung, die 1986 — nach drei Jahrzehnten unangefochtener Alleinherrschaft des People's National Movement (PNM) - unter ihrem Premier Arthur N. Raymond Robinson als National Alliance for Reconstruction (NAR) in allen Bereichen einen Neubeginn versprochen hatte. Die aus vier Parteien gebildete Koalition brachte weder das Ende von Misswirtschaft und Korruption, von Vetternwirtschaft und Parteienklüngel, noch den Beginn einer parteiübergreifenden, die rivalisierenden ethnischen Gruppen versöhnenden nationalen Politik. Und in ihren wirtschaftspolitischen Maßnahmen erwies sich die NAR-Regierung in den Augen der Bevölkerungsmehrheit nur als „Erfüllungsgehilfe" des Internationalen Währungsfonds, dessen Auflagen einer strikten Austeritätspolitik sich diese nicht entziehen mochte. So kam das Ergebnis der Parlamentswahlen im Dezember 1991, bei denen wiederum entprechend den traditionellen ethnisch geprägten Loyalitäten gewählt wurde, nicht unerwartet. Das mit Patrick Manning als Premier nun wieder die Regierung stellende People's National Movement der ,Afrikaner" errang mit 21 von 36 Sitzen eine komfortable Mehrheit. Zweitwichtigste Gruppierung im Parlament wurde mit 13 Sitzen der den „Indern" verpflichtete, nur wenige Jahre zuvor von Basdeo Panday als Nachfolgeorganisation der United Labour Front gegründete United National Congress (UNC). Der National Allicanee des scheidenden Premiers Robinson verblieben hingegen nur die beiden Mandate, die als Interessenvertretung Tobagos traditionell dem von Robinson geführten, das dortige Regionalparlament dominierenden Democractic Action Congress nahestehen.

Aufgabe der Rebellion Straffreiheit zugesichert hatte. Ein zweiter Streitpunkt betraf die Forderung nach Entschädigungszahlungen sowohl von den Rebellen - für während des Putsches durch diese an Regierungseigentum verursachte Schäden - als auch von der Regierung - für nach dem Putsch durch Sicherheitskräfte zerstörtes Eigentum der Moslemgruppe; ein Streit, der 2001 von mehreren Gerichten dadurch entschieden wurde, dass beide Parteien zu Entschädigungszahlungen an die jeweils andere Seite verurteilt wurden. Die Aktivitäten der Islamistengruppe, die in Port of Spain zahlreiche soziale Einrichtungen betreut, sorgte auch weiterhin für innenpolitischen Zündstoff, da sie von den Regierenden regelmäßig für die Entführungen und Morde verantwortlich gemacht wird, die Trinidad/Tobago (nach Jamaika) an die Spitze der regionalen Kriminalitätsstatistik befördert haben. Dasselbe galt für mehrere Bombenattentate, die Ende 2005 in der Hauptstadt verübt wurden, jedoch nicht aufgeklärt werden konnten.

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Patrick Manning gelang es, nach einem Jahrzehnt der Rezession die Wirtschaft erneut anzukurbeln und für 1994 sogar ein Wirtschaftswachstum von fast 5% zu erzielen. Doch an der extrem ungleichen Einkommensverteilung, die bei einem für die Region überdurchschnittlich hohen Pro-Kopf-Einkommen einer kleinen, vorwiegend im Energiesektor beschäftigten Minderheit Spitzenlöhne beschert, während die Bevölkerungsmehrheit weitgehend marginalisiert bleibt, änderte sich nichts. Und die sozialen Kosten der auch von Manning verfolgten neoliberalen Wirtschaftspolitik bewirkten schließlich einen zunehmenden Popularitätsverlust von Premier und Partei, der sich immer häufiger in wilden Streiks und gewalttätigen Demonstrationen entlud und der bei den (vorgezogenen) Wahlen im November 1995 dem PNM erhebliche Stimmenverluste einbrachte. Zwar konnte die Regierungspartei darauf verweisen, dass sie hinsichtlich der Stimmenverteilung gegenüber dem UNC einen knappen Vorsprung besaß; doch hinsichtlich der Sitzverteilung kam es zwischen den beiden großen Parteien zu einem Patt, das Robinson mit den ihm wieder zugefallenen zwei Sitzen zugunsten des U N C entschied, wodurch zum ersten Mal in der Geschichte des Landes mit Basdeo Panday einem „Inder" das Amt des Regierungschefs zufiel. Panday, der während seiner Amtszeit beachtliche Wachstumsraten verzeichnen konnte, setzte vor allem auf den Energiesektor, in dem sich vor dem Erdöl das Erdgas als besonders zukunftsträchtig erwies — Perspektiven, die durch neuerliche ofßhore-¥\in6.t bestätigt wurden und das Projekt einer Unterwasserpipeline für den Export von verflüssigtem Erdgas in die benachbarten Inselstaaten, sofern technisch machbar, als rentable Investition erscheinen lassen. Vernachlässigt wurde die Agrarwirtschaft, die mittlerweile mit weniger als 1% zum Bruttoinlandsprodukt beiträgt, kaum diversifiziert ist und nicht einmal die Hälfte der auf dem einheimischen Markt benötigten Nahrungsmittel produziert. Das größte Problem war und ist die bereits seit langem gänzlich unrentable Zuckerproduktion, in der vorwiegend „Inder" beschäftigt sind und die nur dank hoher staatlicher Subventionen überlebt — Subventionen, die eine vom U N C geführte Regierung aus Rücksicht auf ihre Stammwähler nicht antasten mochte, die aber von der inzwischen amtierenden PNM-Regierung gekappt wurden, indem sie eine der beiden letzten in staatlichem Besitz befindlichen Zuckerfabriken schloss, wodurch 9 000 Kleinbauern und Landarbeiter ihrer Existenzgrundlage beraubt wurden. Politische Rücksichtnahme auf die eigene Klientel und die diese favorisierende Vergabe von Pfründen oder auch nur Arbeitsplätzen ist ein durchaus bekanntes Phänomen in der Politik des Landes, und das People's National Movement hat-

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te über Jahrzehnte die Vorherrschaft der „Afrikaner" insbesondere im öffentlichen Dienst gefördert. Panday seinerseits war bemüht, nunmehr auch dem indischstämmigen Bevölkerungsteil die seinem demographischen Gewicht angemessene Teilhabe am politischen und sozialen Leben zu ermöglichen. Die Folge war, dass die „Rassenfrage" zwischen den in etwa gleichgewichtigen Bevölkerungsgruppen neue Aktualität gewann und sich in gewaltsamen Übergriffen und wachsender Kriminalität manifestierte. Doch nicht nur die Reaktivierung der stets latent vorhandenen ethnischen Rivalitäten bewirkte eine Vergiftung des innenpolitischen Klimas. Einen erheblichen Beitrag leistete hier auch der Premier selbst, der (offensichtlich berechtigten) Vorwürfen von Misswirtschaft und Korruption dadurch zu begegnen suchte, dass er Presse und Justiz der Parteilichkeit bezichtigte und in ihrer Arbeit behinderte. Entscheidend für Pandays erzwungenen Rückzug aus der Regierungsverantwortung aber war letztlich sein konfliktives Verhältnis zu A.N.R. Robinson, der ihm 1995 als MehrheitsbeschafFer zur Macht verholfen und den er für diesen Dienst zwei Jahre später in das Amt des Staatspräsidenten35 befördert hatte, dessen politische Ambitionen sich aber nicht mit den - ihm von Panday zugewiesenen - repräsentativen Pflichten eines Staatsoberhaupts vereinbaren ließen. Ende 2000 leitete Robinson eine politische Krise ein, die innerhalb von nur zwei Jahren zu drei Parlamentswahlen fiihrte. Bei den Wahlen im Dezember 2000 errang der U N C vor dem PNM eine knappe Mehrheit. Da sich Robinson aber hartnäckig weigerte, mehrere der von Panday ernannten und als Minister vorgesehenen Senatoren zu vereidigen, konnte dieser erst nach Beilegung des Konflikts mit dem Staatspräsidenten im Februar 2001 seine Regierungsmannschaft zusammenstellen. In den nachfolgenden Monaten verschärfte sich die innenpolitische Krise, da der Premier aufgrund massiver Korruptionsvorwürfe, die sich auch gegen seine Person richteten, innerhalb der Partei an Rückhalt verlor, bis er durch den Parteiaustritt von drei UNC-Abgeordneten seine Mehrheit im Repräsentantenhaus verlor. Die notwendig gewordenen und im Dezember 2001 abgehaltenen Neuwahlen führten wie schon 1995 zwischen den beiden großen Parteien zu einem Patt. Da aber nun keine dritte Partei als möglicher Mehrheitsbeschaffer mehr im Parlament vertreten war, einigte man sich darauf, dass der Staatsprä-

35 Trinidad und Tobago ist seit 1 9 7 6 aufgrund einer Verfassungsänderung nicht mehr (wie die meisten anglophonen Staaten der Karibik) eine parlamentarische Monarchie, sondern eine Republik, deren Staatsoberhaupt alle fünf Jahre von einem Wahlmännergremium, das aus Mitgliedern beider Häuser des Parlaments besteht, gewählt wird.

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sident den Regierungschef bestimmen sollte. Robinson entschied sich - aus „moralischen Gründen", wie er unter Verweis auf die gegen Panday erhobenen Korruptionsvorwürfe 36 präzisierte - für Patrick Manning, dem es aber bis zum Ablauf der vorgeschriebenen Frist Ende September 2002 nicht gelang, für die Verabschiedung seines Haushalts eine Mehrheit zu finden. So kam es einen Monat später erneut zu Wahlen, die Manning und dem Peoples National Movement mit 20 zu 16 Sitzen einen knappen Sieg bescherten und die seit Ende 2000 herrschende innenpolitische Dauerkrise beendeten. Vorerst beigelegt ist auch der aufgrund latenter Sezessionsbestrebungen mit Tobago bestehende Konflikt. Die beiden Inseln, 1888 von Großbritannien als Kronkolonie zu einer Verwaltungseinheit zusammengefasst, haben wenig gemeinsam, und die kleinere Insel Tobago, die agrarisch geprägt und vorwiegend von Schwarzen bewohnt ist, hatte in der Vergangenheit kaum von den erwirtschafteten Petro-Dollars profitiert. Der Forderung nach mehr Selbstbestimmung hatte die Zentralregierung 1980 durch die Schaffung eines Regionalparlaments nachgegeben, und dieses wurde zur politischen Basis ftir A.N.R. Robinson, der mit seinem Democratic Action Congress (DAC) und dem Parteienbündnis der National Alliance for Reconstruction das Parlament in Tobago dominierte. Bei den Regionalwahlen 1992 gewann Robinson noch 11 der 12 Sitze; knapp 10 Jahre später, nach dem Rückzug Robinsons aus der Parteipolitik, erreichte seine Partei nur noch vier, im Januar 2005 sogar nur noch einen Sitz, das Peoples National Movement hingegen 11 Sitze. Und die Partei Patrick Mannings ist nicht verdächtig, fiir Tobago separatistische Ambitionen zu verfolgen.

Barbados Das im äußersten Osten der karibischen Inselwelt gelegene Barbados, das im Wesentlichen dank seiner hoch entwickelten Tourismusindustrie im Human Development Report (2006) der Vereinten Nationen unter 177 Staaten auf Platz 30 rangiert, gilt als der politisch und sozial stabilste Staat in der anglophonen

36 Im September 2002 wurde gegen Panday ein Gerichtsverfahren eröffnet, in dem ihm zur Last gelegt wurde, dass er während seiner Amtszeit als Premier bei seiner Einkommenserklärung ein Londoner Bankkonto verschwiegen und damit auch die Herkunft der dort deponierten Einkünfte nicht offen gelegt hatte. Im April 2006 wurde er dann zu einer 2-jährigen Haftstrafe verurteilt, jedoch nach wenigen Tagen aus gesundheitlichen Gründen auf Kaution freigelassen.

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Karibik. Der Lebensstandard der Bevölkerung ist neben dem der Bahamas der höchste der Region, Analphabetismus ist praktisch inexistent, und die Infrastruktur - ein Erbe der Kolonialzeit, in der Barbados, als „Klein-England" gerühmt, Zentrum der regionalen britischen Verwaltung war — ist geradezu vorbildlich. Politische Kontinuität garantiert das Zwei-Parteien-System, in dem die sich ideologisch wenig voneinander unterscheidenden Gruppierungen seit der Unabhängigkeit 1966 und bis in die jüngste Gegenwart alle zwei Legislaturperioden einander ablösten und auch der Generationswechsel problemlos vonstatten ging: die Democratic Labour Party (DLP) unter Errol Barrow, nach dessen Tod 1987 unter Erskine Sandiford; die Barbados Labour Party (BLP) unter Tom Adams, nach dessen Tod 1985 zunächst unter Bernard St. John, sodann unter Owen Arthur, dem es bei den im Mai 2003 abgehaltenen Parlamentswahlen zum ersten Mal in der Geschichte des Landes gelang, als Premier (nach 1994 und 1999) ftir eine dritte Amtsperiode gewählt zu werden.37 Der Erfolg Owen Arthurs ist gewiss auf die insgesamt positive Bilanz seiner Wirtschaftspolitik zurückzuführen, die nach einer schweren Rezession Anfang der 90er Jahre ein neuerliches Wirtschaftswachstum in Gang setzte. Uber lange Zeit war Zucker der wichtigste Devisenbeschaffer gewesen. Aufgrund der hohen Produktionskosten und geringen Erträge war die Produktion, die sich um 1960 noch auf 200 000 t belief, in den 90er Jahren aber so weit zurückgegangen, dass man, um die Quote von 50 000 t für den Export in die Europäische Union nicht zu unterschreiten, für den eigenen Bedarf billigeren Zucker aus Guatemala und Guyana importieren musste. Mittlerweile sind die Erträge noch weiter gesunken, und viele Kleinbauern verkaufen ihr Land, das von der weiterhin expandierenden Tourismusindustrie absorbiert wird. Denn der Tourismus ist trotz Krisenanfälligkeit mit einem etwa 40%igen Anteil am Brutto-

37 Ideologische Differenzen ergaben sich allein zwischen Tom Adams und Errol Barrow im Zusammenhang mit der 1983 erfolgten Invasion in Grenada und der (von den USA angeregten) Bildung einer regionalen mobilen Sicherheits- und Interventionstruppe. Adams hatte die Aufstellung einer solchen Regional Defense Force vehement befürwortet, und er war bereit, die kleine Truppe überall dorthin zu entsenden, wo befreundete Regierungen von einem Umsturz bedroht waren. Die politische Motivation für derartige Interventionen war bei dem scharf antikommunistischen Kurs von Tom Adams und seiner feindseligen Haltung gegenüber dem Grenada Maurice Bishops stets eindeutig gewesen. So war er es auch, der in der anglophonen Karibik am vehementesten die dann erfolgte Invasion befürwortete. Errol Barrow hingegen hatte die Invasion scharf verurteilt und die von Adams befürwortete US-gestützte regionale Interventionstruppe zunächst als unerwünschte Militarisierung der Region abgelehnt, sie dann aber ausschließlich für den Einsatz gegen den illegalen Drogen- und Waffenhandel akzeptiert.

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inlandsprodukt der Motor der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Und obgleich auch Barbados nach dem 11. September 2001 erhebliche Einbußen im Tourismusgeschäft hinnehmen musste, zeigte schon das Jahr 2003 wieder Zeichen einer Erholung. Der weiteren Expansion der Tourismusbranche sind aber Grenzen gesetzt. Zum einen manifestiert sich auch in Barbados der Trend zum Anstieg von Kreuzfahrten und Pauschaltourismus, wodurch der einheimischen Wirtschaft Impulse entzogen werden; zum andern sieht sich Barbados aufgrund des hohen Preisniveaus zunehmend der Konkurrenz anderer Urlaubsziele in der Region ausgesetzt, die - wie Kuba und die Dominikanische Republik - dasselbe Flair tropischer „sun and fun"-Enklaven zu bieten haben, dies aber zu einem weit niedrigeren Preis. Als „Klein-England" ist die Insel, die während ihrer fast 350 Jahre währenden Kolonialgeschichte (als einzige europäische Besitzung in der Karibik) ununterbrochen in britischer Hand war und deren Bewohner - zu fast 95% afrikanischer Herkunft - sich stolz auf ihre englishness berufen, besonders für britische Touristen ein beliebtes Reiseziel. Doch der Premier Owen Arthur scheint entschlossen, gegenüber dem ehemaligen Mutterland mehr Eigenständigkeit zu zeigen und das Bild von „Klein-England" etwas zurechtzurücken, indem er langfristig für Barbados den Status einer Republik anvisiert und kurzfristig den Trafalgar Square in der Hauptstadt Bridgetown in National Heroes Square umtaufte — dies mit der (logischen) Konsequenz, dass der Senat beschloss, das Standbild Lord Nelsons, von weißen Siedlern 1813 errichtet, zu entfernen. Denn schließlich habe dieser, wie der Historiker Trevor Marshall argumentierte, Barbados nur einmal kurz besucht und die Insel später als „abscheulichen Flecken" bezeichnet. Dominica (Commonwealth of Dominica) Seit ihrem Wahlsieg 1980 hatte die Dominica Freedom Party (DFP) unter Eugenia Charles über drei Legislaturperioden die politische Szene des Landes beherrscht, bis die Partei 1995 eine Wahlniederlage erlebte, die sie in eine tiefe Krise stürzte. Eugenia Charles hatte während der 80er Jahre einige Erfolge verzeichnen können. So war es ihr gelungen, die Anfang des Jahrzehnts noch brisante innenpolitische Lage zu stabilisieren; dies mit Unterstützung der Vereinigten Staaten, die im Rahmen ihres Hilfsprogramms für die Karibik nach der Invasion in Grenada die Ordnungskräfte Dominicas, Polizei und Küstenwache, ausbilden und ausrüsten halfen. Die Aktion in Grenada hatte Eugenia

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Charles auch außenpolitischen Gewinn gebracht, denn durch ihre vehemente Befürwortung des Unternehmens und ihren strikt antikommunistischen Kurs wurde sie zu einem der verlässlichsten Partner der Reagan-Administration und gewann innerhalb der anglophonen Karibik ein politisches Gewicht, das dem kleinen Inselstaat bis dahin nicht zugestanden worden war. Wirtschaftspolitisch hatte die Regierung vorrangig auf das Bananengeschäft gesetzt, und der Export von Bananen erwirtschaftete etwa 60% der Deviseneinnahmen. Gleichzeitig hatte man versucht, den bis dahin inexistenten industriellen Sektor anzukurbeln und über umfangreiche Kredite die unzulängliche Infrastruktur der Insel auszubauen, um neben Touristen auch ausländische Investoren anzulocken. Während der 80er Jahre war es gelungen, mit durchschnittlich 4,3% ein beträchtliches Wirtschaftswachstum zu erzielen. Doch mit Beginn der 90er Jahre war der Boom im Bananengeschäft vorbei, und die Exporte sanken allein von 1993 bis 1995 um nahezu die Hälfte auf nur noch 33 000 t. Nun rächte sich, dass in der Agrarwirtschafit keine Anstrengungen zur Diversifizierung für den Export geeigneter Produkte unternommen worden waren. Und da die erhofften ausländischen Investoren und Touristen weitgehend ausblieben, wurden strukturelle Probleme wie die hohe Arbeitslosigkeit noch virulenter. So kam der Sieg der oppositionellen United Workers Party (UWP) bei den im Juni 1995 abgehaltenen Wahlen nicht überraschend. Doch mochte das Ergebnis auch dadurch beeinflusst worden sein, dass Eugenia Charles im Verlauf ihrer dritten Amtszeit als Premierministerin mehrfach ihren Rückzug aus der Politik angekündigt, aber immer wieder verschoben hatte und im Vorfeld der Wahlen ihren Nachfolger im Amt des Parteivorsitzenden und Kandidaten ihrer Partei für das Amt des Premiers nachgerade desavouierte. Der Sieg der UWP, die 11 der 21 Sitze im Abgeordnetenhaus errang, fiel knapp aus. Und als sie sich fünf Jahre später, im Januar 2000, mit ihrem Premier Edison C. James erneut zur Wahl stellte, unterlag sie - mit nur einem Mandat Differenz - der Dominica Labour Party (DLP) und deren Spitzenkandidat Roosevelt („Rosie") Douglas, der allerdings über keine Mehrheit verfügte und eine Koalititon mit der Dominica Freedom Party einging. Diese hatte gerade noch zwei Mandate errungen, wurde aber im neuen Kabinett mit drei Ministerposten bedacht. Ein Bündnis der sozialdemokratischen DLP mit der konservativen DFP wäre noch Anfang der 90er Jahre undenkbar gewesen. Und dass ausgerechnet Rosie Douglas, in den 70er Jahren radikaler Aktivist der Black Power-Bewegung und lange Zeit Gallionsfigur der Linken, dieses Bündnis schmieden würde, mochte überraschen - allerdings nur denjenigen, der mit der ideologischen

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Wandlungsfähigkeit der traditionellen Parteien und ihrer Parteiführer in der Region nicht vertraut ist. Denn Douglas, der bereits 1980 in die DLP eingetreten war, hatte es während der 90er Jahre verstanden, die divergierenden Fraktionen innerhalb der Partei miteinander zu versöhnen und diese unter seiner Kontrolle ins politische Zentrum zu steuern. Als er Anfang Oktober 2000 überraschend starb, rückte in das Amt des Premierministers sein Nachfolger im Amt des Parteivorsitzenden, Pierre Charles, der die von Douglas eingeschlagene Linie wirtschaftlicher Reformen weiterverfolgte, angesichts der tiefen Krise aber über einen nur geringen Spielraum verfügte. Als Pierre Charles seinerseits Anfang Januar 2004 starb, wurde der gerade mal 31 -jährige Jugendund Sportminister Roosevelt Skerrit sein Nachfolger. Bei den im Mai 2005 abgehaltenen Wahlen ging die unter Eugenia Charles mächtige Dominica Freedom Party leer aus, so dass sie nicht mehr im Parlament vertreten ist. Die Regierungspartei konnte dagegen die Anzahl ihrer Parlamentssitze um zwei erhöhen, so dass sie nun über eine absolute Mehrheit verfügt. Die Wirtschaft des kleinen Inselstaates befindet sich weiterhin in einer schweren Krise. Die Produktion im Bananensektor ist weiter dramatisch gesunken, und ob der Export von Bananen wie noch in den 80er Jahren als Fundament der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung gelten kann, erscheint höchst fraglich. Dagegen spricht nicht nur das Auslaufen der präferentiellen Handelsbeziehungen mit der Europäischen Union. Ein weiteres Problem sind naturgegebene Faktoren, denn Dominica ist vorwiegend gebirgig mit nur 20% landwirtschaftlich nutzbarer Fläche und wird immer wieder von Naturkatastrophen heimgesucht, die - wie der Hurrikan „Luis" 1995 — nahezu die gesamte Ernte zerstören. Viele Kleinbauern haben mittlerweile ihre Parzelle verlassen und reihen sich ein in das ohnehin große Heer der Arbeitlosen oder versuchen, einen Job im öffentlichen Dienst zu erlangen. Derartige Jobs, die bis vor kurzem noch als lukrativ und krisenfest galten, unterliegen aber seit 2003 drastischen Sparmaßnahmen, da die Regierung einen dringend benötigten Kredit vom Internationalen Währungsfonds nur mit der Auflage erhielt, dass die Kosten für den extrem aufgeblähten Verwaltungsapparat radikal gesenkt werden. Probleme bereitet auch der Tourismussektor, da Dominica aufgrund des Fehlens der mit der Vorstellung vom tropischen Paradies verbundenen Sandstrände nicht den Erwartungen des Pauschaltouristen entspricht und die Infrastruktur nur gering entwickelt ist - so fehlt es etwa an einem internationalen Flughafen. Die Regierungen versuchten, mit der Propagierung von Dominica als „The Nature Island of the Caribbean" und mit Projekten eines

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„sanften" Tourismus zahlungskräftige Individualreisende anzulocken. Hier konnten einige Erfolge erzielt werden, doch bleiben jene Risiken, denen der krisenanfällige Tourismus generell ausgesetzt ist. Versucht wurde auch, Dominica internationalen Banken und Versicherungen als offshore-Fmam.p\atz zu empfehlen, doch war der Start eher ein Fehlstart, da die Organisation für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit (OECD) Dominica (von 2000 bis 2002) auf die Liste jener „unkooperativen" Länder setzte, die im Kampf gegen Geldwäsche nicht die geforderten Standards erfüllen und somit für seriöse Unternehmen als „riskant" gelten. Als Risikounternehmen erwies sich schließlich auch die sogenannte „ökonomische Staatsbürgerschaft", über die seit Anfang der 90er Jahre vorzugsweise (reiche) Chinesen aus Taiwan und Hongkong, sodann (der Mafia zugerechnete) Russen für bis zu 50 000 US-$ eingebürgert wurden. Der Staatskasse trug das Programm Millionen ein, bei der Bevölkerung stieß es dagegen auf erhebliche Kritik, so dass Rosie Douglas es in seiner Wahlkampagne 1995 als „unmoralisch" verurteilte und nach seinem Amtsantritt sogleich unterband - um es nur wenige Monate später zu reaktivieren. 38

St. Lucia Wie in Dominica wurde auch in St. Lucia mit John Compton und seiner United Workers Party (UWP) über 15 Jahre die politische Szene von den Konservativen beherrscht, bis sie nach dem Rückzug Comptons aus der aktiven Politik und dem damit erfolgten Generationswechsel 1997 von der sozialdemokratischen Opposition abgelöst wurden. W i e Eugenia Charles hatte Compton einen strikt antikommunistischen Kurs verfolgt und nach der Revolution auf Grenada (nicht zuletzt aus Gründen der Selbsterhaltung) vehement die Forderung nach einer karibischen Sicherheits- und Interventionstruppe vertreten. Auch er hatte versucht, ausländische Investoren und Touristen anzuwerben, vorrangig aber auf das zwar boomende, jedoch krisenanfällige Bananengeschäft gesetzt. Das Problem steigender Arbeitslosenzahlen wurde nicht gelöst, so dass in weiten Teilen der Bevölkerung der Unmut wuchs, gepaart mit

38 Im Juli 2 0 0 2 wurde die erforderliche Summe auf 75 0 0 0 US-$ für eine Einzelperson und 1 0 0 0 0 0 US-$ für eine Familie mit zwei Kindern erhöht, so dass auf dieses Geschäft spezialisierte international operierende Anwaltskanzleien wie Henley & Partners ihren Kunden inzwischen das weniger kostspielige „Citizenship-by-Investment Programme" von St. Kitts/Nevis empfehlen.

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einer zunehmenden Staatsverdrossenheit, die sich anlässlich der Parlamentswahlen Anfang 1987 in einer Wahlbeteiligung von wenig mehr als 60% manifestierte.39 Diesen Unmut in politisches Kapital umzumünzen und die UWP als Regierungspartei abzulösen, gelang der oppositionellen St. Lucia Labour Party (SLP) jedoch erst, nachdem sie unter ihrem langjährigen, dem Privatkapital nahestehenden Vorsitzenden Julian Hunte einen Kurswechsel vollzogen hatte, um sich dann mit jenen Dissidenten zu versöhnen, die sich unter George Odium aufgrund radikalsozialistischer Positionen Anfang der 80er Jahre als Progressive Labour Party abgespalten hatten. Als hilfreich mochte sich für die SLP auch erweisen, dass John Compton ein Jahr vor den Wahlen aus Altersgründen zurücktrat und ihm im Amt des Premiers mit Vaughan Lewis ein Mann folgte, der als Universitätsprofessor wohl über persönliches Prestige verfügte, in der Öffentlichkeit aber als Außenseiter galt. Der Sieg der SLP bei den Wahlen vom Mai 1997 war mit 16 von 17 Mandaten überwältigend - ein Ergebnis, das die Partei unter Premier Kenny Anthony im Dezember 2001 (bei einer Wahlbeteiligung von gerade mal 52%) annähernd wiederholen konnte. Die Wahlen im Dezember 2006 bescherten hingegen mit 11 Mandaten der UWP einen Sieg, nachdem ein Jahr zuvor John Compton, fast 80-jährig und nun Premier, in die aktive Politik zurückgekehrt war. Die wirtschaftliche Entwicklung verlief insgesamt positiver als in Dominica. So gelang es, ausländische Investoren anzulocken und mit Hilfe der „Karibik-Initiative" Ronald Reagans freie Produktionszonen zu errichten, so dass die verarbeitende Industrie mittlerweile mit etwa 20% am Bruttoinlandsprodukt beteiligt ist. In den 80er Jahren hatte die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate über 6% betragen; in den 90er Jahren ging das Wachstum jedoch zurück und mündete, allerdings nur vorübergehend, in eine Rezession.

39 Das Ergebnis der am 6. April 1 9 8 7 abgehaltenen Wahlen - 9 der 17 Sitze gingen an die Regierungspartei - erschien Compton so knapp, dass er das Parlament sofort wieder auflösen und für den 30. desselben Monats Neuwahlen anberaumen ließ. Das entscheidende Motiv für das Vorgehen des Premiers lag in der angestrebten, nur mit einer deutlichen Mehrheit durchzusetzenden Verfassungsänderung, mit der er eine politische Union der in der Organisation Ostkaribischer Staaten (OECS) zusammengefassten Inselstaaten zu verwirklichen suchte. Die Neuwahlen erbrachten jedoch dasselbe Ergebnis wie die Wahlen zuvor. Eine Aufstockung seiner Mehrheit auf 10:7 bescherte Compton dann ein nicht einkalkulierter Glücksfall: Kurz nach den Wahlen wechselte ein SLP-Abgeordneter vom Oppositions- in das Regierungslager, wofür er sogleich mit dem Amt des Außenministers belohnt wurde.

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Verantwortlich hierfür war insbesondere die Krise im Bananensektor, die in St. Lucia im Vergleich zu den Nachbarstaaten dadurch verschärft wird, dass der Grundbesitz extrem ungleich verteilt ist, und die bewirkte, dass der Inselstaat mehrmals die ihm von der Europäischen Union gewährte Exportquote nicht erfüllen konnte. Nur ein Wirtschaftszweig scheint in St. Lucia gegenwärtig zu boomen: der illegale Drogenhandel, der (laut einem Bericht der US-amerikanischen Drogenbehörde) die Insel zum führenden Umschlagplatz für Kokain in der Ost-Karibik aufsteigen ließ und ihr (laut einem Bericht des Magazins

Time) den Ruf einbrachte, das Land mit der zweithöchsten Mordrate der Welt zu sein.

St. Vincent und die Grenadinen Gänzlich unangefochten von einer in sich zersplitterten Opposition, regierte über drei Legislaturperioden — von 1984 bis 1998 — die im politischen Zentrum angesiedelte New Democratic Party (NDP) mit ihrem Premier James Mitchell. Die im Juni 1998 abgehaltenen Wahlen brachten ihm und der N D P zwar wiederum den Sieg, dies aber mit einer so schmalen Legitimationsbasis, dass die nunmehr in sich geschlossene Opposition auf Konfrontationskurs ging und eine innenpolitische Krise heraufbeschwor, die schließlich die anderen Mitgliedsstaaten der Karibischen Gemeinschaft zu einer (diplomatischen) Intervention veranlasste. Drei Jahre zuvor hatten sich zwei Parteien als Unity Labour Party (ULP) zu einem Bündnis zusammengeschlossen: die St. Vincent Labour Party (SVLP), die bei den ersten Wahlen nach Erlangen der formalen Unabhängigkeit einen überwältigenden Sieg errungen und unter ihrem Premier Milton Cato von 1979 bis 1984 die Regierung gestellt hatte, und das Movement for National Unity ( M N U ) , eine kleine, dem linken Spektrum zugerechnete Gruppierung, deren Gründer und Parteivorsitzender Ralph Gonsalves fortan eine fuhrende Rolle spielen sollte. Die U L P war hinsichtlich der Sitzverteilung mit 7:8 der N D P unterlegen. D a sie aber weitaus mehr Stimmen erhalten hatte, war sie nicht bereit, eine NDP-Regierung zu tolerieren, und ihr gelang es, über ein Bündnis der unterschiedlichsten gesellschaftlichen Kräfte weite Teile der Zivilgesellschaft zu mobilisieren. Anfang April 2000, ausgelöst durch den Beschluss der Regierung, die Gehälter und Pensionsbezüge der Abgeordneten drastisch zu erhöhen, mündete der Widerstand in eine Reihe von Arbeitsniederlegungen und Demonstrationen, die tagelang das öffentliche Leben lahm legten. Eine weitere

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Eskalation wurde nur dadurch verhindert, dass sich James Mitchell durch Vermittlung einiger Regierungschefs der Karibischen Gemeinschaft bereit erklärte, für 2001 vorgezogene Neuwahlen anzuberaumen. Diese Wahlen, denen sich Mitchell durch seinen vorzeitigen Abgang als Premier entzog, gewann gegen die N D P unter Mitchells Nachfolger Arnhim Eustace der für das Parteienbündnis der ULP angetretene Ralph Gonsalves mit der klaren Mehrheit von 12 zu 3 Sitzen - ein Ergebnis, das Gonsalves bei den Wahlen im Dezember 2005 wiederholen konnte. In der Wirtschaftspolitik setzte besonders Mitchell auf eine Landreform und die Erschließung noch ungenutzter Ressourcen, um die auf den Bananenanbau zentrierte landwirtschaftliche Produktion zu diversifizieren. Ein weiteres Ziel war der Ausbau der unzulänglichen Infrastruktur, um das gleichermaßen ungenutzte touristische Potential der Inselgruppe zu erschließen. Während der 80er Jahre konnte aufgrund des Bananenbooms für das Bruttoinlandsprodukt eine durchschnittliche Wachstumsrate von jährlich fast 7% erreicht werden; seit Anfang der 90er Jahre fiel das Wachstum hingegen nur noch bescheiden aus. Entscheidend aber ist, dass es weder unter Mitchell noch unter Gonsalves gelang, die Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung, wovon mehr als 40% der aktiven Bevölkerung betroffen sind, zu mildern. 1999 lebten (nach einem Bericht der Caribbean Development Bank) etwa 65% der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze; und mit einem jährlichen Pro-Kopf-Einkommen von gerade mal 2 800 US-$ bleibt der Inselstaat der ärmste innerhalb der Organisation Ostkaribischer Staaten. Für viele Kleinbauern bietet der Anbau von Marihuana eine Uberlebenschance, und so kommt es regelmäßig zu öffentlichen Protesten, wenn die Regierung dem Druck der USA nachgibt und über weite Anbauflächen die Ernte zerstört. Andere Familien überleben dank der Uberweisungen derer, denen es gelang, in den Vereinigten Staaten oder Großbritannien Fuß zu fassen: etwa ein Drittel der Gesamtbevölkerung. Und um ihren Staatsbürgern die mittlerweile erschwerte Einwanderung in die ehemalige Metropole zu erleichtern, wurden die vincentians von ihrer Regierung — erfolgreich — den britischen Streitkräften als Rekruten empfohlen.

Antigua und Barbuda Seit 1960, als Großbritannien Antigua/Barbuda die innere Selbstverwaltung zugestand, wurden die beiden Inseln - ähnlich wie Trinidad/Tobago unter Eric Williams - über Jahrzehnte (mit nur einer Unterbrechung 1971-1976) von einem Mann beherrscht: Vere C. Bird, der mit Hilfe der konservativen Antigua La-

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bour Party (ALP) den Staatsapparat kontrollierte und der es — im Gegensatz zu Williams - verstand, in seinem Sohn Lester einen politischen Erben heranzuziehen, der nach dem Rücktritt des Vaters diesem 1994 in das Amt des Premiers folgte. Die diversen Oppositionsparteien, die sich meist erst im Vorfeld von Wahlen organisierten, waren für Vere C. Bird und die ALP nie eine ernstzunehmende Gefahr gewesen. Doch 1994 gelang es der aus drei Parteien formierten United Progressive Party (UPP) unter Winston Baldwin Spencer immerhin, die Vormachtstellung der ALP, die einen Vorsprung von gerade mal 2 500 Stimmen erzielte, ernsthaft zu gefährden. Lester Bird, der sich im Vorfeld der Wahlen innerhalb der Partei noch erheblichem Widerstand gegenübersah und zu diesem Zeitpunkt noch die Konkurrenz seines älteren Bruders Vere C. Bird Jr. furchten musste, vermochte sich schließlich an allen Fronten durchzusetzen, konnte aber nicht verhindern, dass angesichts der weithin herrschenden Misswirtschaft und Korruption die Regierung wie die eigene Familie immer wieder in Skandale verwickelt wurde. 40 Durch die Wahlen vom März 1999 wurde Lester Bird noch einmal in seinem Amt bestätigt. Im März 2004 brachten die Wahlen dagegen einen Wechsel zugunsten von Baldwin Spencer, der mit seiner UPP 12 der 17 Parlamentssitze errang und als erste Amtshandlung eine Untersuchung der Korruptionsvorwürfe gegen seinen Vorgänger beantragte. Die gesamtwirtschaftliche Entwicklung verlief durchaus positiv, und Antigua/Barbuda ist heute innerhalb der Organisation Ostkaribischer Staaten der Inselstaat mit dem höchsten Pro-Kopf-Einkommen und der niedrigsten Arbeitslosenzahl. Seitdem Anfang der 70er Jahre der Zuckerrohranbau aufgrund mangelnder Rentabilität eingestellt wurde, ist der wichtigste Devisenbeschaffer der Tourismus, der bereits in den späten 60er Jahren erfolgreich angekurbelt wurde - dank der für die karibischen Kleinstaaten vorbildlichen Infrastruktur, die auf Antigua, während des 2. Weltkriegs Nachschubbasis für die US-amerikanischen Streitkräfte, von diesen errichtet wurde. Daneben hat sich Antigua in jüngster Zeit auch als Markt für Glücksspiele im Internet einen allerdings zweifelhaften Ruf erworben.

40 Die skandalträchtigsten Mitglieder des Familienclans sind Lester Birds Brüder Vere C. Jr. und Ivor. Vere C. Bird Jr. war in den 80er Jahren in Korruptionsskandale und den illegalen Waffenhandel mit dem Medellin-Kartell verwickelt. Obgleich eine unabhängige Untersuchungskommission ihn 1990 für ungeeignet erklärte, ein öffentliches Amt zu bekleiden, wahrte sein Bruder Lester jedoch Familiensolidarität und betraute ihn mehrfach mit hohen Regierungsämtern. Ivor Bird, der einen familieneigenen Radiosender leitet, wurde 1996 wegen Drogenschmuggels vor Gericht gestellt und für den Besitz von 12 kg Kokain gerade mal zu einer Geldstrafe verurteilt.

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Vom Boom im Tourismussektor, der auf Antigua bereits zu schweren Umweltschäden geführt hat, blieb die kleinere Insel des „Zwillingsstaats", Barbuda, weitgehend unberührt. Sie ist im Parlament mit einem Sitz vertreten — ihn stellt das Barbuda People's Movement (BPM) - und besitzt eine eigene Ratsversammlung, in der dieselbe Partei die Mehrheit hat. Der im Verbund mit Antigua verfügten Entlassung in die Unabhängigkeit im November 1981 hatte sich Barbuda, das für sich eine eigene kulturelle Identität reklamiert, massiv widersetzt, und das Barbuda People's Movement fordert traditionell größere Autonomie, gelegentlich auch die Loslösung von Antigua. Sollte es Barbuda tatsächlich gelingen, gegen den Willen Antiguas (und Großbritanniens) die völkerrechtliche Souveränität durchzusetzen, würde der Inselstaat mit seinen gerade mal 1 500 Einwohnern im Reigen der ohnehin kaum ohne fremde Hilfe überlebensfähigen Kleinstaaten der Karibik aber allenfalls als Kuriosum von sich reden machen. St. Kitts und Nevis (Federation of St. Kitts and Nevis) Ahnliche Differenzen wie in Antigua/Barbuda beherrschen auch die innenpolitischen Auseinandersetzungen in St. Kitts und Nevis (vormals: St. Christopher und Nevis), das 1983 als dritter „Zwillingsstaat" von Großbritannien in die Unabhängigkeit entlassen wurde. Der kleineren Insel Nevis, auf der etwa 11 000 Menschen leben, wird jedoch innerhalb der Föderation — im Gegensatz zu Barbuda im Verbund mit Antigua — über das Regionalparlament weitgehende Autonomie gewährt, und die Verfassung sieht für Nevis (unter bestimmten Voraussetzungen) sogar die Option der Unabhängigkeit vor. Während des ersten Jahrzehnts seiner Existenz wurde das Bundesparlament in St. Kitts von einer Koalition aus zwei Parteien dominiert, dem People's Action Movement (PAM) und der Nevis Reformation Party (NRP), die 1984 und 1989 mit Kennedy Simmonds den Premier stellte. Der St. Kitts-Nevis Labour Party (SKNLP), die unter Robert Bradshaw seit den 40er Jahren über drei Jahrzehnte die politische Szene beherrscht hatte, gelang erst anlässlich der Wahlen vom November 1993, an Einfluss zurückzugewinnen, doch das Wahlergebnis führte zwischen der SKNLP und dem PAM zu einem Patt. Eine neuerliche Koalition des PAM mit der NRP war zwar möglich, doch erbrachte sie keine Mehrheit, da der Nevis Reformation Party, die einst für Nevis die Autonomie durchgesetzt, sich aber dann von ihren separatistischen Positionen weitgehend entfernt hatte, mit dem Concerned Citizens Movement (CCM) in der Wähler-

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gunst der nevisians ein mächtiger Konkurrent erwachsen war. Und das CCM, das für Nevis entschieden nach Unabhängigkeit strebt und zwei der drei für die kleinere Insel im Bundesparlament reservierten Mandate errang, stand fiir eine Koalition nicht zur Verfugung. Der Generalgouverneur (als Repräsentant der britischen Königin) beauftragte Kennedy Simmonds vom People's Action Movement mit der Bildung einer Minderheitsregierung, die von der St. Kitts-Nevis Labour Party boykottiert wurde - dies unter Berufung auf den Wählerwillen, denn schließlich hatte die SKNLP über 10% mehr Stimmen erhalten als das PAM. Die Regierungskrise entlud sich im Verlauf des Jahres 1994 in einer Welle von Gewaltkriminalität und regelrechten Straßenschlachten, die erst durch das Eingreifen eines aus Barbados entsandten Kontingents der Regionalen Sicherheitstruppe beendet werden konnten. Bei den als Kompromiss ausgehandelten vorgezogenen Neuwahlen im Juli 1995 errang die SKNLP gegenüber dem PAM einen Vorsprung von sechs Sitzen. Seitdem wurde die St. Kitts-Nevis Labour Party mit ihrem Premier Denzil Douglas über zwei Wahlgänge — im März 2000 und im Oktober 2004 - als Regierungspartei bestätigt. Das People's Action Movement ist im Bundesparlament gegenwärtig nur noch mit einem Sitz vertreten; und für Nevis dominiert mit zwei der drei Mandate das Concerned Citizens Movement. Die Wirtschaft war lange Zeit vom Zucker als dem wichtigsten Exportgut dominiert. Doch bereits in den 70er Jahren war die Produktion unrentabel geworden, und alle Versuche, das hoch subventionierte Zuckergeschäft wiederzubeleben, schlugen fehl, so dass Mitte der 90er Jahre die von der Europäischen Union garantierte Exportquote nicht erfüllt und billigerer Zucker aus Guatemala importiert werden musste. Hinzu kommt ein schwerwiegender Mangel an Arbeitskräften, so dass die Regierung 1996 bereits 400 Saisonarbeiter aus Guyana anwerben musste, die bereit waren, für den mageren Lohn von 50-60 US-$ pro Woche die schwere Arbeit des Zuckerrohrschneidens zu leisten. Premier Kennedy Simmonds setzte verstärkt auf ausländische Investoren, denen - wie andernorts in der Karibik - für das eingesetzte Kapital die Staatsbürgerschaft in Aussicht gestellt wurde. Mittlerweile ist auch für St. Kitts/Nevis der Fremdenverkehr der wichtigste Devisenbringer. Doch kommt über die Hälfte der Urlauber als Kreuzfahrt-Touristen, während die Zahl der stopover-Touristen — nicht zuletzt aufgrund der wachsenden, durch den florierenden Drogenhandel bedingten Kriminalität - stark zurückgegangen ist. Die kleinere Insel Nevis setzt wie andere Mini-Territorien in der Region vorrangig auf die Etablierung als offshore-Finanzplatz. Die auf diesem Gebiet erziel-

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ten Erfolge sind denn auch das zentrale Argument derer, die wie das Concerned Citizens Movement die Unabhängigkeit fordern. Als die Partei unter Vance Amory bei den Regionalwahlen 1992 in der Nevis Island Assembly die Mehrheit errang, wurde deutlich, dass die Option der Unabhängigkeit unter den nevisians an Attraktivität gewonnen hatte. So startete Amory 1997 den Versuch, sein Ziel über die von der Verfassung vorgegebenen Instanzen zu erreichen. Nachdem im Oktober das Regionalparlament mit der erforderlichen Zweidrittelmehrheit für die Sezession und eine neue Verfassung votiert hatte, wurde im August des darauffolgenden Jahres ein Referendum anberaumt, bei dem die erforderliche Zweidrittelmehrheit — knapp - verfehlt wurde. Die Regionalwahlen im September 2001 brachten dem CCM mit vier der fünf Mandate noch einmal einen überzeugenden Sieg; bei den im Juli 2006 abgehaltenen Wahlen musste die Partei dagegen schwere Verluste hinnehmen, so dass im Regionalparlament nun wieder die Nevis Reformation Party unter Joseph W. Parry die Mehrheit besitzt. Die beim Referendum von 1998 und bei den letzten Regionalwahlen deutlich gewordene Skepsis vieler nevisians gegenüber der Möglichkeit der Sezession ist aber weniger ein Bekenntnis zur bestehenden Föderation als Ausdruck der Unsicherheit darüber, wie die Unabhängigkeit implementiert werden sollte - und ob sie für die Reise zur zwei Meilen entfernten Nachbarinsel künftig als Ausländer den für diese gültigen Einreisebestimmungen unterworfen sein würden. Grenada Während der 90er Jahre herrschte zunächst dieselbe politische Instabilität, die in den 80er Jahren nach dem Ende der Revolutionsregierung Maurice Bishops den von den USA zunächst unterstützten Neuanfang zu einem Fehlstart werden ließ. Die nach den Wahlen 1990 vom National Democratic Congress (NDC) unter Premier Nicholas Brathwaite gebildete Regierung verfügte im Parlament über keine eigene Mehrheit und konnte nur dadurch überleben, dass Abgeordnete der Opposition sich der Regierungspartei anschlössen, woraufhin sie sogleich mit einem Ministerposten belohnt wurden. Als im Juni 1995 erneut Wahlen anstanden, war die ohnehin äußerst heterogene Fraktion des NDC nachdem Brathwaite Anfang des Jahres aus Altersgründen als Premier zurückgetreten war und der Landwirtschaftsminister George Brizan seine Nachfolge angetreten hatte - derart zerstritten, dass die Partei sich kaum noch als regierungsfähig präsentieren konnte. So verlor sie vier ihrer vormals neun Mandate an die New National Party (NNP), jenes gleichermaßen brüchige Bündnis

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heterogener Gruppierungen, das 1984 die ersten Wahlen nach dem Abzug der US-amerikanischen Truppen gewonnen hatte und das von jenen aufgekündigt worden war, die 1987 den National Democratic Congress als dann stärkste politische Kraft gegründet hatten. Auch der neue Premier Keith Mitchell, der mit 8 von 15 Sitzen über eine nur knappe Mehrheit verfügte, konnte wenig auf die Loyalität seiner Fraktion zählen. So kam es bereits im Januar 1999 zu vorgezogenen Neuwahlen, nachdem mehrere Minister die Fraktion verlassen hatten. Das Wahlergebnis - alle 15 Sitze gingen an die N N P - war ein eindeutiges Votum vor allem für den Premier, der sowohl außen- als auch wirtschaftspolitisch Erfolge vorweisen konnte. Das außenpolitisch wichtigste Ereignis war Mitchells Reise nach Kuba 1997, die zur Unterzeichnung eines Kooperationsabkommens führte und mit der sich Grenada - wie bereits seit langem seine Nachbarn in der anglophonen Karibik - der bis dahin geduldeten außenpolitischen Bevormundung durch die USA entzog: eine Haltung, die Keith Mitchell durch die Verurteilung des US-Embargos gegen Kuba bekräftigte. Die wirtschaftlichen Erfolge zeigten sich vor allem in einem erheblichen Wachstumsschub und der Halbierung der Arbeitslosenzahl auf knapp über 10%. Die im Dezember 2003 abgehaltenen Parlamentswahlen brachten der Regierungspartei aber nicht die erhoffte Bestätigung ihrer Politik, da sie ihr vormaliges Ergebnis nicht wiederholen und nur 8 der 15 Sitze im Parlament erringen konnte. Verantwortlich für den erheblichen Vertrauensverlust bei der Wählerschaft waren schwere Korruptionsvorwürfe gegen den Premierminister ebenso wie Einbrüche in der wirtschaftlichen Konjunktur. Denn Grenada hat mit denselben Problemen zu kämpfen wie seine Nachbarn. Der Tourismussektor, Anfang der 90er Jahre als Wachstumsmotor gepriesen, bleibt aufgrund externer Faktoren erheblichen Schwankungen unterworfen. Um das Image Grenadas als respektabler 0J^rÄ0ft?-Finanzplatz aufzubessern, mussten zahlreiche Lizenzen widerrufen werden. Und das Geschäft mit Bananen, die allerdings nur 10% der Exporte ausmachen, erscheint nur dann lukrativ, wenn es gelingt, das in Angriff genommene Projekt organisch angebauter Bananen durchzusetzen. Die größten Probleme aber bereitet die bis vor kurzem von den Produzenten selbst kontrollierte, mittlerweile aber liberalisierte Vermarktung der Muskatnuss, die bei den Kleinbauern zu erheblichen finanziellen Einbußen führte und für beträchtlichen sozialen Zündstoff sorgt. Denn Grenada ist (nach Indonesien) der Welt zweitgrößter Produzent von Muskatnuss; angesichts sinkender Weltmarktpreise und gleichermaßen sinkender Erträge droht Grenada nun seine Bedeutung als „Gewürzinsel" zu verlieren.

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Bahamas (Commonwealth o f T h e Bahamas) Die Geschichte der Bahamas ist, verglichen mit der Geschichte der anderen Inselstaaten in der Karibik, eine Erfolgsstory, misst man wirtschaftlichen Erfolg am Pro-Kopf-Einkommen der Bevölkerung: mit über 17 0 0 0 US-$ das höchste der Region. Seine Prosperität verdankt die Inselgruppe ihrer N ä h e zu den U S A und ihrer besonderen Attraktivität für US-amerikanische Touristen. Mit bis zu 4 Millionen Besuchern jährlich — davon 8 0 % US-Amerikaner — erlebte der Fremdenverkehr, seitdem Kuba als Ferienziel für US-Bürger ausgefallen war, einen B o o m ohnegleichen, erwirtschaftete bis zu 7 0 % des Bruttoinlandsprodukts und ließ in seinem Gefolge auch das Baugewerbe einen einzigartigen Aufschwung erleben. Doch die einseitige, zudem von außen gesteuerte Ausrichtung auf den Tourismus bewirkte, dass andere Erwerbszweige extrem vernachlässigt wurden: etwa die Landwirtschaft, die mit gerade mal 3 % am Bruttoinlandsprodukt beteiligt ist, mit der Folge, dass neben industriellen Konsum- und Investitionsgütern etwa zwei Drittel der Nahrungsmittel importiert werden müssen. Erfolgreich war dagegen der Finanzsektor. So sind die Bahamas, die hier bereits auf eine lange Tradition zurückblicken können, aufgrund weitgehender Steuerfreiheit eines der größten internationalen Finanzzentren der Welt. U n d aufgrund des strikt gewahrten Bankgeheimnisses sind sie ein Paradies für Steuerflüchtlinge aus den USA, denen die US-amerikanischen Steuerfahnder in der Vergangenheit allenfalls dadurch auf die Schliche kamen, dass sie sich auf illegale Weise - konkret: durch Einbruchdiebstahl - Bankunterlagen verschaffen konnten. Doch auch die Bahamas gerieten unter den Verdacht der Begünstigung von illegalen Transaktionen und damit (bis 2001) auf die „schwarze Liste" der O E C D . Die immer wieder ruchbar gewordenen Korruptionsskandale, in die selbst höchste Regierungskreise verwickelt waren, brachten die Bahamas als internationaler Finanzplatz zusätzlich in Misskredit. Die bahamians mochte die Korruptionsanfälligkeit der Regierenden wenig tangieren, solange ihr relativ hoher, in der Bedürfnisstruktur an den U S A orientierter Lebensstandard gesichert schien. Doch Anfang der 90er Jahre war die Attraktivität der Bahamas als Steuerparadies zurückgegangen, war das Archipel - rund 7 0 0 Inseln, von denen nur 3 0 dauerhaft bewohnt sind — als U m schlagplatz für Rauschgift und illegale Einwanderer in die U S A so sehr in Verruf geraten, dass Touristen wie Investoren wegblieben und das Fundament der wirtschaftlichen und damit auch politischen Stabilität ernsthaft gefährdet war. 25 Jahre'hatten eine Partei und ein Mann die politische Szene beherrscht: die

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Progressive Liberal Party (PLP) mit (Sir) Lynden O. Pindling, der bei der überwiegend schwarzen Bevölkerung — nicht zuletzt aufgrund seiner zeitweilig der Black Power-Bewegung anverwandten Rhetorik — großes Prestige besaß. Lange Zeit konnte Pindling die immer wieder gegen ihn erhobenen Korruptionsvorwürfe als „Destabilisierungskampagne" der Opposition und „imperialistischen" Eingriff der USA abtun. Nach Offenlegung seiner (legalen) Einnahmen konnte er dann aber nicht erklären, wie er in den Besitz eines Millionenvermögens gelangt war. So kam anlässlich der Wahlen im August 1992 der Sieg des oppositionellen Free National Movement (FNM) nicht überraschend, hatte doch ihr Kandidat für das Amt des Premierministers, Hubert Ingraham, selbst der Korruption unverdächtig, dieser den Kampf angesagt. Die erste Amtshandlung des neuen Premiers war denn auch die Einsetzung einer Untersuchungskommission, die (mit Hilfe des FBI und Scotland Yards) Pindlings Vermögensverhältnisse klären sollte. Im März 1997 wurde das Free National Movement mit der überwältigenden Mehrheit von 58% der abgegebenen Stimmen und 34 der 40 Mandate wiedergewählt. Ingraham gelang es, die chronisch hohe Arbeitslosenzahl von bis zu 15% um einige Prozentpunkte zu senken und vorrangig im Tourismussektor ausländische Investoren anzulocken. Die Wirtschaftslage war somit relativ stabil, und selbst der unmittelbar nach dem 11. September 2001 erfolgte Einbruch im Tourismussektor schien die insgesamt positiven Perspektiven nicht zu tangieren, so dass für die Wahlen im Mai 2002 von allen politischen Beobachtern ein klarer Sieg des FNM vorausgesagt wurde. Doch die Wahlen gewann mit 51 % der Stimmen und 29 der 40 Mandate die Progressive Liberal Party, die den umstrittenen Pindling als Parteivorsitzenden ersetzt hatte41 und deren Kandidat für das Amt des Premierministers, Perry Christie, erfolgreich jene Wähler ansprach, die von den Investitionsprogrammen nur wenig profitiert hatten. Christie versprach die massive Förderung von Sozialhilfeprogrammen und eine gezielte Entwicklung der kleineren Inseln, die gegenüber den beiden Hauptinseln Grand Bahama und New Providence bis dahin vernachlässigt worden waren. Der finanzielle Spielraum, über den die Regierung für derlei Programme 41 Kurz nach der Wahlniederlage 1 9 9 7 war Pindling vom Vorsitz der PLP zurückgetreten. Drei Jahre später starb er, ohne dass die gegen ihn erhobenen Korruptionsvorwürfe durch ein reguläres Verfahren geklärt worden wären. Im Jahr 2 0 0 6 erwies der nunmehr amtierende PLP-Premier Christie dem in der Bevölkerung auch weiterhin als founding father der Nation verehrten Ex-Premier post mortem eine besondere Reverenz, indem er den internationalen Flughafen in Nassau in „Lynden Pindling International Airport" umbenennen ließ.

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verfügt, ist aber gering, denn über die Hälfte seiner Einnahmen bezieht der Staat aus Zollabgaben, und diese werden spätestens dann wegbrechen, wenn das von den Vereinigten Staaten favorisiserte Projekt einer gesamtamerikanischen Freihandelszone (FTAA) - mit Verspätung oder in der reduzierten Version bilateraler Verträge - Wirklichkeit wird. Kuba Für keinen Staat in der Karibik waren die weltpolitischen Ereignisse der späten 80er und frühen 90er Jahre von so großer Tragweite wie für Kuba. Mit dem Wegfall der traditionellen Partner im Außenhandel und dem Verlust sowjetischer Subventionen fiel das Bruttoinlandsprodukt zwischen 1989 und 1993 um 35%. Die drastische Reduzierung sowjetischer Erdöllieferungen - sie hatten 1989 über 13 Millionen Tonnen betragen, von denen Kuba 3 Millionen zu Weltmarktpreisen weiterverkaufen konnte - führte zu einer Energiekrise, die nicht nur die Stromversorgung in den privaten Haushalten traf, sondern auch den öffentlichen Verkehr und die Produktion in 70% der Industriebetriebe lahm legte. Extremer Mangel herrschte bei Rohstoffen und Ersatzteilen ebenso wie bei Tierfutter und Düngemitteln; und das im Rahmen des Periodo Especial en Tiempos de Paz, der „Sonderperiode in Friedenszeiten", verfügte rigide Sparprogramm machte die Beschaffung selbst von Grundnahrungsmitteln zu einem täglichen Uberlebenskampf. Die katastrophale Versorgungslage führte schließlich 1993 zu einer innenpolitischen Krise, die sich in massiven Demonstrationen entlud und die im Sommer 1994 eskalierte, als in nur einem Monat mehr als 32 000 balseros auf prekären Flößen oder balsas über das Meer in die USA zu gelangen suchten. Jener Sommer erlebte in einem bis dahin nicht gekannten Ausmaß öffentlichen Protest, doch die Revolution überlebte auch diese Krise. Bereits auf dem IV. Kongress des Partido Comunista de Cuba (PCC) 1991 waren neben einer Wahlrechtsreform Verfassungsänderungen beschlossen worden, 42 die deutlich machten, dass die Stunde der Reformer gekommen war. Sie bewirkten bis 1993/94 eine tiefgreifende marktwirtschaftlich orientierte Umstrukturierung,

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D i e Wahlrechtsreform sieht (auf der Basis von Einheitslisten) geheime und direkte

Wahlen fiir die Provinzversammlungen und die Nationalversammlung vor. Die symbolisch bedeutsamste Verfassungsänderung war die nunmehr festgeschriebene Reverenz gegenüber dem kubanischen Freiheitshelden José Marti, der die Leitfiguren des Sozialismus ersetzte und in gewisser Weise eine „Nationalisierung" der Revolution signalisierte.

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die nicht nur eine Rückkehr der freien Bauernmärkte erlaubte, sondern auch in annähernd 2 0 0 Berufszweigen privatwirtschaftliche Initiativen zuließ und den Besitz von US-Dollars, die bis dahin nur auf dem Schwarzmarkt zirkulierten, legalisierte. Gleichzeitig wurde das Recht auf Privatbesitz von Produktionsmitteln verfügt: unabdingbare Voraussetzung für das Anwerben ausländischer Investoren, denen per Gesetz zusätzliche Garantien geboten wurden. Die Reformen zeigten bald Wirkung. Musste man für 1993 noch ein negatives Wirtschaftswachstum von fast 15% hinnehmen, konnte ein Jahr später zum ersten Mal wieder ein positives Ergebnis verzeichnet werden. Von 1994 bis 2 0 0 0 wurde eine durschschnittliche jährliche Wachstumsrate von 3 , 8 % erreicht, wodurch das Bruttoinlandsprodukt um ein Viertel gesteigert wurde, allerdings immer noch um 2 5 % unter dem Niveau von 1989 lag. Der Export konnte diversifiziert und um 5 0 % gesteigert werden. Ausländische Firmen investierten in Schlüsselbereichen wie dem Bergbau, der Fernmeldetechnik und der Tourismusindustrie, die den größten Zuwachs erlebte und um die Mitte der 90er Jahre Zucker als wichtigsten Devisenbringer überholte. Den Kubanern brachten die Reformen eine deutliche Verbesserung der Versorgungslage und einen Rückgang der Arbeitslosigkeit. So wurden in den 90er Jahren im Tourismussektor über 200 000 neue Stellen geschaffen, wurden allein bis 1995 fast 210 000 Lizenzen für Kleinunternehmer und Gewerbetreibende — oder,.Arbeit auf eigene Rechnung" — vorwiegend im Dienstleistungssektor vergeben. Doch der Preis, der für den neuerlichen Aufschwung gezahlt wurde, war hoch. Der Zustrom ausländischer Touristen in die Enklaven der nach europäischen Standards ausgestatteten Ferienanlagen und die „Dollarisierung" der einheimischen Wirtschaft bewirkten eine Spaltung innerhalb der Gesellschaft und wachsenden Groll auf Seiten derer, die keinen Zugang zu Dollars haben. Erstrebenswert erscheint manchem allein ein Job als Taxifahrer oder Kellner im Tourismussektor, da er in wenigen Tagen an Trinkgeldern mehr Dollars einbringt, als ein in Pesos entlohnter Arzt oder Lehrer in einem Monat verdient. Die negativen Auswirkungen der Liberalisierung zeigten sich nicht nur in einer zunehmenden Polarisierung innerhalb der Gesellschaft, die das Prinzip der Gleichheit und damit das Fundament der Revolution auszuhebein drohte. Eine weitere Folge war der Einbruch der Arbeitsmoral bei jenen, die, möglicherweise hochqualifiziert, von der Dollar-Ökonomie ausgeschlossen waren und damit auch keinen Zugang zu den nur in Devisenläden verfugbaren Lebensmitteln und Konsumartikeln hatten. Um diesen gewissermaßen staatlich verfügten Konsumverzicht zu kompensieren, griffen nicht wenige zu illegalen Mitteln wie

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Diebstahl von Produktionsmitteln und Waren aus Staatsbetrieben, die - wie nahezu 30% der gesamten Tabakproduktion - auf dem Schwarzmarkt zu Dollarpreisen verkauft wurden. Bereits in den 80er Jahren hatten die von Fidel Castro beklagten „negativen Tendenzen" der eingeleiteten Wirtschaftsliberalisierung zu einer Kurskorrektur und Rücknahme der Reformen geführt; und auch ab Mitte der 90er Jahre war man um eine rectificación als „Berichtigung von Irrtümern" bemüht, die jedoch nicht ganz so radikal ausfiel. Privatwirtschaftliche Aktivitäten blieben auch weiterhin erlaubt, wurden aber durch hohe Steuern und Kontrollmaßnahmen erschwert, mit der Folge, dass die Zahl der Lizenzen erheblich zurückging. Eine tiefgreifendere Kurskorrektur erfolgte im Oktober 2004, als der US-Dollar (nicht jedoch der Euro) als legales Zahlungsmittel wieder abgeschafft und durch den peso convertible ersetzt wurde43 - eine Maßnahme, die dem Staat über einen kontrollierten Wechselkurs den direkten Zugriff auf jene (geschätzte) Summe von über 1 Milliarde US-$ ermöglicht, die im Ausland lebende Kubaner jährlich zur Unterstützung von Familienangehörigen überweisen. Eine stärkere Kontrolle der Devisenflüsse durch den an einer permanenten Devisenknappheit leidenden Staat war bereits ein Jahr zuvor verfügt worden, als man den Staatsbetrieben das während des Reformprozesses zugestandene Recht nahm, in Eigenverantwortung Transaktionen auf Dollarbasis abzuwickeln. Diese neuerliche Zentralisierung wirtschaftlicher Aktivitäten, die auch andere Bereiche betrieblicher Planung und Entscheidungen tangierte, wurde offiziell mit der weithin herrschenden Misswirtschaft und Korruption begründet. Sie erschien den politisch Verantwortlichen als einzig probates Mittel, der seit 2002 herrschenden Rezession zu begegnen. Einige der für die schwere Wirtschaftskrise verantwortlichen Faktoren waren externer Natur: etwa der Einbruch der Weltmarktpreise für Zucker und Nickel, Kubas wichtigste Exportgüter, sowie die Unmöglichkeit ftir Kuba, über internationale, von den USA dominierte Agenturen wie den Internationalen Währungsfonds und die Weltbank Kredite zu erlangen. Die Krise war aber auch auf die mangelnde Pro-

43 Die desdolarización der kubanischen Wirtschaft, die von internationalen Finanzexperten begrüßt wurde, führte zu einem wahren Ansturm auf die Banken und (z. T. eigens errichteten) Wechselstuben, da nach einer kurzen Übergangszeit auf den Tausch von Dollars in pesos convertibles - im Verhältnis 1:1 und dem offiziellen Wechselkurs 1 peso convertible = 26 Pesos - eine 10%ige Gebühr erhoben wird, von der Devisenkonten jedoch ausgenommen sind. Seit Ende des Jahres 2004 erfolgte eine Aufwertung des Peso gegenüber der US-amerikanischen Währung, die einem etwa 30%igen Kaufkraftverlust des Dollars gleichkommt. Das heißt: 1,23 US-$ = 1 peso convertible = 24 Pesos.

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duktivität einzelner Wirtschaftszweige zurückzuführen, verschärft durch den Umstand, dass sich das sozialistische Kuba im Kontext von Neoliberalismus und Globalisierung als wenig konkurrenzfähig erweist. Den katastrophalsten Einbruch erlebte die Zuckerproduktion, die zu Zeiten der „privilegierten Partnerschaft" mit der Sowjetunion durchschnittlich 7,5 Millionen t jährlich erbracht hatte und deren Ertrag bis Ende der 90er Jahre kontinuierlich auf weniger als die Hälfte sank. Nachdem der Hurrikan „Michelle" Ende 2001 einen großen Teil der Ernte verwüstet hatte, wurde im Jahr darauf knapp die Hälfte der Zuckerfabriken geschlossen und die Anbaufläche für Zuckerrohr um mehr als 60% reduziert. Die Folge war, dass 100 000 Arbeiter und damit 2,5% der aktiven Bevölkerung ihren Arbeitsplatz verloren - sozialer Sprengstoff, den die Regierung dadurch zu entschärfen suchte, dass sie den nunmehr Arbeitslosen über Studienprogramme und Umschulungsmaßnahmen zwischen 60 und 100% des Lohns weiterzahlte. Durch eine Umstrukturierung der Zuckerindustrie, die zu einer weiteren Schließung unproduktiver Raffinerien führte, gelang es, die Produktionskosten, die um 30% über dem Weltmarktpreis für Zucker gelegen hatten, drastisch zu senken und damit das Geschäft mit dem Zucker wieder rentabel zu machen. Doch erbrachte die Ernte 2004/05 und 2005/06, auch aufgrund einer langen Dürreperiode, gerade mal 1,3 bzw. 1,2 Millionen t, mit der Folge, dass zwecks Deckung des Eigenbedarfs und Erfüllung eingegangener Lieferverpflichtungen Zucker aus Kolumbien importiert werden musste. Einen nur geringen und nur vorübergehenden Einbruch durch die Krise verzeichnete der Tourismussektor. Während der 90er Jahre war die Zahl ausländischer Besucher von knapp 300 000 auf über 1,6 Millionen gestiegen, und im Jahr 2000 hatte die Tourismusindustrie 2 Milliarden US-Dollar erwirtschaftet. Für 2001 rechnete man mit einer weiteren Steigerung der Besucherzahlen um 7%, die aber infolge der Anschläge vom 11. September 2001 ausblieb. 2002 erfolgte gegenüber dem Vorjahr ein Rückgang um 5%; doch bereits im Jahr darauf stiegen die Besucherzahlen erneut, so dass mittlerweile die magische Zahl von 2 Millionen Besuchern pro Jahr überschritten wurde. Allerdings reduzieren sich die Nettogewinne aus dem Tourismusgeschäft erheblich dadurch, dass mehr als die Hälfte aller touristischen Einrichtungen an ausländisches Kapital gebunden ist, dass für die Bereitstellung des geforderten europäischen Standards in den Touristikzentren hohe Importe notwendig sind und von der Touristikbranche für die nationale Wirtschaft nur geringe Entwicklungsimpulse ausgehen. Darüber hinaus ist der kubanische Tourismus ein relativ billiges Produkt - ein Umstand, dem man dadurch abzuhelfen sucht,

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dass in Ergänzung zu dem bislang üblichen Badetourismus verstärkt und gezielt neben Öko- und Kulturtourismus auch Kongress- und sogar Gesundheitstourismus angeboten werden. In den Jahren 2004 und 2005 wurde wieder ein beachtliches Wirtschaftswachstum erzielt: für 2005 (nach kubanischen Angaben) mit 11,8% die höchste Wachstumsrate seit 1959. Die wichtigsten Devisenbringer sind neben Tabakwaren und Nickel weiterhin der Tourismus und die Geldsendungen im Ausland lebender Kubaner an ihre Familien, auch wenn die USA zwecks Verschärfung des Embargos im Juni 2004 drastische Einschränkungen verfügten.44 Eine Produktionssteigerung gelang in vielen Bereichen, insbesondere der Biotechnologie und pharmazeutischen Industrie, die gleichermaßen als Devisenbringer an Bedeutung gewonnen haben. Für die Mehrheit der Kubaner ist der Alltag aber weiterhin geprägt durch Konsumverzicht, und aufgrund der weithin herrschenden Mangelwirtschaft konnte auch der einst vorbildliche Standard der sozialen Leistungen nicht gehalten werden. Zwar sind Gesundheitsfürsorge und Bildung unentgeltlich, werden für Miete, Strom, Gas und Wasser nur symbolische Preise gezahlt; doch die über die libreta monatlich zugeteilten Grundnahrungsmittel reichen nicht, und die auch in Kuba heute existierenden Klassenunterschiede haben mittlerweile dazu geführt, dass zwischen 10 und 20% der städtischen Bevölkerung materielle Not leiden. Hinzu kommt die Krise im Energiesektor, die immer wieder zu langen Stromausfällen führt und die trotz des zu Sonderkonditionen von Venezuela gelieferten Erdöls bislang nicht bewältigt wurde.45 Wie die Kubaner in ihrer Mehrheit die Versorgungskrise politisch bewältigen oder, anders gefragt: wie der Rückhalt der Revolution und ihrer Repräsentanten in der Bevölkerung zu bewerten und zu bemessen ist, kann nur spekulativ erörtert werden. Als im Juni 2002 per Referendum ein Verfassungszusatz, in dem der Sozialismus als „unantastbar" festgeschrieben wird, zur Annahme vorgelegt wurde, votierten 99,25% derer, die ihre Stimme abgaben, dafür. Dessen ungeachtet zögert kaum ein Kubaner, angesichts des entbehrungsreichen Alltags und der weithin herrschenden Ernüchterung Kritik zu äußern - eine Kritik, die sich auch die Literaten und Cineasten zu Eigen machen, wie der 2003 beim Festival des Neuen Lateinamerikanischen Films in Havanna ausgezeichnete Film „Suite Habana" des kubanischen Re-

44

Zur US-amerikanischen Kuba-Politik vgl. ausführlicher Kap. 9. Zur Petrocaribe-lmti&mt des venezolanischen Präsidenten Hugo Chävez und den Kooperationsabkommen zwischen Kuba und Venezuela vgl. Kap. 10. 45

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gisseurs Fernando Pérez eindrucksvoll unter Beweis stellt. Die regelmäßig stattfindenden Massendemonstrationen sind als regierungsamtlich organisierte Aufmärsche gewiss kein verlässliches Indiz für den ungebrochenen revolutionären Geist der Kubaner. Wenn aber diese Kundgebungen von außen — durch (verbale) Attacken von Seiten der USA oder Aktivitäten des kubanischen Exils46 - provoziert werden, gelingt es den Regierenden problemlos, die große Mehrheit der Kubaner in Verteidigung ihrer nationalen Interessen und Souveränität hinter sich zu sammeln. Die Rolle der in Kuba aktiven Dissidenten wie auch ihr Potential, Teile der Bevölkerung für ihre Ziele zu mobilisieren, ist dagegen schwer einzuschätzen. Als Papst Johannes Paul II. anlässlich seines Kuba-Besuchs im Januar 1998 das Problem der politischen Gefangenen zur Sprache brachte und wenig später etwa 300 von ihnen freigelassen wurden, fühlte sich die interne Opposition, darunter Vertreter religiöser Gruppen, Menschenrechtsaktivisten und unabhängige Journalisten, ermutigt, den Schritt in die Öffentlichkeit zu wagen. Doch diese Öffentlichkeit beschränkt sich im Wesentlichen auf ausländische Medien, welche den Dissidentengruppen außerhalb Kubas zu einer Resonanz verhalfen, die sie im Lande selbst - nicht zuletzt aufgrund der staatlich kontrollierten Medien — nicht besitzen. Der regierungsamtliche Vorwurf, sie seien „Handlanger" der USA, mag vielen Kubanern einleuchtend erscheinen, wenn der Leiter der US-amerikanischen Interessenvertretung in Havanna als Gast auf einer von Dissidentengruppen anberaumten Konferenz auftritt, wie im Mai 2005 geschehen. Doch nicht alle Gruppen mögen sich diesem Verdacht aussetzen. Dies gilt insbesondere für die Gruppe um den Bekanntesten unter den Dissidenten, den Christdemokraten Oswaldo Payá, der mit seinem Plan Varela für die Freilassung der politischen Gefangenen sowie politische und wirtschaftliche Reformen warb und der im Frühjahr 2002 für seine Petition an die Nationalversammlung, ein entsprechendes Referendum anzuberaumen, 11 000 Unterschriften vorlegen konnte.

46 Die eindrucksvollste Massenmobilisierung der vergangenen Jahre gelang anlässlich des Dramas um den Jungen Eliän Gonzalez, der im November 1 9 9 9 vor der US-amerikanischen Küste vor dem Ertrinken gerettet worden war und dessen Verwandte in Miami (in Vertretung der beim Fluchtversuch ertrunkenen Mutter) alles daran setzten, die Zusammenfuhrung mit dem in Kuba lebenden Vater zu verhindern. Die Aktionen der Exilkubaner in Miami, inszeniert als politisch motivierter Protest, gerieten zu einem weltweiten Medienspektakel und bewirkten in den U S A selbst in konservativen Kreisen eine Distanzierung zum unversöhnlichen harten Kern des kubanischen Exils.

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Die unmittelbare Reaktion von Regierungsseite war das Referendum, mit dem der sozialistische Charakter der Revolution als „unantastbar" festgeschrieben und mit dem Payäs Projekt eine Absage erteilt wurde. Oswaldo Payä selbst wurde in seinen Aktivitäten kaum behindert, und es wurde ihm sogar gestattet, sein Anliegen mit dem ehemaligen US-Präsidenten Jimmy Carter zu diskutieren, als dieser im Mai 2002 Havanna besuchte. Doch möglicherweise war die internationale Aufmerksamkeit, die Payä entgegengebracht wurde - im selben Jahr erhielt er den vom Europäischen Parlament verliehenen „Sacharow-Preis für geistige Freiheit" - und die auch anderen Dissidenten durch anreisende Journalisten und Vertreter europäischer Regierungen regelmäßig zuteil wurde, Anlass für eine Verhärtung der offiziellen Haltung gegenüber der internen Opposition. Am 1. April 2003 wurden in einer für internationale Beobachter gänzlich überraschenden Aktion 75 bekannte Dissidenten verhaftet. In dem dann folgenden summarischen Prozess wurden sie unter Berufung auf die 1999 erfolgte Strafrechtsreform, die für konspirative Betätigung eine Freiheitsstrafe von 2 bis 20 Jahren vorsieht, zu hohen Haftstrafen verurteilt. Einige der Verurteilten wurden in der Folgezeit - aus gesundheitlichen Gründen, wie offiziell verlautete — freigelassen; doch bewirkte die Verhärtung des innenpolitischen Klimas außerhalb Kubas eine Welle der Empörung. Die Europäische Union, die erst Mitte März 2003 zwecks Intensivierung des Dialogs und der Handelsbeziehungen in Havanna eine Ständige Vertretung eröffnet hatte, antwortete auf die Inhaftierung der Dissidenten mit sofortigen diplomatischen Sanktionen und dem Einfrieren eines bereits gewährten Kredits. Durch Initiative des seit 2004 amtierenden spanischen Regierungschefs José Luis Rodriguez Zapatero wurde aber mittlerweile innerhalb der EU erwogen, den „konstruktiven" Dialog mit Kuba wiederaufzunehmen. 47 Andere Staaten, insbesondere die Nachbarstaaten in der Region, haben den Dialog mit der kubanischen Regierung in ihrem Bemühen, Kuba in die angestrebte regionale Integration einzubeziehen, auch nach dem 1. April 2003 nicht abgebrochen. Dasselbe gilt mit wenigen Ausnahmen für die lateinamerikanischen Staaten. Und seitdem in Argentinien, Brasilien, Uruguay und Chile linksgerichtete Regierungen im Amt und mit Hugo Chävez in Venezuela sowie Evo Morales in Bolivien sogar zwei bekennende fidelistas an der Macht sind, hat Fidel Castro Verbündete gefunden, die eine Isolierung Kubas, wie sie die Europäische Union betrieb (und zum Teil noch betreibt), unmöglich machen.

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Zur diesbezüglichen Haltung der Europäischen Union vgl. ausfuhrlicher Kap. 10.

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Internationale Anerkennung erfuhr und erfährt Kuba zum einen dadurch, dass es nach dem Fall der Sowjetunion und dem Zusammenbruch des Ostblocks gelang, auch ohne die einst erhaltenen Subventionen zu überleben und unter schwierigsten Bedingungen den Beweis zu erbringen, dass der „reale Sozialismus" trotz oder gerade aufgrund mancher Kompromisse in einer Weise überdauerte, die den Kubanern trotz Einschränkungen in vielen Bereichen eine Existenzsicherung garantiert, wie sie in weiten Teilen der Dritten Welt nicht gegeben ist. Die sozialen Errungenschaften in der Altersversorgung sowie im Gesundheits- und Bildungsbereich entsprechen trotz mancherlei Einbußen noch immer Standards, wie man sie selbst in einem an Rohstoffen so reichen Land wie Venezuela vergeblich suchen würde. Schließlich bedeutet der kubanische Internationalismus heute nicht mehr den Export von Soldaten, sondern humanitäre und Entwicklungshilfe: Entsendung von Ärzten und Krankenpflegern, Technikern und Instrukteuren; Lieferung von Impfstoffen und Medikamenten; Stipendien für ein Studium an kubanischen Hochschulen oder auch Gratisbehandlung in kubanischen Krankenhäusern. Diese Leistungen werden nicht nur im Rahmen der „strategischen Allianz" mit Hugo Chavez' Bolivarianischer Republik Venezuela und damit gegen Ollieferungen zum eigenen Vorteil erbracht, sondern auch in Ländern Afrikas, Lateinamerikas und der Karibik, wo ein unmittelbarer Gewinn für Kuba nicht gegeben ist. Einen besonderen außenpolitischen Erfolg erzielte Kuba 1999 und 2000 als Gastgeber des IX. Iberoamerikanischen Gipfels — mit der Präsenz des spanischen Königs - und des Gipfeltreffens der G-77-Staaten. Noch größere Genugtuung bescherte im November 2001 das Abstimmungsergebnis in der Vollversammlung der Vereinten Nationen zur Frage des US-Embargos gegen Kuba, das als anachronistisch und kontraproduktiv erachtet wird und dessen Aufhebung von 167 Staaten gefordert wurde — ein Votum, das seitdem mehrfach, zuletzt im November 2005 nur mit den Gegenstimmen der USA, Israels, der Marshall-Inseln und der Palau-Inseln (Republik Belau) bestätigt wurde. Im April 2004 gelang dagegen den USA ein internationaler diplomatischer Erfolg, indem sie in der UN-Menschenrechtskommission die Verurteilung Kubas wegen Verletzung der Menschenrechte und Missachtung demokratischer Prinzipien durchsetzen konnten - dies allerdings mit dem äußerst knappen Ergebnis von 22 Ja-Stimmen gegen 21 Nein-Stimmen bei 10 Enthaltungen. 48

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Wie wenig es den USA (und der EU) gelang, unter Hinweis auf Menschenrechtsverletzungen Kuba international zu isolieren, zeigte sich im Mai 2006 in der UN-Vollversammlung anlässlich der Wahlen zum kurz zuvor gegründeten Human Rights Council, der

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Die Kubaner, die sich seit Jahren dieser Diskussion stellen müssen, konterten sofort, indem sie beantragten, die Situation der 600 Gefangenen in Guantänamo auf die Tagesordnung zu bringen. Die Kubaner zogen den Antrag wieder zurück. Doch die Anfang 2006 geführte internationale Diskussion um die sich in einem rechtsfreien Raum befindenden und der Folter vergleichbaren Verhörmethoden ausgesetzten vorgeblichen Al-Qaida-Kämpfer gibt ihnen Recht. Und die Forderung Kofi Annans wie auch des UN-Sonderberichterstatters für Folter, Manfred Nowak, das Gefangenenlager in Guantanamo aufzulösen, muss die Kubaner mit Genugtuung erfüllen.49 Auch wenn der US-amerikanische Präsident George W. Bush Kuba zur ,^Achse des Bösen" zählt, erscheint eine militärische Aktion gegen Kuba von Seiten der USA heute undenkbar, mussten sie doch im Zusammenhang ihrer letzten Feldzüge und Anti-Terror-Maßnahmen hinsichtlich ihres Anspruchs auf moralische Überlegenheit einen erheblichen Verlust an Glaubwürdigkeit hinnehmen. Im Übrigen drängen US-amerikanische Firmen und Verbände selbst auf eine Abschaffung des Embargos, das bereits vielfach unterlaufen wird, verspricht doch der Handel mit Kuba allergrößten Gewinn. Eine Normalisierung der Beziehungen zwischen den USA und Kuba würde Fidel Castro in ein Dilemma stürzen; doch ist in absehbarer Zeit kaum mit einem Wandel in der Haltung der US-amerikanischen Administration zu rechnen. Das Überleben der kubanischen Revolution wird aber dann in Frage stehen, wenn Fidel Castro, der am 13. August 2006 sein 80. Lebensjahr vollendete, aus dem Amt scheidet. Die bereits allerorten entworfenen Szenarien eines postfidelismo ohne Fidel, dem unzweifelhaft auch heute noch die Mehrheit der Kubaner Achtung und Anerkennung entgegenbringt, erhielten unerwartet Aktualität, als sich Fidel Castro Ende Juli, wenige Tage vor seinem 80. Geburtstag, einer schweren Operation unterziehen musste und die Regierungsgeschäfte - kommissarisch und

die seit 1946 bestehende Commission on Human Rights der Vereinten Nationen ersetzt. U m einen Sitz im Rat zu erhalten, bedurfte es, was Kuba gelang, in geheimer Abstimmung (und nach vorheriger Überprüfung der Menschenrechtssituation des kandidierenden Landes) der Zustimmung von mindestens 96 UN-Mitgliedsstaaten. 49 Der US-amerikanische Flottenstützpunkt an der Bucht von Guantanamo im Osten der Insel geht auf einen 1903 geschlossenen Pachtvertrag zurück, der nach dem Verständnis der U S A nur in beiderseitigem Einvernehmen aufgekündigt werden kann. Mit dem extraterritorialen Status der Basis wird von US-amerikanischer Seite begründet, dass die dort festgehaltenen Gefangenen nicht der US-amerikanischen Rechtspraxis unterliegen und sich de facto in einem rechtsfreien R a u m befinden.

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vorübergehend, wie es hieß - seinem Bruder Raúl übertrug. Raúl Castro, seit den Anfängen der Revolution Fidel Castros Stellvertreter und Verteidigungsminister, ist aber nur fünf Jahre jünger. Ungewiss ist, wer von den Jüngeren nachrücken wird: der ehemalige Außenminister und gegenwärtige Präsident der Nationalversammlung Ricardo Alarcón, der Vizepräsident des Staatsrats und Sekretär des Exekutivkomitees des Ministerrats Carlos Lage oder der ehemalige Privatsekretär Fidel Castros und gegenwärtige Außenminister Felipe Pérez Roque? Sicher erscheint nur, dass die Armee, die bereits seit längerem Schlüsselpositionen in der Zuckerindustrie und im Tourismussektor besetzt hält, auch im Rahmen einer möglichen transición eine führende Rolle übernehmen wird. Castro selbst hatte bereits im November 2005 in einer viel diskutierten Rede vor Studenten der Universität Havanna durchaus selbstkritisch die Frage nach der Überlebensfähigkeit der Kubanischen Revolution gestellt. Beantworten konnte er die Frage nicht. Und auch hier muss die entscheidende Frage nach der Fortdauer des kubanischen Sozialismus - als fidelismo ohne Fidel - unbeantwortet bleiben. Bei seinem letzten öffentlichen Auftritt vor seinem Gang ins Krankenhaus, am 26. Juli 2006, versicherte er „den lieben Nachbarn im Norden", er wolle nicht noch mit hundert Jahren im Amt sein. Seinen 80. Geburtstag beging er nach seiner Operation - im Beisein von Hugo Chávez — wohlauf, wie die zugelassenen Kameras bestätigten. Über seinen wahren Gesundheitszustand wurde viel spekuliert. Aufschluss erwartete man sich von seinem Auftritt anlässlich der (aufgrund seiner Krankheit verschobenen) offiziellen Geburtstagsfeierlichkeiten - zu denen Fidel Castro nicht erschien. Gewählt hatte man für diese Feierlichkeiten ein durchaus passendes Datum: den 2. Dezember 2006, den 50. Jahrestag der Landung der Granma und der künftigen Revolutionäre, womit alles begann.

Dominikanische Republik Während der ersten Hälfte der 90er Jahre geriet das ohnehin geringe Vertrauen der dominikanischen Wähler in das Funktionieren demokratischer Spielregeln in einen so eklatanten Konflikt mit der Wirklichkeit, dass die Beteiligung an Präsidentschafts- und Parlamentswahlen auf einen Tiefpunkt fiel. Im Mai 1990 stellte sich Joaquín Balaguer mit seinem Partido Reformista Social Cristiano (PRSC) erneut zur Wahl. Meinungsumfragen zufolge hatte aber Juan Bosch, der bei den voraufgegangen Wahlen mit seinem Partido de la Liberación Dominicana (PLD) bereits 18% der abgegebenen Stimmen erhalten hatte, bessere Aussichten

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auf einen Sieg. Als das amtliche Wahlergebnis verkündet wurde - Balaguer gewann mit einem Vorsprung von knapp 1,2% - , erhob sich sogleich vehementer Protest und der (nicht von der Hand zu weisende) Vorwurf, Bosch sei um seinen Sieg betrogen worden. Internationale Wahlbeobachter verwiesen auf Unregelmäßigkeiten, konnten aber keine Beweise für eine masssive Wahlfälschung vorlegen. Anders verhielt es sich bei den Wahlen vier Jahre später, die ein schier unglaubliches Maß an Manipulation aufwiesen. Obgleich Balaguer zuvor seinen Rückzug aus der Politik aus Altersgründen angekündigt hatte, kandidierte er erneut. Sein aussichtsreichster Kontrahent im Kampf um das Präsidentenamt war jetzt José Francisco Peña Gómez vom sozialdemokratischen Partido Revolucionario Dominicano (PRD), nachdem sich Juan Bosch dezidiert neoliberalen Positionen zugewandt hatte. Uber zwei Monate vergingen, bis das amdiche Endergebnis verkündet wurde - ein Ergebnis, das Balaguer mit einem Vorsprung von gerade mal 22 000 Stimmen in seinem Amt bestätigte. Doch die Wahlmanipulation war so offensichtlich, dass der Widerstand im eigenen Land ebenso wie der Einspruch der USA, bis dahin Balaguers verlässlichster Bündnispartner, diesen zum Einlenken und zu einem Kompromiss veranlassten: Verkürzung seines Mandats auf zwei Jahre und damit Präsidenschaftsneuwahlen 1996, an denen er sich selbst, inzwischen fast 90-jährig, nicht mehr beteiligen würde. Gleichzeitig wurde das Verbot einer direkten Wiederwahl des Staatspräsidenten in der Verfassung festgeschrieben. Zu den Präsidentschaftswahlen im Mai 1996, den ersten fairen und sauberen Wahlen seit 1962, präsentierten sich als aussichtsreichste Kandidaten für den P R D wiederum Peña Gómez und für den PLD der gerade mal 43-jährige Leonel Fernández als Vertreter einer neuen Generation, nachdem parteiinterne Kritiker den mittlerweile 86-jährigen Juan Bosch gedrängt hatten, von einer erneuten Kandidatur abzusehen. Beim ersten Wahlgang gewann Peña Gómez, dessen P R D als einzige Partei über eine breite Basis verfügt, mit dem deutlichen Vorsprung von 7 % vor Fernández, errang aber nicht die erforderliche absolute Mehrheit. Im zweiten Wahlgang verlor er gegen Fernández, da Balaguer offen für den Kandidaten des PLD eingetreten war, nachdem sich er und Juan Bosch - nach Jahrzehnten politischer Feindschaft und persönlicher Rivalität - zu einer „Patriotischen Front" zusammengeschlossen hatten. Die an Leonel Fernández geknüpften Erwartungen waren hoch. Wirschaftspolitisch setzte er wie vor ihm Balaguer vor allem auf die verarbeitende Industrie in den Freihandelszonen und den Tourismus, der die traditionellen Agrarexporte als wichtigsten Devisenbringer bereits seit längerem verdrängt hatte. Ihm gelang, die schon unter Balaguer erzielten im Durchschnitt über 4%

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liegenden Wachstumsraten noch zu steigern, die Inflationsrate von fast 80% Anfang der 90er Jahre auf unter 10% am Ende des Jahrzehnts zu drücken und die Arbeitslosigkeit im selben Zeitraum von etwa 30% auf 14% zu senken. Die Dominikanische Republik erlebte so während des gesamten Jahrzehnts eine Periode des Aufschwungs, von dem aber keineswegs alle Bevölkerungsschichten profitierten. Wie Joaquín Balaguer vor ihm fügte sich auch Leonel Fernández allzu bereitwillig, wie seine Kritiker meinten - den Auflagen des Internationalen Währungsfonds. Und das bedeutete im Rahmen des verordneten Stabilitäts- und Strukturanpassungsprogramms: Kürzung der Staatsausgaben insbesondere durch Streichen von Subventionen fur Lebensmittel und durch drastische Anhebung der Benzinpreise; Erweiterung und progressive Erhöhung der Mehrwertsteuer; Privatisierungen im Agrarbereich und in der Energieversorgung, wodurch die Energiekrise, die schon zu Zeiten Balaguers bis zu 20 Stunden dauernde Stromausfälle zur Folge gehabt hatte, nicht gelöst wurde. Durch Abbau von Zöllen und Einfuhrbeschränkungen erfolgte eine Liberalisierung des Außenhandels. Gleichzeitig gelang eine stärkere Einbindung in regionale Abkommen, 50 wurden aber vor allem die Handelsbeziehungen mit den Vereinigten Staaten intensiviert, mit der Folge, dass die Dominikanische Republik (als einziger Staat der Karibik) am Freihandelsabkommen der USA mit den fünf mittelamerikanischen Staaten (Central American Free Trade Agreement, CAFTA), das am 1. Januar 2006 in Kraft trat, partizipiert. Am Ende seiner Amtszeit konnte Leonel Fernández auf ein beachtliches Wirtschaftswachstum zurückblicken, doch seine dezidiert neoliberale Politik hatte breite Wählerschichten ebenso verprellt wie der auch unter ihm übliche Klientelismus, verschärft durch eine wuchernde Korruption. Die weit verbreitete Desillusionierung hatte sich bereits anlässlich der Parlamentswahlen 1998 dadurch manifestiert, dass der Partei des Präsidenten nur knapp 17% der Wähler ihre Stimme gaben. Bei den Präsidentschaftswahlen 2000 lag der Kandidat des PLD dann abgeschlagen an dritter Stelle, hinter dem Zweitplazierten, Joaquín Balaguer, der sich noch einmal präsentiert hatte. Hipólito Mejía als Kandidat des PRD errang im ersten Wahlgang zwar nicht die absolute

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Die Dominikanische Republik besitzt seit 1984 Beobachterstatus bei der Caribbean Community und ist Gründungsmitglied der Association of Caribbean States. Dem Begehren, auch in die Lomé- und Nachfolgeabkommen der Europäischen Gemeinschaft/Europäischen Union einbezogen zu werden, wurde 1989 stattgegeben; allerdings wurden (auf Verlangen der anglophonen Karibikstaaten) Bananen, Zucker und Rum vom Präferenzsystem ausgenommen (vgl. Kap. 10).

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Mehrheit; doch war sein Sieg so überzeugend, dass die anderen Kandidaten auf eine Stichwahl verzichteten. Mejias vierjährige Amtszeit brachte für nahezu alle wirtschaftlichen Eckdaten eine rapide Verschlechterung: Rückgang der unter Leonel Fernández zuletzt erzielten Wachstumsrate von fast 8% auf unter 1% für die erste Jahreshälfte 2004; Ansteigen der Inflationsrate auf zeitweilig über 40%; Verfall der nationalen Währung durch eine über 100%ige Abwertung des Peso gegenüber dem US-Dollar; eine rasant zunehmende Staatsverschuldung, die sich unter Mejia auf 5,9 Milliarden US-$ nahezu verdoppelte; und ein Haushaltsdefizit von fast 5% des Bruttoinlandsprodukts, mit der Folge, dass der Staat, zahlungsunfähig, seinen Bediensteten zeitweise den Lohn schuldig blieb. Verantwortlich für den wirtschaftlichen Niedergang waren zum Teil die ungünstigen Rahmenbedingungen, unter denen Mejia antrat und die sich besonders in der extremen Abhängigkeit von der nun abgeflauten US-Konjunktur sowie dem hohen Olpreis manifestierten. Verantwortlich waren aber auch Misswirtschaft, Korruption und eklatante finanzpolitische Fehlentscheidungen 51 ebenso wie die Unfähigkeit auf Seiten der Regierenden, die im Zusammenhang mit dem illegalen Drogenhandel zunehmend auch im Umfeld der Touristenzentren ansteigende Kriminalität einzudämmen. Als im November 2003 und erneut im Januar 2004 aus Protest gegen neuerliche Preiserhöhungen und drohende Auflagen des IWF ein Generalstreik das Land lahm legte, wurde deutlich, dass sich Widerstand nunmehr auch außerhalb der traditionellen Parteien organisiert hatte. Mejia, der bereits lange zuvor verkündet hatte, dass er sich 2004 erneut um das Präsidentenamt bewerben würde, ignorierte den auf der Straße ausgetragenen Protest ebenso wie die Meinungsumfragen, die am Beginn des Wahljahres flir ihn gerade mal 13% der Wählerstimmen prognostizierten. Er verstand es, gegen den Widerstand einflussreicher Kreise der eigenen Partei die für seine erneute Kandidatur notwendige Verfassungsänderung im Parlament durchzusetzen, wobei er sich der Zustimmung Joaquín Balaguers, der bis zu seinem Tod im Juli 2002 seine politischen Fäden spann, versichern konnte - was Mejia dann dem toten Bala-

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Den größten Skandal bewirkte im Jahr 2003 der Bankrott von Baninter, der zweitgrößten Handelsbank der Dominikanischen Republik, sowie zwei weiterer kleinerer Bankinstitute. Entscheidender Auslöser des Bankrotts waren betrügerische Machenschaften, in die hohe Regierungsfunktionäre verwickelt waren. Als besonders skandalös erschien die allzu schnelle Bereitschaft der Regierung, für sämtliche Einlagen und finanziellen Verpflichtungen der Banken aufzukommen: eine Summe von etwa 2,2 Milliarden US-$ oder 2 0 % des Bruttoinlandsprodukts.

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guer mit einer dreitägigen Staatstrauer entlohnte. Die für den 16. Mai 2004 anberaumten Präsidentschaftswahlen bescherten Leonel Fernández, der nun wieder für den Partido de la Liberación Dominicana antrat, mit 57% der abgegebenen Stimmen schon im ersten Wahlgang einen überwältigenden Sieg. Hipólito Mejía, der noch kurz vor dem Urnengang mancherlei Wahlgeschenke verteilt hatte — so versprach er, die überaus unpopuläre Beteiligung am IrakKrieg zu beenden und das dominikanische Kontingent von 300 Soldaten zurückzuholen errang immerhin knapp 34%. Gänzlich abgeschlagen mit unter 9% war dagegen Eduardo Estrella, der Kandidat des Partido Reformista Social Cristiano, womit deutlich wurde, dass die Partei, recht eigentlich ein auf die Person Balaguers zugeschnittener Wahlverein, nach dessen Tod in der Bedeutungslosigkeit zu versinken droht. Viele der Wähler, die Leonel Fernández zu seinem Sieg verhalfen, hatten vergessen, dass sie vier Jahre zuvor mit ihrem Votum für Mejía den damals scheidenden Präsidenten aufgrund derselben Korruptionsvorwürfe abgestraft hatten, die dem jetzt scheidenden Präsidenten entgegengebracht wurden, und dass Mejía überdies manche Probleme, mit denen er sich in seiner Amtszeit konfrontiert sah - etwa die katastrophale Misswirtschaft im Energiesektor —, von seinem Vorgänger geerbt hatte. Im Wahlkampf hatte Fernández mit dem Slogan „Zurück zum Fortschritt" an die während seiner ersten Amtsperiode erzielten wirtschaftlichen Erfolge erinnert; und bereits für das Jahr 2005 konnte er eine positive Bilanz aufweisen: ein Wirtschaftswachstum von 9%, Absenken der Inflationsrate auf unter 10%, sowie die Stabilisierung des Peso, der gegenüber dem US-Dollar über die Hälfte seines Wertes zurückgewann. Die positiven Wirtschaftsdaten honorierten die Wähler anlässlich der Parlaments- und Kommunalwahlen vom Mai 2006, indem sie der Partei des Präsidenten geradezu traumhafte Ergebnisse und im Abgeordnetenhaus wie im Senat die absolute Mehrheit bescherten.52 Ob allerdings alle, die dem PLD ihre Stimme gaben, und insbesondere jene, die unterhalb der Armutsgrenze leben - nach unterschiedlichen Berechnungen zwischen 30 und 40% der Gesamtbevölkerung - , vom neuerlichen wirtschaftlichen Aufschwung profitieren werden, bleibt abzuwarten. Dagegen spricht die auch von Leonel Fernández nicht zu

52 Leonel Fernández' Partido de la Liberación Dominicana gewann im (nunnmehr von 150 auf 178 Sitze aufgestockten) Abgeordnetenhaus 96 Sitze (2002:42) und 22 Sitze im Senat (2002: 1); die als „Gran Alianza Nacional" im Bündnis angetretene Opposition von P R D und PRSC gewann dagegen nur 82 Sitze im Abgeordnetenhaus (2002: 108) und 10 Senatssitze (2002: 31).

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umgehende Abhängigkeit vom Internationalen Währungsfonds, die sich Anfang 2006 in einer massiven Steuererhöhung für Grundnahrungsmittel und Verbrauchsgüter niederschlug. Dagegen sprechen auch strukturelle Probleme, die zu lösen schwer fallen wird. Neben den Geldüberweisungen der im Ausland lebenden Dominikaner, die sich gegenwärtig auf etwa 2,4 Milliarden US-$ belaufen, ist der Fremdenverkehr die wichtigste Devisenquelle; und mit 4,2 Millionen Besuchern (2005) ist die Dominikanische Republik nach Puerto Rico und den Bahamas das beliebteste Reiseziel in der Region. Doch der dominikanische Tourismus lebt vorwiegend von Billig- und all inclusive-Angeboten in Enklaven, die für den Kontakt mit der einheimischen Bevölkerung wenig förderlich sind und die in der Regie transnationaler Reiseveranstalter vermarktet werden.53 Noch boomt der Tourismus; doch es zeichnet sich ab, dass angesichts der bereits heute auftretenden Umweltschäden, angesichts auch des weit verbreiteten Sextourismus - neuerdings erweitert durch das Angebot der Kinderprostitution die Dominikanische Republik als Ferienparadies in Verruf geraten ist und die hohen Besucherzahlen nur gehalten werden können, wenn grundlegende Qualitätsstandards angehoben werden. Ein gegenwärtig noch dringlicheres Problem ist die Krise in der verarbeitenden Industrie in den Freihandelszonen. Im Jahr 2000 beschäftigten ca. 500 Firmen in 46 Industrieparks vorwiegend in der Textil- und Bekleidungsindustrie fast 200 000 Arbeitnehmer, vorrangig Frauen, zu Billiglöhnen und gewerkschaftlich nicht organisiert. Inzwischen wurden zahlreiche Fabriken geschlossen - ein Trend, der anhalten wird, da in anderen Regionen der Welt, von Mexiko bis nach China, das Lohnniveau noch tiefer liegt, so dass die ohnehin hohe Arbeitslosigkeit in der Dominikanischen Republik weiter steigen wird. Durchgreifende Reformen in Angriff zu nehmen, wird für Präsident Leonel Fernández schwierig sein. Zwar verfügt er nun über eine parlamentarische Mehrheit, er braucht aber auch die Unterstützung der ihm misstrauenden Privatwirtschaft. In einem Punkt herrscht jedoch über alle Partei- und Klassengrenzen hinweg Einigkeit: der Notwendigkeit, die illegale Einwanderung aus dem benachbarten Haiti zu bekämpfen. Es wird geschätzt, dass über 500 000 Haitianer ohne gültige Papiere im Land leben: als Straßenhändler in den Städten, als billige Arbeitskräfte auf den Zuckerrohrplantagen und im Bausektor.

53 Nach einem Bericht des Latin American Caribbean & Central America Report vom März 2 0 0 6 belaufen sich die Ausgaben eines durchschnittlichen Touristen für seinen Aufenthalt/Tag in Puerto Rico auf über 160, auf den Bahamas sogar auf über 2 5 0 US-$, in der Dominikanischen Republik dagegen nur auf wenig über 100 US-$.

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Seit seinem Amtsantritt verfügte Fernández die Deportation von mehreren Tausend Haitianern durch die Armee, wobei es zu Ubergriffen auch auf Dominikaner haitianischer Herkunft kam, begleitet von gewaltsamen Exzessen als Audruck des in der Dominikanischen Republik in allen Bevölkerungsschichten weit verbreiteten Antihaitianismus. Die 380 km lange Grenze zu Haiti wirkungsvoll zu überwachen, war in der Vergangenheit nicht gelungen. Als hilfreich erweisen sich neuerdings die Vereinigten Staaten, die in ihrem Einsatz gegen den illegalen Drogenhandel (und den internationalen Terrorismus) zu einer - für die Nachbarschaftsbeziehungen beider Länder wenig förderlichen — Militarisierung der Grenze beitragen. Haiti Der von den Vereinten Nationen erstellte Human Development Index, der anhand sozialer Indikatoren 177 Staaten in einer Rangliste erfasst, weist der Dominikanischen Republik für das Jahr 2006 Platz 94 zu: gegenüber 1998 eine Herabstufung um sieben Punkte, die kenntlich macht, dass sich die Lebenssituation der Menschen in diesem Zeitraum deutlich verschlechterte. Unter den Staaten der Karibik rangieren hinter der Dominikanischen Republik nur noch Belize, Guyana, Jamaika und Haiti - Haiti weit abgeschlagen auf Platz 154 (1998: 150), gefolgt nur noch von Staaten aus Schwarzafrika. Konkret bedeutet dies für Haiti, dass 80% der Menschen unterhalb der Armutsgrenze leben, die Lebenserwartung unter 52 Jahren liegt und gerade mal die Hälfte der Bevölkerung alphabetisiert ist. Haiti ist seit langem das .Armenhaus" der westlichen Hemisphäre, war zudem drei Jahrzehnte lang Schauplatz einer „Erbdiktatur", in der Repression und politische Gewalt an der Tagesordung waren. Der 1986 durch einen Volksaufstand erwirkte Abgang Jean-Claude Duvaliers und die im Jahr darauf erfolgte Verabschiedung einer liberalen Verfassung eröffneten die Perspektive auf einen grundlegenden demokratischen Wandel. Doch es folgte eine Zeit innenpolitischer Turbulenzen mit abgebrochenen oder manipulierten Wahlen, mit drei Militärputschen und insgesamt vier nur kurzfristig amtierenden Regierungen. Erst mit den im Dezember 1990 abgehaltenen Wahlen, bei denen Jean-Bertrand Aristide mit fast 70% der abgegebenen Stimmen und einer Wahlbeteiligung von 85% zum Staatspräsidenten gewählt wurde, schien die Ära des Duvalierismus überwunden und ein Neuanfang gesetzt, der versprach, dass künftig die demokratischen Spielregeln ebenso wie die Grundsätze einer gerechten Wirtschaftsordnung gelten würden.

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Aristide, der ehemalige Priester aus einem Armenviertel in Port-au-Prince, von den sozial deklassierten Massen als messianische Figur an die Macht getragen, sollte während der nachfolgenden eineinhalb Jahrzehnte, bis zu seiner Amtsenthebung im Februar 2004, die politische Auseinandersetzung in Haiti beherrschen. Doch sein Umgang mit der Macht in einer zutiefst gespaltenen Gesellschaft ließen ihn zu einer fast tragischen Figur werden: ein Mann, der, von seiner Erlöserrolle zutiefst überzeugt, antrat, um die Massen von Armut und Unterdrückung zu befreien, der jedoch an widrigen Umständen ebenso wie an sich selber scheiterte und der schließlich, in seinem Selbstverständnis hinterfragt und in seiner Macht bedroht, zu repressiven Mitteln griff, um dann von einem Teil jener Massen verjagt zu werden, als deren Präsident er sich verstand. Im Jahr 2006, mehr als zwei Jahre nach seinem unrühmlichen und gewiss als demütigend empfundenen Abgang, versucht Aristide erneut, seinen ungebrochenen Rückhalt in weiten Teilen der armen Bevölkerung aus dem südafrikanischen Exil heraus für eine eventuelle Rückkehr an die Macht politisch zu nutzen. In Haiti selbst droht ihm möglicherweise ein Verfahren wegen Machtmissbrauch und Korruption; und den nunmehr um die eigene Teilhabe an der Macht ringenden Eliten gilt er als der allein Verantwortliche für das innenpolitische Chaos — eine Schuldzuweisung, die bei denselben Eliten das eigene Fehlverhalten ignoriert. Die Anfänge Aristides als Präsident waren nach seinem Amtsantritt im Februar 1991 zunächst von einer allgemeinen Euphorie begleitet. Seine im September unternommene Reise in die USA, wo er vor den Vereinten Nationen auftrat und in einer symbolischen hommage die Schlüssel der Stadt New York entgegennehmen durfte, geriet zu einem Triumphzug. Doch einen Tag nach seiner Rückkehr aus den Vereinigten Staaten wurde er durch einen Putsch des Armeechefs Raoul Cédras gestürzt und ins Exil gezwungen. Während in Haiti in einer brutalen Repressionswelle vor allem gegen Anhänger seiner Lavalas54Bewegung über 4 000 Menschen getötet wurden, gelang es Aristide in den USA, die Demokraten und ihren Präsidenten Bill Clinton davon zu überzeugen, dass allein seine Wiedereinsetzung als verfassungsmäßig gewählter Präsident das Land stabilisieren würde.55 Nach einer von den Vereinten Nationen 54 Den Namen seiner Bewegung Lavalas (Lawine, Erdrutsch) entlehnte Aristide einem populären Lied mit dem Titel „Nou se lavalas", dem er auch den Slogan der Bewegung entnahm: „Yon sèi nou fèb, ansanm nou fb, ansamn ansamn nou se lavalas." (Allein sind wir schwach, gemeinsam sind wir stark, vereint sind wir eine Lawine.) 55 Ein entscheidendes Argument für die US-Administration, Aristide zu unterstützen, war die Hoffnung, durch seine Wiedereinsetzung die nach dem Militärputsch erfolgte

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sanktionierten und den Vereinigten Staaten angeführten militärischen Intervention kehrte Aristide im Oktober 1994 nach Haiti zurück, um seine 5-jährige Amtszeit zu beenden. Da die Verfassung eine direkte Wiederwahl des Staatspräsidenten verbietet, konnte er sich bei den Wahlen im Dezember 1995 nicht erneut zur Wahl stellen. Gewählt wurde — gewissermaßen als sein Stellvertreter - René Préval: eine Wahl, deren Legitimität aufgrund der überaus geringen Wahlbeteiligung von nicht einmal 30% zwar angezweifelt wurde, die aber zum ersten Mal in der Geschichte Haitis einen friedlichen und demokratisch legitimierten Präsidentenwechsel mit sich brachte. Während der Amtszeit von René Préval ( 1996-2001 ) traten die Widersprüche und Widerstände, die eine effektive Verwaltungs- und Regierungsarbeit in Haiti behinderten — und nach Préval während Aristides zweiter Amtszeit behindern sollten - , in aller Deutlichkeit zutage. Die zersplitterte Opposition, die kein eigenes politisches Projekt zu entwerfen imstande war, aber im Parlament über eine Mehrheit verfugte, zeigte sich einig in ihrer gezielten Obstruktionspolitik. Eine ähnliche Politik verfolgten selbst Teile der Regierungspartei und sogar Regierungsmitglieder wie Rosny Smart, der im Juni 1997 als Premierminister zurücktrat und die Regierungsarbeit über Monate paralysierte. Im selben Jahr wurde die internationale Finanzhilfe eingestellt, dies mit dem Verweis auf die innenpolitische Instabilität, wodurch sich diese weiter verschärfte. Ex-Präsident Aristide, der nur widerwillig sein Präsidentenamt abgegeben und gefordert hatte, dass sein Mandat um die im Exil „verlorenen" Jahre verlängert würde, genoss weiterhin den Rückhalt insbesondere unter den Slumbewohnern in Port-au-Prince, entwickelte aber einen Politik- und sogar Lebensstil, mit dem er sich von ursprünglich vertretenen Prinzipien entfernte. Sein schon während der ersten Amtsperiode entfalteter personalistischer Führungsstil und das unbedingte Vertrauen in die eigene Fähigkeit und Autorität brachten ihn in Konflikt selbst mit den eigenen Parteigängern. 56 Und während er in einer eigens fiir ihn erbauten prunkvollen Villa residierte - was ihm (unter Verweis auf das Stadtviertel) den Beinamen „Herzog von Tabarre" einbrachte - , wartete er auf seine zweite Chance.

Massenflucht von Haitianern in die USA zu stoppen. Genaue Zahlen liegen hierzu nicht vor; doch wird das Ausmaß deutlich, wenn man bedenkt, dass allein zwischen 1991 und 1992 über 41 000 haitianische boatpeople von der US-Küstenwache abgefangen wurden. 56 Die permanenten Spannungen zwischen Aristide und Préval während dessen Präsidentschaft führten 1997, im Vorfeld der Parlamentswahlen vom April, zu einer Spaltung der Organisation Politique Lavalas (OLP), in deren Namen Préval kandidiert hatte, und zur G r ü n d u n g der Partei Fanmi Lavalas (FL), mit der sich Aristide dann im November 2000 u m die Präsidentschaft bewarb.

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Diese Chance boten ihm die — nach einer langen, von der Opposition provozierten innenpolitischen Krise - im November 2000 abgehaltenen Präsidentschaftswahlen, bei denen er mit über 90% der abgegebenen Stimmen einen erdrutschartigen Sieg davontrug. Die Wahlen waren, wie die internationalen Beobachter bestätigten, sauber und fair; die Legitimität des neugewählten Präsidenten aber war dadurch beeinträchtigt, dass die Opposition die Wahlen boykottiert hatte. Von den internationalen Geldgebern, die eine Freigabe der eingefrorenen Finanzhilfen und Kredite an den Demokratisierungsprozess koppelten, zum Dialog gedrängt, fanden Regierung und Opposition schließlich im September 2002 zu einer Übereinkunft, um die seit langem fälligen Parlamentswahlen vorzubereiten. Doch wieder einmal optierte die Opposition flir eine Verweigerungshaltung, indem sie ihre Teilnahme an den vorgesehenen Wahlen absagte. Der neuerliche Konfrontationskurs der in der Convergence Démocratique (CD) zusammengeschlossenen Oppositionsparteien erklärte sich nur zum Teil als Fortsetzung ihrer bereits bekannten Obstruktionspolitik. Die politische Instabilität hatte zu einem allgemeinen Klima der Unsicherheit und Rechtlosigkeit geführt, in dem Entführungen, Vergewaltigungen und Morde an der Tagesordnung waren. Die Akteure waren kriminelle Banden, darunter die berüchtigten chimè oder chimères:57 Anhänger von Aristide, die vorzugsweise gegen prominente Oppositionspolitiker vorgingen und die sich dank der Komplizenschaft der Polizei weitgehender Straffreiheit erfreuten. Ob Aristide selbst, wie von der Opposition behauptet, die chimères - wie einst François Duvalier die tonton makout - gezielt gegen seine politischen Gegner einsetzte, kann nicht mit Sicherheit gesagt werden. Es bleibt aber der berechtigte Vorwurf, dass er sich zu keinem Zeitpunkt von ihnen distanzierte und sie durch seine populistische Rhetorik zumindest ermutigte. Im Verlauf des Jahres 2003 kam es zu einer dramatischen Eskalation der Gewalt, die sich immer häufiger in landesweiten Demonstrationen und Straßenkrawallen entlud und nun auch die Gegner Aristides, die sogenannte Armee Cannibale, auf den Plan rief. Diese rekrutierten sich wie die chimères vor57 Chimère im Französischen bezeichnet ein Ungeheuer der griechischen Mythologie ebenso wie „Trugbild" oder „Hirngespinst"; das kreolische chimè hat jedoch eine ganz andere Bedeutung. Es steht für jemanden, der von Zorn erfüllt ist; und mit dieser Bedeutung bezeichnete man als chimè zunächst jene Organisationen, die nach dem Sturz von Duvalier als basisdemokratische Bewegungen entstanden waren. Erst später wurde chimè synonym für Jugendbanden, schließlich für jedwede Gruppe, die sich für politische und/oder kriminelle Zwecke einsetzen lässt.

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wiegend aus den Elendsvierteln, konnten aber auch auf die Unterstützung ehemaliger Angehöriger der Armee rechnen, die Aristide 1995, nach seiner Rückkehr aus dem Exil, aufgelöst hatte. Auf den Rückhalt der internationalen Gemeinschaft konnte der Präsident, dem sogar Beteiligung am illegalen Drogenhandel nachgesagt wurde, bereits seit längerem nicht mehr zählen; und sowohl die Interamerikanische Entwicklungsbank als auch die Weltbank zeigten keine Bereitschaft, die eingefrorenen Wirtschafts- und Finanzhilfen zu überweisen. Angesichts der wirtschaftlichen Misere und der geringen Hoffnung auf eine neuerliche Stabilisierung der innenpolitischen Lage wandten sich viele Anhänger Aristides nunmehr gegen ihn, und so bildete sich eine breite Front von (selbsternannten) „Rebellen", die Anfang Februar 2004 die nördliche Hafenstadt Gonaïves sowie weite Teile des Hinterlandes unter ihre Kontrolle brachten. Angesichts der Gefahr, dass die „Rebellen"-Armee auch die Hauptstadt Port-au-Prince einnehmen könnte, griffen die Botschafter der USA und Frankreichs58 zu einem drastischen Mittel: Am 29. Februar wurde Aristide — unfreiwillig und, wie er später beklagen sollte, einem Staatsstreich gleich - in ein Flugzeug gesetzt und ins Exil geschickt. Diejenigen, die nach dem Abgang Aristides auf ein Ende von Chaos und Gewalt gehofft hatten, wurden enttäuscht. Die Übergangsregierung unter dem Präsidenten Boniface Alexandre und dem Premierminister Gérard Latortue entbehrte der notwendigen Legitimation und Stärke, um mit einer funktionsfähigen Verwaltung dem innenpolitischen Chaos entgegenzuwirken. Und indem Latortue die selbsternannten „Rebellen" als „Freiheitskämpfer" titulierte, schürte er zusätzlich die Gewalt, die sich nun vorrangig gegen ehemalige Anhänger Aristides richtete. Die vom UN-Sicherheitsrat eingesetzte und von Brasilien geleitete multinationale Schutztruppe (Mission des Nations Unies pour la Stabilisation en Haïti, MINUSTAH) erwies sich als wenig effektiv, um die angestrebte Entwaffnung und Demobilisierung der Banden durchzusetzen, zumal sie sich als Friedens- und nicht als Kampftruppe verstand und bewaffneten Auseinandersetzungen aus dem Weg zu gehen suchte. Zwar gelang es Latortue, mit Blick auf die fälligen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen mit politischen

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Aristide hatte Frankreich besonders dadurch verärgert, dass er im Vorfeld der Zweihundertjahrfeiern der haitianischen Unabhängigkeit von der ehemaligen Kolonialmacht Reparationszahlungen in H ö h e von exakt 21 685 135 571 US-$ und 48 Cents verlangte. Diese Summe, so Aristide, würde (inflationsbereinigt) jenen 90 Millionen francs or entsprechen, mit denen sich Frankreich seinerzeit die Anerkennung des unabhängigen Haiti bezahlen ließ.

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Parteien und Vertretern der Zivilgesellschaft einen Konsens zu finden, doch musste der Termin aufgrund schwerwiegender Organisations- und Sicherheitsprobleme immer wieder verschoben werden. Als die Wahlen schließlich am 7. Februar 2006 — auf den Tag 20 Jahre nach dem Abgang Jean-Claude Duvaliers - stattfanden, brachten sie keine Überraschung. Für die 99 Mandate im Abgeordnetenhaus und die 30 Senatssitze stellten sich über 1 000 Kandidaten von mehr als 40 Parteien zur Wahl, und für das Amt des Präsidenten kandidierten 35 Anwärter, darunter als aussichtsreichster Kandidat René Préval, der das Land zwischen 1996 und 2001 regiert hatte. Préval, einst treuer Parteigänger Aristides, hatte sich seit langem von diesem distanziert und es abgelehnt, für Aristides Fanmi Lavalas zu kandidieren, um mit dem Fwon Lespwa (Front der Hoffnung) eine eigene Partei zu gründen. Im Wahlkampf kam ihm aber zugute, dass er von den meisten Wählern weiterhin mit Aristides Z^tw/kf-Bewegung, die keinen eigenen Präsidentschaftskandidaten stellte, assoziiert wurde. Der Urnengang selbst verlief relativ ruhig. Doch die nur schleppend vollzogene Auszählung bewirkte erneut gewalttätige Straßenproteste, als Prévals Vorsprung immer weiter schmolz und sein Stimmenanteil unter die 50%-Marke sank, wodurch ein zweiter Wahlgang notwendig wurde. Dem begegnete der Provisorische Wahlrat dadurch, dass er (mit Rückendeckung der UN-Mission) kurzfristig den Auszählungsmodus änderte und Préval, der in der Tat nicht die erforderliche absolute Mehrheit erhalten hatte, nunmehr mit etwas über 51 % der abgegebenen Stimmen zum Sieger der Präsidentschaftswahl erklärte: gewiss eine Manipulation, die sich aber dadurch rechtfertigen ließ, dass für den Zweit- und Drittplazierten - den ehemaligen nur kurzfristig amtierenden Präsidenten Leslie Manigat und den Unternehmer Charles Henri Baker — gerade mal 12 bzw. 8% der Wähler gestimmt hatten. Mitte Mai, mehr als drei Monate nach den Wahlen, wurde Préval in sein Amt eingeführt. Einen Monat später präsentierte er sein Kabinett, nachdem es ihm gelungen war, mit sechs Parteien, darunter auch Aristides Fanmi Lavalas, eine Koalition zu bilden, die ihm im Parlament die erforderliche Mehrheit garantieren soll. Bereits vor seiner Amtseinführung hatte der designierte Präsident für internationale Unterstützung geworben. Er reiste nach Kanada und in die USA, nach Chile, Argentinien und Brasilien ebenso wie nach Kuba und Venezuela, wo er von Castro und Chävez konkrete Hilfsangebote im Bereich sozialer Dienste und der Energieversorgung erhielt. Doch ausländische Hilfe allein wird Préval wenig nützen, wenn es darum geht, die für den wirtschaftlichen Aufschwung unabdingbare innenpolitische Stabilität wiederherzustellen und

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damit auch die weithin herrschende Gewaltkriminalität einzudämmen. Gefordert sind hier auch die traditionellen Eliten und die politische Opposition, die, sollte sie zu ihrer früheren Obstruktionspolitik zurückkehren, zwei Jahrzehnte nach dem Ende der Duvalier-Herrschaft einen Neuanfang verhindern könnte. Guyana (Co-operative Republic of Guyana) Als im Oktober 1992 die People's Progressive Party (PPP) unter Cheddi Jagan - nach fast drei Jahrzehnten in der Opposition - die Parlamentswahlen gewann, endete eine Epoche, die einer Partei, dem People's National Congress (PNC), über Manipulation und Repression das faktische Machtmonopol beschert und die „Kooperative Republik", die über reiche natürliche Ressourcen verfügt, trotz der plakatierten sozial-progressiven Ausrichtung in den wirtschaftlichen Ruin geführt hatte. Die Wahlen, von den erstmals zugelassenen ausländischen Wahlbeobachtern als frei und fair bezeichnet, ergaben hinsichtlich der Sitzverteilung im Parlament einen nur knappen Vorsprung der PPP vor dem PNC, so dass sie — im Verbund mit einer Gruppe unabhängiger Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens nunmehr als People's Progressive Party/Civic (PPP/C) — auf die Duldung einer der beiden kleinen, mit je einer Stimme im Parlament vertretenen Parteien angewiesen war. Hinsichtlich der Stimmenzahl war der Sieg Cheddi Jagans dagegen eindeutig, hatten für ihn doch 54%, für den P N C und ihren Präsidentschaftskandidaten Desmond Hoyte aber nur 41% der Wahlberechtigten gestimmt. Die hohe Wahlbeteiligung von 81 % erbrachte der Partei und Cheddi Jagan eine zusätzliche Legitimation für den intendierten Neuanfang. Innenpolitisch wurde der Neuanfang dadurch Wirklichkeit, dass die Regierung die demokratischen Spielregeln weithin respektierte. Wirtschaftspolitisch konnte Jagan, der den von seinem Vorgänger eingeleiteten neoliberalen Kurs - behutsam und nicht ohne auf eine sozialistische Rhetorik zu verzichten - fortsetzte, geradezu sensationelle Ergebnisse erzielen. So wurde die Inflationsrate, die sich 1990 noch auf über 60% belaufen hatte, auf unter 10% gesenkt, wurden durch Produktionssteigerungen für das Bruttoinlandsprodukt Wachstumsraten erreicht, die mit jährlich bis zu 8% Guyana innerhalb der Region eine Spitzenposition zuwiesen. Mit staatlichen Programmen zur Armutsbekämpfung und Verbesserung des Gesundheits- und Bildungswesens wurde versucht, auch gegen den Einspruch des Internationalen Währungsfonds die hohen sozialen Kosten, die mit der verordneten Strukturanpassungspolitik

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verbunden waren, zu verringern. Der Regierung waren hier jedoch enge Grenzen gesetzt, und es konnte kaum gelingen, das in der Vergangenheit Versäumte kurzfristig nachzuholen: etwa im Bildungsbereich, der dermaßen vernachlässigt worden war, dass (nach einer Studie der University of Guyana) fast 9 0 % der Schulabgänger faktisch als Analphabeten gelten konnten. Der Tod Cheddi Jagans im März 1997 löste eine innenpolitische Krise aus, die wieder über ethnisch bedingte Loyalitäten eine Polarisierung der beiden großen Parteien bewirkte. Nachfolger im Amt des Präsidenten wurde zunächst gemäß der Verfassung der Premierminister Samuel Hinds. Dieser repräsentierte aber nur die kleine Gruppe der C/wV-Fraktion und erschien der PPP für die Wahlen im Dezember desselben Jahres als gemeinsamer Präsidentschaftskandidat wenig geeignet. Sie nominierte, wie zu erwarten war, Janet Jagan: eine gebürtige US-Amerikanerin, die Cheddi Jagan während seines Studiums in den USA kennengelernt und geheiratet hatte und die seit Anfang der 40er Jahre als politische Weggefährtin ihres Mannes in Guyana hohe Ämter in der Partei wie in den PPP-Regierungen (vor der Unabhängigkeit) bekleidet hatte. Die Vorbehalte der Opposition gegen Janet Jagan richteten sich nicht gegen ihre politischen Optionen, waren die beiden großen Parteien doch bereits seit langem auf dieselbe ideologische Linie festgelegt, wohl aber gegen ihre Person, denn schließlich war sie nicht nur gebürtige US-Amerikanerin, sondern auch eine Weiße. Für das Präsidentenamt, so ein PNC-Anhänger in einem Leserbrief an eine große Tageszeitung, mangelte es ihrer „Nabelschnur" somit an Legitimität. Die Wahlen erbrachten der Peoples Progressive Party/Civic denselben hohen Stimmenanteil wie fünf Jahre zuvor und nun auch eine Mehrheit der Sitze im Parlament. Doch der unterlegene Desmond Hoyte war nicht bereit, das Wahlergebnis hinzunehmen. Mit dem (unbegründeten) Vorwurf des Wahlbetrugs rief der Peoples National Congress seine Anhänger zu Protesten auf, die sich über Monate in gewaltsamen Demonstrationen und Straßenschlachten manifestierten. Erst sechs Monate nach den Wahlen war der PNC bereit, den Vermittlungsbemühungen der Karibischen Gemeinschaft nachzugeben, seinen Boykott im Parlament zu beenden und über eine Verfassungsreformkommission59 mit der Regierung in einen Dialog zu treten - ein Dialog, der in den

59 Eine Revision der Verfassung von 1980 wird von allen politischen Kräften als dringend notwendig erachtet. Zum einen möchte man den in der Präambel enthaltenen Verweis auf die „sozialistischen Prinzipien" tilgen, auf denen Staat und Gesellschaft der Co-operative Republic of Guyana gründen - ein Prinzip, das der Peoples National Congress bereits seit

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nachfolgenden Jahren vom P N C aus den verschiedensten Anlässen unterbrochen wurde, mit der Folge, dass es zwischen den mobilisierten PNC-Anhängern und der mit äußerster Brutalität vorgehenden Polizei immer wieder zu blutigen Zusammenstößen kam. Ein Anlass war die Ernennung des Finanzministers Bharrat Jagdeo zum Nachfolger Janet Jagans, als diese im August 1999 aus Altersgründen vom Präsidentenamt zurücktrat - ein Vorgang, der nicht zu Unrecht von der Opposition als nur unzureichend verschleierte Manipulation der Verfassung betrachtet wurde. 60 Einen weiteren Anlass lieferten die Parlamentswahlen im März 2001, die der - nunmehr als People's National Congress/Reform (PNC/R) antretenden - Opposition wieder eine Niederlage bescherten und deren Ergebnisse sie wieder als Wahlbetrug deklarierte. Als Desmond Hoyte im Dezember 2002 starb, wurde von seinem Nachfolger im Amt des Parteivorsitzenden und Oppositionsführers, Robert Corbin, der Boykott des Parlaments beendet und der neuerliche Dialog mit der Regierung von Präsident Bharrat Jagdeo gesucht. Dieser sieht durchaus die Notwendigkeit eines solchen nationalen, die ethnischen Rivalitäten überwindenden Dialogs, der umso dringlicher erschien, als die seit langem schwelenden Grenzkonflikte mit Suriname und Venezuela neuerliche Aktualität gewannen. 6 ' Die im August 2006 abgehaltenen Parialängerem aus seinen Parteistatuten entfernt hat; zum andern ist man bestrebt, nunmehr die Machtbefugnisse des Staatspräsidenten, die den autokratischen Ambitionen Forbes Burnhams geschuldet waren, zu begrenzen und das minderheitsfeindliche System der Mehrheitswahl abzuändern. 60 Wieder ergab sich für die People's Progressive Party die Situation, dass entsprechend der Verfassung mit dem Premierminister Samuel Hinds ein Staatspräsident nachrücken würde, der nicht der PPP angehörte. U m nun Bharrat Jagdeo ins Präsidentenamt zu verhelfen, ohne gegen die Verfassung zu verstoßen, wurde er, nachdem Hinds zurückgetreten war, kurzfristig zum Premierminister ernannt, woraufhin er zwei Tage später als Staatsprädident vereidigt und Hinds wieder in sein früheres Amt des Premiers eingesetzt werden konnte. 61

Bei beiden Grenzkonflikten geht es um Besitzansprüche, die aus der Kolonialzeit hergeleitet werden; und beide sind wesentlich motiviert durch (real vorhandene oder vermutete) Bodenschätze. Strittig zwischen Guyana und Suriname sind (u. a.) Erdöllager, die vor der Küste vermutet werden und die beide Staaten aufgrund der ungeklärten Grenzziehung in ihren Hoheitsgewässern für sich beanspruchen. Uber Jahre wurden die Spannungen auf diplomatischem Wege verhandelt. Nachdem aber im Juni 2000 ein kanadisches Unternehmen, das, ausgestattet mit einer Konzession der guyanischen Regierung, Probebohrungen vornehmen wollte, durch surinamische Kanonenboote mit Gewalt an seinem Vorhaben gehindert worden war, eskalierte der Streit, indem beide Regierungen Truppen an die gemeinsame Grenze schickten. Ein Krieg zwischen den beiden Nachbarn schien unvermeidlich, konnte aber - ohne dass die strittige Frage geklärt wurde - durch Intervention der Karibischen Gemeinschaft verhindert werden. Der Territorialkonflikt mit Venezuela schien

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mentswahlen bestätigten erneut die Vorherrschaft der regierenden People's Progressive Party/Civic, die über 54% der abgegebenen Stimmen erhielt und mit 36 Sitzen im Parlament über eine absolute Mehrheit verfügt. Entgegen der Befürchtung vieler Beobachter verliefen die Wahlen ohne die sonst üblichen gewalttätigen Demonstrationen, obgleich die früheren geradezu sensationellen Wirtschaftsdaten mittlerweile bescheideneren Wachstumsraten gewichen sind. Zucker ist weiterhin das wichtigste landwirtschaftliche Exportgut. Zwar wurde seit Beginn der 90er Jahre die bis dahin rückläufige Produktion gesteigert, so dass die von der Europäischen Union und den USA gewährten Exportquoten erstmals wieder erfüllt werden konnten; doch angesichts der hohen Produktionskosten der staatlichen Guyana Sugar Corporation und der bevorstehenden Deregulierung der Märkte gilt die Zuckerproduktion kaum noch als zukunftsträchtig. Aussichtsreicher mochte der Bauxitsektor erscheinen, den die PNC-Regierung unter Hoyte reprivatisierte, nachdem Guyana, in den 70er Jahren einer der weltweit führenden Produzenten von Bauxit, seine Position eingebüßt hatte. Eine der ersten Firmen, die zurückkehrten, war die Reynolds Mining Corporation. Doch als Reynolds von der weltweit führenden Alcoa übernommen wurde, änderte sich die Strategie des Unternehmens, die nunmehr Konflikten mit der Regierung und den Gewerkschaften ausweichen konnte, indem sie, wie 2002 geschehen, ihre Aktivitäten in das benachbarte Suriname verlagerte. Im Jahr 2005 erbrachte Bauxit noch 10% des Bruttoinlandsprodukts und 40% der Exporterlöse, und mit der im selben Jahr als joint venture mit dem kanadischen Unternehmen gegründeten Omai Bauxite Mines Inc. hoffte man, verlorenes Terrain auf dem Weltmarkt zurückzugewinnen. Angesichts der Konkurrenz der Chinesen, die um ca. 30% billiger produzieren, wird sich dies aber kaum realisieren lassen, und Mitte 2006 wurden bereits massive Entlassungen angekündigt.

lange Zeit kaum noch aktuell zu sein, wurde aber vom venezolanischen Präsidenten Hugo Chavez über mancherlei Drohgebärden reaktualisiert. Streitpunkt ist kein kleiner Fleck in der See vor der Küste, sondern die gesamte Essequibo-Region, die mit 150 0 0 0 km 2 etwa 2/3 des guyanischen Staatsgebiets ausmacht. Nach Ansicht der Venezolaner gehörte diese Region zum spanischen Kolonialreich, das in diesem Teil Südamerikas in dem unabhängigen Venezuela aufging. Guyana hingegen vertritt den Standpunkt, dass das Gebiet lange vor der Auflösung des spanischen Kolonialreichs in Südamerika von Niederländern erobert und Anfang des 19. Jahrhunderts an Großbritannien abgetreten wurde, somit als Teil des ehemalischen Britisch-Guayana zum Territorium des daraus hervorgegangenen unabhängigen Guyana gehört.

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Als zukunftsträchtiger mögen sich die Goldförderung und das Schlagen von Nutzhölzern erweisen. Beide Sektoren sind aber in die öffentliche Kritik geraten, da die Umweltschäden als unkalkulierbar gelten. Etwa 70% des nationalen Territoriums sind von Wald bedeckt, der wirtschaftlich nutzbar gemacht werden könnte, doch die Methoden der Abholzung durch die den Sektor dominierenden asiatischen Konzerne erscheinen vielen Kritikern als wenig umweltverträglich. Die Goldförderung, aufgrund der fluktuierenden Weltmarktpreise und des illegalen Abflusses von etwa einem Viertel der Fördermenge ohnehin eine wenig verlässliche Einnahmequelle, birgt aufgrund der Kontaminierung von Böden und Flüssen durch zyanidhaltige Rückstände gleichermaßen unkalkulierbare Risiken. 62 Ein kritisches Umweltbewusstsein ist in der Öffentlichkeit bislang noch wenig entwickelt, fühlt sich doch die in dem schmalen Küstenstreifen angesiedelte Bevölkerungsmehrheit von den im Landesinnern verursachten Schäden nicht direkt betroffen. Und die direkt Betroffenen, die dort lebenden indianischen Völker — etwa 4% der Gesamtbevölkerung —, verfügen weder im Parlament noch in der Öffentlichkeit über eine Lobby, die ihre Interessen wirksam vertreten könnte. Einzig die mit einer Stimme im Parlament vertretene linksgerichtete Alliance for Guyana (AFG), ein Bündnis der Working People's Alliance (WPA) und der Guyana Labour Party (GLP), hat sich mit Rupert Roopnaraine zum Fürsprecher der indianischen Gruppen gemacht und fordert für die amerindians bei allen Entwicklungsprojekten in oder nahe ihrem Territorium ein Mitsprache- und Vetorecht — eine Forderung, die durchzusetzen nur schwer gelingen wird.

Suriname Die 90er Jahre begannen wie das Jahrzehnt zuvor mit einem Militärputsch, der das Land erneut in ein innenpolitisches Chaos und außenpolitische Isolation zu treiben drohte. Ein Jahrzehnt zuvor war Desi Bouterse angetreten, um mit seiner „Revolutionären Front" gegen das Elitekartell der traditionellen, entlang ethnischen Konflikten konkurrierenden Parteien soziale Reformen

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Den größten Umweltskandal verursachte im Mai 1995 die kanadische O m a i Gold Mines Limited, als in ihrer 160 km südlich der Hauptstadt Georgetown gelegenen Mine, der größten über Tage abgebauten Goldlagerstätte Südamerikas, aufgrund undichter Stellen im Auffangbecken Millionen Liter zyanidhaltiges Wasser in einer weit über den erlaubten

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durchzusetzen. Gescheitert war er sowohl an der eigenen Unfähigkeit, ein konsensfähiges politisches Projekt zu entwerfen, als auch an der Obstruktionspolitik der Eliten und dem Widerstand der Niederlande, die (wie die USA) ihre Finanz- und Wirtschaftshilfe eingestellt hatten. Bevor Bouterse 1987 dem inneren und äußeren Druck nachgegeben und Wahlen zugelassen hatte, war sein Regime durch scharfe Repressionsmaßnahmen wie den gleichzeitigen Niedergang der Wirtschaft so sehr in Misskredit geraten, dass ein baldiges Scheitern seines neuerlichen Putsches abzusehen war. Bereits nach fünf Monaten, im Mai 1991, wurden unter Mitwirkung der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) freie und faire Parlamentswahlen abgehalten, bei denen das Bündnis Nieuwe Front voor Democratie en Ontwikkeling (Neue Front für Demokratie und Entwicklung, NF), das sich im Wesentlichen aus den Parteien zusammensetzte, die 1987 die Wahlen gewonnen hatten, 30 von 51 Sitzen errang. Die Wahl des Staatschefs erwies sich jedoch als schwieriges und langwieriges Verfahren, da der Kandidat der „Neuen Front", Runaldo Ronald Venetiaan, im Parlament nicht die erforderliche Zweidrittelmehrheit errang und sich, wie von der Verfassung vorgesehen, dem Votum der Verenigde Volksvergadering (Vereinigte Volksversammlung), einer aus 895 Mitgliedern bestehenden Versammlung von Parlamentsabgeordneten und Distrikts- sowie Gemeinderäten, stellen musste. Venetiaan erzielte während seiner (ersten) Präsidentschaft durchaus einige Erfolge: Beendigung des von Ronnie Brunswijk angeführten Aufstands der maroons oder bosnegers; Ankurbelung der wirtschaftlichen Aktivitäten und Senkung der hohen Inflationsrate; Vollmitgliedschaft in der Caribbean Community, Wiederaufnahme der Finanzhilfe durch die Niederlande. Doch die von den Niederlanden als Vorleistung für die Wiederaufnahme ihrer Finanzhilfe geforderten — und als unzureichend erachteten - Reformen, darunter Entlassungen im aufgeblähten Verwaltungsapparat ebenso wie Streichungen bei Ausgaben für Sozialleistungen, führten zu massiven Demonstrationen und Streiks, die Bouterse, der im April 1993 als Armeechef zurückgetreten war und sich mit der Nationale Democratische Partij (NDP) eine neue Plattform ge-

Werten liegenden Konzentration in einen Zufluss des Essequibo flössen. Die Mine wurde geschlossen; doch im Februar 1996 nahm die Omai Gold Mines, die als größter ausländischer Investor mit einem Viertel zum Bruttoinlandsprodukt des Landes beiträgt, die Goldförderung wieder auf. Lange galt sie als kaum noch rentabel; doch angesichts des auf dem Weltmarkt gestiegenen Goldpreises mag sich auch für die Omai ein stärkeres Engagement wieder als lohnenswert erweisen.

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schaffen hatte, anlässlich der Wahlen im Mai 1996 zu nutzen wusste. Aufgrund ihres enormen Popularitätsverlusts gewann das Bündnis der „Neuen Front" nur noch 24 der 51 Parlamentssitze. Bouterses NDP errang mit 16 Sitzen (= 2 6 % der Wählerstimmen) das beste Ergebnis für eine einzelne Partei, und ihm gelang, bei der abermals erforderlichen Abstimmung in der Vereinigten Volksversammlung mit Jules Wijdenbosch, ehemals Premierminister unter Bouterse und Vizepräsident der NDP, seinen Kandidaten für das Präsidentenamt durchzusetzen. Wijdenboschs Koalitionsregierung erwies sich als wenig stabil, und selbst die immer wieder erforderlichen Kabinettsumbildungen änderten nichts an ihrer Handlungsunfähigkeit. So kam es im Mai 2000 zu vorgezogenen Neuwahlen, bei denen Ronald Venetiaan mit seinem Parteienbündnis Niewe Front fast 50% der Wählerstimmen und 33 Sitze gewann, während Bouterse, der dieses Mal ebenfalls in einem Parteienbündnis antrat, nur 10 Sitze erringen konnte. Bei den bislang letzten Parlamentswahlen im Mai 2005 wurde Venetiaan mit seiner „Neuen Front" im Amt des Staatspräsidenten bestätigt, verlor aber 10 Sitze, während Bouterse mit seiner NDP wieder 5 Sitze hinzugewinnen konnte. Seit Beginn der 90er Jahre war die Möglichkeit, dass Bouterse nunmehr demokratisch legitimiert erneut an die Macht kommen könnte, ein innen- wie außenpolitisch brisanter Faktor. Die Niederlande hatten keinen Zweifel daran gelassen, dass sie in einem solchen Fall ihre Finanz- und Wirtschaftshilfe (erneut) einstellen würden - eine Drohung, die sie auch dann als Druckmittel einsetzten, wenn es galt, die Regierungen zu notwendigen Reformen und einer gezielten Entwicklungsstrategie zu zwingen. Reformen zwecks Abbau der hohen Staatsverschuldung und Stabilisierung der Währung wurden inzwischen eingeleitet; und seit Beginn des neuen Jahrtausends kann insbesondere aufgrund ausländischer Investitionen im Bergbau mit einem bescheidenen, aber kontinuierlichen Wirtschaftswachstum gerechnet werden. Die drängendsten sozialen Probleme aber wurden nicht gelöst. Von den knapp 500 000 Surinamern leben 7 0 % unterhalb der Armutsgrenze in einem Land, das wie kaum ein anderes in der Region reich ist an natürlichen Ressourcen: Bauxit, Gold, Erdöl, möglicherweise auch Diamanten, wie jüngste geologische Untersuchungen vermuten lassen. Doch die Lagerstätten sind in der Regel schwer zugänglich, ihre Erschließung kostenaufwendig und ohne ausländisches Kapital nicht zu bewerkstelligen. Die gegenwärtig erreichte innenpolitische Stabilität ist eine Voraussetzung für ausländische Investitionen. Desi Bouterse aber bleibt weiterhin als politi-

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sches Schwergewicht ein Faktor, der sowohl die interne Auseinandersetzung als auch das Verhältnis zu den Niederlanden belastet. Im Jahr 2000 war er von einem niederländischen Berufungsgericht wegen Drogenhandels in Abwesenheit zu einer hohen Gefängnisstrafe verurteilt worden, doch hatte sich Suriname geweigert, ihn an die Niederlande auszuliefern. Seit März 2005 wird in Suriname selbst gegen ihn ermittelt mit dem Ziel, ihn für die im Dezember 1982 erfolgte Exekution von 15 prominenten Oppositionellen vor Gericht zu stellen - ein Verfahren, von dem allerdings kaum jemand erwartet, dass es zu einer Verurteilung Bouterses fuhren wird. Belize Das in Zentralamerika gelegene, im Westen und Süden an Guatemala und im Norden an Mexiko grenzende Belize besitzt innerhalb der Region eine geographische Randlage. Aufgrund historischer Gemeinsamkeiten ist die ehemalige britische Kronkolonie (Britisch-Honduras) traditionell an die anglophone Karibik angebunden, doch aufgrund der mittlerweile weitgehenden wirtschaftlichen Verflechtung mit den USA ist der Einfluss Großbritanniens stark zurückgegangen. Aufgrund der massiven Zuwanderung von Flüchtlingen vor allem aus Guatemala und El Salvador hat sich zudem seit den 80er Jahren die Zusammensetzung der Bevölkerung in der Weise verändert, dass die mestizos, die 1980 nur knapp über 30% der Gesamtbevölkerung ausmachten, nun mit fast 50% gegenüber den creoles, den Nachfahren der einst von den britischen Siedlern eingeführten Sklaven, die Bevölkerungsmehrheit stellen. 63 Das seit Beginn der Kolonisierung wichtigste Exportgut waren Edelhölzer. Seit den 60er Jahren gelang mit dem Anbau von Zuckerrohr, Bananen und Zitrusfrüchten eine weitgehende Diversifizierung der Landwirtschaft, die etwa 70% der Exporterlöse erwirtschaftet. Einen beachtlichen Zuwachs erlebte auch der Fremdenverkehr, der auf die besondere Attraktivität der natürlichen Ressourcen des Landes setzt und verstärkt Programme anbietet, über die Tourismus mit wissenschaftlicher Forschung verknüpft wird. Und schließlich ge-

63 Zu den Kreolen zählen nicht die Garifunas oder Black Caribs, die aus der Verbindung von schwarzen Sklaven und Indios hervorgingen und etwa 7 % der Gesamtbevölkerung ausmachen. Ihre Vorfahren waren Ende des 18. Jahrhunderts durch die Engländer von St. Vincent auf die Roatan-Insel im Golf von Honduras deportiert waren. Von dort aus gründeten sie Anfang des 19. Jahrhunderts Siedlungen im südlichen Teil des heutigen Belize, wo sie ihre kulturelle Eigenständigkeit weitgehend bewahren konnten.

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lang, über das Economic Citizenship Investment Programme neue, finanzkräftige Staatsbürger anzuwerben, insbesondere Taiwanesen und Hongkong-Chinesen, die gegen Zahlung von 40 000 US-$ pro Person oder 50 000 US-$ pro Familie die belizische Staatsangehörigkeit erwerben konnten - ein Programm, das der Regierung allein im Jahr 2001 6 Millionen US-$ einbrachte, das aber innerhalb der Bevölkerung zu wachsenden Ressentiments führte und im Februar 2002 eingestellt wurde. Die endemischen Probleme des Landes hatte das Programm ohnehin nicht zu lösen vermocht. Da die Exporterlöse nur zwei Drittel der Importe decken, ist die Handelsbilanz permanent defizitär; und aufgrund einer wenig effizienten Geld- und Steuerpolitik hatte bislang jede Regierung mit einem hohen Haushaltsdefizit zu kämpfen. Ein weiteres Problem ist die hohe Arbeitslosigkeit, die in der Vergangenheit zu einer massiven Abwanderung in die USA führte, Mitte der 90er Jahre durch das vom Internationalen Währungsfonds verordnete Strukturanpassungsprogramm noch verschäft wurde und wesentlich dafür verwantwortlich ist, dass in den Städten und insbesondere in der Hafenstadt Belize City die Drogenkriminalität bis dahin unvorstellbare Ausmaße angenommen hat. Das Hinterland ist noch weitgehend geprägt von Subsistenzwirtschafit und traditioneller Lebensweise, doch ist durch unkontrolliertes Abholzen und Brandrodung ebenso wie durch die mit der touristischen Erschließung einhergehenden Bodenspekulation vor allem der Lebensraum der Mayas bedroht, die 11 % der Bevölkerung ausmachen und sich erst in jüngster Zeit, insbesondere über die auch international wahrgenommenen Aktivitäten des Toledo Maya Cultural Council, zur Wehr setzen. Die politische Szene beherrschen seit der 1981 erlangten Unabhängigkeit zwei Parteien, die sich hinsichtlich ihres Programms kaum voneinander unterscheiden und die über vier Legislaturperioden einander in der Regierungsverantwortung ablösten: die 1950 gegründete People's United Party (PUP), die unter George Price die Zeit vor der Unabhängigkeit dominiert hatte, und die 1973 durch den Zusammenschluss mehrerer Oppositionsparteien gebildete United Democratic Party (UDP), die unter Manuel Esquivel anlässlich der Wahlen im Juni 1993 - erfolgreich - auf den Territorialkonflikt mit Guatemala setzte, der bereits eine lange Geschichte hat, im Vorfeld der Wahlen aber neuerliche Aktualität gewann.64 1991 war es der PUP-Administration unter

Das seit der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts von Engländern besiedelte Gebiet war 1862 zur britischen Kronkolonie erklärt worden, nachdem Guatemala 1859 den Souveränitätsanspruch Großbritanniens anerkannt hatte. D a aber der von den Engländern als 64

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ihrem Premier George Price gelungen, mit der guatemaltekischen Regierung unter ihrem Präsidenten Jorge Serrano den Konflikt beizulegen, indem Guatemala - gegen das Zugeständnis der Erweiterung seiner Hoheitsgewässer im Karibischen Meer — auf Gebietsansprüche verzichtete und Belize nunmehr als souveränen Staat anerkannte. Doch nach der von Serrano im Mai 1993 provozierten innenpolitischen Krise, die wenig später seinen Sturz bewirkte, wuchs in Belize erneut die Furcht vor einer Bedrohung durch den Nachbarn, zumal in Guatemala die neue Regierung verkündete, man würde Serrano, der Belize ohne das von der Verfassung vorgeschriebene Referendum anerkannt hatte, wegen Verrats unter Anklage stellen. Das in Belize von der oppositionellen UDP geschürte innenpolitische Klima der Unsicherheit, das Ausmaße einer kollektiven Hysterie anzunehmen drohte, wurde noch dadurch verschärft, dass die britische Regierung Monate zuvor verkündet hatte, sie würde ihre seit der Unabhängigkeit im Land stationierte 1 500 Mann starke „Schutztruppe" auf200 Mann reduzieren, und auch angesichts der nunmehr veränderten Lage nicht bereit war, ihre Entscheidung zurückzunehmen. Manuel Esquivel und die United Democratic Party gewannen die Wahlen 1993. Fünf Jahre später wurde die UDP wieder von der People's United Party abgelöst, die nach dem Rücktritt von George Price den vormaligen Außenminister Said Musa zu ihrem Premier erkor und mit diesem im März 2003 erneut die Wahlen gewann. Der Territorialkonflikt mit Guatemala ist seit langem kein Wahlen entscheidender Streitpunkt mehr, haben sich doch die beiden Länder - auch ohne bislang zu einer endgültigen völkerrechtlich bindenden Übereinkunft gefunden zu haben - auf diplomatischem Wege angenähert. Entscheidend für den Ausgang der Wahlen 2003, die der PUP 53% der abgegebenen Stimmen und 22 der 29 Parlamentssitze bescherten, waren eher Fragen, die das nationale Selbstverständnis der belizeans tangieren: zum einen die von der UDP unter Esquivéis Nachfolger, Dean Barrow, favorisierte „Dollarisierung" der Wirtschaft, die von der Mehrheit der Bevölkerung als „Ausverkauf der Nation abgelehnt wird; zum andern die von der PUP propagierte, von der UDP jedoch abgelehnte Änderung der Lehrpläne in den Schulen, die über eine Ausweitung der angebotenen Inhalte der historisch gewachsenen multikulturellen Gegenwart Rechnung tragen soll.

Gegenleistung zugesagte Bau einer Straße von Guatemala-Stadt nach Belize nie verwirklicht wurde, betrachtet Guatemala den damaligen Vertrag als nichtig und fordert - als vorgeblicher Rechtsnachfolger des spanischen Kolonialreichs in Mittelamerika - die Annexion des gesamten Territoriums an das eigene Staatsgebiet.

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Aruba, Niederländische Antillen Bis 1986 Aruba aus der Föderation ausschied, bestanden die Niederländischen Antillen aus sechs Inseln: den „ABC-Inseln" Aruba, Bonaire und Curaçao, die vor der Küste Venezuelas liegen, sowie den drei kleineren „S-Inseln" Saba, Sint Eustatius und Sint Maarten, 65 die, in nord-östlicher Richtung auf der Höhe von Puerto Rico gelegen, etwa 900 km Luftlinie entfernt sind. Die Abspaltung Arubas, der langwierige Verhandlungen mit den Niederlanden vorausgingen, war aus der Sicht der arubanos ein konsequenter Schritt angesichts der nicht nur geographischen Fragmentierung der Föderation. 66 Sie war das Ergebnis auch des sehr unterschiedlichen demographischen, politischen und wirtschaftlichen Gewichts der einzelnen Inseln, das für den solidarischen Zusammenhalt der Föderation nicht förderlich war. Während in Curaçao und Aruba, wo um 1980 fast 90% der etwa 235 000 in der Föderation lebenden Menschen wohnten, durch Raffinierung venezolanischen Erdöls und Errichtung von Freihandelszonen bereits seit den 30er Jahren eine beschleunigte wirtschaftliche Entwicklung gelungen war, hatten Bonaire (9 000 Einw.), Sint Eustatius (1 300 Einw.), Saba (1 000 Einw.) und Sint Maarten (15 000 Einw.) unter ökonomischen Aspekten relativ wenig zu bieten. Dieses Ungleichgewicht spiegelte sich naturgemäß im politischen Kräfteverhältnis: Im Parlament der Föderation verfügten Bonaire und die drei kleinen „S-Inseln" über je einen Sitz, Aruba über 8 und Curaçao über 12 Sitze - letzteres ein sichtbares Zeichen der Vorherrschaft, die Curaçao mit der Hauptstadt Willemstad als Sitz der Zentralregierung in allen administrativen Bereichen ausübte.

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Seit 1648 teilen sich Frankreich und die Niederlande den Besitz der Insel. Zur Föderation der Niederländischen Antillen gehört als Sint Maarten der südliche Teil, zum Departement Guadeloupe als Saint-Martin der nördliche Teil. 66 Die großen ethnisch-kulturellen Unterschiede sind zum einen auf die geographischen, zum andern auf historische Faktoren zurückzuführen. Saba, Sint Eustatius und Sint Maarten wurden vorwiegend von Engländern besiedelt und stehen dem Kulturkreis der anglophonen Nachbarstaaten und -territorien näher als dem der „ABC-Inseln". Aruba, Bonaire und Curaçao, die aufgrund von Migrationsschüben eine große ethnische Vielfalt aufweisen, sind dagegen stärker auf die spanischsprachigen Länder des südamerikanischen Kontinents ausgerichtet. Wie sehr selbst zwischen den einzelnen „ABC-Inseln" das Bewusstsein - oder genauer: die Behauptung - einer spezifischen Identität (oder Differenz) zum Tragen kommt, zeigt sich in der offiziellen, bewusst divergierenden Benennung des auf allen drei Inseln als lingua franca gesprochenen, wesentlich auf dem Spanischen basierenden Kreol: papiamentu in Bonaire und Curaçao, dagegen papiamento in Aruba.

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Bonaire, Saba, Sint Eustatius und Sint Maarten hatten sich in der Vergangenheit für die Aufrechterhaltung der Bindung an die Niederlande ausgesprochen und den Status einer Kronkolonie angestrebt. Curaçao und Aruba hatten dagegen die völkerrechtliche Unabhängigkeit anvisiert, waren sich aber in der Frage einer Föderation uneins. Während Aruba aufgrund partikularer Wirtschaftsinteressen im Zusammenhang mit vor der Küste der Insel vermuteten reichen Erdölvorkommen bereits seit den 70er Jahren separatistische Absichten bekundete, wurden diese von Curaçao energisch bekämpft. Denn, so wurde argumentiert, der Reichtum einer Insel sollte auch den fünf anderen zugute kommen, da nur so die Lebensfähigkeit aller gesichert würde und die für die Zeit nach der Unabhängigkeit anzustrebende „Antillanische Union" überleben könnte. Angesichts der innenpolitischen Turbulenzen wie auch der wirtschaftlichen Krise im seit 1975 unabhängigen Suriname erschien in Aruba wie in Curaçao dann aber kaum noch jemandem die Loslösung von den Niederlanden erstrebenswert. Hinzu kam, dass der Erdölsektor in eine schwere Krise geraten war, so dass in Aruba 1985 die Großraffinerie der Exxon geschlossen wurde und damit das Fundament des relativen Wohlstands verloren ging. So beschränkten sich die arubanos auf die Durchsetzung eines Status aparte, der sie nun nicht mehr an die Föderation band, sie aber weiterhin als autonomer Teil innerhalb des niederländischen Königreichs bestehen ließ. Die Niederlande, die eine Aufspaltung der Föderation unbedingt verhindern und bei der (angestrebten) Entlassung ihrer letzten karibischen Besitzungen in die Unabhängigkeit - entsprechend einem von den Vereinten Nationen aufgestellten Desiderat -

die

existierenden föderativen Strukturen bewahren wollten, mussten sich fugen. Sie knüpften aber die Gewährung des Status aparte an die Bedingung, dass Aruba innerhalb von zehn Jahren, bis zum 1. Januar 1996, die völkerrechtliche Unabhängigkeit verwirklichen sollte - eine Forderung, der sich die arubanos beharrlich widersetzten, bis die Niederlande 1994 einlenkten und die Diskussion um die Frage der Unabhängigkeit auf unbestimmte Zeit vertagt wurde. Aruba und die Niederländischen Antillen sind weiterhin - entsprechend dem 1954 erhaltenen Königreichsstatut - integraler Bestandteil des niederländischen Königreichs. Das Staatsoberhaupt ist die niederländische Königin, vertreten durch einen von dieser ernannten Gouverneur. Sie verfugen über eine weitreichende Autonomie in inneren Angelegenheiten und sind in Den Haag durch einen bevollmächtigten Minister vertreten, der nicht im Parlament, wohl aber im Ministerrat stimmberechtigt ist. Die alle vier Jahre abgehaltenen Parlamentswahlen garantieren eine gewisse politische Stabilität. Doch für die

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Niederländischen Antillen hat sich an der Vorherrschaft Curaçaos nichts geändert, da die Insel im zentralen Parlament über 14 Sitze verfügt, den anderen aber insgesamt nur 8 Sitze zustehen und die einzelnen Inselräte nur sehr beschränkte Kompetenzen haben. Die politische Stabilität ist nicht unbedingt gleichzusetzen mit politischer Kultur, da die Parteien sich ideologisch kaum voneinander unterscheiden und vorrangig inselpartikulare Interessen vertreten, sofern ihre Repräsentanten nicht schlicht darum bemüht sind, über das traditionelle Patronagesystem Wähler an sich zu binden, um den eigenen Machterhalt zu betreiben. Wie wenig der Wählerwille mit dem der Regierenden und der politischen Klasse insgesamt übereinstimmen mochte, zeigte sich in Curaçao anlässlich des im November 1993 zur Statusfrage abgehaltenen Referendums. Die Regierung ebenso wie die meisten politischen Parteien hatten massiv für den Status aparte nach dem Vorbild Arubas geworben; doch nahezu 75% der Wähler stimmten für den Verbleib in der Föderation (und weniger als 1 % fur die Unabhängigkeit). Die wirtschaftlichen Probleme der 80er Jahre sind sowohl in Aruba als auch in Curaçao mittlerweile weitgehend überwunden. In Aruba wurde Anfang der 90er Jahre die Erdölverarbeitung wieder aufgenommen. Der wichtigste Devisenbringer ist heute aber der Tourismus, der seit Mitte der 80er Jahre einen ungeheuren Aufschwung erlebte und gegenwärtig mit ca. 60% zum Bruttoinlandsprodukt beiträgt. In Curaçao wurde neben dem Tourismus auch die verarbeitende Industrie in Freihandelszonen gefördert. Auf beiden Inseln den Sekwar man bemüht, über steuerliche Anreize für offshore-Unternehmen tor der Finanzdienstleistungen auszubauen. Sint Maarten setzte neben dem Tourismus auch auf das Glücksspiel. Beides erlebte einen solchen Boom, dass sich die Insel größten Problemen gegenübersah. Zum einen strömten solche Massen von (zumeist illegalen) Arbeitsmigranten auf die Insel - Anfang der 90er Jahre waren es schätzungsweise 80 000 - , dass die Einheimischen zur bedrohten Minderheit wurden; zum andern wies der Bereich des Glücksspiels und mit ihm die gesamte lokale politische Szene so eklatante mafiose Strukturen auf, dass sich die niederländische Regierung 1992 veranlasst sah, das Finanzgebaren auf der Insel einer strikten Kontrolle zu unterziehen. Gänzlich abgekoppelt von diesen boomenden Erwerbszweigen sind mit Saba und Sint Eustatius die Kleinsten unter den Niederländischen Antillen, die allein durch die Zuschüsse der Zentralregierung und durch die Subventionen der Niederlande (wie auch der Europäischen Union) lebensfähig sind und die sich folglich sowohl gegen die Auflösung der Föderation als auch gegen die völkerrechtliche Unabhängigkeit vehement zur Wehr setzen.

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Sowohl Aruba als auch die Niederländischen Antillen rangieren aufgrund ihres relativ hohen Pro-Kopf-Einkommens unter der von der Weltbank definierten Ländergruppe der high income countries (HIC). Die Vorteile, die sie aus ihrer Abhängigkeit von den Niederlanden beziehen, sind enorm: neben den finanziellen Zuschüssen von Seiten der Niederlande und der Europäischen Union auch jene sicherheitspolitischen Garantien, die ausländische Touristen und Anleger in den abhängigen Territorien der Karibik besonders schätzen, und schließlich die Möglichkeit, in der Metropole ungehindert und jederzeit einer Arbeit nachzugehen. Die auf den Niederländischen Antillen 1993/94 zur Statusfrage abgehaltenen Referenden hatten auf allen fünf Inseln eine eindeutige Mehrheit für den Verbleib in der Föderation erbracht. Die zwischen 2000 und 2005 abgehaltenen neuerlichen Referenden ergaben dagegen eine andere, höchst komplizierte Konstellation: Während allein Sint Eustatius sich für den Erhalt der Föderation aussprach, votierten Bonaire und Saba für den Status einer Kronkolonie und Curaçao sowie Sint Maarten für den Status aparte nach dem Vorbild Arubas. Nach langwierigen Verhandlungen zwischen den Niederlanden und den einzelnen Inseln wurde im November 2005 ein Abkommen unterzeichnet, das nunmehr für den 1. Juli 2007 die Auflösung der Niederländischen Antillen vorsieht. Curaçao und Sint Maarten erhalten, wie gewünscht, den Status aparte; Bonaire, Saba und Sint Eustatius werden jeweils als Konirtkrijkseiland der Krone direkt unterstellt. Die Niederlande befinden sich in einem Dilemma. Einerseits werden sie von den Vereinigten Staaten gedrängt, sich im Kampf gegen Steuerflucht, Geldwäsche und illegalen Drogenhandel administrativ und militärisch stärker in der Region zu engagieren. Andererseits sind sie seit den 60er Jahren bemüht, aufkeimende Unabhängigkeitsbestrebungen zu fördern - dies auch mit der Aussicht, die anhaltende Zuwanderung von Menschen aus ihren (ehemaligen) Kolonien zu stoppen. Anfang der 90er Jahre hatten sich die Niederlande gegenüber ihren karibischen Besitzungen verpflichtet, diese nur dann in die Unabhängigkeit zu entlassen, wenn sich in einer Volksabstimmung eine klare Mehrheit und im Rat jeder Insel 2/3 der Ratsmitglieder für diese aussprechen sollten. Ein solches Ergebnis erwartet niemand. So ergibt sich die paradoxe Situation, dass den Niederlanden ihre Bereitschaft, entsprechend der UN-Resolution von 1960 „den Kolonialismus in allen Erscheinungsformen schnell und bedingungslos zu beenden", von den Betroffenen als Ausdruck kolonialistischer Willkür interpretiert wird.

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Guadeloupe, Martinique, Französisch-Guayana Eine ganz andere Politik als die Niederlande verfolgte Frankreich, die dritte in der Karibik vertretene (ehemalige) europäische Kolonialmacht, deren Besitzungen - Guadeloupe 67 und Martinique (= Antilles Françaises) sowie Französisch-Guayana {Guyane Française) - als „Uberseedepartements" (Départements d'Outre-Mer, DOM's) seit 1946 der Metropole gleichgestellt sind. „Die französischen Departements in Amerika", so die Leitlinie des ehemaligen französischen Staatspräsidenten Valéry Giscard d'Estaing, sollten das „Schaufenster" Frankreichs sein, ein Musterbeispiel dessen, „was die französische Gesellschaft im Bereich von wirtschaftlichem Fortschritt, sozialer Gerechtigkeit und demokratischer Freiheit zu leisten imstande ist". Für die Kritiker „assimilationistischer" Politik sind die DOM's jedoch schlichtweg eine unterentwickelte Region mit einem überentwickelten Lebensstil; oder, wie es der aus Martinique gebürtige Dichter und Politiker Aimé Césaire formulierte: „Die französischen Antillen haben für einen vollen Bauch ihre Seele verkauft." Der Lebensstandard der Menschen insbesondere auf den Antillen ist in der Tat eher mit dem europäischer Staaten zu vergleichen als mit dem der karibischen Nachbarn. So ist das Pro-Kopf-Einkommen von Martinique und Guadeloupe etwa dreimal so hoch wie das von Dominica, sind die Sozialleistungen entsprechend dem französischen Standard für die Region geradezu vorbildlich, so dass selbst die Arbeitslosen besser gestellt sind als der durchschnittliche Arbeitnehmer in den Nachbarstaaten. Doch der relative Wohlstand beruht nicht auf der Produktivkraft der einheimischen Wirtschaft, sondern ist weitgehend artifiziell, geschaffen durch die enormen Summen, mit denen die Metropole über die staatliche Fürsorge und Subventionen ihre DOM's als „Schaufenster" der französischen Zivilisation in Amerika zu erhalten sucht. Vorherrschend war auf den französischen Antillen, bis Anfang der 60er Jahre eine Landreform durchgeführt wurde, der kolonialzeitliche Typus der Plantagenwirtschaft, in der nur wenige Familien von békés auf Martinique und blancs créoles auf Guadeloupe über den größten Teil der landwirtschaftlichen Nutzfläche verfügten. Seitdem hat der Agrarsektor an Bedeutung verloren, so dass er heute nur noch mit weniger als 10% zum Bruttoinlandsprodukt bei-

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Neben den beiden Hauptinseln Basse-Terre und Grande-Terre, die nur durch einen schmalen Wasserarm voneinander getrennt sind, gehören zum Departement Guadeloupe die Inseln La Désirade, Les Saintes, Marie-Galante, Saint-Barthélémy und der Norden von Saint-Martin/Sint Maarten.

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trägt, Nahrungsmittel in großem Umfang importiert werden müssen und selbst bei den traditionellen Exportgütern wie Zucker und Bananen die von der Europäischen Union garantierten Abnahmequoten nicht erfüllt werden können. Überdimensional gewachsen ist der Dienstleistungssektor, der zwischen 70 und 80% des Bruttoinlandsprodukts erwirtschaftet, wobei neben dem Tourismus dem Außenhandel besonderes Gewicht zukommt, da etwa 90% der Verbrauchsgäter (vorrangig aus Frankreich) importiert werden — Einfuhren, die zu einem immens hohen, nur durch Subventionen der Metropole auszugleichenden Handelsbilanzdefizit fuhren, da nur etwa 10% durch Ausfuhren gedeckt sind. In Französisch-Guayana ist die Abhängigkeit von der Metropole noch gravierender, denn die klimatischen Bedingungen in dem zu 90% von tropischem Regenwald bedeckten département auf dem südamerikanischen Kontinent ebenso wie der Makel, der mit dem ehemaligen Status von Cayenne als Strafkolonie verbunden war, verhinderten eine intensive Besiedlung und Erschließung der natürlichen Ressourcen (tropische Hölzer und Mineralien). Die von metropolitanen Franzosen dominierte wirtschaftliche Aktivität erschöpft sich weitgehend im - allerdings auch hier florierenden — tertiären Sektor: Verwaltung, Handel und schließlich die Dienste des in den 60er Jahren zunächst mit nur geringem Erfolg aufgebauten, dann Mitte der 70er Jahre für das Programm der europäischen Trägerrakete .Ariane" reaktivierten Weltraumzentrums Kourou. Als Anfang der 80er Jahre unter François Mitterand und den Sozialisten eine begrenzte Dezentralisierung und Regionalisierung des französischen Staatsgebiets eingeleitet wurde, eröffnete sich fur die DOM's die Möglichkeit einer stärkeren Kontrolle über die zugewiesenen Finanzmittel und damit auch die Möglichkeit einer autozentrierten wirtschaftlichen Entwicklung. Doch bislang wurde nur wenig erreicht, führten auch die Ansätze zu einer regionalen Integration - etwa durch eine Annäherung an die Caribbean Community — zu kaum spürbaren Ergebnissen. Und selbst die Einsicht in die Vorteile einer stärkeren wirtschaftlichen Kooperation allein zwischen Guadeloupe und Martinique, von der Metropole gewiss nicht gefördert, konnte die lokalen Politiker nicht dazu bewegen, den traditionellen Antagonismus zwischen martiniquais und guadeloupéens zu überwinden. Die Krise im Agrarsektor hatte ab den 50er Jahren zu einer massiven Landflucht geführt, und wer in den Städten keine Arbeit fand, ging in die Metropole, wo 1982 bereits 180 000 antillais lebten, die, von staatlichen Agenturen angeworben, vorzugsweise im öffentlichen Dienst eine Anstellung fanden. Heute lebt von den etwa 1 Million domiens der Kari-

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bik ein Viertel in Frankreich. Da sich dort aber das soziale Klima seit den 80er Jahren verschärft hat, sind heute viele, in den bidonvilles um Paris marginalisiert, ebenso von Arbeitslosigkeit betroffen wie etwa ein Viertel der aktiven Bevölkerung in den DOM's. Die wirtschaftliche Krise führte in der jüngeren Vergangenheit sowohl in Guadeloupe als auch in Martinique sporadisch zu Streiks und - gelegentlich auch gewalttätigen - Demonstrationen. Eine Änderung des Status aber steht nicht ernsthaft zur Debatte. So konnten die verschiedenen nach völkerrechtlicher Unabhängigkeit strebenden politischen Gruppierungen bei Wahlen in Guadeloupe und Martinique einen nur geringen, in Französisch-Guayana einen maximal 10%igen Stimmenanteil erzielen. Besonders deutlich wurde diese Haltung anlässlich der Präsidentschaftswahlen 1981, bei denen François Mitterand im gesamten französischen Staatsgebiet fast 52%, in den DOM's hingegen nur etwa 20% der abgegebenen Stimmen erhielt, da man die Sozialisten verdächtigte, sich auf lange Sicht der teuren Überseedepartements entledigen zu wollen. Bei den Wahlen zu den im Zuge der von Mitterand eingeleiteten Dezentralisierung geschaffenen Regionalparlamenten im Februar 1983 gelang es den Sozialisten dann aber, wenn auch mit knapper Mehrheit, in Guayana und Martinique den Ratspräsidenten zu stellen, und nur in Guadeloupe siegte die konservative Opposition mit einem Vorsprung von einem Mandat. Heute verdächtigt kaum noch jemand die Sozialisten, die französischen Departements in Ubersee „im Stich lassen" und einer ungeliebten Unabhängigkeit entgegenführen zu wollen. Bei den Wahlen zum Conseil Général und zum Conseil Régional — ihre Präsidenten stehen in den DOM's an der Spitze der regionalen Verwaltung - spielen neben traditionellen Parteien der Metropole lokale Gruppierungen eine besondere Rolle, wobei sich in den beiden Ratsversammlungen durchaus unterschiedliche Mehrheiten bilden können, so dass nicht selten Rivalitäten zwischen ihren Präsidenten die politische Arbeit beeinträchtigen.68 Bei den Wahlen zum französischen Staatspräsidenten - er wird vor Ort durch einen von ihm ernannten Präfekten vertreten - und zur

68 Bei einem im Dezember 2 0 0 3 in Guadeloupe und Martinique abgehaltenen Referendum wurde über eine mögliche Z u s a m m e n l e g u n g der beiden Ratsversammlungen abgestimmt; das Ergebnis: In Guadeloupe votierten 7 3 % , in Martinique knapp über 5 0 % der Wähler dagegen. Gleichzeitig entschieden sich die Bewohner von Saint-Barthélemy und Saint-Martin für den künftigen Status einer vom Departement G u a d e l o u p e unabhängigen

Collectivité d'Outre-Mer.

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französischen Nationalversammlung - in ihr stellen Guadeloupe und Martinique je vier, Französisch-Guayana zwei Abgeordnete — gilt im allgemeinen eine gewisse Loyalität gegenüber dem jeweils amtierenden Staatsoberhaupt und seiner Partei. Allerdings mögen auch hier lokale bzw. regionale Akzente gesetzt werden, auch wenn sie nur als symbolisch tragfähiger Ausdruck des politischen Willens gelten können: etwa anlässlich der Präsidentschaftswahlen 2002, als sich mit Christiane Taubira eine Kandidatin aus Französisch-Guayana aufstellen ließ, die beim ersten Wahlgang insgesamt gerade knapp über 2% der abgegebenen Stimmen erhielt, für die aber in Martinique 28%, in Guadeloupe 37% und in Französisch-Guayana sogar 53% der Wähler votierten - um dann im zweiten Wahlgang mit einer Mehrheit von 90 bis 96% für den amtierenden Jacques Chirac zu stimmen. Die Wahlbeteiligung lag bei den letzten Präsidentschaftswahlen in allen drei Departements unter 50%. Noch geringer war das Interesse anlässlich der Wahlen zum Europäischen Parlament im Juni 2004, als gerade mal zwischen 14% (Französisch-Guayana) und 18% (Martinique) der Stimmberechtigten an die Urnen gingen. Wenig mehr, zwischen 22 und 29%, beteiligten sich an dem im Jahr darauf abgehaltenen Referendum zur Europäischen Verfassung; doch im Gegensatz zur Metropole, in der fast 55% der Stimmberechtigten gegen die Verfassung votierten, stimmten in den DOM's zwischen 59% (Guadeloupe) und 69% (Martinique) dafür. Europa hat den Uberseedepartements (noch) einiges zu bieten: neben Abnahmegarantien für die traditionellen Exporte auch Fördermittel für regionale Entwicklungsprogramme. Doch weder die Subventionen der Metropole noch die der Europäischen Union werden die DOM's aus der gegenwärtigen Stagnation herausführen. Bleibt die Möglichkeit einer verstärkten regionalen Kooperation, zu der die ersten Ansätze - vielleicht mit der Aussicht auf einen föderativen Zusammenschluss - unternommen sind.

Puerto Rico (Estado Libre Asociado de Puerto Rico/ Commonwealth of Puerto Rico) Die ehemals spanische Kolonie mit dem Status eines Estado Libre Asociado69 (ELA; Free-Associated State oder Commonwealth of Puerto Rico) erreichte gleich

69 Puerto Rico befindet sich im Besitz der USA, ist aber als unincorporated territory nicht Teil der USA. Die Puertoricaner verfügen über eine weitgehende innere Autonomie; auf

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den französischen Überseedepartements als „Schaufenster" einer Industrienation über staatliche Förderungs- und Sozialhilfeprogramme ein durchschnittliches P r o - K o p f - E i n k o m m e n , das weit über dem der unabhängigen Staaten der hispanoamerikanischen Welt liegt. 7 0 D o c h die vor über einem halben Jahrhundert eingeleitete „Operation Bootstrap" oder „Operacion M a n o s a la O b r a " , die zunächst ein enormes Wirtschaftswachstum bewirkte, verstärkte aufgrund der einseitig an den Interessen der Vereinigten Staaten ausgerichteten Entwicklung die strukturellen Mängel der einheimischen Wirtschaft und damit die Abhängigkeit von den U S A , die einem neokolonialen Status gleichkommt. Seit der O k k u p a t i o n 1 8 9 8 hatte die traditionelle Agrarstruktur durch die von US-amerikanischen Wirtschaftsinteressen diktierte Umstellung von Kaffee- a u f Zuckerrohranbau eine tiefgreifende Erschütterung erfahren. Als dann die U S A billigere Quellen für ihren Zuckerbedarf entdeckten, wurde der Agrarsektor weitgehend aus dem Förderprogramm gestrichen und stattdessen in der Schwerindustrie, insbesondere in der petrochemischen sowie in der pharmazeutischen Industrie investiert. Das Kernstück der forcierten Industrialisierung waren neben niedrigen L ö h n e n und Bereitstellung einer adäquaten Infrastruktur fiskalische Anreize für US-amerikanische Investoren, die von Bundessteuern befreit wurden und denen überdies der zollfreie Zugang zum US-amerikanischen M a r k t garantiert war. Zwischen 1 9 6 0 und 1 9 7 8 stiegen die Investitionen US-amerikanischer U n t e r n e h m e n in Puerto R i c o von 1,4 a u f 2 0 Milliarden Dollar. I m selben Zeitraum erlebte das Bruttosozialprodukt spektakuläre Wachstumsraten, so dass es sich mehr als verfünffachte. D o c h die G e w i n n e , sofern sie nicht (steuerfrei) abgezogen wurden, kamen nur einer Minderheit zugute. U n d indem statt arbeitsintensiver Industrien gezielt kapitalintensive Industrien angeworben wurden, verschärfte sich das Problem von Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung, so dass weite Teile der Bevölkerung nur dank staatlicher Hilfsprogramme überleben konnten. W i e viele Menschen von A r m u t betroffen waren, ergibt sich aus der Zahl derer, die entsprechend den in Washington festgelegten Standards Anspruch a u f Sozialleistungen hatten: im Jahr 1 9 7 3 insgesamt 7 5 % der puertoricanischen Bevölkerung, für die

bundespolitischer Ebene sind ihre Einflussmöglichkeiten gering, da sie von den Präsidentschaftswahlen ausgeschlossen und im Kongress nur durch einen nicht stimmberechtigten Resident Commissioner vertreten sind. 70 Setzt man aber das Pro-Kopf-Einkommen Puerto Ricos in Relation zu dem US-amerikanischer Bundesstaaten, so entsteht ein anderes Bild, denn es beträgt weniger als die Hälfte des Pro-Kopf-Einkommens von Mississippi, nach offizieller Statistik der ärmste Bundesstaat der USA.

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sich 1974/75 die Kosten von 24 auf 800 Millionen Dollar erhöhten. Wer nicht mit Unterstützung rechnen konnte, dem blieb nur die Möglichkeit der Abwanderung auf den Kontinent, wo bereits um 1976 2,5 Millionen Puertoricaner lebten. In den 70er Jahren geriet das puertoricanische Wirtschaftsmodell in eine Krise, die sich seitdem dadurch verschärfte, dass der US-amerikanische Kongress beschloss, durch die Eliminierung des Passus 936 der Bundessteuernund Abgabenverordnung die fiskalischen Anreize für Unternehmen auslaufen zu lassen und ab 2006 ganz zu streichen. Wie diese Krise zu bewältigen war und ist, darüber herrschte damals wie heute unter den einheimischen Politikern wenig Einigkeit. Der Partido Populär Democrdtico (PPD), dessen Gründer Luis Munoz Marin fast drei Jahrzehnte die Politik Puerto Ricos geprägt und 1952 den ELA-Status durchgesetzt hatte, plädiert traditionell für dessen Beibehaltung, ist aber bemüht, ihn (auf nicht näher definierte Weise) zu erweitern bzw. zu „vollenden". Die zweite führende politische Kraft, der Partido Nuevo Progresista (PNP), verfolgt dagegen die estadidad- oder statehood-Lösung und damit die Eingliederung Puerto Ricos in den Staatenbund der USA als 51. Bundesstaat. Eine Mehrheit für die eine oder andere Option ist auch heute nicht auszumachen. Doch gewann die statehood-Lösxmg seit den 60er Jahren kontinuierlich an Attraktivität, dies nicht nur bei der Großbourgeoisie und den oberen Mittelschichten, sondern auch unter den Armen und Ärmsten, denen der P N P suggerierte, mit der estadidad würde der Zufluss an Bundesmitteln aus Hilfsprogrammen, auf die man dann zusätzlich Anspruch hätte, unermesslich sein. Die Status-Frage ist in der innenpolitischen Auseinandersetzung das alles beherrschende Thema. Sie stand nicht nur bei Referenden zur Diskussion, sondern beeinflusste auch Parlaments- und Gouverneurswahlen, wobei allerdings eine Wahlentscheidung nicht immer direkte Rückschlüsse auf die Haltung der Wähler in der Status-Frage zulässt. 1952 war die neue Verfassung (bei einer Stimmenthaltung von 41%) von etwas über 80% derer, die ihre Stimme abgaben, angenommen worden. 1967 hatten sich bei einem Referendum 60% für den bestehenden ELA-Status und 39% für die statehood-Lösung ausgesprochen, womit die estadistas gegenüber den Gouverneurswahlen von 1952 ihren Stimmenanteil um das Dreifache erhöhen konnten, aber dennoch klar unterlegen waren. Bei den 1968 abgehaltenen Wahlen siegten zum ersten Mal in der Geschichte Puerto Ricos die Befürworter der estadidad, doch war der Triumph des Partido Nuevo Progresista im Wesentlichen auf die internen Streitigkeiten des Partido Populär Democrdtico zurückzuführen. Bereits 1972 er-

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folgte mit dem Wahlsieg der populares ein neuerlicher Wechsel der Regierungspartei, da sich die novoprogresistas durch massive Korruptionsskandale in Misskredit gebracht hatten. Seitdem hat sich die wechselseitige Ablösung von PPD und PNP im Abstand von zwei Legislaturperioden gewissermaßen institutionalisiert; und ein eindeutiges Mehrheitsvotum hinsichtlich der Status-Frage war bislang auch nicht über Volksentscheide zu erreichen. Der 1992 und 1996 ins Gouverneursamt gewählte Pedro Rosselló vom PNP hatte ein solches endgültiges Votum erzwingen wollen, indem er 1993 und noch einmal 1998 ein Referendum anberaumte. Die Gouverneurswahlen 1992 hatte Rosselló mit 49,9% - gegenüber 45,9% für Victoria Muñoz Mendoza, die Tochter des PPD-Gründers gewonnen. Bei dem ein Jahr später anberaumten Referendum votierten aber nur 46,3% für die von Rosselló favorisierte estadidad, dagegen 48,6% für die Beibehaltung des ELA-Status. 1996 wurde Rosselló mit sensationellen 51,1% der abgegebenen Stimmen wiedergewählt; doch das Referendum zur StatusFrage zwei Jahre später erbrachte der statehood-Lösung einen Stimmenanteil von nur 46,5%, womit das Ergebnis des vorherigen Volksentscheids bestätigt wurde. Die Wahlen vom November 2000, bei denen Rosselló nicht wieder kandidierte, brachten erneut einen Wechsel der Regierungspartei und beförderten mit der Bürgermeisterin von San Juan, Sila María Calderón, zum ersten Mal eine Frau in das Gouverneursamt. Die Gründe für die Niederlage des PNP waren vielfältig: Misswirtschaft und Korruption in hohen Regierungskreisen; Anstieg der Arbeitslosenzahl infolge der Abwanderung von Industriebetrieben und Privatisierung von Staatsunternehmen; Anstieg auch des illegalen Drogenhandels und -konsums wie der gewöhnlichen Kriminalität, die San Juan den zweifelhaften Ruf einbrachte, nach Washington die Stadt der USA mit der höchsten Kriminalitätsrate zu sein. Der allseits spürbaren Krise wirkungsvoll zu begegnen, gelang der Gouverneurin Calderón nicht. Doch erschien anlässlich der Gouverneurswahlen im November 2004 der wieder kandidierende Pedro Rosselló auch nicht als mehrheitsfähige Alternative, so dass mit Aníbal Acevedo Vilá erneut der Kandidat des Partido Popular Democrático zum Gouverneur gewählt wurde - dies allerdings mit einem Vorsprung von gerade mal 0,2% oder wenig mehr als 3 500 Stimmen. Puerto Rico gilt heute nicht mehr als entwicklungspolitisches Modell, und die anvisierten Alternativen zu den ausgelaufenen fiskalischen Vergünstigungen im Industriebereich - stärkere Diversifizierung der nationalen Produktion sowie Gewährung eigener Steuervergünstigungen und direkter Zuschüsse -

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D i e Karibik

werden kaum ausreichen, um den strukturellen Fehlentwicklungen entgegenzuwirken. Die Puertoricaner verfügen zwar über eine den US-Standards angepasste medizinische und schulische Versorgung; doch verdankt die Wirtschaft ihre hohen Wachstumsraten nicht einer an den eigenen Ressourcen und Bedürfnissen orientierten autonomen Entwicklung, wurden die Klassengegensätze nicht überwunden, hat sich die Armut im Vergleich mit den US-amerikanischen Bundesstaaten noch verschärft. Profitiert haben zweifellos die Mittelschichten. Sie repräsentieren heute den American Way ofLife in seinem „show window looking south": Fassade und Illusion eines Wohlstands, der mit ca. 10 Milliarden Dollar jährlich subventioniert wird und sich im Konsum importierter, in gigantischen Supermärkten feilgebotener Waren niederschlägt. Oder, wie es schon Anfang der 60er Jahre der Sozialwissenschaftler Gordon K. Lewis auf den Punkt brachte: „Es handelt sich um eine koloniale Wirtschaft, die produziert, was sie nicht konsumiert, und die konsumiert, was sie nicht produziert." Eine Lösung in der Diskussion um den in allen politischen Lagern als unbefriedigend erachteten Status Puerto Ricos ist nicht in Sicht. Die völkerrechtliche Unabhängigkeit, für die bei den Wahlen 1952 noch 19% der stimmberechtigten Puertoricaner votierten, erscheint heute nur noch etwa 5% als mögliche Alternative. Die Beibehaltung des status quo, bislang die einzige mehrheitsfähige Option, bringt zweifelsohne finanzielle Vorteile. Doch herrscht weithin Enttäuschung darüber, dass es nicht gelang, die Bundesregierung zu weiteren Zugeständnissen in Richtung auf eine größere Autonomie Puerto Ricos zu bewegen - etwa durch die Möglichkeit von Handelsbeziehungen auch mit anderen Staaten der Region. Und Enttäuschung herrscht bei den Befürwortern der statehood-Lösung darüber, dass der US-amerikanische Kongress bislang wenig Neigung zeigte, Puerto Rico die Möglichkeit, in den Staatenbund als vollwertiges Mitglied aufgenommen zu werden, auch nur in Aussicht zu stellen. Der Umstand, dass jede Status-Änderung der Zustimmung des Kongresses bedarf und dieser sich bereits im Vorfeld eines jeden Referendums weigerte, das Ergebnis, wie immer es ausfallen würde, anzuerkennen, frustriert alle politischen Lager. Einig sind sie sich in einem weiteren Punkt: der Behauptung ihrer nationalen Identität und kulturellen Eigenständigkeit. Denn Puerto Rico sieht sich als Teil Hispanoamerikas, geprägt durch das gemeinsame spanische Kulturerbe ebenso wie die spanische Sprache, die - ebenso wie das eigene Olympische Komitee — selbst den Befürwortern der statehood-Lösung als „nicht verhandelbar" gilt.

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DIE

OFFENSIVE

DER U S A :

VOM

KALTEN

KRIEG

Z U R PAX

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AMERICANA

Die Politik der USA gegenüber den Staaten der Karibik, seit dem SpanischAmerikanischen Krieg 1898 von hegemonialen Bestrebungen diktiert, verweist auf eine bis heute ungebrochene Kontinuität geostrategischer und wirtschaftspolitischer Interessen, auch wenn sich seit Beginn der 90er Jahre die Prioritäten der US-amerikanischen Außen- und Wirtschaftspolitik gewandelt haben und die Karibik an Bedeutung verloren hat. Der von den Vereinigten Staaten dekretierte weltweite „Kampf gegen den Terror" wird militärisch im Nahen Osten ausgefochten. Sicherheitspolitische Belange in der Karibik sind nur noch nachgeordnet, bleiben aber dort relevant, wo die Bekämpfung von Drogenschmuggel und illegaler Migration zu einem akuten Problem wird. Bei der Durchsetzung einer von den USA dominierten Weltwirtschaftsordnung71 liegt deren vorrangiges Interesse auf der Erschließung neuer Märkte etwa in Osteuropa oder den Schwellenländern auf dem lateinamerikanischen Kontinent. Die Inselstaaten der Karibik sind in diesem Zusammenhang von nur geringer Bedeutung, da die Ausfuhren der USA in die Region weniger als 2% ihres Gesamtexports ausmachen. Dessen ungeachtet suchen die USA auch in der Karibik ihre wirtschaftliche Vormachtstellung gegen die Konkurrenz insbesondere der Europäischen Union zu verteidigen und zu untermauern, wobei dieses Konkurrenzverhältnis bewirkte, dass durch den Druck der mächtigen Agrarlobby im US-amerikanischen Kongress seit Jahren mit zunehmendem Stimmenanteil für die Abschaffung des vor über 45 Jahren gegen Kuba verhängten Handelsembargos votiert wird. Das Kuba Fidel Castros war für die Vereinigten Staaten seit Anfang der 1960er Jahre eine Obsession, die sie ihre ansonsten proklamierten Bemühungen um Freiheit und Demokratie zurückstellen ließ. Arthur M. Schlesinger Jr., ein enger Berater Präsident Kennedys, berichtet in A Thousand Days: John F. Kennedy in the White House (1965), dieser habe nach der Ermordung des dominikanischen Diktators Trujillo 1961 die strategischen Ziele der US-amerikanischen Außenpolitik auf folgende Weise umrissen: „Es gibt drei Möglich-

71 Dieses Ziel verfolgte schon das unter der Bezeichnung „Washington Consensus" gefasste, in den 80er Jahren vom Internationalen Währungsfonds und der Weltbank den Ländern der Region verordnete neoliberale wirtschafts- und finanzpolitische Reformprogramm, das eine schrittweise Integration der Entwicklungsländer in den Weltmarkt bewirken sollte, für diese aber weder zu einer Reduzierung der Armut noch zu einer Uberwindung der Außenabhängigkeit geführt hat.

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keiten, mit absteigender Präferenz: ein annehmbares demokratisches Regime, eine Fortsetzung des Trujillo-Regimes oder ein Castro-Regime. Anstreben sollten wir das erste, können aber unmöglich auf das zweite verzichten, bis wir sicher sind, dass wir das dritte verhindern." Die drohende „Kubanisierung" der Region und damit die weltweit drohende Expansion der Sowjetunion: dieser obsessiven Vorstellung unterwarf Ronald Reagan seit seinem Amtsantritt im Januar 1981 die US-amerikanische Außenpolitik in ihrer globalen Konzeption ebenso wie in ihrer Anwendung auf Lateinamerika im Allgemeinen und den karibischen Raum im Besonderen. Dazu der Präsident anlässlich eines Gipfeltreffens der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) am 24. Februar 1982 in St. Lucia: „Eine neue Form des Kolonialismus schleicht sich heute in der Welt ein und bedroht unsere Unabhängigkeit. Er ist brutal und totalitär. Er kommt nicht aus unserer Hemisphäre, aber er bedroht sie und hat bereits Stützpunkte auf amerikanischem Boden errichtet mit dem Ziel einer weiteren Ausdehnung kolonialistischer Herrschaft." Und eingedenk der US-amerikanischen Verantwortung für Frieden und Freiheit in der Welt (sowie konkret in Zentralamerika) fügte Reagan hinzu: „Wenn wir nicht schnell und entschlossen handeln, um die Freiheit zu verteidigen, werden aus den Trümmern der gegenwärtigen Konflikte neue Kubas hervorgehen." Die Mittel, mit denen die Reagan-Administration dem vermeintlichen Expansionsdrang der Sowjetunion bzw. Kubas zu begegnen suchte, waren im karibischen Raum - aus US-amerikanischer Perspektive stets unter Einbeziehung Zentralamerikas verstanden als „the Greater Caribbean" - unterschiedlich. In Nicaragua finanzierten die USA nach dem Sturz des Somoza-Regimes 1979 den Krieg der Contras gegen die Sandinisten. In El Salvador halfen sie in dem 1981 offen ausgebrochenen Bürgerkrieg durch massive Wirtschafts- und Militärhilfe, die linken Guerillaverbände zurückzudrängen. Bei Grenada versuchten sie nach dem Putsch Maurice Bishops 1979 zunächst nur, die Insel politisch zu isolieren und vom Zustrom internationaler Gelder abzuschneiden. Die Möglichkeit einer militärischen Intervention in Kuba wurde durchaus in Erwägung gezogen, und immer wieder beschworen Vertreter der Reagan-Administration (wie die damalige Botschafterin bei den Vereinten Nationen, Jeane Kirkpatrick, im Sommer 1981 anlässlich einer Reise nach Chile) die Notwendigkeit einer „direkten Konfrontation". Als aber nicht nur in Kuba, sondern auch in anderen, mit den USA befreundeten lateinamerikanischen Ländern die Gefahr einer militärischen Aktion mit Besorgnis und Ablehnung kommentiert wurde, sah man sich dann doch veranlasst, die Drohungen als „Verbalguerilla" abzutun. Und der Präsident

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persönlich bestritt, dass jemals Pläne einer militärischen Intervention gegen Kuba bestanden hätten. Somit blieb der Reagan-Administration nur die „friedliche Waffe" der Militär- und Wirtschaftshilfe für „bedrohte" Staaten — ein Weg, der allerdings aufgrund der flagranten Menschenrechtsverletzungen in manchen Empfängerländern und der eigenen angespannten Haushaltslage im US-amerikanischen Kongress auf Widerstand stieß.72 Am Widerstand des Kongresses drohte lange Zeit auch jener Entwicklungsplan zu scheitern, den Präsident Reagan im Februar 1982 in der zitierten Rede vor der OAS der Öffentlichkeit präsentierte: die Caribbean Basin Initiative, bündig in das Kürzel CBI gefasst. Bereits Monate zuvor waren durch gezielte Indiskretionen Erwartungen geweckt worden, dass die USA über eine punktuelle Wirtschafts- und Finanzhilfe hinausgehen und ihre Initiative einer Entwicklungsstrategie anpassen würden, die der regionalen Kooperation den Vorrang gewährte. Die Idee einer solchen Initiative, die auch andere potentielle Geberländer einbeziehen sollte, hatte zuerst der jamaikanische Premier Edward Seaga bei einem Treffen mit Ronald Reagan vorgebracht. Reagan griff den Gedanken auf und lud Kanada, Mexiko und Venezuela im Juli 1981 zu einem Mini-Gipfel nach Nassau ein, wo die Außenminister ein gemeinsames Vorgehen erörtern sollten. Weder in Nassau noch beim Folgetreffen in New York im März 1982 (an dem auch Kolumbien teilnahm) gelang es, das voreilig als „Mini-MarshallPlan" für Zentralamerika und die Karibik titulierte Projekt aus der Taufe zu heben. Zu unterschiedlich waren die Positionen der USA auf der einen und der lateinamerikanischen Staaten sowie Kanadas auf der anderen Seite - Positionen, die insbesondere von Mexiko vehement vertreten wurden: grundsätzliche Einbeziehung aller Staaten der Region, also auch Kubas, Grenadas und Nicaraguas; Ausklammerung politischer Ziele, also keine gezielte Unterstüt72 Als weitere „friedliche Waffe" im Kampf gegen das sozialistische Kuba besann man sich auf ein Mittel, das zum klassischen Instrumentarium jeder politischen Propaganda gehört: die Ausstrahlung eines, wie es hieß, speziell auf die Bedürfnisse des kubanischen Volkes zugeschnittenen Rundfunkprogramms in spanischer Sprache, das - so die amtlich formulierte Zielsetzung - „die Wahrheit über Kuba senden" und die Kubaner „von den Vorteilen einer freien Gesellschaft überzeugen" würde. Bemerkenswert ist der Name, den dieser (mittlerweile auch mit einer Fernsehstation ausgestattete) Sender erhielt: „Radio Marti", zu Ehren von José Marti, dem kubanischen Dichter und Helden des zweiten kubanischen Unabhängigkeitskrieges, der Jahre des Exils in den Vereinigten Staaten verbrachte und deren Leistungen durchaus anerkannte, der aber (nach eigenem Zeugnis) lange genug „im Bauch des Ungeheuers" gelebt hatte, um die lateinamerikanischen Staaten, „unser Amerika", vor dem Expansionsdrang des nördlichen Nachbarn zu warnen.

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zung konservativer Regierungen gegen sie bedrohende revolutionäre Bewegungen; schließlich Ausklammerung militärischer Erwägungen, die den angestrebten entwicklungspolitischen Zielen vorangestellt sein könnten. Es überraschte nicht, dass derartige Bedingungen für die Reagan-Administration unannehmbar waren. So blieben die USA allein mit der vom Präsidenten enthusiastisch als „weitsichtig" vorgestellten Initiative, die neben einer direkten Wirtschaftshilfe in Höhe von 350 Millionen Dollar als Kernstück zwei wirtschaftspolitische Maßnahmen vorsah: Schaffung von Investitionsanreizen für US-amerikanische Unternehmen und Errichtung eines auf 12 Jahre festgeschriebenen unilateralen Freihandels durch Wegfall der Zölle für US-amerikanische Importe von Fertigwaren aus der Region, allerdings mit Ausnahme von Kleidung und Lederwaren. Die Aufnahme der „Karibik-Initiative" war keineswegs bei allen Begünstigten in der Region ausschließlich positiv, und der Widerstand im US-amerikanischen Kongress war weitaus heftiger, als Reagan erwartet haben mochte. Kritisiert wurde, dass allein 128 der insgesamt für direkte Wirtschaftshilfe veranschlagten 350 Millionen Dollar an El Salvador gehen sollten, während etwa die Mitglieder der Organisation Ostkaribischer Staaten (unter Ausschluss Grenadas) sich mit 10 Millionen zufrieden geben sollten. Dabei hätte allein Dominica die gesamte Summe benötigt, um nur die Infrastruktur so weit zu verbessern, dass die Insel für ausländische Investoren überhaupt attraktiv sein würde. Kritisiert wurde des Weiteren die Festschreibung der Wirtschaftshilfe auf den Privatsektor, so dass gerade die dringend erforderlichen, von der öffentlichen Hand zu leistenden infrastrukturellen Maßnahmen vom Förderprogramm ausgeschlossen waren. Die heftigste Kritik richtete sich gegen das Kernstück der Initiative, die Zollpräferenzen und Investitionsförderungsmaßnahmen. Abgelehnt wurden diese in der Karibik von den Befürwortern einer Entwicklungsstrategie, die Außenabhängigkeit abbauen und die regionale Integration stärken würde; und abgelehnt wurden sie in den USA von gewerkschaftlicher Seite, da man den Verlust von Arbeitsplätzen fürchtete. Einzelne Länder in der Region mochten durch die in Aussicht gestellten Investitionsanreize als „Billiglohnland" für US-amerikanische Investoren sicher noch attraktiver werden, als sie es ohnehin schon waren — nach Angaben der regierungsamtlichen Publikation Survey ofCurrent Business vom August 1981 wurden 1979/80 in der Region für jeden investierten US-Dollar 2,24 Dollar erwirtschaftet. Dennoch war das Argument der Gefährdung einheimischer Arbeitsplätze durch steigende Importe wenig stichhaltig, da bereits über 80% der Einfuhren aus dem großkaribischen

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Raum im Rahmen eines Allgemeinen Präferenzsystems zollfrei in die USA gelangten und von der neuen Regelung allenfalls weitere 10% betroffen sein würden. Als im August 1983, fast anderthalb Jahre nach der enthusiastischen Vorstellung der Initiative durch Ronald Reagan, auch das gepriesene Kernstück der Handelserleichterungen (mit erheblichen Modifikationen) den Kongress passiert hatte und vom Präsidenten der so benannte Caribbean Basin Economic Recovery Act unterzeichnet werden konnte, geschah dies ohne die sonst übliche werbewirksame Öffentlichkeitsarbeit. Für die Kritiker des Präsidenten war dies nur ein weiteres Indiz für die Gültigkeit der von Anbeginn geäußerten Vermutung, die Caribbean Basin Initiative habe diesem allein dazu gedient, sein eigentliches Ziel durchzusetzen: die massive Unterstützung der in ihrer Existenz bedrohten salvadorianischen Regierung zu Zeiten, da sich der Kongress aufgrund der Menschenrechtssituation in dem zentralamerikanischen Land wenig geneigt zeigte, laufende Zusagen zu bewilligen, geschweige denn zu erhöhen. Über 20 Staaten und Territorien in Zentralamerika und der Karibik, einschließlich der britischen und niederländischen Besitzungen, wurden in die Förderung eingebunden. Dass neben Kuba und Nicaragua auch das Grenada Maurice Bishops ausgeklammert werden würde, stand außer Frage.73 Und selbst die ungewohnte Einigkeit, mit der die anderen Mitglieder der Organisation Ostkaribischer Staaten den Ausschluss Grenadas ablehnten, vermochte die Haltung der Reagan-Administration in diesem Punkt nicht zu erschüttern. Der Ausschluss Grenadas hätte sicher keinen der betroffenen Staaten in der Region veranlasst, seinerseits auf die Nutznießung der in Aussicht gestellten Förderung zu verzichten. Doch wäre vermutlich die intendierte politische Wirkung beeinträchtigt worden, hätte sich das „Problem" Grenada im Rahmen der „Karibik-Initiative" durch die Ereignisse vom Oktober 1983 nicht von selbst erledigt.

73 Außer Frage stand für die Vereinigten Staaten aber auch, dass sich die Nutznießer der „Karibik-Initiative" die gewährten Privilegien durch Wohlverhalten und bereitwillige Kooperation verdienen mussten. Eingefordert wurde eine solche Kooperation im Zusammenhang mit dem sogenannten Shiprider Agreement, das der US-amerikanischen Küstenwache erlaubt, in den Hoheitsgewässern des Unterzeichnerstaates ohne dessen explizite Zustimmung des Drogenschmuggels verdächtige Boote zu entern, ebenso wie im Zusammenhang mit dem von den Vereinten Nationen eingerichteten und von den USA nicht anerkannten Internationalen Gerichtshof in Den Haag, an den US-Bürger nicht ausgeliefert werden dürfen, will man weiterhin in den Genuss US-amerikanischer Finanz- und Wirtschaftshilfe kommen.

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Die Entsendung US-amerikanischer Truppen, der die Ermordung Maurice Bishops vorausgegangen war, erfolgte, wie Präsident Reagan hervorhob, aufgrund eines formellen Hilfeersuchens der karibischen Nachbarstaaten und, wie Reagan bei einem Femsehauftritt behauptete, gerade noch rechtzeitig, um einer Invasion kubanischer Truppen zuvorzukommen. 74 Die wahren Motive der vorgeblich zwingenden Entscheidung waren andere und gründeten auf der - wie sich herausstellen sollte, berechtigten - Hoffnung, an mehreren Fronten zugleich einen leichten Sieg davonzutragen. Zum einen bot der Mord an dem in Grenada äußerst populären und von den Nachbarn trotz politischer Vorbehalte weitgehend respektierten Maurice Bishop Gelegenheit, das „Problem" Grenada aus der Welt zu schaffen durch eine Aktion, die zwar bereits zu einem früheren Zeitpunkt erwogen, 75 aber als inopportun zurückgestellt worden war und die nun — mit aktiver Unterstützung mehrerer Nachbarstaaten und unter weitgehendem Beifall der einheimischen Bevölkerung — als Rettungs- und Vergeltungsaktion durchgeführt werden konnte. Zum andern bot das entschiedene Handeln des Präsidenten wie der zu erwartende schnelle Sieg als Demonstration der Stärke in den Augen der US-amerikanischen Öffentlichkeit eine willkommene Kompensation für die als Demütigung empfundene Ohnmacht, mit der die USA ein nur Tage zuvor in Beirut verübtes Attentat, bei dem über 200 US-amerikanische Soldaten ums Leben kamen, hinnehmen mussten. 76

74 Die angekündigten Beweise für die vorgeblich geplante kubanische Invasion auf Grenada musste Reagan schuldig bleiben. Als Beweis für das dennoch behauptete militärische Engagement Kubas auf der Insel diente schließlich die Tatsache, dass die beim Bau des Flughafens beschäftigten Kubaner bewaffneten Widerstand leisteten und somit nicht als Bauarbeiter, sondern als Soldaten eingestuft wurden - wobei die Tatsache übergangen wurde, dass jeder Kubaner, ob Arzt, Lehrer oder Bauarbeiter, als Angehöriger der Miliz im Umgang mit Waffen geschult ist. 75 Im August 1 9 8 1 hatten im Rahmen der Operation „Ocean Venture 81" auf der zu Puerto Rico gehörenden Insel Vieques Landemanöver stattgefunden, deren simulierter Ablauf exakt das vorwegnahm, was zwei Jahre später bei der Landung in Grenada gelang. Die Parallelität der Ereignisse ergibt sich bereits aus dem Namen, mit dem 1 9 8 1 der imaginäre Feind bezeichnet wurde: Amber und die Amberinen, in Anlehnung an die im Süden Grenadas in Flughafennähe gelegene Ortschaft Amber und zu verstehen als Anspielung auf Grenada und die Grenadinen, von denen mehrere kleinere Inseln zum Territorium Grenadas gehören. 76 Die erhoffte positive Reaktion der US-amerikanischen Öffentlichkeit auf die OktoberInvasion blieb nicht aus. Nach einer Anfang November von der Washington Post publizierten Meinungsumfrage wurde die Aktion von 71 % der Befragten gutgeheißen und nur von 2 2 % abgelehnt; und 6 3 % erklärten, dass sie mit der Politik des Präsidenten generell einverstanden

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In der Karibik führte die unterschiedliche Bewertung der Invasion in Grenada zu einer Polarisierung, die unter den Mitgliedsstaaten der Caribbean Community bestehende Gegensätze verstärkte und der angestrebten regionalen Integration zuwiderlief. Eine unterschiedliche Bewertung erfuhr auch der Erfolg der am 1. Januar 1984 in Kraft getretenen „Karibik-Initiative", die insbesondere Jamaika bevorzugte und insgesamt enttäuschte. Als völlig unzureichend galt die gewährte direkte Finanzhilfe, die überdies zum Teil als verdeckte Militärhilfe geleistet wurde und über die Um- und Aufrüstung der Sicherheitskräfte in den kleinen anglophonen Inselstaaten eine Militarisierung der Region bewirkte. Kritisiert wurde auch, dass wichtige Exportgüter der Region von den Freihandelsbestimmungen ausgeschlossen blieben und gleichzeitig die traditionellen Agrarexporte wie Zucker durch drastische Senkung der Abnahmequoten zurückgingen. Die Folge war, dass sich das Gesamtvolumen der USamerikanischen Importe aus der Region verringerte, die US-amerikanischen Exporte aber zunahmen, so dass die Karibik zu einer der wenigen Regionen wurde, in der die USA einen Exportüberschuss erzielten.77 Das von Reagan ursprünglich gegebene Versprechen einer umfassenden, die regionale Kooperation und Integration stärkenden Entwicklungsstrategie wurde nicht eingelöst, im Gegenteil: Die unter Umgehung regionaler Institutionen und Agenturen einseitig geförderte Ausrichtung auf den US-amerikanischen Markt verstärkte die Außenabhängigkeit der karibischen Kleinstaaten und damit die Vorherrschaft der USA in der Region, so dass diese sogar in den noch von Großbritannien und den Niederlanden abhängigen Gebieten die Konkurrenz der Europäer nicht (mehr) zu fürchten brauchen. Die von Ronald Reagan initiierte Caribbean Basin Initiative erfuhr durch Reagans Nachfolger George Bush und dessen 1992 in Kraft getretene Enterprise for theAmericas Initiative (EAI oder CBI II) eine Neuauflage, die ebenfalls auf dem Prinzip einseitig gewährter Handelserleichterungen basierte. Doch

seien. Dieses Ergebnis mochte mit Blick auf die Präsidentschaftswahlen 1984 dem erneut kandidierenden Ronald Reagan, der bis dahin unter einem starken Popularitätsschwund gelitten hatte, als Beweis dafür gelten, dass er mit seiner Entscheidung gut beraten gewesen war. 77 Nach einer Statistik des US-amerikanischen Department of Commerce wurden zwischen 1983 und 1990 die US-amerikanischen Ausfuhren in die Karibik und die zentralamerikanischen Staaten um 5 0 % gesteigert, während die Einfuhren aus den CBI-Staaten (ab 1990 erweitert um Nicaragua) um 1 8 % zurückgingen. Für die Einfuhren nur aus der Karibik fiel der Rückgang noch deutlicher aus: für das Gesamtvolumen um 4 7 % und für die traditionellen, nicht unter die Zollpräferenzen der „Karibik-Initiative" fallenden Güter um 2 1 5 % .

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mit Beginn der 90er Jahre verfolgten die USA - als Reaktion auf die Herausbildung regionaler Wirtschaftsblöcke in Europa und Asien - vorrangig die Etablierung bi- oder multilateraler Freihandelsabkommen wie das North American Free Trade Agreement (NAFTA) zwischen den USA, Kanada und Mexiko, das von George Bush ausgehandelt und von Bill Clinton im Kongress durchgesetzt wurde und das am 1. Januar 1994 in Kraft trat. Aus dem Mexiko nunmehr gewährten privilegierten Zugang zum US-amerikanischen Markt erwuchs den CBI-Staaten der Karibik eine Konkurrenz, die sich sehr bald dadurch bemerkbar machte, dass US-amerikanische Unternehmen aus der Region nach Mexiko abwanderten, wo sie von weitaus niedrigeren Löhnen profitierten. So war man intensiv bemüht, von den USA die Gleichbehandlung mit Mexiko zu erreichen, was im Jahr 2000 über den von Clinton verkündeten Caribbean Basin Trade Partnership Act (oder: NAFTA Parity Act) zugestanden wurde. Aus US-amerikanischer Perspektive ambitionierter war das von Clinton auf dem Summit ofthe Americas in Miami im Dezember 1994 vorgestellte Projekt einer die gesamte Hemisphäre von Alaska bis nach Feuerland umspannenden Freihandelszone, der Free Trade Area of the Americas (FTAA) oder Area de Libre Comercio de las Americas (ALCA) - ein Projekt, über das zehn Jahre verhandelt wurde und dem im November 2005 auf dem Amerika-Gipfel in Mar del Plata (Argentinien) von lateinamerikanischer Seite (vorerst) eine Absage erteilt wurde. 78 Nach dem Willen der Vereinigten Staaten war das Kuba Fidel Castros von der geplanten gesamtamerikanischen Freihandelszone ausgeschlossen. Da aber George Bush und Bill Clinton — im Gegensatz zu Ronald Reagan - im Prinzip eine Außenpolitik verfolgten, die weniger von ideologischen als von pragmatischen, genauer: von wirtschafte- und handelspolitischen Erwägungen geleitet war, sahen sich während ihrer Amtszeit in den USA jene Kräfte ermutigt, die ihrerseits die in Kuba erfolgte marktwirtschaftliche Öffnung zu nutzen suchten und den vielversprechenden kubanischen Markt nicht den Europäern überlassen wollten. Doch weder unter dem Republikaner Bush noch unter dem Demokraten Clinton brachte das Ende des Kalten Krieges eine Entspannung auch

78 Das Projekt einer gesamtamerikanischen Freihandelszone wird von den Vereinigten Staaten gegenwärtig nicht prioritär weiterverfolgt; stattdessen sind sie bemüht, mit ausgewählten Staaten bilaterale Freihandelsverträge abzuschließen. Einen solchen Vertrag gibt es in Lateinamerika und der Karibik außer mit Mexiko (NAFTA), den zentralamerikanischen Staaten und der Dominikanischen Republik (CAFTA-DR) mit Chile, Kolumbien und Peru; Verhandlungen mit Ecuador sind bereits weit fortgeschritten.

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in den Beziehungen zu Kuba. Die Aufhebung des Handelsembargos gegen die mächtige Lobby des kubanischen Exils durchzusetzen gelang nicht. Im Gegenteil: George Bush wie Bill Clinton waren bemüht, im Vorfeld von Präsidentschaftswahlen die Stimmen der Cuban Americans dadurch zu gewinnen, dass sie ihnen eine Verschärfung des Embargos zum Geschenk machten 79 — Bush 1992 mit dem Torricelli-Gesetz (Cuban Democracy Act), Clinton 1996 mit dem Helms-Burton-Gesetz (Cuban Liberty andDemocratic Solidarity Act). Bereits das (nach seinem Initiator, einem Abgeordneten der Demokraten, benannte) Torricelli-Gesetz rief Protest hervor, da das Verbot des Handels mit Kuba auf in Drittländern niedergelassene Tochterfirmen US-amerikanischer Unternehmen ausgedehnt wurde. Das von dem republikanischen Senator Jesse Helms und dem demokratischen Abgeordneten Dan Burton eingebrachte sogenannte Helms-Burton-Gesetz ging noch sehr viel weiter und bewirkte in Europa und Lateinamerika wie in Kuba selbst einen Sturm der Entrüstung. Ein zentraler Punkt war der nunmehr per Gesetz festgeschriebene Anspruch USamerikanischer Firmen und Privatpersonen, vor einem US-amerikanischen Gericht die Rückgabe von in Kuba enteignetem Besitz oder eine entsprechende Entschädigung einzuklagen. Dieses Recht wurde zudem rückwirkend allen Exilkubanern zugestanden, die erst zu einem späteren Zeitpunkt die US-amerikanische Staatsbürgerschaft angenommen hatten. Ihren Anspruch konnten diese schließlich auch durch eine Klage gegen ausländische Firmen geltend machen, die in Kuba in irgendeiner Weise an der Nutzung ihres früheren Eigentums teilhaben. In Kuba schürte die Aussicht auf Klagen von Alteigentümern — möglich wären bis zu 450 000 Klagen im Streit um die halbe Insel — das ohnehin bestehende Misstrauen gegenüber Kreisen des Exils und die Angst vor der Zeit „danach". Im Ausland bewirkte die internationalem Recht zuwiderlaufende Androhung von Sanktionen gegenüber betroffenen Unternehmen, die auch

79 Gegenwärtig leben etwa 1,2 Millionen Exilkubaner in den USA, vorrangig in Florida und New Jersey, die durch mehr als 1 000 politische Organisationen vertreten werden. Die sich unversöhnlich gebenden hardliner rekrutieren sich vorwiegend aus der ersten Generation, die in den 60er Jahren Kuba verließ. Ihr prominentester Vertreter war, bis er 1997 verstarb, Jorge Mas Canosa, dessen Cuban American National Foundation (CANF) als bedeutendste Interessenvertretung des kubanischen Exils gelten konnte. Aufgrund der nachfolgenden Migrationsschübe, die weniger politisch als wirtschaftlich motiviert waren, tendiert die Mehrheit des Exils heute eher zu moderaten und pragmatischen, den Dialog suchenden Positionen - ein Kurs, den mittlerweile auch der Sohn und Nachfolger von Mas Canosa, Jorge Mas Santos, mit der C A N F verfolgt.

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ihre leitenden Angestellten und Aktieninhaber treffen konnten, so vehementen Protest, dass Präsident Clinton darauf verzichtete, das Gesetz konsequent zur Anwendung zu bringen. Nur geringen Protest in der internationalen Öffentlichkeit erregten dagegen die gleichermaßen im Helms-Burton-Gesetz enthaltenen Vorgaben für eine demokratische transición, die (u. a.) eine Beteiligung Fidel Castros oder seines Bruders Raúl ausschließen und als Eingriff in die Autonomie einer künftigen Regierung in fataler Weise an das Platt Amendment erinnern, das für Kuba als Synonym für jenen „Yankee-Imperialismus" steht, dem man mit der Revolution ein Ende bereitet hatte. Clintons Nachfolger, George W. Bush, für den im Jahr 2000 ca. 80% der Cuban Americans votierten und der das Präsidentenamt - in einer höchst umstrittenen Wahlentscheidung - letztlich rund 500 Wählerstimmen aus dem Bundesstaat Florida verdankte, bediente sich vorrangig einer aggressiven Rhetorik, indem er nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 Kuba gleich anderen „Schurkenstaaten" auf der ,Achse des Bösen" lokalisierte und behauptete, Kuba würde in großem Stil biochemische Waffen herstellen und wäre somit für die USA eine terroristische Gefahr. Dieser Vorwurf wurde zurückgenommen. Geblieben ist der Konfrontationskurs, der sich vor den USamerikanischen Präsidentschaftswahlen 2004 wiederum verbal verschärfte und durch drastische Reisebeschränkungen manifestierte. Die faktische Aushöhlung des Handelsverbots konnte (oder wollte) George W. Bush dagegen nicht verhindern, nachdem im Jahr 2000 der Kongress aus humanitären Gründen, wie es hieß, die Lieferung von Nahrungsmitteln und Medikamenten nach Kuba (gegen Barzahlung) erlaubt hatte. Mittlerweile sind die Vereinigten Staaten für Kuba im Bereich der Nahrungsmittelimporte mit einem Marktanteil von ca. 50% zum wichtigsten Handelspartner geworden. Und da Kuba der US-amerikanischen Exportwirtschaft ebenso wie US-amerikanischen Investoren noch weit größere Chancen zu bieten hat, reißt der Strom nach Havanna reisender US-amerikanischer Unternehmer und Kongressabgeordneter (der Demokraten wie der Republikaner) nicht ab. So erweist sich das seit über vier Jahrzehnten aufrecht erhaltene Embargo, das den Sturz Fidel Castros nicht herbeigeführt und seine Position gestärkt hat, das den US-amerikanischen Wirtschaftsinteressen geschadet und denen der lateinamerikanischen und europäischen Staaten genutzt hat, als längst überfälliges Relikt. Und vermutlich ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Vereinigten Staaten das Embargo gegen Kuba — mit oder ohne Fidel — aufheben, um als einzig verbliebene Supermacht neben ihrer politischen auch ihre wirtschaftliche Vormachtstellung auszubauen und zu bekräftigen.

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Mit Blick auf eine politische Lösung für die Zeit „danach" haben die USA bereits klare Vorstellungen und Pläne erarbeitet. Sie sind entschlossen, „nicht einfach abzuwarten, sondern sich aktiv flir den Wandel in Kuba einzusetzen", wie der im Juli 2006 vorgelegte (zweite) Bericht der hiermit beauftragten Commissionfor the Assistance to a Free Cuba betont. Um den Wandel zu beschleunigen, verfügt die von Außenministerin Condoleezza Rice und Handelsminister Carlos Gutierrez präsidierte Kommission für die nächsten zwei Jahre über 80 Millionen Dollar — zusätzlich zu den 35 Millionen jährlich, mit denen „Radio/TV Marti" finanziert wird. Und damit der Wandel dann auch in der von den Vereinigten Staaten gewünschten Richtung verläuft, wurde mit Caleb McCarry, einem früheren Mitarbeiter von Senator Jesse Helms, ein „Cuban Transition Coordinator" ernannt.

1 0 D A S E N G A G E M E N T ANDERER STAATEN: EIN

GEGENGEWICHT?

Die Vereinigten Staaten von Amerika sind heute der wichtigste Handelspartner der Region. Ihr politisches und militärisches Gewicht ist unbestritten, und ihre Interventionspolitik bei nationalen Konflikten - nach der Ermordung von Maurice Bishop in Grenada 1983 ebenso wie in Haiti 1986 beim Sturz von Jean-Claude Duvalier oder 1994 und 2004 bei der Wiedereinsetzung und neuerlichen Amtsenthebung von Jean-Bertrand Aristide — machte deutlich, dass die USA entschlossen sind, die pax americana in der Karibik durchzusetzen. In Haiti war man bemüht, sich der Zustimmung und Mitwirkung der Vereinten Nationen und der Europäer wie der Lateinamerikaner zu versichern. Die Invasion in Grenada erfolgte ohne internationale Rückendeckung, und sie bewirkte bei den Regierungen der meisten lateinamerikanischen Staaten heftige Kritik, bei den Regierungen der westlichen Industrienationen dagegen nur zurückhaltende Stellungnahmen. Die Reaktionen der einzelnen Staaten auf die Ereignisse in Grenada waren damals Gradmesser ihrer politischen Standortbestimmung wie ihrer Bereitschaft, bei einem möglichen Konflikt mit den USA Stellung zu beziehen.80 Heute ist dieser Gradmesser die Haltung gegenüber Kuba, wo die Vereinigten Staaten die letzte Schlacht des Kalten Krieges zu gewinnen suchen.

80

Bezeichnend war in diesem Zusammenhang die Abstimmung in der Generalver-

sammlung der Vereinten Nationen am 2. November 1 9 8 3 , bei der mit 108 gegen 9 Stimmen bei 2 7 Enthaltungen eine Resolution angenommen wurde, in der die bewaffnete Intervention in Grenada als „flagrante Verletzung des Völkerrechts und der Unabhängigkeit,

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Die Karibik Das Ende des Ost-West-Konflikts und die Liberalisierung des Welthandels

führte aber auch zu einem Wandel der politischen wie der ökonomischen Präferenzen. Und die neuen Rahmenbedingungen führten schließlich auch zu einem verstärkten Engagement auf Seiten von Staaten, die bis dahin in der Region kaum präsent waren: Japan, Taiwan (Nationalchina), die Volksrepublik C h i n a und sogar Libyen, dessen Revolutionsführer Gaddafi den Ostkaribischen Staaten versprochen haben soll, ihnen ihre gesamte Bananenernte zu weit über dem Weltmarktniveau liegenden Preisen abzukaufen. Für Japan verband sich das in den kleinen Inselstaaten der Ostkaribik über Entwicklungshilfeprojekte umgesetzte Engagement mit dem Anliegen, in der Internationalen Walfangkommission, in der diese Sitz und Stimme haben, mit Hilfe der so gewonnenen Verbündeten die Abschaffung des seit 1 9 8 2 (mit Einschränkungen) bestehenden Walfangverbots durchzusetzen und die Einrichtung eines Schutzgebiets um die Antarktis zu verhindern. 8 1 Für Taiwan stand noch weit mehr auf dem Spiel, versuchte man doch mit Hilfe gezielt vergebener Entwicklungshilfe Stimmen zu gewinnen, um nach dem 1 9 7 1 erfolgten Ausschluss wieder in die Vereinten Nationen aufgenommen zu werden. Die Volksrepublik China suchte dies auf demselben W e g zu verhindern, und so ergab sich auf karibischem Territorium ein Konkurrenzkampf, von dem einige Staaten der Karibik über günstige Kredite und Kooperationsabkommen profitieren konnten. 8 2 Derartige Erfolge sind jedoch von geringem Gewicht, gemessen

Souveränität und territorialen Integrität Grenadas" „zutiefst beklagt" und der unverzügliche Abzug der „ausländischen Truppen" gefordert wurde. Während Frankreich und Spanien neben den meisten anderen europäischen Staaten mit „Ja" stimmten, entschieden sich (neben Belgien) die Bundesrepublik Deutschland und Großbritannien für eine Stimmenthaltung. 81 Auf der im Juni 2006 in Basseterre (St. Kitts) abgehaltenen Jahrestagung der Internationalen Walfangkommission konnte Japan mit Unterstützung der ostkaribischen Inselstaaten einen ersten Erfolg verbuchen. So wurde eine Resolution verabschiedet, in der fiir die Abschaffung des 1982 beschlossenen Moratoriums des kommerziellen Walfangverbots plädiert wird. (Der Walfang zu „wissenschaftlichen" Zwecken ist nicht verboten und wird von Japan massiv betrieben.) Das Abstimmungsergebnis fiel mit 33 zu 32 Stimmen bei einer Enthaltung denkbar knapp aus; für die effektive Aufhebung des Moratoriums bedarf es einer Dreiviertelmehrheit. 82 Die Volksrepublik China ist für Kuba (nach Venezuela) der zweitwichtigste Handelspartner und seit dem Besuch des chinesischen Staatspräsidenten Hu Jintao in Havanna im November 2004 auch ein wichtiger Investor. Das chinesische Interesse richtet sich aber auch auf die Kleinstaaten der Ostkaribik, wo es gelang, Taiwan auszustechen: in Antigua/Barbuda, das 2003 Kredite über mehr als 12 Millionen US-$ erhielt (u. a. zum Bau eines neuen Stadions für die 2007 auf Antigua stattfindenden Cricket-Weltmeisterschaften); in Dominica, wo der amtierende Premier Roosevelt Skerrit mit besonderem Geschick die

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an dem Gesamtvolumen dessen, was eine nachhaltige und zukunftsfähige, nicht einseitig auf die Vereinigten Staaten ausgerichtete Entwicklung in der Karibik fördern könnte. Bleibt die Frage, ob andere Staaten gewillt oder in der Lage waren und sind, den Ländern der Region eine solche Perspektive zu eröffnen und zum Gewicht der USA ein Gegengewicht zu schaffen. Kanada Für die anglophone Karibik ist Kanada traditionell ein wichtiger Handelspartner, und da die Kanadier die Vergabe von Wirtschafts- und Finanzhilfe weder an politisch-ideologische noch an wirtschafte- und finanzpolitische Vorbedingungen oder Vorleistungen knüpfen, genießen sie in der Region hohes Ansehen und Sympathie.83 So wurde Grenada unter Maurice Bishop nicht von kanadischer Entwicklungshilfe ausgeschlossen, und wie wenig die Kanadier in der Frage politischen „Wohlverhaltens" dem strikt antikommunistischen Kurs der Vereinigten Staaten folgen mochten, wurde immer wieder betont; etwa durch den damaligen Premier Pierre Elliott Trudeau anlässlich eines Treffens der karibischen Commonwealth-Staaten 1983 in St. Lucia: „Die Staaten der Region haben das Recht, den ideologischen Weg zu gehen, den ihr Volk beschlossen hat. Ich bin nicht der Ansicht, dass ein Land, wenn es den sozialistischen oder sogar den marxistischen Weg wählt, notwendigerweise ein ,Ticket' erwirbt, das es automatisch in die Umlaufbahn der Sowjetunion befördert. Hier mögen unsere Ansichten mit denen der Vereinigten Staaten nicht übereinstimmen." Als im Juli 1981 der von Ronald Reagan angeregte „Mini-Marshall-Plan" für die Karibik diskutiert wurde, konnten die Kanadier darauf verweisen, dass

V R China und Taiwan gegeneinander ausspielen konnte, indem er sich im März 2 0 0 4 den Bruch mit Taiwan und die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zur Volksrepublik mit einer Kreditzusage in Höhe von 1 0 0 Millionen US-$ entlohnen ließ; oder in Grenada, wo der offizielle Abbruch der Handelsbeziehungen mit Taiwan 2 0 0 6 mit 4 0 Millionen US-$ honoriert wurde und das gleichermaßen für die Cricket-Weltmeisterschaften geplante neue Stadion sogar von einzufliegenden chinesischen Arbeitern erbaut werden soll. St. Kitts/Nevis hat dagegen (bislang) dem Werben der Volksrepublik China widerstanden und lässt sich sein neues Stadion von Taiwan finanzieren. 83 Die traditionell guten Beziehungen bewirkten sogar, dass Ende der 50er Jahre innerhalb der West Indies Federation eine politische Sammelbewegung entstand, die es vorzog, statt der von Großbritannien beabsichtigten Entlassung in die Unabhängigkeit die britischen Territorien in eine kanadische Provinz zu verwandeln.

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ihrerseits bereits Pläne bestanden, die Wirtschaftshilfe allein für die Commonwealth-Staaten für den Zeitraum 1982-87 auf280 Millionen US-$ anzuheben. Auch das von Reagan als „neuartig" und „beispiellos" gepriesene integrierte Entwicklungsprogramm der „Karibik-Initiative" konnte sie nicht beeindrucken, da sie bereits seit längerem für die Karibik Handels- und Investitionshilfen gewährten und 90% aller Importe aus der Region zollfrei auf den kanadischen Markt gelangten. Doch erst 1986 wurde unter dem Premier Brian Mulroney mit CARIBCAN ein der Caribbean Basin Initiative Ronald Reagans vergleichbares Projekt aus der Taufe gehoben, das neben Entwicklungsförderungsprogrammen Zollfreiheit für über 95% der Importe aus der Commonwealth-Karibik vorsah. Bis Anfang der 90er Jahre war das Ergebnis von CARIBCAN für die karibische Seite enttäuschend. Aufgrund fehlender Steueranreize blieben die erhofften kanadischen Investitionen aus. Und da auch Kanada wie schon die USA mit Kleidung und Lederwaren gerade jene Produkte von der Zollpräferenz ausschloss, für die in den Commonwealth-Staaten besondere Produktionskapazitäten bestanden, blieb das Gesamtvolumen der Exporte weit hinter dem der Importe zurück. Erst ab 1993 gelang es, Produktion und Außenhandel so weit anzukurbeln, dass ein signifikanter Handelsbilanzüberschuss erwirtschaftet wurde. Dieser Entwicklung vorausgegangen war eine Akzentverschiebung in der kanadischen Entwicklungspolitik, die sich bereits im März 1990 auf dem Kanada-CARICOM-Gipfel in Barbados abgezeichnet hatte. Neben einem Schuldenerlass, von dem — mit 93 der erlassenen 182 Millionen US-$ — vor allem Jamaika profitierte, verkündete der kanadische Premier Brian Mulroney die Gründung eines Canada-Caribbean Business Cooperation Office (CCBCO), das künftig die entwicklungsstrategische und wirtschaftliche Zusammenarbeit koordinieren sollte. Der Schwerpunkt dieser Kooperation lag nun auf Investitionsprogrammen, so dass kanadische Unternehmen heute in den verschiedensten Bereichen aktiv sind: in Barbados und den Bahamas im Banken- und Versicherungswesen, in Trinidad/Tobago in der chemischen Industrie, in Jamaika und Guyana in der Bauxit- und Goldgewinnung. Dem wirtschaftlichen Engagement entsprach seit den 90er Jahren ein verstärktes politisches Engagement in der Region, wobei sich dieses Engagement auf die gesamte Karibik erstreckte, nachdem Kanada 1990 der Organisation Amerikanischer Staaten beigetreten war. So war Kanada an von den USA initiierten Friedensmissionen in Haiti ebenso beteiligt wie an der alljährlich in den Vereinten Nationen erfolgten Verurteilung des US-Embargos gegen Kuba und dem vehementen internationalen Protest gegen das Helms-Burton-Ge-

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setz. Das Problem der politischen Gefangenen in Kuba war und ist für die Kanadier durchaus ein Thema; doch erscheint es konservativen wie liberalen Regierungen nachrangig, wenn es darum geht, in den (nie abgebrochenen) diplomatischen Beziehungen zu Kuba - wie 1998 vom damaligen Premier Jean Chretien anlässlich seines Staatsbesuchs in Havanna bewusst demonstriert den „konstruktiven" Dialog aufrechtzuerhalten. Die lateinamerikanischen Anrainerstaaten: Mexiko, Kolumbien, Venezuela, Brasilien In der Karibik besaß Mexiko, obgleich stärker auf die zentralamerikanischen Nachbarn ausgerichtet, über viele Jahrzehnte ein politisches Gewicht und Prestige, das sich aus der Geschichte des Landes herleitet: aus seiner revolutionären Tradition - Mexiko war bis 1959 das einzige lateinamerikanische Land, das eine authentische Revolution erlebt hatte — ebenso wie aus der bis ins 19. Jahrhundert zurückreichenden Konfrontation mit dem nördlichen Nachbarn, die Mexiko nahezu die Hälfte seines Territoriums gekostet hatte. Mexiko betrieb daher traditionell eine aktive und eigenständige Außenpolitik, die eine Konfrontation mit den Vereinigten Staaten nicht scheute und den von diesen betriebenen Ausschluss Kubas aus der Organisation Amerikanischer Staaten ebenso verurteilte wie die Invasion in Grenada. Seit den 70er Jahren verstärkte Mexiko seinen Einfluss in der Region auch durch eine gezielte Entwicklungspolitik. Das Herzstück dieser - zusammen mit Venezuela betriebenen — kaum uneigennützigen, dennoch relativ großzügigen Wirtschafts- und Entwicklungshilfe waren (und sind) Erdöllieferungen zu Vorzugskonditionen, wie sie 1980 im Abkommen von San Jose festgeschrieben wurden. Durch den 1990 mit Kolumbien und Venezuela erfolgten informellen Zusammenschluss zur „Gruppe der Drei" (G-3) und den Beitritt zur 1995 gegründeten Association ofCaribbean States (ACS) demonstrierte Mexiko seinen Willen, die regionale Integration und Kooperation zu fördern. Mit dem Nordamerikanischen Freihandelsabkommen (NAFTA) verlagerten sich aber die wirtschaftspolitischen Interessen und Prioritäten Mexikos, wandelte sich auch der außenpolitische Kurs. Denn insbesondere mit Blick auf die angestrebte, im NAFTA-Vertrag nicht vorgesehene Regelung der Migrationsproblematik erschien eine von den USA unabhängige oder US-amerikanischen Positionen gar zuwiderlaufende Außenpolitik höchst kontraproduktiv.

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Am folgenschwersten war dieser Kurswechsel für Mexikos Beziehungen zu Kuba, und obgleich Mexiko für Kuba in Lateinamerika der zweitwichtigste Handelspartner ist, fand die einst gepflegte Solidargemeinschaft beider Länder unter dem seit 2 0 0 0 amtierenden mexikanischen Präsidenten Vicente Fox über diverse Krisen ein zwar nicht überraschendes, wohl aber spektakuläres Ende. Auslöser dieser Krisen war 2 0 0 2 ein von den USA (seit 12 Jahren) jedes Jahr in der UN-Menschenrechtskommission eingebrachter, auf eine Verurteilung Kubas abzielender Resolutionsentwurf, bei dem sich in jenem Jahr zum ersten Mal zahlreiche lateinamerikanische Länder, unter ihnen Mexiko, nicht der Stimme enthielten, sondern für eine Verurteilung Kubas votierten. Fidel Castro rächte sich, indem er zu einem ungewöhnlichen und nicht unbedingt lauteren Mittel griff. Er präsentierte der internationalen Presse den Mitschnitt eines vertraulichen Telefongesprächs mit Vicente Fox, in dem dieser ihn gedrängt hatte, die bevorstehende UN-Konferenz für Entwicklungsfinanzierung im mexikanischen Monterrey nach einem nur kurzen Auftritt (und vor Ankunft des US-amerikanischen Präsidenten Bush) vorzeitig zu verlassen. Castro hatte dem Wunsch entsprochen; und Fox hatte der von Kuba gelieferten Erklärung, die abrupte Abreise Castros sei auf Wunsch des mexikanischen (und vermutlich des US-amerikanischen) Präsidenten hin geschehen, energisch widersprochen. Nun aber war Vicente Fox nicht nur als Lügner entlarvt. Bewiesen war auch, was Castro anlässlich einer neuerlichen Krise im Jahr 2 0 0 4 auf der zentralen Kundgebung zum 1. Mai in Havanna öffentlich behaupten konnte: „Die Grenze der Vereinigten Staaten mit Mexiko verläuft in Wirklichkeit nicht mehr entlang des Rio Bravo [...]. Die Vereinigten Staaten liegen mitten in Mexiko." Der zweite Anrainerstaat des Karibischen Meeres, der zeitweilig eine gewisse Vormachtstellung in der Region beanspruchte, ist Kolumbien. Als im Juli 1981 die Außenminister der USA, Kanadas, Mexikos und Venezuelas in Nassau zu ersten Beratungen über eine gesamtkaribische Entwicklungsstrategie zusammentrafen, reagierte Kolumbien ob der Tatsache, nicht eingeladen worden zu sein, ausgesprochen verärgert, so dass man sich eilig bereit erklärte, zum Nachfolgetreffen in New York den kolumbianischen Außenminister hinzuzuziehen. Als dann im Oktober desselben Jahres George Bush als Vizepräsident der Reagan-Administration dem damaligen kolumbianischen Regierungschef Julio César Turbay Ayala einen Besuch abstattete, konnte er die diplomatische Unterlassungssünde vollends wettmachen, indem er Kolumbien — aufgrund seines langen karibischen Küstensaums ein „natürlicher Verbündeter" der USA - zu einem stärkeren Engagement in der Region ermun-

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terte und zusagte, entsprechende „Stabilisierungsbemühungen" durch Finanzund Militärhilfe zu fördern. Wirtschaftlich vermochte Kolumbien nur wenig auszurichten, weit weniger als die erdölexportierenden Länder Mexiko und Venezuela. So war Kolumbien zunächst darauf bedacht, seinen Hegemonialanspruch durch Umrüstung und Aufrüstung seiner nur kleinen und völlig veralteten Karibikflotte durchzusetzen - ein Vorhaben, dem die USA mit einer Militärhilfe in Höhe von 11,5 Millionen Dollar allein für 1982 entgegenkamen. Bis heute hat die von den Vereinigten Staaten geleistete Militärhilfe, eingesetzt im Kampf gegen die kolumbianischen Drogenkartelle ebenso wie gegen die weite Teile des Landes kontrollierenden Guerillaverbände, schwindelnde Höhen erreicht. Formal ist Kolumbien über seine Mitgliedschaft in der „Gruppe der Drei" und der Association of Caribbean States in den regionalen Integrationsprozess eingebunden. Aber die finanzielle Abhängigkeit von den USA sowie die seit Jahrzehnten herrschende innenpolitische Gewalt, die Kolumbien in einen permanenten Ausnahmezustand geführt hat, erlauben nur geringe Spielräume fiir eine eigenständige und offensive Außenpolitik. 84 Das wirtschaftliche und damit auch politische Schwergewicht unter den Anrainerstaaten ist Venezuela, seitdem Hugo Chävez im Dezember 1998 die Präsidentschaftswahl gewann und in der Folgezeit nicht nur fiir Kuba, sondern auch für andere Staaten in der Region zum wichtigsten energiepolitischen Partner wurde. Erdöl zu Sonderkonditionen hatte Venezuela zusammen mit Mexiko im Rahmen der Konvention von San José schon in der Vergangenheit geliefert; und bereits 1978 hatte Venezuela ein auf sieben Jahre angelegtes Entwicklungsprogramm mit einem Gesamtvolumen von knapp 6 Milliarden US-$ gestartet, in

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Ansätze zu einer von den Vereinigten Staaten unabhängigen Außenpolitik gab es in den 70er Jahren; sie führten auch zu einer Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen mit Kuba 1975. Doch bereits im März 1981 wurden diese wieder abgebrochen mit der Begründung, Guerillatrupps, die an der kolumbianischen Pazifikküste einen (erfolglosen) Invasionsversuch unternommen hatten, wären in Havanna ausgebildet und mit Waffen versorgt worden. Die kubanische Regierung hatte diesen Vorwurf bestritten. Doch der damalige kolumbianische Präsident Turbay Ayala blieb, in Abstimmung mit der Position Ronald Reagans, bei seiner Behauptung, Kuba würde alle revolutionären Bewegungen in der Region mit Waffen beliefern. Unter Turbay Ayalas Nachfolger, Belisario Betancur, kehrte Kolumbien (vorübergehend) zu einer nicht unbedingt an US-amerikanischen Vorgaben orientierten Außenpolitik zurück, indem sich das Land der Blockfreien-Bewegung anschloss und im Rahmen der sogenannten Contadora-Gruppe im zentralamerikanischen Friedensprozess eine aktive, auch auf eine „Normalisierung" der Beziehungen zu Kuba abzielende Rolle übernahm.

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dessen Genuss nahezu alle Staaten der Karibik kommen sollten.85 Eine politische Führungsrolle hatte Venezuela nicht für sich eingefordert, und eine mögliche Opposition zur US-amerikanischen Kuba-Politik gehörte nicht zu den außenpolitischen Prioritäten.86 Hugo Chávez wusste dagegen den Reichtum des Landes als politisches Kapital einzusetzen, indem er zunächst mit Kuba, sodann auch mit anderen Staaten der Region eine „strategische Allianz" einging. Und die von ihm dekretierte „Bolivarianische Revolution", mit der er die traditionellen Eliten Venezuelas ausschaltete und eine sozialreformerische Politik einleitete, suchte auch die Konfrontation mit den USA, die Chávez mit Erdöl beliefert, während er gleichzeitig ihren hegemonialen Anspruch und neoliberalen Kurs wortgewaltig bekämpft. Für Kuba wurde Chávez der wichtigste Verbündete, indem er praktisch die Rolle der Sowjetunion übernahm und - statt Öl für Zucker - nunmehr Öl fxir Dienstleistungen liefert. Denn der im Oktober 2000 zwischen beiden Ländern unterzeichnete Kooperationsvertrag sieht vor, dass Kuba sein Erdöl nicht nur zu Sonderkonditionen erhält, sondern als Gegenleistung neben Impfstoffen, Medikamenten und medizinischem Gerät auch das exportiert, woran Kuba keinen Mangel hat: Techniker und Lehrer, Ärzte und Krankenpfleger, sogar Sportlehrer und Trainer, die im Rahmen der „Misión Barrio Adentro" vorzugsweise in den Armenvierteln eingesetzt werden. Seit 2003 hat sich durch eine Vielzahl zusätzlicher Kooperationsvereinbarungen in der schulischen und gesundheitlichen Versorgung, im Bereich von Handel und Landwirtschaft wie auch Technik, Wissenschaft und Kultur die Zahl der in Venezuela tätigen Ku85 In Grenada, wo (nach einem Bericht des Caribbean Contad) die venezolanische Botschaft in der Hauptstadt St. G e o r g e s - vor der US-amerikanischen Invasion - mehr einem Warenhaus als einer diplomatischen Vertretung glich, war die Zahl der von venezolanischer Seite finanzierten Projekte geradezu beeindruckend. Sie reichten von der Beteiligung a m Bau des internationalen Flughafens über den Wohnungsbau (mit einem Volumen von über 2,3 Millionen U S - $ ) bis hin zum Tourismus mit der Bereitstellung eines Spezialisten auf d e m Gebiet der internationalen Kochkunst. 8 6 Kuba war in der Vergangenheit nur selten in den Blickpunkt venezolanischer Außenpolitik geraten; etwa als 1 9 8 0 die diplomatischen Beziehungen eingefroren wurden, nachd e m ein Jahr zuvor der kubanische Botschafter aus Caracas abgezogen worden war. Der Anlass waren öffentliche Äußerungen eines Militärrichters im Z u s a m m e n h a n g mit d e m in Caracas anhängigen Prozess gegen den Exilkubaner O r l a n d o Bosch, der zusammen mit drei weiteren Angeklagten ftir den Anschlag auf eine Linienmaschine der kubanischen Fluggesellschaft C u b a n a de Aviación verantwortlich gemacht wurde. (Bei dem Anschlag 1976 waren 7 3 Menschen ums Leben gekommen.) Der Richter hatte d e m Urteil vorgegriffen und bezweifelt, dass den Angeklagten eine Schuld nachgewiesen werden könnte. Dennoch k a m der Freispruch Boschs A n f a n g August 1 9 8 7 unerwartet.

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baner auf etwa 20 000 erhöht.87 Gleichzeitig wurde für den Warenaustausch weitgehende Zollfreiheit vereinbart, wurden Programme aufgelegt, über die venezolanische Studenten mit einem Stipendium an einer kubanischen Hochschule studieren können und venezolanische Kranke in kubanischen Krankenhäusern unentgeltlich behandelt werden. Mit Hilfe Venezuelas deckt Kuba einen Großteil seines Energiebedarfs, nachdem die Liefermenge von anfänglich 53 000 auf 98 000 Barrel pro Tag (2005) erhöht wurde.88 Doch nicht nur Kuba, sondern die gesamte Karibik wird künftig von venezolanischen Erdöllieferungen zu Sonderkonditionen profitieren, wie sie im Juni 2005 in der Initiative Petrocaribe festgeschrieben wurden. Als besonders vorteilhaft mag sich im Rahmen dieses Kooperationsvertrags für die kleinen Karibikstaaten erweisen, dass ihnen neben äußerst günstigen Zahlungsbedingungen auch die Möglichkeit eingeräumt wird, im Gegenzug für Erdöl und Erdölderivate Waren zu liefern: etwa Zucker und Bananen zu Vorzugspreisen, wodurch die von traditionellen agrarischen Exporten besonders abhängigen ostkaribischen Staaten eine Kompensation für den drohenden Verlust des europäischen Marktes erhalten würden. Die Zustimmung zur Offerte von Petrocaribe war nahezu einmütig. Zu den Unterzeichnerstaaten gehören neben Kuba die Dominikanische Republik, Suriname und alle anglophonen Staaten der Karibik mit Ausnahme von Trinidad/Tobago und Barbados. Als einziges Erdölförderland der Region mit einer täglichen Fördermenge von fast 200 000 Barrel befürchtet Trinidad/Tobago erhebliche Einbußen auf einem bislang beherrschten Markt; und Barbados furchtet um die bislang von Trinidad/Tobago gewährten Sonderkonditionen, nachdem Premier Patrick Manning bereits gedroht hat, dass Trinidad/Tobago diejenigen, die sich Petrocaribe anschließen, künftig nicht mehr beliefern wird. Der Dissens über die Initiative von Hugo Chävez mag für die Integrationsbemühungen innerhalb der Region nicht unbedingt förderlich sein, doch

87 Die in Venezuela zwischen zwei und drei Jahren arbeitenden Fachleute werden erwartungsgemäß um ein Vielfaches höher bezahlt als in Kuba selbst. So erhält ein Arzt, dessen monatliches Einkommen in Kuba gerade mal 15 US-$ entspricht, ein Gehalt von 3 0 0 US-$, von denen aber 100 Dollar auf einem Konto in Kuba zurückgehalten werden, um diejenigen zu demotivieren, die ihren Aufenthalt in Venezuela für ein endgültiges Exil nutzen könnten. 88 Mit welchen Unwägbarkeiten die Abhängigkeit vom venezolanischen Erdöl für Kuba verbunden ist, wurde deutlich, als im April 2 0 0 2 Hugo Chavez durch einen Putsch für 4 8 Stunden entmachtet wurde. Die Ollieferungen an Kuba wurden sofort eingestellt und erst im August 2 0 0 2 wieder aufgenommen.

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die positiven Auswirkungen überwiegen. Petrocaribe als Allianz mit der „Bolivarianischen Republik" Venezuela bietet den Staaten der Karibik nicht nur ökonomische, sondern auch politische Vorteile durch eine stärkere Anbindung an Lateinamerika und damit in internationalen Foren eine bessere Positionierung im Ringen um eine gerechtere Weltwirtschaftsordnung. Denn Petrocaribe ist nach dem Konzept von Hugo Chávez nur ein Baustein in einem weit größeren Projekt: der Alternativa Bolivarianapara la América (Bolivarianische Alternative für [das eine] Amerika, ALBA) als Gegenentwurf zu der von den USA favorisierten gesamtamerikanischen Freihandelszone (sp. Area de Libre Comercio de las Américas, ALCA). 89 Diesem Projekt haben sich über bilaterale Kooperationsverträge bereits Brasilien, Argentinien, Uruguay und Bolivien angeschlossen. Und seit Venezuela Anfang Juli 2006 offiziell Mitglied des MERCOSUR 90 geworden ist, hat sich die venezolanische Erdöldiplomatie auch politisch bezahlt gemacht - dies nicht nur für Hugo Chávez, sondern auch für Fidel Castro, der als Gast des MERCOSUR-Gipfels im Juli 2006 in Córdoba (Argentinien) mit den Südamerikanern ein Handelsabkommen unterzeichnen konnte. Brasilien als Anrainerstaat der Karibik zu bezeichnen, mag aus zwei Gründen nicht ganz abwegig erscheinen: Zum einen weist der atlantische Küstenstreifen aufgrund der Vergangenheit von Plantagenwirtschaft und Sklaverei eine starke kulturelle Affinität zu den afroamerikanisch geprägten Karibikstaaten auf; zum andern besitzt Brasilien eine gemeinsame Grenze mit Guyana, Suriname und Französisch-Guayana, die aufgrund des vorherrschenden tropischen Regenwalds zwar lange als Barriere wahrgenommen wurde, die mittlerweile aber aufgrund vorwiegend illegaler Migration durchlässig geworden ist. Die Außenpolitik brasilianischer Regierungen zeichnete sich in der Vergangenheit durch eine gewisse Ambivalenz aus. Auf der einen Seite war man be89 Dass sich die Kooperationsofferten und Integrationsbemühungen von Hugo Chávez gegen die Vereinigten Staaten richten, war von Anbeginn offensichtlich. So versuchte denn auch die Bush-Administration, die Unterzeichnung des Petrocaribe-Abkommens zu verhindern, indem sie in einem Brief an die Regierungschefs der Region Chávez (wie früher Castro) beschuldigte, extremistische Gruppen zu unterstützen und dadurch die Karibik sowie gesamt Lateinamerika zu destabilisieren. 90 Dem 1 9 9 1 gegründeten MERCOSUR (Mercado Común del Sur, Gemeinsamer Markt des Südens) gehören als Vollmitglieder neben Venezuela Argentinien, Brasilien, Uruguay und Paraguay an. Über Freihandelsverträge assoziierte Mitglieder sind Chile und Bolivien. Das ehrgeizigste von Chávez eingebrachte Projekt ist eine Gasleitung, die über eine Entfernung von 10 0 0 0 km Venezuela (zunächst) mit Argentinien und Brasilien verbindet und deren Bau ca. 25 Milliarden US-$ kosten wird.

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müht, sich des Wohlwollens der Vereinigten Staaten zu versichern, die als wichtiger Handelspartner, Kreditgeber und Investor unverzichtbar waren. Den Militärs, die 1964 die Macht übernahmen, gelang dies problemlos, zumal sie sich mit den USA in einer antikommunistischen Allianz wähnten, was zum Abbruch der diplomatischen Beziehungen mit Kuba und zur Teilnahme an der US-amerikanischen Invasion in der Dominikanischen Republik 1965 führte. Auf der anderen Seite beinhaltete der Aufstieg Brasiliens zu einer führenden Wirtschaftsmacht und zum „Schwellenland" die Notwendigkeit, neue Absatzmärkte zu erschließen, mit der Folge einer Annäherung an die Entwicklungsländer und die Blockfreien-Bewegung, die nach dem Rückzug der Militärs 1985 auch zur Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen zu Kuba fiihrte. Die Karibik war jedoch für die brasilianische Außenwirtschaft wenig interessant, und ihr Gewicht im Nord-Süd-Dialog war zu gering, als dass sich für Brasilien ein besonderes Engagement gelohnt hätte. Erst mit dem Amtsantritt des linksgerichteten Präsidenten Luiz Inäcio „Lula" da Silva Anfang Januar 2003 zeichnete sich ein Wandel ab. Maßgeblich hierfür waren zwei Faktoren: der einem dezidierten politischen Willen entprechende Schulterschluss mit Fidel Castro, den Lula da Silva anlässlich seines Staatsbesuchs in Kuba im September 2003 demonstrierte, und der ökonomisch motivierte Schulterschluss mit Hugo Chävez, der über die Achse Brasilien-Venezuela-Kuba ein stärkeres brasilianisches Engagement auch in der Karibik eröffnet. Ein erster Schritt in diese Richtung wäre die Fertigstellung der bereits seit 2002 im Bau befindlichen Brücke über den Takutu an der Grenze zu Guyana und der geplante Ausbau der Uberlandstraße, die Boa Vista, Hauptstadt des Bundesstaates Roraima, mit der 650 km entfernten Hafenstadt und Hauptstadt Guyanas, Georgetown, verbinden und damit dem wirtschaftlich dynamischen brasilianischen Norden auch den Seeweg in die USA und nach Europa eröffnen würde. Die Europäische Gemeinschaft/Europäische Union Kernstück der Entwicklungspolitik der Europäischen Gemeinschaft (seit 1993: Europäische Union) war das 1975 mit zunächst 46 Ländern aus Afrika, der Karibik und dem pazifischen Raum, den sogenannten AKP-Staaten, unterzeichnete Abkommen von Lomé (Lomé I), das alle fünf Jahre erneuert wurde und bis zu seinem Auslaufen im Jahr 2000 insgesamt 71 Länder begünstigte.91 91 Die Lomé-Verträge gehen zurück auf den politischen Willen der 1957 gegründeten Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), die noch bestehenden und die während der

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Neben finanzieller und technischer Hilfe sowie Ausgleichszahlungen fur schwankende Rohstofferlöse und Agrarexporte bot es den betroffenen Ländern einen weitgehend zollfreien Zugang zum EG-Markt, verbunden mit einer Quotenregelung, etwa fur Zucker und Bananen, wodurch die Abnahme bestimmter Mengen zu garantierten Preisen zugesichert wurde. In der Karibik partizipierten neben Suriname alle anglophonen Staaten, seit Lomé IV auch die Dominikanische Republik und Haiti, wobei sich besonders für einige ostkaribische Staaten, in denen Bananen mehr als 50% der Exporterlöse und über 10% des Bruttosozialprodukts erwirtschafteten, das sogenannte „Bananenprotokoll" als geradezu lebensnotwendig erwies, da es ihnen Schutz bot gegenüber der Konkurrenz der weitaus billiger produzierten „Dollarbananen" aus Mittel- und Südamerika. Um die Mitte der 90er Jahre geriet das Lomé-Abkommen in die Kritik. Beklagt wurde, dass die Subventionen für traditionelle „Kolonialwaren" wie Zucker, Rum und Bananen die monokulturellen Fehlentwicklungen der Vergangenheit nur verstärkt und eine Diversifizierung der landwirtschaftlichen Produktion behindert hatten. Beklagt wurde auch das Fehlen politischer Vorgaben, wodurch automatisch jeder Mitgliedsstaat, unabhängig von der Frage der Einhaltung demokratischer Spielregeln, partizipierte - ein Umstand, dem Grenada unter Maurice Bishop die Beibehaltung der EG-Entwicklungshilfe zu verdanken hatte. Entscheidend für das Auslaufen der Lomé-Abkommen und eine radikale Neuorientierung waren aber zwei andere Faktoren: zum einen das Ende des Ost-West-Konflikts, wodurch sich für die Europäer die ideologisch motivierte besondere Pflege der Beziehungen zu ihren ehemaligen Kolonien erübrigte; zum andern die nun von der Welthandelsorganisation (World Trade Organisation, WTO) diktierten Rahmenbedingungen eines liberalisierten Welthandels, die eine präferentielle Behandlung einzelner Handelspartner als Diskriminierung anderer untersagen92 und vorschreiben, dass handelspolitische Zugeständnisse wie Zollfreiheit auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit beruhen.

60er Jahre in die Unabhängigkeit entlassenen (französischen) Kolonien über ein Assoziierungsabkommen (Verträge von Yaounde I und II) weiter an sich zu binden. Als 1 9 7 3 mit Großbritannien die einst größte Kolonialmacht der Europäischen Gemeinschaft (EG; seit 1 9 6 7 fur EWG) beitrat, musste eine neue Basis geschaffen werden, da sich die Zahl der ExKolonien vervielfachte. 92 Die dem Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommen [GeneralAgreement on T a r i f f i and Trade, GATT) zuwiderlaufenden zollpolitischen Zugeständnisse der Europäischen Gemeinschaft an die AKP-Staaten im Bananenhandel nahmen 1 9 9 6 die Vereinigten Staaten zum Anlass, um zusammen mit einigen mittel- und südamerikanischen Staaten vor der W T O zu klagen, woraufhin ein Jahre andauernder „Bananenkrieg" um europäische Marktanteile ent-

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Das von der Europäischen Union nach langwierigen Verhandlungen im Juni 2000 mit nun 77 AKP-Staaten ausgehandelte, auf eine Laufzeit von 20 Jahren angelegte Abkommen von Cotonou wurde von den Entwicklungsländern nur widerstrebend akzeptiert, entsprach aber den Vorgaben der W T O ebenso wie den Interessen der EU. 93 Die schon bei Lome IV im Ansatz einbezogene politische Komponente wurde verstärkt, indem nun die Wahrung der Menschenrechte, demokratische Prinzipien und eine verantwortliche Staatsführung („good governance") als wesentliche Elemente im Vertragswerk verankert und für Verstöße Sanktionen vorgesehen wurden. In die Förderung einbezogen wurden Organisationen der Zivilgesellschaft ebenso wie die Privatwirtschaft. Und statt der zuvor gewährten einseitigen Handelspräferenzen wurden sogenannte Wirtschaftspartnerschaftsverträge (Economic Partnership Agreement, EPA) geschlossen: Freihandelsabkommen, die nun den Industrieländern ihrerseits freien Zugang zu den Märkten der Entwicklungsländer ermöglichen, diesen aber zwecks Anpassung an die veränderten Rahmenbedingungen für eine Übergangszeit Ausgleichszahlungen gewähren. Der festgelegte Zeitplan sieht vor, dass bis zum Inkrafttreten der Wirtschaftspartnerschaftsverträge am 1. Januar 2008 das bestehende Präferenzsystem beibehalten wird. Nach einer Übergangszeit von 12 Jahren soll dann zum Jahr 2020 die völlige Liberalisierung der Handelsbeziehungen erreicht sein. Das oberste Ziel des Cotonou-Abkommens, so heißt es in der Präambel, ist, „in Einklang mit den Zielen der nachhaltigen Entwicklung und der schrittweisen Integration der AKP-Staaten in die Weltwirtschaft die Armut einzudämmen und schließlich zu besiegen". Die deutsche Bundesministerin für brannte. Gewinner war der US-amerikanische Konzern Chiquita (vormals: United Fruit Company), der mit über 3 0 % Marktanteil weltgrößte Bananenproduzent. Die Frage, warum sich die Clinton-Regierung für ein Problem einsetzte, das in keiner Weise nationale Interessen berührte, da die U S A keine Bananen exportieren, wurde von der US-amerikanischen Presse vielfach diskutiert. Diese Frage stellte sich nicht mehr, als (über mehrere Berichte des Magazins Time) bekannt wurde, dass die Holding, zu der Chiquita gehört, zwischen 1990 und 1997 an die Republikaner und die Demokraten 2 Millionen Dollar spendete, davon mehr als eine halbe Million an die Demokraten direkt im Anschluss an die Initiative der Clinton-Administration. 93 Kuba, das seit 1998 bei der AKP-Staatengemeinschaft Beobachterstatus besaß, stellte kurz vor Abschluss der Verhandlungsrunden im Februar 2 0 0 0 einen Antrag auf Aufnahme in das Lome-Nachfolgeabkommen, zog diesen aber wieder zurück, nachdem im April desselben Jahres bei der alljährlichen Abstimmung in der UN-Menschenrechtskommission die EU-Mitgliedsstaaten geschlossen für eine Verurteilung Kubas gestimmt hatten. Seit Dezember 2 0 0 0 ist Kuba 7 8 . AKP-Vollmitglied; und die bedingungslose Einbeziehung Kubas in das Cotonou-Abkommen wird von allen AKP-Staaten gefordert.

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wirtschaftliche Zusammenarbeit, Heidemarie Wieczorek-Zeul, die im Bereich der Handelsbeziehungen die Verhandlungen leitete, meinte in einem Artikel der Frankfurter Rundschau (4. 5. 2000), der im Abkommen enthaltene „Grundsatz der Gleichheit der Partner" sei „die politisch richtige Antwort auf die wirtschaftliche Globalisierung". Dass in dem von der Europäischen Kommission als „Partnerschaft der Zukunft" gepriesenen Vertragswerk von einer „Gleichheit" der Partner ausgegangen und mit ihm Armut wirkungsvoll bekämpft werden kann, muss jedoch bezweifelt werden. Gleichheit setzt Wettbewerbsfähigkeit voraus, doch kaum einer der AKPStaaten - und dies gilt in besonderem Maße für die Kleinstaaten der Karibik wird dem Anpassungsdruck standhalten oder sich gegenüber den Industrieländern bzw. transnationalen Konzernen gar Wettbewerbsvorteile erstreiten können. Eine Steigerung der Exportkapazitäten war schon in der Vergangenheit nicht gelungen, so dass der Anteil der Importe der Europäischen Gemeinschaft aus AKP-Staaten am Gesamtvolumen der Einfuhren beständig sank: von knapp 7% im Jahr 1967 auf knapp 3% im Jahr 1999. Eine Diversifizierung der Exporte mag in Einzelfällen gelingen; doch wird in vielen Kleinstaaten die dann mögliche Steigerung der Exporterlöse kaum ausreichen, um die Einbußen auszugleichen, die sich flir den Staatshaushalt aus dem Wegfall von Zöllen ergeben. Die dann notwendigen Strukturanpassungsmaßnahmen werden wie in der Vergangenheit zu Lasten jener gehen, die ohnehin am Rande oder unterhalb der Armutsgrenze leben. Und die im Cotonou-Abkommen hierfür vorgesehenen Finanzmittel - insgesamt rund 25 Milliarden Euro für 77 AKP-Staaten - erscheinen gering, wenn man bedenkt, dass von der Europäischen Kommission allein in einem Jahr 51 Milliarden Euro (2006) als Subvention ftir den europäischen Agrarsektor veranschlagt werden. Bei den Verhandlungen zum Cotonou-Abkommen demonstrierte die Europäische Union den gemeinsamen Willen, wirtschaftliche Kooperation an politische Vorgaben zu binden. Auch im Verhältnis zu Kuba wurde auf politischen Vorgaben bestanden, wurde die Einhaltung der Menschenrechte ebenso eingefordert wie die demokratische Öffnung des Regimes, so dass bislang keine Kooperationsvereinbarungen zustande kamen. Aufgrund partikularer Interessen einzelner europäischer Staaten, die auf einen Markt drängten, auf dem die Vereinigten Staaten (noch) nicht dominieren, war die Haltung der Europäer gegenüber Kuba aber ambivalent, folgten Phasen der Annäherung auf Phasen der Distanzierung, wobei gelegentlich auch die geboten erscheinende Rücksichtnahme gegenüber den Vereinigten Staaten eine Verhärtung in den Beziehungen zu Kuba bewirkte.

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Ende der 80er Jahre hatten die meisten europäischen Staaten ihre diplomatischen Beziehungen zu Kuba wieder aufgenommen, und im Verlauf der 90er Jahre wurden die EU-Mitgliedsstaaten für Kuba zu einem wichtigen Handelspartner und Investor. Wirtschaftliche Eigeninteressen bewogen die Europäer auch, 1996 massiv gegen die Verschärfung des US-Embargos durch das Helms-Burton-Gesetz zu protestieren und ihre Klage sogar vor den Schlichtungsausschuss der W T O zu bringen. Aber die Aussicht auf eine Einigung mit den Vereinigten Staaten in der Frage möglicher US-Sanktionen gegen europäische Investoren in Kuba veranlasste die Europäer im Dezember desselben Jahres, zu Kuba jenen „Gemeinsamen Standpunkt" zu verabschieden, der bis heute (in der im Juli 2003 aktualisierten Version) einen „konstruktiven Dialog" der Europäischen Union mit Kuba an Fortschritte in der Frage der Menschenrechte und Einleitung demokratischer Reformen koppelt. Damit war der angestrebte Dialog beendet, bevor er begonnen hatte. Erst Ende der 90er Jahre erfolgte eine erneute Annäherung. Zum ersten europäisch-lateinamerikanischen Gipfel, der im Juni 1999 in Rio de Janeiro stattfand, wurde Fidel Castro - anders als zu den Summits ofthe Americas — eingeladen; in den nachfolgenden drei Jahren kam es zu einer regen Reisetätigkeit hochrangiger europäischer Regierungsvertreter nach Kuba und kubanischer Regierungsvertreter nach Europa; und im März 2003 eröffnete der damalige EU-Kommissar für Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe Poul Nielson in Havanna eine Ständige Vertretung der Europäischen Union. Auf die kurz danach erfolgte Verhaftung von 75 Dissidenten antworteten die Europäer mit der Verhängung diplomatischer Sanktionen und der Ankündigung, zu den üblichen Botschaftsempfängen anlässlich ihrer Nationalfeiertage künftig auch Mitglieder der Opposition und Angehörige der verhafteten Dissidenten einzuladen, woraufhin von kubanischer Seite die Teilnahme an derlei Veranstaltungen abgesagt und die bis dahin von den EU-Mitgliedsstaaten geleistete Entwicklungszusammenarbeit aufgekündigt wurde. Was folgte, war ein abstrus anmutender „Cocktailkrieg", der schließlich von den diplomatischen Vertretern der EU-Mitgliedsstaaten selbst als kontraproduktiv und höchst frustrierend erachtet wurde, da er wohl die interne Opposition - in der europäischen Öffentlichkeit - aufwerten mochte, sie selbst aber zur Untätigkeit verdammte, denn die Kubaner verwehrten ihnen jeglichen Kontakt zu amtlichen Stellen. Im Januar 2005 wurden die diplomatischen Sanktionen von Seiten der EU für sechs Monate - versuchsweise, wie es hieß — aufgehoben. Im Juni wurde dieser Beschluss für ein weiteres Jahr bekräftigt. Ein Jahr später, am 12. Juni 2006, erfolgte durch den Rat der Europäischen Union die nunmehr alljährliche Überprüfung des „Gemeinsamen

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Standpunkts", der erneut bekräftigt wurde. Wie in einer Pressemitteilung verlautete, bleibe die EU bei ihrem „konstruktiven Engagement" in Kuba und habe beschlossen, „mit der Ausarbeitung einer mittel- und langfristigen Strategie für Kuba zu beginnen". Doch wie eine solche Strategie aussehen könnte, blieb im Dunkeln, so dass die Meldung weder den europäischen noch den kubanischen Medien besonderer Erwähnung wert schien. Der „Gemeinsame Standpunkt" der Europäischen Union, der den Menschenrechts- und Demokratievorbehalt gegenüber Kuba weitaus rigoroser einsetzt als etwa gegenüber China und Vietnam, war 1996 während der spanischen Ratspräsidentschaft von dem damaligen spanischen Regierungschef Jose Maria Aznar durchgesetzt worden - dies nach Konsultationen mit den USA, deren Politik Aznar auch bei anderen Konflikten, etwa dem Irak-Krieg, bedingungslos unterstützte. Einer von Spanien ausgehenden Initiative verdankte sich auch die Revision der diplomatischen Sanktionen, nachdem im April 2004 der Konservative Aznar die Wahlen gegen den Sozialdemokraten Jose Luis Rodriguez Zapatero verloren hatte. Aznar ebenso wie Rodriguez Zapatero sahen sich im Kreis der EU-Mitgliedsstaaten erheblichen Widerständen gegenüber,94 und beide bewiesen, dass die Aussenpolitik der EU nicht unbedingt einen einheitlichen gemeinschaftlichen Willen repräsentiert, dass sich wandelnde nationale Interessen oder politische Präferenzen diese entscheidend beeinflussen können. Dennoch ist die Europäische Union bemüht, nach außen geschlossen aufzutreten, was während der 80er Jahre, im Kontext des Kalten Krieges und der Krisen in Zentralamerika, bei den in der Region am stärksten engagierten europäischen Staaten - die Bundesrepublik Deutschland, Großbritannien, Frankreich und Spanien — nicht immer der Fall war. Die Bundesrepublik Deutschland zeigte in der Vergangenheit in ihrem Engagement in der Karibik keine besonderen von (post-)kolonialen Interessen diktierten Vorlieben und förderte die Dominikanische Republik und Haiti ebenso wie Jamaika, Barbados, Guyana, Trinidad/Tobago und Suriname. Eine gezielte, vorrangig an politisch-ideologischen Leitlinien ausgerichtete Entwicklungspolitik war aus der Verteilung bundesdeutscher Entwicklungshilfe in der Karibik (und in Zentralamerika) nicht abzulesen.95 Wirtschaftliche Zu9 4 Als unversöhnliche Gegner einer Annäherung an das sozialistische K u b a erweisen sich insbesondere ehemalige Ostblock-Staaten wie etwa Tschechien, die seit der a m 1. M a i 2 0 0 4 erfolgten Osterweiterung der E U besonderen Einfluss auf die europäische Kuba-Politik zu gewinnen suchen. 95 D a die Haltung der D D R gegenüber der Dritten Welt strikt dem eigenen Gesellschaftsmodell und dem Ost-West-Konflikt verpflichtet war, kamen nur wenige befreundete

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sammenarbeit also im Zeichen des politischen Pluralismus? „Die Bundesregierung", so hieß es im „Fünften Bericht zur Entwicklungspolitik" vom März 1983 in einer Grundsatzerklärung, „wendet sich gegen Versuche, den OstWest-Gegensatz in die Dritte Welt hineinzutragen. Sie tritt für das Recht der Staaten ein, sich ihre politische, wirtschaftliche und soziale Ordnung frei und ohne äußere Einmischung selbst zu wählen. Ihre Politik zielt auf partnerschaftliche Zusammenarbeit in einer pluralistischen Welt." Allerdings, so war anlässlich der Vorlage des vierten entwicklungspolitischen Berichts ein Jahr zuvor vom Bundestag in einem amtlichen Beschluss präzisiert worden, bestanden durchaus Präferenzen: „Bei der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit der Bundesrepublik Deutschland sollte die Verwirklichung der Menschenrechte ein wesentliches Ziel der Politik der Bundesregierung sein [...], sollten jene Länder bevorzugt unterstützt werden, die sich um den Aufbau demokratischer Strukturen bemühen." Anfang der 80er Jahre hatte das Bundesministerium für Wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) unter Rainer Offergeid (SPD) weder das Nicaragua der Sandinisten noch das Haiti Duvaliers „diskriminiert". Doch war stets betont worden, dass neben Blockfreiheit und einer gemischten Wirtschaftsordnung die Einleitung eines „echten" Demokratisierungsprozesses im Fall Nicaragua - weniger strikt im Fall Haiti - für weitere entwicklungspolitische Zusammenarbeit unabdingbare Voraussetzung wäre. Die 1982 nachfolgende CDU-geführte Bundesregierung vertrat in groben Zügen dasselbe entwicklungspolitische Konzept. In der Haltung gegenüber Nicaragua - nicht gegenüber Haiti — wurde aber eine Revision vollzogen, die man zunächst vordergründig mit dem Hinweis auf die zunehmende Sicherheitsgefährdung bundesdeutscher Entwicklungshelfer rechtfertigte, dann aber mit der „Enttäuschung" über den innen- und außenpolitischen Kurs der Sandinisten begründete. Nachdem Neuzusagen an Nicaragua ohnehin ausgeschlossen worden waren, wurden zuvor bereitgestellte, noch aus den Bewilligungen der Haushalte 81 und 82 stammende Gelder gesperrt, während El Salvador - trotz eklatanter Menschenrechtsverletzungen - für 1984 finanzielle und technische Hilfe gewährt wurde. Damit hatte sich die Bundesregierung in ihrem enrwicklungspolitischen Engagement im großkaribischen Raum am Kurs der USA ausgerich-

sozialistische Länder, darunter Kuba, in den Genuss entwicklungspolitischer Projekte, über deren U m f a n g aber keine verlässlichen Daten vorliegen. G u t dokumentiert ist dagegen der Außenhandel der D D R mit der Dritten Welt, in dessen Rahmen Kuba (nach Jugoslawien) zum zweitgrößten Handelspartner wurde.

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tet, was zwar lange bestritten, vom zuständigen Minister Jürgen Warnke in einer Bundestagsdebatte dann aber ausdrücklich bestätigt und mit dem Hinweis darauf verteidigt wurde, dass die Bündnisloyalität gegenüber den Vereinigten Staaten, in deren Hände man schließlich die Sicherheit der Bundesrepublik und Berlins gelegt habe, keine „Einbahnstraße" sein dürfe. Während der 90er Jahre stieg die öffentliche Entwicklungshilfe (Official Development Assistance, ODA) zwar in absoluten Zahlen, ihr Anteil am Bruttosozialprodukt (oder neuerdings: Bruttonationaleinkommen) sank aber von 0,42 % (1990) kontinuierlich auf einen Tiefststand von 0,28% (1997). Und mit den gegenwärtig veranschlagten 0,35% ist die Bundesrepublik Deutschland weit davon entfernt, das von den Vereinten Nationen für die Industrieländer aufgestellte Ziel von 0,7% zu erreichen. Die knapper gewordenen Ressourcen werden nun gezielt an „Schwerpunktpartnerländer" vergeben, und die liegen vorzugsweise in Afrika südlich der Sahara sowie in Asien und Ozeanien, jedoch nicht in der Karibik, wo allein die Dominikanische Republik, Haiti und Kuba in der nachgeordneten Kategorie von „Partnerländern" berücksichtigt werden. Nach der Verhaftung kubanischer Dissidenten Anfang April 2003 sprach sich die Ministerin flir wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung Heidemarie Wieczorek-Zeul in einem Artikel der Financial Times Deutschland (2. 5. 2003) — unter dem Motto „Wandel durch Entwicklung" dezidiert gegen die von anderen europäischen Staaten geforderte Einstellung der Entwicklungszusammenarbeit mit Kuba aus. Ein verstärktes politisches Engagement ist von deutscher Seite aber weder in Kuba noch in anderen Staaten der Karibik zu erwarten, auch wenn die deutsche Exportwirtschaft in der Region überaus erfolgreich ist und Deutschland für Kuba als Handelspartner an fünfter Stelle steht. Großbritannien ist (wie Frankreich und Spanien) aufgrund seiner historischen Bindungen politisch weitaus stärker als Deutschland in der Karibik engagiert, auch wenn sich dieses Engagement im Wesentlichen auf die anglophone Karibik beschränkt und insbesondere während der Krisen der 80er Jahre nicht über eine eigenständige Außenpolitik manifestierte. Die konservative Premierministerin Margaret Thatcher teilte ohne Einschränkungen die Sichtweise Ronald Reagans und machte wie er Nicaragua als „Satelliten" Kubas und die vermeintlich drohende „Kubanisierung" der Region für die Konflikte im großkaribischen Raum verantwortlich. Eine Revision dieser Haltung forderte energisch der Außenpolitische Ausschuss des Unterhauses, der in einem Ende 1982 vorgelegten Untersuchungsbericht die „paranoide Feindschaft" der Reagan-Administration gegenüber linken Regierungen und die „Karibik-Initiative"

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als „Schauplatz ost-westlicher Konfrontation" scharf kritisierte. Großbritannien, so lautete die Empfehlung des Ausschusses, sollte bemüht sein, zur Eröffnung eines Dialogs zwischen den USA und Kuba beizutragen und - ohne Ausschluss Kubas oder Grenadas - durch verstärktes Engagement die demokratischen Strukturen, aber auch die wirtschaftliche Entwicklung der Region zu fördern, denn, so der Bericht, „die Grundursachen für politische Unruhen in der Karibik sind Armut und Ungerechtigkeit". Dass aber die Kritik und die Empfehlungen des Auswärtigen Ausschusses die Haltung der Regierung in irgendeiner Weise beeinflussen könnten, mochte kaum jemand erwartet haben. Nur in einem Punkt sah sich Großbritannien bemüßigt, gegenüber den USA Bedenken anzumelden: Die von Präsident Reagan angekündigte Wiederaufnahme von Waffenlieferungen an Guatemala würde, so der britische Einwand, die Sicherheit von Belize gefährden, wo Großbritannien als „Schutzmacht" im Territorialkonflikt mit Guatemala 1 500 Soldaten stationiert hielt. Im Anschluss an die Ereignisse in Grenada zeigte sich dann aber doch noch, wenn auch mit einiger Verspätung, dass die bis dahin herrschende Harmonie zwischen den Vereinigten Staaten und Großbritannien beeinträchtigt war. Nachdem die britische Regierungschefin unmittelbar nach der Invasion zunächst nur ihre „Zweifel" geäußert und betont hatte, dass das Bündnis beider Staaten ebenso wie der Zusammenhalt der NATO nicht durch Kritik an dem Vorgehen der USA gefährdet werden dürften, änderte Margaret Thatcher wenige Tage später - vermutlich unter dem Eindruck der Proteste nicht nur auf Seiten der Opposition, sondern auch in den Reihen der eigenen Konservativen Partei - ihre Haltung entschieden. Sie forderte die sofortige Ablösung der US-amerikanischen Soldaten durch eine multinationale Friedenstruppe, an der neben anderen Commonwealth-Staaten auch Großbritannien beteiligt sein könnte. Und ein Sprecher des Außenministeriums erklärte, dass die von den USA für ihr Eingreifen angeführten Beweggründe nach Einschätzung der britischen Regierung „nicht gerechtfertigt" gewesen seien. Seit Beginn der 90er Jahre hat das politische Engagement im großkaribischen Raum stark abgenommen, konzentriert sich Großbritannien nahezu ausschließlich auf die verbliebenen fünf Overseas Territories und die 12 unabhängigen CARICOM-Staaten, mit denen es im Commonwealth ofNations verbunden ist. Dieser aus mittlerweile 53 souveränen Staaten gebildete Zusammenschluss von (mit Ausnahme Kameruns und Mo$ambiques) ehemaligen britischen Kolonien ist ein Staatenbund, der über ein ständiges Sekretariat (in London) verfugt und dessen Staats- und Regierungschefs sich alle zwei Jahre zu einem Gipfeltreffen versammeln. Die einst große handelspolitische Bedeutung des Commonwealth, in

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dessen Rahmen Großbritannien seinen ehemaligen Kolonien Präferenzabkommen zugestand, entfiel, als Großbritannien 1973 der EWG beitrat und zwei Jahre später das erste Lomé-Abkommen in Kraft trat. Geblieben ist ein entwicklungs- und sicherheitspolitisches Engagement — und die verfassungsrechtlich wenig relevante, aber symbolträchtige Tatsache, dass in den karibischen Commonwealth-Stazten mit Ausnahme von Trinidad/Tobago, Dominica und Guyana die Königin von England als Staatsoberhaupt fungiert. Im Gegensatz zu Großbritannen war Frankreich nach dem Wahlsieg der Sozialisten unter François Mitterand im Mai 1981 um eine bewusst als eigenständig deklarierte und mit den Vereinigten Staaten nicht unbedingt übereinstimmende Außen- und Entwicklungspolitik bemüht. Was dies im Hinblick auf Lateinamerika im Allgemeinen und den großkaribischen Raum im Besonderen bedeuten sollte, offenbarte bereits die Berufung von Régis Debray in den Mitarbeiterstab des Präsidenten, der den angesehenen Linksintellektuellen und einstigen Weggefährten „Che" Guevaras in Bolivien für Fragen der Dritten Welt zu seinem engsten Berater machte. Und François Mitterrand selbst zögerte nicht, in klaren Worten - wie gegenüber der Tageszeitung Le Monde bereits im Sommer 1981 geschehen — seine „schwerwiegenden Vorbehalte" gegenüber der US-amerikanischen Zentralamerika-Politik zum Ausdruck zu bringen. Nicht „kommunistische Subversion", so Mitterand, sei für die Situation in Zentralamerika verantwortlich; der bewaffnete Kampf sei vielmehr „eine Reaktion auf Armut und Erniedrigung". So war es nur konsequent, dass die Zusammenarbeit mit Kuba und Grenada intensiviert, Haiti dagegen gedroht wurde, bei fortgesetzter Missachtung der Menschenrechte als Empfängerland französischer Entwicklungshilfe ausgeschlossen zu werden. Doch die französische Position blieb dort, wo die eigenen Interessen als (ehemalige) Kolonialmacht tangiert wurden, zwiespältig. So enthielt sich Frankreich bei der Abstimmung über den von Kuba in den Vereinten Nationen eingebrachten Antrag, den Kolonialstatus Puerto Ricos zu behandeln, der Stimme. So wurde auch die Verteilung französischer Entwicklungshilfe in der karibischen Inselwelt - mit eindeutiger Bevorzugung der konservativen Regierungen von Dominica, St. Lucia und St. Vincent — vorrangig von sicherheitspolitischen Erwägungen geleitet, die darauf abzielten, durch Stabilisierung dieser in unmittelbarer Nachbarschaft der französischen Überseedepartements Martinique und Guadeloupe gelegenen Staaten zu deren Schutz einen cordon sanitaire zu errichten. So wie die Départements d'Outre-Mer in der Karibik Frankreich als „Schaufenster" französischer Kultur und Zivilisation dienen, war die französische Au-

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ßen- und Entwicklungspolitik stets darauf bedacht, neben strategischen und wirtschaftlichen auch kulturelle Erwägungen ins Spiel zu bringen. Und das beinhaltete konkret, den französischen Anspruch, sich als herausragende europäische Kulturnation weltweit Geltung zu verschaffen, verknüpft mit dem Bemühen, der Vorherrschaft der englischen Sprache entgegenzuwirken. Die 1986 gegründete Organisation Internationale de la Francophonie (OIF), der neben Frankreich und den französischen Überseegebieten mittlerweile 47 Staaten angehören - darunter in der Karibik Haiti, Dominica und St. Lucia - , versteht sich in diesem Sinne als ein vorwiegend kulturelles Bündnis, dem aber auch eine politische Bedeutung zukommt, da es den internationalen Führungsanspruch Frankreichs unterstreicht. Spanien, die dritte, einst in der Karibik vertretene europäische Kolonialmacht, begann spät, sich auf seine mögliche Brückenfunktion zwischen Lateinamerika und Europa zu besinnen, da das Land erst nach dem Tod Francisco Francos 1975 die transición zur Demokratie erlebte und erst 1986 durch den Beitritt zur Europäischen Gemeinschaft in den europäischen Integrationsprozess einbezogen wurde. Sicherheitspolitische Erwägungen, die für Frankreich vorrangig sein mochten, waren für Spanien nicht relevant, da es seine letzten Besitzungen in der Karibik bereits 1898 durch den Spanisch-Amerikanischen Krieg verloren hatte. Hingegen forcierte Spanien sein wirtschaftliches Engagement in der Region, zögerte aber lange, sich auch politisch als mögliches Gegengewicht zur Politik der Vereinigten Staaten einzubringen. Gewiss: im zentralamerikanischen Konflikt unterstützte Spanien die Friedensbemühungen der Contadora-Gruppe; und die in diesem Sinne erfolgte Verleihung des angesehenen, von der spanischen Regierung gestifteten Preises „Principe de Asturias" an die Mitgliedsstaaten Mexiko, Venezuela, Kolumbien und Panama 1984 gab dieser Unterstützung ein zusätzliches Gewicht. Doch waren die dann regelmäßig an die USA gerichteten Appelle zur Einstellung der Zahlungen an die Contras ebenso wenig dazu geeignet, dem festgefahrenen Dialog neue Impulse zu verleihen, wie die mit derselben Regelmäßigkeit erfolgten Appelle an die nicaraguanische Regierung, „Mäßigung" zu üben und politischen Pluralismus zuzulassen. Vorsicht und eine gewisse Scheu, das Engagement in der Region mit dem durchaus angemessenen Gewicht zu vertreten, kennzeichnete auch die Politik gegenüber Kuba, obgleich schon während der 80er Jahre enge wirtschaftliche Beziehungen bestanden. Nachdem 1985 mehrere bedeutende Abkommen zur finanziellen und wirtschaftlichen Kooperation unterzeichnet worden waren, wurde Spanien für Kuba der wichtigste Handelspartner außerhalb des Rats für

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Die Karibik

gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW; Council for Mutual Economic Assistance, COMECON) und Kuba für Spanien der wichtigste Exportmarkt in Lateinamerika. Auch die politischen Kontakte galten als eng. Nachdem 1978 der damalige Regierungschef Adolfo Suárez zu einem Besuch nach Havanna gereist war, fanden regelmäßig auf allerhöchster Ebene Gespräche statt. Als im Februar 1984 Fidel Castro (nach der Beisetzung von Juri Andropov) auf dem Rückflug von Moskau für fünf Stunden in Madrid Station machte und von Felipe González zu einem Essen empfangen wurde, galt dieser erste Besuch Castros bei einem westeuropäischen Regierungschef geradezu als Sensation. Als Felipe González seinerseits im November 1986 im Rahmen einer Lateinamerika-Tour nach Havanna reiste, wurde das politische Gewicht dieses von den Kubanern öffentlichkeitswirksam inszenierten Staatsbesuchs durch die Spanier eher heruntergespielt. Außer der bei derartigen Anlässen bereits zur Pflichtübung gewordenen Reverenz gegenüber den Friedensbemühungen der Contadora-Gruppe enthielt das Abschlussprotokoll keine nennenswerten Aussagen. Und in den spanischen Medien wurde die dem Staatsbesuch zukommende politische Bedeutung überdeckt durch die Meldung eines eher beiläufig erzielten Erfolgs: die Freilassung eines aus Spanien gebürtigen und in Kuba einsitzenden Gefangenen, Eloy Gutiérrez Menoyo, der nach einem Komplott gegen Castro 1964 zu 25 Jahren Haft verurteilt worden war.96 Während der 90er Jahre konzentrierte sich das Interesse Spaniens in der Karibik und insbesondere in Kuba auf eine Verstärkung des wirtschaftlichen Engagements, mit der Folge, dass Spanien heute in Kuba als größter Investor auftritt und die Insel für Spanien als Handelspartner in Lateinamerika an dritter Stelle steht. Eine von der Mehrheit der hispanoamerikanischen Staaten durchaus gewünschte expansive und integrative Lateinamerika-Politik zu betreiben, wurde von Spanien lange Zeit vermieden, da man sich nicht dem Verdacht aussetzen wollte, die unter Franco als hegemoniales Instrument eingesetzte Idee der hispanidad Wiederaufleben zu lassen. Mittlerweile sind derartige Skrupel verschwunden, ist auch in Lateinamerika ein solcher Verdacht aus dem Weg geräumt. So wurde der auf dem ersten, 1991 in Guadalajara (Mexiko) abgehaltenen Iberoamerika-Gipfel initiierte Dialog im Oktober 2005 in

96 Ein weiteres konkretes und durchaus überraschendes Ergebnis erzielte Felipe Gonzalez bei der Frage der Entschädigung von 3 151 Spaniern, die 1959 in Kuba enteignet worden waren. Spanien hatte ursprünglich 270 Millionen US-$ gefordert, die Summe dann aber auf 120 Millionen herabgesetzt. Man einigte sich auf 40 Millionen, von denen zwei Drittel sofort und der Rest in Raten über 15 Jahre zu zahlen waren.

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Salamanca dadurch intensiviert und gestärkt, dass ein ständiges Sekretariat (in Madrid) geschaffen und die Iberoamerikanische Staatengemeinschaft (Comunidad Iberoamericana de Naciones) als international relevantes Forum offiziell ins Leben gerufen wurde. Der Comunidad gehören neben Spanien, Portugal und Andorra alle lateinamerikanischen Staaten an. Das Ziel des ersten Gipfels war, so lautete das zentrale Diskussionsthema, die „Schaffung eines Forums zur Förderung der politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Integration". Das Motto des XV. Gipfels von Salamanca lautete: „Eine Gemeinschaft mit eigener Stimme." Dass sich diese Stimme auch gegen den - dann in der Tat erfolgten - Protest der Vereinigten Staaten laut und vernehmlich äussern würde, war spätestens in der Abschlusserklärung zu erkennen, in der nicht mehr nur das „Embargo", sondern die „Blockade" der USA gegen Kuba verurteilt wurde.

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D I E A N T W O R T DER R E G I O N : G R A T W A N D E R U N G REGIONALER SOLIDARITÄT U N D NATIONALEM

ZWISCHEN

EGOISMUS

Die Haltung der USA wie die der meisten anderen in der Karibik engagierten Staaten hat in der Vergangenheit erkennen lassen, dass — bei allem guten Willen, den einzelne Akteure bekunden mochten - das entwicklungspolitische Engagement allgemein politischen, sicherheitspolitischen oder wirtschaftlichen Erwägungen nach- oder untergeordnet war. Die Staaten der Region mochte der Umstand mangelnder Selbstlosigkeit bei den Geberländern nur wenig berühren, solange die nationale Souveränität unangetastet blieb und der von den Commonwealth-Staaten eingeleitete Integrationsprozess nicht nachhaltig gestört wurde. Seit ihrem Zusammenschluss 1973/74 hatten sich die 12 Mitglieder der Caribbean Community (CARICOM) nicht selten schwer getan, Konkurrenzdenken und nationalen Egoismus zurückzustellen und die von allen nicht nur in handels- und zollpolitischen, sondern auch in außen- und entwicklungspolitischen Fragen als notwendig erachtete Zusammenarbeit zu verwirklichen. 1976 hatten die „big four" der Gemeinschaft - Barbados, Guyana, Jamaika und Trinidad/Tobago - in einem separaten Abkommen eine verstärkte Kooperation untereinander vereinbart. Dies ging zu Lasten der „little eight", der ärmeren ostkaribischen Staaten und Territorien, die sich ihrerseits zwecks engerer Zusammenarbeit 1981 in der Organization ofEastern Caribbean States (OECS) zusammenschlössen, ohne dass aber in außen- und entwicklungspolitischen Fragen die angestrebte Einigkeit erzielt werden konnte. Zusätzlichen Zwist säte

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die im Rahmen der „Karibik-Initiative" bevorzugte Behandlung von Jamaika, das entsprechend dem Willen der USA nach der Ablösung des ungeliebten Michael Manley durch Edward Seaga als Modellfall einer demokratischen Entwicklung gelten sollte. Seaga war unter den Regierungschefs der CARICOMStaaten denn auch der einzige, der die „Karibik-Initiative" vorbehaltlos begrüßte — eine verständliche Reaktion angesichts der 50 Millionen US-$, die Jamaika im Rahmen der Erstausstattung erhalten sollte und die besonders bei den zunächst mit insgesamt nur 10 Millionen Dollar bedachten OECS-Mitgliedern beträchtlichen Unmut hervorriefen. Eine Solidarisierung bewirkten dagegen (ungewollt) die USA, als sie mit massivem Druck auf den Ausschluss Grenadas aus der Karibischen Gemeinschaft und der O E C S hinzuwirken suchten. Das Bemühen, trotz der politischideologischen Differenzen innerhalb der Gemeinschaft gegenüber den Vereinigten Staaten Einigkeit zu demonstrieren, führte beim Gipfeltreffen der CARICOM-Regierungschefs in Ocho Rios (Jamaika) im November 1982 zum Erfolg. Man einigte sich auf die Feststellung, dass die Verletzung fundamentaler Menschenrechte zwar zum Ausschluss fuhren könne, der politische Pluralismus innerhalb der Gemeinschaft aber akzeptiert werde. Auf dem nachfolgenden Treffen in Port ofSpain (Trinidad) im Juli 1983, an dem nun auch die Bahamas als vollwertiges 13. Mitglied der Karibischen Gemeinschaft teilnahmen, wurde der gemeinsame Standpunkt erneut bekräftigt. Zwecks weiterer Demonstration der Einigkeit wurde hervorgehoben, dass das Prinzip der Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten eines anderen Staates fiir jedes Mitglied verpflichtend sei. Doch nur wenige Monate später, angesichts der turbulenten Ereignisse in Grenada, wurde dieses Prinzip ebenso wie die bis dahin demonstrierte Einigkeit den partikularen Interessen derer geopfert, die nach dem Tod von Maurice Bishop die Chance sahen, sich ein für alle Mal der (bei aller Bereitschaft zur Kooperation) als kommunistische Bedrohung angesehenen Revolutionsregierung in Grenada zu entledigen. Auf der am 22./23. Oktober 1983, zehn Tage nach dem Putsch gegen Maurice Bishop, in Port of Spain unter Ausschluss Grenadas abgehaltenen Dringlichkeitssitzung der CARICOM-Mitglieder wurde zunächst noch versucht, eine gemeinsame Haltung durchzusetzen. Aber selbst der auf Betreiben von Jamaika und Barbados zustande gekommene, noch relativ inoffensive Beschluss, die Mitgliedschaft Grenadas auf unbestimmte Zeit, bis zur Rückkehr zur „Normalität", auszusetzen, war keine einstimmige Entscheidung, die gemäß CARICOM-Statuten allein hätte bindend sein können. Widersprochen hatte Guyana, das sich zusammen mit Trinidad/Tobago auch einer von Jamai-

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ka, Barbados und den OECS-Mitgliedern befürworteten militärischen Intervention widersetzte, während sich Belize und die Bahamas zwar gegen ein solches Vorgehen aussprachen, sich bei der Abstimmung am 23. Oktober aber der Stimme enthielten. Als die ostkaribischen Staaten noch am selben Tag ein formales Hilfeersuchen an die USA richteten, geschah dies - wie am 26. Oktober in Castries (St. Lucia) in einem offiziellen Kommunique mitgeteilt - unter Berufung auf Artikel 8 des OECS-Gründungsvertrags, der zwar im Rahmen eines Verteidigungs- und Sicherheitsbündnisses gemeinsame Maßnahmen vorsieht, dies aber nur gegen Angriffe von außen. Die Intervention in Grenada führte innerhalb der anglophonen Karibik zunächst zu einer Polarisierung, der sogar eine Spaltung zu folgen drohte. Wortführer einer auf die Spaltung abzielenden Lösung des Konflikts war Edward Seaga. Er plädierte für eine Umstrukturierung der Caribbean Community, die sich - unter Wegfall des bis dahin gültigen Prinzips des politisch-ideologischen Pluralismus und damit unter Ausschluss der „Kooperativen Republik" Guyana - als CARICOM 2 neu konstituieren sollte. Einem solchermaßen exklusiv verstandenen Bündnis erteilten die anderen CARICOM-Regierungschefs auf ihrem Treffen in Nassau (Bahamas) im Juli 1984 eine Absage. Wieder einmal wurde die politische Einigkeit bekräftigt. Uber die tiefgreifenden Differenzen vor allem in Fragen des intraregionalen Handels konnten politische Bekenntnisse und Absichtserklärungen jedoch nicht hinwegtäuschen. In den voraufgegangenen Jahren war der Handel innerhalb des Karibischen Gemeinsamen Marktes (Caribbean Common Market, CCM), dem außer den Bahamas alle CARICOM-Mitglieder angehörten, erheblich zurückgegangen: zwischen 1982 und 1983 allein um 15%. Als Ursache für diese der regionalen Integration und dem Abbau von Außenabhängigkeit entgegenstehenden Entwicklung wurden vor allem zwei Faktoren genannt: die unerlaubten Zollschranken, mit denen Trinidad/Tobago, wichtigster Markt in der anglophonen Karibik, die eigene krisengeschüttelte Volkswirtschaft zu schützen suchte; und die Schließung der den Zahlungsausgleich im intraregionalen Handel erleichternden CARICOM Multilateral Clearing Facility als Folge der Zahlungsrückstände Guyanas, das allein gegenüber Barbados mit 65 Millionen US-$ im Minus stand. Ein gemeinsamer politischer Wille, der den stagnierenden Integrationsprozess neu hätte beleben können, kam innerhalb der Caribbean Community während der 80er Jahre nicht zustande. Allein innerhalb der Organisation Ostkaribischer Staaten (OECS) wurde ein solcher Wille artikuliert. So konnten John Compton (St. Lucia) und James Mitchell (St. Vincent) auf einem Treffen der

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OECS-Regierungschefs im Mai 1987 eine Initiative durchsetzen, mit der die Möglichkeit der Gründung einer ostkaribischen Föderation (möglicherweise unter Einbeziehung von Barbados) geprüft werden sollte. Doch der Vorstoß scheiterte an den unterschiedlichen ökonomischen Interessen und den Gegensätzen zwischen den vorwiegend agrarisch geprägten Inseln, zu denen St. Lucia und St. Vincent zählen, und den stark auf den Tourismus setzenden Inseln, als deren Wortführer sich der Regierungschef von Antigua/Barbuda, Vere Bird (Sr.), profilierte, so dass auch hier keine Fortschritte in Richtung auf eine stärkere Kooperation und Integration erzielt wurden. Erst gegen Ende des Jahrzehnts setzte sich die Einsicht durch, dass es neuer Anstrengungen bedurfte, um den sich abzeichnenden weltpolitischen und weltwirtschaftlichen Veränderungen wirkungsvoll begegnen zu können. Das erste Ergebnis war die Gründung der Association of Caribbean States (ACS) im Juli 1994, die ein weitaus ambitionierteres Integrationsprojekt als die Caribbean Community repräsentierte, denn zu den Unterzeichnern des Gründungsvertrags gehörten neben den Staaten der Commonwealth-Ka.nb\\i sowie Haiti, Kuba, der Dominikanischen Republik und Suriname auch die zentralamerikanischen Staaten sowie Mexiko, Kolumbien, Venezuela und (als assoziierte Mitglieder) Aruba, die Niederländischen Antillen sowie Frankreich (in Vertretung der französischen Uberseedepartements). Eine Annäherung der nach außen relativ geschlossen auftretenden Karibischen Gemeinschaft an die anderen, nicht anglophonen Nachbarstaaten war bereits zuvor dadurch geschehen, dass Haiti, der Dominikanischen Republik und Suriname in einigen CARICOM-Ausschüssen Beobachterstatus eingeräumt und mit Kuba in einer Gemeinsamen Kommission Konsultationen vereinbart worden waren. Eine stärkere Bindung an die hispanoamerikanischen Staaten des Kontinents war dagegen aufgrund der ungelösten territorialen Konflikte zwischen Belize und Guatemala sowie Guyana und Venezuela in der Vergangenheit Belastungen ausgesetzt gewesen, die zu einer starken Distanzierung gefuhrt hatten.97 Der nun erfolgte Zusammenschluss war eine Demonstration der Geschlossenheit

97 Besonders deutlich wurde dies während des Falkland-Malvinen-Konflikts 1982, in dem die hispanoamerikanischen Staaten durchweg auf argentinischer Seite standen, die Staaten der anglophonen Karibik (mit Ausnahme Grenadas) dagegen die Besetzung des strittigen Territoriums durch Argentinien als Verstoß gegen das Selbstbestimmungsrecht der Völker verurteilten. Dies geschah sicher zum Teil aus Solidarität gegenüber Großbritannien, vor allem aber in der nicht unbegründeten Furcht, Guatemala und Venezuela könnten, durch das Beispiel Argentiniens ermutigt, ihre territorialen Ansprüche gleichfalls mit Waffengewalt durchzusetzen versuchen. Einen Tiefpunkt in den Beziehungen zwischen

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auch gegenüber den USA, die ebenso wenig dazugehören wie Puerto Rico und die US-amerikanischen Jungfern-Inseln. Praktische Bedeutung hat die Association ofCaribbean States aber bislang kaum erreicht, da sie mit einem nur bescheidenen Budget ausgestattet wurde und ihre Mitglieder, eingebunden in unterschiedliche regionale bzw. subregionale Kooperationsabkommen, dieser heterogenen Gemeinschaft für die Durchsetzung gemeinsamer Strategien (noch) zu geringe Chancen einräumen. Von größerer politischer und wirtschaftlicher Tragweite war die im Zuge einer Revision des Gründungsvertrags von CARICOM im Jahr 2001 erfolgte Umstrukturierung des Common Market hin zu einer Wirtschaftsunion - CAR I C O M Single Market undEconomy (CSME) die am 1. Januar 2006 in Kraft trat und der neben den 13 anglophonen CARICOM-Mitgliedern Suriname und Haiti angehören, nachdem die beiden Staaten 1995 bzw. 2002 die vollwertige CARICOM-Mitgliedschaft erhalten haben. Neben einer gemeinsamen Zoll-, Handels- und Währungspolitik sollen schrittweise auch andere Bereiche wie die Agrarwirtschaft, die industrielle Entwicklung und die Bildungspolitik koordiniert und angepasst werden. Ein heikles Problem bleibt ausgespart: Neben dem freien Waren-, Dienstleistungs- und Kapitalverkehr wird der freie Personenverkehr auf einen kleinen, gerade die Mehrheit der ungelernten Arbeitsmigranten ausschließenden Kreis von Hochschulabsolventen, Künstlern und Sportlern beschränkt - eine protektionistische Maßnahme, die besonders bei den ostkaribischen Staaten, welche eine hohe Auswanderungsquote aufweisen, auf Protest stieß. Ob die ambitionierten Ziele der neuen Caribbean Community in absehbarer Zeit umgesetzt werden können oder zumindest der intraregionale Warenaustausch, der gegenwärtig kaum mehr als 15% des gesamten Handelsvolumens ausmacht, gesteigert werden kann, bleibt abzuwarten. Gesteigert hat sich das Vertrauen in die eigene Stärke und die Entschiedenheit, mit der die Gemeinschaft ihr politisches Gewicht einzubringen sucht: im Zusammenhang mit der US-amerikanischen Haltung gegenüber Kuba, das man in den karibischen Integrationsprozess einbezieht, ebenso wie im Zusammenhang mit den jüngsten Ereignissen in Haiti, wo man den erzwungenen Rücktritt von Präsi-

anglophoner Karibik und Hispanoamerika markierte das CARICOM-Gipfeltreffen im November desselben Jahres, auf dem ernsthaft erwogen wurde, aus der Organisaton Amerikanischer Staaten (OAS) und dem Lateinamerikanischen Wirtschaftssystem (Sistema Económico Latinoamericano, SELA) auszutreten. (SELA war 1975 unter Einbeziehung Kubas, aber unter Ausschluss der USA gegründet worden.)

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dent Aristide als unzulässige Einmischung des Auslands in innerkaribische Angelegenheiten scharf verurteilte. Am Beginn des 21. Jahrhunderts sind die ehemals spanischen, französischen und englischen Kolonien einander näher als je zuvor. Der Integration des karibischen Raums sind aber erhebliche Grenzen gesetzt, die aus vielfältigen Faktoren resultieren: als Erbe der Kolonialzeit die Herausbildung unterschiedlicher Traditionen und eine politische wie kulturelle Fragmentierung, die zu dem führte, was der Historiker Franklin W. Knight als „fragmentierten Nationalismus" bezeichnete; unterschiedlicher verfassungsrechtlicher Status, vom völkerrechtlich unabhängigen Staat über verschiedene Formen verdeckter kolonialer Abhängigkeit bis hin zur (Krön-) Kolonie mit beschränkter Selbstverwaltung; unterschiedliche politische Systeme, von der parlamentarischen Monarchie innerhalb des Commonwealth of Nations oder der parlamentarischen Demokratie nach Westminster-Modell über die „kooperative" Republik bis hin zur sozialistischen Republik; schließlich unterschiedliche wirtschaftliche Entwicklung, die nationalen Egoismus fördert und der notwendigen regionalen Solidarisierung entgegenwirkt. Eine verstärkte regionale Integration und Kooperation könnte im Zeitalter der Liberalisierung und Globalisierung Risiken mindern und Chancen erhöhen. Gegenüber den Chancen, so die Kritiker der auch in der Karibik unter den Regierenden weit verbreiteten Freihandelseuphorie, überwiegen die Risiken, da die kleinen Inselökonomien im weltweiten Wettbewerb nicht konkurrenzfähig sind und die strukturelle Außenabhängigkeit durch den Prozess der Entkolonisierung nicht überwunden wurde. Entkolonisierung heißt nicht nur Ablösung von kolonialer Fremdherrschaft durch nationale Herrschaftssysteme. Entkolonisierung heißt auch Nutzbarmachung der eigenen Ressourcen für eine binnenorientierte, nicht fremdgesteuerte, nachhaltige Entwicklung. Und Entkolonisierung heißt schließlich auch Überwindung der kulturellen Abhängigkeit: Rückbesinnung auf das eigene ethnischkulturelle Erbe, Überwindung der eurozentrischen Perspektive und Neuorientierung in Richtung auf die Definition einer nationalen oder „karibischen" Identität. Ob und inwieweit dieser Prozess einer kulturellen Entkolonisierung gelungen ist, wird im nachfolgenden zweiten Teil beschrieben werden.

TEIL

2

Kulturen zwischen kolonialer Assimilation und postkolonialer Kreolisierung

Das Kulturschaffen der karibischen Staaten und Territorien auf so knappem Raum in einer Gesamtdarstellung erfassen zu wollen, mag angesichts der ethnisch-kulturellen Fragmentierung und sprachlichen Vielfalt - gesprochen werden mit Kreolvarietäten die Basissprachen Englisch, Französisch, Spanisch und Niederländisch — gewagt oder gar abwegig erscheinen. Hat man sich aber intensiver mit der Literatur, den mündlich überlieferten Erzählformen oder der Musik dieser Region befasst, wird sehr schnell deutlich, dass trotz nationaler und regionaler Besonderheiten eine Vielzahl konstanter Themen, Topoi und Strategien das Bild eines relativ einheitlichen Kulturraums vermittelt. Diese Konstanten ergeben sich im Wesentlichen aus der gemeinsamen historischen Erfahrung, welche die psychische Struktur und soziale Wirklichkeit von Individuum und Kollektiv entscheidend geprägt hat: koloniale Abhängigkeit und damit kulturelle Dominanz der europäischen Metropolen; Verschleppung und Versklavung für den in weiten Teilen der Karibik demographisch überwiegenden farbigen Bevölkerungsteil und damit dessen Entwurzelung und Entfremdung von seiner originären afrikanischen Gesellschaftsform und kulturellen Tradition; die konfliktive Wirklichkeit der Sklavenhalter- und nachfolgenden „freien" Gesellschaften, die aufgrund ihrer durch Rassenvorurteile geprägten Strukturen die Desintegration und Assimilation von Gruppe und Individuum als einzig probates Mittel für den sozialen Aufstieg erscheinen ließen; der langwierige Prozess der Entkolonisierung, der zu einer Rückbesinnung auf das afrikanische Erbe führte und in dessen Verlauf neue, hybride oder „kreolische", Identitäten und Kulturformen entwickelt wurden; schließlich das Phänomen der neuerlichen massiven Migration, nunmehr aus der Karibik

D i e Karibik

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nach Europa, Kanada und in die USA, wo sich wiederum neue, transnationale oder „diasporische", Identitäten formierten, die über ihre kulturelle Praxis den mainstream der Aufnahmegesellschaft zu erobern suchen. Migration, so der aus Barbados stammende Poet und Essayist Edward Kamau Brathwaite in seinem Essayband Roots ( 1 9 8 6 ) , bildet als Wunschvorstellung oder als Notwendigkeit „den Kern westindischer Sensibilität - sei es als Tatsache oder als Metapher".1 Und das Konzept der Kreolisierung, so derselbe Autor in The Development of Creole Society in Jamaica, 1770-1820 ( 1 9 7 1 ) , liefert die Basis für die Begründung einer genuin westindischen (oder: karibischen) Identität. Der langwierige und schmerzhafte Prozess der Identitätsfindung ist eine Konstante der karibischen Literaturen. Unterschiedlich ist nur der Zeitpunkt, zu dem er in den einzelnen Staaten und Territorien einsetzte, und das Ergebnis, zu dem er führte, da die genannten Faktoren der kollektiven historischen Erfahrung mit unterschiedlicher Dauer und Intensität erlebt wurden.

1 KOLONIALE D E P E N D E N Z UND ROMANTISCHER DER ENGLISCHE, NIEDERLÄNDISCHE UND SPRACHRAUM

IM 1 9 .

PATRIOTISMUS:

FRANZÖSISCHE

JAHRHUNDERT

Während des 19. Jahrhunderts war die literarische Produktion in den Kolonien der Karibik Spiegel der Machtverhältnisse und Interessen der Eliten, die allein Zugang zur Schriftkultur besaßen. Die Autoren orientierten sich an den Tendenzen und Vorbildern der europäischen Literaturen, und ihre Werke waren „klassizistisch", „romantisch" oder „realistisch", je nachdem welche Stilrichtung in den Metropolen Triumphe feierte; dies zumeist mit einigem Rückstand, da man beharrlich an herkömmlichen, anerkannten Modellen festhielt und sich gegenüber Neuerungstendenzen zurückhaltend zeigte. Eigene innovatorische Impulse waren undenkbar, denn für die Eliten der kolonialen und selbst der postkolonialen Gesellschaften, mochte es sich nun um die weiße Oberschicht oder um die aufgestiegenen Farbigen handeln, war die Überlegenheit der europäischen Kulturen unbestritten, war eine bisweilen nahezu sklavische Nachahmung der europäischen Stilrichtungen und Erfolgsautoren der am geeignetsten erscheinende Weg, beim (vorwiegend metropolitanen) Leser Anerkennung zu finden.

1

„Sir G a l a h a d and the Islands", in: Roots. A n n A r b o r : University o f M i c h i g a n Press

1 9 9 3 ( ' 1 9 8 6 ) , S. 7 .

2. Kulturen zwischen kolonialer Assimilation und postkolonialer Kreolisierung

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Eine Thematisierung der karibischen Wirklichkeit, die dieser epigonalen Literatur eine besondere Note hätte verleihen können, war selten. Sie erschien nur dann geboten, wenn es galt, die Zustände in der Kolonie gegen mögliche Kritik aus dem Mutterland zu verteidigen oder - sehr viel häufiger - dem europäischen Drang nach romantischer Schwärmerei und exotistischer Fluchtbewegung entgegenzukommen. Hier erschöpfte sich der Verweis auf die karibische Wirklichkeit in der idealisierenden Schilderung der Landschaft und der Schönheit der (farbigen) Frauen, wobei jenes idyllisch-pittoreske Bild vom tropischen Paradies reproduziert wurde, das auch europäische Reisende und Missionare ihren Lesern unterbreiteten. Die prekären Lebensbedingungen der schwarzen Sklaven wurden meist ebenso ausgespart wie ihre kulturellen Praktiken, die man als Zeichen afrikanischer „Wildheit" und „Barbarei" allenfalls dann einbrachte, wenn sie dem Reiz des Exotischen eine zusätzliche Dimension verleihen mochten. Für die Sklaven selbst waren diese kulturellen Praktiken dagegen ein Instrument der Selbstbehauptung und des Widerstands, und es gelang ihnen, im Bereich von Sprache, Religion, oralen Erzählformen, Musik und Tanz trotz mancherlei Verbote einen Teil ihres afrikanischen Erbes zu bewahren.2 In den britischen Kolonien traten bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts kaum nennenswerte Autoren in Erscheinung. Da die weißen Plantageneigner vorwiegend in der Metropole lebten und sich auf ihren Besitzungen von Vorarbeitern vertreten ließen, da überdies die West Indies innerhalb des weitverzweigten British Empire relativ unbedeutend waren und demzufolge von der Metropole vernachlässigt wurden, konnte sich keine selbstbewusste, den Kolonien verpflichtete kulturtragende Elite herausbilden. Die wenigen, an englischen Vorbildern orientierten Werke, die publiziert wurden, erschienen zumeist anonym. Ihre Autoren vermochten weder in der Beschreibung der Landschaft noch in der (gelegentlich auch kritischen) Schilderung der Lebensbedingungen in den Sklavenhaltergesellschaften die europäische Perspektive durch eine westindische zu ersetzen. Einzig auf dem Kontinent, in BritischGuayana, wurden (in der Regel gleichfalls anonym) literarische Zeugnisse, vorwiegend Gedichte, verfasst, in denen das Erlebnis der noch unerforschten, so andersartigen Natur einen nun nicht mehr nur epigonalen sprachlichen Ausdruck fand. Auch in den niederländischen Kolonien entstand während des 19. Jahrhunderts keine herausragende Literatur, da sich aufgrund der wechselvollen Ge2

Vgl. hierzu Kap. 6.

168

D i e Karibik

schichte von Eroberung und Kolonisierung und der daraus resultierenden vielfältigen sprachlichen und kulturellen Einflüsse keine der europäischen Sprachen als gemeinsames Kommunikationsmittel und Schriftsprache durchsetzen konnte. Auf den Antillen kamen die einzigen, zaghaften Impulse von spanischsprachigen Emigranten aus Venezuela und Kolumbien. Hier entwickelte sich Curaçao als Handelszentrum und Brücke zum südamerikanischen Kontinent zu einem bedeutenden kulturellen Zentrum, wo bis in das 20. Jahrhundert die spanische Sprache dominierte und zahlreiche Autoren, unter ihnen JOSEPH SICKMAN CORSEN (1853-1911), vorzugsweise der spanischen Romantik verpflichtete Lyrik veröffentlichten. In Niederländisch-Guayana waren es zunächst Engländer, gegen Ende des Jahrhunderts Niederländer, die einige wenige, ausschließlich der europäischen Tradition verpflichtete Werke verfassten. Neben dieser epigonalen Literatur wurde aber in den niederländischen Kolonien aufgrund des Fehlens einer verbindenden (europäischen) „Kultursprache" den Kreolsprachen als lingua franco, früher als in den anderen Kolonien des karibischen Raums Beachtung geschenkt: auf den Inseln Papiamentu (Bonaire und Curaçao) bzw. Papiamento (Aruba), in Niederländisch-Guayana Sranan oder Sranan Tongo, das sich aus dem Ningre oder „Negerenglisch" der Sklaven entwickelte, und Sarnami, das aus dem Sprachkontakt von Sranan und Hindi entstand. Christliche Missionare hatten seit dem Ende des 18. Jahrhunderts über Grammatiken und Wörterbücher eine Kodifizierung dieser Kreolsprachen begünstigt, mit der Folge, dass sie früher als andernorts über die Publikation populärer Erzählstoffe der oralen Tradition als literarisches Ausdrucksmittel genutzt wurden. Die französischen Kolonien erfuhren die kulturelle Abhängigkeit vom Mutterland am nachhaltigsten, denn die „mission civilisatrice", die von den Franzosen bei ihren kolonialen Unternehmungen der eigenen Sprache und Kultur beigemessen wurde, wirkte im Sinne einer Assimilation der Farbigen an die Kultur der weißen Kolonialherren mit besonderem Erfolg. Dies bedeutete konkret: Verinnerlichung der eurozentrierten sozialen und kulturellen Werte einschließlich des weißen Rassenvorurteils sowie Desintegration der Gruppe und Entfremdung des Individuums, das seine Vergangenheit als afrikanischer „Barbar" durch bedingungslose Bejahung der französischen Zivilisation zu vergessen suchte, dem aber als Franzose „zweiter Klasse" die ersehnte Gleichstellung verwehrt blieb. Die literarische Produktion der weißen Kolonialherren, ausgerichtet an metropolitanen Vorbildern und den Erwartungen der metropolitanen Leser, lieferte bis weit in das 20. Jahrhundert das romantisch-idyllische Klischee vom

2. Kulturen zwischen kolonialer Assimilation und postkolonialer Kreolisierung

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tropischen Paradies, Le jardin des Tropiques (1911), wie der überaus produktive DANIEL THALY (1879-1950) einen seiner vielen Gedichtbände betitelte. Diese nicht selten mit rassistischen Elementen angereicherte Literatur spiegelt eindrücklich den verengten Blick der Europäer, der vorrangig auf Schönheit und Harmonie gerichtet war. Die Konflikte der kolonialen Gesellschaft wurden nur selten evoziert - einer Gesellschaft, die gegen Ende des Jahrhunderts zum Untergang verdammt war und deren Abgesang (in der 1911 erschienenen Gedichtsammlung Eloges) dem aus Guadeloupe gebürtigen, jedoch in Frankreich aufgewachsenen späteren Nobelpreisträger für Literatur, SAINT-JOHN PERSE (Pseudonym für Alexis Saint-Léger Léger, 1887-1975), zu erstem literarischen Ruhm verhalf. Dieser „littérature doudouiste" - „doudou" bezeichnet im lokalen Sprachgebrauch das „Liebchen" - wussten die farbigen Autoren der französischen Antillen keine eigenkulturelle Praxis entgegenzusetzen. Und mit welchem Erfolg diesen die Assimilation an Ideologie und Kultur der Weißen gelungen war, wurde von einem unerbittlichen Kritiker, dem aus Martinique gebürtigen Etienne Léro, treffend, wenn auch polemisch überspitzt, so gesehen: „Der antillais, vollgestopft mit weißer Moral, weißer Kultur, weißer Erziehung und weißen Vorurteilen, enthüllt in seinen literarischen Werken das aufgeblasene Bild seiner selbst. [...] Für ihn ist es ein Gebot der Ehre, dass ein Weißer sein Buch zu lesen vermag, ohne seine Hautfarbe zu erraten."3 Haiti, das 1804 als erster Staat des karibischen Raums die politische Unabhängigkeit errang, besaß — zumindest theoretisch — die Chance, auch im Kulturleben die bis dahin vorherrschenden französischen Modelle durch eigene, in der haitianischen Wirklichkeit verankerte Bezugspunkte zu ersetzen. Doch der herrschenden Bourgeoisie, Mulatten wie Schwarzen, gelang es trotz des militärischen Sieges über die Franzosen nicht, den über mehr als zwei Jahrhunderte kolonialer Unterdrückung und kollektiver Entfremdung verinnerlichten Komplex, einer minderwertigen Rasse anzugehören, durch eine (Rück-) Besinnung auf afrikanische oder haitianische Werte abzuschütteln. Somit blieb Frankreich auch nach der Unabhängigkeit das Mekka der haitianischen Literaten, orientierten sich Autoren wie der Romancier DEMESVAR DELORME ( 1 8 3 1 - 1 9 0 1 ) oder der Lyriker OSWALD DURAND ( 1 8 4 0 - 1 9 0 6 ) a m

Kanon der ehemaligen Metropole. Doch immerhin wurden in Haiti durch die frühe Unabhängigkeit und die (physische) Ausschaltung der Franzosen

3 „Misère d'une poésie", in: Légitime Défense (Paris) 1, 1932, S. 10 (Nachdruck Paris: Jean-Michel Place 1979).

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Die Karibik

auf haitianischem Boden Voraussetzungen geschaffen, die den im 20. Jahrhundert einsetzenden Prozess der Bewusstwerdung einer eigenen kulturellen Identität begünstigten. Zum einen konnte die Masse der schwarzen, vorwiegend kleinbäuerlichen Bevölkerung — wenn auch zum Preis wirtschaftlicher Rückständigkeit und Misere - in weitaus größerem Umfang als andernorts in der karibischen Inselwelt das afrikanische Kulturerbe bewahren: die orale Tradition (historische und mythologische Erzählungen, Fabeln, Rätsel, Sprichwörter) ebenso wie Glaubensinhalte und Riten afrikanischer Religionen, die mit dem Katholizismus die synkretistische Verbindung des Vodu eingingen. Zum andern erwachte durch die erfolgreiche Revolution ein ausgeprägter Patriotismus, verknüpft mit einem nationalen Projekt und ersten Entwürfen einer nationalen Identität. Allerdings war die romantische Verherrlichung des Freiheitskampfes und seiner Helden eher den in Frankreich geschaffenen literarischen Konventionen verpflichtet als der haitianischen Geschichte. Da aber die in den patriotischen Gedichten und Dramen besungenen Helden - Toussaint Louverture, Jean-Jacques Dessalines oder Henri Christophe - schließlich Farbige waren, da sich Haiti schließlich als „erste Negerrepublik" der Welt und als erster unabhängiger Staat in Lateinamerika konstituieren konnte, führte dieser Patriotismus zwangsläufig zu einer Kampfansage an das Rassenvorurteil der Weißen und ersten Ansätzen einer Rehabilitierung der schwarzen „Rasse". HANNIBAL PRICE ( 1 8 4 1 - 1 8 9 3 ) , der neben ANTÉNOR FIRMIN ( 1 8 5 0 - 1 9 1 1 ) und LOUIS-JOSEPH JANVIER ( 1 8 5 5 - 1 9 1 1 ) gegen die These des französischen Grafen Gobineau von der biologisch bedingten Minderwertigkeit des Schwarzen vehement zu Felde zog und in moderner Sichtweise die in Haiti zweifellos existierenden Unterschiede zwischen Weißen und Schwarzen auf sozioökonomische Faktoren zurückführte, brachte diese bei ihm nationalistisch eingefärbte Haltung in seinem 1900 posthum veröffentlichten Werk De la réhabilitation de la race noire selbstbewusst zum Ausdruck. „Ich bin aus Haiti", so schrieb er, „dem Mekka, dem Judäa der schwarzen Rasse, dem Land, in dem die geheiligten Gefilde liegen [...], wohin jeder, der afrikanisches Blut in seinen Adern hat, mindestens einmal in seinem Leben pilgern muss. Denn dort ist der Neger Mensch geworden: dort hat er seine Ketten gesprengt und damit in der ganzen Neuen Welt die Sklaverei unwiderruflich in die Knie gezwungen."4

4 Hannibal Price: De la réhabilitation S. VII.

de la race noire.

Port-au-Prince: Verrolot 1900,

2. Kulturen zwischen kolonialer Assimilation und postkolonialer Kreolisierung

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Die kulturpolitischen Schriften von Price, Firmin und Janvier gehören zum kanonisierten Grundbestand der haitianischen Nationalliteratur. Das Anliegen der Autoren war, den in Europa bestehenden Rassenvorurteilen und dem vorherrschenden Bild von der „barbarischen" Nation Haiti entgegenzuwirken; doch die Aufwertung des Schwarzen geschah gemäß den Wertvorstellungen und Kriterien der Europäer bzw. Weißen. Das heißt: man versuchte zu beweisen, dass der Schwarze genauso wie der Weiße zur Zivilisation (im europäischen Sinn) befähigt war und dass der Haitianer - gemeint war die städtische Bourgeoisie - diese potentielle sociabilité (im Gegensatz zum afrikanischen Schwarzen) bereits vollends entwickelt hatte. Eine Rehabilitierung auch der afrikanischen „primitiven" Kulturen und damit des diesem Erbe verpflichteten haitianischen Kleinbauern brachte erst in den 1920er Jahren die Bewegung des Indigenismus, die aber den vorgenannten Autoren in starkem Maße verpflichtet war.

2 K A M P F UM P O L I T I S C H E U N A B H Ä N G I G K E I T U N D R I N G E N UM EIN K R E O L I S C H E S

SELBSTVERSTÄNDNIS:

DER S P A N I S C H E S P R A C H R A U M IM 1 9 . J A H R H U N D E R T

Die spanischen Kolonien Kuba und Puerto Rico brachten während des 19. Jahrhunderts die umfangreichste und interessanteste Literatur des karibischen Raums hervor. Die Gründe waren primär politischer und sozioökonomischer Natur, denn durch die wirtschaftliche Blüte, von der aufgrund der spezifischen Agrarstruktur eine relativ breite Ober- und Mittelschicht profitierte, sowie durch den vom Mutterland Spanien gewährten administrativen Spielraum war eine selbstbewusste und zahlenmäßig bedeutende intellektuelle Elite entstanden. Diese Elite der Kreolen5 fühlte sich zwar dem spanischen Kulturerbe verpflichtet; doch im Verbund mit dem wachsenden Verlangen nach politischer Unabhängigkeit (oder auch nur Autonomie) suchte man auch einer spezifisch amerikanischen oder „kreolischen" Identität Ausdruck zu verleihen. Seine kreative Dynamik schöpfte dieser Prozess einer kollektiven Selbstfindung aus der kulturellen Verwandtschaft der beiden Kolonien, die sich zudem mit den noch jungen hispanoamerikanischen Republiken auf dem Kontinent verbunden fühlten, sowie der Solidarisierung ihrer führenden Köpfe im Kampf gegen die

5 „Kreolen" wurden im Gegensatz zu den peninsulares, den Festlandspaniern, diejenigen genannt, die in der Kolonie geboren waren und sich mit ihr identifizierten.

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D i e Karibik

Metropole - eine Solidarisierung, die in der literarischen Produktion wie im praktischen Handeln ihren Ausdruck fand. Die das Geistesleben beherrschenden Persönlichkeiten dieser Zeit - etwa (Puerto Rico; 1839-1903) oder J O S É M A R T Í (Kuba; 1853-1895) - stellten ihre journalistische und (im engeren Sinne) literarische wie ihre politische Tätigkeit in den Dienst der gemeinsamen Sache. Und die zweifellos der europäischen Romantik verpflichtete Lyrik eines J O S É MARIA HEREDLA (Kuba; 1803-1839), einer LOLA R O D R Í G U E Z DE T I O (Puerto Rico; 1843-1924) oder eines FRANCISCO G O N Z A L O „PACHÍN" M A R Í N (Puerto Rico; 1863-1896), in der die ständig wiederkehrenden Themen Freiheit, Vaterland, Exil vor einem realen, persönlich als schmerzliche Erfahrung erlebten Hintergrund besungen werden, besitzen eine emotionale Intensität und individuelle Ausdruckskraft, wie man sie in der patriotischen Dichtung des unabhängigen Haiti vergeblich suchen würde. E U G E N I O M A R I A DE H O S T O S

Eine zweite Konstante der im 19. Jahrhundert in Kuba und Puerto Rico von antispanischen Gefühlen inspirierten Literatur, die Beschwörung des Indio und seiner zerstörten Kultur, führte dagegen kaum zu einer authentisch amerikanischen Literatur. Lyrik und Prosa, ja selbst der um eine gewisse historische Treue bemühte Roman Guatimozín, último emperador de Méjico (1846) der vor allem in Spanien als Lyrikerin und Dramatikerin gefeierten G E R T R U D I S G Ó M E Z DE AVELLANEDA (Kuba; 1814-1873) sind trotz der thematischen Bezüge zu Amerika durch die Idealisierung und nostalgische Verklärung der indianischen Welt mehr Zeugen der europäischen Romantik als der eigenen historischen Vergangenheit. Die Rassenproblematik bzw. die Situation der Sklaven fand nur in der Literatur Kubas, wo deren Präsenz spürbarer war als in Puerto Rico, einen Widerhall. Bereits der erste diese Thematik behandelnde Roman, Francisco (1839 verfasst, aber erst 1880 in New York veröffentlicht) von ANSELMO SUÄREZ Y R O M E R O (Kuba; 1818-1878), macht deutlich, dass hier in literarischer Verkleidung ein ganz konkretes Anliegen propagiert wird: die Abschaffung der Sklaverei, die den Farbigen unterdrückt und den Weißen durch die ihm zugeteilte absolute Machtbefugnis moralisch pervertiert. Bezeichnend für die Intention des Autors ebenso wie für das politisch-kulturelle Klima der Zeit ist die Entstehungsgeschichte des Romans. Der Essayist und Vorkämpfer der kubanischen Unabhängigkeit D O M I N G O DEL M O N T E (Kuba; 1804-1853), in dessen Haus die kubanischen Liberalen, Politiker wie Literaten, regelmäßig zusammentrafen, hatte Suárez y Romero dieses Thema nahegelegt, um dem mit der Untersuchung der Sklaverei beauftragten britischen Commissioner Richard R. Madden

2. Kulturen zwischen kolonialer Assimilation u n d postkolonialer Kreolisierung

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ein Bild von der Situation auf Kuba zu vermitteln und damit ein sprechendes Dokument für seine Argumentation gegen die Sklaverei an die Hand zu geben. 6 Literatur also mit ganz pragmatischer Zielsetzung: „literatura de servicio" nannte José Marti diese unter ästhetischen Gesichtspunkten häufig als minderwertig abgelehnte, in der politisch-gesellschaftlichen Auseinandersetzung aber nicht selten gewichtige Literatur. Und Marti präzisierte: „literatura al servicio del hombre", Literatur im Dienst des Menschen. Während der 1841 erschienene Roman Sab von Gertrudis Gómez de Avellaneda trotz des enthaltenen Protests gegen die Sklaverei eher als romantische novela sentimental einzustufen ist - der Mulattensklave Sab ist in seinen Gefühlen und seinem Streben genauso „romantischer Held" wie etwa Victor Hugos Hernani in dem gleichnamigen Theaterstück - , ist der 1873 (in Chile) veröffentlichte Roman El negro Francisco: novela de costumbres cubanas von A N T O N I O ZAMBRANA (Kuba; 1846-1922) wieder ein der kubanischen Wirklichkeit nahe kommendes sozialkritisches Manifest gegen die Institution der Sklaverei. Das Werk behandelt dieselben, offenbar tatsächlich vorgefallenen Ereignisse wie Suärez y Romeros Francisco. Doch im Vergleich zum letztgenannten Roman sind bei Zambrana Charakterzeichnung und Motivierung der Handlung psychologisch fundierter und differenzierter. Zambrana versucht nicht, seinen schwarzen Helden mit Blick auf den (weißen) Leser dadurch sympathisch zu zeichnen, dass er ihm dieselben Eigenschaften und Gefühle zuschreibt, mit denen gemeinhin der weiße Held ausgestattet ist. Im Gegenteil: er wagt es, das „primitive" Leben der Afrikaner zu preisen, den schwarzen Held des Romans seine Rasse mit Stolz bejahen zu lassen und den vermeintlichen Gewinn, den diese durch Assimilation an die europäische Zivilisation erziele, in Frage zu stellen. Der interessanteste der in Kuba vor dem Hintergrund der Sklaverei entstandenen Romane ist Cecilia Valdés o La Lorna del Angel (erster Teil 1839; vollständig 1882) von CIRILO VILLAVERDE (Kuba; 1812-1894), ein breit angelegtes,

6

Del M o n t e übermittelte Richard M a d d e n noch weiteres Material, darunter die autobiographischen Notizen eines Sklaven, JUAN FRANCISCO MANZANO (Kuba; 1806?-18 54), der sich als Dichter einigen R u h m erwerben u n d sich mit seinen Gedichten sogar freikaufen konnte. Manzanos Autobiographie wurde 1840 von M a d d e n mit Unterstützung der Anti Slavery Society in englischer Übersetzung veröffentlicht. Eine spanischsprachige Ausgabe erschien erst 1 8 6 8 in der von Francisco Calcagno zusammengestellten S a m m l u n g Poetas de color. Der Erlös aus d e m Verkauf der zweiten Auflage dieses Sammelbandes wurde zum Freikauf eines anderen, gleichermaßen als Dichter hervorgetretenen Sklaven, José del C a r m e n Diaz, verwendet.

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über das Thema der Sklaverei weit hinausgreifendes Panorama der kubanischen Wirklichkeit während des ersten Drittels des 19. Jahrhunderts. Um die inzestuöse Liebesgeschichte einer Mulattin und ihres weißen Halbbruders entfaltet sich das alltägliche Leben in einer Gesellschaft, die durch Rassenvorurteile und Rassendiskriminierung - auch auf Seiten der Mulatten — gekennzeichnet ist und die insbesondere im zweiten Teil des Romans mit deutlich sozialkritischem Engagement realistisch geschildert wird. Villaverde, der ansonsten vorwiegend historische Romane und Novellen im Stil der Romantik verfasste, reihte sich mit diesem Roman in die bereits Mitte des 19. Jahrhunderts in Kuba wie in Puerto Rico eingeleitete Bewegung des criollismo ein, die anfänglich als spezifisch amerikanische Variante des spanischen costumbrismo unter Verwendung dialektaler Sprachformen die „costumbres", die Sitten und Gebräuche, vor allem der Landbevölkerung - des kubanischen guajiro und desjíbaro in Puerto Rico - thematisierte und gegen Ende des Jahrhunderts in den Realismus/Naturalismus mündete. Die meisten Autoren dieses costumbrismo criollo beschränkten sich auf Kurzformen, „escenas" oder „cuadros dramáticos", die in Zeitungen oder als Flugschriften, gelegentlich auch - wie der Band Eljíbaro (1849) von MANUEL A. ALONSO PACHECO (Puerto Rico; 1822-1889) - als Sammelwerk publiziert wurden. Ihr Anliegen war, über das Anekdotische und rein Pittoreske hinaus das Authentische des campesino einzufangen und seine Lebenswelt, gezeichnet als gelegentlich konfliktive, aber in sich ruhende und sich selbst genügende Solidargemeinschaft, als Hort nationaler Identität und Authentizität zu stilisieren. Um die Jahrhundertwende, als sich die aufgestiegene kreolische Bourgeoisie, der die meisten Literaten angehörten, insbesondere in Puerto Rico nach der Invasion US-amerikanischer Truppen aus ihrer politischen und wirtschaftlichen Vormachtstellung verdrängt und somit um die Früchte der Unabhängigkeit von Spanien betrogen sah, verflachte der pittoresk-folkloristische costumbrismo zu nostalgisch verklärter Idealisierung einer der Vergangenheit zugerechneten ländlichen Idylle. Zu diesem Zeitpunkt waren die im costumbrismo enthaltenen sozialkritischen Elemente, parallel zur Entwicklung in gesamt Hispanoamerika, bereits im realistischen bzw. naturalistischen Roman aufgegangen. Dieser Tendenz entsprach MANUEL Z E N O GANDÍA (Puerto Rico; 1855-1930), der in seinem vier Werke umfassenden, nach dem Vorbild der Rougon-Macquart von Emile Zola entworfenen Romanzyklus „Crónicas de un mundo enfermo" (Chroniken einer kranken Welt) - La charca (1894), Garduña (1896), El negocio (1922), Redentores (1925) — dem Leser ein eindringliches Bild von der materiellen und geistigen Armut des campesino vor Augen führte.

2. K u l t u r e n zwischen kolonialer Assimilation u n d postkolonialer Kreolisierung

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Ein besonders eindrückliches Beispiel ftir den hispanoamerikanischen Naturalismus ist der erste Roman, La charca (Der Tümpel), in dem Zeno Gandia, als Arzt mit wissenschaftlichen Analyseverfahren vertraut, den für die Lebenswelt des campesino festgestellten „riesigen Tümpel der sozialen Fäulnis" schonungslos offenlegte - auch wenn er mit Blick auf den einheimischen, mit dem Naturalismus französischer Provenienz (noch) nicht vertrauten Leser in der Schilderung der Natur wie der Gefühlswelt der Protagonisten auf eine romantisierende Darstellung nicht verzichten mochte. Die europäischen Bewegungen der Romantik wie des Realismus/Naturalismus haben die intellektuellen Eliten in Kuba und Puerto Rico beeinflusst und beflügelt. Im gemeinsamen Kampf um die Unabhängigkeit und im zähen Ringen um ein eigenes, kreolisches, Selbstverständnis war es ihnen aber bereits vor dem Eintritt in das 20. Jahrhundert gelungen, den Grundstein für eine authentische, spezifisch amerikanische (oder karibische) Literatur zu legen. Gegründet war dieser Vorsprung vor den karibischen Nachbarn auf genuin kubanische bzw. puertoricanische Faktoren. Ein nicht unwesentlicher Impuls ging aber auch vom lateinamerikanischen Kontinent aus, dessen geographische und kulturelle Nähe als Katalysator wirkte - eine Hilfestellung, die den englischen, französischen und niederländischen Kolonien des karibischen Raums nicht beschieden war. In der Dominikanischen Republik wurde durch die während des gesamten 19. Jahrhunderts andauernde innen- und außenpolitische Instabilität das literarische Schaffen stark behindert. Aufgrund der anders als in Kuba gelagerten Konflikte wurden auch die thematischen Schwerpunkte anders gesetzt. Bis zur endgültigen Unabhängigkeit 1865 richteten sich die literarischen Aktivitäten der führenden Intellektuellen - etwa des Journalisten und Lyrikers FÉLIX MARÍA DEL M O N T E ( 1 8 1 9 - 1 8 9 9 ) - weniger gegen Spanien als gegen die im eigenen Land der Unabhängigkeit entgegenstehenden Kräfte: zunächst gegen die haitianischen Besatzungstruppen, dann gegen den Präsidenten Santana, der (vorgeblich als Schutzmaßnahme gegen eine neuerliche Bedrohung durch Haiti) 1861 den Wiederanschluss an Spanien verfügte. Die nachfolgenden Jahrzehnte waren geprägt durch wechselnde Diktaturen und politische Verfolgung, der sich zahlreiche Intellektuelle nur dadurch entziehen konnten, dass sie (zumindest vorübergehend) außer Landes gingen: unter ihnen der bedeutendste Vertreter der dominikanischen Romantik, JOSÉ JOAQUIN PÉREZ ( 1 8 4 5 - 1 9 0 0 ) , der mit seinen Gedichtbänden Ecos del destierro ( 1 8 7 3 ) und La vuelta al hogar ( 1 8 7 4 ) als „Dichter des Exils" gefeiert wird. SALOMÉ UREÑA DE HENRÍQUEZ ( 1 8 5 0 - 1 8 9 7 ) verdankt den Stellenwert, den ihr die

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Die Karibik

heimische Kritik als zweite herausragende Dichterpersönlichkeit des 19. Jahrhunderts zuerkannte, im Wesentlichen einer (unter den Zeitgenossen seltenen) optimistischen Note. Ihre mit zivilisatorisch-erzieherischem Anspruch verfassten Gedichte, etwa „La gloria del progreso" (1873) und „La fe en el porvenir" (1878), zeugen von einem unerschütterlichen Glauben an den Fortschritt der Nation. Die Essenz einer nationalen Identität suchte man wie in Kuba und Puerto Rico auch in der Dominikanischen Republik über den costumbrismo einzufangen. Dieser manifestierte sich in unzähligen Skizzen, Genrebildern und Erzählungen, führte aber auch zu den ersten herausragenden Romanen: El montero. Novela de costumbres ( 1 8 5 6 ) von PEDRO FRANCISCO BONO ( 1 8 2 8 - 1 9 0 6 ) und Baní o Engracia y Antoñita ( 1 8 9 2 ) von FRANCISCO GREGORIO BILLINI (1844-1898). Gelegentlich, insbesondere im letztgenannten Roman, wird in der Perspektive eines kritischen Realismus die politische Unkultur des Landes — Machtmissbrauch und Skrupellosigkeit ebenso wie Unterwürfigkeit und Opportunismus - ins Blickfeld gerückt. Der Realität wenig angemessen erscheint aber die Fixierung auf den weißen, allein durch sein spanisches Erbe charakterisierten campesino als Inbegriff der nationalen Identität oder dominicanidad, wodurch der farbige Bevölkerungsteil negiert und vom nationalen Projekt ausgeschlossen wurde. Ein ebenso realitätsfernes Ergebnis erbrachte der Indigenismus, der durch eine nostalgisch verklärende Darstellung der indigenen (oder: indianischen) Lebenswelt vor Ankunft der Spanier und ihres Widerstands gegen die Invasoren den Indio als Fundament der dominikanischen Nation in Anspruch nahm. Dies geschah im lyrisch-dramatischen Gedicht, bei José Joaquín Pérez und Salomé Ureña, ebenso wie gelegentlich im Theater — etwa dem in Versen verfassten Stück Iguaniona ( 1 8 6 7 / 1 8 8 1 ) von FRANCISCO JAVIER ANGULO GURIDI (1816-1864) — und in einem Roman, dem bis heute berühmtesten Werk der dominikanischen Literatur: Enriquillo. Leyenda histórica dominicana (15031533)

( 1 8 7 9 / 1 8 8 2 ) v o n MANUEL DE JESÚS GALVÁN ( 1 8 3 4 - 1 9 1 0 ) . D e r T i t e l ver-

weist auf eine historische Figur, einen indianischen Kaziken; und der Roman liefert ein relativ gut dokumentiertes, um historische Wahrheit bemühtes Zeugnis einer Episode aus dem indianischen Widerstand gegen die Spanier, in dem Grausamkeit und Habsucht spanischer Eroberer kritisch beleuchtet werden. Doch personalisiert der Autor Schuld an begangenen Verbrechen und stellt die Überlegenheit spanisch-christlicher Zivilisation zu keinem Zeitpunkt in Frage, wodurch er das „koloniale Projekt" legitimiert und rehabilitiert. Damit eröffnete Galván den Zeitgenossen einen dem patriotischen Stolz förder-

2. Kulturen zwischen kolonialer Assimilation u n d postkolonialer Kreolisierung

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liehen Blick auf die vergangene Größe der Nation, die einst unter allen überseeischen Besitzungen Spaniens als „Primada de América" eine bevorzugte Stellung eingenommen hatte. Und er verstand es, den Riickbezug auf ein heroisches indianisches Erbe mit dem behaupteten „Spaniertum" der Dominikaner zu versöhnen, indem er seinen Titelhelden zu einem Indio stilisierte, der sich in seiner christlichen Gesinnung und Gesittung kaum von einem (guten) Spanier unterscheidet. Costumbrismo und indigenismo erwiesen sich für die dominikanischen Intellektuellen als vorzügliches Instrument, um die dominicanidad — unter Missachtung des von der farbigen Bevölkerungsmehrheit gelebten afrikanischen Erbes — gleichzeitig über ein spanisches und ein indianisches Erbe zu definieren und sich damit vom „afrikanischen" Nachbarn Haiti zu distanzieren. Die Beschwörung eines indianischen Erbes war eine Mystifikation und führte zu einem Kunstgriff, mit dem man den dominikanischen Farbigen schließlich doch noch in das „nationale Projekt" einbeziehen konnte: indem er (entsprechend der offiziellen Benennung) zum Indio mutierte, entsprechend der Hautfarbe zum „indio quemado" (verbrannter Indio), „indio lavado" (gewaschener Indio), etc.

3 E N G A G E M E N T ODER E S K A P I S M U S : DER A U T O R

ANGESICHTS

NEOKOLONIALER D E P E N D E N Z UND DIKTATORIALER (KUBA, PUERTO RICO, DOMINIKANISCHE

GEWALT

REPUBLIK)

Das Ende des 19. Jahrhunderts brachte zwar für Kuba und Puerto Rico das Ende der spanischen Kolonialherrschaft, doch die hieran geknüpften Hoffnungen blieben unerfüllt. Puerto Rico wechselte als Kolonie nur den Besitzer; und auch für das unabhängige Kuba blieb der Traum José Martís von einer Republik „mit allen und zum Wohl aller" angesichts der unter der Ägide der Vereinigten Staaten herrschenden Korruption und diktatorialen Gewalt eine Utopie. Die Reaktion der intellektuellen Eliten, die den Unabhängigkeitskampf gegen Spanien getragen hatten und sich nun um den erhofften Lohn betrogen sahen, war zunächst die einer immensen Frustration, die sich in Kuba und Puerto Rico auf unterschiedliche Weise manifestierte. In Kuba äußerte sie sich bei einem bedeutenden Teil der Literaten in einer Fluchtbewegung und einem Rückzug in die Geborgenheit eines von der enttäuschenden Realität unberührten, allein dem kreativen Willen des Autors verpflichteten poetischen Universums. Der hieraus resultierende Asthetizismus

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D i e Karibik

und der teils preziose, bisweilen ausgesprochen hermetische Sprachstil standen zunächst ganz in der Tradition des Modernismus, dem der Nicaraguaner Ruben Darío in Lateinamerika zum Durchbruch verhalf und dem in Kuba zwei Autoren den Weg bereitet hatten: José Martí in seiner Lyrik und seinem einzigen, 1885 in New York unter einem Pseudonym veröffentlichten Roman, Amistad funesta, sowie JULIÁN DEL CASAL (1863-1893) mit seinen Gedichtbänden Nieve (1892) und Bustos y rimas (1893). Bei Martí - insbesondere in den 1882 im venezolanischen Exil verfassten Versen des Ismaelillo, die von der Sehnsucht nach dem abwesenden Sohn diktiert sind - wie auch bei Casal hier vor dem Hintergrund eines durch materielle Not und eine unheilbare Krankheit hervorgerufenen Pessimismus - wird die schmerzlich empfundene Wirklichkeit des individuellen Schicksals durch den kunstvollen Sprachstil keinesfalls verdeckt. Dagegen verschrieb sich die Dichtung der nachfolgenden Generation - etwa eines R E G I N O E. BOTI (1878-1958) oder des frühen R E G I N O PEDROSO (1898-1983) - einem Ästhetizismus, der jedem Bezug auf kollektive oder individuelle Erfahrung entsagte und der in den 30er Jahren unter dem Einfluss des Spaniers Juan Ramón Jiménez und der französischen poésie pure bei MARIANO BRÜLL (1891-1956) und EUGENIO FLORIT (1903-1994) zu hoher sprachlicher Virtuosität führte. Dieser sich vorwiegend in der Lyrik äußernde Eskapismus blieb bis gegen Ende der 20er Jahre die bei den kubanischen Literaten dominierende Haltung, und nur wenige Prosaautoren wie M I G U E L DE CARRION (1875-1929) und CARLOS LOVEIRA (1882-1928) sahen sich zu einer politischen und sozialkritischen Stellungnahme verpflichtet. Doch mit dem wachsenden Widerstand gegen das Regime des Diktators Gerardo Machado (1925-1933) stieg die Zahl jener Autoren, die sich in den Dienst einer nationalen Erneuerung stellten und nach gleichsam kubanischer Tradition den politischen Kampf mit der Kritik an den bestehenden Verhältnissen und dem literarischen Engagement für die Parias der Gesellschaft verknüpften. 1927 veröffentlichte eine Gruppe oppositioneller Intellektueller, der sogenannte „Grupo Minorista", unter der Federführung des Lyrikers und erklärten Kommunisten RUBÉN MARTÍNEZ VILLENA (1899-1934) ein kämpferisches Manifest, in dem bereits all jene Punkte enthalten waren, die während der nachfolgenden Jahrzehnte im Mittelpunkt der politischen, sozialen und engagiert literarischen Auseinandersetzung stehen sollten: Kampf gegen Diktatur, Pseudodemokratie und US-amerikanischen Imperialismus; Forderung nach effektiver Beteiligung der Bevölkerungsmehrheit am demokratischen Prozess; Verbesserung der Lebensbedingungen von Bauern und Arbeitern; Reform des Schulwesens.

2. Kulturen zwischen kolonialer Assimilation und postkolonialer Kreolisierung

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Im selben Jahr 1927 erschien Loveiras Roman Juan Criollo, der in bis dahin unbekannter Schärfe mit der einheimischen Führungsspitze abrechnete. Der Roman erzählt den Werdegang eines während der letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts (unter dem Pseudonym Juan Criollo) schreibenden Journalisten, eines fiktiven Zeitgenossen José Martís, der — gewissermaßen als Antipode zu dem von humanitären Idealen geleiteten Marti - als psychisch verkrüppelter und moralisch verkommener Opportunist nach der Unabhängigkeit dank des allgemein herrschenden Panoramas von Unfähigkeit, Eigennutz und Verantwortungslosigkeit in die neue Führungsschicht aufsteigt und dann genau das tut, was alle tun: Missbrauch des Staatsamtes zu persönlicher Bereicherung. Damit war in bedrückender Weise die Notwendigkeit dessen illustriert, was die Minoristas in ihrem Manifest als dringlichste Forderung herausgestellt hatten: die Revision der als fragwürdig oder verschlissen erachteten Grundwerte in Staat und Gesellschaft, ohne die jeder Ansatz zu der ersehnten Erneuerung im Keim ersticken musste. In den auf den Sturz Machados 1933 folgenden Jahrzehnten der Anarchie und politischen Gewalt, in denen bis zum Sieg der Rebellen unter Fidel Castro Ende 1958 Kuba unter der faktischen Alleinherrschaft Fulgencio Batistas zu einer „Filiale" der USA wurde, gewann der von den Minoristas aufgestellte Forderungskatalog für die politisch und sozial engagierten Autoren eine immer dringlichere Aktualität. Diese manifestierte sich in einer gesteigerten Produktion vor allem im Bereich der fiktionalen Prosa, aber auch zunehmend im Theater, bei JOSÉ ANTONIO RAMOS ( 1 8 8 5 - 1 9 4 6 ) , Luis FELIPE RODRÍGUEZ ( 1 8 8 8 1 9 4 7 ) , ENRIQUE SERPA ( 1 8 9 9 - 1 9 6 8 ) , CARLOS MONTENEGRO

(1900-1983),

DORA ALONSO ( 1 9 1 0 - 2 0 0 1 ) , ONELIO JORGE CARDOSO ( 1 9 1 4 - 1 9 8 6 ) sowie LINO

NOVAS CALVO (1903-1983), der - unter dem Einfluss Ernest Hemingways und William Faulkners — in seinem 1942 erschienenen Band La luna nona y otros cuentos durch die Einführung neuer narrativer Techniken den traditionellen realistischen Erzählstil hinter sich ließ und als Wegbereiter der modernen lateinamerikanischen Prosa gelten kann. Auch in der Lyrik begannen einige Autoren, sich mit der politischen und gesellschaftlichen Realität kritisch auseinanderzusetzen: der in seinen Anfängen dem Modernismus verpflichtete Regino Pedroso (ab 1927) sowie der bedeutendste Vertreter des afrocubanismo,

NICOLÁS GUILLÉN (1902-1989), der

mit seinem 1934 veröffentlichten Gedichtband West Indies Ltd. dieser Avantgarde-Bewegung eine dezidiert politische Wende gab.7 Bis zum Sturz Batistas 7

Z u m afrocubanismo

vgl. Kap. 4.

180

D i e Karibik

blieben Pedroso und Guillén jedoch die Ausnahme. Die meisten Lyriker — wie die um die Zeitschrift Orígenes (1944-1957) versammelte Gruppe, der u. a. JOSÉ LEZAMA LIMA ( 1 9 1 0 - 1 9 7 6 ) , ELISEO D I E G O ( 1 9 2 0 - 1 9 9 4 ) , CINTIO VITIER

(geb. 1921) und FINA GARCÍA M A R R Ú Z (geb. 1923) angehörten - vermieden oder verweigerten eine direkte Aussage zu den Problemen der konfliktiven Gegenwart, was von der einem politisch-gesellschaftlich engagierten Literaturkonzept verpflichteten Kritik als Eskapismus geschmäht, von der eher ästhetischen Kategorien verpflichteten Kritik hingegen als konstruktiver Beitrag zur Avantgarde-Dichtung gefeiert wurde. Für Puerto Rico war das Jahr 1898 mit der Niederlage Spaniens im Spanisch-Amerikanischen Krieg noch weit folgenreicher als für Kuba, da die USA ihre Annexionspläne keineswegs verheimlichten und von Anbeginn mit gezielten Maßnahmen den administrativen Apparat, die Wirtschaft und das Bildungssystem zu „amerikanisieren" suchten. Für die ausgeschaltete kreolische Bourgeoisie bedeutete dies das Ende jenes Traums von politischer und wirtschaftlicher Unabhängigkeit, der ihre Vertreter im vorausgegangenen Jahrhundert zur Herausbildung und Formulierung eines eigenen Selbstverständnisses beflügelt hatte. Diese Erkenntnis traf die intellektuelle Elite so unvorbereitet und vehement, dass die aus ihr resultierende Ernüchterung für eine Generation zum entscheidenden Erlebnis wurde — eine Generation, die man analog zur ebenfalls vor dem Hintergrund des Spanisch-Amerikanischen Krieges so benannten spanischen Generation als „Generación del 98" bezeichnen kann. In der Prosa war es RAMÓN JULIÁ M A R Í N ( 1 8 7 8 - 1 9 1 7 ) , der die Enttäuschung und Verbitterung der kreolischen Bourgeoisie am eindrucksvollsten zum Ausdruck brachte. In seinen beiden Romanen Tierra adentro (1911) und La gleba (1912) schilderte er die verheerenden Folgen der von den neuen Machthabern verfügten massiven Veränderungen in der puertoricanischen Agrarstruktur, wie z. B. die von US-amerikanischen Interessen diktierte Umstellung von Kaffee- auf Zuckerrohranbau. Auch Manuel Zeno Gandia stellte sich dem Gebot einer kritischen Bestandsaufnahme der aktuellen Situation, indem er mit dem 1925 publizierten vierten Titel seines Romanzyklus, Redentores (Die Erlöser), bitterböse Kritik übte: Kritik an den lokalen Politikern, die sich, aufgrund parteipolitischer Interessen oder persönlicher Ambitionen in Fraktionskämpfe verwickelt, gegenüber der Besatzungsmacht in Unterwürfigkeit und Heuchelei ergingen, und Kritik an den US-Amerikanern, die sich einst als Befreier und „Erlöser" präsentiert hatten, nun aber Puerto Rico als Kolonie auszubeuten suchten.

2. K u l t u r e n zwischen kolonialer Assimilation u n d postkolonialer Kreolisierung

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In der Lyrik war das zentrale Thema der Vergleich des spanischen Kolonialismus der Vergangenheit mit dem US-amerikanischen Neokolonialismus der Gegenwart, wobei der Leser nicht im Zweifel darüber belassen wurde, dass der einstigen Metropole - aufgrund des tatsächlich gewährten größeren Handlungsspielraums für die kreolische Bourgeoisie, aber auch aufgrund einer durch die zeitliche Distanz eingetretenen nostalgischen Verklärung - der Vorzug zu geben war. Und diejenigen, die wie die „98er Generation" den US-amerikanischen Kultureinfluss ablehnten, verstanden sich automatisch als hispanos und propagierten als einzig authentische Substanz des puertoricanischen Nationalcharakters das spanische Erbe, ohne Ansehen der afrikanischen Kultureinflüsse. Die Folge war eine Idealisierung und Verfälschung der kolonialen Vergangenheit, die sich bei den meisten Autoren - etwa bei JOSÉ DE D I E G O ( 1 8 6 6 1 9 1 8 ) , JOSÉ MERCADO („Momo", 1 8 6 3 - 1 9 1 1 ) und noch bei Luis LLORÉNS TORRES ( 1 8 7 8 - 1 9 4 4 ) - in einer eher der Romantik als den literarischen Strömungen des beginnenden 20. Jahrhunderts verpflichteten nostalgisch-patriotischen Dichtung äußerte. Zwar blieb der Modernismus auch in Puerto Rico nicht unbekannt, doch beschränkte sich sein Einfluss auf den rein formalen Aspekt. Avantgardistische Bewegungen traten in den 20er Jahren zahlreich in Erscheinung: der von JOSÉ ISAAC DE D I E G O PADRO ( 1 8 9 6 - 1 9 7 4 ) und Luis PALÉS MATOS ( 1 8 9 8 - 1 9 5 9 ) begründete diepalismo, den eine weitgehend onomatopoetische Sprachgestaltung auszeichnete, der noismo, der atalayismo oder der girandulismo, den EVARISTO RIBERA CHEVREMONT ( 1 8 9 6 - 1 9 7 6 ) entwickelte. Doch keine dieser Bewegungen war von langer Dauer oder nachhaltigem Einfluss; und die Bedeutung von Ribera Chevremont gründet sich vorrangig auf seine spätere, überaus umfangreiche Produktion, die sich durch eine große Variationsbreite in Rhythmus und Versmaß auszeichnet und sich unter keinen der geläufigen „Ismen" fassen lässt. Nachhaltiger als die Lyrik wirkte die Prosa des nachfolgenden Jahrzehnts, der sogenannten „Generación del 30", welche die von der „98er Generation" gewissermaßen ererbte Bewusstseinskrise zu bewältigen suchte. Als ihr Sprachrohr gilt die Zeitschrift Indice (1929-1931). Deren Mitbegründer war ANTONIO S. PEDREIRA (1899-1939), der einflussreichste Intellektuelle seiner Zeit und geistige Mentor auch nachfolgender Generationen, der in seinem Essay Insularismo. Ensayos de interpretación puertorriqueña ( 1934) zum ersten Mal den systematischen Versuch unternahm, die puertoricanische Wirklichkeit in ihrem genetisch-historischen Prozess zu analysieren und über sozialpsychologische Fragestellungen die „Mentalität" des Puertoricaners, den „genio nacional", zu

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bestimmen. Pedreiras Befund war wenig ermutigend, denn nach seinem Dafürhalten war der beherrschende Grundzug der puertoricanischen „Persönlichkeit" in der „docilidad" oder Gefügigkeit zu sehen, die er im Wesentlichen auf die Rassenmischung, das mestizaje, zurückführte. Entscheidend aber war für Pedreira ein anderer Befund: Die puertorriqueñidad oder puertoricanische kollektive Identität wurzelte ausschließlich im spanischen Kulturerbe, gebunden an die spanische Sprache, und in der Geschichte, die Puerto Rico als hispanoamerikanische Nation auswies. Wo sich dieses spanische Kulturerbe am reinsten erhalten hatte, lag für die Zeitgenossen auf der Hand: in der montaña, dem vom US-amerikanischen Einfluss noch wenig berührten Landesinnern, Lebensraum jenes jíbaro, der schon im costumbrismo des vergangenen Jahrhunderts zur Essenz puertoricanischer Identität erklärt worden war. So wurde seine Lebenswelt - mal anekdotisch-pittoresk, dann aber auch die herrschende Armut und Perspektivlosigkeit kritisch reflektierend - zum bevorzugten Sujet sowohl in der Lyrik, bei Luis Lloréns Torres, Evaristo Ribera Chevremont und JUAN A N T O N I O C O R R E T J E R (1908-1985), als auch in der Kurzprosa, bei EMILIO S. BELAVAL (1903-1972) und ABELARDO D Í A Z ALFARO (1919-1990). Der einzige Autor, der in seine Lyrik afrikanische Topoi einbezog, war Luis Palés Matos, der mit seinem Gedichtband Tuntún de pasa y grifería (1937) - zusammen mit dem Kubaner Nicolás Guillén - als Begründer einer spezifisch „afroantillanischen" oder „afroamerikanischen" Dichtung gefeiert wird. Doch Palés macht auch die Ambivalenz deutlich, mit der die Zeitgenossen (und er selbst) dem Konzept einer puertoricanischen „negritud" begegneten. Luis Palés Matos entstammte einer weißen kleinbürgerlichen Familie, ohne direkten Kontakt zur Lebenswelt der Schwarzen, und versuchte sich zunächst in diversen, nur kurzlebigen avantgardistischen Experimenten, die ihn um die Mitte der 20er Jahre auch die Suggestivkraft afrikanischer Ausdrucksformen entdecken ließen. Die Mehrheit seiner „afroantillanischen" Gedichte, in der Plastizität des Ausdrucks und Musikalität der Phrasierung faszinierend, bieten ein nur oberflächliches, überdies folklorisierendes und exotisierendes Bild vom „Afrikaner", ohne jeden Bezug zur Wirklichkeit des Schwarzen in Puerto Rico oder in der Karibik - ein Faktum, das Pedreira, kompromissloser Verfechter einer „hispanischen" puertorriqueñidad, sehr wohl begriff, denn er sah kein Problem darin, mehrere dieser Gedichte, mit lobenden Kommentaren versehen, in seiner Zeitschrift zu veröffentlichen. Als Palés Matos Anfang der 30er Jahre dann von einigen Kritikern ob seiner „schwarzen Kunst", die mit dem puertoricanischen Nationalcharakter so gar nichts zu tun hätte, angegriffen wurde,

2. Kulturen zwischen kolonialer Assimilation u n d postkolonialer Kreolisierung

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trotzte er dem Vorwurf, indem er sich zu dem Konzept einer „afroantillanischen" Literatur bekannte und nun in der Tat, allerdings nur noch in wenigen Gedichten, die konkrete Lebenswelt der Schwarzen in der Karibik thematisierte. Das Romanschaffen stand in derselben Zeit hinter der Lyrik und der Kurzprosa zurück. Als herausragender Autor ist allein ENRIQUE A. LAGUERRE (19052005) zu nennen, der in der Tradition eines Juliá Marin mit sozialkritischem Engagement und einem feinen Gespür für die psychologische Charakterzeichnung seiner Handlungsfiguren die von den Vereinigten Staaten im Agrarsektor eingeleiteten Strukturveränderungen schilderte: für die Zuckerproduktion in La llamarada (1935), für den Kaffeeanbau in Solar Montoya (1941). Mit dem 1960 in englischer und erst 1968 in spanischer Sprache veröffentlichten Roman El laberinto, der vorwiegend in New York spielt und die soziale wie rassische Diskriminierung der Puertoricaner in den USA behandelt, trug Laguerre schließlich in konsequenter Weise einer Entwicklung Rechnung, die mit der 1898 einsetzenden „Amerikanisierung" der Insel begann und die bewirkte, dass für Puerto Rico heute „nationale Identität" nur über die Einbeziehung der in den USA lebenden nuyoricans vorstellbar und begründbar ist.8 In der Dominikanischen Republik war das Romanschaffen der ersten drei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts dadurch gekennzeichnet, dass man sich um eine Aufarbeitung der jüngeren nationalen Geschichte bemühte. Einen herausragenden Beitrag leistete hier FEDERICO GARCÍA GODOY ( 1 8 5 7 - 1 9 2 4 ) , der im Stil der „Episodios nacionales" des Spaniers Benito Pérez Galdós mit seiner „Trilogía Patriótica" - Rufinito ( 1 9 0 8 ) , Alma Dominicana ( 1 9 1 1 ) , Guanuma (1914) - eine literarische Rekonstruktion der besonders konfliktiven Jahrzehnte vor der endgültigen Unabhängigkeit versuchte, um im Licht der Vergangenheit die gleichermaßen konfliktive Gegenwart zu erklären und (wie im Vorwort zu Alma dominicana vermerkt) seine Landsleute „zu Dominikanern zu erziehen". Größere Aktualität besaß für die Zeitgenossen der 1916 aus Anlass der US-amerikanischen Invasion von Garcia Godoy verfasste politisch-historische Essay El derrumbe. Er wurde aufgrund des in ihm vehement vertretenen Antiamerikanismus von der Militärregierung konfisziert und öffentlich verbrannt. In der Lyrik zeichnete DOMINGO MORENO JIMENES (1894-1986), Begründer der avantgardistischen Bewegung des postumismo, ein realistisches, von sozialkritischem Engagement getragenes Zeugnis der Lebensbedingungen des campe8

Vgl. hierzu ausfuhrlicher Kap. 7.

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Die Karibik

sino. Im Gegensatz dazu stand FABIO FIALLO (1866-1942), der für seinen politischen Widerstand gegen die US-amerikanische Besatzungsmacht 1920 das Gefängnis riskierte, der aber in seiner noch der Romantik verpflichteten Lyrik wie in seinen dem Modemismus nahestehenden Cuentos fragiles (1908) jeden kritischen Hinweis auf landesspezifische Probleme aussparte - eine Haltung, die dann während der drei Jahrzehnte dauernden Trujillo-Diktatur (1930-1961) vielen Literaten angemessen oder geboten schien. Denn Rafael Leonidas Trujillo, der selbsternannte „Wohltäter des Vaterlandes", verlangte nicht nur absolute Unterwerfung. In seiner grenzenlosen Eitelkeit und seinem Größenwahn verlangte er auch die allseits öffentlich zu demonstrierende Bereitschaft, in Diensten der Verherrlichung seiner Person die Doktrin des trujillismo als Fundament des „Neuen Vaterlandes" zu vertreten und ihn selbst als Kulturheroen und Messias zu feiern. Viele der Texte, die in diesem Tenor - aus Überzeugung, Heuchelei oder auch aus Notwendigkeit - im politischen Journalismus wie in der Lyrik publiziert wurden, ist heute allenfalls noch von historischem Interesse. Ungebrochene Aktualität besitzt dagegen für viele Dominikaner der von Trujillo aggressiv vertretene Antihaitianismus, gekoppelt mit der Ideologie des hispanismo, welche die Dominikanische Republik zu einer rein „hispanischen" Nation erklärte. Diejenigen unter den kritischen Intellektuellen, die während der TrujilloAra im Land blieben, versteckten in der Regel Anspielungen auf nationale Topoi hinter einem vor allem dem französischen Symbolismus und Surrealismus nahestehenden Sprachstil. Dies galt für die in den 40er Jahren um FRANKLIN MIESES BURGOS (1907-1976) gruppierte, äußerst fruchtbare Bewegung der „Poesía Sorprendida", der neben Mieses Burgos als bedeutendste Vertreter AÍDA CARTAGENA PORTALATÍN ( 1 9 1 8 - 1 9 9 4 ) , FREDDY GATÓN ARCE ( 1 9 2 0 - 1 9 9 4 ) , MANUEL RUEDA ( 1 9 2 1 - 1 9 9 9 ) u n d ANTONIO FERNÁNDEZ SPENCER ( 1 9 2 2 - 1 9 9 5 )

angehörten. Die Sorprendidos, die sich bewusst von dem als „vulgär" erachteten Realismus eines Moreno Jimenes distanzierten und das Konzept einer universalen, im Wesentlichen zweckfreien Kunst als Magie des Wortes entwickelten, handelten sich den Vorwurf des Eskapismus ein. Dieser gilt jedoch nicht ftir alle in gleichem Maße, und bisweilen wurde selbst die gebotene Vorsicht außer Acht gelassen; etwa von Mieses Burgos, der in seinem 1944 erschienenen Band Clima de eternidad das Terrorregime Trujillos trotz des ästhetisierenden Sprachstils in einer Weise demaskierte, die dem Autor persönlichen Mut bescheinigte, die aber auch im Nachhinein deutlich macht, dass das Regime es sich leisten konnte, derlei Angriffe ohne Gegenwehr hinzunehmen. Und auch

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HÉCTOR INCHAUSTEGUI CABRAL ( 1 9 1 2 - 1 9 7 9 ) , d e r d e m R e g i m e als D i p l o m a t

verpflichtet war, konnte es sich erlauben - etwa in den 1940 veröffentlichten Poemas de una sola angustia —, die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse in aller Offenheit und einer sehr direkten Sprache zu kritisieren. Den bedeutendsten Beitrag zur Formulierung der dominicanidad leistete ein ebenfalls dem Regime verbundener Autor: TOMÁS HERNÁNDEZ FRANCO (1904-1952), von 1943 bis 1952 Mitherausgeber der Cuadernos Dominicanos de Cultura, Sprachrohr der Ideologen des trujillismo. Sein der „Poesía Sorprendida" diametral entgegenstehendes Konzept einer Nationalliteratur, die das autochthone Erbe in historischer Perspektive ftir die Ergründung der nationalen Identität fruchtbar zu machen suchte, verwirklichte er in seinem Poem Yelidd (1942), in dem er für die Antillen (und damit implizit auch fiir die Dominikanische Republik) eine synkretistische Identität behauptete. Eine solchermaßen der offiziellen Ideologie der hispanidad widersprechende Position vertrat auch MANUEL DEL CABRAL (1907-1999), der in seinen Gedichtsammlungen Doce poemas negros (1935) und Trópico negro (1943) nun auch die aktuelle Wirklichkeit der marginalisierten Schwarzen im Land einer kritischen Bestandsaufnahme unterzog. In der fiktionalen Prosa dominierte die Thematisierung der Lebenswelt des campesino, in der Kurzgeschichte als Fortsetzung des traditionellen costumbrismo zumeist anekdotisch-folkloristisch, im Roman dagegen mit dem Anspruch einer realistischen Darstellung. Zwei herausragende Beispiele sind zu nennen: der Roman La Mañosa. Novela de las Revoluciones (1936) von JUAN BOSCH (1909-2001), ein eindrucksvolles Zeugnis der während der vergangenen Bürgerkriege herrschenden Gewalt, Anarchie und Zerstörung, reflektiert im Bewusstsein eines kleinen Jungen; und der Roman Over (1939) von RAMÓN MARRERO ARISTY (1913-1959), eine leidenschaftlich geführte, von einem klar definierten politischen Bewusstsein getragene Anklage und ein Dokument der Lebens- und Arbeitsbedingungen auf einer in US-amerikanischem Besitz befindlichen Zuckerrohrplantage. Marrero Aristy, derTrujillo zeitweilig als Diplomat und Minister diente, fiel in Ungnade und wurde bei einem angeblichen Umsturzversuch ermordet. Juan Bosch ging kurz nach dem Erscheinen seines Romans ins Exil und verfasste dort einen Großteil der Kurzgeschichten, die ihn zu einem der bedeutendsten lateinamerikanischen Erzähler machen sollten, die aber erst nach seiner Rückkehr in die Dominikanische Republik Anfang der 60er Jahre veröffentlicht wurden. Ins Exil flüchteten auch andere oppositionelle Literaten: ANDRÉS FRANCISCO REQUENA (1908-1952), der mit drei Romanen - Los enemigos de la tierra

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Die Karibik

(1936/1942), Camino de fuego (1941) und Cementerio de cruces (1949) - ein eindrückliches, dem politischen Pamphlet nahestehendes Zeugnis seiner Epoche ablegte und der in New York von Agenten des Trujillo-Regimes ermordet wurde; P E D R O M I R (1913-2000), dessen heute in der Dominikanischen Republik überaus populäres Poem Hay un pais en el mundo (1949) im Stil eines politischen Manifests die Ära der Trujillo-Diktatur einer bitterbösen Kritik unterzog, die spezifisch dominikanische Situation aber gleichzeitig in einen gesamtamerikanischen Zusammenhang stellte; schließlich Manuel del Cabrai, der wie Pedro Mir die nationalen Grenzen überschritt und dessen Poem Compadre Mon (1943) in der legendären Gestalt der gerechtigkeitsliebenden, von politischer Willkür und polizeilichem Terror verfolgten Titelfigur das Los all jener spiegelt, deren Existenz in Lateinamerika von Unterentwicklung, neokolonialer Dependenz und politischem Terror bedroht ist.

4 AUF

DER S U C H E NACH

IDENTITÄT:

HARLEM

HAITIANISCHER

DER V E R L O R E N E N

(AFRIKANISCHEN)

RENAISSANCE,

AFROCUBANISMO,

INDIGENISMUS

UND

NÉGRITUDE

Mit dem 20. Jahrhundert trat neben den kulturellen Einfluss der Europäer im karibischen Raum das Vorbild US-amerikanischer Autoren, die teils direkt, teils auf dem Umweg über Europa rezipiert wurden. Sie lösten eine Bewegung aus, in der sich nahezu die gesamte afroamerikanische Welt wiederzuentdecken begann. Während in den Bars von Harlem unter dem frenetischen Beifall der New Yorker „feinen Gesellschaft" Jazz und Blues Triumphe feierten und „Schwarz" ausgesprochen Mode wurde, entstand die militante Bewegung der Harlem Renaissance (oder Negro Renaissance), deren wichtigste literarische Vertreter — Langston Hughes, Countee Cullen, Jean Toomer und der in Jamaika geborene Claude McKay - auf die Autoren des karibischen Raums wie auf die europäischen Intellektuellen, insbesondere das Pariser Studentenmilieu, nachhaltigen Einfluss ausübten. Ausgehend von der kollektiven Vergangenheit des Afroamerikaners, der durch Versklavung und Deportation seiner afrikanischen Heimat entfremdet worden war, ausgehend auch von der Gegenwart einer dominanten „weißen" Zivilisation, die den Schwarzen rassisch und sozial diskriminiert, propagierten die Vertreter der Harlem Renaissance die „Wiedergeburt" der zu Unrecht als „primitiv" abgewerteten afrikanischen Kulturen, forderten aber auch die sozioökonomische Gleichstellung des Schwarzen in der US-amerikanischen Gesellschaft.

2. Kulturen zwischen kolonialer Assimilation und postkolonialer Kreolisierung

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Die Sehnsucht nach dem „verlorenen Paradies", einem nostalgisch verklärten Afrika - Afrika vor dem Zugriff der Europäer im 15. Jahrhundert - äußerte sich (zunächst in den USA) auf zwei Ebenen, einer politischen und einer ideologisch-literarischen. 1918 gründete der gebürtige Jamaikaner Marcus Garvey die Universal Negro Improvement Association und propagierte als einzig sinnvolle Lösung für die Schwarzen in den USA und im karibischen Raum die Rückkehr nach Afrika. Doch Garveys Plan scheiterte, nicht zuletzt an der mangelnden Kooperationsbereitschaft: der Vereinigten Staaten und Großbritanniens. Die einen fürchteten durch den Abzug der billigen Arbeitskräfte einen Kollaps ihrer Volkswirtschaft, die anderen waren besorgt um die in ihren afrikanischen Kolonien zu dieser Zeit noch herrschende Ruhe. Garveys ideologischer Einfluss aber ist noch heute in der während der 30er Jahre in Jamaika entstandenen Bewegung der Rastafari lebendig.9 Auf literarischer Ebene führte die Harlem Renaissance zu einer militanten Abkehr von der „weißen", als überzivilisiert empfundenen Kultur und einer bewussten Hinwendung zum afrikanischen „Primitivismus", der blacksoul, die sich im Gegensatz zur „dekadenten" Zivilisation der Weißen Ursprünglichkeit und Spontaneität bewahrt hätte.10 Während der 1929 im Gefolge der Weltwirtschaftskrise einsetzenden Depression nahm die Bewegung einen zunehmend politischen Charakter an. Und während es dem angelsächsischen Amerika gelang, afroamerikanisches Kulturgut wie Jazz und Blues und ihre Repräsentanten durch das Showgeschäft zu vermarkten und damit ideologisch zu neutralisieren, begriffen sich die farbigen Literaten unter wachsendem Einfluss marxistischen Gedankenguts als Vorkämpfer sozialer Gerechtigkeit nicht nur für den rassisch diskriminierten Farbigen, sondern für den underdog schlechthin. In den britischen Kolonien fanden die Autoren der Harlem Renaissance zunächst kein nennenswertes Echo. CLAUDE MCKAY ( 1 8 9 0 - 1 9 4 8 ) , eine der Schlüsselfiguren dieser Bewegung, stammte zwar aus Jamaika, war aber schon 1912 in die USA emigriert und betrachtete eher Harlem denn Jamaika als seine geistig-politische Heimat, auch wenn er mehrfach die rassischen und kul-

Vgl. hierzu Kap. 6. Diese Vorstellung ging zurück auf William E. B. Dubois, Mitbegründer des Niagara Movement, der ältesten bis heute aktiven Bürgerrechtsbewegung der USA, der in seinem 1 9 0 3 erschienenen Essayband The Souls of Black Folk - gegen Booker T. Washingtons Politik der Assimilation durch Bildung - die black soul als Kern eines politischen und kulturellen Selbstfindungsprozesses für alle Afroamerikaner gepriesen hatte. 9

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turellen Konflikte auf seiner Heimatinsel thematisierte. Von herausragender Bedeutung ist in diesem Zusammenhang sein letzter Roman, Banana Bottom (1933): eine Erkundung der afrikanischen Wurzeln jamaikanischer Identität über die Schilderung traditioneller Lebensformen in einer dörflichen Gemeinschaft, die auf Kindheitserinnerungen des Autors beruht. Auch E R I C W A L R O N D (Guyana; 1898-1966), der als zweiter westindischer Autor der Harlem Renaissance zugerechnet wird, verließ bereits in jungen Jahren seine Heimat und kehrte nur zu gelegentlichen Besuchen zurück. 1918 gelangte er nach New York, wo er sich dem Kreis um Langston Hughes anschloss, zeitweilig eng mit Marcus Garvey zusammenarbeitete und 1926 mit Tropic Death einen Band Erzählungen veröffentlichte, der ihn schlagartig berühmt machte, dem aber kein weiteres fiktionales Werk folgen sollte. Geschildert werden die prekären Lebensbedingungen der Unterschicht nicht nur in Britisch-Guayana, sondern auch auf den westindischen Inseln sowie in den Slums westindischer Arbeiter in Panama: eine eher dem sozialkritischen Realismus als den fundamentalistischen Ideen eines Marcus Garvey verpflichtete Vision - die Garvey bei Walrond (wie auch bei McKay) als von den Weißen gesteuerte „Prostituierung" heftig attackierte. In Jamaika und Britisch-Guayana war - wie in den anderen westindischen Territorien - die „offizielle" Kultur während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nahezu ausschließlich eine Domäne der Weißen, die es sich aufgrund ihrer wirtschaftlichen Vormachtstellung leisten konnten, in finanziell abgesicherter Position der wenig lukrativen Betätigung als Literat nachzugehen. Doch hatte die koloniale westindische Literatur des 20. Jahrhunderts mit jener der békés auf den französischen Antillen wenig gemein, denn sie brachte von Seiten der Weißen erste Ansätze zu einer Rehabilitierung der Schwarzen, die naturgemäß nicht aus rassenspezifischen Komponenten, sondern aus den bestehenden sozialen Verhältnissen abgeleitet wurde.11 In den niederländischen Kolonien wandten sich, vorwiegend unter dem Einfluss der spanischsprachigen Autoren des afrocubanismo, erst seit den 50er Jahren einige Autoren afrikanischen Themen zu: PIERRE LAUFFER (Pseudonym für José Antonio Martes, Curaçao; 1920-1981) und vor allem F R A N K M A R T I N U S A R I O N (Pseudonym für Frank Efraim Martinus, Curaçao; geb. 1936) mit seinem Gedichtband Stemmen uit Afrika (1957). Doch blieb diese Bewegung auf einige wenige Autoren beschränkt, da in den niederländischen Kolonien, insbe-

11

V g l . h i e r z u K a p . 5.

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sondere in Suriname, das afrikanische Erbe angesichts der vielfältigen ethnischkulturellen Traditionen nicht den Stellenwert besitzt wie etwa in den französischen Kolonien, Haiti oder Kuba. Allein dort traf die Botschaft der Hartem Renaissance auf fruchtbaren Boden. Allerdings geschah die Vermittlung - trotz der geographischen Nähe — weniger durch direkte Kontakte als auf dem Umweg über die intellektuellen Kreise in Europa, insbesondere Paris. Dort hatte sich nach dem traumatischen Erlebnis des Ersten Weltkriegs das bereits in der Kulturkritik Friedrich Nietzsches und der Untergangsmystik Richard Wagners enthaltene Bewusstsein von einer Krise des abendländischen Denkens und Kulturschaffens zu einem Kulturpessimismus verdichtet, der in Oswald Spenglers kulturphilosophischem Werk Der Untergang des Abendlandes (1918-1922) eine zweifellos subjektive, deshalb aber nicht weniger alarmierende Begründung fand. Gleichzeitig wurde durch die ethnographischen Studien von Leo Frobenius und Maurice Delafosse das Interesse an den afrikanischen Kulturen, der Literatur, Musik und vor allem der bildenden Kunst, geweckt, deren Elemente Dadaisten und Kubisten begierig aufsogen und verarbeiteten. Und auch das mondäne Paris begann, wie schon zuvor die feine Gesellschaft New Yorks, die Kultur der Schwarzen zu vereinnahmen und salonfähig zu machen. Afrikanische Plastiken und afroamerikanischer Jazz bewirkten eine wahre Euphorie; die Krönung war der Auftritt Josephine Bakers, der ganz Paris zu Füßen lag.

Der afrocubanismo In Kuba wurde die Aufwertung des Schwarzen und seiner Kultur teils durch den europäischen „Primitivenkult", teils durch die Harlem Renaissance beeinflusst; sie ist aber auch zu begreifen als Parallele zur Rehabilitierung des Indio auf dem lateinamerikanischen Kontinent. FERNANDO ORTIZ (1881-1969) übernahm hierbei die Rolle, die Jean Price-Mars für den haitianischen Indigenismus erfüllte. Er untersuchte mit wissenschaftlichen Methoden die kulturellen Leistungen der kubanischen Farbigen: ihre Tänze und Gesänge, ihre Sprache, ihre mündliche Überlieferung, die religiösen Ausdrucksformen der santería und der Geheimgesellschaften der ñáñigos (z. B. in Los negros brujos, 1906; Los esclavos negros, 1916). Das größte Echo fand Ortiz mit seinem Glosario de afronegrismos (1924), einer Sammlung afrikanischer oder afrikanisch klingender Wörter der kubanischen Umgangssprache, bei denen es weniger auf die Etymologie als auf den „afrikanischen" Klang und Rhythmus ankam.

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JOSÉ ZACARÍAS TALLET ( 1 8 9 3 - 1 9 8 9 ) , RAMÓN GUIRAO ( 1 9 0 8 - 1 9 4 9 ) , EMILIO

BALLAGAS (1908-1954) und Nicolás Guillén versuchten, unter Verwendung von afrikanischen Rhythmen und Stilmitteln wie der Onomatopoesie und der Akzentverstärkung durch Wiederholung dem Ausdruck zu verleihen, was sie — mit Ausnahme Guilléns alle Euroamerikaner - als typische Wesensmerkmale des Afroamerikaners betrachteten: Ursprünglichkeit, Wildheit, Sinnlichkeit. Sie blieben größtenteils in ihrer eurozentrischen Betrachtungsweise gefangen und leisteten kaum mehr als eine primitivistische Stereotypisierung. Einzig Nicolás Guillén gelang es bereits in seinen ersten beiden Gedichtbänden, Motivos de son (1930) und Sóngoro cosongo (1931), die zweifellos originellen formalen Errungenschaften des afrocubanismo im Einklang von afrokubanischer Folklore und traditionellen spanischen Formen mit einer Botschaft zu verknüpfen, die nicht mehr nur den Klischees eines mit modischen Accessoires versehenen Primitivenkults huldigte. Als Farbiger betrachtete er die afrikanische wie die afrokubanische Welt gewissermaßen von innen und bot so eine authentischere Vision als die meisten seiner Zeitgenossen. Dabei war ihm wichtig zu betonen, dass in Kuba die verschiedenen Kultureinflüsse zu einer Synthese geführt hätten. Folglich nannte er seine Gedichte nicht „poemas negros", sondern (so der Untertitel seines zweiten Gedichtbandes) „poemas mulatos". Mit dem 1934 veröffentlichten Band West Indies Ltd. trat schließlich auch bei Guillén - analog zur Hartem Renaissance — das gesellschaftliche und politische Engagement in den Vordergrund. Dieses führte ihn in Verbindung mit einer aggressiv antiimperialistischen Haltung aus dem engeren Rahmen des afrocubanismo heraus. Denn, so Guillén, nicht Schwarz und Weiß, sondern Unterdrücker und Unterdrückte stehen sich als Kontrahenten gegenüber. Innerhalb des afrocubanismo stellte Nicolás Guillén eine Ausnahme dar, denn die Literatur dieser Bewegung war im Wesentlichen ahistorisch und apolitisch. Dies erklärt auch, warum sich der afrocubanismo fast ausschließlich in der Lyrik manifestierte. Nur ein Roman ist dieser Bewegung verpflichtet: ALEJO CARPENTIERS (1904-1980) erster Roman, Ecue-Yamba-0 (1933). Erzählt wird die Geschichte eines jungen Schwarzen, der unter Mordverdacht verhaftet und aus seinem Dorf nach Havanna gebracht wird, wo er nach der Flucht aus dem Gefängnis in die geheimnisvolle Welt der ñáñigos Eingang findet.12 Der Autor schildert detailliert die Lebensbedingungen der Schwarzen auf dem Land wie in

12

In einem dem Roman beigefügten Glossar wird betont, dass die „ñañigos" nicht (wie noch Ortiz meinte) „Hexerei" betreiben. Es handelt sich vielmehr u m Geheimgesellschaften, die den Mitgliedern einen besonderen, dem Genossenschaftsprinzip vergleichbaren

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der Stadt. Zentriert ist die Handlung auf die Mythologie und die rituellen Praktiken des Afrokubaners, die mit ethnographischer Akribie beschrieben werden und in ihrer literarischen Umsetzung noch keine Züge dessen aufweisen, was für das weitere Werk Carpentiers wie auch anderer Autoren im Zusammenhang mit afroamerikanischen Themen charakteristisch werden sollte: „lo real maravilloso", das „wunderbar Wirkliche" als Essenz einer mythisch-magischen Weltsicht, die in dem sogenannten „magischen Realismus" sowohl auf dem lateinamerikanischen Kontinent als auch im karibischen Raum ausgesprochen Furore machte. Der haitianische Indigenismus Hartem Renaissance, europäischer Kulturpessimismus und Primitivenkult blieben auch bei den in Paris im Exil lebenden Haitianern nicht ohne Echo. Seit 1915 war ihr Land von den USA besetzt, und die Fremdherrschaft musste den Eliten umso unerträglicher erscheinen, als die von den Besatzern praktizierte Rassendiskriminierung nicht nur die Schwarzen, sondern auch die Mulatten traf, die sich jenen überlegen fühlten und als durchaus (im europäischen bzw. US-amerikanischen Sinne) „zivilisiert" betrachteten. Doch während der europäische Primitivenkult im Wesentlichen einem romantisch verklärten, ausschließlich durch Lektüre vermittelten Afrika huldigte und die vergangenen altafrikanischen Kulturen feierte, suchten die haitianischen Intellektuellen bei ihrer Rückkehr nach Haiti in den Jahren 1927/28 die Wurzeln eines eigenen Kulturverständnisses in der haitianischen Gegenwart, unter der vom europäischen Kultureinfluss noch weitgehend unberührten schwarzen Landbevölkerung. Man machte sich zunächst daran, in direktem Kontakt mit den Bauern des Hinterlandes deren orale Tradition aufzuzeichnen. Die Folklore, das dörfliche Gemeinschaftsleben mit seinen Sitten und Gebräuchen und der Vodu waren Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen und wurden thematischer Angelpunkt einer Literatur, die zum ersten Mal spezifisch haitianische Züge trug. Die beherrschende Persönlichkeit der indigenistischen Bewegung, die mit der Gründung der Zeitschrift Revue Indigène 1927 offiziell ins Leben gerufen wurde, deren Programm aber erst in der 1937 gegründeten Zeitschrift

Schutz gewähren und die über ein kompliziertes, aufTanz, Gesang und einer Geheimsprache basierendes Ritual verfügen.

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Les Griots in zusammenhängender Form erschien, war JEAN PRICE-MARS (1876-1969), Arzt, Ethnologe und Soziologe, mehrfach Senator, Minister, Botschafter und zweimal Präsidentschaftskandidat, der bis kurz vor seinem Tod als Leitfigur der africanisants das geistige Leben Haitis beherrschte. In seinem 1928 veröffentlichten Essayband Ainsi parla l'oncle wie in zahlreichen anderen Publikationen hielt Price-Mars den haitianischen Eliten den Spiegel der Realität vor. Haiti, so erklärte er, leide an einem „bovarysme intellectuel", wobei unter bovarysme jene — für Madame Bovary, Gustave Flauberts berühmte Romanfigur, so fatale - Fähigkeit zu verstehen war, „sich anders zu begreifen, als man ist".13 Price-Mars sagte auch deutlich, worin dieser kollektive bovarysme begründet war: „Weil uns von der Kolonialzeit bis heute das Dogma von der Minderwertigkeit der Neger und des schwarzen Afrikaners aufgezwungen wurde und wir es gehorsam übernommen haben, beharren wir darauf, [...] uns nicht als Neger zu betrachten und in der Tarnkappe einer möglichen Rassenmischung das zu sehen, was unsere Daseinsberechtigung ausmacht und uns in den Augen der Welt als menschliche Wesen ausweist."14 Um diese fundamentale Entfremdung zu überwinden und zu einer nationalen Identität zu finden, schlug Price-Mars eine für die damalige Zeit geradezu unerhörte Lösung vor: „Wir haben nur dann eine Chance, wir selbst zu sein, wenn wir vom Erbe der Vorfahren keinen Teil zurückweisen. Und dieses Erbe ist nun einmal zu acht Zehnteln ein Geschenk Afrikas." 15 Damit war bereits in den Anfängen der indigenistischen Bewegung der spezifische Mischcharaker der haitianischen Kultur festgehalten und dem Vorwurf der „Afrikanisierung" Haitis, dem die Indigenisten von Seiten der francisants, der Verfechter eines ausschließlich an Frankreich orientierten Kulturkonzepts, ausgesetzt waren, der Boden genommen. Der Weg zu einem authentischen Selbstverständnis und einem authentischen Kulturschaffen - so CARL BROUARD ( 1 9 0 2 - 1 9 6 5 ) , Mitbegründer der Revue Indigène und neben EMILE ROUMER ( 1 9 0 3 - 1 9 8 8 ) bedeutendster Lyriker der indigenistischen Schule — fiihre allein über „eine harmonische Synthese unserer afrolateinischen Traditionen". 16 Das literarische Schaffen der Indigenisten war sehr fruchtbar, insbesondere auf dem Gebiet des Romans, der für die angestrebte authentische Wiedergabe

13

Ainsi parla l'oncle. Nouvelle édition. Ottawa: Leméac 1973, S. 46. Formation ethnique, folk-lore et culture du peuple haïtien. Port-au-Prince: Valcin 1939, S. 144. 15 Ainsiparla l'oncle, S. 290. 16 „Pourquoi la Revue ,Les Griots' a été fondée", in: Les Griots 3, 1939, S. 290. 14

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der haitianischen Wirklichkeit geeigneter schien als die Lyrik oder das Theater. Bereits vor und während der US-amerikanischen Besetzung hatten sich einige Romanciers nationalen Themen zugewandt: etwa FRÉDÉRIC MARCELIN ( 1 8 4 8 1 9 1 7 ) , FERNAND HIBBERT ( 1 8 7 3 - 1 9 2 8 ) und insbesondere JUSTIN LHÉRISSON ( 1 8 7 3 - 1 9 0 7 ) , dem mit seinem 1 9 0 5 veröffentlichten Roman La famille des Pitite-Caille eine bitterböse Gesellschaftssatire gelungen war, in der die opportunistische Mentalität eines kleinbürgerlichen Aufsteigers genauso treffend karikiert wird wie die moralische Korruptheit und die politischen Machenschaften der bereits Arrivierten. Und auch das Problem der rassischen Diskriminierung des Schwarzen von Seiten der weißen Besatzer wie von Seiten der einheimischen Mulatten war bereits, wenn auch noch in einer den Schwarzen idealisierenden Weise, in einem ersten Roman behandelt worden: Le nègre masqué ( 1 9 3 3 ) von STÉPHEN ALEXIS ( 1 8 8 9 - 1 9 6 3 ) , dem Vater des (weitaus berühmteren) Jacques Stephen Alexis. Das indigenistische Romanschaffen begann in den 30er Jahren mit dem Kurzroman La montagne ensorcelée (1931) von JACQUES ROUMAIN (1907-1944) und reichte mit den Werken von JEAN-BAPTISTE CINÉAS (1895-1958), M I L O R I GAUD (1903-1981) sowie der Brüder PHILIPPE THOBY-MARCELIN (1904-1975) und PIERRE MARCELIN (geb. 1908) bis in die 50er Jahre. Ort der Handlung dieser einem eher folkloristischen Realismus verpflichteten Romane ist zumeist ein Dorf im Hinterland; thematisiert wird das Leben der Dorfgemeinschaft, das häufig dem des „europäisierten" Städters gegenübergestellt wird. Das Hauptaugenmerk der Autoren liegt auf der Folklore und dem Vodu, Kritik an sozioökonomischen Misständen wird aber nicht ausgespart. Allerdings überwiegt bei weitem die Schilderung religiös-magischer Praktiken des Vodu, wie dies bereits der Titel des bekanntesten Romans von Milo Rigaud dem Leser signalisiert: Jésus ou Leghba? ou Les Dieux se battent (Jesus oder Leghba [= Gottheit des Vodu] oder Der Kampf der Götter; 1933). Dem (städtischen) Leser waren die geschilderten Praktiken ebenso fremd wie den Autoren selbst, die um eine authentische Wiedergabe der Realität bemüht sein mochten, diese aber nur aus der Außenperspektive wahrnehmen konnten. Und indem sie die für sie wie für den Leser exotisch-reizvollen Elemente hervorhoben, verstärkten sie das andernorts vorherrschende Bild vom „abergläubischen" oder gar „kannibalistischen" Haitianer. FRANÇOIS DUVALIER ( 1 9 0 7 - 1 9 7 1 ) , (Hobby-)Ethnologe und Essayist, gehörte zu den wenigen africanisants, die ein rassisch und nicht kulturell fundiertes Konzept nationaler Identität favorisierten. Als dieses Konzept des noirisme 1957 mit seiner Machtübernahme zur staatstragenden Ideologie wurde, hatten sich die meisten Romanautoren bereits längst vom folkloristischen In-

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digenismus abgewandt, um über die Hinwendung zu den aktuellen Problemen auf dem Land wie in der Stadt - häufig unter dem Einfluss sozialistischen oder marxistischen Gedankenguts — die Wurzeln der geschilderten Misstände zu analysieren. Am Wendepunkt hin zu einem kritischen Realismus steht als herausragendes Werk der haitianischen Literatur, gewissermaßen als Nationalepos, der 1944 posthum veröffentlichte Roman Gouverneurs de la rosée von Jacques Roumain. Der Roman erzählt die Geschichte des Bauernsohns Manuel, der nach 15 Jahren Arbeit auf kubanischen Zuckerrohrplantagen in sein Heimatdorf zurückkehrt und nun angesichts des katastrophalen Elends - verursacht durch eine Dürreperiode ebenso wie die von den Bauern aufgrund ständigen Abholzens selbstverschuldete Bodenerosion - versucht, mit den in der kubanischen Gewerkschaftsbewegung gewonnenen Erfahrungen und der in der Erinnerung der Menschen noch lebendigen Tradition des kumbit, einer Art kollektiver Nachbarschaftshilfe, das Dorf aus seiner Lethargie zu reißen, die durch einen alten Streit verfeindeten Lager zu einen und gemeinschaftlich das Land künstlich zu bewässern. Der Roman erzählt auch die Liebesgeschichte zwischen Manuel und Annaïse, die aufgrund der unüberbrückbar scheinenden Feindschaft im Dorf tragisch endet. Manuel wird ermordet, doch sein Tod eint die feindlichen Lager und ist der Neubeginn einer hoffnungsvollen Zukunft - symbolisiert durch das Kind, das Annaïse in sich trägt. Die den Indigenisten teuren folkloristischen Aspekte des dörflichen Gemeinschaftslebens, der oralen Uberlieferung und des Vodu sind nicht ausgespart. Im Vordergrund aber steht die politisch-ideologische Aussage, die Tradition und Moderne miteinander versöhnt und die bereits der Titel suggeriert: Durch gemeinschaftliches, solidarisches Handeln kann es gelingen, einen (hier durch die natürliche Umwelt bedingten) Misstand zu beseitigen und sich, statt zu resignieren, zum Herrn über die Natur und damit über die eigene Zukunft zu machen.

Die Bewegung der négritude Den nachhaltigsten Eindruck hinterließ die Bewegung der Harlem Renaissance bei den in Paris lebenden Intellektuellen aus den französischen Kolonien. Während die Haitianer sich keineswegs veranlasst sahen, den europäischen bzw. französischen Kultureinfluss zu leugnen, und in der Synthese des afrikanischen und des europäischen Erbes die eigene kulturelle Identität zu finden suchten, vollzogen die Autoren aus den französischen Antillen und Franzö-

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sisch-Guayana aufgrund der andauernden kolonialen Situation und der weitaus stärkeren Unterwerfung unter den französischen Kulturimperialismus (in ihren programmatischen Äußerungen) den Bruch mit der europäischen Zivilisation. Und während die Indigenisten in Haiti die im eigenen Land in der Gegenwart noch lebendigen Spuren des afrikanischen Erbes aufzudecken suchten, um so zu einer gegenwartsbezogenen haitianischen Identität zu gelangen, proklamierten die Anhänger der négritude (von Paris aus) die Existenz einer infranationalen, der schwarzen Rasse in ihrer Gesamtheit innewohnenden Wesenheit — die „âme noire", deren Wurzeln im vorkolonialen Afrika zu finden seien. Ziel war, über die Rehabilitierung schwarzafrikanischer Werte und Kulturformen und die Schaffung eines neuen schwarzen Selbstbewusstseins der Diskriminierung durch die „weiße" bzw. europäische Kultur entgegenzuwirken, gleichzeitig aber auch eine Solidarisierung der Schwarzen im Kampf gegen den Kolonialismus zu fördern. Begründer und wichtigste Vertreter dieser Bewegung waren - neben dem Senegalesen Léopold Sedar Senghor - LÉON-GONTRAN DAMAS (Frz.-Guayana; 1 9 1 2 - 1 9 7 8 ) und AIMÉ CÉSAIRE (Martinique; geb. 1913), die sich mit der 1 9 3 4 gegründeten Zeitschrift L'Etudiant Noir ein eigenes Sprachrohr schufen. 1937 erschien mit dem Gedichtband Pigments von Damas das erste bedeutende literarische Zeugnis dieser Bewegung, in dem bereits ihre wichtigsten Themen angesprochen wurden: Sehnsucht nach der verlorenen Heimat Afrika, Bitterkeit und Hass bei dem Gedanken an die kollektive Vergangenheit von Deportation und Sklaverei, Aufruf zum Kampf gegen koloniale Unterdrückung, Verurteilung des weißen Rassenvorurteils, Forderung nach einer angemessenen Würdigung des Schwarzen und seiner Kultur. Damas war in der sprachlichen Gestaltung seiner Gedichte direkt und eindeutig, in seiner antikolonialistischen Haltung bitter und aggressiv, hasserfüllt und unversöhnlich. Er war unter den Vertretern der négritude-Bevregung der radikalste — eine Haltung, die man unter Hinweis auf die strikte Erziehung in einem extrem assimilierten gutbürgerlichen Elternhaus zu erklären versuchte, die aber auch aus der Tatsache resultierte, dass Französisch-Guayana bzw. Cayenne von der Metropole allein der Wert einer Strafkolonie beigemessen wurde. Zwei Jahre später erschien Aimé Césaires Poem Cahier d'un retour au pays natal, das zunächst unbeachtet blieb und erst Jahre später von dem Franzosen André Breton entdeckt und gefeiert wurde. Die Begeisterung des Surrealisten Breton kam nicht von ungefähr, denn der hermetische Sprachstil dieses zum Manifest der négritude-Bewegung erhobenen Gedichts, in dem auch zum ersten Mal das Wort auftauchte, das der Bewegung ihren Namen gab, entsprach

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in wesentlichen Punkten dem Programm der Surrealisten. Und durch die Verwendung von der afrikanischen Tradition entlehnten Stilmitteln wie auch die Exotik der Bild- und Assoziationsfolgen gewann Césaires Poesie für den europäischen Leser zusätzliche Faszination. Als Frankreich 1940 von deutschen Truppen besetzt wurde, verlegten die Autoren der négritude-Rewcgurig ihr Aktionszentrum in die Kolonien und gruppierten sich um die 1941 von Césaire in Fort-de-France gegründete Zeitschrift Tropiques. Auch zu diesem Zeitpunkt war die Bewegung der négritude wie in ihren Anfängen eine im Wesentlichen antillanische Bewegung. Noch in der 1948 von Senghor herausgegebenen Anthologie de la nouvelle poésie nègre et malgache de langue française waren die antillais mit Abstand am stärksten vertreten. Mit dem Erscheinen der ersten, bezeichnenderweise in Paris und Dakar gleichzeitig herausgebrachten Nummer der Zeitschrift Présence Africaine 1947 kündigte sich der zunehmende Einfluss afrikanischer Autoren an - eine Tendenz, die während der 50er Jahre, bedingt durch die afrikanischen Unabhängigkeitsbewegungen, zu einer stärkeren Politisierung der négritude-Bewegurig und schließlich zu einer massiven Kritik und weitgehenden Ablehnung des ursprünglichen négritude-Konzepts führte. Die Kritik der Afrikaner berührte eine Schwäche der Bewegung, die sich auch im Kontext der französischen Kolonien in der Karibik in einer nur geringen und wenig ausdifferenzierten literarischen Produktion niederschlug: die weitgehende Ausblendung der politischen und sozioökonomischen Realität in den Kolonien und damit die geringe Effizienz im Kampf gegen den Kolonialismus. Oder, wie es der Nigerianer Wole Soyinka formulierte: „Der Tiger läuft nicht herum und proklamiert seine Tigerhaftigkeit, der Tiger springt."17 Größere Resonanz in Frankreich und der Karibik fand ein anderer Gesichtspunkt: neben der (naheliegenden) Kritik am Konzept einer durch rassenspezifische Konstanten - und nicht durch historische Variabein - determinierten négritude vor allem die Kritik an ihrem antithetischen und restriktiven Charakter, der nach Jean-Paul Sartre aus der Ideologie der négritude einen „anti-rassistischen Rassismus" erwachsen ließ. In seinem Essay „Orphée noir", der in Senghors Anthologie enthalten ist, sah Sartre das Konzept der négritude in einem dialektischen Prozess als Antithese, als „Moment der Negation", die der These von der Überlegenheit des Weißen entgegengestellt wird und die zwangsläufig sich ergebende Synthese vorbereitet. „Daher", so fuhr Sartre fort, „muss die négri17 Zit. nach Gerald Moore: Seven 1962, S. XVI.

African

Writers.

London: Oxford University Press

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tude untergehen, sie ist Übergang und nicht Abschluss, sie ist Mittel und nicht letztes Ziel." Die Synthese aber würde sein: „die Verwirklichung des Menschlichen in einer rassenlosen Gesellschaft."18 Wie sehr auch Sartre diese Einschätzung und explizite Wertung der négri/Wf-Ideologie von manchem ihrer Vertreter verübelt werden mochte, sie wies eindeutig jenen den Weg, die fortan statt „Rasse" „Klasse" sagten und jede Form der Unterdrückung bekämpften, war sie nun gegen Schwarze gerichtet oder gegen Weiße, mochte sie sich nun äußern in kolonialer Abhängigkeit, politischer Verfolgung oder wirtschaftlicher Ausbeutung. FRANTZ FANON (Martinique; 1925-1961), der Sartre vorwarf, er habe „den Enthusiasmus der Schwarzen zerstört", der von sich sagte: „Ich hatte das Bedürfnis, mich ganz in meiner négritude zu verlieren." — derselbe Fanon gab schließlich unumwunden zu, dass er sich von einem sentimentalen Bedürfnis hatte hinreißen lassen und dass sein Standpunkt sich von dem Sartres nicht unterschied: „Als Farbiger will ich nur eins: [...] dass die Knechtung des Menschen durch den Menschen, das heißt meiner Person durch eine andere, für immer aufhört. Dass es mir möglich ist, den Menschen zu entdecken und zu wollen, wo immer er sich auch befindet. Den Neger gibt es nicht. Genauso wenig wie den Weißen."19

5 Los

PASOS PERDIDOS

O D E R : DIE

DER K O N F L I K T I V E N

HERAUSFORDERUNG

GEGENWART

Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts brachte für Teile des karibischen Raums - Kuba und (in geringerem Umfang) die West Indiek — politische und gesellschaftliche Veränderungen von einer Tragweite, die zwangsläufig auch im kulturellen Bereich eine Neuorientierung bewirkte. Andere Teile der Region - die französischen Überseedepartements und die niederländischen Kolonien - blieben weiterhin in der Abhängigkeit von einer europäischen Metropole, was ihre kulturelle Emanzipation behinderte. Puerto Rico konnte sich als den USA assoziierter „freier Staat" einer fortgesetzten „Amerikanisie-

18 „Orphée noir", in: Leopold Sédar Senghor (Hrsg.) : Anthologie de la nouvelle poésie nègre et malgache de langue française. Paris: Presses Universitaires de France 5 1985, S. XLI. 19 Peau noire, masques blancs. Paris: Ed. du Seuil 1952, S. 109 und 187. 20 Der Name „West Indies" oder „Westindien" bezeichnet im weitesten Sinne die karibische Inselwelt, mit oder ohne Einbeziehung der allgemein der Karibik zugerechneten Staaten/Territorien auf dem Festland. Im engeren Sinne - und so wird der Name hier verwendet - liefert er die Bezeichnung nur für die anglophone Karibik.

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rung" nicht entziehen, mit der Folge, dass jüngere Autoren sich auch oder ausschließlich der englischen Sprache bedienen. In der Dominikanischen Republik wurden durch die „Bewältigung" der Trujillo-Ära und der US-amerikanischen Invasion von 1965 über Jahrzehnte nahezu alle Kräfte absorbiert. Haiti, wo unter Vater und Sohn Duvalier über nahezu drei Jahrzehnte jegliches kulturelle Leben erstickt wurde und nach dem Ende der Diktatur innenpolitisches Chaos überwog, entwickelte eine Nationalliteratur vorwiegend in der Diaspora. Doch bei allen Unterschieden hinsichtlich der politischen und sozialen Verhältnisse standen die karibischen Staaten und Territorien im Bereich der kulturellen Infrastruktur — wenn auch mit regionalen Abstufungen und mit Ausnahme von Kuba — vor denselben Problemen, die als Manifestation der Unterentwicklung gewiss nicht neu waren, die aber seit den 50er Jahren mit wachsender Betätigung der Literaten zunehmend als Behinderung empfunden wurden. Zu nennen sind hier insbesondere das weithin wenig effiziente Schulwesen und das unzureichende Angebot an Publikationsmöglichkeiten, wodurch sich die Autoren (mit Ausnahme derer des spanischen Sprachraums) gezwungen sahen, ihre Verleger und ihre Leser größtenteils im Ausland, zumeist in der ehemaligen Metropole, zu suchen. Hatten während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch viele Autoren versucht, nationale Größe und kulturelle Identität durch einen Rückgriff auf die in der vorkolonialen Vergangenheit wurzelnden kulturellen Werte zu untermauern, konnte sich seit den 50er Jahren kaum noch jemand der Einsicht verschließen, dass man auf diese Weise den drängenden Problemen der Gegenwart nicht mehr begegnen konnte. „Los pasos perdidos" - so die Aussage des Kubaners Alejo Carpentier in seinem unter diesem Titel 1953 erschienenen Roman (dt.: Die verlorenen Spuren) - liegen zwar auf dem Weg zu den Wurzeln menschlicher Existenz, und es kann einem Individuum auch durchaus gelingen, zufällig und rein instinktiv zu diesen in einer vorgeschichtlichen Epoche angesiedelten Ursprüngen vorzustoßen. Doch die Reise durch die Zeit in eine von der Zivilisation unberührte Vergangenheit ist zugleich Flucht vor den Konflikten der Gegenwart. Und wer in bewusst vollzogener Abkehr von der Gegenwart den Weg in die Vergangenheit antritt, der wird die Spuren, die er zufällig entdecken konnte, nicht wiederfinden. Denn dem (auch gegen seinen Willen) in der Gegenwart wurzelnden Menschen ist die Rückkehr zu Ursprünglichkeit und paradiesischer Unschuld verwehrt. Nicht die einem paradiesischen Urzustand assoziierte Vergangenheit, sondern die konfliktive Gegenwart war der Bezugspunkt, an dem Individuum und Kollektiv die eigene Standortbestimmung auszurichten hatten. Oder, wie

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es der Literaturkritiker Gerald Moore - mit dem konkreten Hinweis auf eine der Westindischen Inseln, aber auch mit Blick auf den gesamten karibischen Raum - formulierte: „Entdeckung im kulturellen Sinn beginnt mit der Erkenntnis, dass man weder ein entwurzeltes Wesen ohne Identität noch ein verlorener Sohn Afrikas oder Asiens ist, sondern ein Mensch, den diese Insel hier und heute geschaffen und geformt hat."21 West Indies In den West Indies — den Westindischen Inseln, Guyana und Belize - , wo sich lange vor der formalen Unabhängigkeit, seit den 30er Jahren und verstärkt nach dem Zweiten Weltkrieg, aufgrund der Aktivitäten von Gewerkschaften und den aus diesen hervorgegangenen Parteien ein politischer und gesellschaftlicher Umbruch ankündigte, erlebte die Literatur, vor allem die Romanproduktion, mit Beginn der 50er Jahre einen Boom, der im gesamten karibischen Raum einzigartig war. In 20 Jahren erschienen ca. 150 Romane von größtenteils hoher literarischer Qualität, wodurch vergessen war, dass die westindischen Autoren bis dahin nur einen geringen Beitrag zum Literaturschaffen im karibischen Raum geleistet hatten. Während der ersten Hälfte des Jahrhunderts waren nur wenige herausragende Werke entstanden. Sie verweisen aber auf thematische und formale Konstanten, die für die nachfolgenden Generationen richtungsweisend sein sollten.22 Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts waren insbesondere in Jamaika zahlreiche Sammlungen mit Texten der mündlichen Überlieferung erschienen, die dem lesekundigen Publikum einen Einblick in das ihm in der Regel wenig vertraute Leben der armen, vorwiegend schwarzen Landbevölkerung ermöglichten. Mit den neugewonnenen Kenntnissen wuchs bei den Literaten der Wunsch, diese so andersartige Wirklichkeit zu reflektieren und eine Literatur zu begründen, die den lokalen Gegebenheiten in angemessenerer Weise, als bis dahin geschehen, Rechnung tragen würde. In Jamaika verfolgte dieses Ziel T O M REDCAM (Pseudonym fiir Thomas Henry MacDermot; 1870-1933), der durch seine Aktivitäten als Herausgeber der Jamaica Times und der (allerdings nur kurzlebigen) preis21

The Chosen Tongue, English Writingin

the Tropical World. London: Longmans 1969,

S. 3. 22 Um deutlich zu machen, dass der Boom, den die westindische Literatur in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erlebte, sich auch der literarischen Praxis der ersten Jahrhunderthälfte verdankte, wird diese hier gewissermaßen nachgeholt.

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werten Buchreihe „All Jamaica Library" wichtige Impulse gab. Er gilt als der erste westindische Romanautor; doch ist sein erster Roman, Becka's Buckra Baby (1904), noch der sentimental-romantizistischen Tradition verhaftet. Erst in dem zweiten, 1909 erschienenen Roman One Brown Girl and... gelang ein wenn auch noch zaghafter Versuch, das Stereotyp vom „primitiven Neger" zu korrigieren und ein zumindest in Teilaspekten sich der Wirklichkeit annäherndes Bild der farbigen Bevölkerungsmehrheit zu vermitteln. Einen noch wichtigeren Impuls fiir die Entwicklung der westindischen Literatur gab der Roman Janes Career:A Story of Jamaica (1913/1914) von H E R B E R T G E O R G E DE LISSER (Jamaika; 1878-1944), der in den 20er und 30er Jahren als Wortführer der vorwiegend weißen, probritischen Oligarchie und Herausgeber der einflussreichen konservativen Tageszeitung Daily Gleaner die öffentliche Meinung auf Jamaika entscheidend beeinflusste, der aber zu Beginn seiner Karriere dem sozialistischen Gedankengut der englischen Fabian Society nahegestanden hatte. Der Roman behandelt eines der Themen, die den neueren westindischen Autoren ganz besonders am Herzen liegen sollten: das Thema der Identitätssuche in der Form der Adoleszenzgeschichte, hier die Geschichte einer jungen Farbigen aus der Provinz, die in Kingston zunächst im mittelständischen Milieu als Hausangestellte arbeitet, diesem Milieu entflieht und in den Slums der Hauptstadt unterzugehen droht, die schließlich aber doch den ersehnten, durch eine weiße Hochzeit gekrönten sozialen Aufstieg erlebt. Zukunftsweisend ist die Note des sozialen Protests. Geschildert wird die Ausbeutung der (farbigen) Unterschicht durch den (weißen) Mittelstand, der alltägliche Uberlebenskampf der Slumbewohner in einer durch rassische und soziale Diskriminierung geprägten Gesellschaft. Und auch die zur Charakterisierung der Personen verwendeten sprachlichen Mittel lassen bereits die Praxis erahnen, mit der spätere Autoren die auf den Westindischen Inseln gesprochenen Kreol- oder Pidginvarietäten in den Dienst einer realistischen, um Authentizität bemühten Darstellungsweise stellen werden. De Lisser publizierte in über zwei Jahrzehnten nahezu jedes Jahr einen Roman: zumeist historische Romane, deren Bedeutung über ihren Unterhaltungswert nicht hinausgeht, gelegentlich aber auch - trotz der zunehmend vertretenen konservativen Positionen - Gesellschaftsromane, die einem kritischen Realismus verpflichtet sind, darunter die Romane The Rivals (1921) und Under the Sun (1935/1936), in denen die (fast) weiße Mittelschicht, der De Lisser aufgrund seiner afrojüdischen Herkunft angehörte, in witzig-ironischer Weise karikiert wird. Ohne Resonanz in den West Indies blieben - bis zu ihrer „Entdeckung" in den 50er Jahren - die in den 20er und 30er Jahren in London und New York publi-

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zierten Werke von JEAN RHYS (Pseudonym für Ella Gwendolen Rees Williams, Dominica; 1894-1979), die das Thema der Identitätssuche in The Leß Bank and Other Stories (1927), vor allem aber in den Romanen Voyage in the Dark (1934) und GoodMorning, Midnight (1939) als Erlebnis der Fremde und Entfremdung mit eindrucksvoller Intensität behandelte. In den 40er Jahren führten die mit wachsendem politischen Bewusstsein sich verstärkenden literarischen Aktivitäten zur Gründung mehrerer bedeutender Zeitschriften. Gleichzeitig wurde über ein Radioprogramm der BBC, das allwöchentlich von London aus „Karibische Stimmen" in den Äther schickte, den Autoren eine Möglichkeit geboten, sich einem breiteren einheimischen Publikum bekanntzumachen. Eine einheimische Leserschaft zu interessieren, war dagegen schwer, so dass in der Nachfolge De Lissers kaum nennenswerte Autoren hervortraten. Eine Ausnahme waren ALFRED H. MENDES (1897-1991) und C. L. R. (Cyril Lionel Robert) JAMES (1901-1989) aus Trinidad, die mit ihrer ungeschminkten Sozialkritik und ihrem häufigen Rekurs auf dialektale Varianten der literarischen Praxis in den West Indies wichtige Impulse gaben. Ausgesprochene Signalwirkung für die nachfolgende Generation hatte James' Roman Minty Alley (1936), in dem aus der Perspektive eines mittelständischen Schwarzen das Elend und die Intrigen unter den Anwohnern einer Straße in einem Armenviertel von Port of Spain geschildert werden. Ganz in der Linie des von De Lisser mit Jane's Career initiierten und für die spätere westindische Literatur so charakteristischen Genres der „barrackyard novel" sind die Personen der Handlung zwar als individuelle Gestalten gezeichnet; der dargestellte Mikrokosmos des „Hinterhofs" ist aber auch Spiegel der gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse. Die Zeit unmittelbar vor und nach der Unabhängigkeit war geprägt durch andauernde politische und soziale Konflikte, in einigen Ländern, insbesondere Trinidad/Tobago und Guyana, verschärft durch ethnische Spannungen zwischen „Afrikanern" und „Indern". Erschwert wurde der Prozess der Entkolonisierung durch die geringe Größe, die geographische Isolation und die weiterhin bestehende Außenabhängigkeit der einheimischen Volkswirtschaften, die kaum überlebensfähig waren, so dass sich die bereits Ende der 40er Jahre eingesetzte Emigration in die (ehemalige) Metropole verstärkte. Die Emigration war auch für die meisten Intellektuellen und Literaten die einzige Chance zu überleben, denn in den isolierten Kleinstaaten konnte sich kaum eine einheimische Kulturszene entwickeln. Nur Jamaika und Trinidad boten ihnen ein Forum, so dass Kingston und Port of Spain für manche, die nicht emigrierten - etwa EDWARD (KAMAU) BRATHWAITE (Barbados; geb. 1930) und

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DEREK WALCOTT (St. Lucia; geb. 1930) - zum Lebens- und Schaffensmittelpunkt wurden. Der Anfang der 50er Jahre einsetzende, von britischen Verlagshäusern geförderte Boom der westindischen Literatur manifestierte sich in der Lyrik, die durch ANDREW SALKEY (Jamaika; 1928-1995), vor allem aber durch Brathwaite und Walcott internationale Anerkennung fand, was sich für Walcott mit der Verleihung des Literaturnobelpreises 1992 bestätigte. Das Theater war international weniger erfolgreich. Auf den kleineren Inseln, wo sich naturgemäß eine lokale Theaterszene kaum herausbilden konnte, entwickelte man dramaturgisch weniger anspruchsvolle Darbietungsformen, indem man Gedichte und Erzählungen der oralen Tradition in Szene setzte. Ein eher an europäischen Vorstellungen orientierter Theaterbetrieb entstand nur in Jamaika mit TREVOR RHONE (geb. 1940) sowie in Trinidad mit Derek Walcott und ERROL HILL (1921-2003), die sich aber auch lokaler Traditionen der Popularkultur bedienten. Den interessantesten Beitrag zur westindischen Literatur lieferten die Romanciers, die, zumeist mit Wohnsitz in London, die Realität der West Indies zu ihrem zentralen Thema machten, gleichzeitig aber auch die (eigene) Situation des Emigranten in Großbritannien reflektierten.

Am Beginn dieser Entwicklung stehen drei Romane, die als paradigmatisch gelten können. New Day (1949) von Vic oder V. S. (Victor Stafford) REID (Jamaika; 1911-1987) ist eine fiktionale Autobiographie, in der ein fast 90-jähriger Mann am Vorabend des Inkrafttretens des Autonomiestatuts 1944 sein Leben Revue passieren lässt: von der brutal unterdrückten Schwarzenrevolte in Morant Bay 1865, die er als Junge noch erlebte, über die Unruhen der 1930er Jahre bis hin zur Gegenwart. Die individuelle Geschichte steht hier für eine Geschichte des kollektiven Widerstands, die als Gegenentwurf zum offiziell proklamierten, von der kolonialen Bourgeoisie getragenen Geschichtsbild nationale Identität in historischer Perspektive neu zu begründen sucht. InA Morningat the Office (1950) von EDGAR MITTELHOLZER (Guyana; 1909-1965) wird über das alltägliche Geschehen an einem Vormittag in einem Büro in Port of Spain das eindrückliche Bild eines Kollektivs vermittelt, das in seinen sozialen Beziehungen und dem Selbstverständnis des Einzelnen auf die Gesamtgesellschaft Trinidads bzw. der West Indies verweist: ein Mikrokosmos, dessen klassenspezifische Hierarchisierung durch rassenspezifische Barrieren untermauert und legitimiert wird. In the Castle ofMy Skin (1953) von GEORGE LAMMING (Barbados; geb. 1927) ist eine (weitgehend autobiographisch motivierte) Adoleszenzgeschichte, in der vor dem Hintergrund der Unruhen der 30er Jahre sowie dem einsetzenden Exodus der männliche Protagonist G. um seine Identität ringt,

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wobei er sich vor allem durch das koloniale Schulsystem von seiner dörflichen Gemeinschaft entfremdet: eine Gemeinschaft, die, vom sich ankündigenden Umbruch bereits infiziert, keinesfalls idealisiert wird und der der Protagonist am Ende den Rücken kehren wird, um seinerseits zu emigrieren. Reid, Mittelholzer und Lamming setzten Maßstäbe; und ihre Romane enthalten bereits all jene Themen und Topoi, die - bei aller nationalspezifischen Ausdifferenzierung - zum Grundbestand einer „westindischen" Literatur gehören. Das Moment der Identitätssuche wird nachgerade zur Obsession; eine Suche, welche die individuelle Erfahrung von Identitätsverlust über den Prozess der Entfremdung von Familie und Gemeinschaft mit der kollektiven Erfahrung postkolonialer, multiethnischer und fragmentierter Gesellschaften verknüpft: etwa in The Year in San Fernand'o (1965) von MICHAEL ANTHONY (Trinidad; geb. 1932), The Eye ofthe Scarecrow (1965) von WILSON HARRIS (Guyana; geb. 1921) oder in den Romanen Voices Under the Window (1955) von JOHN HEARNE (Jamaika; 1926-1994) und The Late Emancipation of Jerry Stover (1968) von Andrew Salkey, die zentral die Problematik der von ihren Wurzeln entfremdeten und von ihrem sozialen Umfeld isolierten Mittelschichten behandeln. Für viele farbige Autoren mochte zwar nicht die Rückkehr nach Afrika, wohl aber der Rückbezug auf das afrikanische Erbe als identitätsstiftender Faktor wirksam sein. Dies gilt für den Roman, etwa bei George Lamming in Season ofAdventure (1960), ebenso wie für die Lyrik: bei Derek Walcott in dem Gedichtband In a Green Night (1962) wie bei Edward Kamau Brathwaite, der in seinem Zyklus „The Arrivants: A New World Trilogy" (Rights of Passage, 1967; Masks, 1968; Islands, 1969) über das Motiv der Zeitreise zu den afrikanischen Ursprüngen zurückfindet. Eine der negritude-Mysuk Cesaires oder Senghors verwandte Verklärung der afrikanischen Wurzeln oder gar der „black soul" findet sich außer bei Brathwaite bei keinem westindischen Autor. Brathwaite, der entschiedenste Vertreter einer im Wesentlichen afroamerikanisch geprägten karibischen Identität, machte aber auch deutlich, dass am Ende der Reise für den, der „ankommt", die karibische Gegenwart steht. Den Autoren indischer Herkunft erschien ein Rückbezug auf ethnisch-kulturelle Wurzeln zumeist unmöglich, und so kennzeichnet ihre Protagonisten eine überaus ambivalente Haltung gegenüber der Herkunftskultur, die sich der Akkulturation verweigert und soziale Integration behindert: eine thematische Konstante bei SAMUEL SELVON (Trinidad; 1923-1994) in A Brighter Sun (1952) und Turn Again Tiger (1958), bei ISMITH KHAN (Trinidad; 1925-2002) in The Jumbie Bird (1961), bei ROY HEATH (Guyana; geb. 1926) in Skadow Bridge

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(1988) sowie in mehreren Romanen von V. S. (Vidiadhar Surajprasad) NAIPAUL (Trinidad; geb. 1932), etwa A House for Mr. Biswas (1961), wo sich für den Protagonisten der Kulturkonflikt metaphorisch wie konkret in der Suche nach einem Haus als Identität sicherndes Territorium manifestiert. Bei den Autorinnen, die Anfang der 80er Jahre massiv in Erscheinung traten, geschieht Identitätssuche, besonders häufig als Adoleszenzgeschichte vorgeführt und autobiographisch motiviert, aus der spezifisch weiblichen Perspektive einer Protagonistin, die sich gegen eine zweifache Entfremdung zur Wehr setzt: gegen die Entfremdung durch die koloniale Gesellschaft und Erziehung wie gegen die gleichermaßen entfremdende Zuschreibung geschlechtsspezifischer Rollen durch die patriarchalische Gesellschaft - eine Konstellation, die nicht selten zu Halluzinationen, Neurosen und letztlich zu Wahnsinn führt. Jean Rhys, die nach der geringen Resonanz ihrer ersten Romane mit dem 1966 publizierten Roman Wide Sargasso Sea einen ungeheuren internationalen Erfolg verbuchen konnte, entstammte einer weißen Kreolenfamilie und richtete einen — teils nostalgisch verklärenden — Blick auf die westindische Plantagenaristokratie, die nach Abschaffung der Sklaverei im Niedergang begriffen war. Sie machte auch deutlich, wie koloniale Unterdrückung mit der sexuellen Unterdrückung der Frau einherging, beschränkte sich aber auf die „weiße" Perspektive, ohne den sexuell ausgebeuteten schwarzen Frauen eine Stimme zu verleihen. J e a n R h y s u n d PHYLLIS SHAND ALLFREY ( D o m i n i c a ; 1 9 0 8 - 1 9 8 6 ) , d i e wie

Rhys der weißen Oberschicht entstammte und in ihrem Roman The Orchid House (1953) gleichermaßen den Niedergang einer weißen Pflanzerfamilie thematisierte, waren eher Ausnahmen. Die Mehrheit der weiblichen Autoren behandelte vorzugsweise die Konflikte im sozialen Umfeld der ländlichen Bevölkerung oder der aufsteigenden farbigen Mittelschicht, die zwischen den unterschiedlichen Kultureinflüssen gefangen ist. Ausgesprochene Signalwirkung hatte hier MERLE HODGE (Trinidad; geb. 1944), die mit ihrem 1970 publizierten Roman Crick Crack, Monkey den ersten bedeutenden „postkolonialen" Bildungsroman der anglophonen Karibik schrieb. Ihr folgte eine Vielzahl von Autorinnen: ERNA BRODBER (Jamaika; geb. 1940) mit Jane andLouisa Will Soon Come Home (1980); JAMAICA KINCAID (Pseudonym für Elaine Potter Richardson, Antigua; geb. 1949) mit Annie John (1985) und Lucy (1990); JANICE SHINEBOURNE ( G u y a n a ; geb. 1 9 4 7 ) m i t Timepiece ( G u y a n a ; g e b . 1 9 5 0 ) m i t WholeofaMorningSky

( 1 9 8 6 ) ; GRACE NICHOLS

( 1 9 8 6 ) ; MERLE COLLINS ( G r e -

nada; geb. 1950) mit Angel (1987); sowie ZEE EDGELL (Belize; geb. 1940), die mit ihrem Roman Beka Lamb (1982), zeitlich situiert vor der 1981 erfolgten

2. Kulturen zwischen kolonialer Assimilation und postkolonialer Kreolisierung

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Unabhängigkeit von Belize, den Grundstein fiir eine „nationale" Literatur des ehemaligen Britisch-Honduras legte. Mit der (kollektiven) Identitätssuche eng verknüpft ist der Topos der Erinnerung und der Versuch, über die Rekonstruktion von Geschichte einer kollektiven Amnesie entgegenzuwirken. Das Ziel einer solchen (Re-)Aktivierung des kollektiven Gedächtnisses war, sich als historisches Subjekt zu begreifen und das koloniale, vorrangig die europäische Perspektive reflektierende Geschichtsbild durch einen die eigene Perspektive reflektierenden Gegenentwurf zu ersetzen. Gegenstand dieser historischen Spurensuche war besonders die kollektive Erfahrung von Deportation und Sklaverei: in der Lyrik in dem epischen Poem Jamaica ( 1 9 7 3 ) von Andrew Salkey, im Roman in Natives o f M y Person ( 1 9 7 2 ) von George Lamming, Die the Long Day ( 1 9 7 2 ) von ORLANDO PAITERSON (Jamaika; geb. 1 9 4 0 ) , The Sure Salvation ( 1 9 8 1 ) von John Hearne sowie The Longest Memory ( 1 9 9 4 ) und Feeding the Ghosts ( 1 9 9 7 ) von FRED D'AGUIAR (Guyana; geb. 1 9 6 0 ) . Eine faszinierende Intensität gewinnt diese Spurensuche bei Edgar Mittelholzer in seiner „Kaywana-Trilogie" (Children of Kaywana, 1952; The Harrowing of Hubertus, 1954; Kaywana Blood, 1958) und bei Wilson Harris in seinem „Guyana-Quartett" {Palace of the Peacock, 1960; FarJourney ofOudin, 1961; The Whole Armour, 1 9 6 2 ; The Secret Ladder, 1 9 6 3 ) . Beide interpretieren die Geschichte Guyanas als eine Geschichte der Gewalt gegenüber Indios und Schwarzen, aber auch als eine Geschichte der Misserfolge und Enttäuschungen auf Seiten der weißen Eroberer. Im weiten, undurchdringlichen Hinterland scheitern sie sowohl an der feindlichen Natur als auch an dem eigenen Wahn, fiir sich den Mythos vom „El Dorado" verwirklichen zu können. Als besonders identitätsstiftend mochte der Rekurs auf Momente des Widerstands erscheinen, etwa die Morant-Bay-Revolte, wie von Vic Reid in New Day vorgeführt. Dieselbe Funktion erfüllten Identifikationsfiguren wie die maroons, entlaufene Sklaven, die besonders in Jamaika und Guyana in entlegenen Gebieten bis zum Ende des 18. Jahrhunderts ihre Eigenständigkeit verteidigen konnten und denen Reid eine ganze Reihe von Romanen, gezielt verfasst für jugendliche Leser, widmete. All diese Werke liefern eine Chronik des kollektiven Widerstands, der mehrere Autorinnen — u. a. MICHELLE CLIFF (Jamaika; geb. 1 9 4 6 ) mit Abeng ( 1 9 8 4 ) - eine spezifisch weibliche Komponente hinzufügten, indem sie über die historische Figur der Nanny, „Nanny of the Maroons", die wenig dokumentierte Rolle der Frauen in die Geschichte hineinschrieben.

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Die Karibik

Geschichte galt es im Licht von Gegenwart und Zukunft zu interpretieren und zu bewerten. Doch die Zukunft mochte den kritischen Autoren angesichts der konfliktiven Gegenwart kaum in einem strahlenden Licht erscheinen. Weder im Kampf um die Unabhängigkeit noch in der Phase der Entkolonisierung war es gelungen, das Fundament für jene radikale Neuorientierung zu legen, die man erhofft und als unabdingbar erachtet hatte, wollte man das koloniale Erbe überwinden und die angestrebten Ideale von politischer Freiheit, sozialer Gerechtigkeit und nationaler Integration erreichen. So war das Bild, das die Literaten von der Gegenwart lieferten, von Desillusionierung und Pessimismus geprägt. Bei Derek Walcott - in den Gedichtbänden The Star-Apple Kingdom (1979) und The Fortunate Traveller (1979) - gewinnt die Bestandsaufnahme der Aktualität vor dem Hintergrund der nationalen Geschichte und im Gesamtzusammenhang der Dritte-Welt-Problematik eine erdrückende Intensität, die sich andernorts, etwa in seinem Theaterstück O Babylon! (1978), in Aggression entlädt. Zielscheibe der Kritik sind häufig die einheimischen Eliten, etwa in den Romanen Of Age and Innocence (1958) und Season of Adventure (1960) von George Lamming, in denen der Autor die Handlung auf einer imaginären karibischen Insel kurz vor und kurz nach der Unabhängigkeit situiert und sowohl die Führer der Unabhängigkeitsbewegung als auch die dann Regierenden in ihrer Heuchelei, Inkompetenz und Korruption demaskiert. Dieselben Vorwürfe erhoben V. S. Naipaul in The Mimic Men (1967) und AUSTIN CLARKE (Barbados; geb. 1934) in The Prime Minister (1977). In dem Roman No Telephone to Heaven (1987) von Michelle Cliff sind es Armut und politische Gewalt, die ihre Protagonistin als moderne „Nanny of the Maroons" agieren und scheitern lassen. Das Thema der Gewalt beherrscht auch die unzähligen „barrackyard novels": etwa The Hills Were Joyful Together (1953) von ROGER M A I S (Jamaika; 1905-1955), White Gods Are Faking {1965) von E A R L LOVELACE (Trinidad; geb. 1935) und The Harder They Come23 (1980) von MICHAEL THELWELL (Jamaika; geb. 1939). Hier verdichtet sich in den Slums die Gegenwart zu einem sinnentleerten Panorama von Elend, Drogen, Gewalt und Kriminalität. Konkrete politische Ereignisse wurden nur selten evoziert. Eine Ausnahme waren DIONNE B R A N D (Trinidad; geb. 1953) mit dem Gedichtband Chronicles of the Hostile Sun (1984) und dem Roman In Another Place, Not Here (1996) sowie Merle Collins mit dem Roman Angel, die beide die diversen Momente US23 Der Roman entstand nach dem gleichnamigen 1972 gedrehten und international erfolgreichen Spielfilm von Trevor Rhone und Perry Henzell.

2. Kulturen zwischen kolonialer Assimilation und postkolonialer Kreolisierung

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amerikanischer Interventionspolitik aus einer dezidiert linken Position kritisierten. Doch so wenig die westindischen Literaten ansonsten den Aktivitäten der USA in der Region Beachtung schenkten, so wenig finden sich auch dezidiert revolutionäre Positionen. V. S. Naipaul in seinem Roman Guerrillas (1975) ebenso wie Andrew Salkey in seinem Roman Come Home, Malcolm Heartland (1976) erteilten bei aller Enttäuschung über das Versagen der herrschenden Eliten der Black /W«r-Bewegung eine klare Absage. Eine Ausnahme war MARTIN CARTER (Guyana; 1 9 2 7 - 1 9 9 7 ) , der in den 50er Jahren als Sozialist und „Poet der Revolution" für eine radikale Abkehr von kolonialen Strukturen und Abhängigkeitsverhältnissen eintrat und der unter Forbes Burnham in der Anfangsphase der von diesem eingeleiteten sozialistischen Reformpolitik hohe Staatsämter bekleidete. Der 1954 veröffentlichte, größtenteils in politischer Haft verfasste Gedichtband Poems of Resistance ist ein stimmgewaltiges Zeugnis seines revolutionären Engagements. Die nach seinem Rückzug aus der Politik publizierten Gedichtbände, Poems of Succession ( 1 9 7 7 ) und Poems o f A f f i n i t y (1980), dokumentieren dagegen die Konsequenz, die Carter fiir sich als Politiker wie als Dichter aus dem Scheitern des sozialistischen Experiments der „Kooperativen Republik" Guyana zog: Rückzug ins Private und damit auch Verabschiedung von seiner revolutionären Vergangenheit. Mit dem Bewusstsein des Scheiterns und der Frustration ob der vertanen Chancen verstärkte sich insbesondere bei jenen, die emigriert waren und eine Rückkehr für sich ausschlössen, das Trauma der Fremdheit. Ihre Protagonisten sind Fremde im eigenen Land: etwa bei GARTH ST. OMER (St. Lucia; geb. 1 9 3 1 ) in dem Roman A Room on the Hill (1968), der in seiner metaphysischen Dimension den Romanen von Albert Camus nahe steht, oder bei Austin Clarke in seinem witzig-ironischen Roman Grotuing Up Stupid Under the Union Jack (1980). Und sie sind Fremde im Exil, ob in Großbritannien, Kanada, Indien oder Afrika. Die Lebenswirklichkeit in der Fremde war und ist für die erste und zweite Generation von Migranten ein unverbrüchlicher Teil der nationalen oder westindischen Realität, so dass sie ihre literarische Praxis auch als Beitrag zu einer genuin „westindischen" Literaturtradition verstehen. Spezifische Merkmale einer „Nationalliteratur" ergeben sich dessen ungeachtet vor allem fiir Jamaika, Trinidad und Guyana, wo sich aufgrund des größeren demographischen Potentials auch eine weiter greifende und überaus lebendige kulturelle Praxis entwickeln konnte. Besonderheiten resultieren aus naturräumlichen Gegebenheiten ebenso wie aus bestimmten Momenten der Vergangenheit und Gegenwart. Die ent-

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Die Karibik

scheidenden Elemente einer Differenz - und damit auch einer Identität - ergeben sich aber aus der ethnischen Zusammensetzung der jeweiligen Gesellschaften und den damit verknüpften nationalen oder lokalen oral vermittelten Traditionen sowie den erst in jüngerer Zeit entstandenen Formen der Popularkultur. Sie sind an spezifische, kreolisierte Varietäten des Englischen gebunden, die vom Standard-Englisch und Pidgin-Varietäten klar unterschieden sind. Für Jamaika wurde aus der historischen Erfahrung der maroons eine Tradition des Widerstands abgeleitet, die über die Morant-Bay-Revolte und die Arbeiterunruhen der 1930er Jahre direkt in die Gegenwart der Slums von Kingston fuhrt. Denn die in den „barrackyard novels" handelnden Personen agieren als Sozialrebellen, deren Drogenkonsum und kriminelle Handlungen als Provokation und Akt des Widerstands gegen ein ungerechtes und korruptes System inszeniert werden. Als Form des Widerstands gelten den meisten Autoren auch die verschiedenen religiösen Kulte afrikanischer Herkunft wie der Obeah-Kult, neuere Erweckungskirchen wie die African Baptist Church und — besonders nachhaltig — die religiös-kulturelle Bewegung der Rastafari.24 Sie besitzen in zahlreichen Romanen handlungsmotivierende Funktion, so in Brother Man (1954) von Roger Mais, Land ofthe Living (1961) von John Hearne und The Children ofSisyphus (1964) von Orlando Patterson. Eine besondere, gegen das Establishment gerichtete subversive Qualität besitzt in der jamaikanischen kulturellen Praxis auch die weitgehende Verwendung der Umgangssprache als Medium der Schriftkultur. Als eigenständiges Kreol definiert, wurde sie von Edward Kamau Brathwaite für Jamaika als „nation language" zu einem nationalen Identitätszeichen stilisiert, auf das in der Lyrik außer Brathwaite auch Derek W a l c o t t , MERVYN MORRIS ( g e b . 1 9 3 7 ) u n d DENNIS SCOTT ( 1 9 3 9 - 1 9 9 1 )

zu-

rückgriffen. Auch die verschiedenen Musikformen, allen voran der in den Slums von Kingston im Kontext sozialer Konflikte als „Gegenkultur" entstandene und mittlerweile zur „Nationalkultur" avancierte Reggae, fanden Eingang in die Literatenszene. Herausragende Beispiele finden sich in der populären, an den mündlichen Vortrag gebundenen Form der „dub poetry", 25 die mit LINTON KWESI JOHNSON (geb. 1952) und MUTABARUKA (Pseudonym fiir Allan H o p e ;

geb. 1952) mittlerweile auch ein internationales Publikum erreicht hat. Für Trinidad ergab sich eine spezifische literarische Praxis aus der ethnischen Konstellation - die Nachfahren der aus Indien eingewanderten

24

Vgl. hierzu Kap. 6.

25

„ D u b " bezeichnet als musikalisch-technischer Ausdruck die Uberblendung verschie-

dener Toneffekte.

2. Kulturen zwischen kolonialer Assimilation und postkolonialer Kreolisierung

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Kontraktarbeiter stellen etwa 40%, die Afroamerikaner 43% der Gesamtbevölkerung - und aus einer Sprachenvielfalt, die aus der wechselvollen Eroberungsgeschichte resultierten. Gesprochen werden neben Englisch und Spanisch ein auf dem Englischen basierendes ebenso wie ein auf dem Französischen basierendes Kreol und zahlreiche Hindi-Dialekte. Die koloniale Vergangenheit wurde von den Literaten nur selten - etwa von Samuel Selvon in dem Roman Those Who Eat the Cascadura ( 1 9 7 2 ) - thematisiert, vermag man doch kaum (anders als in Jamaika) auf eine lange Geschichte des Widerstands durch die maroons zurückzublicken. Weitaus dringlicher erschien den Autoren, die Gegensätze zwischen „Indern" und „Afrikanern", Von den politischen Parteien traditionell genutzt und geschürt, zu reflektieren, sind sie es doch, die der Formulierung und Konkretisierung einer „nationalen" Identität im Wege stehen. Ein gemeinsames Moment, gewissermaßen als transethnische Klammer einsetzbar, scheint sich durch Formen der Popularkultur zu ergeben: über den Calypso und den Karneval, die zuallererst eine Angelegenheit der Afroamerikaner waren, mittlerweile aber auch von den „Indern" erobert wurden. Romanciers beider ethnischen Gruppen entwickelten eine ,Ästhetik des Karnvals": Samuel Selvon in mehreren seiner Romane ebenso wie Errol Hill in Man Better Man ( 1 9 5 7 ) , Ismith Khan in The Obeah Man ( 1 9 6 4 ) , Michael Anthony in King ofthe Masquerade ( 1 9 7 6 ) , Earl Lovelace in The Dragón Can't Dance ( 1 9 7 9 ) und LAWRENCE SCOTT (geb. 1 9 4 3 ) in Witchbroom ( 1 9 9 2 ) . Für sie fungiert diese spezifische Ästhetik als Sinnbild und Experimentierfeld einer im Entstehen begriffenen (oder auch nur imaginierten) nationalen Identität. Für Guyana ergibt sich im Vergleich zu den Inseln eine fundamentale Differenz aus den naturräumlichen Rahmenbedingungen: die Lage auf dem südamerikanischen Kontinent und die Existenz eines noch weitgehend unerforschten Hinterlandes, das nur dünn besiedelt ist, da sich die Bevölkerung auf die Küste mit der Hauptstadt Georgetown konzentriert. Dieses Hinterland aus tropischem Regenwald, Rückzugsgebiet zahlreicher, ihrer traditionellen Lebensweise verhafteter Indianervölker und ehemaliger maroons oder bush negroes, war für JAN CAREW (geb. 1 9 2 0 ) in dem Roman Black Midas ( 1 9 5 8 ) der Ort, an dem sich Natur noch als originärer Schauplatz schöpferischer und zugleich zerstörerischer Kräfte manifestiert. Und für Edgar Mittelholzer ebenso wie für Wilson Harris war das Hinterland ein willkommenes Reservoir an Mythen und Legenden, aus dem sich beide für ihre monumentalen, gelegentlich in der Perspektive des „magischen Realismus" angelegten Romane ausgiebig bedienten. Konflikte ergeben sich heute aber weniger über (eher sporadische)

D i e Karibik

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Zusammenstöße zwischen den Menschen der Küste und denen des Hinterlandes. Wie in Trinidad ist auch in Guyana, wo die „Inder" weit über die Hälfte der Bevölkerung stellen, das öffentliche Leben vor allem durch die ethnischen und damit verbundenen sozialen Gegensätze geprägt. In der literarischen Praxis wurde dies erst in neuerer Zeit zur Kenntnis genommen, etwa bei DAVID DABYDEEN (geb. 1956) in seinem Roman The Counting House (1996), der die Konflikte der Gegenwart mit der Situation der Kontraktarbeiter im 19. Jahrhundert parallel setzte. Roy Heath scheint die Ambivalenz der „Inder" in Trinidad gegenüber ihrer Herkunftsgesellschaft zu teilen und bediente sich, gewissermaßen „akkulturiert" oder „kreolisiert", in seinen Romanen - etwa A Man Come Home ( 1974) - derselben Mythen und Legenden wie die „Afrikaner" Mittelholzer und Harris. Niederländische Antillen und Suriname Für die Niederländischen Antillen und Suriname kann aufgrund der sprachlich-kulturellen Heterogenität von einer den West Indies und Guyana analogen Entwicklung kaum gesprochen werden.26 Doch in dem Maße wie sich unter den europäischen Sprachen das Niederländische durchsetzte, steigerten sich auch die literarischen Aktivitäten. In der Lyrik wirkte als Katalysator die 1940 auf Curaçao gegründete Zeitschrift De Stoep, die zunächst als Organ für die vor den deutschen Besatzungstruppen geflüchteten niederländischen Autoren konzipiert war, die sich dann aber zunehmend der lokalen Literaturszene verpflichtet fühlte. Zuvor hatten bereits zwei Romanciers (nach ihrer Emigration) in den Niederlanden literarische Anerkennung gefunden: NICOLAAS (COLÄ) DEBROT (1902-1981) aus Bonaire mit dem Kurzroman Mijn zuster de negerin (1935), in der die Liebe eines Weißen zu einer Farbigen geschildert wird, welche sich als seine Halbschwester entpuppt - für die Zeitgenossen in der Metropole ein Tabubruch, der auch zu Kritik führte; und ALBERT HELMAN (Pseudonym für Lodewijk A. M. Lichtveld; 1903-1996) aus Niederländisch-Guayana mit dem Roman De stille plantage (1931), der

Für die niederländischen Antillen und Suriname ist auf zwei Faktoren zu verweisen, die eine angemessene Darstellung und Bewertung der literarischen Praxis (aus europäischer Perspektive) behindern: zum einen die bei manchen Kritikern (so auch bei der Verfasserin) mangelnde Sprachkompetenz (insbes. der einheimischen Kreolsprachen und umgangssprachlichen Varianten des Niederländischen), zum andern die mangelnde Verfügbarkeit von Texten, die zum Teil nur in lokalen Ausgaben oder in Manuskriptform existieren. 26

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von den Konflikten der Sklavenhaltergesellschaft handelt - ein Themenbereich, den Helman in dem 1952 publizierten Roman De laaiende stilte wieder aufgriff. Die in der Zeitschrift De Stoep publizierenden Autoren der Antillen waren stark vom europäischen Surrealismus und Existentialismus beeinflusst. Ihre bedeutendsten Vertreter, die sowohl in Niederländisch als auch in Papiamentu publizierten, waren in der Lyrik Pierre Lauffer, O D A BLINDER (Pseudonym fur Yolanda Corsen; 1918-1969) sowie T I P (= Silvio Alberto) M A R U G G (19232006), der auch mehrere Romane publizierte. Nur wenige Autoren der Niederländischen Antillen wurden auch in Europa rezipiert: Tip Marugg mit seinem Roman Weekendpelgrimage (1958), der von den Konflikten zwischen traditioneller ländlicher und moderner städtischer Lebenswelt handelt; BOELI (= Willem C. J.) VAN LEEUWEN (geb. 1922), dessen bekanntester Roman, De rots der struikeling (i960), einen stark christlich geprägten Existentialismus reflektiert; Cola Debrot mit seinem 1982 posthum publizierten Roman De vervolgden, der die rassische und soziale Diskriminierung während der frühen Kolonialzeit thematisiert; schließlich Frank Martinus Arion, der mit seinem ersten Roman Dubbelspel (1973) die gesellschaftlichen Spielregeln auf Curaçao ironisch-kritisch beleuchtete und (wie viele andere Autoren der Karibik) in seinen neueren Romanen den zentralen Handlungsort in Regionen außerhalb der Karibik verlegte, in Aficheid van de koningin (1975) in einen (imaginären) afrikanischen Staat und in Nobele wilden (1979) nach Frankreich. Eine in größerem Umfang den politischen und kulturellen Emanzipationsbestrebungen verpflichtete Literatur entstand allein in Suriname. Eingeleitet wurde diese Bewegung durch eine frühe Aufwertung des heimischen Kreol als Literatursprache, das in Suriname vor allem durch den Folkloreforscher Julius Gustaaf Arnout („Papa") Koenders und die von ihm herausgegebene Zeitschrift Foetoe Boi gefördert wurde. Auf Koenders berief sich die in den Niederlanden um 1950 von Exilierten gegründete Gruppe „Wie eegi sani" (Unsere eigenen Dinge), die über das Sranan das Programm einer nationalen Kultur und Identität entwarf und sich vorwiegend der Lyrik widmete. Der bedeutendste Vertreter dieser Gruppe war der auch im politischen Leben als führende Persönlichkeit hervorgetretene E D D Y J. BRUMA (1925-2000), der neben Gedichten auch Theaterstücke verfasste. Eines der interessantesten Stücke - und das einzige zumindest in einem Auszug publizierte Stück27 - ist Basja Pataka 27 Der Auszug in englischer Ubersetzung ist in einer Anthologie enthalten, die einen vorzüglichen ersten Einblick in die surinamische Literatur vermittelt: Jan Voorhoeve/Ursy

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(1958), in dem ein nur selten thematisierter Aspekt der Sklaverei, die Kollaboration Schwarzer mit den weißen Herren, im Mittelpunkt steht. In Sranan schrieben auch TREFOSSA (Pseudonym für Henry Frans, „Henny", de Ziel; 1916-1975), der über den von Jan Voorhoeve publizierten Band Trotji ( 1 9 5 7 ) zum gefeierten Lyriker avancierte, und ASJANTENU SANGODARE (Pseudonym für Michael Arnoldus Slory; geb. 1935), der mit Gedichtbänden wie Sarka: Bittere strijd (1961) als engagiert politischer Autor hervortrat. Dagegen schrieben und publizierten die herausragenden Romanciers in Suriname - nicht zuletzt mit Blick auf potentielle Leser in der (ehemaligen) Metropole auf Niederländisch, auch wenn sie häufig über die Dialoge ihrer Handlungsfiguren das Sranan einbezogen (und in Fußnoten übersetzten). Hierzu zählen insbesondere drei Frauen. ASTRID ROEMER (geb. 1947) wandte sich mit den beiden Romanen Neem mij terug Suriname (1974) und Over de gekte van een vrouw (1982) zunächst persönlich-privaten Themen weiblicher Existenz zu, um dann mit ihrem 1997 publizierten Roman Lijken op liefde auch politisch brisante Themen, insbesondere das der politischen Gewalt, einzubeziehen. BEA VIANEN (geb. 1935) behandelte in mehreren Romanen, etwa Sarnami, hai (1969) und Strafhok (1971), die ethnischen Konflikte zwischen „Afrikanern" und „Indern" wie auch die Konflikte innerhalb der indischstämmigen Bevölkerung. CYNTHIA M C L E O D (geb. 1936) rekonstruierte in ihren Romanen Hoe duur was de suiker? (1987) und Ma Rochelle passie, Welkom El Dorado (1996) die Sklavenhaltergesellschaft ebenso wie die Zeit nach der Abolition - Romane, mit denen sie sowohl in Suriname als auch in den Niederlanden einen großen Publikumserfolg erzielen konnte. Wie konfliktiv und gelegentlich auch ambivalent sich für manche Autoren die Entscheidung für ein angemessen erscheinendes sprachliches Medium darstellen mochte, zeigt das Beispiel von EDGAR CAIRO ( 1 9 4 8 - 2 0 0 0 ) , der seinen ersten Roman, Temekoe (1969), in Sranan schrieb und in Suriname veröffentlichte, diesen dann für den niederländischen Markt zweisprachig und sogar in zwei verschiedenen Versionen publizierte. Für seine nachfolgend in den Niederlanden veröffentlichten Werke, die - wie Adoebe-lobi!Alles tegen alles (1977) und Koewatra djodjolln de geest van mijn kultuur (1979) - aus der Perspektive der Kreolen die konfliktreiche alltägliche Lebenswelt in Suriname zum Thema haben, wählte Cairo gleich die Zweisprachigkeit. Das war ein ge-

M. Lichtveld (Hrsg.): Creole Drum: An Anthology of Creole Literature in Surinam. New Haven/London: Yale University Press 1975.

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wiss konsequentes Verfahren angesichts der Tatsache, dass auch die Autoren aus Suriname, wie ihre Schriftstellerkollegen aus den (ehemaligen) britischen und französischen Kolonien, auf die Leser in der Metropole nicht verzichten können und v/ollen. Martinique, Guadeloupe, Französisch-Guayana Auf den französischen Antillen, Guadeloupe und Martinique, sowie in Französisch-Guayana hat die bis heute andauernde (neo-) koloniale Situation die Entwicklung einer nationalen oder „antillanischen", vorrangig an den Konflikten und Erwartungen der einheimischen Leser verpflichteten Literatur erschwert. Zum einen zeigt sich die Abhängigkeit von der Metropole nicht nur auf der Ebene von Politik, Wirtschaft und Verwaltung, sondern auch in sämtlichen Bereichen von Erziehung und Kultur, die den französischen Modellen strukturell wie inhaltlich angeglichen sind.28 Zum andern standen die progressiven Intellektuellen, die sich dieser Entfremdung bewusst waren und dem französischen Kulturverständnis ein antillanisches oder karibisches entgegenzusetzen suchten, lange unter dem inneren Zwang, ihre Originalität der Metropole beweisen zu müssen. Der „Blick des weißen Mannes", der in der Vergangenheit das soziale Handeln und damit auch das soziokulturelle Selbstverständnis des Farbigen bestimmte, war auch dort noch präsent, wo mit Blick auf den französischen Leser ,Andersartigkeit" proklamiert wurde. Und dieses Dilemma wurde (und wird) dadurch verstärkt, dass auch in den französischen Uberseedepartements ein breites Lesepublikum fehlt, Anerkennung fiir den Autor in der Regel nur aus Frankreich kommen kann. In den 1940er Jahren stand die literarische Praxis noch ganz im Zeichen der négritud^-Bewegung. Und noch bis Anfang der 60er Jahre publizierten ihre (neben Aimé Césaire und Léon-Gontran Damas) bedeutendsten Vertreter, PAUL N I G E R (Pseudonym für Albert Béville, Guadeloupe; 1915-1962) und G U Y T I R O L I E N (Guadeloupe; 1917-1988), Sammlungen mit Gedichten, die diesem Konzept verpflichtet waren. Sein antithetischer Charakter stieß jedoch auch auf Kritik; und diejenigen, welche die Originalität der antillanischen

28

Ein vielzitiertes Beispiel fiir die bisweilen grotesken Auswirkungen ist der Umstand, dass dem (farbigen) Kind in der Schule zwecks Stärkung eines adäquaten nationalen (sprich: französischen) Geschichtsbewusstseins über die (französischen) Schulbücher vermittelt wurde, seine „Vorfahren" seien die Gallier.

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Kulturen in ihrem Mischcharakter, dem „métissage", begründet sahen und über eine (Re-) Interpretation der kolonialen Vergangenheit die Konflikte der Gegenwart zu erklären suchten, hatten zunächst die keinesfalls leichte Aufgabe, mit dem in der Literatur wie in der französischen Öffentlichkeit vorherrschenden exotisch-folkloristischen Stereotyp von den ,.Antilles Heureuses"29 aufzuräumen. Ein Wandel im Selbstverständnis und in der literarischen Praxis vieler Autoren erfolgte durch die 1946 verfugte départementalisation, die zunächst eine Anhebung des Lebensstandards, den Ausbau des Schulwesens und eine Verbesserung der kulturellen Infrastruktur bewirkte. Wie sehr sich an den neuen Status als Département d'Outre-Mer (DOM) Hoffnungen auf eine soziale Integration auch der bis dahin marginalisierten ländlichen Bevölkerung knüpften, zeigt der Roman La rue Cases-Nègres (1950) von J O S E P H Z O B E L (Martinique; 1915-2006), der über die 1983 erfolgte Verfilmung von Euzhan Palcy internationale Resonanz erfuhr und dem im Literaturkanon der DOM's eine ähnlich herausragende Position zugestanden wird wie in Haiti Jacques Roumains Gouverneurs de la rosée. Der Roman schildert aus der Sicht eines heranwachsenden Jungen die alltägliche Lebenswelt der Schwarzen in einem kleinen Ort im Süden von Martinique während der 30er Jahre: die einer modernen Form der Sklaverei gleichkommende Arbeit auf den Zuckerrohrplantagen, die angesichts der extremen Armut unausweichlich erscheinende Desintegration der Gemeinschaft, aber auch die Würde und Willenskraft des antillais, vorgeführt in der symbolisch überhöhten Figur der Großmutter M'man Tine, die selbstlos und unerbittlich für den Enkelsohn eine bessere Zukunft verfolgt. Diese Zukunft eröffnet sich ihm durch den Zugang zu Bildung, denn der Besuch einer höheren Schule wird es ihm ermöglichen, der Armut zu entrinnen, auch wenn er, um der aufkommenden Entfremdung entgegenzuwirken, emotional in der „Straße der Negerhütten" verwurzelt bleibt. Der bei Zobel aufgezeigte Optimismus wich bald der Enttäuschung und Ernüchterung, denn es wurde deutlich, dass das Modell der départementalisation eine selbstbestimmte Entwicklung nicht vorsah. Aimé Césaire, der einst

29 „Les Antilles Heureuses": so lautet bezeichnenderweise der Titel einer 1945 vom Kolonialministerium in Paris herausgegebenen Lyrikanthologie, in der vorwiegend Franzosen vertreten sind, die nie auf den Antillen waren. „Gewidmet" ist der Band all jenen, „die mit dem Herzen eines Dichters von den Antillen geträumt haben". (Zitiert nach Lilyan Keste-

loot: Les écrivains noirs de langue française: naissance d'une littérature. Bruxelles: Editions de l'Université de Bruxelles 7 1 9 7 7 , S. 38).

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jede Form des Kolonialismus bekämpfte, hatte die départementalisation vehement befürwortet; und als Bürgermeister von Fort-de-France sowie Abgeordneter (für Martinique) in der französischen Nationalversammlung sollte er diese Position auch weiterhin (durchaus kritisch) vertreten. Doch die meisten Intellektuellen traten dezidiert für die Unabhängigkeit ein und verbanden in der Perspektive eines militanten Antikolonialismus politischen Aktivismus mit literarischer Praxis. In der Lyrik galt dies für AUGUSTE MACOUBA (Pseudonym fiir Auguste Armeth, Martinique; geb. 1 9 3 9 ) mit Le cri antillais ( 1 9 6 4 ) und SONNY RUPAIRE (Guadeloupe; 1 9 4 1 - 1 9 9 1 ) mit Cette igname brisée qu'est ma terre natale ( 1 9 7 1 ) ebenso wie für ELIE STEPHENSON (Frz.-Guayana; geb. 1 9 4 4 ) mit Une fleche pour le pays a l'encan ( 1 9 7 5 ) . Antikolonialistisches, als Lehrstücke im Brechtschen Sinne konzipiertes Theater verfasste neben Auguste Macouba DANIEL BOUKMAN (Pseudonym fiir Daniel Blérard, Martinique; geb. 1936) mit Les négriers (1971).30 Und auch Aimé Césaire trat während der 60er Jahre als Autor eines politisch engagierten Theaters hervor. Doch bezeichnenderweise sind seine Stücke, die ebenso eine eindeutig antikolonialistische Haltung verraten, nicht (wie bei den vorgenannten Autoren) auf die konkrete Wirklichkeit der DOM's gerichtet. Sie behandeln die Fraktionskämpfe in Haiti kurz nach der Unabhängigkeit {La tragddiedu roi Christophe, 1 9 6 3 ) , den Befreiungskampf Patrice Lumumbas (Une saison au Congo, 1966) und über eine Neuinterpretation von Shakespeares The Tempestáis generelle Problematik von Kolonisierung und Befreiungskampf {Une tempete, 1 9 6 9 ) . Lyrik und Theater kennzeichnete ein kämpferischer Elan; das Romanschaffen (nach 1950) war dagegen geprägt von einem tiefen Pessimismus, hervorgerufen durch die (selbst-) kritische Einsicht in die fundamentale Entfremdung des Farbigen, der in einer dominant weißen kolonialen Gesellschaft die Vorurteile des weißen Kolonialherrn verinnerlicht, um sie letztlich gegen sich selbst zu richten. Die sozialpsychologische Begründung dieses kollektiven Phänomens lieferte Frantz Fanon mit seinem überaus einflussreichen Essayband Peau noire, masques blancs ( 1 9 5 2 ) . Fanons Ausgangspunkt war der 1 9 4 8 von MAYOTTE CAPÉCIA (Martinique; 1 9 2 8 - 1 9 5 3 ) publizierte autobiographische Roman Je suis Martiniquaise, in dem die Protagonistin, eine Mulattin, unreflektiert und (wie Fanon meinte) auf skandalöse Weise sich selbst und all jene entlarvt, die ihre Identität und Selbstachtung (so die Formulierung Fanons)

30

Zu Boukman vgl. auch Kap. 7.

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aus der Anzahl ihrer „weißen Gene" beziehen. Für den Arzt und Psychiater Fanon führte eine solchermaßen praktizierte Selbstverleugnung und Selbstaufgabe unweigerlich zu psychischen Störungen, Traumata und Neurosen. So enden die zumeist weiblichen Protagonisten in unzähligen Romanen in Ohnmacht und Sprachlosigkeit, in geistiger Verwirrung oder Selbstmord: in Sapotille et le serin d'argile ( 1 9 6 0 ) und Cajou ( 1 9 6 1 ) von MICHÈLE LACROSIL (Guadeloupe; geb. 1 9 1 5 ) ; in Le quimboiseur l'avait dit ( 1 9 8 2 ) und Juletane ( 1 9 8 2 ) von MYRIAM WARNER-VIEYRA (Guadeloupe; geb. 1 9 3 9 ) ; in Les prunes de Cythère ( 1 9 7 5 ) und Mère la mort ( 1 9 7 6 ) von JEANNE HYVRARD (Martinique; geb. 1 9 4 5 ) ; in L'eau-de-mortguildive ( 1 9 7 3 ) von VINCENT PLACOLY (Martinique; 1 9 4 6 - 1 9 9 2 ) ; in Malemort ( 1 9 7 5 ) und La case du commandeur ( 1 9 8 1 ) , zwei Romanen aus dem „historischen" Zyklus von EDOUARD GLISSANT (Martinique; geb. 1928). Nur selten gelingt es den Handlungsfiguren, der Entfremdung zu entgehen oder die aus ihr entspringenden Traumata zu überwinden. Eines der wenigen Beispiele ist die Protagonistin in dem Roman Pluie et vent sur Télumée Miracle ( 1 9 7 2 ) von SIMONE SCHWARZ-BART (Guadeloupe; geb. 1938). Denn Télumée versteht es, allen Widrigkeiten zum Trotz zu überleben, indem sie sich mit den starken Frauen ihrer Familie und den von diesen weitergegebenen Werten und Traditionen verbunden sieht. Von besonderem Interesse im Zusammenhang von Identität und Entfremdung sind die Romane Les bâtards ( 1 9 6 1 ) von BERTÈNE JUMINER (Frz.-Guayana; 1 9 2 7 - 2 0 0 3 ) und Le nègre du gouverneur ( 1 9 7 2 ) von SERGE PATIENT (Frz.Guayana; geb. 1934). Beide Autoren behandelten die Identitätsproblematik in einer (neo-)kolonialen Gesellschaft vor dem spezifischen Hintergrund der Geschichte Französisch-Guayanas - dies allerdings nicht mit demselben „kontinentalen" Bewusstsein und in derselben epischen Breite wie die Autoren des ehemaligen Britisch-Guayana. Juminer lieferte (wie bereits vor ihm LéonGontran Damas) ein überaus pessimistisches Bild von der farbigen Elite, deren Angehörige als kulturelle „Bastarde" weitgehend an die französische Kultur assimiliert sind, sich von dieser aber zweifach zurückgewiesen sehen: als Abkömmlinge von schwarzen Sklaven und als Abkömmlinge von Sträflingen, die sich in der Strafkolonie Cayenne nach Verbüßung ihrer Strafe niederließen. Le nègre du gouverneur ist dagegen ein historischer Roman, eine „Kolonialchronik" (wie es im Untertitel heißt). Er erzählt mit liebevoll-ironischer Distanz die Geschichte eines afrikanischen Sklaven, dem es dank seiner Assimilationsfähigkeit, dank auch seiner besonders bei weißen Frauen geschätzten sexuellen Potenz gelingt, in der kolonialen Gesellschaft von Cayenne aufzusteigen und sogar Karriere zu machen. Doch sein Aufstieg vom afrikanischen „Barbar"

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zum gebildeten Haussklaven und Geliebten seiner weißen Herrin, schließlich zum Adjutanten und Vertrauten des Gouverneurs — in dessen Auftrag er rebellische Sklaven bekämpft - findet ein abruptes Ende, als er, den eigenen Wurzeln wie der kolonialen Wirklichkeit entfremdet, dem Wahn erliegt, eine weiße Frau nicht nur lieben, sondern auch heiraten zu können. Einen zweiten Themenschwerpunkt neben dem Identitätskonflikt bildete, vergleichbar der literarischen Praxis in der anglophonen Karibik, der Rückgriff auf die Geschichte. Dies geschah nun nicht nur, wie bei Serge Patient, mit dem Ziel, den Ursprüngen der Entfremdung in der „pigmentokratischen" kolonialen Gesellschaft nachzuspüren. Weit wichtiger war, die in der französischen Geschichtsschreibung unterdrückte Tradition des Widerstands und ihrer Helden zurückzugewinnen, um so ein Geschichtsbild zu vermitteln, in dem Vergangenheit nicht mehr nur als erlittene, sondern auch als aktiv gestaltete Geschichte begriffen wurde. Als Helden und Identifikationsfiguren dienten auch den Autoren der DOM's die entlaufenen Sklaven, die marrons-, etwa in den Romanen Dominique, nègre esclave ( 1 9 5 1 ) von LÉONARD SAINVILLE (Martinique; 1910-1977) und La Montagne d'ébène (1984) von ROLAND B RIVAL (Martinique; geb. 1950). Gelegentlich griffen die Autoren auf ein konkretes historisches Ereignis zurück. So feierten Simone Schwarz-Bart in Un plat de porc aux bananes vertes31 (1967) und DANIEL MAXIMIN (Guadeloupe; geb. 1947) in L'isolé soleil (1982) den heroischen Widerstand des Mulatten Louis Delgrès, der mit seiner Armee von schwarzen Bauern 1802 angesichts der Übermacht napoleonischer Truppen, welche die 1794 abgeschaffte Sklaverei wieder durchzusetzen suchten, kollektiven Selbstmord beging. Da aber die eigene Geschichte nicht sehr reich ist an Momenten und Helden des Widerstands, rekurrierte man auch auf die haitianische Revolution mit ihren Protagonisten Toussaint Louverture und Jean-Jacques Dessalines, u. a. in den Theaterstücken Dessalines ou la passion de l'indépendance ( 1983) von Vincent Placoly und Monsieur Toussaint (1986) von Edouard Glissant. Glissant hatte bereits mit seinem Poem Les Indes (1956) einen Streifzug durch die Geschichte der Karibik unternommen und die Leistungen derer gewürdigt, die wie Toussaint, Dessalines und Delgrès den Widerstand gegen koloniale Unterdrückung symbolisierten. Seinen wertvollsten Beitrag zur historischen Spurensuche im Sinne eines Gegenentwurfs zur kolonialen Geschichtsschreibung und (Re-)Aktivierung des kollektiven Gedächtnisses leistete er mit vier Ro31 Simone Schwarz-Bart verfasste diesen R o m a n in Zusammenarbeit mit ihrem M a n n , d e m französischen Schriftsteller André Schwarz-Bart.

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manen: Le quatrième siècle (1964), Malemort (1975), La case du commandeur (1981) und Mahagony (1987). Hier wird über ein verzweigtes Netz immer wiederkehrender Figuren die Geschichte mehrerer Familien und Generationen erzählt, wobei der Autor die Geschichte der Antillen über die historische Situation von Sklaven einerseits und marrons andererseits interpretiert. Glissant war wichtig festzuhalten, dass die Vergangenheit nur im Licht der Gegenwart sinnfällig erforscht werden kann — eine Gegenwart, die er in seinem ersten Roman, La Lézarde (1958), in pessimistischer Perspektive beleuchtete. Und ihm war ebenso wie Daniel Maximin wichtig, deutlich zu machen, dass die Geschichte der Antillen nur diskontinuierlich, d. h. achronologisch und fragmentiert, zu begreifen und darzustellen ist, mit der Folge, dass Glissant in dem die Reihe fortführenden Roman Tout-Monde (1993) das fiktionale Geschehen auf komplexe Weise mit philosophisch-theoretischen Reflexionen verknüpfte32 und Maximin in L'isolé soleil àen Erinnerungs- und Schreibprozess selbst zum Thema machte. Die Romane von Glissant und Maximin stellen an den Leser höchste intellektuelle Anforderungen. Glissant wurde bisweilen der Vorwurf gemacht, er sei hermetisch oder „obskur" — eine Kritik, die ihn nicht kümmert, auch wenn er statt von „obskur" lieber von „opak" spricht. Einem solchen Vorwurf mochten sich die Autoren, die sich der „Poetik der Kreolität" verschrieben, nicht ausgesetzt sehen. Wie JEAN BERNABÉ (Martinique; geb. 1 9 4 2 ) , PATRICK CHAMOISEAU (Martinique; geb. 1 9 5 3 ) und RAPHAËL CONFIANT (Martinique; geb. 1 9 5 1 ) in ihrem 1989 veröffentlichten Manifest Eloge de la créolité forderten, müsse eine „authentische" antillanische Literatur auf die Popularkultur zurückgreifen, so wie sie in der mündlichen Überlieferung - als oraliture - und in der kreolischen Sprache allgegenwärtig ist. Patrick Chamoiseau hatte bereits vor Erscheinen des Manifests in überzeugender Weise mit zwei Romanen vorgeführt, wie eine spezifisch kreolische Ästhetik umzusetzen sei. In Chronique des sept misères (1986) schilderte er den alltäglichen Überlebenskampf einer Gruppe von Gelegenheitsarbeitern auf dem Markt von Fort-de-France kurz vor der Departementalisierung, indem er über Elemente der oraliture (Geschichten, Anekdoten, Legenden) die Gegenwart mit einer mythischen Vergangenheit verknüpfte und den mündlichen Gebrauch der Sprache über ein „kreolisiertes" Französisch simulierte. In Solibo Magnifique (1988) ging Chamoiseau noch einen Schritt weiter und machte die oraliture selbst zum Thema, indem er über die Rekonstruktion des überra32 Für eine theoretische Fundierung dieses Konzepts vgl. auch den Essayband Le discours antillais (1981), den Edouard Glissant parallel zu seinen Romanen verfasste.

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sehenden Todes des conteur Solibo die Frage der Überlebensfähigkeit oraler Traditionen stellte. Die Frage wird im Roman zweifach beantwortet: Der Tod des conteur Solibo, der an einem „Mund voll Wörter" erstickt, bedeutet das Aussterben seiner Spezies; doch als Verwahrer und Verwalter des kollektiven Gedächtnisses wird der moderne Literat als Vertreter der littérature, der Schriftkultur, sein Erbe antreten. Chamoiseau hatte mit seinen ersten beiden Romanen, denen noch weitere folgen sollten, großen Erfolg; und Texaco (1992) bescherte ihm sogar den angesehensten französischen Literaturpreis, den „Prix Goncourt". Dem von ihm eingeschlagenen Weg folgten viele: Raphaël Confiant mit zahlreichen Romanen, darunter Le Nègre et l'Amiral (1988) u n d Eau de café (1991); ERNEST PÉPIN (Guadeloupe; geb. 1950) mit Tambour-Babel

(1996); u n d GISÈLE PINEAU (Gua-

deloupe; geb. 1956), in dezidiert feministischer Perspektive, mit Lagrande drive des esprits (1993) und L'exil selon Julia (1996). Doch das von den créolistes oder créolisants vertretene Konzept birgt auch Gefahren: zum einen die Gefahr einer Exotisierung durch die gelegentlich - insbesondere in den Romanen von XAVIER ORVILLE (Martinique; geb. 1948) - allzu sehr strapazierte Note des besonders von europäischen Lesern geschätzten „magischen Realismus"; zum andern die Gefahr der Banalisierung und auch Verfremdung einer oralen, an die kreolische Sprache gebundenen Kultur durch ihre Verschriftlichung in französischer Sprache. Hinzu kommt, dass die Autoren ihre Texte mit Erläuterungen (z. T. in Fußnoten) unterfuttern, die dem heimischen Leser überflüssig und störend erscheinen müssen und die verraten, dass hier auch oder sogar vorrangig der metropolitane Leser anvisiert wird. Bernabé, Confiant und Chamoiseau proklamierten ihre „Ästhetik der Kreolität" mit geradezu umstürzlerischem Elan als eine gänzlich neue Ästhetik und Ideologie. Neu war aber nur die theoretische Zusammenführung, nicht die Idee als solche, die vor ihnen — und von ihnen durchaus anerkannt - Edouard Glissant mit seinem Konzept der antillanité entwickelt hatte. Neu war auch nicht die literarische Praxis der créolité, denn die Kreolisierung der französischen Sprache und ganz besonders der Rekurs auf die orale Tradition finden sich bei zahlreichen Autoren vor ihnen: etwa, um nur ein herausragendes Beispiel zu nennen, in dem Roman Ti Jean L'horizon (1979) von Simone Schwarz-Bart, die über die populäre Figur des Ti Jean und den Topos der Initiationsreise den historischen und mythologischen Ursprüngen ihrer Heimatinsel Guadeloupe nachzuspüren suchte. Heftige Kritik erfuhren die drei aber erst dort, wo sie ihre „neue" Ästhetik zur einzig „authentischen" Form der Wiedergabe antillanischer Wirklichkeit erklärten - ein Anspruch

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auf Exklusivität, dem insbesondere von M A R Y S E C O N D É (Guadeloupe; geb. 1937) widersprochen wurde. Maryse Condé, mit über zehn Romanen die produktivste Autorin der französischen Antillen, ist auch diejenige, die das bei ihr zentrale Thema des Identitätskonflikts unter den vielfältigsten Erscheinungsformen verarbeitete. Die „afrikanischen" Romane Hérémakhonon (1976) und Une saison à Rihata (1981) handeln von der vergeblichen Suche nach den Ursprüngen in einem als feindlich und fremd erfahrenen (zeitgenössischen) Afrika.33 In dem historischen Roman Moi, Tituba, sorcière... Noire de Salem (1986) geht es um die schmerzhafte, jedoch schließlich erfolgreiche Identitätssuche einer Schwarzen aus Barbados vor dem Hintergrund der karibischen Sklavenhaltergesellschaften und der Hexenprozesse im US-amerikanischen Salem. Aktuellen Problemen der antillais sind andere Romane gewidmet: etwa Traversée de la mangrove (1989), wo über die Kontrastierung verschiedener ethnisch-kultureller Einzelidentitäten und Traditionen nationale bzw. antillanische Identität als Mosaik rekonstruiert wird, und Desirada (1997), wo über drei Generationen von Frauen einer von der Insel Désirade stammenden Familie nunmehr auch die konfliktreiche Lebenswelt der antillais in der Metropole einbezogen wird.34 Haiti In Haiti stand die literarische Produktion während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der Nachfolge von Jacques Roumain, der in Gouverneurs de la rosée die genuin haitianische Tradition des indigenistischen Romans von der Überfrachtung mit exotisch-folkloristischen Elementen befreit und in Richtung auf einen kritischen Realismus weiterentwickelt hatte. Seinem Vermächtnis fühlten sich all jene verpflichtet, die sich fortan, zumeist unter dem Einfluss sozialistischen oder marxistischen Gedankenguts, in den Dienst einer 33 Die neuerliche Auseinandersetzung mit Afrika findet sich bei einigen Autoren, die wie Maryse Condé über einen längeren Zeitraum in Afrika gelebt haben. Doch haben ihre Werke, in denen die politischen und kulturellen Konflikte der Gegenwart überaus kritisch und mit einer klaren Schuldzuweisung an die Afrikaner beleuchtet werden, nichts mehr gemein weder mit der Mystik der négritude-Bewegung noch mit den Positionen eines R E N É M A R A N (Martinique; 1887-1960), der in seinem berühmten, mit dem „Prix Goncourt" ausgezeichneten „véritable roman nègre" Batotiala (1921) die Praktiken der französischen Kolonialverwaltung für die geschilderte Misere veranwortlich machte, allerdings ohne das System selbst in Frage zu stellen. 34 Vgl. hierzu Kap. 7.

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politischen und gesellschaftlichen Erneuerung stellten. In den Romanen Récolte ( 1 9 4 6 ) von FÉLIX MORISSEAU-LEROY ( 1 9 1 2 - 1 9 9 8 ) , Les semences de la colère ( 1 9 4 9 ) von ANTHONY LESPÈS ( 1 9 0 7 - 1 9 7 8 ) und Fonds des nègres ( 1 9 6 1 ) von MARIE CHAUVET ( 1 9 1 7 - 1 9 7 5 ) ist die Handlung noch im traditionellen länd-

lichen Milieu angesiedelt. In anderen Werken - etwa L'espace d'un cillement ( 1 9 5 9 ) von JACQUES STEPHEN ALEXIS ( 1 9 2 2 - 1 9 6 1 ) und Fils de misère ( 1 9 7 4 ) von MARIE-THÉRÈSE COLIMON ( 1 9 1 8 - 1 9 9 7 ) - verlagert sich der Handlungs-

mittelpunkt in den städtischen Raum, der mit zunehmender Landflucht und Verelendung der Slumbewohner verstärkt in das Blickfeld der sozialkritisch engagierten Autoren rückte. Gemeinsam war ihnen die Absage an die „question de couleur", die mit einer rassenspezifischen Argumentation die klassenspezifischen Gegensätze zu verschleiern suchte. Gemeinsam war ihnen auch die auf die konfliktive Gegenwart gerichtete Perspektive, die sich bei Jacques Stephen Alexis — in seinen herausragenden Romanen Compère Général Soleil ( 1 9 5 5 ) und Les arbres musiciens ( 1 9 5 7 ) - in Richtung auf einen universalen Humanismus erweiterte. Damit entsprachen die Autoren dem Anliegen Jacques Roumains, der das Konzept der Rasse, welches sich für die Geschichte des Landes als so folgenschwere Mystifikation erwies, gänzlich ausgeblendet hatte. Denn, so Roumain in seinem Gedicht „Bois d'ébène": „Nur von Eurer Rasse will ich sein / Arbeiter Bauern der ganzen Welt."35 In der Lyrik fand die Bewegung der négritude einen gewissen Widerhall durch die bei einigen Autoren anzutreffende Verklärung der afrikanischen Heimat und der Klage ob der schmerzlichen Erfahrung von Deportation und Exil. Doch kaum einer mochte sich dem essentialistischen Konzept einer durch rassische Konstanten determinierten „schwarzen Seele", der „négritude première", anschließen. Einzig der insbesondere von Senghor hervorgehobene Aspekt der négritude als Instrument der Befreiung wurde von Autoren wie Félix Morisseau-Leroy und RENÉ DEPESTRE (geb. 1926) in ihre Dichtung einbezogen, dies allerdings mit einer der haitianischen Wirklichkeit angepassten Akzentverschiebung. Der Kampf der haitianischen Autoren richtete sich nicht gegen den Kolonialismus, was für Haiti kein Thema (mehr) war. Ihr Kampf richtete sich gegen jede Form der Unterdrückung; und der Farbige wurde eins mit den Ausgebeuteten der ganzen Welt, den „Verdammten dieser Erde", wie Fanon sie nannte: ein Weg, welcher der négritude-Bewegung von Sartre gewiesen worden war.

35

In: La montagne ensorcelée. Paris: Editions Messidor 1987, S. 146.

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Als in den 60er Jahren wirtschaftliche Misere und politischer Terror unter der Landbevölkerung wie unter den Intellektuellen zu einer massiven Fluchtbewegung führten, als unzählige Oppositionelle wie Jacques Stephen Alexis dem politischen Terror zum Opfer fielen und das Duvalier-Regime sich zunehmend konsolidieren konnte, schwand die Hoffnung auf eine baldige Verwirklichung jenes Ideals einer humanen, gleichermaßen auf Tradition und Moderne fußenden Gesellschaft, das Alexis in Les arbres musiciens entworfen hatte. So war es nur konsequent, dass die Mehrzahl der nunmehr im Exil lebenden Autoren eine aggressiv militante Haltung einnahm und sich das thematische Schwergewicht von der sozialen Problemstellung auf die Aktualität von politischer Repression und neokolonialer Dependenz, von erzwungenem Exil und neuerlicher Entfremdung verlagerte. Das Exil war und ist eine allen bedeutenden haitianischen Autoren gemeinsame Erfahrung. In Kanada leben bzw. lebten FRANCK FOUCHÉ ( 1 9 1 5 - 1 9 7 8 ) , A N T H O N Y PHELPS ( g e b . 1 9 2 8 ) , GÉRARD ETIENNE ( g e b . 1 9 3 6 ) , EMILE OLLIVIER

und D A N Y LAFERRIÈRE (geb. 1953); in den USA Marie Chauvet, Philippe Morisseau-Leroy, JEAN-CLAUDE CHARLES (geb. 1949) und PIERRE C L I TANDRE (geb. 1954); in Frankreich René Depestre, JEAN MÉTELLUS (geb. 1937) und LOUIS-PHILIPPE DALEMBERT (geb. 1962); im Senegal ROGER DORSINVILLE ( 1 9 1 1 - 1 9 9 2 ) und GÉRARD C H E N E T (geb. 1929). Aber nur wenige Autoren entfernten sich vom politischen und sozialen Kontext ihres Herkunftslandes: Roger Dorsinville in seinem „afrikanischen" Romanzyklus Kimby (1973), L'Afrique des rois (1975), Un homme en trois morceaux (1975) und Renaître à Dendé ( 1980) oder Jean Métellus in den beiden Romanen Une eau-forte ( 1983) und La parole prisonnière (1986), deren Handlung in der Schweiz bzw. in Frankreich angesiedelt ist. Für die meisten Autoren galt auch dann, wenn der Ort der Handlung in ihren Romanen außerhalb Haitis liegt, das vorrangige Interesse der haitianischen Wirklichkeit so, wie sie sich auf die Lebensbedingungen der Haitianer im Exil auswirkt: etwa fiir Jean-Claude Charles in Sainte dérive des cochons (1977) und Manhattan Blues (1985) oder Gérard Etienne in Un ambassadeur macoute à Montréal (1979). 3 6 (1940-2002)

Der spezifischen Lebenswelt im Exil (oder in der Diaspora) trugen einige haitianische Autoren Rechnung, ohne aber - wie die Kubaner und Puertoricaner in den USA oder die West Indians in Großbritannien - in ihrem Werk das Konzept einer transkulturellen oder transterritorialen Identität zu entwickeln (vgl. hierzu Kap. 7). Einem solchen Konzept kamen allein zwei Autoren nahe: zum einen Dany Laferrière, der zwei Jahrzehnte in Montréal lebte, (u. a.) mit seinem witzig-ironischen Roman Comment faire l'amour avec un nègre sans 36

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Eines der immer wiederkehrenden Themen im Roman wie im Theater war während der Duvalier-Diktatur das von politischer Gewalt und Widerstand, das aber eine durchaus unterschiedliche Ausgestaltung erfuhr, wie der Vergleich von zwei paradigmatischen Romanen deutlich macht. Der Roman Mémoire en colinmaillard ( 1976) von Anthony Phelps erzählt von dem verzweifelten Versuch des Protagonisten, über spärliche Erinnerungsfetzen ein traumatisches Erlebnis der Vergangenheit zu rekonstruieren: den unter Folter begangenen Verrat an seinen Kameraden im politischen Widerstand. Dabei bewegt er sich in einer Welt von zweifelhafter Realität, und die ihn umgebende beklemmende Atmosphäre von Terror und Angst, Spiegel seiner existentiellen Not und stummen Qual, verdichtet sich zu einem Alptraum, bis sich derselbe Protagonist in einer für den Leser unerwarteten Wendung als paranoid erweist. Als Alptraum erscheint auch die fiktive Welt in dem Roman Un ambassadeur macoute à Montréal, doch inszeniert Gérard Etienne eine grotesk überzeichnete, karnevaleske Welt, in der sich die unterschiedlichsten Parteien — exilierte haitianische Kapitalisten, Bauern und Intellektuelle ebenso wie Vertreter der kanadischen Klassengesellschaft und des Duvalier-Regimes — in wechselnden Allianzen und mit dem Beistand der tonton makoutWic der gleichermaßen intervenierenden Vodugötter einen mörderischen Kampf liefern. Anthony Phelps überzeugt durch die Authentizität der geschaffenen Atmosphäre sowie den Verzicht auf heroische Gesten und Rhetorik der Gewalt; Gérard Etienne fasziniert dagegen durch seine ungezügelte Imaginationskraft, die sich religiös-magischer Elemente des Vodu bedient und damit einer haitianischen Variante des lateinamerikanischen „magischen Realismus" Ausdruck verleiht. Die .Ästhetik des Vodu" lieferte zahlreichen Autoren jene Strategien, die es ermöglichten, die spezifische haitianische Wirklichkeit auch mit einer als spezifisch haitianisch erfahrenen Weltsicht zu verknüpfen.37 Im

se fatiguer (1985), dessen schwarzer Protagonist, aufgrund seiner sexuellen Potenz bei der (weißen) Weiblichkeit von Montréal erfolgreich, weder eine Vergangenheit noch eine Nationalität besitzt; und Louis-Philippe Dalembert, der an vielen Orten lebte und der in seinen Romanen, u. a. in L'île au bout des rêves (2003), Migration - oder vagabondage-, wie er es nennt - als existentielle Befindlichkeit des Haitianers zu einem zentralen Thema machte. 37 Diese spezifische Weltsicht oder Bewusstseinsform des „mythisch-magischen Denkens" ist das entscheidende Definitionskriterium fur den „magischen Realismus" oder „réalisme merveilleux": eine Bewusstseinsform, die archaischen Kulturen eigen ist und die sich von der als „aufgeklärt" begriffenen Bewusstseinsform des abendländisch-europäischen Denkens nicht in der Struktur der Denkprozesse, wohl aber in den Grundannahmen unterscheidet. Zu diesen Grundannahmen gehören bestimmte Vorstellungen über das Wesen

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Theater bediente man sich vorzugsweise jener Elemente des Vodu, die wie die Zombifizierung und der Auftritt des Totengottes Baron Samedi (oder Général Baron-la-Croix) besonders spektakulär und dramaturgisch effektvoll eingesetzt werden können: etwa in der „tragischen Farce" Zombis nègres (1972) von Gérard Chenet und der „modernen Tragödie" Général Baron-la-Croix ou Le silence masqué (1973) von Franck Fouché, wo das Verfahren der Zombifizierung über eine symbolisch-allegorische Sinngebung als Mittel der Unterdrückung und Ausbeutung entlarvt wird. Im Roman konnte das Wirkungspotential des Vodu differenzierter eingesetzt werden. In Le mât de cocagne ( 1979) von René Depestre wird wie im Theater über spektakuläre, gelegentlich auch makaber-obszön inszenierte magische Praktiken der Vodu als Herrschaftsinstrument mit dem repressiven Staatsapparat assoziiert, ohne dass aber die identitätsstiftende Kraft des Vodu geleugnet wird. Pierre Clitandre verzichtete in seinem Roman Cathédrale du mois d'août (1980) auf spektakuläre Aspekte des Vodu und richtete sein Interesse vorrangig auf die Rekonstruktion eines in mythisch-magische Zusammenhänge eingebetteten kollektiven Gedächtnisses, mit dessen Hilfe die Handlungspersonen, ein Kollektiv in einem Elendsviertel in Port-au-Prince, den alltäglichen Kampf gegen Armut und Unterdrückung bewältigen. Überaus kritisch sieht dagegen Gérard Etienne die Praxis des Vodu in seinem Roman La Reine Soleil Levée (1987), in dem über den heroischen Kampf der Protagonistin gegen die Willkür der Staatsmacht auch die mit dieser paktierenden Vodupriester als Unterdrücker und Profiteure entlarvt werden und der Vodu als missbräuchliche und regressive Praxis erscheint. Die „Ästhetik des Vodu" mochte manchem Autor als probates Mittel erscheinen, den an bestimmten stereotypen Vorstellungen vom „exotischen" Haiti geschulten Erwartungen insbesondere des europäischen Lesepublikums zu entsprechen. Diesem Verdacht setzte sich René Depestre mit seinem zweiten Roman, Hadriana dans tous mes rêves (1988), aus, in dem er eine karnevalesk inszenierte Zombifizierung mit (marktstrategisch gleichermaßen willkommenen) erotisch-sexuellen Phantasien verknüpfte. In derselben Linie präsentierte sich LILAS D E S Q U I R O N (geb. 1946) mit ihrem Roman Les chemins de Loco-Miroir (1990), der wie bei Depestre das Spektakuläre des Vodu mit einer exquisit-orgiastischen Erotik verbindet. Doch mochten keinesfalls alle Au-

und Wirken von Natur, Göttern und Geistern sowie die Annahme, dass der Mensch über religiös-magische Praktiken die Götter zum eigenen Wohl oder zum Schaden eines anderen zu beeinflussen vermag.

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toren sich des Vodu bedienen: etwa Jean Métellus, der in zahlreichen Romanen - u. a .Jacmelau crépuscule (1981) und Lafamille Vortex {\9&2) - Momente der jüngeren haitianischen Vergangenheit thematisierte und sich, nahezu anachronistisch, allen erzähltechnischen Finessen des neueren Romanschaffens verweigerte. Nach dem Sturz der Duvalier-Diktatur 1986 suchten sich die Autoren neue Themenbereiche zu erschließen. Die in der Gegenwart nicht enden wollende politische Gewalt ist ein zentrales T h e m a bei LYONEL TROUILLOT (geb. 1956), in

seinen Romanen Rue despas-perdus (1998) und Bicentenaire (2004). Die historische Vergangenheit, gespeichert im kollektiven Gedächtnis, hatten schon zuvor Emile Ollivier in Mère Solitude (1983) und GÉRALD DORVAL (geb. 1945) in

Ces gens-là (1985) über den Rückgriff auf Elemente der oralen Erzähltradition zu rekonstruieren versucht. Spezifische Ereignisse und Episoden rückten nun bei den Romanautoren verstärkt in den Mittelpunkt ihres Interesses: in Le peuple des terres mêlées (1989) von RENÉ PHILOCTÈTE (geb. 1932) das 1937 v o m do-

minikanischen Diktator Trujillo befohlene Massaker an Haitianern in der Grenzregion; in Les cacos (1989) von Jean Métellus der Widerstand der „cacos" genannten Bauern gegen die US-amerikanische Okkupation; oder auch die letzten Jahre der Kolonialzeit und der Beginn der Revolution in Aube tranquille ( 1 9 9 0 ) v o n JEAN-CLAUDE FIGNOLÉ (geb. 1 9 4 1 ) , w o d e r R e k u r s a u f i n n o v a t i v e

narrative Techniken - etwa der beständige Wechsel von Erzählperspektive und Zeitebene ebenso wie die Doppelung von Handlungsfiguren auf den Ebenen von Vergangenheit und Gegenwart - dem Leser ein Engagement abverlangt, das in Haiti außerhalb der intellektuellen Zirkel kaum jemand zu leisten imstande oder bereit ist. Damit enthüllt sich ein Dilemma der haitianischen Autoren, die in ihrer Mehrzahl in französischer Sprache und in französischen oder kanadischen Verlagen für einen Leserkreis publizieren, dem Haiti fremd ist und dessen Erwartungen sich zu einem großen Teil an einer Vorstellung von Haiti orientieren, wie sie der Pariser Verlag, in dem Fignolés Roman erschien, auf einer als Werbeträger eingesetzten Banderole in die bündige Formel fasste: „Magisches und rebellisches Haiti." In Haiti selbst finden Autoren nur dann ein breiteres Publikum, wenn sie sich des Kreol bedienen: in der Lyrik vor allem GEORGES CASTERA (geb. 1936), im R o m a n (und im Theater) FRANKETIENNE (für: Franck

Etienne; geb. 1936) mit Dézafi oder (in einer französischen Version des Autors) Les affres d'un défi (1975/1979) sowie Félix Morisseau-Leroy mit seinen zweisprachig publizierten Erzählungen Ravinodyab/La Ravine aux Diables (1982) und dem 2001 posthum veröffentlichten Band Kont Kreyól. Das Kreo-

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lische, seit 1987 in der Verfassung (neben dem Französischen) als Amtssprache Haitis verankert, ist das allen Haitianern gemeinsame Medium der Kommunikation: jedoch im Wesentlichen ein Medium der mündlichen Kommunikation und für etwa 80% der Haitianer, die weder lesen noch schreiben können, als Schriftsprache genauso unzugänglich wie das Französische. Puerto Rico In Puerto Rico, wo sich seit den 50er Jahren mit der Durchsetzung des Status eines Estado Libre Asociado und der Einleitung der Operation „Bootstrap" in den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen ein tiefgreifender Wandel vollzog, setzten die Literaten dem in politischen Kreisen weithin herrschenden Optimismus einen aggressiven Pessimismus entgegen. Die erfolgreiche assimilationistische Politik des Partido Popular Democrático bedeutete die Niederlage der traditionellen Unabhängigkeitsbewegung, die in defensiver Rückwendung auf die Werte der hispanidad die fortschreitende ,Amerikanisierung" Puerto Ricos zu bremsen gesucht hatte. Der „neue" independentismo als Versuch des Widerstands gegen einen nunmehr irreversibel erscheinenden Prozess musste dagegen offensiv und mit einem klar definierten ideologischen Konzept den aktuellen Gegebenheiten Rechnung tragen. Folglich war für die kritischen Intellektuellen die Frage der puertorriqueñidad, die noch die „Generation von 1930" umgetrieben hatte, nicht mehr relevant. In der Lyrik waren es H U G O MARGENAT ( 1 9 3 3 - 1 9 5 7 ) und die von der Kubanischen Revolution inspirierte Gruppe um die 1962 gegründete Zeitschrift Guajana, die ihren Protest in einer radikal militanten Haltung artikulierten. Weniger militant und stärker auf ästhetische Innovation bedacht waren die Autoren, die 1967 mit der Zeitschrift Mester in Erscheinung traten, unter ihnen IVAN SILÉN (geb. 1 9 4 4 ) u. a. mit der Sammlung Los poemas de Filí-Melé ( 1 9 7 6 ) . Im Theater waren es insbesondere zwei Autoren, die Themen der nationalen Wirklichkeit kritisch reflektierten und der Gattung innovatorische Impulse gaben: RENÉ MARQUÉS ( 1 9 1 9 - 1 9 7 9 ) mit (u. a.) den Dramen La carreta ( 1 9 5 1 ) , La muerte no entrará en palacio ( 1 9 5 6 ) und Los soles truncos ( 1 9 5 8 ) , in denen Entwurzelung und Entfremdung von Individuum und Kollektiv vor dem Hintergrund der ökonomischen und gesellschaftlichen Veränderungen analysiert werden; und FRANCISCO ARRIVI (geb. 1 9 1 5 ) mit der einem poetischen Realismus verpflichteten Trilogie „Máscaras puertorriqueñas" (Bolero y plena, 1 9 5 6 ; Sirena, 1 9 5 8 ; Vejigantes, 1 9 5 8 ) , in der die kollektive Psyche in der

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gemischtrassigen Gesellschaft Puerto Ricos über drei Generationen erforscht wird. Antiillusionistisches Theater unter dem Einfluss Bertolt Brechts schuf Luis RAFAEL SÁNCHEZ (geb. 1936) mit La pasión según Antígona Pérez (1968), einer Projektion des antiken Stoffes auf die lateinamerikanische Gegenwart von diktatorialer Gewalt und heroischem Widerstand. Mit René Marqués, Francisco Arrivi und Luis Rafael Sánchez wurde dem puertoricanischen Theater erstmals über die nationalen Grenzen hinweg Anerkennung verschafft. Eine noch größere Resonanz erfuhren die Kurzprosa und der Roman, die sich neuerer narrativer Techniken bedienten und den kritischen Realismus der 30er und 40er Jahre durch eine vorrangig auf sozialpsychologische Phänomene gerichtete Sichtweise variierten und vertieften. Während der 40er Jahre hatte der thematische Schwerpunkt noch auf dem ländlichen Milieu und den Lebensbedingungen des campesino gelegen. Nun wurde die städtische Lebenswelt kritisch, gelegentlich mit militant nationalistischem Gestus in den Blick genommen: die Misere des Subproletariats in den Elendsvierteln von San Juan in dem Erzählband En este lado (1954) von JOSÉ LUIS GONZÁLEZ (1926-1996); oder die sinnentleerte Existenz der in ihrem Habitus und Konsumverhalten weitgehend amerikanisierten, den eigenen Wurzeln entfremdeten Mittelschichten in den Erzählungen En cuerpo de camisa (1966) von Luis Rafael Sánchez und bei EMILIO DÍAZ VALCÁRCEL (geb. 1929) in zahlreichen Erzählbänden und dem Kurzroman El hombre que trabajó el lunes (1966); schließlich bei René Marqués, (u. a.) in dem Erzählband En una ciudad llamada San Juan (1960), die auch psychologisch fundierte existentielle Krise des individuellen und kollektiven Bewusstseins und metaphysische Angst des von sich selbst und seiner Umwelt entfremdeten Menschen in der modernen Welt. Einen weiteren Themenschwerpunkt bildete die Lebenswelt der Puertoricaner in New York, die vergeblich versuchen, für sich den American Dream zu verwirklichen: etwa in dem Kurzroman Paisa (1950) und den Erzählungen En Nueva York y otras desgracias (1973) von José Luis González; in den Romanen Laceibaen eltiesto (1956) undEllaberinto (1959) von Enrique A. Laguerre; in dem Roman Harlem todos los días (1978) von Emilio Díaz Valcárcel; sowie in den Erzählungen Spiks (1957) von PEDRO JUAN SOTO ( 1928-2002), der die Misere und Frustration der (aufgrund ihrer nur mangelhaften Beherrschung der englischen Sprache) als „spiks" diskriminierten Puertoricaner in den New Yorker Ghettos mit besonderer Eindringlichkeit wiedergab. Soto, der über einen längeren Zeitraum in den USA lebte, behandelte auch andernorts die fundamentale Fremdheitserfahrung der Puertoricaner in den Vereinigten Staaten.

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Dabei machte er - etwa in seinem Roman Ardiente suelo, fría estación (1961) — auch deutlich, dass eine Wiedergewinnung der Ursprünge unmöglich ist, da die Rückkehr auf die Insel sich als eine Rückkehr in die Fremde erweist.38 Hinsichtlich der thematischen Schwerpunkte war die Erzählliteratur seit den 50er Jahren als Reflex einer tiefen Bewusstseinskrise relativ homogen. Wie es Pedro Juan Soto formulierte: „Wir alle begannen im Schatten des Estado Libre Asociado zu schreiben, und wir alle rebellierten."39 Einzelne Akzente setzten die Autoren dort, wo sie auf spezifische Fehlentwicklungen oder besonders konfliktive Lebensbereiche verweisen wollten: beispielsweise die politische Auseinandersetzung im Umkreis von Parteien und Parteiführern in dem Rom a n Los desterrados ( 1 9 5 6 ) von CÉSAR ANDRÉU IGLESIAS ( 1 9 1 5 - 1 9 7 6 ) ; die als

Trauma erlebte Teilnahme von Puertoricanern an von US-amerikanischen Interessen diktierten, der puertoricanischen Wirklichkeit jedoch fernen bewaffneten Auseinandersetzungen wie dem Zweiten Weltkrieg und dem KoreaKrieg in dem Kurzroman Mambrú sefue a la guerra (1972) von José Luis González und zahlreichen Kurzgeschichten von Emilio Díaz Valcárcel, u. a. in Proceso en diciembre (1963) und Napalm (1970); Diskriminierung und Identitätsverlust der Puertoricaner auf der von den USA in eine einzige Militärbasis verwandelten Insel Vieques in den Romanen Usmail (1959) von Pedro Juan Soto und Veinte siglos después del homicidio (1971) von CARMELO RODRÍGUEZ TORRES (geb. 1941).

Pedro Juan Soto war zwar nicht der produktivste Autor dieser „ELA-Generation", doch hat er in Puerto Rico am konsequentesten „rebelliert": gegen den (neo-)kolonialen Status der Insel für die Unabhängigkeit ebenso wie gegen die permanente Diskriminierung für die Würde und Selbstbestimmung von Individuum und Kollektiv. Sein eindrücklichster Beitrag ist Usmail-, ein Entwicklungsroman, der vor dem Hintergrund der US-amerikanischen Präsenz auf der Insel Vieques die Geschichte eines Jungen erzählt, der als (unehelicher) Sohn einer schwarzen Puertoricanerin und eines weißen US-Amerikaners einen schmerzhaften Prozess der Selbstfindung durchlebt, in dem er über einen Akt der Gewalt — den Mord an einem US-amerikanischen Marinesoldaten — zur Annahme seiner Identität als „Negro" findet. Die Gewalttat, Vater- und Tyrannenmord zugleich, ist zunächst ein individueller Akt der Befreiung; doch

Vgl. zu diesem Themenkomplex auch Kap. 7. Zit. nach N o r m a Piazza; in: Edgar Martínez Masdeu (Hrsg.): 22 Conferencias de Literatura Puertorriqueña. San Juan: Ateneo Puertorriqueño/Librería Editorial Ateneo 1994, S. 581. 38

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steht Usmail stellvertretend für das Kollektiv von Vieques und stellvertretend für gesamt Puerto Rico, so dass die Botschaft des Romans in ihrer politischen Dimension eindeutig ist. Eine solch eindeutige, auf eine - auch revolutionäre - Veränderung abzielende Botschaft mochte ab den 70er Jahren nicht mehr opportun erscheinen, hatte sich doch mittlerweile das politische Panorama entscheidend gewandelt. Das 1967 abgehaltene Referendum zur Statusfrage erbrachte fiir die Option der Unabhängigkeit gerade einmal 0,7% der abgegebenen Stimmen. Und die im Jahr darauf abgehaltenen Wahlen beendeten die Vorherrschaft des Partido Popular Democrático, der den ELA-Status durchgesetzt hatte, zu Gunsten des Partido Nuevo Progresista, der als politisches Ziel die Eingliederung Puerto Ricos in den US-amerikanischen Staatenbund verfolgt. Die meisten Romanautoren verabschiedeten sich vom sozialkritischen Realismus, um sich unter dem Einfluss der lateinamerikanischen „nueva novela" der 60er Jahre einem Konzept des experimentellen Schreibens anzunähern. Die puertoricanische Lebenswelt (und Geschichte) blieb auch weiterhin zentraler Bezugspunkt der Literaten; doch wurde diese nur noch in höchst fragmentierter Weise oder in Form der Parodie wiedergegeben: etwa bei Emilio Díaz Valcárcel in Figuraciones en el mes de marzo (1972) und Enrique A. Laguerre in Los amos benévolos (1976), bei ROSARIO FERRÉ (geb. 1938) in dem Kurzroman Maldito amor (1986) und EDGARDO RODRÍGUEZ JULIÄ (geb. 1946) in seinen historischen Romanen La renuncia del héroe Baltasar (1974) und La noche oscura del niño Avilés{ 1984). Den wertvollsten Beitrag - auch mit Blick auf die angesichts der unaufhaltsam fortschreitenden „Amerikanisierung" Puerto Ricos (wieder) aktuelle Problematik „nationaler" Identität - leisteten Luis Rafael Sánchez und Edgardo Rodríguez Juliá. Mit dem aufgrund der überaus originellen Sprachschöpfung auch außerhalb Puerto Ricos gefeierten Roman La guaracha del Macho Camacho (1976) entlarvte Sánchez witzig und ironisch die puertoricanische Realität als US-amerikanische Kolonie und verknüpfte puertoricanische Identität mit Elementen der Popularkultur. An die (vorwiegend afroamerikanische) Popularkultur band auch Rodríguez Juliá nationale Identität in seinen Chroniken, in El entierro de Cortijo (1983) und Una noche con Lris Chacón (1986). Darüber hinaus suchte er - etwa in Las tribulaciones de Jonds (1981) und Puertorriqueños. Album de la Sagrada Familia puertorriqueña a partir de 1898 (1988) - die jüngere Vergangenheit in kritischer Perspektive zu beleuchten, um die noch in der Gegenwart wirksamen Traumata zu bewältigen.

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Die Frage nach der ethnisch-kulturellen Identität Puerto Ricos ist für die aktuell schreibenden Autoren kein Thema mehr; dies spätestens seit dem 1979 von José Luis González publizierten kulturhistorischen Essay El país de cuatro pisos, der über eine Revision des bis dahin gültigen hispanismo den afroamerikanischen Beitrag zur nationalen Identität und Kultur angemessen gewürdigt hatte und in seiner Wirkung auf die Zeitgenossen dem Essay Insularismo von Pedreira vergleichbar war. Vorherrschendes Thema in der Kurzgeschichte wie im Roman ist bei den jüngeren Autoren und Autorinnen - b e i M A N U E L RAMOS O T E R O (1948-1990), JUAN A N T O N I O RAMOS (geb. 1948) und EDGARDO SANABRIA SANTALIZ (geb. 1951) ebenso wie bei CARMEN L U G O FILIPPI (geb. 1940), MAGALI GARCÍA RAMIS (geb. 1946) und ANA LYDIA V E G A (geb. 1946) - die alltägliche Lebenswelt zumeist (klein-)bürgerlicher, oft marginalisierter und ihrer Umwelt entfremdeter Existenzen, bei den Frauen häufig verknüpft mit der Entfaltung von Strategien zur Überwindung der aus weiblicher Perspektive zusätzlich erfahrenen Entfremdung durch die patriarchalische Gesellschaft. Offen bleibt die Frage der Sprache, in der künftig puertoricanische Literatur verfasst werden wird. Das Spanische gilt selbst den Befürwortern der staatehood-Lösung als unveräußerliches Identitätszeichen. Doch mag das Englische, Medium der in den USA verfassten „kontinentalen" puertoricanischen Literatur, künftig auch den „insularen" Autoren (mit Blick auf den US-amerikanischen Markt) attraktiv erscheinen. Ein Beispiel für diesen möglichen Trend ist Rosario Ferré, die bereits in den 90er Jahren ihre Rom a n e - The House on the Lagoon (1995) und Eccentric Neighborhoods (1998) zuerst in einer englischen Version verfasste und publizierte.

Dominikanische Republik In der Dominikanischen Republik bewirkte das Ende der Trujillo-Ära 1961 unter den Intellektuellen zunächst eine ungeheure Euphorie, und mit dem Ende von politischem Terror und kultureller Isolation keimte die Hoffnung auf einen Neubeginn, der dem dominikanischen Kulturschaffen, nunmehr ohne Verfolgung und den Zwang zur Selbstzensur, endlich auch die Projektion nach außen ermöglichen sollte. Die Hoffnung auf den ersehnten politischen und gesellschaftlichen Neubeginn wich jedoch sehr bald einer immensen Frustration. Denn der Militärputsch gegen Juan Bosch 1963, das Scheitern des von US-amerikanischen Truppen niedergeworfenen Volksaufstands vom April 1965 und der darauf folgende Wahlsieg von Joaquin Bala-

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guer, der dem Land (mit Hilfe ausländischen Kapitals) zwar ein Wirtschaftswunder bescherte, gleichzeitig aber wie zu Zeiten Trujillos politisch motivierte Verfolgung institutionalisierte, machten deutlich, dass die traditionellen Machtstrukturen den Tod des Diktators unbeschadet überdauert hatten und die Oligarchie sich unter der Obhut der USA jedem Reformen einleitenden „Experiment" erfolgreich widersetzen würde. Die wenigen Jahre der Liberalisierung aber hatten ausgereicht, um die kulturelle Isolation zu überwinden, so dass die dominikanischen Autoren in allen Gattungen den Anschluss an die hispanoamerikanische Literatur des Kontinents erreichten. In der Lyrik trat seit den 60er Jahren eine Vielzahl von Autoren in Erscheinung, die sich den ästhetischen Ansprüchen der „Poesía Sorprendida" durchaus verpflichtet fühlten, die aber der Dichtung nun einen gesellschaftlichen Auftrag verliehen und Literatur als Dokument und Anklage mit dezidiert politischem Vorzeichen versahen. Die wichtigsten Vertreter der „Generación del 48" sind LUPO HERNÁNDEZ RUEDA (geb. 1930), R E N É DEL R I S C O BERMÚDEZ (19371972), M I G U E L ALFONSECA (1942-1994) sowie V Í C T O R VILLEGAS (geb. 1924), der erst Ende der 70er Jahre mit eigenen Buchpublikationen herauskam und dessen Gedichtbände - u. a. Charlotte Amalie (1980) und Juan Criollo y otras antielegías (1982) - als bedeutendste Zeugnisse der „48er" gelten können. Daneben erwies sich als herausragender und produktivster Lyriker Freddy Gatón Arce, einst führend in der Gruppe der Sorprendidos, der sein poetisches Universum gleichermaßen den Widersprüchen und Konflikten der Gegenwart öffnete und ab der Publikation seines ersten Sammelbandes, Retiro hacia la luz. Poesía 1944—1979 (1980), jährlich mindestens einen Gedichtband veröffentlichte. Der in der Dominikanischen Republik seit Ende der 50er Jahre meistgespielte Theaterautor ist FRANKLIN D O M Í N G U E Z (geb. 1931). Seine Produktion umfasst etwa 60 Stücke und erstreckt sich vom Marionettentheater über die farsa und den dramatischen Monolog bis hin zum streng durchstrukturierten Drama. Die Themen variieren von metaphysischen Fragestellungen der individuellen und gesellschaftlich-familiären Existenz - in La espera (1957) und Un amigo desconocido nos aguarda (1958) - bis hin zur komisch-grotesken Satire gesellschaftlich-politischer Misstände, besonders gelungen in der Trilogie Se busca un hombre honesto (1964), Campaña electoral (1965) und Se busca un hombre deshonesto (1981). Domínguez verzichtete zumeist auf Experimente und bewegte sich im Rahmen des traditionellen Illusionstheaters. Dem Bertolt Brecht verpflichteten antiillusionistischen Theater und dem Konzept eines „teatro popular" verschrieben sich dagegen die jüngeren Autoren, die - wie IVAN GARCÍA (geb. 1938), HAFFE SERULLE (geb. 1947) und REYNALDO DISLA

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(geb. 1956) - ihr sozialkritisch und politisch motiviertes Engagement häufig über Mittel der Groteske und der Verfremdung sowie unter Einbeziehung populärer Musikformen artikulierten. Den größten Aufschwung nach dem Ende der Trujillo-Diktatur erlebte die fiktionale Prosa, die angesichts der Uniformität der in den voraufgegangenen Jahrzehnten publizierten Werke einigen Nachholbedarf aufzuweisen hatte. Hier nun bot sich den kritischen Literaten die Chance, mit der Vergangenheit abzurechnen, die Gegenwart mit den eigenen, enttäuschten Hoffnungen zu konfrontieren und gleichzeitig durch Übernahme und Weiterentwicklung der neueren narrativen Techniken die Weltsicht des kritischen Realismus in ihrer individual- und sozialpsychologischen Dimension zu vertiefen. Die Themen waren relativ konstant: politische Gewalt, Korruption und moralische Perversion während der Trujillo-Herrschaft; die Hintergründe des Sturzes von Juan Bosch und die Guerilla von 1963; der Volksaufstand vom April 1965 und die Intervention der USA; schließlich das Wiedereinsetzen von politischer Verfolgung und das Eingeständnis des Scheiterns, das insbesondere beim städtischen Kleinbürgertum zu Frustration und Rückzug auf private Positionen führte. Am Anfang stand der Roman Escalera para Elettra (1970) von Aída Cartagena Portalatin, die bereits während der 40er Jahre als Mitglied der Gruppe der „Poesía Sorprendida" in Erscheinung getreten war. In ihrem ersten Roman verband die Autorin die individuelle, das Tabu des Inzests thematisierende Lebensgeschichte einer modernen „kreolischen Elektra" mit einer kritischen Sichtung der gesellschaftlichen Realität von politischer Unterdrückung und Gewalt: eine poetische Collage von symbolisch-allegorischen Dimensionen, die mit allen narrativen Konventionen brach und in ihrem experimentellen Charakter Maßstäbe setzte. Auf Aída Cartagena Portalatin folgte eine Reihe herausragender Autoren: der bereits als Lyriker gefeierte Pedro Mir mit dem Roman Cuando amaban las tierras comuneras ( 1 9 7 7 ) , der die US-amerikanische Invasion von 1 9 1 6 mit der von 1 9 6 5 parallel setzt; PEDRO VERGÉS (geb. 1 9 4 5 ) mit dem Roman Sólo cenizas hallarás (bolero) ( 1 9 8 0 ) , der die Konflikte unmittelbar nach Trujillos Tod zum Thema hat und über eine bewusste Trivialisierung auch Elemente der Popularkultur und des Hollywood-Kinos einbezieht; VIRGILIO D Í A Z GRULLÓN ( 1 9 2 4 - 2 0 0 1 ) und J O S É ALCANTARA ALMANZAR (geb. 1 9 4 6 ) mit mehreren Erzählbänden, die über Elemente der Phantastik eine über die unmittelbare Wirklichkeit hinausweisende symbolisch-allegorische Dimension existentieller Nöte und Ängste präsentieren.

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Der interessanteste und produktivste unter den Autoren fiktionaler Prosa ist MARCIO VELOZ MAGGIOLO (geb. 1936). Die genannten T h e m e n durchzie-

hen seine Erzählungen oder Novellen — La vida no tiene nombre (1965), Nosotros los suicidas (1965), La fértil agonía del amor (1982) - ebenso wie seine Romane: (u. a.) Los ángeles de hueso (1967), La biografía de Sombra Castañeda (1980) und De abril en adelante (1975), sein ehrgeizigstes und schwierigstes Werk. De abril en adelante ist ein bitterböses Dokument, das satirisch überzeichnete Panorama des postrujillismo, die Abrechnung mit den in ihrem Erbe gefestigten politischen Kreisen wie mit den in ihrer Frustration gefangenen intellektuellen Zirkeln. Gleichzeitig wird der ambitionierte Versuch unternommen, über die Parallelsetzung mit Ereignissen der Vergangenheit die Gegenwart in historischer Perspektive zu erklären. Und schließlich ist der Roman auch ein ästhetisches Experiment, eine Collage verschiedener Zeitebenen und Wirklichkeitsbereiche, in denen der Akt des Schreibens zum zentralen Thema wird, der Erzähler ebenso wie die erzählte Welt in ihrer (fiktionalen) Wirklichkeit in Frage gestellt werden. Die genannten Texte überzeugen in ihrem rebellischen Impetus und entsprechen der Forderung Veloz Maggiolos, der in seinem 1972 publizierten literaturkritischen Essayband Cultura, teatro y relatos en Santo Domingo schrieb: „Der Schriftsteller ist ein Kämpfer, seine Feder ein Gewehr."40 Doch die Romane und Erzählungen weisen einen experimentellen Charakter auf, der die mittlerweile in der lateinamerikanischen fiktionalen Prosa gängigen Verfahren von Fragmentierung und Diskontinuität bis hin zu einer völligen - auch graphisch markierten - Auflösung syntaktisch zusammenhängender Sequenzen fuhrt, so dass sie nur von einer intellektuellen Minderheit rezipiert wurden. Ein breiteres Publikum erreichte dagegen FREDDY PRESTOL CASTILLO (19131981) mit seinem Roman El Masacre se pasa a pie (1973): ein hinsichtlich der narrativen Techniken weniger ambitioniertes Werk, in dem der Verfasser als Chronist das 1937 von Trujillo befohlene Massaker an mindestens 12 000, in den nördlichen Grenzregionen lebenden Haitianern thematisierte. Dem Autor gelang in eindrücklicher Weise, das unvorstellbare (und vielen Dominikanern unbekannte) Geschehen über die Schilderung der psychischen Verfasstheit von Opfern und Tätern nachvollziehbar darzustellen. Die Schuldzuweisung an Trujillo ist eindeutig; doch bei der Frage einer möglichen kollektiven Schuld geriet Prestol Castillo, der als Ermittlungsrichter vor Ort geschwiegen

40 Cultura, teatro y relatos en Santo Domingo. Santiago de los Caballeros: Universidad Católica Madre y Maestra 1972, S. 14.

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und sich dem System angepasst hatte, in Widerspruch zu dem ansonsten gezeigten Mitleid mit den Opfern. Denn er reproduzierte all jene Topoi vom „barbarischen" Haitianer, die seit dem 19. Jahrhundert den traditionellen, in allen Sektoren der Bevölkerung offen oder verdeckt vertretenen Antihaitianismus der Dominikaner gespeist hatten. Diesen gleichermaßen zu reproduzieren bemühte sich JOAQUÍN BALAGUER (1906-2002), der nicht nur als Politiker, sondern auch als Poet und Essayist in Erscheinung trat, noch 1983 in seinem Essay La isla al revés. Haití y el destino dominicano; dies in der (durchaus realistischen) Annahme, seine Chancen für eine Wiederwahl als Präsident zu erhöhen. Eine differenziertere Sicht auf Haiti und die haitianische Geschichte lieferte dagegen CARLOS ESTEBAN DEIVE (geb. 1935) mit seinem Roman Viento negro, bosque del caimán (2002), der die Auswirkungen der Französischen Revolution sowohl auf dominikanischer als auch auf haitianischer Seite beleuchtet. Als gegen Ende der 70er Jahre deutlich wurde, dass es nicht gelungen war, die Übel des postrujillismo wie Misswirtschaft, Klientelismus und Korruption effektiv zu bekämpfen, versuchten nunmehr auch die Intellektuellen - wie bereits seit Mitte der 60er Jahre die in bitterer Armut lebenden campesinos — in die USA zu gelangen. Damit erweiterte sich auch das thematische Spektrum der Literaten, etwa bei EFRAIM CASTILLO (geb. 1940), in dessen Roman Curriculum: el síndrome de la visa (1982) der Protagonist, ein Journalist und Literat, verzweifelt bemüht ist, den für das Visum in die Vereinigten Staaten geforderten unverdächtigen Lebenslauf zu erstellen. Castillo brachte eindrucksvoll die Desillusionierung und innere Leere dieser Generation zum Ausdruck und unterstrich damit, was für die gesamte literarische Praxis der Nach-Trujillo-Ära charakteristisch ist. Sie ist Zeugnis einer Niederlage, motiviert durch Sozialrevolutionäre Positionen, die umzusetzen nach der verpassten Chance der „Guerra de Abril" nicht gelang. Die Trujillo-Diktatur gilt nach wie vor als nicht abgeschlossene Vergangenheit. Dies bezeugt die anhaltende, geradezu obsessive Beschäftigung der Literaten mit der Person Trujillos und dem trujillismo in der Romanproduktion vor allem der 90er Jahre: in den literarisch ambitionierten Romanen La balada de Alfonsina Bairän (1992) von ANDRÉS L. MATEO (geb. 1946) und Uña y carne. Memorias de la virilidad (1999) von Marcio Veloz Maggiolo ebenso wie in den eher auf ein breiteres Publikum abzielenden Romanen Toda la vida (1995) von MANUEL SALVADOR GAUTIER (geb. 1930), Juro que sabré vengarme (1998) von MIGUEL HOLGUÍN-VERAS (geb. 1927), Los amores del dios (1998) von MIGUEL AQUINO GARCÍA (geb. ?) und - mit besonderem Erfolg Los que falsificaron la fir-

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ma de Dios (1992) von VIRIATO SENCIÖN (geb. 1941), ein Schlüsselroman der Diktaturen Trujillos und Balaguers, der sogleich nach seinem Erscheinen zum Bestseller wurde. Dem Thema verschließen mochte sich auch nicht JULIA ALVAREZ (geb. 1950), die Anfang der 60er Jahre mit ihren Eltern in die USA emigrierte und die mit ihren beiden Romanen How the Garcia Girls Lost TheirAccents (1991) und ¡Yo! (1997) als bislang einzige Autorin unter den Dominican Americans Eingang in den US-amerikanischen Mainstream gefunden hat. 1994 publizierte sie mit In the Time of the Butterflies eine romanhafte Rekonstruktion der Lebensgeschichte der vier Schwestern Mirabai, von denen drei im November 1960 auf Befehl Trujillos ermordet worden waren. Kuba Mit der Revolution begann für das kubanische Kulturschaffen eine Epoche, in der sich der Autor Bedingungen gegenübersah, die sich von denen der voraufgegangenen Generationen wie denen der karibischen und südamerikanischen Nachbarstaaten grundlegend unterschieden. Durch eine Neugliederung und Erweiterung der kulturellen Infrastruktur wurden dem (der Revolution verpflichteten) Autor Arbeits- und Publikationsmöglichkeiten geboten, von denen ein Schriftsteller der Dritten Welt bis dahin nur hatte träumen können. Gleichzeitig wurden durch die Beseitigung des Analphabetismus und die damit erfolgende massive Ausweitung des Lesepublikums, durch die politischideologische Neuorientierung und schließlich durch die tatsächliche Veränderung der sozioökonomischen Verhältnisse an denselben Autor Forderungen und Erwartungen herangetragen, die einen Eskapismus im traditionellen Sinne nicht mehr erlaubten, die aber auch im Rahmen des kritischen Realismus eine Neuorientierung erforderlich machten. Der Sturz Batistas wie auch die sozialistische Reformpolitik Fidel Castros wurden von der Mehrheit der Schriftsteller und Künstler mit Enthusiasmus begrüßt, und viele der während der Diktatur exilierten Autoren, unter ihnen Nicolás Guillen und Alejo Carpentier, kehrten zurück, um sich mit der Revolution zu solidarisieren und für den Aufbau einer neuen Gesellschaft zu engagieren. Einige unter den bereits etablierten Schriftstellern verweigerten von Anbeginn die Gefolgschaft und emigrierten; unter ihnen GASTÓN BAQUERO (1918-1997), der sich in den 40er Jahren im Umfeld der Zeitschrift Orígenes einen Namen gemacht hatte, der aber erst im Madrider Exil mit dem Band Memorial de un testigo (1966) zum wichtigsten außerhalb Kubas lebenden Ly-

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riker avancierte; und LYDIA C A B R E R A (1900-1991), die neben kulturanthropologischen Studien mehrere Erzählbände veröffentlichte, in denen sie über die orale, in Afrika wurzelnde Tradition die mythisch-magische Weltsicht des Afrokubaners literarisch umsetzte. Die Situation der kubanischen Intellektuellen nach 1959, ihre Haltung gegenüber den revolutionären Veränderungen und die Rolle, die ihnen von der Führungsspitze im revolutionären Prozess zugewiesen wurde, war über Jahrzehnte ein vieldiskutierter Topos. In der damit verbundenen Frage der künstlerischen Freiheit brachte Fidel Castro 1961 in seinen berühmten „Worten an die Intellektuellen" die offizielle Position in einer griffigen und daher immer wieder zitierten Formel zum Ausdruck: „Innerhalb der Revolution, alles; gegen die Revolution, nichts." Damit war aber zunächst nur wenig geklärt, denn das Verbot „konterrevolutionärer" Literatur sagte noch nichts darüber aus, was als „revolutionäre" Literatur zu fassen war. Revolutionäres Engagement aber war gefordert, denn man erachtete es als ebenso selbstverständlich wie legitim, dass vom Schriftsteller und Künstler mehr verlangt werden konnte als nur Loyalität. Auch er sollte seine Fähigkeiten in den Dienst der Revolution stellen, um über eine Auseinandersetzung mit der kubanischen Vergangenheit und Gegenwart zum Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft und zur Schaffung des von Ernesto „Che" Guevara als Leitbild entworfenen „neuen Menschen" einen kreativen Beitrag zu leisten. Welcher Mittel sich der Autor hierbei bedienen durfte oder sollte, in dieser Frage konnten und wollten die Ideologen der Revolution während der 60er Jahre keine bindenden Aussagen machen. So gab es kaum ernstzunehmende Versuche, den in anderen sozialistischen Ländern als einzige dem Geist des Sozialismus angemessene Ästhetik propagierten „sozialistischen Realismus" auch den kubanischen Autoren zur Pflicht zu machen. Im Gegenteil: Die Kritik, wie sie etwa Edmundo Desnoes 1964 formulierte, war vernichtend. Sein Fazit: „Kunst als Instrument der Propaganda oder Prophetie" - und nur darauf konnte nach Desnoes der „sozialistische Realismus" hinauslaufen - „führt zu einer Deformation ihrer eigentlichen Natur: Sie ist eine entfremdete Kunst." 41 Damit äußerte Desnoes einen Standpunkt, den auch Guevara (u. a. in El socialismo y elhombre nuevo en Cuba, 1965) vertrat und der in der thematisch wie formal breit gefächerten Literatur dieser Zeit dokumentiert wird.

41 Zit. nach Seymour Mentón: La narrativa de la Revolución cubana. Madrid: Playor 1978, S. 133.

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Das literarische Engagement der Schriftsteller äußerte sich im Sinne eines kritischen Realismus vor allem im Roman und in der Kurzgeschichte über die Rekonstruktion der dem Sturz Batistas unmittelbar voraufgegangenen Jahre und Monate des diktatorialen Terrors, des heroischen Widerstands oder der resignativen Passivität: beispielsweise in den Romanen Elsolapbmo (1959) von HUMBERTO ARENAL (geb. 1 9 2 6 ) , Bertillón ( 1 9 1 6 - 1 9 9 6 ) u n d La situación

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( 1 9 6 0 ) v o n JOSÉ SOLER PUIG

( 1 9 6 3 ) v o n LISANDRO OTERO (geb. 1 9 3 2 ) o d e r

den Erzählungen Asien la paz como en la guerra (1960) von GUILLERMO CABRERA INFANTE ( 1 9 2 9 - 2 0 0 5 ) u n d Los años duros ( 1 9 6 6 ) v o n JESÚS DÍAZ ( 1 9 4 1 - 2 0 0 2 ) .

Einen zweiten Themenkomplex bildeten Ereignisse und Konflikte der unmittelbar auf den Sturz Batistas folgenden Jahre: die Auseinandersetzungen zwischen dem „bürgerlichen" und dem „revolutionären" Flügel der einstigen Rebellen in Soler Puigs zweitem Roman, En elaño de enero (1963); die zwiespältige Haltung der Bourgeoisie gegenüber der Revolution in dem fiktiven Tagebuch Memorias delsubdesarrollo (1965) von EDMUNDO DESNOES (geb. 1930); oder die

Kämpfe gegen die Konterrevolutionäre im Escambray in den Erzählungen Condenados

de Condado

( 1 9 6 8 ) v o n NORBERTO FUENTES (geb. 1 9 4 3 ) .

Einen originellen, sowohl in Kuba als auch im Ausland hoch gelobten Beitrag zur (Re-)Interpretation der nationalen Vergangenheit qua Geschichtsschreibung „von unten" lieferte der Ethnologe MIGUEL BARNET (geb. 1940) mit seiner Biografia de un cimarrón (1966): die nach Tonbandaufzeichnungen niedergeschriebene Lebensgeschichte eines Schwarzen, der noch als Sklave geboren wurde und etwa ein halbes Jahrhundert persönlich erlebter Ausbeutung und Unterdrückung, aber auch Momente des Widerstands und der Rebellion rekapituliert. Dieses Verfahren, das dem Leser aus der Sicht der Betroffenen einen unvermittelten Eindruck in eine Sphäre bietet, welche in der Regel nicht zu seiner eigenen Erlebniswelt gehört, machte sich Barnet in einem weiteren Werk zunutze: Canción de Rachel (1969), der Lebensgeschichte eines ehemaligen Bühnenstars aus dem Havanna der Belle Epoque. Gleichzeitig entwickelte er das diesen Bänden zugrunde liegende theoretische Konzept der „novela testimonio" (etwa: dokumentarischer Roman), das er dem reinen testimonio, in dem Autor und Berichterstatter identisch sind, entgegenstellte. Doch nicht nur die in der Vergangenheit oder der Gegenwart Kubas wurzelnden konkret fassbaren Konflikte und Veränderungen waren Gegenstand der fiktionalen Literatur. Alejo Carpentier hatte bereits in seinem 1949 publizierten Roman El reino de este mundo den engeren Rahmen kubanischer Wirklichkeit und Geschichte gesprengt, denn der Roman schildert - in der Perspektive des „magischen Realismus", von ihm im Vorwort unter das Konzept

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Die Karibik

des „wunderbar Wirklichen" Lateinamerikas gefasst - als zentrales Ereignis die Haitianische Revolution. 1962 veröffentlichte er den historischen Roman El siglo de las luces, der die Auswirkungen der Französischen Revolution in der Karibik zum Thema hat, und auch die nachfolgenden Romane greifen Themen und Konflikte auf, die - wie etwa der 1974 publizierte Diktatorenroman El recurso del método — nicht als spezifisch kubanische, sondern als gesamtlateinamerikanische Phänomene gelten können. 42 Andere Autoren widmeten sich metaphysischen Fragestellungen der individuellen oder allgemein menschlichen Existenz, die mit der revolutionären Praxis der Gegenwart, wenn überhaupt, nur indirekt in Bezug zu setzen waren: im Theater V I R G I L I O P I N E R A (1912-1979), der schon in seinem 1948 uraufgeführten Stück Electra Garrigó über eine Aktualisierung des mythologischen Stoffes Elemente des europäischen „absurden" Theaters vorweggenommen hatte, sowie J O S É T R I A N A (geb. 1931), der mit mehreren Stücken und großem Erfolg der von Piñera eingeschlagenen Linie folgte. Weltweit den größten Erfolg errang José Lezama Lima mit Paradiso (1966), einem autobiographisch motivierten Bildungsroman, gleichzeitig auch Projekt einer barocken Ästhetik, der aufgrund der symbolischen Dichte und magischen Bildfülle fasziniert, der aber in Kuba selbst erst mit einiger Verspätung als Meisterwerk gewürdigt wurde. Die 60er Jahre kennzeichnete ein weithin herrschendes Einverständnis zwischen der politischen Elite auf der einen und den Schriftstellern und Künstlern auf der anderen Seite. Und der Staat dankte es ihnen, wie ein Zeitzeuge berichtete: „Nie zuvor waren in der Geschichte Kubas der Schriftsteller und der Künstler so umworben worden, nie zuvor waren ihnen solche materiellen Vorteile geboten worden wie unter dem Regime Castros, der sie brauchte. Nie zuvor war so viel veröffentlicht worden. Nie zuvor war ihnen eine solche Resonanz und Publizität gewährt, nie zuvor ein so hohes Ansehen und Gewicht verliehen worden." 43 Doch gegen Ende des Jahrzehnts begann man

42 Alejo Carpentier lebte ab 1966 als Kulturattache in Paris und war daher nicht direkt in die Konflikte involviert, die Ende der 60er Jahre über der Frage der künsderischen Freiheit zu einer Verhärtung der offiziellen Linie führten (s. unten). Die Tatsache, dass er in seinen Romanen nicht das postrevolutionäre Kuba zum Thema machte, wurde im Ausland von der anticastristischen Kritik als .Ausweichmanöver" gedeutet, da man ihm - trotz seiner eindeutigen Stellungnahmen für die Revolution - unterstellte, ein heimlicher Dissident zu sein. Erst 1978 veröffentlichte Carpentier mit La consagración de la primavera einen Roman, in dem nun auch die Revolution - in (wiederum) eindeutiger positiver Bewertung - thematisiert wurde. 43

cubana.

Alberto Baeza Flores, in: Carlos Alberto Montaner (Hrsg.): San Juan: Editorial San Juan, S. 76.

Diez años de revolución

2. Kulturen zwischen kolonialer Assimilation und postkolonialer Kreolisierung

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von offizieller Seite, die Autoren stärker in die „revolutionäre Pflicht" zu nehmen, und die .Affäre Padilla" signalisierte eine ideologische Verhärtung, die für die literarische Praxis nicht ohne Folgen bleiben sollte. Konflikte hatte es schon früher gegeben. Der erste Konflikt war der um Lunes de Revolución, die wöchentlich erscheinende Kulturbeilage der Tageszeitung Revolución, die sich einer orthodox-dogmatischen Linie widersetzte und eingestellt wurde. Die Prominentesten unter den ehemaligen Mitarbeitern gingen nach Europa: SEVERO SARDUY ( 1 9 3 7 - 1 9 9 3 ) als staatlicher Stipendiat zunächst nach Madrid, dann nach Paris, wo er sich nach Ablauf seines Stipendiums niederließ, ohne sich als „Exilant" zu erklären; Guillermo Cabrera Infante als Kulturattache an die kubanische Botschaft in Brüssel, bis er 1965 offiziell emigrierte, um fortan als einer der Wortgewaltigsten das Castro-Regime zu bekämpfen. In der internationalen Öffentlichkeit blieb der Konflikt um Lunes de Revolución weitgehend unbemerkt. Der „Fall Padilla" erregte dagegen weltweit Aufmerksamkeit und veranlasste zahlreiche europäische wie lateinamerikanische Intellektuelle, der Kubanischen Revolution ihre Solidarität aufzukündigen. Der Ausgangspunkt war der gegen HEBERTO PADILLA ( 1 9 3 2 2 0 0 3 ) für seinen Gedichtband Fuera del juego und A N T Ó N ARRUFAT (geb. 1935) für sein Theaterstück Los siete contra Tebas erhobene Vorwurf, in Widerspruch zur Revolution zu stehen, obgleich beide Werke vom Nationalen Schriftsteller- und Künstlerverband mit einem ersten Preis ausgezeichnet worden waren. Der eigentliche Skandal aber war, dass Padilla (nach kurzer Inhaftierung) 1971 öffentlich zur Selbstkritik gezwungen wurde, wobei er seine Frau, die Lyrikerin Belkis Cuza Male, ebenso wie zahlreiche befreundete Literaten einer gleich ihm defätistischen Haltung gegenüber der Revolution bezichtigte. Während der 70er und 80er Jahre, in denen der Schriftsteller nun gefordert war, in didaktisch-revolutionärer Perspektive zu wirken und, dem „sozialistischen Realismus" durchaus vergleichbar, einem breiten Lesepublikum die Erfolge der Revolution ebenso wie positive Handlungsmodelle zu vermitteln, traten im Roman wieder aktuelle Themen in den Vordergrund: der anfängliche, dann aber (nach Uberzeugungsarbeit durch den Helden) aufgegebene Widerstand der Bauern gegen die Agrarreform in La última mujer y el próximo combate (1971) von MANUEL C O F I Ñ O LÓPEZ (1936-1987); die Alphabetisierungskampagne in El Comandante Veneno (1977) von MANUEL PEREIRA (geb. 1948); die Rakentenkrise vom Oktober 1962 in Brumario (1980) von MIGUEL Cossio WOODWARD (geb. 1938). Einen ausgesprochenen Boom erlebte als „revolutionäre" Gattung schlechthin die Testimonialliteratur, als reines testimonio

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Die Karibik

oder als „novela testimonio" in der Linie Barnets. Dieser publizierte als drittes und viertes Werk innerhalb seiner Tetralogie Gallego (1981), die Lebensgeschichte eines nach Kuba eingewanderten Spaniers, und La vida real (1986), die Lebensgeschichte eines in den 40er Jahren in die USA ausgewanderten Kubaners. Die meisten Werke innerhalb derTestimonialliteratur waren jedoch reine testimonios: autobiographische Texte, die im Wesentlichen der Überhöhung der eigenen Person dienten und heute kaum noch von Interesse sind. Von dieser Kritik auszunehmen sind einige wenige: etwa Conversación con el último norteamericano (1973) von ENRIQUE CIRULES (geb. 1938), Aquí se habla de combatientes y de bandidos (1975) von RAÚL GONZÁLEZ DE CASCORRO (geb. 1922) und La fiesta de los tiburones (1978) von REYNALDO GONZÁLEZ (geb. 1940). Die große Nachfrage beim Lesepublikum ebenso wie die zahllosen von amtlicher Seite geschaffenen Literaturpreise bewirkten für die Testimonialliteratur eine ausgesprochen inflationäre Tendenz. Dasselbe galt sehr bald auch für die gleichermaßen populäre und in ihrer ideologischen Ausrichtung gleichermaßen als Paradigma „revolutionärer" Literatur ausgestaltete Gattung des Kriminal- und (Anti-)Spionageromans. Einer der interessantesten und in der anvisierten revolutionären Perspektive gelungensten Romane dieser Gattung ist Ysi muero mañana (1980) von Luis ROGELIO NOGUERAS (1945-1985), der die Konfrontation mit dem kubanischen Exil in Miami zum Thema hat. Doch die manichäistische Weltsicht und die Stilisierung des in Erfüllung seiner revolutionären Pflicht untergehenden Helden, dem „für seine heroische Haltung und konsequente kommunistische Handlungsweise"44 posthum eine hohe Ehrung zuteil wird, mag heute kaum noch dazu beitragen, das revolutionäre Bewusstsein der kubanischen Leser zu formen oder zu stärken.45 Die Krise der 90er Jahre blieb nicht ohne Auswirkungen auf das Kulturschaffen. Die politische Öffnung erlaubte manchen Intellektuellen, die sich

44

Zit. aus einem im Epilog abgedruckten (vorgeblich) offiziellen Dokument (La Habana: Editorial Letras Cubanas 1980, S. 167). 45 Berücksichtigt wurde vorwiegend die fiktionale Prosa; für die Lyrik und das Theater seien nur die wichtigsten Autoren benannt: für die Lyrik neben Antón Arrufat, Miguel Barnet und Luis Rogelio Nogueras auch PABLO A R M A N D O FERNÁNDEZ (geb. 1 9 3 0 ) , FAYAD JAMÍS ( 1 9 3 0 - 1 9 8 8 ) , ROBERTO FERNÁNDEZ RETAMAR (geb. 1 9 3 0 ) , der auch als Essayist, u. a. mit Calibán. Apuntes sobre la cultura en nuestra América ( 1 9 7 1 ) , hervorgetreten ist, sowie N A N C Y M O R E J Ó N (geb. 1 9 4 4 ) , die in der Linie Nicolás Guilléns auch eine engagiert afrokubanische Perspektive vertritt; für das Theater neben Virgilio Piñera, José Triana und Antón Arrufat auch ABELARDO ESTORINO (geb. 1 9 2 5 ) und H É C T O R Q U I N T E R O (geb. 1 9 4 2 ) .

2. Kulturen zwischen kolonialer Assimilation und postkolonialer Kreolisierung

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nicht als „Dissidenten" erklären mochten, das „samtene" Exil, so dass heute kubanische Literatur „auf beiden Ufern" geschrieben wird: in Kuba ebenso wie in den USA, Lateinamerika und Europa. Einige Autoren schreiben „Exilliteratur", andere schreiben (als Angehörige einer ethnischen Minderheit in den USA) „ethnische Literatur";46 wiederum andere schreiben - in Kuba und außerhalb Kubas - „kubanische" Literatur, die heute vorwiegend in Spanien publiziert wird. Als die bedeutendsten Autoren der „Diaspora" galten Guillermo Cabrera Infante und Severo Sarduy, die beide mit den Konventionen des traditionellen Realismus brachen und durch Sprachneuschöpfung wie Sprachmagie zur experimentellen Avantgarde der lateinamerikanischen „nueva novela" einen wichtigen Beitrag leisteten: Cabrera Infante mit seinem Roman Tres tristes tigres (1967), einer parodistisch aufgeladenen Collage von Handlungsfragmenten im Umfeld der Bars und Nachtclubs im vorrevolutionären Havanna; Sarduy mit insgesamt sieben Romanen, darunter als besonders gelungenes Beispiel für seine experimentelle und ironisch gebrochene Schreibweise De donde son los cantantes (1967), eine Wanderung auf den Spuren der spanischen, afrikanischen und chinesischen Wurzeln kubanischer Identität. Für die jüngeren Autoren in Kuba wie außerhalb Kubas, die während der 90er Jahre publizierten, gewann Literatur eine kathartische Funktion, indem sie sich über den Akt des Schreibens von der einst gefeierten Revolution „verabschiedeten". Dies galt für den Roman La piel y la máscara (1996) von Jesús Díaz ebenso wie für die Autobiographie Informe contra mí mismo (1997) von ELÍSEO ALBERTO (geb. 1951), der überzeugendste Text unter den mittlerweile zahlreich erschienenen Autobiographien (exil-)kubanischer Autoren, da sich der Autor der Polemik enthielt und seine durchaus ungeschminkte Kritik an Fehlentwicklungen der Revolution in historischer Perspektive begründete. Beide Texte sind Zeugnis der Desillusionierung, des „Scheiterns der Utopie der Revolution",47 wie es bei Alberto heißt; und diese Desillusionierung findet sich im Zentrum der Romane auch bei Autoren, die weiterhin auf der Insel leben, bei PEDRO J U A N GUTIÉRREZ (geb. 1950) ebenso wie bei LEONARDO PADURA FUENTES (geb. 1955), den gegenwärtig meistkommentierten kubanischen Autoren. Bei Gutiérrez — in seinen Erzählungen Trilogía sucia de La Habana (1998) und seinem ersten Roman, El Rey de La Habana (1999) — ist Havanna Sinnbild der Revolution: eine gänzlich verkommene, von Huren, Zuhältern, Bett46

Vgl. hierzu Kap. 7.

47

Informe contra mí mismo. Madrid: Alfaguara 1997, S. 80.

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Die Karibik

lern und Kriminellen bevölkerte Stadt, in der jeder mit jedem kopuliert und Sexualität stets mit brutaler Gewalt verknüpft ist. Die in einer obszön-aggressiven Sprache dargebotene und gezielt auf Schockeffekte setzende Schilderung des städtischen Ambiente veranlasste den (spanischen) Verlag, den Autor auf gezielte Weise zu vermarkten: als „eine Art karibischer Bukowski oder kubanischer Henry Miller". 48 Padura Fuentes überzeugt dagegen durch die leisen Töne, mit denen sein Protagonist in der Tetralogie „Die vier Jahreszeiten" - Pasado perfecto (1991), Vientos de cuaresma (1994), Máscaras (1997), Paisaje de otoño (1998) - seiner Desillusionierung Ausdruck verleiht. Die vier Romane folgen dem Schema des Kriminalromans; doch die Ermittlerfigur ist nicht (mehr) der revolutionäre Held jener Krimis, die in der Vergangenheit als didaktisch wertvoller Beitrag zu einer „revolutionären" Literatur willkommen waren. Als Zeitzeuge ist er angesichts der desolaten Versorgungslage, angesichts auch des weithin herrschenden Panoramas von Inkompetenz und Korruption, Angepasstheit und Opportunismus zu einem Skeptiker geworden, sich selbst und seiner Umwelt entfremdet. Sein „Abschied" von der Revolution, mit der er sich einst identifizierte, manifestiert sich im letzten Teil der Tetralogie in dem Entschluss, seinen Beruf als Kriminalpolizist aufzugeben und einen Roman zu schreiben: [...] er würde eine Geschichte der Frustration und der Täuschung schreiben, eine Geschichte der Ernüchterung und des Scheiterns und des Schmerzes, den die Erkenntnis hervorruft, dass man sich, selbstverschuldet oder nicht, sämtliche Wege versperrt hat. Das war sein entscheidendes Generationserlebnis, das so tief verwurzelt war und so gut genährt wurde, dass es mit den Jahren immer überwältigender wurde, und er kam zu dem Schluss, dass es der Mühe wert war, aufgeschrieben zu werden als einzig wirksames Mittel gegen das Schlimmste aller Vergessen und als gangbarer Weg, um ein für alle Mal zum diffusen Kern jenes unmissverständlichen Missverständnisses zu gelangen: Wann, wie, warum und wo hatte alles begonnen, den Bach runterzugehen? Wie viel Schuld (wenn überhaupt) hatte jeder von ihnen? Wie viel er selbst? 49

48

So der Werbetext auf der Banderole zum Umschlag der 4. Auflage der Trilogía sucia (1999). 49 Paisaje de otoño. Madrid: Tusquets 1998, S. 26.

2. Kulturen zwischen kolonialer Assimilation und postkolonialer Kreolisierung

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6 „ B I N N E N K U L T U R " UND „ G E G E N K U L T U R " : VON DER L I T E R A R I S C H E N U N D M U S I K A L I S C H E N F O L K L O R E ZU C A L Y P S O , R E G G A E , R A S T A - I D E O L O G I E UND L A T I N O R A P

In den kolonialen und postkolonialen Gesellschaften der Karibik war Schriftkultur als „Hochkultur" im Wesentlichen die Sache einer als kulturtragende intellektuelle Elite ausgewiesenen Minderheit, die - mochte sie auch häufig zur Ideologie der staatstragenden Eliten in Opposition stehen - die einzig anerkannte Version eines kolonialen oder nationalen Kulturverständnisses z u m Ausdruck brachte. Dagegen stand die durch mündliche Uberlieferung herausgebildete „Volks-" oder „Popularkultur", aus der Sicht ebendieser intellektuellen Eliten geringschätzig als „Folklore" bezeichnet: die kulturellen M a nifestationen jener, die innerhalb der Gesellschaft zwar die Mehrheit darstellten, deren kreative Originalität von der herrschenden Minderheit aber lange Zeit unterdrückt, bestenfalls ignoriert oder toleriert, schließlich von einigen Vertretern dieser Minderheit „entdeckt" und aufgewertet wurde. Für Jean Price-Mars, den Begründer des haitianischen Indigenismus, war „Folklore" (entsprechend der ursprünglichen Wortbedeutung) „le savoir du peuple", ein Wissensvorrat, in d e m sich die Gemeinschaft in symbolhafter Verdichtung Ausdruck verleiht und gleich einem Spiegel in ihrer Einzigartigkeit erkennt. 5 0 In diesem Sinn ist „Folklore" genuiner Ausdruck einer kollektiven Weltsicht und bietet als Teil der Alltagspraxis aufgrund ihrer kommunikativen Funktion Strategien der Selbstbehauptung von Individuum und Gemeinschaft. Begründet lagen jahrhundertelange Missachtung wie neuerliche Aufwertung in ein u n d demselben Phänomen. Während der Sklaverei ebenso wie in den nachfolgenden „freien" Gesellschaften konnten die Farbigen aufgrund ihrer nur vordergründig erfolgten Assimilierung an die europäisch orientierte Kultur der Herrschenden die vorwiegend im afrikanischen Erbe wurzelnden kulturellen Traditionen in einer Authentizität bewahren, die von der herrschenden Bourgeoisie als Ausdruck einer „primitiven", minderwertigen Rasse gegeißelt, dann aber von den progressiven, sich ihrer fortgeschrittenen Entfremdung bewusst gewordenen intellektuellen Eliten als wertvoller Beitrag für die Formulierung einer nationalen Identität gewertet wurde. D a s Uberleben dieses afrikanischen Erbes - etwa in der oralen Erzähltradition, in den religiösen Glaubensinhalten und Riten, in M u s i k und Tanz - wurde zunächst von den weißen Kolonialherren durch Restriktionen und Verbote 50

Ainsiparla

l'oncle. Nouvelle edition. Ottawa: Lemeac 1973, S. 49-52.

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Die Karibik

erheblich erschwert. So wurden die Sklaven bei ihrer Ankunft in der Karibik in der Regel von ihren mitgefangenen Familien- und Stammesangehörigen getrennt und auf den Plantagen mit Sklaven anderer Ethnien zusammengepfercht, deren Kultur ihnen wenig vertraut, deren Sprache ihnen häufig unverständlich war. Aus Furcht vor einer möglichen Rebellion waren ihnen größere Versammlungen, das Feiern profaner oder religiöser Feste außerhalb des kirchlich-orthodoxen Rahmens, ja sogar Musik und Tanz häufig bei Androhung schwerster körperlicher Züchtigung untersagt - es sei denn, derlei Vergnügungen erschienen dem Sklavenhalter, der sich selbst nicht immer der Faszination dieser ihn orgiastisch anmutenden Feste zu entziehen vermochte, als probates Mittel, die Libido seiner Sklaven zu steigern und so die Vermehrung seines menschlichen Eigentums zu fördern. Doch die Sklaven, insbesondere die sogenannten Feldsklaven, die - anders als die Haussklaven - mit der Welt der Weißen nur oberflächlich in Berührung kamen, entwickelten adäquate Techniken und Strategien, um zumindest einen Teil ihres kulturellen Erbes und damit den für das psychische wie physische Überleben notwendigen soziokulturellen Rahmen zu erhalten bzw. den neuen Bedingungen anzupassen. Diese Bedingungen waren in den spanischen, französischen und englischen Kolonien durchaus unterschiedlich, so dass sich der Anpassungs- oder Kreolisisierungsprozess auch unterschiedlich gestaltete. Am reinsten erhielten sich die afrikanischen Kulturtraditionen als „Binnenkultur" dort, wo sich endaufene Sklaven über einen längeren Zeitraum isolieren und ein eigenständiges Gemeinwesen erhalten konnten: etwa bei den sogenannten Buschnegern im heutigen Guyana und Suriname oder den maroons im westjamaikanischen Cockpit Country. Aber auch dort, wo es — wie in Kuba — für die in den Städten lebenden Sklaven leichter als in den englischen Kolonien war, sich freizukaufen, wo sich demzufolge eine breite Schicht freier Farbiger etablieren konnte, blieb aufgrund ihnen gewährter Freiräume das afrikanische Erbe lebendig, in den sogenannten cabildos immer aufs Neue reaktiviert und reaktualisiert. Dasselbe galt fiir Haiti, wo sich die ländliche Bevölkerung (nach der Unabhängigkeit) in einem kulturellen Raum bewegte, der von der europäisch orientierten Schriftkultur gänzlich isoliert blieb, wo die Menschen aufgrund ihrer wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Marginalisierung auch kaum Gefahr liefen, wie dies in den britischen Kolonien geschah, über eine rigide administrative Kontrolle und Repression wesentliche Elemente ihres afrikanischen Erbes einzubüßen. Als eigenes, originäres Kommunikationsmittel schufen die Sklaven je nach der sprachlichen Kontaktsituation die Kreolsprachen, in denen Elemente einer europäischen Basissprache mit afrikanischen Sprachelementen zu einem mut-

2. Kulturen zwischen kolonialer Assimilation und postkolonialer Kreolisierung

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tersprachlichen System verknüpft wurden. Diese Kreolsprachen verfügten (und verfügen noch heute) über sehr differenzierte Ausdrucksmöglichkeiten, da sie jedem nur denkbaren kommunikativen Bedürfnis innerhalb der Gemeinschaft gerecht werden mussten - ganz im Gegensatz zu den Pidginvarietäten, die als Verkehrssprache zwischen dem Sklaven und seinem Herrn nur über einen sehr beschränkten, ihrer Funktion angemessenen Wortschatz zu verfügen brauchten. Kommunikative Strategien des spirituellen, aber auch konkret physischen Uberlebens boten den (ehemaligen) Sklaven auch die über den Kulturkontakt entstandenen afroamerikanischen Religionen wie die santería oder Regia de Ocha in Kuba oder der Vodu in Haiti: 51 kohärente Systeme religiös-magischer Glaubensinhalte und Praktiken westafrikanischen Ursprungs, die (nach weithin vertretener Auffassung) mit dem Katholizismus eine synkretistische Verbindung eingingen. Doch erschöpft sich dieser vielbeschworene Synkretismus in einer im Wesentlichen nur formal-bildlichen Assimilierung bestimmter christlicher Elemente, die nicht darüber hinwegtäuschen darf, dass sich hier - entsprechend der Symbolik Frantz Fanons - die „schwarzen" Götter hinter „weißen" Masken verbergen. Die Glaubensinhalte dieser im mythisch-magischen Denken wurzelnden Religionen repräsentierten fiir den Gläubigen eine spezifische Form der WirUichkeits^Mj/^k;«»^, gleichzeitig gewährten sie dem in seiner prekären materiellen Existenz bedrohten Menschen auch Möglichkeiten der WirUichkeits¿fMw7ízg"w«£ über magische Praktiken, die nach seinem Dafürhalten ganz konkrete Hilfestellung leisten konnten. Prozesse der Akkulturation oder Assimilation - oder (nach Fernando Ortiz) der Transkulturation - waren unvermeidbar und führten zu jenen hybriden oder kreolischen kulturellen Ausdrucksformen, die für die Karibik charakteristisch sind. Dabei war die Gefahr der Entfremdung von den eigenen Wurzeln gleichermaßen unvermeidbar, denn für die freien Farbigen wie für die Mulatten galt die möglichst perfekte Übernahme der moralisch-ethischen Vor-

51

In den britischen Kolonien, in denen die Sklaven ebenso wie die freien Farbigen (nach der Abolition) einer stärkeren Kontrolle unterlagen und (anders als in Kuba) nach dem Verbot des Sklavenhandels 1804 kaum noch afrikanische Sklaven eingeführt wurden, finden sich keine ähnlich elaborierten, auf die Sklaverei zurückgehenden afroamerikanischen religiösen Systeme. (Der Shango-Kult in Trinidad ist relativ rezenten Ursprungs ebenso wie die neoafrikanischen Kulte in Jamaika.) Hier wirkten mit besonderer Durchschlagskraft: die missionarischen Bemühungen protestantischer Kirchen, die heute noch in den verschiedenen afroprotestantischen Revival-Kulten wie Pocomania (oder Pukkumina) u n d Zion lebendig sind.

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Die Karibik

Stellungen und Verhaltensweisen der Weißen als förderlich, wollte man den angestrebten wirtschaftlichen und sozialen Aufstieg erreichen. Eine gewisse Anpassung an die neuen Lebensbedingungen erfuhr auch die mündliche Erzähltradition, die im gesamten karibischen Raum zu einem wesentlichen Teil auf afrikanische Vorbilder zurückgeht, die aber vor dem Hintergrund der amerikanischen Wirklichkeit sehr bezeichnende Korrekturen erfuhr. Um ein Beispiel zu nennen: In den in Haiti noch heute populären Geschichten von Bouki und Ti Malice, die auf den westafrikanischen Fabelzyklus von der Hyäne und dem Hasen zurückgehen, enthüllt sich in ungeschminkter Offenheit die Weltsicht des in materieller Not lebenden Schwarzen, der, wollte er überleben, es sich nicht leisten konnte, dem Ideal einer christlichen Lebensführung nachzustreben, der nur dann eine Uberlebenschance hatte, wenn er sich Ti Malice und nicht Bouki zum Vorbild nahm. Bouki ist zwar von außergewöhnlicher körperlicher Kraft, aber gutmütig und einfältig, bisweilen schlicht d u m m und stets zu gutgläubig, um die Fallen, die ihm sein Gefährte stellt, zu umgehen oder auch nur zu erkennen. Ti Malice dagegen ist schlau und verschlagen, egoistisch und boshaft, ein Lügner und Dieb, ein Schönredner und Heuchler, der zwar körperlich unterlegen, aber dennoch stets der Gewinner ist. Die „Abenteuer", die sie gemeinsam erleben, und die „Prüfungen", die sie zu bestehen haben, sind immer durch dieselbe Sorge motiviert: die Sorge um die Befriedigung ihres unstillbaren Hungers. Und die — pragmatische, wenig christliche — „Moral" der Geschichten ist stets: Recht hat und zum Ziel kommt derjenige, der (wie Ti Malice) mit Raffinesse und Skrupellosigkeit den (wie Bouki) allzu gutgläubigen und gutmütigen Leidensgenossen überlistet und aus dem Felde schlägt. Bouki und Ti Malice repräsentieren - im Extrem - zwei Typen und Handlungsweisen im täglichen Kampf ums Uberleben in einer feindlichen, von Hunger und Unterdrückung beherrschten fiktionalen Welt. Eine Identifikation beider Typen mit sozialen Gruppen der historisch-realen Welt bietet sich an: So wäre Bouki - mit Blick auf die Sklavenhaltergesellschaft - die Verkörperung des aus Afrika importierten und noch nicht adaptierten neg bosal, dem zwar das Mitgefühl der Zuhörer gelten mochte, dessen Beispiel zu folgen aber kaum angeraten schien; und Ti Malice entspräche dem in Amerika geborenen, weitgehend angepassten neg kreyol, dem der Zuhörer zwar seine Sympathie, nicht aber seine Bewunderung vorenthalten mochte. 52

52 So die Interpretation von Jean Price-Mars in seinem zitierten Essayband Ainsi parla l'oncle (a.a.O., S. 57). Jacques Stephen Alexis, der mit seinem „Dit de Bouqui et de Malice"

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Geschichten wie die von Bouki und Ti Malice finden sich überall in der Region. Im anglophonen Raum und insbesondere in Jamaika ist das populäre Gegenstück zum haitianischen Ti Malice der Spinnenmann Anancy, der ebenfalls auf ein afrikanisches Vorbild zurückgeht und dem es wie Ti Malice stets gelingt, körperliche Unterlegenheit durch List und Skrupellosigkeit wettzumachen. In den ehemaligen spanischen Kolonien — etwa in den besonders in Puerto Rico weitverbreiteten Geschichten von Juan Bobo, Juan Animala (oder Urdemala) und Juan Cuchilla - wurde der Prototyp dieses populären Helden durch den Einfluss des spanischen Schelmenromans stärker differenziert. Geblieben ist auch hier die allen verwandten Geschichten zugrunde liegende rein utilitaristische Lebensphilosophie, die sich gewiss auch in der volkstümlichen europäischen Tradition finden lässt, die aber im karibischen Raum aufgrund der andauernden wirtschaftlichen Misere bei der Mehrheit der Bevölkerung noch heute ungebrochene Aktualität besitzt. Im spanischsprachigen Raum wurde der oralen Tradition durch die um ein kreolisches Selbstverständnis ringende Bourgeoisie im „costumbrismo criollo" bereits während des 19. Jahrhunderts zu literarischen Ehren verholfen. In Haiti war es die Schule der Indigenisten, die auf der Suche nach dem authentischen afrikanischen Erbe den volkstümlichen Erzählungen die ihnen gebührende Aufmerksamkeit zukommen ließ. Und auch im englischsprachigen Raum wurde seit den 60er Jahren - insbesondere durch die Neuschöpfungen der Jamaikanerin Louise Bennett - die Volksdichtung aus ihrem Schattendasein befreit. Doch bei allen Bemühungen der intellektuellen Eliten um eine angemessene Würdigung der oralen Tradition kann von einer weitgehenden Annäherung oder sogar gegenseitigen Durchdringung von „Hochkultur" und

(enthalten in Romancero aux étoiles [i960]) eine moderne Version der traditionellen Erzählelemente lieferte, präsentierte Malice als Mulatten, nach Alexis Vertreter einer parasitären Bourgeoisie. In Guadeloupe und Martinique gibt es - neben dem Zyklus von Conpè Zamba und Conpè Lapin, die in ihrer psychischen Disposition und ihren Verhaltensweisen Bouki und Ti Malice entsprechen - mit dem Protagonisten Ti Jean einen weiteren, sehr viel später entstandenen Erzählzyklus, der eine ganz andere „pädagogische" Intention verrät. D e n n hier geht es nicht mehr um die Propagierung einer pragmatisch-utilitaristischen, sondern einer christlich-humanitären „Moral": nach Maryse Condé Zeichen einer weitgehenden Entfremdung des (ehemaligen) Sklaven, „der sich spirituell den Qualitäten anzunähern sucht, die er für die besonderen Qualitäten seines Herrn hält" (La civilisation du bossale. Réflexions sur la littérature orale de la Guadeloupe et de la Martinique. Paris: L'Harmattan 1978, S. 41). In Haiti existiert kein vergleichbarer Zyklus: Anzeichen dafür, dass der haitianische Farbige weit weniger an die europäische Zivilisation assimiliert ist als der (bis heute der Kolonisierung unterworfene) Farbige auf den Antillen.

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„Volkskultur" nicht gesprochen werden. Allein in jenen Werken, die dem „magischen Realismus" und dem Konzept der „créolité" verpflichtet sind, wurde der Versuch unternommen, einzelne Elemente der volkstümlichen Tradition aus ihrem isolierten Umfeld der Folklore herauszuholen und in die Sphäre der „anerkannten" Schriftkultur zu integrieren. Ein ganz anderer Erfolg als der literarischen war der musikalischen Tradition beschieden, die gleichermaßen auf afrikanische Ursprünge oder Einflüsse zurückzuführen ist und die bereits in den Sklavenhaltergesellschaften von der kolonialen, ja sogar von der europäischen „feinen Gesellschaft" — trotz gewisser Vorbehalte moralischer Natur - kopiert wurde. Allerdings waren die Europäer weder in der Lage noch geneigt, dem stark markierten Rhythmus einer Calenda, einer Chica oder einer Yuca durch die angemessenen Bewegungen zu entsprechen, da diese dem Tänzer eine ungewohnte Agilität abverlangten und die diesen Tänzen zugrunde liegende Symbolik - Liebeswerben mit abschließender Vereinigung der Partner - in einer Weise pantomimisch übersetzten, die von den Europäern als unzüchtig erachtet werden musste. So wurden die karibischen „Volks"-Tänze auf europäischem Parkett als „Gesellschafts"-Tänze stilisiert und ihres ursprünglichen Sinngehalts weitgehend beraubt. Der Calenda und der Chica folgte im 20. Jahrhundert eine ganze Reihe anderer Tänze: die Rumba, eine Variante der Yuca, der Tango (allerdings auf dem Umweg über Argentinien), Foxtrott, Shimmy, Charleston, Mambo, Cha-ChaCha und viele andere, die in Europa und den USA Triumphe feierten. Doch damit war die überaus reiche musikalische Tradition des karibischen Raums noch lange nicht erschöpft. Aufgrund des massiven Zustroms europäischer bzw. spanischer Siedler führte in der spanischsprachigen Karibik, insbesondere in Kuba, der Einfluss europäischer Musikstile zu einer weiteren Ausdifferenzierung der Musik- und Tanzformen, bewirkte aber auch deren klassenspezifische Auffächerung. So vergnügte sich die vorwiegend weiße Bourgeoisie lange Zeit mit „Gesellschaftstänzen" wie Menuett, Quadrille oder Walzer, während die vorwiegend schwarze Unterschicht die Rumba zu einem wichtigen Bestandteil städtischer Subkultur entwickelte. Doch in dem Maße, wie in der Perspektive eines kulturellen Nationalismus Musik als Identitätszeichen entdeckt und propagiert wurde, kam es im spanischsprachigen Raum zu einer Annäherung und Vermischung europäischer und afrikanischer bzw. afroamerikanischer Musikstile, die wiederum originäre Formen hervorbrachte. In Kuba galt bis in die 1930er Jahre der Danzón als „nationales" Kulturgut. Ihm erwuchs aber bereits in den 20er Jahren Konkurrenz durch den Son, der zwar — wie der Danzón und die Rumba - in seinen

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Texten gleichermaßen respektlos den kubanischen Alltag kommentierte, der aber in seiner Choreographie weniger subtil und komplex war und dem das berühmte „Sexteto Habanero" zum Durchbruch verhalf. In Puerto Rico wurde als Gegenstück zum kubanischen Danzön die Danza als nationaler Musikstil propagiert. Das spezifisch afrikanische Erbe der Sklavenhütten wurde dagegen in der Perspektive einer als dominant „hispanisch" begriffenen puertorriquenidad zurückgedrängt, was aber nicht verhinderte, dass afroamerikanisch geprägte Musikstile wie Bomba und Plena vor allem während der 50er Jahre durch Rafael Cortijo ungeheure Popularität erlangten. In der Dominikanischen Republik, wo man sich ebenso wenig auf ein afrikanisches Erbe berufen mochte, wurde der auf europäische Ursprünge zurückgehende, in seiner Rhythmisierung allerdings „afrikanisierte" Merengue zum Inbegriff nationaler „Volkskultur", vom Diktator Trujillo 1936 per Dekret verfugt - was ihm die Dominikaner dankten, indem sie in einem überaus populären Merengue 1961 seine Ermordung feierten. Für die kubanische Musikszene verstärkte sich mit der Revolution ein Trend, der bereits Jahrzehnte zuvor eingesetzt hatte, denn wie zuvor der Mambo wurde nun auch die Salsa, gleichermaßen ein genuin kubanischer Musikstil, gewissermaßen internationalisiert. Das Zentrum der Musikszene war New York City, die Musiker kamen aus Kuba, Puerto Rico und der Dominikanischen Republik, bis die Salsa schließlich die gesamte westliche Welt eroberte. In Kuba selbst war man von der Dynamik der New Yorker Musikszene weitgehend abgeschnitten. Hier entwickelte sich seit Ende der 60er Jahre mit (u. a.) Pablo Milanes und Silvio Rodriguez die „NuevaTrova", die mit ihren politisch engagierten Songs in Europa auf breite Resonanz stieß. Einen noch größeren Erfolg weltweit erlangte kubanische Musik über den von Wim Wenders gedrehten Dokumentarfilm „Buena Vista Social Club" (1999) und die den Film ergänzenden Alben: eine nostalgische Rückwendung zu traditionellen Formen wie Danzön, Bolero, Guajira und Son, die, so kubanische Kritiker, den auch in Kuba erfolgten Dynamisierungsprozess traditioneller Musikstile ignorierte. In der anglophonen Karibik dominierten — bis auch hier, wie andernorts, der multinational vermarktete Disco- und Technosound aus den USA herüberschwappte - zwei genuin afrokaribische Gesangs- und Tanzformen: der Calypso aus Trinidad und der jamaikanische Reggae. Der Calypso, ursprünglich ein improvisierter Wechselgesang, berichtet und kommentiert nach dem afrikanischen Ruf-und-Antwort-Schema die kleinen, unbedeutenden Geschehnisse des Alltags ebenso wie die aktuellen Ereignisse der nationalen und internationalen Politik oder den mit sexuellen Pikanterien gewürzten gesell-

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schaftlichen Klatsch. Doch der Calypsosänger in der Tradition eines Lord Kitchener, eines Slinger Francisco („The Mighty Sparrow") oder der berühmtesten weiblichen calypsonian, Calypso Rose, dient nicht nur der Information und trivialen Unterhaltung seiner Zuhörer. Er ist auch „Volkes Stimme" und das „soziale Gewissen" der Nation, und hinter der Maske von Hohn, Spott und Ironie verbirgt sich nicht selten die Trauer um die Leiden des Volkes in Vergangenheit und Gegenwart. Dem Calypso verwandte Gesangsformen gab und gibt es auch in anderen Regionen der Karibik. Doch nirgendwo erlebte er - ebenso wie der Karneval, mit dem der Calypso untrennbar verbunden ist - eine vergleichbare Popularität, die den Calypso in seiner Variante als Soca oder Sokah mittlerweile auch für die indischstämmige Bevölkerung in Trinidad attraktiv werden ließ. Mit den Songs eines Harry Belafonte, in denen der karibische Raum ausschließlich von „happey-darkeys" bevölkert ist, wurde der Calypso außerhalb der Region schließlich in einer Weise vermarktet, die mit der ursprünglichen Gesangsform kaum mehr als den Rhythmus gemein hatte und die fundamentale sozialkritische Aussage in Vergessenheit geraten ließ. Eine ähnliche Entwicklung durchlief dank der Assimilierungsfähigkeit des internationalen Showgeschäfts der dem Calypso in seiner kritischen Intention verwandte jamaikanische Reggae, der aber in Jamaika selbst seine Nähe zum soziokulturellen Kontext, vor dem er entstand, bewahrte: ein Kontext, der die jamaikanische Musik aus dem „harmlosen" Umfeld der Folklore herausführte und zum Inbegriff einer politisch-sozialen Protestbewegung werden ließ, die in Verbindung mit der Ideologie der Rastafari eine militante „Gegenkultur" entwickelte. Der Reggae entstand - in der Nachfolge von Mento, Ska und Rocksteady Ende der 60er Jahre in den Slums von Kingston vor dem Hintergrund extremer sozialer Konflikte, massiver Arbeitslosigkeit und wachsender Kriminalität. Was Reggae bedeutet, hat einmal Frederick „Toots" Hibbert von den „Maytals" in einem Interview so formuliert: „Reggae heißt, das kommt von den Leuten. Wie was Alltägliches. Wie vom Ghetto, von der Mehrheit. Alltägliches, was die Leute brauchen wie Essen. Wir geben nur Musik dazu und machen einen Tanz draus. Reggae heißt regulär people, normale Leute, denen es schlecht geht und die nicht haben, was sie wollen."53 Wie das Leben dieser Mehrheit in den Kingstoner Ghettos aussah (und aussieht), schildert in dramatischer Weise der 1972 von dem Jamaikaner Perry Henzell produzierte Film „The Härder They 53

Zit. nach Stephen Davis/Peter Simon: Reggae Bloodlines. In Search of the Music and

Culture of Jamaika.

Garden City (New York): Doubleday/Anchor Press 2 1979, S. 17.

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Come", der Jimmy Cliff eine steile Karriere eröffnete und dem Reggae auch in Europa zum Durchbruch verhalf. Um den zäh erkämpften und letztlich in tragischer Sinnlosigkeit endenden Aufstieg eines Slumjungen aus Trench Town zum gefeierten Reggae-Star und (allerdings auf der „falschen Seite" des Gesetzes stehenden) Volkshelden enthüllt sich ein alles Leben erstickender Sumpf von Drogenhandel und Kriminalität, Gewalt und Korruption, Elend und Hoffnungslosigkeit. Bereits während der frühen 70er Jahre wurden die Reggae-Texte etwa bei Bob Marley und Peter Tosh aggressiver und zum Vehikel eines die Gewalt propagierenden Widerstands gegen die herrschende, durch die europäische bzw. US-amerikanische Konsumgesellschaft den afrikanischen Wurzeln entfremdete Bourgeoisie. Für diese Entwicklung nicht unerheblich war der Einfluss der Rastafari — benannt nach dem als Gott verehrten und 1975 gestorbenen ehemaligen äthiopischen Kaiser RasTafari Makonnen = Haile Selassie I., „King of Kings", „Lord of Lords" und „Conquering Lion of the Tribe of Judah". Die Rasta, nach ihren zu festen Strähnen geschlungenen Haaren auch Dreadlocks genannt, betrachten sich als das auserwählte Volk, die Kinder Israels, die nach ihrer Versklavung in Jamaika in babylonischer Gefangenschaft gehalten werden und die gemäß der Voraussage des als Nationalheld und Prophet gefeierten Marcus Garvey in das gelobte Land Afrika bzw. Äthiopien zurückkehren werden. In den 40er Jahren hatten die Rasta noch nach alter maroon-Tradition in völliger Autonomie und von der Außenwelt abgeschirmt in ländlichen Kommunen gelebt und sich durch den Anbau der ganja, des jamaikanischen Marihuana, über Wasser gehalten. Als diese Kommunen Mitte der 50er Jahre durch staatliche Intervention aufgelöst wurden, strömten die Rasta in die Slums von Kingston, wo sie schon bald den illegalen ganja-Handel kontrollierten und für die verschreckte Bourgeoisie zum Synonym von Kriminalität und Terror wurden. Der Einfluss der Rasta-Ideologie, die sich innerhalb ihres religiös-politischen Kontexts nicht nur in Kleidung, Haartracht und übermäßigem ganja-Genuss, sondern auch in der Sprache und der mehr dem Jazz verwandten Musik manifestiert, war anfänglich als Subkultur auf die outcasts der jamaikanischen Gesellschaft beschränkt, gewann dann aber auch bei Angehörigen der Mittelschicht und Intellektuellen zunehmend an Attraktivität. Zwar wird ihnen von der Linken das Fehlen eines revolutionären, auf die strukturelle Veränderung der jamaikanischen Gesellschaft abzielenden Bewusstseins vorgeworfen; und schließlich ist ein Großteil der Rasta von den politisch-religiösen Prinzipien oder gar von der Notwendigkeit einer Rückkehr nach Afrika nicht mehr allzu sehr überzeugt.

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Doch die Rasta-Kultur, als deren Träger sich der größte Teil der Reggae-Sänger begreift und zu deren Verbreitung diese auch nicht unwesentlich beigetragen haben, bietet den um soziale Anerkennung und kulturelle Identität ringenden Jamaikanern als „Gegenkultur" Identifikationsmöglichkeiten, wie sie die Literatur bei allem sozialkritischen Engagement nicht zu bieten vermag. Zwar versuchten die Politiker beider Lager in Jamaika, den Reggae für ihre propagandistischen Zwecke dienstbar zu machen; zwar konnte sich der Reggae mit Rücksicht auf den Export einer gewissen Kommerzialisierung und damit Verflachung des politischen und sozialkritischen Inhalts nicht entziehen. Doch dem Jamaikaner weist der Roots-Reggae weiterhin den Weg zu kultureller Emanzipation, auch wenn dieser mittlerweile durch andere Variationen wie Raggamuffin (oder Ragga) und Reggaeton sowie andere Musikstile wie Dancehall Konkurrenz erhalten hat. Spätestens seitdem Bob Marley 1994, dreizehn Jahre nach seinem Tod, in die Rock and Roll Hall of Fame aufgenommen wurde, gehört Reggae — neben Jazz, Blues, Rock und Funk - zu den geläufigsten Musikstilen der internationalen Unterhaltungsindustrie. Neuere Entwicklungen der karibischen Popmusik kommen heute aber nicht mehr aus der Karibik selbst, sondern aus New York City, wo mittlerweile die Salsa durch weitgehende Kommerzialisierung und damit Neutralisierung ihre Aussage- und Durchschlagskraft als „Stimme" der outcasts in den Ghettos an Rap bzw. Hip-Hop verloren hat. Heute ist der Latin oder Latino Rap, der sich des code-switching und zunehmend ausschließlich der spanischen Sprache bedient, vornehmlich für die Jugendlichen in den barrios aller großen US-amerikanischen Städte das bevorzugte musikalische Ausdrucksmittel: militanter sub- und gegenkultureller Ausdruck einer dem US-amerikanischen mainstream entgegengesetzten pan-Latino identity.

7 MIGRATION, EXIL UND TRANSTERRITORIALE D I E K A R I B I K IN E U R O P A U N D D E N

LEBENSWELTEN: USA

Seit der Entdeckung der Neuen Welt durch die Europäer ist die Geschichte der Karibik (und Lateinamerikas) eine Geschichte der Migrationen. Zuerst kamen Konquistadoren und Kolonisatoren aus Europa; sodann, als Zwangsmigration über den atlantischen Dreieckshandel, Sklaven aus Afrika; danach, als forcierte Arbeitsmigration, Kontraktarbeiter aus Asien; schließlich (bis etwa 1930) erneut Europäer, die in der Regel als Emigranten auf Dauer die alte Heimat verließen, um als /wmigranten in der neuen Heimat sesshaft zu werden. Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts hat sich in zweifacher Hinsicht ein Wandel

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vollzogen. Zum einen hat sich die Richtung, in die sich Migration vollzieht, umgekehrt: So wanderten Millionen von Menschen - aus Flucht vor politischer Verfolgung und Bürgerkrieg oder aus Flucht vor Armut und Perspektivlosigkeit - aus der Karibik in die Vereinigten Staaten, nach Kanada oder nach Europa, vorzugsweise in die ehemaligen Metropolen. 54 Zum andern besitzt Migration heute für viele Menschen eine andere Qualität, begreifen sie Emigration doch nicht mehr als unumkehrbaren Prozess und endgültige Abkehr von der Heimat, sondern als „Transmigration", die ihnen über persönliche Beziehungen und soziale Netzwerke ermöglicht, in der alltagsweltlichen Praxis der Ankunftsgesellschaft den Bezug auf die Herkunftsgesellschaft zu bewahren, um so beide Lebenswelten miteinander zu versöhnen. Für diesen neuen Typus des „Transmigranten", der — als Nomade - mobile Lebensformen entwickelt und sich - zwei Welten zugehörig — in einem entgrenzten, „transterritorialen" Raum bewegt, mögen die traditionellen Entwürfe „nationaler" Identität ihre Tragfähigkeit verloren haben. So wurden in der theoretischen Diskussion - und in der fiktionalen Literatur - Konzepte einer dynamischen und dialogischen, pluralen oder bikulturellen, nomadischen oder diasporischen Identität entworfen: beispielsweise das Konzept der border identity, angesiedelt in der „Zwischenwelt" der border zones oder borderlands; oder das der hyphenated identity etwa der Cubano-Amerikaner, die den hyphen, den Bindestrich, als intermediären Raum zwischen zwei Kulturen besetzen; oder auch das Konzept einer globalisierten und gänzlich ent-territorialisierten Identität, über die der „Transmigrant" Teil einer transnational Community und global nation wird, die als imaginierte oder virtuelle Räume zu begreifen sind. Solchermaßen entwickelte Identitätskonzepte zeugen von einer optimistischen Perspektive und geraten dann in Opposition zur Wirklichkeit, wenn Kulturkontakt als Y^Atutkonflikt und Ent-territorialisierung als Verlust erlebt wird. Kulturkontakt ist zuallererst Kulturkonflikt: ein Konflikt zwischen miteinander konkurrierenden Kulturräumen und Lebenswelten, zwischen dem Beharren auf dem vertrauten Eigenen und der Annäherung an das — als bedrohlich oder verlockend empfundene - Fremde. Identitätskonzepte sind des-

54 Seit Mitte des 19. Jahrhunderts kam es innerhalb des (groß-)karibischen Raums auch zu einer massiven Binnenwanderung von Arbeitsmigranten: von den kleinen Inseln der OstKaribik nach Trinidad und Britisch-Guayana; von Haiti nach Kuba und in die Dominikanische Republik; von den westindischen Inseln und insbesondere Jamaika nach Panama und Costa Rica, wo sich an der Atlantikküste eine (noch heute) weitgehend isolierte, kulturell eigenständige ethnische Enklave von West Indians etablierte.

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gleichen an die Vorstellung von Räumen gebunden: Territorien, die als „Reservate des Selbst" (Erving Goffman) vom Individuum oder Kollektiv in Besitz genommen und als Identitäts- und Handlungsräume gestaltet und „bewohnt" werden, seien es real-geographische Räume wie etwa ein Land, eine Region oder ein Wohnviertel, seien es topographisch nicht verortete, metaphorisch gesetzte, soziale Räume wie die Familie, die Gemeinschaft oder die Nation. „Entterritorialisierung", das heißt: der Verlust des vertrauten Lebensraums, gehört zum Grundbestand der existentiellen Erfahrung eines jeden Migranten ebenso wie der Versuch einer „Re-territorialisierung" in einer zunächst noch fremden Lebenswelt. Wie der Kulturkonflikt bewältigt wird, welche Strategien im Aushandeln von Identität(en) gewählt werden, hängt von vielen Faktoren ab: Faktoren, die für die Migranten aus der Karibik — seien es Kubaner und Puertoricaner in den USA oder West Indians und antillais in Europa — in erheblichem Maße differieren und die sich in der alltagsweltlichen wie der literarischen Praxis auf jeweils spezifische Weise manifestieren. Cubanos und Cuban Americans Bereits während des 19. Jahrhunderts waren die Vereinigten Staaten von Amerika Ziel von Migranten aus Kuba: Intellektuelle und politische Aktivisten wie José Marti, die sich als Exilanten begriffen und ihre Aktivitäten auf die (vorübergehend) zurückgelassene Heimat richteten, aber auch Arbeitsmigranten, die mit dem Aufblühen der Tabakindustrie im Süden von Florida in Tampa und Key West erste (ethnische) Enklaven bildeten, um sich dann als Immigranten in ihrem neuen Lebensraum nun nicht mehr nur vorübergehend, sondern auf Dauer einzurichten. Der nach 1959 einsetzende massive Zustrom von Kubanern war (zunächst) ein politisch motiviertes Exil; und obgleich es ihnen in der Enklave von Miami und dem Dade County gelang, sich als community zu etablieren und das zu bewerkstelligen, was man - in Opposition zu den anderen Hispanics oder Latinos in den Vereinigten Staaten - als „Cuban success story" apostrophiert hat, beharrt diese erste Generation von cubanos in den USA auf dem Status des Exils, das gleichsam zum „Identitätszeichen" geworden ist. Autoren dieser ersten Generation publizierten (in spanischer Sprache) während der 60er und 70er Jahre eine Vielzahl von Texten, darunter Lyrik, Erzählungen und autobiographisch motivierte Romane, die der „Exilliteratur" zuzurechnen sind. Primär durch die Exilsituation perspektiviert, erfüllen sie im

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Wesentlichen eine „exorzistische und therapeutische" 55 Funktion: mit dem Gestus des Protests bitterböse Kritik und Abrechnung mit dem Castro-Regime und mit dem Gestus der Resignation nostalgische Riickwendung und Erinnerung an die verlorene Zeit und ein verlorenes Paradies. Nur wenige Texte bieten mehr als vordergründig anticastristische Rhetorik und Polemik oder den hasserfüllten Blick zurück im Zorn: darunter der Roman El sitio de nadie ( 1 9 7 2 ) von HILDA PERERA (geb. 1 9 2 6 ) , in dem der beliebte, die Perspektive der Bourgeoisie reflektierende Topos der „verratenen Revolution" (selbst-)kritisch hinterfragt wird; von CARLOS ALBERTO MONTANER (geb. 1 9 4 3 ) der Roman Perromundo ( 1 9 7 2 ) , der das in der kubanischen Exilliteratur gleichermaßen gängige Thema der politischen Gefangenen in Straf- und Umerziehungslagern eindrucksvoll und ohne vordergründige Polemik entfaltet; oder von JOSÉ SÄNCHEZ-BOUDY (geb. 1 9 2 8 ) der Roman Los cruzados de la aurora ( 1 9 7 2 ) , in dem zwar nicht auf anticastristische Rhetorik verzichtet wird, in dem aber der Kampf gegen Diktatur und Tyrannei über die extrem fragmentierte Handlung in einen universalen Zusammenhang gestellt wird. Anfang der 70er Jahre hatte sich die Literatur dieser (ersten) Exilgeneration erschöpft - auch wenn Autoren wie José Sánchez-Boudy und MATÍAS M O N T E S H U I D O B R O (geb. 1 9 3 1 ) insbesondere im Theater weiterhin die in Miami konzentrierte „harte Linie" des kubanischen Exils vertraten. Dieser ersten postrevolutionären Generation von Kubanern in den USA, die sich vielleicht in ihrer alltäglichen Lebenspraxis bestimmten, dem sozialen Aufstieg förderlichen Normen und Verhaltensweisen der mainstream-Gesellschaft angepasst hatte, die sich aber über den territorialen Rückbezug auf die Insel als cubanos einer „nationalen" Identität versicherte, stand gegen Ende der 70er Jahre eine zweite Generation gegenüber: die „Kinder des Exils", die in den Vereinigten Staaten herangewachsen oder bereits dort geboren waren, die anders als ihre Eltern über eine nur vage oder gar keine Erinnerung an Kuba verfügten und die nun die spezifische Lebenswirklichkeit in den USA zu ihrem zentralen Thema machten; oder, wie es die dieser Generation angehörende Theaterautorin DOLORES PRIDA (geb. 1 9 4 3 ) für ihre eigene Praxis formulierte: „[...] die meisten meiner Stücke handeln davon, wie es ist, ein Hispanic in den USA zu sein; sie handeln von Menschen, die versuchen, zwei Kulturen, zwei Sprachen und zwei

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Wolfgang Binder: ,American dreams and Cuban nightmares, or: does Cuba exist? Some remarks on Cuban American literature", in: Groupe de Recherche et d'Etudes NordAméricaines (G.R.E.N.A.) (Hrsg.): Voix et langages aux Etats-Unis. Bd. 2, Aix-en-Provence: Publications de l'Université de Provence 1993, S. 233.

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Denkweisen miteinander zu versöhnen und zu einem spezifischen Ganzen zu formen; Stücke, die darauf abzielen, eine bestimmte Zeit und einen bestimmten Ort, ein Hier und Jetzt, zu reflektieren."56 Dolores Prida sah sich als Angehörige einer ethnischen Minderheit, der Hispanics oder Latinos,57 - oder konkreter: der Cuban Americans — und vollzog damit den Ubergang von einer „nationalen" zu einer „ethnischen" Identität. In ihrer kulturellen Praxis vollzog sie den Wandel von kubanischer „Exilliteratur" zu US-amerikanischer ethnic literature - ein Wandel, der sich über den Vergleich von zwei als paradigmatisch anzusehenden Theaterstücken veranschaulichen lässt. In dem 1977 in New York uraufgefuhrten Stück El súper von IvAN AcosTA (geb. 1943) wird die Identitätsproblematik über einen Familienkonflikt und die Konfrontation der zwei Generationen in Szene gesetzt. Der Vater, dem es als Hausmeister in einem Mietshaus in New York nicht gelang, für sich den American Dream zu verwirklichen, und der sich in der als fremd und feindlich empfundenen Umwelt - nicht zuletzt aufgrund mangelnder Englischkenntnisse nicht zurechtfindet, kompensiert Entfremdung und Desillusionierung durch die Erinnerung und beständige, ritualisierte Beschwörung der cubanidad, verbunden mit der Hoffnung auf eine baldige Rückkehr nach Kuba. Die in den USA herangewachsene Tochter hat sich dagegen - nicht zuletzt aufgrund der sich ihr bietenden größeren Freiräume - der US-amerikanischen Wirklichkeit weitgehend angepasst und, wenn auch nicht ohne Konflikte, eine über das codeswitching signalisierte bikulturelle Identität entwickelt. Die Haltung des Vaters kritisiert sie als die eines „Ewiggestrigen", und eine Rückkehr nach Kuba schließt sie für sich kategorisch aus. Doch das Ende des Stückes ist versöhnlich, denn die Tochter kehrt (nach vorübergehendem Auszug) in den Schoß der Familie zurück, nachdem der Vater beschlossen hat, sich in Miami niederzulassen: eine Lösung, die als kompensatorische Ersatzhandlung den Vater wohl Kuba, nicht aber den USA ein Stück näher bringt. 56 „The show does go on", in: Asunción Homo-Delgado et al. (Hrsg.): Breaking Boundaries: Latina Writing and Critical Readings. Amherst: University of Massachusetts Press 1989, S. 182. 57 Hispanics — so die amtliche Sprachregelung - oder Latinos/Latinas — so der mittlerweile von den Betroffenen selbst favorisierte Name - bezeichnet die in den USA lebenden Menschen hispanoamerikanischer Herkunft, vorrangig aus Mexiko und der Karibik, aber auch Migranten aus Südamerika und den ehemaligen Bürgerkriegsgebieten Zentralamerikas: nach offizieller Statistik mit 38,8 Millionen 13,4% der US-amerikanischen Bevölkerung - eine Zahl, die sich durch temporäre und illegale Migration auf weit über 40 Millionen erhöht. Den größten Anteil stellen mit fast 60% die Mexican Americans oder Chícanos-, etwa 9% stammen aus Puerto Rico und etwa 4% aus Kuba.

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In dem vier Jahre später ebenfalls in New York uraufgefuhrten Stück Coser y cantar von Dolores Prida wird der auch hier zentrale Identitätskonflikt nicht über die Konfrontation der Generationen, sondern über die Konfrontation von zwei Frauenfiguren, „Ella" und „She", dargestellt, die als alter ego der jeweils anderen die zwei konkurrierenden Kultur- und Identitätsmuster der traditionellen cubanidad und der US-amerikanischen mainstream-Gesellschaft repräsentieren. Die Inszenierung oder performance dieser beiden - als Stereotype angelegten und kritisch-ironisch hinterfragten — Identitätsmuster endet in einem direkten Schlagabtausch zwischen den beiden Handlungsfiguren, bei dem diese erkennen, dass die eine ohne die andere nicht existieren kann und sie sich nur durch gemeinsames Handeln ihrer — bikulturellen - Identität versichern können. Und indem sie das zuvor klar abgesteckte, auch über die Sprache markierte je eigene Territorium verlassen, um das nun gemeinsame, am Ende über das code-switching ausgehandelte Projekt einer Reise zu verwirklichen, überschreiten sie die Grenzen nationaler Identitätsentwürfe, um sich einen ent-grenzten, transterritorialen Raum zu erobern. Die Cuban Americans, die sich gewissermaßen als „Bindestrich-Amerikaner" auf dem hyphen eingerichtet haben und ausschließlich in englischer Sprache publizieren, verfolgten weiterhin als zentrale Thematik das Aushandeln einer möglicherweise hybriden oder bikulturellen individuellen oder kollektiven Identität, wobei sie sich im Roman derselben Topoi bedienten wie Acosta und Prida im Theater, jedoch nicht in jedem Fall wie diese zu einem versöhnlichen Ergebnis kamen. In manchen Romanen, präsentiert als fiktionale Autobiographie, wird Identitätssuche über den traditionellen Topos der Reise inszeniert: etwa in Fallen Angels Sing (1991) von OMAR TORRES (geb. 1945), Going Under (1996) von VIRGIL SUAREZ (geb. 1962) und Los viajes de Orlando Cachumbambé ( 1 9 8 4 ) v o n ELIAS MIGUEL MUÑOZ (geb. 1 9 5 4 ) , der bereits über d e n N a m e n

seines Titelhelden — cachumbambé bezeichnet im kubanischen Spanisch die „Wippe" - signaliert, dass sich für einen Kubaner in den USA Identitätssuche oder Identitätsmanagement als schwieriger Balanceakt erweist. Häufig wird der Kulturkonflikt über einen Generationenkonflikt ausgetragen, wobei der Rückbezug auf Kuba für die Kinder ebenso essentiell ist wie für die Eltern und über den Topos der Erinnerung beständig versucht wird, Geschichte - die kubanische oder nur die eigene Familiengeschichte - zu rekonstruieren. Dies gilt für eine Vielzahl von Romanen, etwa Raining Backwards (1988) und Holy Radishes! ( 1 9 9 5 ) v o n ROBERTO G . FERNÁNDEZ (geb. 1 9 5 1 ) , der seine H a n d l u n g s f i g u r e n in

höchst skurriler und grotesker Weise Vergangenheit erfinden und Erinnerung manipulieren lässt; oder The Marks of Birth (1994) von PABLO MEDINA (geb.

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1948) und Dreamingin

Cuban (1992) von CRISTINA GARCÍA (geb. 1958), bei-

des fiktionale Autobiographien, in denen es gelingt, Erinnerung über den Akt des Schreibens für Identitätsvergewisserung fruchtbar zu machen. Cristina García wurde mit ihrem Erstlingsroman für den begehrten „National Book Award" nominiert: ein Zeichen dafür, dass einige Vertreter der ethnic literature im US-amerikanischen Mainstream angekommen sind. Dies gilt in besonderem Maße für OSCAR HIJUELOS (geb. 1951), der mit seinem Roman The Mambo Kings Play Songs ofLove 1990 den Pulitzer-Preis gewann und der sich nun nicht mehr als ethnic oder Cuban American, sondern schlicht als USamerikanischer Autor begreift - auch wenn er in seinem preisgekrönten Roman ebenjene „ethnische" Perspektive reproduziert, die für die zweite Generation der Cuban Americans charakteristisch ist. Der Lyriker und Essayist GUSTAVO PÉREZ FIRMAT (geb. 1949), der wie Oscar Hijuelos ebendieser Generation angehört, identifizierte sich in seiner Autobiographie Next Year in Cuba. A Cubanos Coming of Age in America (1995) als Cubano Americano, „geboren in Kuba, Made in the U. S. A.". Doch wie die erste Generation kubanischer Migranten mag auch er nicht darauf verzichten, wenn nicht den Status des Exilanten, so doch die subjektive Befindlichkeit eines solchen beizubehalten und beständig zu reaktualisieren. Und während er sich in Life on the Hyphen. The Cuban American Way (1994) für die Identitätsbehauptung des Cuban American von der exklusiven kubanischen nacionalidad der ersten Generation distanziert, heißt es — unversöhnlich - in demselben Band: „Gegen das schwache Exil das harte Exil, das dauerhafte Exil; gegen die Kubanität von geringer Intensität die konvulsive Kubanität, das donnernde Ja: 'Yes: in thunder.'"58 Die Kritik am „schwachen" oder auch „samtenen" Exil richtete sich gegen jene, die seit Anfang der 90er Jahre Kuba verließen, ohne sich zu ihrem Exil zu „bekennen", und die sich nun nicht mehr - wie noch beim Exodus der marielitos 1980 - in den USA, sondern in Lateinamerika und Europa niederließen.59 Die marielitos, die im Gegensatz zur ersten Generation von Exilierten zumeist nicht aus politischen, sondern aus wirtschaftlichen Gründen emigriert und in ihrer Mehrzahl ungelernte Arbeiter und Farbige waren, hatte man in den USA, in der angloamerikanischen mainstream-GtscWschzit wie in der überwiegend der weißen Mittelschicht zuzurechnenden Community in Miami, zwar nicht

Austin: University of Texas Press 3 1999, S. 137. In Europa lebten bereits seit längerem Severo Sarduy und Guillermo Cabrera Infante, deren literarische Praxis jedoch nicht durch das Exil motivert ist; zu beiden Autoren vgl. Kap. 5. 58

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willkommen geheißen; die als „Generation von Mariel" in Erscheinung tretenden Autoren hatten sich aber klar zum unversöhnlichen „harten Exil" bekannt. In ihrer auf eine Abrechnung mit dem Castro-Regime abzielenden literarischen Praxis zeigten sich REINALDO ARENAS ( 1 9 4 3 - 1 9 9 0 ) , CARLOS VICTORIA

(geb. 1950) und ROBERTO VALERO (1955-1994) genauso aggressiv und militant wie die erste Generation kubanischer Exilautoren. Auch sie richteten den Blick zurück im Zorn, jedoch ohne nostalgische Verklärung einer als paradiesischer Urzustand erinnerten (vorrevolutionären) Vergangenheit, da sie als „Kinder der Revolution" über eine solche Erinnerung nicht (mehr) verfügten. Unter den seit Anfang der 90er Jahre emigrierten und in Europa oder Lateinamerika lebenden Autoren vertritt ZOÉ VALDÉS (geb. 1959), die bekannteste und produktivste unter ihnen, dieselbe rückwärtsgewandte Exilperspektive. Das in ihrem ersten Roman, La nada cotidiana (1995), erprobte Rezept der Verknüpfung traditioneller Topoi der escritura femenina mit anticastristischer Rhetorik und detaillierter Schilderung sexueller Praktiken wurde auch von anderen Autorinnen, etwa DAÍNA CHAVIANO (geb. 1957), MARCIA MORGA-

DO (geb. 1951) und YANITZIA CANETTI (geb. 1967), mit Erfolg eingesetzt. Wie der spanische Literaturkritiker Miguel Garcia-Posada in El País (27. 9. 1997) anlässlich der Publikation von Zoé Valdés' fünftem Roman, Café Nostalgia, vermerkte, scheint das Thema Kuba aus der Perspektive des Exils allmählich einen „gewissen Sättigungsgrad" erreicht zu haben. Innovatorische Impulse gingen und gehen von jenen aus, die - wie Jesús Díaz und Eliseo Alberto — als Repräsentanten des „schwachen" Exils - genauer: der Diaspora - die kubanische Realität zwar kritisch in den Blick nehmen, sich aber an einem der „beiden Ufer" positionieren und mit jenen am anderen Ufer in einen Dialog treten, die — wie Pedro Juan Gutiérrez und Leonardo Padura Fuentes - in Spanien publizieren, aber in Kuba geblieben sind.

Nuyoricans und AmeRtcans Die aus Puerto Rico in die Vereinigten Staaten migrierten Menschen — es wird geschätzt, dass nahezu die Hälfte aller Puertoricaner dauerhaft oder vorübergehend in den USA lebt - sind weder Emigranten noch Immigranten, da die Insel (als „unincorporated territory") zwar nicht ein Teil der USA, wohl aber eine US-amerikanische Besitzung ist. Für diejenigen, die als Arbeitsmigranten auf den Kontinent drängen, bietet der Status Puerto Ricos einen immensen Vorteil gegenüber den anderen Hispanics oder Latinos, denn seit 1917

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besitzen die Puertoricaner die US-amerikanische Staatsbürgerschaft und haben damit freien Zugang zum US-amerikanischen Arbeitsmarkt - eine Möglichkeit, die bereits seit den 20er Jahren vielfach genutzt wurde und die mit Ende der 40er Jahre aufgrund massiver Umstrukturierungen im Agrar- und Industriesektor auf der Insel zu einem wahren Massenexodus führte. Doch im Gegensatz zu den kubanischen Exilanten gelang den Puertoricanern in den USA keine success Story-, in unterbezahlten Jobs oder arbeitslos, überdies (in ihrer Mehrheit) als Farbige diskriminiert, blieben sie weitgehend marginalisiert. Die Literatur der zunächst auf New York City konzentrierten mainland Porto Ricans oder nuyoricans, wie sie sich selbst nennen, kennzeichnet der kämpferische Gestus des politisch und sozialkritisch motivierten Protests gegen Armut und Marginalisierung, gegen kulturelle und rassische Diskriminierung durch die von den WASP, den White Anglo-Saxon Protestants, dominierte mainstreamGesellschaft. Von herausragender Bedeutung war während der 70er Jahre die Lyrik im Kontext des von MIGUEL PINERO (1946-1988) und MIGUEL ALGARÍN (geb. 1941) gegründeten Nuyorican Poets Café-, eine in die politische Arbeit eingebundene Praxis des literarischen Protests, die sich der gesprochenen Sprache und des code-switching bediente, gelegentlich militant-deklamatorisch, gelegentlich auch schmerzhafter Ausdruck von Desillusion und Verzweiflung, von Identitätsverlust und Autoaggression, eindrücklich vorgeführt in dem paradigmatischen Gedichtband Puerto Rican Obituary (1973) von PEDRO PIETRI (1944-2004). Für die Prosa gilt als ebenso paradigmatisch die 1967 erschienene romanhafte Autobiographie Down These Mean Streets von PIRI THOMAS (geb. 1928): eine gleichermaßen eindrückliche Schilderung des Lebens im barrio, einerseits Hort der individuellen und kollektiven Identität und Solidargemeinschaft, andererseits eine verschärfte Gefahrenzone, in der Gewalt, Kriminalität und Drogen das Individuum in seiner physischen wie seiner psychischen Existenz bedrohen. Der Rekurs auf die Erinnerung ist vergeblich, denn Piri Thomas erteilt der Möglichkeit einer Rückgewinnung identitätssichernder Ursprünge und — konkret - der Rückkehr auf die Insel eine eindeutige Absage. Die literarische Praxis der nuyoricans wird von den meisten puertoricanischen Kritikern der einen puertoricanischen Literatur zugerechnet, die sich wie die kubanische Literatur an „zwei Ufern" positioniert. Sie ist aber auch Teil der US-amerikanischen ethnie literature, mit der die aktuelle Lebenswelt der Puertoricaner in den USA - kritisch und gelegentlich zornig, aber als unumkehrbarer Prozess - in den Blick genommen wird. René Marqués, welcher der insularen puertoricanischen Literatur zuzuordnen ist, hatte in seinem 1955 entstandenen Theaterstück La carreta auf eindrückliche Weise die Migrations-

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Problematik thematisiert; und für seine Protagonisten, eine Familie von campesinos, die zunächst vom Land in die Stadt, sodann von San Juan nach New York migriert und scheitert, sah er als Lösung (noch) die Rückkehr auf die heimatliche Scholle vor, symbolisiert durch das Leitmotiv des Karrens, der carreta. Doch die Möglichkeit einer Rückkehr erscheint den nuyoricans unwiederbringlich, wie TATO LAVIERA (geb. 1951) mit dem Titel seines 1979 veröffentlichten Gedichtbandes unmissverständlich signalisierte: La Carreta Made a U-Turn. „Ethnische" Identität oder „Ethnizität", die über die Abgrenzung des Eigenen gegenüber dem Fremden, also über die Benennung von Differenz oder Alterität, entworfen wird, war und ist für die nuyoricans ein — unverzichtbares Mittel der Selbstbehauptung und des Widerstands gegen die weithin vorherrschende Ideologie des meltingpot. Doch seit Beginn der 80er Jahre gewann die literarische Praxis der mainland Porto Ricans eine zusätzliche Dimension dadurch, dass sie nun nicht mehr auf die Ghettos von New York konzentriert waren, sondern mittlerweile als Zeichen des sozialen Aufstiegs auch die mittelständischen suburbs erobert hatten - ein Umstand, der den aus Puerto Rico gebürtigen Literaturkritiker Juan Flores veranlasste, die in den USA lebenden Puertoricaner in ihrer Gesamtheit nicht mehr als nuyoricans, sondern (in Anlehnung an ein Poem von Tato Laviera) als AmeRicans zu benennen. Während der 80er Jahre traten gleichzeitig mehrere Frauen als Autorinnen in Erscheinung, denen in ihrer eigenen Lebenswelt das crossing over gelungen war und die in autobiographisch motivierten Texten die Identitätsproblematik der Latina aus spezifisch weiblicher Perspektive zu ihrem zentralen Thema machten: etwa AURORA LEVINS MORALES (geb. 1954) und ROSARIO MORALES (geb. 1930) mit Getting Home Alive (1986), ESMERALDA SANTIAGO (geb. 1940) mit When L Was Puerto Rican (1993) und JUDITH ORTIZ COFER (geb. 1952) mit The Line ofthe Sun (1989). Ortiz Cofer entwickelte spezifisch weibliche Identität über eine Adoleszenzgeschichte als Bildungsroman: ein mittlerweile von den Latinas arg strapazierter Topos „weiblichen Schreibens", den auch die in den USA lebende Dominikanerin Julia Alvarez in ihrem ersten Roman, How the García Girls Lost Their Accents (1991), bemühte. 60 Wie bei Alvarez gelingt

60

Unter den in den USA, vorwiegend in N e w York, lebenden Dominikanern oder dominicanyorks ist als namhafte Autorin bislang n u r Julia Alvarez hervorgetreten. U n d als bislang einzige Vertreterin einer an die haitianische Lebenswelt gekoppelten US-amerikanischen ethnic literature gilt EDWIGE DANTICAT (geb. 1969), deren erster Roman, Breath, Eyes, Memory ([WA), dieselben Strategien „weiblichen Schreibens" aufweist wie Alvarez u n d O r tiz Cofer ebenso wie eine Vielzahl von Chicanas oder Mexican Americans.

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Die Karibik

auch bei Ortiz Cofer das border crossing in einen zunächst als ent-grenzt begriffenen Identitätsraum. Doch beide Autorinnen positionieren ihre Protagonistinnen am Ende ihrer Geschichte - Julia Alvarez allerdings erst in ihrem als Fortsetzung konzipierten zweiten Roman, ¡Yo! (1997) - erneut in einem klar umgrenzten Raum: in der gewissermaßen von Latinos befreiten Zone eines mittelständischen (weißen) suburb bzw. einer neuenglischen Kleinstadt. Judith Ortiz Cofer lebt (wie Julia Alvarez) außerhalb des barrio und hat sich — wie die Cubano-Amerikaner — auf dem hyphen niedergelassen, der nicht als Zeichen der Trennung, sondern als Zeichen der Annäherung an die angloamerikanische mainstream-GestWschzit oder als Gleichheitszeichen gesehen wird. Für jene Autoren, die sich — wie ABRAHAM RODRÍGUEZ (geb. 1961) mit seinem Roman Spidertown (1993) - weiterhin innerhalb des barrio positionieren und die alltägliche Lebenswelt im Ghetto — entlang den „mean streets" von Piri Thomas - thematisieren, kann dies nicht gelten, denn sie leben und schreiben, wie Juan Flores hervorhob, nicht „on", sondern „off the hyphen". West Indians und Black Britons Ende der 1940er Jahre, als in den West Indies abzusehen war, dass sich Großbritannien im Zuge des Entkolonisierungsprozesses seiner karibischen Kolonien zu entledigen suchte, setzte eine Emigrationswelle ein, die bis 1961 bis zu 175 000 Arbeitsmigranten in die britische Metropole führte. Als Bewohner des britischen Empire konnten sie ungehindert einreisen, und als billige Arbeitskräfte waren sie zunächst willkommen, jedoch nicht geschützt vor rassischer Diskriminierung, auch wenn sie über dieselben Rechte verfügten wie jeder britisher. Als es Ende der 50er Jahre zu ersten Rassenunruhen kam, sah sich die Regierung veranlasst, die Einreise aus den West Indies gesetzlich zu beschränken, konnte aber nicht verhindern, dass über die Regelungen zur Familienzusammenführung und den natürlichen Prozess der Reproduktion die Zahl der in Großbritannien lebenden offiziell als Black Caribbeans erfassten West Indians auf weit über eine halbe Million anstieg.61 Unter den ersten Migranten befanden sich auch viele Intellektuelle und Literaten, die in den isolierten Kleinstaaten und Territorien weder über eine adäquate kulturelle Infrastruktur noch über ein zahlenmäßig bedeutendes Publi-

61

Nach der letzten demographischen Erhebung von 2001 leben in Großbritannien ca.

560 000 Black Caribbeans und ca. 240 000 Mixed White and Black Caribbeans.

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kum verfügten und die in Großbritannien die Unterstützung und Förderung durch angesehene britische Verlagshäuser gewinnen konnten. Dem Umstand der Emigration war es zu verdanken, dass die westindische Literatur insgesamt einen bis dahin nie gekannten Boom erlebte, wobei die in London lebenden und schreibenden Autoren die Lebenswirklichkeit in der Emigration und ihre literarische Praxis als unverbrüchlichen Teil der westindischen (oder nationalen) Realität und Literaturtradition verstanden. Am Anfang dieser Entwicklung stand George Lamming mit dem Roman In the Castle of My Skin (1953), in dem der Protagonist (vor dem Hintergrund der turbulenten 30er Jahre) am Ende eines ihn seiner dörflichen Gemeinschaft entfremdenden Reifeprozesses emigriert. Das hier von Lamming (noch) als Aufbruch in eine zwar ungewisse, aber hoffnungsvoll anvisierte Zukunft eingebrachte Moment der Emigration wurde zu einem beständig wiederkehrenden, allerdings nicht mehr in jedem Fall positiv konnotierten Topos der westindischen Literatur. Und es war wiederum Lamming, der mit seinem zweiten Roman, The Emigrants (1954), einer ganzen Reihe von Autoren den Weg wies, wenn es darum ging, die Lebensbedingungen der Westinder in der Emigration zu dokumentieren: ihr Festhalten an traditionellen Wertvorstellungen, aber auch ihr Ringen um soziale Integration oder völlige Assimilation. Der Handlungsraum dieser Romane ist zumeist das von „weißen" Werten und Vorurteilen geprägte London, das den West Indians einen Platz in der Gesellschaft verwehrt und das die hochgesteckten Erwartungen sehr bald in Frustration, gelegentlich auch in Ausbrüche von Gewalt umschlagen lässt: bei Lamming selbst wie auch bei Samuel Selvon in seiner mit The Lonely Londoners (1956) begonnenen und zwei Jahrzehnte später mit Moses Ascending (1975) und Moses Migrating (1983) fortgeführten Trilogie, bei Andrew Salkey in Escape to an Autumn Pavement (I960), bei CARYL PHILLIPS (St. Kitts; geb. 1958) in The Final Passage (1985) und bei David Dabydeen in The Intended (1991).62 Eine Rückkehr in das verlorene Paradies der angestammten Gemeinschaft und Kindheit ist für die Handlungspersonen in der Regel unmöglich, fühlen sich doch die aus der Emigration Zurückkehrenden angesichts der Veränderungen, die sie vorfinden und die sie selber durchgemacht haben, als Fremde im eigenen Land. Dies gilt für die Protagonisten in The Late Emancipation of f e r r y Stover (1968) und Come Home Malcolm Heartland (1976) von Andrew 62 Ein gleichermaßen rassistisches, die Westinder marginalisierendes gesellschaftliches Umfeld schilderte Austin Clarke in seiner „Toronto-Trilogie": The Meeting Point (1967),

Storm of Fortune (1973) und The Bigger Light (1975).

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Die Karibik

Salkey ebenso wie für die Heimkehrer in A State of Independence (1986) von Caryl Phillips, Boy-Sandwich (1989) von BERYL G I L R O Y (Guyana; 1924-2001) und The Unbelonging (1985) von J O A N RILEY (Jamaika; geb. 1958). Riley erzählt nach Art eines Bildungs- oder Erziehungsromans die Geschichte eines Mädchens aus Jamaika, das gegen seinen Willen nach London gebracht wurde und dort heranwächst. Um der als feindlich erlebten Umwelt zu entfliehen, flüchtet es sich in die Erinnerung an die in der Heimat erlebte glückliche Kindheit und den Traum, eines Tages über die Rückkehr dieses Paradies zurückzugewinnen. Als die Protagonistin schließlich nach Jamaika zurückkehrt, wird angesichts des weithin herrschenden Panoramas von Elend und Gewalt der lang gehegte Traum vom belonging zu einem Alptraum, und ebendieses belonging wird ihr als Fremde in der Heimat verwehrt; wie ihr eine ehemalige Schulfreundin erklärt: „Geh dahin zurück, wo du herkommst. Wir mögen in Jamaika keine Ausländer." 63 In den Romanen der ersten Generation von Migranten bewegen sich die Handlungsfiguren zwischen zwei zeitlich-räumlich entgegengesetzten und nicht miteinander zu versöhnenden Polen. Die Autoren der zweiten Generation haben für sich und ihre Protagonisten diese Polarisierung überwunden. Wie bei den cubanos und Cuban Americans in den USA lässt sich auch im Kontext der britischen Metropole von der ersten zur zweiten Generation ein Wandel der Perspektive feststellen: ein Wandel vom West Indian oder Black Caribbean zum Black Briton, dessen (ethnische) Identität und Zugehörigkeit zur britischen Nation nicht (mehr) in Frage steht; wie A N D R E A LEVY (geb. 1956), deren Eltern aus Jamaika stammen und die in London geboren wurde, die Protagonistin ihres ersten Romans, Every Light in the House Burniri (1994), sagen lässt: „Ich kannte diese Gesellschaft besser als meine Eltern sie kannten. Die Strategie meiner Eltern war, sich so still wie möglich zu verhalten, in der Hoffnung, niemand würde erfahren, dass sie sich heimlich in dieses Land geschlichen hatten. Sie wollten niemand stören. Ich aber war in dieser Gesellschaft auf englische Weise aufgewachsen. Ich konnte mich ihr stellen, über sie herziehen, sie bekämpfen, denn sie gehörte mir - ein Geburtsrecht." 64 So wie es in den USA einigen Autoren unter den Latinos gelang, Eingang in den mainstream zu finden, gilt auch Andrea Levy mit ihren bislang fünf publizierten Romanen als „britische" Erfolgsautorin. V. S. Naipaul, Literaturnobelpreisträger des Jahres 2001, versteht sich gleichermaßen als „britischer 63 64

The Unbelonging. London: The Womens Press 5 1998, S. 142. Every Light in the House Burniri. London: Headline Review 2 1995, S. 88.

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Schriftsteller" oder (in den Worten des Nobelpreiskomitees) als „literarischer Weltenumsegler, eigentlich nur bei sich selbst zu Haus". Beide leben außerhalb der städtischen Ghettos, deren Lebenswelt zwischen erzwungener Anpassung und regressivem Widerstand ihren besonderen Ausdruck in der Popularkultur findet — eine kulturelle Praxis, die sich über die (Wieder-)Aneignung afrikanischer und US-amerikanischer Ausdrucksformen einen ent-grenzten Raum erobert hat: den heterotopischen Raum des „schwarzen Atlantik", den der aus Guyana stammende Kulturkritiker Paul Gilroy65 als Identitätsraum für die Black Britons entwarf und den Caryl Phillips - geboren in St. Kitts, aufgewachsen in Großbritannen und wohnhaft in den USA — besetzte, als er in seinem (literarischen) Testament verfügte: „Meine Asche soll in der Mitte des Atlantischen Ozeans verstreut werden, an einem Punkt gleich weit entfernt von Großbritannen, Afrika und Nordamerika."66 Antillais und

négropolitains

Seit Anfang der 60er Jahre erlebte auch Frankreich einen massiven, von staatlicher Seite ermunterten und gesteuerten Zustrom von Arbeitsmigranten aus der Karibik, vorzugsweise aus Martinique und Guadeloupe, die im Gegensatz zu den Migranten aus den ehemaligen französischen Kolonien des Maghreb und Schwarzafrikas nicht als immigrés galten, da die Antillen als Départements d'Outre-Mer (DOM's) Teil des französischen Staatsgebiets sind. Die erste Generation - um 1980 lebten in der Metropole bereits 180 000 antillais- war auf dem Arbeitsmarkt willkommen und genoss gegenüber den immigrés den immensen Vorteil, als Franzosen für einen Job im öffentlichen Dienst qualifiziert zu sein. Bereits seit der 1946 erfolgten départementalisation galt in den DOM's die zumindest temporäre Migration in die Metropole als Synonym für faire fortune. Und Joseph Zobel, der in La rue Cases-Nègres die mit dem neuen Status verbundenen Erwartungen überaus optimistisch reflektierte, ließ seinen jungen Helden denn auch am Ende des Romans, hoffnungsvoll in die Zukunft blickend, in die Metropole aufbrechen. Doch so wie der bei Zobel aufgezeigte Optimismus in den DOM's sehr bald der Enttäuschung und Ernüchterung wich, wurde auch den in die Metropole abgewanderten antillais schnell be-

65

The Black Atlantic. Modernity and Double Consciousness. London/New York: Verso

1993. 66

A New World Order. SelectedEssays.

London: Random House/Vintage 2002, S. 304.

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Die Karibik

wusst, dass sie, in ihrer Mehrheit Farbige, durch ihren französischen Pass nicht davor geschützt waren, gleich den immigrés aus Afrika rassisch diskriminiert und in den Randgebieten der großen Städte sozial marginalisiert zu werden. Für die Intellektuellen und Literaten der französischen Kolonien, die dem provinziellen Milieu ihrer Herkunftsgesellschaft zu entfliehen suchten, war Paris seit den 30er Jahren der Ort gewesen, an dem sie an all jenen kulturellen Strömungen teilhaben konnten, die in Europa en vogue waren - ein Ambiente, dem die Bewegung der négritude einen Teil ihres internationalen Erfolgs verdankte. Die nachfolgende Generation von Schriftstellern, die es sich zur Aufgabe machte, über die (Rück-) Gewinnung des kollektiven Gedächtnisses und die Aufarbeitung der von Frantz Fanon so eindringlich beschriebenen Selbstentfremdung des Farbigen in einer dominant „weißen" Gesellschaft neue Identitätsmodelle zu entwerfen, war kaum bemüht, auch die Lebenswelt der antillais in der Metropole einzubeziehen. Die Handlung des Romans La ßte à Paris,67 den Joseph Zobel drei Jahre nach Erscheinen von La rue CasesNègres als Fortsetzung publizierte, kreist zwar um die Pariser Studienjahre seines jungen Helden; doch bewegt sich dieser im metropolitanen Milieu nur als Tourist, bleiben die spezifischen Lebensbedingungen eines antillais en métropole gänzlich ausgespart. In anderen Romanen, etwa in Hérémakbonon (1976) von Maryse Condé oder Le Nègre et l'Amiral (1988) von Raphaël Confiant, ist die französische Hauptstadt nur eine von vielen Stationen, welche die Protagonisten durchlaufen: ein Ort, der nur Durchgang und nicht Ziel ist und an dem sie nie ankommen. Gelegentlich, in Un plat de porc aux bananes vertes (1967) von Simone und André Schwarz-Bart und L'isolé soleil (1981) von Daniel Maximin, werden antillais als Handlungsfiguren in Paris angesiedelt; doch ist die Stadt weniger Wohnort als Erinnerungsort, der, indifferent und distanziert, vor der Wirklichkeit der erinnerten Heimat verblasst. Die Lebenssituation der antillais in Frankreich wurde einzig von Daniel Boukman in seinem Theaterstück Les négriers (1971) thematisiert, indem er sie auf zwei beständig wechselnden Handlungsebenen mit der kolonialen Sklavenhaltergesellschaft parallel setzte: eine bitterböse Satire, die gewiss in manichäistischer Weise mit Stereotypen operiert, ihre Wirkung als Lehrstück im Brecht'schen Sinne aber nicht verfehlt. Als mit Beginn der 80er Jahre die Wirtschaftskrise in Frankreich insbesondere unter den Angehörigen der zweiten Generation von Migranten zu massi-

67

In 2. Auflage 1979 erschienen unter dem Titel Quand la neige aura fondu.

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ver Arbeitslosigkeit führte, als es zudem in einem aufgeheizten, offen fremdenfeindlichen Klima zu gewalttätigen Demonstrationen und Straßenschlachten kam, änderte die französische Regierung ihre aktive Zuwanderungspolitik und versuchte stattdessen, durch gezielte Programme die soziale Integration und kulturelle Assimilation vor allem der marginalisiert gebliebenen Jugendlichen voranzutreiben. Die Elterngeneration der Migranten aus den DOM's hatte sich relativ konfliktfrei der Mehrheitsgesellschaft angepasst, da ihr eine gewisse soziale Sicherheit geboten wurde und sie sich überdies in hohem Maße mit der französischen Kultur und Zivilisation identifizierte. Die Jungen sind dagegen heute einer fortschreitenden Proletarisierung ausgesetzt und sehen keinen Vorteil in der Assimilierung an eine Gesellschaft, die den antillais gleich dem immigré diskriminiert, auch wenn sich diese Gesellschaft - politisch „korrekt" — als plural und multikulturell definiert. Aus Protest proklamieren sie heute zunehmend ihre „Differenz" und behaupten - analog zu den jungen beurs, den in Frankreich lebenden Kindern von Migranten aus dem Maghreb - eine „ethnische" Identität, die sie über eine Subkultur artikulieren. Und diese contreculture speist sich ebenso aus der kreolischen Folklore wie aus dem US-amerikanischen und Latino Rap. Die literarische Praxis der antillais hat noch kein Korpus hervorgebracht, wie es den beurs als Ausdruck ihrer spezifischen „ethnischen" Identität in den vergangenen zwei Jahrzehnten gelungen ist. Ein erster Ansatz findet sich in dem 1997 publizierten Roman Desirada von Maryse Condé, der die Geschichte von zwei Generationen erzählt: die Geschichte der Mutter, die Anfang der 60er Jahre nach Paris kommt und durchaus reüssiert; die der ältesten Tochter, der Protagonistin, die als Heranwachsende gezwungen wird, die heimatliche Insel zu verlassen und der Mutter zu folgen, sich in der ihr fremden Welt nicht zurechtfindet und sich als Erwachsene illusionslos und ziellos in den USA niederlässt; und die des jüngsten Sohnes, der in der Metropole geboren wurde und der sich sein Paris zu Eigen macht - „Paris, Hauptstadt der Farbe, das Paris der Zweiten Generationen, der négropolitains",68 Maryse Condés Roman wurde (wie alle Romane der Autorin) in einem Pariser Verlag publiziert, wurde aber von der Kritik weder in Frankreich noch auf den Antillen in besonderer Weise wahrgenommen. Das von Edouard Glissant entworfene Konzept der errance, dem von einer „globalisierten" Kritik favorisierten Konzept „nomadischer", ent-territorialisierter Identität vergleichbar, ist

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Desirada. Paris: Laffont 1997, S. 166.

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in der Literatur der antillais ein mittlerweile arg strapazierter Topos; und auch Condés Protagonistin in Desirada ist „exilée", „transplantée", „déracinée"... Doch der Roman entwickelt auch die Perspektive einer „Re-territorialisierung", des Ankommens in einer Welt, die zwar eine feindliche, aber die eigene Welt ist. Damit nähert sich die literarische Praxis der antillais jener der Black Britons an; dies allerdings nur in einem ersten Versuch, den fortzuschreiben gelingen wird, wenn sich ebenjene Generation von négropolitains selber zu Wort meldet.

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Register

PERSONEN

Abraham, Hérard 53

Anthony, Kenny 74

Abu Bakr, Yasin (= Lennox Philip) 64

Anthony, Michael 203, 2 0 9

Acevedo Vilá, Aníbal 125

Aquino Garcia, Miguel 234

Acosta, Iván 256, 2 5 7

Arenai, Humberto 2 3 7

Adams, Tom 69

Arenas, Reinaldo 2 5 9

Alarcón, Ricardo 93

Aristide, Jean-Bertrand 53, 58, 99fF„

Alberto, Elíseo 241, 259

137, I63f.

Alcántara Almánzar, José 232

Arrivi, Francisco 226f.

Alexandre, Boniface 103

Arrufat, Anton 239, 2 4 0

Alexis, Jacques Stephen 193, 221, 222,

Arthur, Owen 69, 70

246f.

Austin, Hudson 45

Alexis, Stephen 193

Avril, Prosper 53

Alfonseca, Miguel 231

Aznar, José Maria 152

Allfrey, Phyllis Shand 204 Algarin, Miguel 260

Baker, Charles Henri 104

Alonso, Dora 179

Baker, Josephine 189

Alonso Pacheco, Manuel A. 174

Balaguer, Joaquin 35, 49f., 93ff., 9 6 f „

Alvarez, Julia 235, 2 6 I f .

2 3 0 f „ 234, 2 3 5

Amory, Vance 80

Ballagas, Emilio 190

Annan, Kofi 92

Baquero, Gastón 2 3 5

Andréu Iglesias, César 228

Barnet, Miguel 237, 240

Andropov, Juri 158

Barrow, Dean 114

Angulo Guridi, Francisco Javier 176

Barrow, Errol 69

278

Die Karibik

Batista, Fulgencio 26, 28f., 50, 129, 179, 235, 237 Belafonte, Harry 250 Belaval, Emilio S. 182 Bennett, Louise 247 Bernabé, Jean 218, 219 Betancur, Belisario 143 Billini, Francisco Gregorio 176 Binder, Wolfgang 255 Bird, Ivor 77 Bird, Lester 77 Bird, Vere C. 76£, 162 Bird, Vere C. Jr. 77 Bishop, Maurice 33, 36, 37, 45, 46, 69, 80, 128, 131, 137, 139, 148, 160 Blaize, Herbert A. 46 Blinder, Oda (= Yolanda Corsen) 211 Bono, Pedro Francisco 176 Bosch, Juan 35, 49f., 93f., 185, 230, 232 Bosch, Orlando 144 Boti, Regino E. 178 Boukman, Daniel (= Daniel Blérard) 215,266 Bouterse, Desi 47ff., 109ff. Bradshaw, Robert 78 Brand, Dionne 206f. Brathwaite, Edward (Kamau) 166, 201f„ 203, 208 Brathwaite, Nicholas 46, 80 Brecht, Bertolt 227, 231, 266 Breton, André 195 Brival, Roland 217 Brizan, George 80 Brodber, Erna 204 Brouard, Carl 192 Bruii, Mariano 178 Bruma, Eddy J. 21 If. Brunswijk, Ronnie 48, 110 Bukowski, Charles 242 Burnham, Linden Forbes S. 32f., 40f., 42, 5 7 , 1 0 7 , 2 0 7

Burton, Dan 135 Bush, George 57, 133ff., 142 Bush, George W. 57, 92, 136, 142 Cabrera, Lydia 236 Cabrera Infante, Guillermo 237, 239, 241,258 Cairo, Edgar 212 Calderón, Sila Maria 125 Calypso Rose (= McArtha Linda Lewis) 250 Camus, Albert 207 Canetti, Yanitzia 259 Capécia, Mayotte 215f. Carew, Jan 209 Carpentier, Alejo 190f„ 198, 235, 237f. Carrion, Miguel de 178 Cartagena Portalatin, Aida 184, 232 Carter, Jimmy 50, 90 Carter, Martin 207 Castera, Georges 225 Castillo, Efraim 234 Castro, Fidel 28, 31, 32, 55, 57, 86, 90, 92f„ 104, 127f., 134, 136, 142, 146, 147, 151, 158, 179, 235, 236, 238 Castro, Raul 31, 55, 93, 136 Cato, Milton 75, Cédras, Raoul 100 Césaire, Aimé 119, 195f-, 203, 213, 2l4f. Chambers, George 39 Chamoiseau, Patrick 218f. Charles, Jean-Claude 222 Charles, Mary Eugenia 42f„ 70f., 72, 73 Charles, Pierre 72 Chauvet, Marie 221, 222 Chävez, Hugo 90, 91, 93, 104, 108, I43ff. Chaviano, Daina 259 Chenet, Gérard 222, 224 Chirac, Jacques 122

Register Chrétien, Jean 141 Christie, Perry 83 Cinéas, Jean-Baptiste 193 Cirules, Enrique 240 Clarke, Austin 206, 207, 263 ClifF, Jimmy (= James Chambers) 251 ClifF, Michelle 205, 206 Clinton, Bill 57, 100, 134ff. Clitandre, Pierre 222, 224 Coard, Bernard 45 Cofiño López, Manuel 239 Colbert, Jean-Baptiste 15 Colimon, Marie-Thérèse 221 Collins, Merle 204, 206f. Compton, John 43, 73, 74, 16lf. Condé, Maryse 220, 247, 266, 267f. Confiant, Raphaël 218, 219, 266 Corbin, Robert 107 Corretjer, Juan Antonio 182 Corsen, Joseph Sickman 168 Cortés, Hernán 14 Cortijo, Rafael 249 Cossío Woodward, Miguel 239 Cromwell, Oliver 16 Cullen, Countee 186 Cuza Malé, Belkis 239 D'Aguiar, Fred 205 Dabydeen, David 210, 263 Dalembert, Louis-Philippe 222, 223 Damas, Léon-Gontran 195, 213, 216 Danticat, Edwige 261 Darío, Rubén 178 Debray, Régis 156 Debrot, Nicolaas („Colá") 210, 211 Deive, Carlos Esteban 234 Del Cabrai, Manuel 185, 186 Del Casal, Julián 178 De Lisser, Herbert George 200, 201 Del Monte, Domingo 172f. Del Monte, Félix María 175

279

Del Risco Bermúdez, René 231 Delafosse, Maurice 189 Delgrès, Louis 217 Delorme, Demesvar 169 Depestre, René 221, 222, 224 Desnoes, Edmundo 236, 237 Desquiron, Lilas 224 Dessalines, Jean-Jacques 21, 170, 217 Díaz, Jesús 237, 241,259 Díaz, José del Carmen 173 Díaz Alfaro, Abelardo 182 Díaz Grullón, Virgilio 232 Díaz Valcárcel, Emilio 227, 228, 229 Diego, Eliseo 180 Diego, José de 181 Diego Padró, José Isaac de 181 Disia, Reynaldo 231 Domínguez, Franklin 231 Dorsinville, Roger 222 Dorval, Gérard 225 Douglas, Denzil 79 Douglas, Roosevelt („Rosie") 71f., 73 Drake, Francis 15 Dubois, William E. B. 187 Durand, Oswald 169 Duvalier, François 28, 35f., 102, 193, 198, 222, 223 Duvalier, Jean-Claude 28, 35f., 50ff„ 99, 102, 104, 137, 198, 225 Edgell, Zee 204 Esquivel, Manuel 113, 114 Estorino, Abelardo 240 Estrella, Eduardo 97 Etienne, Franck (Franketienne) 52, 225 Etienne, Gérard 222, 223, 224 Eustace, Arnhim 76 Fanon, Frantz 197, 215f., 221, 245, 266 Faulkner, William 179 Fernández, Leonel 94£, 96, 97ff.

280

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Fernández, Pablo Armando 240 Fernández, Roberto G. 257 Fernández Retamar, Roberto 240 Fernández Spencer, Antonio 184 Ferré, Rosario 229, 230 Fiallo, Fabio 184 Fignolé, Jean-Claude 225 Firmin, An ténor 170f. Flaubert, Gustave 192 Flores, Juan 261, 262 Florit, Eugenio 178 Fouché, Franck 222, 224 Fox, Vicente 142 Francisco, Slinger („The Mighty Sparrow") 250 Franco, Francisco 157, 158 Franketienne s. Etienne, Franck Frobenius, Leo 189 Fuentes, Norberto 237 Gaddafi, Muammaral- 138 Gage, Thomas 16 Gairy, Eric 33, 36, 45, 46 Galván, Manuel de Jesús 176f. García, Cristina 258 García, Iván 231 García Godoy, Federico 183 García Marrúz, Fina 180 García-Posada, Miguel 259 García Ramis, Magali 230 Garvey, Marcus 187, 188, 251 Gatón Arce, Freddy 184, 231 Gautier, Manuel Salvador 234 Gilroy, Beryl 264 Gilroy, Paul 265 Giscard d'Estaing, Valéry 119 Glissant, Edouard 216, 217f., 219, 267 Gobineau, Joseph Arthur, comte de 170 Goffman, Irving 253 Gómez de Avellaneda, Gertrudis 172, 173

Gonsalves, Ralph 75, 76 González, Elián 89 González, Felipe 158 González, José Luis 227, 228, 230 González, Reynaldo 240 González de Cascorro, Raúl 240 Gorbatschow, Michail 56 Guevara, Ernesto „Che" 156, 236 Guillén, Nicolás 179f., 182, 190, 235, 240 Guirao, Ramón 190 Gutiérrez, Carlos 137 Gutiérrez, Pedro Juan 24 lf., 259 Gutiérrez Menoyo, Eloy 158 Guzmán, Antonio 49 Haile Selassie I. 251 Harris, Wilson 203, 205, 209, 210 Hawkins, John 15 Hearne, John 203, 205, 208 Heath, Roy 203f., 210 Helman, Albert (= Lodewijk A. M. Lichtfeld) 210f. Helms, Jesse 135 Hemingway, Ernest 179 Henri Christophe 21, 170 Henzell, Perry 206, 250f. Heredia, José María 172 Hernández Franco, Tomás 185 Hernández Rueda, Lupo 231 Heyn, Piet 15 Hibbert, Fernand 193 Hibbert, Frederick „Toots" 250 Hijuelos, Oscar 258 Hill, Errol 202, 209 Hinds, Samuel 106, 107 Hodge, Merle 204 Holguín-Veras, Miguel 234 Hostos, Eugenio María de 172 Hoyte, Desmond 41, 57f., 105ff. Hughes, Langston 186, 188

Register Hugo, Victor 173 Hugues, Victor 22 Hu Jintao 138 Hunte, Julian 74 Hyvrard, Jeanne 216 Incháustegui Cabrai, Héctor 185 Ingraham, Hubert 83 Jagan, Cheddi 32, 40, 41, 58, 105f. Jagan, Janet 106, 107 Jagdeo, Bharrat 107 James, C. L. R. (Cyril Lionel Robert) 201 James, Edison C. 71 Jamis, Fayad 240 Janvier, Louis-Joseph 170 Jiménez, Juan Ramón 178 Johannes Paul II. 51, 89 John, Patrick 42 Johnson, Linton Kwesi 208 Jones, Jim 40 Jorge Blanco, Salvador 49, 50 Jorge Cardoso, Onelio 179 Juliá Marín, Ramón 180, 183 Juminer, Bertène 216 Kennedy, John F. 127f. Khan, Ismith 203, 209 Kincaid, Jamaica (= Elaine Potter Richardson) 204 Kirkpatrick, Jeanne 128 Knight, Franklin W. 26, 164 Koenders, Julius Gustaaf Arnout 211 Kolumbus, Christoph 13 La Fayette, Marie-Joseph du Motier, Marquis de 20 Lacrosil, Michèle 216 Laferrière, Dany 222f. Lage, Carlos 93

281

Laguerre, Enrique A. 183, 227, 229 Lamming, George 202f., 205, 206, 263 Las Casas, Bartolomé de 14 Latortue, Gérard 103f. Lauffer, Pierre (= José Antonio Martes) 188,211 Laviera, Tato 261 Ledere, Charles Victor Emmanuel 20, 21 Leeuwen, Boeli (= Willem C. J.) van 211 Léro, Etienne 169 Lespès, Anthony 221 Levins Morales, Aurora 261 Levy, Andrea 264 Lewis, Gordon K. 126 Lewis, Vaughan 74 Lezama Lima, José 180, 238 Lhérisson, Justin 193 Lloréns Torres, Luis 181, 182 Lord Kitchener (= Aldwyn Roberts) 250 Loveira, Carlos 178, 179 Lovelace, Earl 206, 209 Lugo Filippi, Carmen 230 Lumumba, Patrice 215 MacDermot, Thomas Henry s. Redcam, Tom Machado, Gerardo, 26, 178, 179 Macouba, Auguste (= Auguste Armeth) 215 Madden, Richard R. 172f. Mais, Roger 206, 208 Majluta, Jacobo 49, 50 Manigat, Leslie F. 53, 104 Manley, Michael 32, 37, 57, 60f„ 64, 160 Manning, Patrick 65f., 68, 145 Manzano, Juan Francisco 173 Maran, René 220 Marcelin, Frédéric 193 Marcelin, Pierre 193

282

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Margenat, Hugo 226 Marin, Francisco Gonzalo „Pachin" 172 Marley, Bob 251, 252 Marqués, René 226, 227, 260f. Marrero Aristy, Ramon 185 Marshall, Trevor 70 Marti, José 84, 129, 172, 173, 177, 178, 179, 254 Martinez Villena, Rubén 178 Martinus Arion, Frank (= Frank Efraim Martinus) 188,211 Marugg, Tip (= Silvio Alberto) 211 Mas Canosa, Jorge 135 Mas Santos, Jorge 135 Mateo, Andrés L. 234 Maximin, Daniel 217, 218, 266 McCarry, Caleb 137 McKay, Claude 186, 187 McLeod, Cynthia 212 Medina, Pablo 257f. Mejia, Hipólito 95ff. Mendes, Alfred H. 201 Mercado, José („Momo") 181 Métellus, Jean 222, 225 Mieses Burgos, Franklin 184 Milanés, Pablo 249 Miller, Henry 242 Mir, Pedro 186, 232 Mirabeau, Honoré Gabriel Riqueti, Comte de 20 Mitchell, James 75, 76, I 6 l £ Mitchell, Keith 81 Mittelholzer, Edgar 202f„ 205, 209, 210 Mitterrand, François 120, 121, 156 Môrner, Magnus 17 Montaner, Carlos Alberto 255 Montenegro, Carlos 179 Montes Huidobro, Mau'as 255 Moore, Gerald 199 Morales, Evo 90

Morales, Rosario 261 Morejón, Nancy 240 Moreno Jimenes, Domingo 183f. Morgado, Marcia 259 Morgan, Henry 19 Morisseau-Leroy, Félix 221, 222, 225 Morris, Mervyn 208 Mulroney, Brian 140 Muñoz, Elias Miguel 257 Muñoz Marín, Luis 124 Muñoz Mendoza, Victoria 125 Musa, Said 114 Mutabaruka (= Allan Hope) 208 Naipaul, V. S. (Vidiadhar Surajprasad) 204, 206, 207, 264f. Namphy, Henri 52, 53 Napoleon I. Bonaparte 20, 21 Nelson, Lord Horatio 70 Nichols, Grace 204 Nielson, Poul 151 Nietzsche, Friedrich 189 Niger, Paul (= Albert Béville) 213 Nogueras, Luis Rogelio 240 Novás Calvo, Lino 179 Nowak, Manfred 92 Núñez de Balboa, Vasco 14 Ochoa, Arnaldo 55 Odium, George 74 Offergeld, Rainer 153 Ojeda, Alonso de 14 Ollivier, Emile 222, 225 Ortiz, Fernando 189, 190, 245 Ortiz Cofer, Judith 26If. Orville, Xavier 219 Otero, Lisandro 237 Padilla, Heberto 239 Padura Fuentes, Leonardo 241, 242, 259

Register Palcy, Euzhan 214 Palés Matos, Luis 181, 182f. Panday, Basdeo 65, 66, 67f. Parry, Joseph W 80 Pascal-Trouillot, Ertha 53 Patient, Serge 2 l 6 f . Patterson, Orlando 205, 208 Patterson, Percival James 61, 64 Payá, Oswaldo 89f. Pedreira, Antonio S. 18 lf., 230 Pedroso, Regino 178, 179f. Peña Gómez, José Francisco 94 Pépin, Ernest 219 Pereira, Manuel 239 Perera, Hilda 255 Pérez, Fernando 89 Pérez, José Joaquín 175, 176 Pérez Firmat, Gustavo 258 Pérez Galdós, Benito 183 Pérez Jiménez, Marcos 28 Pérez Roque, Felipe 93 Pétion, Alexandre 21 Phelps, Anthony 222, 223 Phillips, Caryl 263, 264, 265 Philoctète, René 225 Pietri, Pedro 260 Pindling, Lynden O. 83 Pineau, Gisèle 219 Piñera, Virgilio 238, 240 Piñero, Miguel 260 Pizarra, Francisco 14 Placoly, Vincent 216, 217 Ponce de León, Juan 14 Prestol Castillo, Freddy 233f. Préval, René 58, 101, 104f. Price, George 113, 114 Price, Hannibal 170f. Price-Mars, Jean 189, 191f., 243, 246 Prida, Dolores 255f., 257 Purdue, Michael 43

283

Quintero, Héctor 240 Ramos, José Antonio 179 Ramos, Juan Antonio 230 Ramos Otero, Manuel 230 Reagan, Ronald 37, 50, 51, 53, 60, 61, 74, 128ff„ 134, 139f., 143, 154f. Redcam, Tom (= Thomas Henry MacDermot) 199f. Reid, Vic (Victor Stafford) 202f„ 205 Requena, Andrés Francisco 185f. Rhone, Trevor 202, 206 Rhys, Jean (= Ella Gwendolen Rees Williams) 200f., 204 Ribera Chevremont, Evaristo 181, 182 Rice, Condoleezza 137 Richelieu, Armand-Jean du Plessis de 16 Rigaud, André 21 Rigaud, Milo 193 Riley, Joan 264 Robinson, Arthur N. Raymond 40, 65, 66, 67f. Rodney, Donald 41 Rodney, Walter 41 Rodriguez, Abraham 262 Rodriguez, Luis Felipe 179 Rodriguez, Silvio 249 Rodríguez deTió, Lola 172 Rodríguez Juliá, Edgardo 229 Rodríguez Torres, Carmelo 228 Rodríguez Zapatero, José Luis 90, 152 Roemer, Astrid 212 Roopnaraine, Rupert 109 Roosevelt, Franklin D. 28 Roosevelt, Theodore 27 Rosselló, Pedro 125 Roumain, Jacques 193, 194, 214, 220, 221 Roumer, Emile 192 Rueda, Manuel 184 Rupaire, Sonny 215

284

Die Karibik

Saint-John Perse (= Alexis Saint-Léger Léger) 169 Sainville, Léonard 217 Salkey, Andrew 202, 203, 205, 207, 263f. Sanabria Santaliz, Edgardo 230 Sánchez, Luis Rafael 227, 229 Sánchez-Boudy, José 255 Sandiford, Erskine 69 Sangodare, Asjantenu (= Michael Arnoldus Slory) 212 Santana, Pedro 175 Santiago, Esmeralda 261 Sarduy, Severo 239, 241, 258 Sartre, Jean-Paul 196f., 221 Schlesinger, Arthur M. Jr. 127f. Schwarz-Bart, André 217, 266 Schwarz-Bart, Simone 216, 217, 219, 266 Scott, Dennis 208 Scott, Lawrence 209 Seaga, Edward 37f., 57, 60f„ 64, 129, 160, 161 Selvon, Samuel 203, 209, 263 Sención, Viriato 234f. Senghor, Léopold Sédar 195, 196, 203, 221 Seraphine, Oliver 42 Serpa, Enrique 179 Serrano, Jorge 78 Serulle, Haffe 231 Shankar, Ramsewak 49 Shinebourne, Janice 204 Silén, Iván 226 Silva, Luiz Inácio „Lula" da 147 Simmonds, Kennedy 78, 79 Simpson Miller, Portia 64 Skerrit, Roosevelt 72, 138f. Smart, Rosny 101 Soler Puig, José 237 Somoza Debayle, Anastasio 28, 36, 128 Soto, Pedro Juan 227ff.

Soyinka, Wole 196 Spencer, Winston Baldwin 77 Spengler, Oswald 189 St. John, Bernard 69 St. Omer, Garth 207 Stephenson, Elie 215 Suárez, Adolfo 158 Suárez, Virgil 257 Suárez y Romero, Anselmo 172, 173 Taubira, Christiane 122 Thaly, Daniel 169 Thatcher, Margaret 42, 154, 155 Thelwell, Michael 206 Thoby-Marcelin, Philippe 193 Thomas, Piri 260, 262 Tirolien, Guy 213 Toomer, Jean 186 Torres, Omar 257 Torricelli, Robert 135 Tosh, Peter (= Winston Huben Mcintosh) 251 Toussaint Louverture, François Dominique 20f„ 22, 170, 217 Trefossa (= Henry Frans de Ziel) 212 Triana, José 238, 240 Trouillot, Lyonel 225 Trudeau, Pierre Elliott 139 Trujillo, Rafael Leonidas 27, 28, 35, 50, 127f., 184ff„ 198, 225, 230ff„ 249 Turbay Ayala, Julio César 142, 143 Urefia de Henríquez, Salomé 175f. Valdés, Zoé 259 Valero, Roberto 259 Vega, Ana Lydia 230 Veloz Maggiolo, Marcio 233, 234 Venetiaan, Runaldo Ronald 110, 111 Vergés, Pedro 232 Vianen, Bea 212

Register

285

Victoria, Carlos 259 Villaverde, Cirilo 173f. Villegas, Víctor 231 Vitier, Cintio 180 Voorhoeve, Jan 212

Washington, Booker T. 187 Wenders, Wim 249 Wieczorek-Zeul, Heidemarie 150,154 Wijdenbosch, Jules 111 Williams, Eric 38f., 76f.

Wagner, Richard 189 Walcott, Derek 2 0 l £ , 203, 206, 208 Walrond, Eric 188 Warner-Vieyra, Myriam 216 Warnke, Jürgen 154

Zambrana, Antonio 173 Zeno Gandia, Manuel 174f., 180 Zola, Emile 174 Zacarías Tallet, José 190 Zobel, Joseph 214, 2 6 5 , 2 6 6

L Ä N D E R U N D T E R R I T O R I E N IM K A R I B I S C H E N

Anguilla 10, 34, 43, 44, 138 Antigua/Barbuda 10, 15, 33, 34, 44, 76ff„ 138, 162 Aruba 10, 115ff., 162, 168 Bahamas 9, 10, 34, 59, 69, 82ff„ 98, 140, 160, 161 Barbados 10, 15, 34, 42, 43, 44, 45, 46, 68ff„ 140, 145, 152, 159, 161, 162 Belize (Britisch-Honduras) 10, 34, 99, 112ff„ 155, 161, 162, 204f. Cayman-Inseln 9, 10, 34, 43, 59 Dominica 10, 33, 34, 42f„ 44, 71ff„ 119, 130, 138f„ 156, 157 Dominikanische Republik (Hispaniola) 9 , 1 0 , 1 3 f . , 16,21 f., 2 7 , 2 8 , 35,49f., 70, 93ff„ 145, 147, 148, 152, 154, 162,175ff., 183ff„ 198,230ff„ 249, 253 Französisch-Guayana 10, 119ff., 146, 194ff., 213ff. Grenada 10, 16, 33, 34, 36, 37, 41, 43, 44ff„ 69, 70f., 73, 80f., 128, 129, 130, 131ff., 137f., 139, 141, 144, 148, 155, 156, 160f„ 162 Guadeloupe 10, 16, 22, 115, 119ff, 168f„ 194ff, 213ffi, 247, 265ff.

RAUM

Saint-Barthélemy 10, 16, 119, 121 Saint-Martin 10, 16, 115, 119, 121 Guyana (Britisch-Guayana) 10, 23,32f., 34, 40ff„ 47, 57f., 69, 79, 99, 105ff, 140, 146, 147, 152, 156, 159,160f., 1 6 2 , 1 6 7 , 1 8 8 , 2 0 1 , 2 0 5 , 207f., 209£, 2 l 6 f „ 244, 253, 265 Haiti (Saint-Domingue) 10, 16, 18, 19ff„ 22, 24, 27f., 35f., 50ff„ 58, 98ffi, 137, 140, 149, 152, 153, 154, 156, 157, 162, I63f., 169ff., 172, 177, 184, 189, 191ff„ 195, 198, 215, 220ff., 234, 244, 2 4 5 f f , 253 Jamaika 9, 10, 16, 18, 19, 22, 32, 34, 37f., 44, 46, 57, 58, 60ff„ 65, 99, 133, 140, 152, 159ff., 187f., 199ff., 205, 207f„ 244, 245, 247, 249, 250ff„ 253, 262flF. Jungfern-Inseln (br.) 10, 34, 43, 44 Jungfern-Inseln (US-) 10, 163 Kuba 9, 10, 11, 14, 15, 23, 24, 2 5 f f , 2 8 f f , 33, 35, 41, 45, 53ff., 41, 45, 53ff., 57, 61, 70, 81, 82, 8 4 f f , 127ffi, 131,132,134ffi, 138, l 4 0 f f „ I43ff., 147, 149, 150ff„ 154f„ 156, 157f., 159, 162, 163, 171ff„ 177ffi,

286

Die Karibik

189ff., 197, 198, 222, 235ff„ 244, 245, 248f„ 253, 254ff„ 260 Martinique 10, 16, 119ff., 168f„ 194ff„ 213ff„ 247, 265ff. Montserrat 10, 15, 34, 43, 44 Niederländische Antillen 10, 15, 35, 115ff., 162, 168, 188f.,210f. SintMaarten 10, 16, 115, 116, 117, 118 Puerto Rico 9, 10, 1 5 , 2 3 , 2 6 , 9 8 , 1 2 2 f f „ 132, 156, 163, 171f., 174f„ 177, 180ff„ 197f., 222, 226ff„ 247, 249, 254, 259ff. Vieques 132, 228 St. Kitts/Nevis 10, 15, 33, 34, 44, 73, 78ff„ 139, 265

St. Lucia 10, 15, 16, 33, 3 4 , 4 3 , 44, 45, 46, 73ff., 156, 1 5 7 , 1 6 2 St. Vincent und die Grenadinen 10, 22, 33, 34, 44, 46, 75f., 112, 156, 162 Suriname (Niederländisch-Guayana) 10, 15, 23, 47ff., 107,108, 109ff., 116, 145, 146, 148, 152, 162, 163, 168, 188f., 2 1 0 , 2 1 lff., 244 Trinidad/Tobago 10, 15, 23, 34, 38ff„ 44, 64ff„ 76, 140, 145, 152, 156, 159, 160f., 200ff„ 2 0 7 f f , 210, 245, 249f., 253, 262ff. Türks- und Caicos-Inseln 9, 10, 34, 43