Das Imaginäre der Nation: Zur Persistenz einer politischen Kategorie in Literatur und Film [1. Aufl.] 9783839419816

Vielfach ist die Rede davon, dass im Zeitalter der Globalisierung das Konzept der Nation ausgedient habe. Die politische

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Das Imaginäre der Nation: Zur Persistenz einer politischen Kategorie in Literatur und Film [1. Aufl.]
 9783839419816

Table of contents :
Inhalt
Das Imaginäre der Nation. Einleitung
Nationale ›Hirngemälde‹. Bildpoetik, Selbstgefühl und die Schatzkammern der Nation bei Johann Gottfried Herder
Hermanns Ding
Edition, Nation und Wissenschaft. Text und Nation als Objekte in von der Hagens Nibelungen-Edition von 1807
Der »deutscheste Mann unserer Geschichte«. Luther im nationalen Diskurs zu Beginn des 19. Jahrhunderts
Deutsches Waidwerk. Jägermeister und Jagdgemeinschaft im Heimatfilm der 1950er Jahre
Gemeinschaften Roter Männer: Dakotas, Delawaren und DDR-Bürger. ›Der Indianer‹ als Figur eines deutschen Imaginären
Wolken.Heim. genießen. Elfriede Jelineks Nationaltheater
Slavoj Žižek und Der Fundamentalist, der keiner sein wollte: (De-)Konstruktionen der amerikanischen Nation nach dem 11. September 2001
The Sound of Germany. Nationale Identifikation bei Rammstein
Die Flucht oder: Was die Nation mit Ostpreußen zu tun hat
Gnade vor Recht? Eine Lektüre der Begnadigungsdebatte um Christian Klar
Was kommt nach der Nation? Das ›Versprechen‹ des Schwarms in kulturwissenschaftlichen und soziobiologischen Diskursen und in Frank Schätzings Wissenschaftsroman
Autorinnen und Autoren

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Katharina Grabbe, Sigrid G. Köhler, Martina Wagner-Egelhaaf (Hg.) Das Imaginäre der Nation

Katharina Grabbe, Sigrid G. Köhler, Martina Wagner-Egelhaaf (Hg.)

Das Imaginäre der Nation Zur Persistenz einer politischen Kategorie in Literatur und Film

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Sibylle-Hahne-Stiftung

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Christo and Jeanne-Claude, Wrapped Reichstag, Berlin, 1971-95, Photo: Wolfgang Volz/laif, © 1995 Christo Lektorat & Satz: Katharina Grabbe, Sigrid G. Köhler, Martina Wagner-Egelhaaf, Kerstin Wilhelms Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1981-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Das Imaginäre der Nation Einleitung Katharina Grabbe, Sigrid G. Köhler, Martina Wagner-Egelhaaf | 7 Nationale ›Hirngemälde‹ Bildpoetik, Selbstgefühl und die Schatzkammern der Nation bei Johann Gottfried Herder Sigrid G. Köhler | 25 Hermanns Ding Martina Wagner-Egelhaaf | 51 Edition, Nation und Wissenschaft Text und Nation als Objekte in von der Hagens Nibelungen-Edition von 1807 Christina Riesenweber | 81 Der »deutscheste Mann unserer Geschichte« Luther im nationalen Diskurs zu Beginn des 19. Jahrhunderts Friederike Krippner | 105 Deutsches Waidwerk Jägermeister und Jagdgemeinschaft im Heimatfilm der 1950er Jahre Christian Schmitt | 131

Gemeinschaften Roter Männer: Dakotas, Delawaren und DDR-Bürger ›Der Indianer‹ als Figur eines deutschen Imaginären Katharina Grabbe | 163 Wolken.Heim. genießen. Elfriede Jelineks Nationaltheater Matthias Schaffrick | 189 Slavoj Žižek und Der Fundamentalist, der keiner sein wollte: (De-)Konstruktionen der amerikanischen Nation nach dem 11. September 2001 Anna Thiemann | 221 The Sound of Germany Nationale Identifikation bei Rammstein Kerstin Wilhelms | 245 Die Flucht oder: Was die Nation mit Ostpreußen zu tun hat Caren Heuer | 265 Gnade vor Recht? Eine Lektüre der Begnadigungsdebatte um Christian Klar Stephan Berghaus | 293 Was kommt nach der Nation? Das ›Versprechen‹ des Schwarms in kulturwissenschaftlichen und soziobiologischen Diskursen und in Frank Schätzings Wissenschaftsroman Julia Bodenburg | 327 Autorinnen und Autoren | 351

Das Imaginäre der Nation Einleitung KATHARINA GRABBE, SIGRID G. KÖHLER, MARTINA WAGNEREGELHAAF

Die ›Nation‹ ist in der Forschung immer wieder explizit als modernes,1 vor allem im 18. und 19. Jahrhundert ausgeprägtes Phänomen der Staatenbildung beschrieben worden. Den Modernisierungstheorien galt sie indessen nur als ein notwendiges, auf dem Weg zu einer globalen Weltgesellschaft zu überschreitendes Durchgangsstadium. Die beiden im 20. Jahrhundert im Namen der Nation geführten Weltkriege mit ihren verheerenden Folgen schienen daran keinen Zweifel zu lassen. Transnationale Verbünde wie die Vereinten Nationen, Nachfolgeorganisation des 1919 gegründeten Völkerbundes oder aber die Europäische Gemeinschaft bzw. Union sollten dem nationalen Interessenausgleich dienen und zugleich den Mitgliedern politische oder ökonomische Vorteile sichern. Entsprechend ernüchternd wirkte in der Nationalismusforschung das erneute Aufkommen nationaler Bestrebungen mit der Dekolonisierung in den 1960er- und nach der Auflösung der Ost-West-Blockbildung in den 1990er-Jahren. Auch in der gegenwärtig stattfindenden sog. ›arabische Revolution‹ spielen nationale Argumentationsmuster eine nicht zu übersehende Rolle. Einmal mehr zeigt sich darin »[d]ie ausgeprägte Identitätsschwäche supranationaler Verbünde und Institutionen bzw. die Stärke alter nationaler Identitäten in diesen politischen Organisationsformen, die ihre Existenz nicht zuletzt 1

Vgl. Benedict Anderson: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Naionalism, London, New York 2006, 5.

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einer Wahrnehmung des Nationalismus als Bedrohung des regionalen und des Weltfriedens verdanken« – und dies »ist ein seit Jahrzehnten auf der Ebene der Vereinten Nationen und der Europäischen Gemeinschaft(en)/ Europäischen Union diskutiertes Problem«, wie Rolf-Ulrich Kunze die Lage zusammenfasst.2 Trotz Globalisierung und weltweiter transnationaler Migrationsprozesse erweist sich die Nation also nach wie vor als eine der zentralen politischen Bezugsgrößen. Auf die Staatsbildung bezogene Erklärungsansätze, die etwa das Argument der politischen Souveränität und Selbstbestimmung oder der Sicherung von wirtschaftlichen Interessen profilieren, reichen indessen nicht aus, um die Persistenz der Nation zu erklären, darin ist sich die Nationalismusforschung längst einig. Stattdessen wird die Nation als eine wirkmächtige Größe ›sui generis‹ betrachtet, die weit in die kulturellen und sozialen Gesellschaftsformationen eines Staates hinein wirkt3 und die per se schon interdisziplinäre Nationalismusforschung noch einmal geöffnet hat, insofern als die Nation sich nun nicht mehr nur als ein privilegiertes Forschungsdesiderat der Politikwissenschaft, Geschichte, Soziologie und/oder Anthropologie zeigt, sondern ganz explizit auch in den Kulturwissenschaften und darunter nicht zuletzt den Literaturund Filmwissenschaften zum Thema geworden ist. Freilich stand die Nation gerade im deutschsprachigen Kontext historisch immer schon im Fokus der deutschen Philologie. Der sich im ausgehenden 18. Jahrhundert formierende Topos von der deutschen Nation als dem Land der ›Dichter und Denker‹ bzw. von Deutschland als ›Kulturnation‹, dessen nationale Identität in besonderer Weise auf eine kulturelle (und dann auch ästhetische) Formierung zurückginge, mag diese Betrachtungsweise gefördert haben.4 Doch auch in einer postkolonialen Perspektive wird die Rolle der Literatur für den Gedanken der Nation unterstrichen.5 Wenn nun im vor-

2 3

Rolf-Ulrich Kunze: Nation und Nationalismus, Darmstadt 2005, 13. Vgl. Christian Jansen/Henning Borggräfe: Nation, Nationalität, Nationalismus, Frankfurt a.M. 2007, 9.

4

Vgl. zur Verstetigung dieses Topos um 1900 kritisch Daniela Gretz: Die deutsche Bewegung. Der Mythos von der ästhetischen Erfindung der Nation, München 2007.

5

Vgl. Dipesh Chakrabarty: Provincializing Europe. Postcolonial Thought and Historical Difference, with a new preface by the author, Princeton 2000, insbes. Kap. 6 »Nation and Imagination«.

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liegenden Band, schwerpunktmäßig am Beispiel ›Deutschlands‹ – aber auch die USA kommen in den Blick –, die Relevanz des Nationalen für die kulturelle Formierung einer Gesellschaft thematisiert wird, so nicht, um einmal mehr einen deutschen ›Sonderweg‹ nachzuzeichnen, sondern um aktuellen Forschungsperspektiven Rechnung zu tragen, die den Konnex von Nation und Kultur gerade nicht als deutsches Spezifikum thematisieren und damit zugleich der dieser Engführung zumindest historisch affinen Relativierung des Politischen entgegenwirken. Wenn die im Namen der Nation etablierten hegemonialen Gesellschaftsstrukturen, die mit ihr einher gehenden Mechanismen der In- und Exklusion, ihre dominanten Redeformationen und Bildarchive die Gemeinschaft bis in ihre Vorstellungswelt hinein bestimmen, so schafft sich die Nation ein überaus politisches Imaginäres. Die zuweilen auch für den deutschen Kontext noch zu findende Unterscheidung zwischen einem guten, weil liberalen ›Patriotismus‹ des 18. Jahrhunderts und einem bedrohlichen ›Nationalismus‹ des 19. und 20. Jahrhunderts erweist sich aus dieser Perspektive dann als unzulässig. Was aber ist eine Nation? Das hat schon früh, 1882, der Schriftsteller, Orientalist und Religionswissenschaftler Ernest Renan gefragt – »ein Plebiszit Tag für Tag«6, so lautet die oft zitierte Antwort. Damit erkennt Renan in der Willensentscheidung derer, die sich zur Nation zählen, den Begründungsakt der Nation. Renans Ansatz ist trotz seines voluntaristischen Konzeptes erstaunlich (post)modern, weil er die Nation nicht als etwas Gegebenes ansieht, sondern in den Köpfen der sich als Mitglieder der Nation Betrachtenden ansiedelt, d.h. die mentale Dimension der nationalen Identifizierung hervorhebt. Damit arbeitet er zweifellos konstrukivistischen Ansätzen vor. Geradezu topisch wird, um die Wende in der Nationalismusforschung zu markieren, immer wieder auf das Jahr 1983 als »annus mirabilis«7 verwiesen, in dem drei epochemachende Monographien erschienen sind: Ernest Gellners Nation and Nationalism, Eric Hobsbawms und Terence Rangers The Invention of Tradition und last but not least Benedict Andersons Imagined Communities, dessen Konzept der vorgestellten Gemeinschaften ein zentraler Ausgangspunkt für den vorliegenden Band ist.

6

Ernest Renan: Was ist eine Nation? Rede am 11. März 1882 an der Sorbonne,

7

Hans-Ulrich Wehler: Nationalismus. Geschichte, Formen, Folgen, München,

Hamburg 1996, 35. 4

2011, 8.

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Gemeinsam ist ihnen ihr explizit konstruktivistischer Ansatz, demzufolge sie Nationen als künstliche, deswegen aber nicht als willkürliche Gemeinschaftskonstruktionen betrachten. Die bis dato die Nationalismusforschung beherrschende Frage, ob Nationen subjektivistische (also voluntaristische) oder objektivistische (auf tatsächlich gegebenen Grundlagen basierende) Größen sind, ist damit obsolet geworden. Der konstruktivistische Ansatz rückt stattdessen die Mechanismen in den Blick, die zu der Vorstellung einer nationalen Gemeinschaft führen. Er interessiert sich deshalb auch nicht so sehr für nationale Bewegungen als personale Gruppierungen oder für die Instrumentalisierung nationalistischer Ideen in solchen Bewegungen, sondern fokussiert vielmehr die Verfahren, Techniken und Medien, die an der Konstruktion der Nation beteiligt sind und die über eine Eigendynamik verfügen müssen, wenn sie, wie Anderson annimmt, Teil an der modernen Subjektformierung haben.8 Die Nation füllt das Vakuum, das durch die Relativierung der Religion und durch den Wegfall dynastischer und ständischer Organisationsprinzipien für die Gemeinschaftsbildung entstanden ist. Die modernen Gemeinschaften organisieren sich nicht mehr nach ihnen ›äußeren‹ Leitprinzipien, sondern als ›vorgestellte‹ Gemeinschaften, so Anderson.9 Obwohl Anderson in diesem Zusammenhang implizit medientheoretisch argumentiert – die anonyme Menge wird zur nationalen Gemeinschaft, weil sie u.a. aufgrund der Massenmedien wie die Zeitung über einen gemeinsamen zeitlichen Vorstellungsraum verfügt – evoziert sein Konzept der ›vorgestellten‹ Gemeinschaft noch eine andere, von ihm weniger ausgeführte Kategorie, nämlich die der Imagination oder des Imaginären, d.h. einer nicht bewussten oder gar reflektierten Vorstellung und Veranschaulichung der Nation, die gerade durch den historischen Bezug auf die Moderne einen Zusammenhang zwischen dem ›Entstehen‹ der modernen Einbildungskraft und der Subjektbildung nahe legt.10 Die Rede vom Imaginären betont (im Gegensatz zur Imagination/ Einbildungskraft) dabei das ›Künstliche‹ oder ›Phantastische‹ dieser

8

Vgl. B. Anderson: Imagined Communities, 5.

9

Vgl. B. Anderson: Imagined Communities, 34-36.

10 Vgl. Jochen Schulte-Sasse: »Einbildungskraft/Imagination«, in: Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 2, hg. v. Karlheinz Barck u.a., Stuttgart/Weimar 2001, 88120, hier bes. 92, 111, am Beispiel Herder den Beitrag von Sigrid G. Köhler in diesem Band.

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Vorstellungen, die auf Energien des Subjekts zurückgehen. Das Subjekt verfügt nicht über diese Vorstellungen, wird jedoch in seinem (Selbst) Bezug auf die Realität von ihnen in dem Maße gesteuert, als sie affektiv besetzt sind. Eine enge Verquickung zwischen Imaginärem und Macht wird ersichtlich, wenn diese nicht zu kontrollierenden und affektiv besetzen Bilder nicht nur für individuelle Subjekte, sondern für die Subjektformierung in Gemeinschaften angenommen wird, das Imaginäre also nicht nur das Subjekt, sondern die Vorstellungswelt von Kollektiven bestimmt.11 Mit der Imagination bzw. der Einbildungskraft verbindet das Imaginäre der in der gemeinsamen Wortwurzel angelegte Bezug auf das Bildliche respektive Visuelle, der, wird er auf das im Subjekt liegende produktive Moment/Vermögen hin fokussiert, die Frage des Ästhetischen und Medialen in den Blick rückt.12 Bemerkenswerterweise rückt auch Dipesh Chakrabarty im »Nation and Imagination« überschriebenen Kapitel seines Buches Provincializing Europe die Imagination nah an das hier zugrunde gelegte Verständnis des Imaginären heran, indem er sie als ›practice of seeing‹ begreift und dabei auch den überindividuellen sprachlichen Praxisaspekt unterstreicht.13 Das Imaginäre bildet im vorliegenden Diskussionszusammenhang eine interdisziplinäre Scharnierstelle, die entsprechend die Theoriereflexion ganz unterschiedlicher disziplinärer Provenienz wie Philosophie/Phänomenologie, Soziologie, Anthropologie, Psychoanalyse, Literatur- und Filmwissenschaften etc. herausfordert. Der Rückgriff auf die psychoanalytische Konzeption des Imaginären hat sich für die hier zusammengestellten Beiträge als konstruktiv erwiesen, weil sie es erlaubt, die von Anderson wenig reflektierten Aus- und Einschlussmechanismen nationaler Gemein-

11 Vgl. dazu Rudolf Behrens/Jörn Steigerwald (Hg.), Die Macht und das Imaginäre. Eine kulturelle Verwandtschaft in der Literatur zwischen Früher Neuzeit und Moderne, Würzburg 2005. Einschlägig als kollektive Institution hat das Imaginäre bekanntlich Cornelius Castoriadis in Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie, Frankfurt a.M. 1990 konzeptualisiert. 12 Zum Konnex von Imaginären, Ästhetik und Medientheorie vgl. Nicolas Pethes: »Über Bilder(n) sprechen. Einleitung in Lesarten einer Theorie des Imaginären«, in: Erich Kleinschmidt/Ders. (Hg.), Lektüren des Imaginären. Bildfunktionen in Literatur und Kultur, Köln/Weimar/Wien 1999, 1-14. 13 D. Chakrabarty: Provincializing Europe, 175.

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schaftsbildung im Kontext psychosemiotischen Dynamiken der Identifizierung zu reflektieren. Von psychoanalytischen Modellbildungen ausgehend lässt sich das Imaginäre als Dynamik der Identifizierung fassen, als das unabschließbare Geschehen, in dem sich ein Subjekt konstituiert. Der Versuch zu beschreiben, dass nicht nur individuelle (menschliche) Subjekte, sondern auch Nationen nach der Dynamik des Imaginären funktionieren, bedeutet, die psychosemiotischen Strukturen der Subjektbildung auch für eine Nation anzunehmen und die Nation als eine Identitätskategorie für Kollektive zu betrachten. Insofern die Nation ein wirkmächtiger Entwurf für die Bildung einer Gemeinschaft sein kann, unterliegt die nationale Gemeinschaft vergleichbaren Bildungsprozessen, die über Begehrensstrukturen sowie Mechanismen des Ein- und Ausschlusses operieren. In der Psychoanalyse Jacques Lacans bildet das Imaginäre mit dem Symbolischen und dem Realen die drei Register des Psychischen. Diese drei Ordnungen arbeiten stets in Verbindung miteinander. Das Imaginäre aus der Trias herauszugreifen und für sich zu betrachten, kann also nur unter heuristischen Vorzeichen geschehen, so wie es für die Übertragung psychoanalytischer Konzepte in kulturwissenschaftliche Fragestellungen im Allgemeinen gilt. Als Illustration oder ›Modellerzählung‹ des Imaginären kann Lacans Konzeption des Spiegelstadiums betrachtet werden.14 Die Bildung eines Ichs, so behauptet Lacan, setzt immer den Entwurf eines Bildes (einer imago) voraus – und damit ein InBeziehung-Treten zu einem Gegenüber. Die Differenz, die sich zwischen dem Ich und der Spiegel-Imago auftut, führt die Kluft (den Mangel) vor Augen, denn das Bild, das zur Grundlage des Selbstentwurfs wird, evoziert zwar die Vorstellung von Identität als etwas Geschlossenem, Ganzem, diese beruht jedoch auf der Gleichzeitigkeit von Er- und Verkennen: Das Erkennen im Spiegelbild, die Annahme des Bildes als eigenes (›Das bin ich‹) erfolgt über ein zeitgleiches Verkennen oder Ausblenden der Medialität des Bildes (›Das bin nicht ich. Das Bild ist ein Bild.‹). Dieses InBeziehung-Treten zu einem Selbstbild, die Blickbewegung des Er- und

14 Jacques Lacan: »Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint. Bericht für den 16. internationalen Kongreß für Psychoanalyse in Zürich am 17. Juli 1949«, in: Ders., Schriften I, ausgewählt und hg. v. Norbert Haas, aus dem Franz. v. Rodolphe Gasché u.a. 3. korr. Aufl. Weinheim/Berlin 1991, 61-70.

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Verkennens bezeichnet das Imaginäre, das somit als identifizierende Dynamik beschrieben werden kann. In Gang gehalten wird sie durch das Begehren nach der Identität, die das Bild zu versprechen scheint. In Slavoj Žižeks Überlegungen zur Nation findet Lacans psychoanalytische Theorie der Subjektkonstitution eine Übertragung auf kollektive Zusammenhänge. Žižek hebt hervor, dass nationale Identifizierung – also die Bildung einer Vorgestellungsgemeinschaft Nation – auf »eine Beziehung zur Nation als Ding«15 aufbaut. Das nationale ›Ding‹ ist charakterisiert durch seine »semantische Leere«16: »[A]lles, was wir darüber sagen können, ist, daß es ›the real Thing‹ ist«17. Es existiert, weil diejenigen, die zu dieser Gemeinschaft gehören, an es glauben und zugleich davon überzeugt sind, dass die anderen Mitglieder der Gemeinschaft ebenfalls daran glauben.18 Indem Žižek die Nation als Ding betrachtet, führt er vor, dass es sich auch dabei um einen ›leeren‹ Begriff handelt, der sein Gewicht vermittels einer reflexiven Glaubens-Struktur erhält. Die Nation als Ding bzw. das nationale Ding präsentiert sich als ein Identitätsangebot, es verkörpert das Genießen und erscheint daher »als das, was unserem Leben Fülle und Lebendigkeit verleiht«19. Mit dem Genießen verspricht es zugleich die Erfüllung des Begehrens, die Aufhebung des Mangels und das Erreichen von Geschlossenheit – und damit die Stillstellung der imaginären Dynamik. Da das Genießen jedoch nicht erreichbar ist, wird es als bedroht erfahren und dem Anderen, also demjenigen, der nicht zur Vorstellungsgemeinschaft gehört, wird der Diebstahl des Genießens unterstellt. Diese Abgrenzung verlagert den inhärenten Mangel nach außen und legt damit Außen und Innen überhaupt erst fest. Žižek sieht die Nation als grundsätzlich paradox. Als Erscheinung der Moderne konstituiert sich die Nation als Gemeinschaft, die sich gerade nicht mehr über ›natürliche‹ Beziehungen herleitet und von »traditionellen, ›organischen‹ Bindungen

15 Slavoj Žižek: »Genieße Deine Nation wie Dich selbst! Der Andere und das Böse – Vom Begehren des ethnischen ›Dings‹«, in: Joseph Vogl (Hg.), Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen, Frankfurt a.M. 1994, 133164, 135. 16 S. Žižek: »Genieße Deine Nation wie Dich selbst!«, 136. 17 S. Žižek: »Genieße Deine Nation wie Dich selbst!«, 135. 18 Vgl. S. Žižek: »Genieße Deine Nation wie Dich selbst!«, 136. 19 S. Žižek: »Genieße Deine Nation wie Dich selbst!«, 135.

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befreit ist«20. Zugleich haftet ihr jedoch das an, was Žižek »eine Art ›Überschuß des Realen‹« nennt und das zum Beispiel in der Rede von »›gemeinsamen Wurzeln‹«21 angesprochen wird. Die Nation konstituiert sich als moderne Gemeinschaft und zugleich über die Etablierung ›neuer‹ Bindemittel, die doch auf vergleichbare Weise funktionieren, Ein- und Ausschluss naturalisieren wie ihre Vorgänger, die sie abgelöst zu haben behauptet. In den Blick nehmen lässt sich mit diesen psychoanalytischen bzw. psychoanalytisch-kulturwissenschaftlichen Modellen also, wie eine Gemeinschaft sich immer wieder neu über die Bezugnahme auf bestimmte Bilder entwirft. Der Entwurf als Nation scheint dabei auf besondere Weise die Möglichkeit einer vermeintlich stabilen Identität, einer imaginären Schließung bzw. das unmögliche Anhalten der imaginären Dynamik zu versprechen. Die Nation als eine Gemeinschaft zu denken, die sich in der Dynamik des Imaginären im Verhältnis von Blick und Bild hervorbringt, betont die Rolle, die Bildern und Bildentwürfen für die Identifizierung zukommt. Dadurch entstehen Verbindungsstellen zu neueren Ansätzen einer interdisziplinären Bildwissenschaft wie sie sich im Anschluss an William John Thomas Mitchells und Gottfried Boehms Begriffsprägungen eines pictorial bzw. iconic turn von verschiedenen Seiten projektiert finden, und den damit verbundenen Fragen, wie Bilder Sinn bzw. Bedeutung herstellen, was – in unterschiedlichen Medien – ein Bild sei und auf welche Weise ihnen politische Macht zukommt.22 Die Fokussierung der

20 S. Žižek: »Genieße Deine Nation wie Dich selbst!«, 154. 21 S. Žižek: »Genieße Deine Nation wie Dich selbst!«, 154. 22 Vgl. für die Prägung der Formel pictorial bzw. iconic turn: William John Thomas Mitchell: »The Pictorial Turn [1992]«, in: Ders., Picture Theory. Essays on Verbal and Visual Representation, Chicago/London 1994, 11-34; Gottfried Boehm: »Die Wiederkehr der Bilder«, in: Ders. (Hg.), Was ist ein Bild?, München 1994, 11-38. Vgl. als aktuelle, deutschsprachige Vertreter der Bildwissenschaften z.B. Hans Belting: Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München 42011; Horst Bredekamp: Theorie des Bildakts. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2007, Berlin 2010. Aktuelle bildtheoretische Positionen unterschiedlicher Disziplinen versammeln die folgenden Sammelbände: Hans Belting (Hg.), Bilderfragen. Die Bildwissenschaften im Aufbruch, München 2007; Klaus Sachs-Hombach (Hg.), Bildwissenschaft. Disziplinen, The-

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Nation als imaginäres Konstrukt bringt es mit sich, dass im vorliegenden Band nicht die Rekonstruktion historischer Diskurse, Bewegungen oder Konstellationen im Vordergrund steht. Seine Perspektive schließt eher an eine kulturwissenschaftliche Nationalismusforschung an, die sich der Analyse von nationalen Mythen, Heldenfiguren, Kollektivsymbolen oder Stereotypen gewidmet hat.23 Im Zentrum steht allerdings nicht so sehr die systematische Sichtung historischen Materials aus einer dieser Perspektiven. Ausgehend von historischen und aktuellen Beispielen aus Literatur, Film und kulturellen bzw. politischen Debatten zeigen die Beiträge vielmehr exemplarisch die sich stetig wiederholende Hervorbringung und Besetzung des nationalen Imaginären durch solche mythischen Erzählungen, stilisierten Figuren, insistierenden Bilder und Dinge. Es geht um die rhetorischen und narrativen Strategien, deren sich die imaginären Konstrukte bedienen, ihre medientheoretischen Implikationen und die Ausschlussmechanismen, die sie wiederum produzieren und die in letzter Konsequenz schließlich die Frage nach den Bedingungen und Konsequenzen der nationalen Identität für das Subjekt auch in Zeiten von postnationalen Prozessen wie Globalisierung und Migration münden. Dabei ist signifikant, dass etwa Chakrabarty aus einer postkolonialen Perspektive nicht das Einheitsstiftende, sondern gerade die Heterogenität und das Nichttotalitäre der nationalen Imagination betont.24 Die Beiträge dieses Bandes nehmen zentrale historische Narrationen und Figuren in den Blick, die insbesondere das deutsche nationale Imaginäre betreffen wie etwa die Figur Martin Luthers und Hermanns des Cheruskers im Kontext der

men, Methoden, Frankfurt a. M. 2005; Christa Maar/Herbert Burda (Hg.), Iconic Turn. Die neue Macht der Bilder, Köln 2004. 23 Vgl. aus der neueren Forschung z.B. Jan Free: Zur Theorie des nationalen Mythos, Oldenburg 2007; Martin Weidinger: Nationale Mythen – männliche Helden. Politik und Geschlecht im amerikanischen Western, Frankfurt a. M. 2006; Martina Wagner-Egelhaaf (Hg.), Hermanns Schlachten. Zur Literaturgeschichte eines nationalen Mythos, Bielefeld 2008; Ruth Florack: Bekannte Fremde. Zu Herkunft und Funktion nationaler Stereotype in der Literatur, Tübingen 2007 oder Klaudia Knabel/Dietmar Rieger/Stephanie Wodianka (Hg.), Nationale Mythen – kollektive Symbole. Funktionen, Konstruktionen und Medien der Erinnerung, Göttingen 2005. 24 D. Chakrabarty: Provincializing Europe, 176.

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Entstehung des modernen, durch nationalistische Tendenzen geprägten Nationenbegriffs um 1800, die Konjunktur des Heimatfilms nach dem Zweiten Weltkrieg oder die Wiederkehr des Nationalen nach 1989 in Filmen und Texten zur RAF und zur Vertreibung der Deutschen aus den so genannten Ostgebieten. Dabei wird das deutsche Imaginäre in einer von Migration und Globalisierung geprägten Welt längst auf vielfältigere Weise besetzt und/oder unterlaufen. Forschungsparadigmen, die dies ermöglichen und natürlich auch Einzug in die Nationalismusforschung gehalten haben, sind etwa Migration, Interkulturalität oder ›race‹.25 Insofern ist es ein Merkmal dieses Bandes, dass er nicht aus der Perspektive dessen auf die Nation schaut, was ihr historisch vorausgeht, d.h. ausgehend von subnationalen regionalen politischen Strukturen, die in der ›Einheit‹ der Nation aufgehen. Vielmehr setzt er die Differenzperspektive der längst geführten Debatten um Multikulturalismus, Inter- und Transkulturalität bzw. –nationalität voraus und fokussiert sie entsprechend auch in der Konstruktion der Nation. Die historischen Schwerpunktsetzungen um 1800, nach 1945 und nach 1989 sind den Forschungsschwerpunkten der Beitragenden geschuldet. Gleichwohl war es auch ein Anliegen, die im Vergleich zum 19. Jahrhundert und der sehr spezifischen historischen Situation des Nationalsozialismus im 20. Jahrhundert die aus Sicht der Nationalismusforschung scheinbar unverfängliche Zeit nach 1945 und dann die offensive Wiederkehr des Nationalen nach 1989 in Literatur, Film und Popkultur auf ihre imaginären Identifikationen hin zu befragen. Dass dies nicht ohne eine historische Perspektivierung funktioniert, welche die Formierung des modernen nationalen Imaginären im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert in den Blick rückt, liegt auf der Hand.

25 Vgl. z.B. unter den neueren Publikationen Helmut Schmitz (Hg.), Von der nationalen zur internationalen Literatur. Transkulturelle deutschsprachige Literatur und Kultur im Zeitalter globaler Migration, Amsterdam, New York 2009, Deniz Göktürk/David Gramling/Anton Kaes (Hg.), Germany in Transit: Nation and Migration, 1955-2005, Berkeley/Los Angelos/London 2007; Patricia Mazón/ Reinhild Steingröver (Hg.), Not so plain as Black and White. Afro-German Culture and History 1890-2000, Rochester 2005 oder Maja RazbojnikovaFrateva/Hans-Gerhard Winter (Hg.), Interkulturalität und Nationalkultur in der deutschsprachigen Literatur, Thelem 2006.

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Zu den Beiträgen Der Beitrag von SIGRID G. KÖHLER nimmt Herders Überlegungen zum ›nationalen Hirngemälde‹ in den Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit auf, um den dort implizit postulierten Zusammenhang von Anthropologie, Einbildungskraft und Nation aufzuzeigen. Hintergrund bildet die Annahme, dass in Herders Anthropologie nicht nur der Tastsinn und das Ohr eine zentrale Rolle spielen, sondern auch der Sehsinn respektive das Bild. S. Köhler liest Herders Überlegungen zur Bildproduktion des Menschen als ›anthropologische Vorgeschichte‹ zu Benedict Andersons Überlegungen zur medial-zeitlichen Konstruktion der Nation und zu Slavoj Žižeks psychoanalytischem Konzept von der Nation als ›Ding‹, denn die Kategorie des ›Bildes‹ bezeichnet bei Herder einen Synthetisierungsprozess, in dem der ›innere Sinn‹ aus den unterschiedlichen Sinneswahrnehmungen ein einheitliches Gedankenbild herstellt, das bezogen auf die Nation zugleich immer auch ein ›nationales‹ Bild ist. Diese Bilder bilden für Herder den ›Schatz‹ einer jeden Nation, der zugleich latent bedroht ist. Das ›Gefährdungspotenzial‹ geht in Herders Logik sowohl, wie gezeigt werden kann, von den auf dem Weg zur Humanität miteinander konkurrierenden Nationen aus wie auch von Herders philanthropischem Wunsch, die unterschiedlichen Nationen in einem ›Gemälde der Menschheit‹ aufgehen zu lassen. Eine der zentralen Figuren des nationalen deutschen Imaginären war im 18 und 19. Jahrhundert sicherlich Hermann der Cherusker. In ihrem Beitrag zu ›Hermanns Ding‹ widmet sich MARTINA WAGNER-EGELHAAF der in diversen Hermann-Dramen ausgestellten Polarität zwischen Römern und Germanen als Grundbedingung für die Konstruktion eines ›eigenen‹ nationalen Imaginären. Sie spannt dazu einen Bogen von Schlegels Herrmann über Klopstocks Hermann’s Schlacht bis hin zu Kleists und Grabbes Hermannsschlacht. Ausgehend von Slavoj Žižeks These, dass das Nationale als gemeinschaftsstiftendes Projekt jeweils auf dem Begehren eines unverfügbaren ›Dings‹ gründe, zeigt M. Wagner-Egelhaaf, wie die für die nationale Selbstkonstitution grundlegenden Blickstrukturen zwischen Römern und Germanen in den Dramen in die Aneignung von konkreten Dingen überführt werden, eine Aneignung, die den Prozess der nationalen Identifizierung inszeniert, das ›nationale Ding‹ zugleich aber immer nur supplementiert.

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Die Nation als Editionsprojekt? In ihrem Beitrag zu Friedrich Heinrich von der Hagens Nibelungen-Edition von 1807 zeigt CHRISTINA RIESENWEBER, inwiefern die editorische Erschließung alt- und mittelhochdeutscher Texte zu Beginn des 19. Jahrhunderts als ein nationales Projekte zu verstehen ist, das die fehlende politische Einheit ›Deutschlands‹ zu kompensieren hat. Zugleich kann sie am Beispiel des im Vergleich zu den Brüdern Grimm und Karl Lachmann unbekannteren, aber dennoch zu den Gründungsvätern der Germanistik zu zählenden von der Hagen deutlich machen, wie sehr germanistische Fachgeschichte und nationale Einheitsstrebungen in dieser Zeit verflochten sind. Hagens Textedition ist, so Chr. Riesenwebers These, selbst als Arbeit an der Kontinuität ›deutscher‹ Geschichte und Sprache zu lesen, weil sie diese Kontinuität und Einheit nicht nur beständig behauptet, sondern zugleich die sie beweisenden Zeugnisse als Sprachdenkmäler mit hervorbringt. Die HerausgeberTätigkeit und die aktive Editionspraxis stehen dabei allerdings im Widerspruch zu der behaupteten ›Verkündigung‹ und ›Beurkundung‹ der Nation durch die Texte selbst, ein Widerspruch, dem Chr. Riesenweber mit einem systemtheoretischen Argument begegnet, da die Verwissenschaftlichung der philologischen Praxis im System Wissenschaft solche Eingriffe als objektive Verfahren zur Verwaltung von Wahrheit durchaus zulasse. Neben Hermann dem Cherusker und Friedrich Barbarossa firmiert auch Martin Luther unter den nationalen Heldenfiguren des 19. Jahrhunderts. Dies ist umso erstaunlicher als die Reformation ja nicht zu nationaler Einheit, sondern zu konfessioneller Spaltung und zu Glaubenskriegen geführt hat. In ihrem Beitrag zum ›deutschesten Mann unserer Geschichte‹ geht FRIEDERIKE KRIPPNER der Frage nach, wie Luthers Leben und Wirken dennoch zu Beginn des 19. Jahrhunderts für die nationale Sache vereinnahmt und vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Einigungsbestrebungen teleologisch als Teil dieses Prozesses gedeutet werden konnte. Das untersuchte Textkorpus umfasst vielfältigstes Material von der Einladung zum Wartburgfest über Zacharias Werners Luther-Drama Die Weihe der Kraft bis hin zu Carl Ludwig Sands Legitimation seines Attentats auf August von Kotzebue und Heinrich Heines Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland. Die Autorin zeigt, wie die Konstruktion der nationalen Heldenfigur ›Luther‹ dabei immer wieder drei Semantisierungsstrategien folgt: der Verquickung von Religion und Nation in der Vorstellung einer nationalen Glaubensgemeinschaft, der Vereinnahmung Luthers

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als ›revolutionären‹ Akteur und der Deutung der Bibelübersetzung als kulturellen Gründungsakt. CHRISTIAN SCHMITT widmet sich in seinem Beitrag westdeutschen Heimatfilmen der 1950er-Jahre und zeigt, dass diese neben eskapistischen Funktionen zudem die Aufgabe eines ›imaginären Wiederaufbaus‹ erfüllen: Die Heimatfilme erlauben nicht nur die kurzzeitige Flucht aus der Nachkriegsnot, sondern stellen in einer Zeit der Krise des Nationalen Bilder bereit, die es ermöglichen, die nationale Gemeinschaft als einheitlich zu imaginieren. Der Beitrag betrachtet insbesondere die Semantik der Jagd in den Heimatfilmen, die sich in Jäger- und Wildererfiguren ebenso manifestiert wie im (landschaftlichen) Revier, und fokussiert den Zusammenhang von Jagdsemantik und Gemeinschaftsdenken. Perspektiviert durch diskurs- und psychoanalytische Überlegungen zur nationalen bzw. kollektiven Identifizierung werden exemplarisch die Filme Grün ist die Heide und Der Förster vom Silberwald untersucht und die Spuren der Jagdsemantik in die zeitgenössische jagdkundliche Fachliteratur verfolgt. Das Waidwesen, die Jäger und Jagdgemeinschaften, so legt Chr. Schmitt dar, eignen sich in der krisenhaften Situation der 1950er-Jahre in besonderer Weise für Imaginationen deutscher nationaler Identität, da sie ihre Gemeinschaftsentwürfe mittels des Bezugs auf eine scheinbar überzeitliche und moralischen Fragen enthobene Natur legitimieren. KATHARINA GRABBE untersucht die merkwürdige Karriere des Indianerfilms in der DDR. Erzählt der amerikanische Westernfilm mit seinen mutigen Cowboys den Gründungsmythos Amerikas, wird in Deutschland – und hier sind in erster Linie die Winnetou-Romane von Karl May und ihre Verfilmungen zu nennen – ›der Indianer‹ zu einem Sympathieträger. Der Beitrag arbeitet heraus, in welcher Weise sich die Fiktion des Indianers als Projektionsfläche nationaler Selbstidentifizierung anbietet und gleichsam zur Figur eines deutschen Imaginären wird. Die DDR musste gegen den auch im östlichen Deutschland erfolgreichen Winnetou einen eigenen Indianer ins Feld schicken, Chingachgook, und stattete ihn mit einer politischen Botschaft aus. Die exemplarische Analyse des 1967 uraufgeführten DEFA-Films Chingachgook, die große Schlange, der James Fenimore Coopers Lederstrumpf zur literarischen Vorlage hat, zeigt, wie sich im Spiegelbild des Indianers der Gründungsmythos der DDR als einer friedlichen, Ackerbau treibenden und Büffel züchtenden Gemeinschaft erzählt. Der Film wendet sich kapitalismuskritisch gegen die weißen Kolonisatoren

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Amerikas, die bereits den Stamm der Huronen korrumpiert haben, indem sie diese zu Warenkonsum und Marktwirtschaft verführt haben. Zugleich hat der Film aber auch die gesamtdeutsche Nation im Blick, wenn er den alten Häuptling der Delawaren mit dem sprechenden Namen Gespaltene Eiche alle Indianer zum Friedensschluss aufrufen lässt. Die Botschaft ist deutlich: »Zwei Stämme – eine Nation«. Im undifferenzierten Bild ›des Indianers‹ wird die Einheit denkbar. Elfriede Jelineks 1988 uraufgeführtes Stück Wolken.Heim. wird in MATTHIAS SCHAFFRICKS Beitrag vor der Folie des Nationaltheater-Konzepts gelesen, das im 18. Jahrhundert ausgeprägt wurde und sich beispielsweise mit den Namen von Johann Elias Schlegel, Gotthold Ephraim Lessing und Friedrich Schiller verbindet. In systematischer Bezugnahme auf Slavoj Žižeks Modell der Nation als Ding arbeitet er textnah heraus, dass die Nation als eine Gemeinschaft des Genießens an ein unverfügbares Reales gebunden ist, das in sprachlichen Verfahren des Zitats, der Verschiebung und der Verstellung performativ zum Vorschein kommt und dabei die konstitutive Grundlosigkeit des nationalen Selbstgefühls hervortreten lässt. M. Schaffrick kann zeigen, in welcher Weise Jelineks Sprachtheater unter Rückgriff auf die Tradition des deutschen Nationaldiskurses, dem Namen wie Fichte, Hölderlin, Kleist, Hegel und Heidegger zugehören, die Ineinanderverschränktheit von Leben und Tod (der Nation), die Naturalisierung historischer Kontingenz und die Unkontrollierbarkeit sprachlicher Identifizierung offenlegt. Jelineks Wolken.Heim. lässt das Verdrängte und Vergessene der Nation, die Gewalt der Ausgrenzung, die erst ein nationales Wir konstituiert, zur Heimsuchung im eigentlichen Sinne des Wortes werden. Der Beitrag von ANNA THIEMANN stellt Žižeks Spiegelmodell des nationalen Imaginären in den Kontext der amerikanischen Reaktion auf die Terroranschläge vom 11. September 2001. Im Zentrum des Artikels stehen unterschiedlich interpretierte Spiegelverhältnisse, die eng aufeinander bezogen sind und auf eine konstitutive Spaltung des amerikanischen Selbst verweisen. So sprach der amerikanische Präsident George W. Bush in seiner »2002 State of the Union Address« davon, dass der 11. September den Amerikanern einen Spiegel vorgehalten habe, in dem sie ihr besseres Selbst wahrnehmen könnten. Žižek, der sich gleichfalls mit der amerikanischen Befindlichkeit nach 9/11 auseinandersetzt, zeigt, in welchem Maß der amerikanische Selbstspiegel durch die Traumfabrik Hollywood geprägt

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ist. In Mohsin Hamids Roman The Reluctant Fundamentalist aus dem Jahr 2007, dem A. Thiemann eine ausführliche und textnahe Analyse widmet, wird gleichsam allegorisch vorgeführt, in welche Gefahr sich das tolerante, weltoffene Amerika begibt, wenn es die fundamentale Nichtidentität seines nationalen Imaginären im Spiegel seines unkritisch-positiven Selbstbildes zu verdecken sucht. Die fundamentale Zerrissenheit der amerikanischen Nation wird auf mehreren Bedeutungsebenen des Romans reflektiert und in den Kontext einer historisierenden Perspektive auf den 11. September gestellt. KERSTIN WILHELMS geht in ihrem Beitrag von der Beobachtung aus, dass die deutsche Band Rammstein in Deutschland und in den USA sehr unterschiedlich rezipiert wird. Während Rammstein, ihre Musik und Performances insbesondere in den deutschen Feuilletons immer wieder sehr kritisch besprochen werden, erfreut sich die Band in den USA großer Beliebtheit und großen auch kommerziellen Erfolgs. Der Beitrag entwickelt die These, dass diese unterschiedliche Aufnahme der Band mit der Art und Weise zu tun hat, in der Rammstein mit nationalen Bildern und Stereotypen operieren. In der Analyse der Rammstein-Videoclips Stripped und Amerika wird gezeigt, wie Rammstein Prozesse nationaler Identifikation zur Disposition stellen, sie reflektieren, ironisieren und hinterfragen. Stereotype Bilder der ›anderen‹, wie Rammstein sie dem amerikanischen Publikum von Deutschland präsentiert, bieten Möglichkeiten und Angebote für die bestätigende Identifikation des ›Eigenen‹. Dieses Verhältnis von Fremd- und Selbstbildern untersucht der Beitrag unter Rückgriff auf Slavoj Žižek. Für die Zirkulation solcher stereotyper Bilder erweist sich insbesondere der Videoclip als produktives Medium, das durch seine assoziative Offenheit stets auf das Paradigma einer Kultur verweist. Flucht und Vertreibung als Teil des bundesrepublikanischen Gründungsmythos bilden den Untersuchungsbereich des Artikels von CAREN HEUER. Am Beispiel des 2007 im Ersten Deutschen Fernsehens ausgestrahlten Films von Kai Wessels Die Flucht, mit Maria Furtwängler in der wirkungsvollen Hauptrolle, analysiert er Bilder der nationalen Selbstidentifikation, die als phantasmatische Substitute des immer schon verlorenen nationalen ›Dings‹ gelesen werden können. Die Analyse zeigt, dass Die Flucht, die bemerkenswert hohe Einschaltquoten erzielte, erkennbar am Mythos um Flucht und Vertreibung mitarbeitet, beispielsweise durch eine gezielt eingesetzte Intertextualität. Die Imago Ostpreußens erscheint als

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durch das Christentum geprägt und gibt auf diese Weise zu verstehen, dass es nicht das Kollektiv der Deutschen ist, das schuldig geworden ist, sondern die nationalsozialistischen ›Anderen‹. Gleichwohl muss Preußen als Projektionsfläche der deutschen Nation zerstört werden, damit das Imaginäre des Nationalen mit neuen Bildern besetzt werden kann. Dazu gehört etwa der Topos von der ›Stunde der Frauen‹, denen das Aufräumen nach dem von den Männern verursachten Krieg zukommt. Indem der Film den Treck, der die Utopie einer Gemeinschaft Gleichgestellter entwirft, als Exodus figuriert, findet eine religiöse Überhöhung statt, mittels derer die Identifikation mit der neuen, sich als demokratisch verstehenden Nation ins Werk gesetzt wird. Und wenn er dann noch zu verstehen gibt, dass ›die Schuld der Deutschen‹ ›im Osten bezahlt wurde‹, scheint dem Neuanfang nichts mehr entgegen zu stehen. Das Gnadengesuch von Christian Klar und die durch dieses ausgelöste Begnadigungsdebatte stehen im Mittelpunkt des Beitrags von STEPHAN BERGHAUS. Vor dem Hintergrund der Paradoxie der Gnade als rechtlich möglicher, juristisch aber nicht begründbarer Akt macht S. Berghaus deutlich, wie der mögliche Gnadenakt des Bundespräsidenten in dieser Debatte zu einem Ding nationaler Bedeutung wird. Ausgehend von systematischen Reflexionen werden dazu das anlässlich der RosaLuxemburg-Konferenz 2007 von Klar formulierte Grußwort, die mediale Debatte um den präsidialen Gnadenakt wie auch die literarische Verarbeitung in Bernhard Schlinks Roman Das Wochenende untersucht. S. Berghaus zeigt, dass Gnade, wird sie als ›Gabe‹ verstanden, zentrale, mit dem Rechtsstaat und dessen Freiheits- und Gerechtigkeitsvorstellungen verbundene Strukturen außer Kraft setzt, weil sie diesen scheinbar rationalen Strukturen ein irrationales, nicht verrechenbares Moment einfügt, das dem Tenor der emotional höchst aufgeladenen Debatte zufolge offenbar die nationale Einheit bedroht. JULIA BODENBURG greift mit dem Schwarm eine Figur auf, die gegenwärtig in unterschiedlichen Diskursen, von den Kultur- und Sozialwissenschaften bis zur Ökonomie und Soziobiologie, als Modell für Gemeinschaften gehandelt wird. Sie zeigt, dass die aktuellen Redeweisen bestimmte Attribute des Tierschwarms, wie etwa seine nicht-hierarchische, dezentrale Organisationsweise, auf menschliche Gemeinschaften übertragen und ihn so zu einem neuen sozialen Paradigma stilisieren. Das ihm zugeschriebene Innovationspotential des Schwarms liegt dabei in seiner

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Offenheit und Ambivalenz begründet, durch die er ein Denken von Gemeinschaften jenseits des vermeintlich überkommenen Modells der Nation anregt. Anhand eines aktuellen literarischen Beispiels, Frank Schätzings Roman Der Schwarm (2005), nimmt J. Bodenburg das Verhältnis von Schwarm und Subjekt in den Blick. Sie arbeitet heraus, dass der Schwarm hier gerade nicht zur Ablösefigur für subjektzentrierte Modelle wird. Ganz im Gegenteil integriert der Roman den Schwarm in eine romantische Bildsprache, in der er zur Reflexions- und damit Bestätigungsfigur für das Subjekt wird. Statt als Modell für neue Formen der Gemeinschaft zu dienen, arbeitet der Schwarm in Schätzings Roman mit ebenjenen Dynamiken des Imaginären, die auch die Nation konstituieren.26

26 Die Herausgeberinnen danken Kerstin Wilhelms sehr herzlich für ihre engagierte satztechnische Betreuung dieses Bandes.

Nationale ›Hirngemälde‹ Bildpoetik, Selbstgefühl und die Schatzkammern der Nation bei Johann Gottfried Herder SIGRID G. KÖHLER

»[O]ft sind die willkürlichsten National-Begriffe und Meinungen solche Hirngemälde, eingewebte Züge der Phantasie vom festen Zusammenhange mit Leib und Seele«1, so Johann Gottfried Herder in seinen Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (1784-91). Zu finden ist diese Äußerung im Kontext seiner Überlegungen zum Zusammenhang von Einbildungskraft, Klima und Tradition, in denen Herder dafür argumentiert, dass jede Nation ihre eigene Vorstellungsart hat, die wiederum auf ihren ganz spezifischen Lebenszusammenhang zurückgeht und deshalb für andere Nationen nicht zwangsläufig nachvollziehbar ist. Mag die Bemerkung von den ›Hirngemälden‹2 zunächst auch pejorativ klingen und der Bezug auf das ›Hirn‹ die von der Realität losgelöste, sich verselbstständigende Produktion dieser Bilderwelt betonen – die nationale Vorstellungswelt ist bei Herder 1

Johann Gottfried Herder: »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit«, in: Ders., Werke in zehn Bänden, Bd. 6, hg. v. Günter Arnold u.a., Frankfurt a.M. 1989, 298, künftig zitiert als I. Soweit nicht anders vermerkt beziehen sich alle Nachweise auf Herder auf die Frankfurter Ausgabe.

2

Vgl. dazu auch die Lemmata ›Hirngebäude‹, ›Hirngeburt‹, ›Hirngespinnst‹, ›Gehirnbild‹ und ›Gehirnbrei‹ in: Das Deutsche Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, http://www.woerterbuchnetz.de/DWB/wbgui_py?lemid=GA00 001 (7.3.2011).

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zugleich immer auch ein Resultat des für ihn unhintergehbaren LeibKörper-Zusammenhanges, der nicht zuletzt aufgrund des menschlichen Wahrnehmungsapparates unauflöslich mit der ihn umgebenen Lebenswelt verbunden ist. Auch wenn die nationale Vorstellungsart also ein Hirngemälde ist, d.h. ein ganz spezifisches, national geprägtes und nur in der Vorstellung existierendes Bild der Welt, das mit einem wie auch immer vorzustellenden Abbild der Welt nichts zu tun hat, willkürlich ist sie vor diesem Hintergrund nicht. Herders ganzes Schreiben, das in den Ideen Naturgeschichte und Kulturgeschichte der Menschheit in einen systematischen Zusammenhang zu bringen sucht, kreist darum, den menschlichen Erkenntnisprozess als einen wahrnehmungsgeleiteten zu beschreiben, in dem die konkreten sinnlichen Wahrnehmungen, die Formung der Wahrnehmung durch den jeweils klimatisch geprägten Lebenszusammenhang und die Vermittlung des spezifischen kulturellen Wissens durch Tradition, Überlieferung und Erziehung zusammenspielen. Aus dieser Perspektive unterstreicht die Rede vom ›Hirngemälde‹ den für Herder so wichtigen Zusammenhang von Physiologie und Vorstellungsart, denn das Zusammenspiel von äußerer Welt der Sinneswahrnehmungen und innerer Gedankenwelt des Menschen lässt sich für Herder eben auch physiologisch, im Rekurs auf das ›Nervengebäude‹ des Menschen, beschreiben.3 ›National‹ sind die auf diese Weise entstehenden Hirngemälde, weil sich in ihnen trotz des sich zunächst im einzelnen Menschen vollziehenden Vorgangs keine individuelle Vorstellungswelt zeigt, sondern eine gemeinschaftliche. Verantwortlich für die Konstitution einer kollektiven Vorstellungswelt der Menschen, die in ein und demselben Lebenszusammenhang leben, sind nach Herder das Klima und die Überlieferung von Traditionen. ›Klimatisch gemalt‹ wird die gemeinschaftliche Vorstellungswelt nicht nur, weil sie aus den Informationen der jeweiligen Lebenswelt besteht, sondern auch weil das Klima – Herder folgt einem sehr weiten Klimabegriff, der neben den meteorologischen Gegebenheiten auch Nahrung und Kleidung und die daraus resultierende Lebens- und Arbeitsweise etc. miteinschließt – direkt auf die Organe wirkt und diese bildet, so dass die Menschen, genauer

3

Vgl. J.G. Herder: »Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele. Bemerkungen und Träume«, FA Bd. 4, 350-351, künftig zitiert als E.

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gesagt ihre Sinne auf gleiche Weise formiert werden.4 Aufgrund der geistigen Natur des Menschen folgt diesem ersten natürlichen Bildungsprozess aber ein zweiter, der ganz maßgeblich auf der Überlieferung von Traditionen und Erziehung gründet, die ihrerseits wiederum in ihrem Entstehungsprozess auf dem ersten klimatischen Bildungsprozess basieren. In Herders Rede von der ›Nation‹, die sich in den unterschiedlichsten Variationen von einer nationalen ›Vorstellungs-‹ und ›Lebensart‹ über den ›Nationalcharakter‹ bis hin zu einer nationalen ›Denkart‹ und ›Nationallaune‹ ausdrückt, geht es also nicht so sehr um eine politische Einheit, als vielmehr um eine Gemeinschaft, bei der sich das verbindende Moment in einem gemeinsamen, räumlich zu denkenden Bezugspunkt findet: in einer als konkret vorgestellten kollektiven Lebenswelt, aus der eine gemeinsame virtuelle Vorstellungswelt resultiert. Denken, Wahrnehmen und Fühlen werden aus dieser Perspektive ›national‹ konstituiert.5 Gerade dieser Konnex zeigt aber auch, dass die jeweilige nationale Vorstellungsart aus der Herder’schen Perspektive nicht einfach gegeben ist, sondern eine Konstruktion darstellt, die das Resultat der spezifischen Leib-Seele-Organisation des Menschen und damit Bestandteil seiner anthropologischen Disposition ist. Dass dies auch politische Konsequenzen birgt, insbesondere wenn mit dem räumlich gegebenen Lebenszusammenhang eine Territorialisierung des Nationalen stattfindet, zeigt sich nicht zuletzt in den Vereinnahmungen Her-

4

Zu Herders Klimatheorie vgl. Gonthier-Louis Fink: »Von Winckelmann bis Herder. Die deutsche Klimatheorie in europäischer Perspektive«, in: Gerhard Sauder (Hg.), Johann Gottfried Herder. 1744-1803, Hamburg 1987, 156-176 und Manfred Beller: »Johann Gottfried Herders Völkerbild und die Tradition der Klimatheorie«, in: Sandra Kersten/Manfred Frank Schenke (Hg.), Spiegelungen. Entwürfe zu Identität und Alterität, Berlin 2005, 353-375.

5

Vgl. dazu Hans Adler: »Nation. Johann Gottfried Herders Umgang mit Konzept und Begriff«, in: Gesa von Essen/Horst Turk (Hg.), Unerledigte Geschichten. Der literarische Umgang mit Nationalität und Internationalität, Göttingen 2000, 39-56. Adler wendet sich vor allem Herders Rede vom ›Nationalwahn‹ (Briefe zur Beförderung der Humanität) zu und zeigt ausgehend von der etymologischen Bedeutung des Wortes, dass es dabei nicht etwa um kollektiven Irrsinn, sondern um das spezifische ›Wähnen‹ (glauben/meinen) geht, dass für eine Gemeinschaft kennzeichnend ist.

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ders für einen nationalistischen Diskurs.6 Grundlegend für Herders Konzept des Nationalen ist zunächst jedoch dessen ästhetische Fundierung, die deshalb im Folgenden im Mittelpunkt stehen wird. Den Fokus bildet die Frage, inwiefern die Beschreibung des nationalen Formierungsprozesses mittels einer bildlichen Metaphorik, der Rede von nationalen Bildern und Gemälden etc., veranschaulicht wird, die diesen Prozess zugleich als ästhetischen im doppelten Wortsinn, als durch die Wahrnehmung bedingt und als künstlichen/künstlerischen Schöpfungsprozess ausweist. Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass das Bild als Medium bei Herder, allerdings auch generell im 18. Jahrhundert, die Funktion der Veranschaulichung und Rahmung eines inneren Prozesses übernimmt, für den es keinen Begriff in den zeitgenössischen wissenschaftlichen Diskursen, im Grunde aber auch keinen übergeordneten Beobachterstandpunkt gibt.7

DAS IMAGINÄRE DER NATION UND DIE BILDER DER EINBILDUNGSKRAFT Die Annahme, dass Nationen Vorstellungskonstrukte seien, ist in der jüngeren Theoriegeschichte vor allem durch Benedict Andersons einschlägige Monographie Imagined communities aus dem Jahr 1983 prominent geworden. Wenn Anderson den Konstruktcharakter des modernen Nationenkonzepts betont, so interessiert er sich für die modernen Nationalstaaten ebenfalls nicht so sehr als politische Entitäten, sondern er fragt stattdessen nach den spezifischen historischen Gegebenheiten, die dieses moderne Gemeinschaftskonzept ermöglichen. Dabei nimmt er u.a. materielle Neuerungen des 18. Jahrhunderts wie z.B. den expandierenden Markt für Druckerzeugnisse in den Blick. Er selbst bezeichnet die Nation als ein soziokulturelles

6

Vgl. dazu den sehr differenzierten Sammelband von Regine Otto (Hg.): Nationen und Kulturen: zum 250. Geburtstag Johann Gottfried Herders, Würzburg 1996.

7

Vgl. Ulrich Gaier: »Denken als Bildprozeß. Vorstellungsart und Denkbild um 1800«, in: Helmut J. Schneider/Ralf Simon/Thomas Wirtz (Hg.), Bildersturm und Bilderflut um 1800. Zur schwierigen Anschaulichkeit der Moderne, Bielefeld 2001, 19-51.

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Konstrukt, macht aber in seinen Überlegungen deutlich, dass sie in den entsprechenden historischen Diskursen wie eine quasi anthropologische Größe funktioniert: Der moderne Mensch beansprucht für sich genauso, eine Nationalität zu haben, wie er sich ein Geschlecht zuschreibt.8 Als Konzept steht die Nation Anderson zufolge deshalb Kategorien wie der der Religion oder der Verwandtschaft näher als politischen. Sein Ausgangspunkt ist allerdings nicht das Individuum (wie noch bei Herder), sondern es sind die historischen Bedingungen, die es einer anonymen Menge erlauben, sich als Einheit zu begreifen. Im Mittelpunkt steht die Frage, wie diese Einheit hergestellt werden kann, wenn die Menge so groß ist, dass sich die einzelnen Glieder nicht mehr face to face begegnen können und wenn die bis dato überpersönlichen verbindenden Prinzipien, seien sie weltanschaulicher oder sozialgeschichtlicher Art (im Sinne von Religion oder als Ständegesellschaft) ihre Wirkkraft verlieren. Die ›Nation‹ füllt dieses Vakuum, insofern sie, so Andersons These, als gemeinsamer Vorstellungsraum fungiert. Anderson beruft sich für sein Argument u.a. auf zwei Parameter, die für ihn zu den wesentlichen Veränderungen in der Moderne zählen: eine neue Zeitwahrnehmung und das Entstehen neuer Medien. Die moderne Zeitwahrnehmung kompensiert den Verlust des heilsgeschichtlichen Zusammenhangs, indem sie die Vorstellung erzeugt, dass alle Mitglieder der Gemeinschaft an derselben Zeit und denselben Ereignissen teilhaben, auch wenn sie nicht jeweils unmittelbar selbst beteiligt sind. Auf diese Weise wird die Simultanität der Ereignisse, die in einem gemeinsamen Zeitraum angesiedelt werden, zum Bezugspunkt der Nation. Vermittelt wird diese Zeitwahrnehmung insbesondere, so Anderson, durch die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sich neu etablierenden Medien wie die Zeitung und den Roman. Anderson rückt auf diese Weise nicht so sehr die analog funktionierende Informationsverarbeitung des Menschen als verbindendes Moment in den Blick, sondern die technischen Bedingungen, die es ermöglichen, kollektive Vorstellungen medial zu erzeugen. Implizit birgt sein Rekurs auf die Zeitung und den Roman somit ein medientheoretisches Argument, auch wenn es bei Anderson nicht als solches ausgestellt wird.9

8

Vgl. Benedict Anderson: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London/New York 2006, 5.

9

Vgl. ebd. 24-36.

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Eine zweite zeitgenössische theoretische Perspektive, die der Annahme von der Nation als Vorstellungskonstrukt Rechnung trägt, ist von Seiten der Psychoanalyse formuliert worden. Folgt man der psychoanalytischen Sichtweise, so sind nationale Mythen, Bilder und Symbole imaginäre Konstrukte, die ihren Entstehungsort in der kollektiven Phantasie einer Gemeinschaft haben und doch eine nicht zu unterschätzende materiale Wirkung entfalten. In Anlehnung an Jacques Lacan beschreibt Slavoj Žižek die Nation in diesem Zusammenhang als das Produkt einer kollektiven Begehrensstruktur, in der dem Anderen der Diebstahl eines begehrten ›nationalen Dings‹ unterstellt wird. Aus der Logik dieser Unterstellung ergeben sich der Ausschluss des Anderen und die Schließung der Nation zu einer vermeintlich organischen Einheit. Žižek systematisiert diese Produktionsmechanismen in Form von Blickstrukturen und dann vor allem als das Genießen eines bedrohten ›nationalen Dings‹. Beide Verfahren umkreisen und verdecken jedoch nur die semantische Leere bzw. den Mangel einer positiven Bestimmung der Nation, der die Erfindung der Nation als moderne Form der Vergemeinschaftung beständig in ihren Grundfesten bedroht.10 Für die konkreten Materialisierungen im Sinne eines spezifischen ›way of life‹ einer Nation, wie Žižek formuliert, also ihre sozialen Praktiken und nationalen Mythen, interessiert sich Žižek im weiteren Verlauf seiner Überlegungen jedoch nicht. Mit Lacan ließen sich diese Materialisierungen aber – gerade angesichts der hier mit Herder zur Debatte stehenden Konzeptualisierung der Nation als vorgestellte/imaginäre Gemeinschaft – auf ihre Medialität respektive ihre Bildhaftigkeit hin perspektivieren. Lacan hat sich zwar eher weniger mit kollektiven Identitätskonstruktionen beschäftigt, dafür aber spielt das Moment des Bildhaften eine entscheidende Rolle in seiner Subjektkonstruktion, wenn etwa im Spiegelstadium das Erkennen bzw. Verkennen des eigenen Ich über das Spiegelbild verläuft und Letzteres als Ich-Imago dem Ich die bildliche Vorstellung einer geschlossenen Entität vermittelt.11 Rückübertragen auf Žižeks recht unspezifische Rede vom ›way

10 Vgl. Slavoj Žižek: »Genieße Deine Nation wie Dich selbst! Der Andere und das Böse – Vom Begehren des ethnischen ›Dings‹«, in: Joseph Vogl (Hg.), Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen, Frankfurt a.M. 1994 133-164. 11 Vgl. Jacques Lacan: »Le stade du miroir comme formateur de la fonction du je«, in: Ders., Ecrits I, Paris 1966, 89-97.

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of life‹ einer Nation bedeutete dies, dass diese auch als imaginäre bzw. in Žižeks Diktion ›phantasmatische‹ Bilder auftreten können, um die Vorstellung einer nationalen Gemeinschaft zu ermöglichen. Bei aller Differenz ist den Ansätzen von Anderson und Žižek gemeinsam, dass sie die Nation als ein Konstrukt begreifen, das in konstitutiver Wechselwirkung mit der Formierung des modernen Menschen steht. Während die psychoanalytische Perspektive ausgehend von psychosemiotischen Prozessen die Subjektkonstitution fokussiert und in der Konsequenz dieser Prozesse auf Ein- und Ausschließungsmechanismen zu sprechen kommt, versteht Anderson die nationale Zugehörigkeit nicht zuletzt als Resultat eines materialistisch bzw. medientheoretisch zu beschreibenden Prozesses. In beiden Ansätzen scheint es jedoch mit Blick auf die historische Verortung ihres Arguments ein ›missing link‹ zu geben, das zugleich aber von beiden Autoren indirekt mit gedacht wird: bei Anderson, wenn es um die medial vermittelte Vorstellung einer gemeinsamen Zeit geht, und bei Žižek, wenn er anderen Orts eine historische Linie zwischen der idealistischen Konzeption der Imagination und dem psychoanalytischen Imaginären zieht.12 Mit anderen Worten: Beide Ansätze beziehen implizit oder explizit die Einbildungskraft mit ein, die, wendet man sich mit Herder den Konzeptualisierungen des Nationalen im 18. Jahrhundert zu, gerade im Zentrum des Informationsverarbeitungsprozesses zwischen sinnlicher Wahrnehmung und Denken steht und die im Zuge dieses Prozesses nationale ›Hirngemälde‹ herstellt. Umgekehrt scheint sich mit dem Konnex von Einbildungskraft und Nation, wie er sich bei Herder ausgestaltet, eine anthropologische Vorgeschichte der systematischen Beschreibung des nationalen Imaginären zu eröffnen, die im 20. Jahrhundert aus psychoanalytischer respektive medientheoretischer Perspektive mit den Namen von Žižek oder Anderson verbunden werden kann.

12 Vgl. Slavoj Žižek: The Ticklish Subject. The Absent Centre of Political Ontology, London/New York 1999, 28-33. Vgl. auch Jochen Schulte-Sasse: »Einbildungskraft/Imagination«, in: Ästhetische Grundbegriffe Bd. 2, hg. v. Karlheinz Barck u.a., Stuttgart/Weimar 2001, 88-120, hier 88. Zum Vergleich der Perspektiven von Anderson und Žižek siehe auch Philipp Sarasin: »Die Wirklichkeit der Fiktion. Zum Konzept der ›imagined communities‹«, in: Ders., Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, Frankfurt a.M. 2003, 150-176.

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In der Vermögenstypologie des 18. Jahrhunderts erfährt die Einbildungskraft eine immense Aufwertung, wenn sie von einem an das Gedächtnis gekoppelten, in erster Linie reproduktiven Vermögen zu einer Kraft wird, die auch im Sinne eines »handlungsanleitenden Entwurf[s] von zukünftigen Zuständen (von Möglichkeiten) kreativ ist.«13 Prominenter Ort dieser produktiven Einbildungskraft wird die Dichtung. Mit der Möglichkeit, Handlungsperspektiven zu eröffnen, zeigt sich in ihr zudem eine neue, im weitesten Sinne politische Dimension. Und erst eine auf diese Weise konzeptualisierte, von der konkreten Wirklichkeit losgelöste und auf mögliche Handlungszusammenhänge ausgerichtete Einbildungskraft erlaubt die Idee einer ›vorgestellten Gemeinschaft‹ oder eines bedrohten ›nationalen Dings‹.14 Mit der Aufwertung der Einbildungskraft geht die Privilegierung des Visuellen einher, die sich in vielfacher Hinsicht zeigt: z.B. in der Dominanz des Sehsinns als Instanz der Sinnorientierung, die sich nicht mehr an einer transzendentalen und räumlich gesprochen ›vertikal‹ ausgerichteten Ordnung orientiert, sondern den Menschen innerweltlich, in einer sinnlich erfahr- und erfassbaren Wirklichkeit, ›horizontal‹ verortet.15 Einbildung und Bildlichkeit stehen zudem nicht nur wortgeschichtlich in enger Verbindung.

13 J. Schulte-Sasse: »Einbildungskraft/Imagination«, 103. 14 Zur produktiven Einbildungskraft und den aus einer solchen Konzeption resultierenden Konsequenzen vgl. z.B. Ursula Geitner: »Kritik der Einbildungskraft (poetologisch/pathologisch)«, in: H.J. Schneider/R. Simon/T. Wirtz (Hg.), Bildersturm und Bilderflut um 1800. Zur schwierigen Anschaulichkeit der Moderne, 307-332; Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts, München 1999, bes. 273-276 oder Silvio Vietta: Literarische Phantasie: Theorie und Geschichte. Barock und Aufklärung, Stuttgart 1986, 85-87. 15 Vgl. J. Schulte-Sasse: »Einbildungskraft/Imagination«, 91-92, der sich für sein Argument auf Auerbach bezieht. Vgl. auch A. Koschorke: Grenze und Grenzüberschreitung in literarischen Landschaftsbildern, Frankfurt a.M. 1990 oder Herders wiederholte Rede vom ›Gesichtskreis‹, der die Vorstellungswelt des Individuums wie auch einer Nation begrenzt, J.G. Herder: »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit«, 259, 295, 411 etc. (gr. horízein: abgrenzen, scheiden, bezeichnet in der Kombination von horízǀn kýklos die den Gesichtskreis begrenzende Linie).

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Mit der Begründung der Ästhetik im 18. Jahrhundert findet eine Art Umschreibungsprozess statt, in dem der erkenntnistheoretischen/philosophi– schen Rede von der ›repraesentatio‹ als Vorstellung von Bewusstseinsinhalten mehr und mehr die von den ›Einbildungen‹ respektive von den ›Bildern‹ zur Seite gestellt wird, wenn diese durch die unteren Erkenntnisvermögen und insbesondere durch die Einbildungskraft hervorgebracht werden.16 Geradezu topisch zeigt sich dieser Konnex von Einbildungskraft und Bildlichkeit schon in den Poetiken in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, etwa in den ›poetischen Gemälden‹ bei Bodmer und Breitinger, die sich dazu zwar an Horaz’ Dictum ›ut pictura poesis‹ anlehnen, aber die Entstehung dieser inneren Bilder aus der Einbildungskraft begründen.17 Obwohl mit der insbesondere mit dem Namen Lessing verbundenen Laokoon-Debatte gerade eine kritische Reflexion der Vermischung der Künste aus medialer Perspektive einsetzt, trifft dies die Rede vom Bild als innerem Vorstellungsprozess nicht. Im Gegenteil, das ›Bild‹ wird im fortschreitenden 18. Jahrhundert zu einer Metapher, die den Zusammenhalt der auseinanderfallenden Erkenntnisvermögen im Denkprozess garantiert und zugleich eine mediale Form für diese diskursiv nicht mehr zu bestimmende Einheit anbietet, so Ulrich Gaiers Argument, das er nicht zuletzt im Rückgriff auf Herder entwickelt.18 Freilich bezieht sich diese Rede nicht auf konkrete Bilder (und gerät deshalb offenbar auch nicht in den Fokus einer Medienkritik der Künste); sie lehnt sich aber wohl und zuweilen sehr explizit, wie z.B. bei

16 Vgl. z.B. Alexander Gottlieb Baumgarten: Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentius. Philosophische Betrachtungen über einige Bedingungen des Gedichts. Übersetzt und mit einer Einleitung herausgegeben von Heinz Paetzold, Hamburg 1983, 27, 35. Vgl. dazu auch ebd. die Einleitung von Paetzold, VII-XXVII. 17 Vgl. Johann Jakob Bodmer: Critische Betrachtungen über die Poetischen Gemählde der Dichter, Zürich/Leipzig 1741, insbes. die Abschnitte 1 u. 2, 3-51 und Johann Jacob Breitinger: Critische Dichtkunst Worinnen die Poetische Mahlerey in Absicht auf die Erfindung Im Grunde untersuchet und mit Beyspielen aus den berühmtesten Alten und Neuern erläutert wird, Bd.1, Zürich/Leipzig 1740, insbes. der 2. Abschnitt, 29-51. 18 Vgl. U. Gaier: »Denken als Bildprozeß«, 19-51.

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Herder, an die Beschreibung visueller Verfahren, genauer gesagt der Optik, an, um die Prozesse der Einbildungskraft zu beschreiben.19 Die Privilegierung des Visuellen zeigt sich auch – wie sich ebenfalls andeutungsweise in der Rede vom Nationalgemälde ausdrückt – in der Bedeutung des Tableaus als literarische/theatrale wie auch als wissenschaftliche Darstellungsform. Im Anschluss und in Verbindung mit enzyklopädischen Wissensdarstellungen der frühen Neuzeit geht es im wissenschaftlichen Tableau um die Frage, wie die sich beständig vermehrenden und vor allem empirisch ermittelten Wissensbestände gesammelt, inventarisiert und dargestellt werden können, wenn die bis dato dominanten Ordnungsprinzipien nicht mehr greifen. Das Besondere des Tableaus als räumlich-bildhafte Darstellung ist es, dass es auf komprimierte Weise die Funktionen und Beziehungen der Objekte/Gegenstände im Gesamtzusammenhang darstellen kann, d.h. es realisiert mit dem Prozess der Visualisierung und Verräumlichung zugleich Ordnungsprinzipien und fungiert auf diese Weise als systematische Übersicht.20 Die Rede vom ›Gemälde‹ bzw. Tableau als Darstellungsform ist aber auch losgelöst vom konkreten Genres des Tableaus im 18. Jahrhundert offenbar so präsent, dass selbst verbale Darstellungen von größeren (natur- oder kulturgeschichtlichen) Zusammenhängen in Anlehnung an die seit der Antike geläufige Metaphorisierung der Geschichte als Gemälde bezeichnet werden, selbst wenn sie sich nicht im engeren Sinne zu den literarischen oder wissenschaftlichen Tableaus zählen lassen, wie sich nicht zuletzt in Herders Texten zeigt.21

19 Vgl. J.G. Herder: »Über Bild, Dichtung und Fabel«, FA Bd. 4, 634, künftig zitiert als BD. 20 Vgl. Annette Graczyk: Das literarische Tableau zwischen Kunst und Wissenschaft, München 2004, 11-15. 21 Vgl. dazu z.B. den kursorischen Überblick in Alexander Demandt: Metaphern für Geschichte. Sprachbilder und Gleichnisse im historisch-politischen Denken, München 1978, 369-379. Zur Verwendung der Metapher des Gemäldes als veranschaulichende Redeweise vgl. auch das Lemma ›Gemälde‹ in: Das Deutsche Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. Der Eintrag im Grimm’schen Wörterbuch weist in diesem Zusammenhang ebenfalls daraufhin, dass der Begriff des ›Gemäldes‹ im 18. Jahrhundert zuweilen auch synonym zu dem des ›Bildes‹ als Veranschaulichung des inneren Denkprozesses benutzt wird.

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Die mit der wachsenden Bedeutung des Visuellen und der Einbildungskraft einhergehenden Transformationen lassen sich aber nicht nur im Kontext von Ästhetik, Medien und Wissenschaftsdarstellungen nachvollziehen. Sie zeigen auch für das moderne Subjekt immense Folgen, d.h. sie führen zu einer völlig neuartigen »Konstitution von Subjektivität im Medium von ›Bildern‹ bzw. Texten«22, wie Jochen Schulte-Sasse formuliert, eine Subjektkonstitution, die fortan ihr reflexives Moment genau in diesen Bildern und Texten haben wird und entsprechend in einer Art »Spiegelverhältnis«23 zu diesen steht. In diesem Kontext ist freilich zwischen einer an die Wahrnehmung gekoppelten Einbildungskraft im 18. Jahrhundert, einer von dieser losgelösten freien Imagination z.B. in der Romantik und einer (im psychoanalytischen Sinne) psychischen Energie zu unterscheiden. Eine der Einbildungskraft geschuldete und medial/ästhetisch vermittelte Selbstbezüglichkeit findet sich dabei mit Blick auf die Nation allerdings auch schon im 18. Jahrhundert, und einer ihrer zentralen Autoren ist, wie einleitend schon angedeutet, Johann Gottfried Herder.24

BILDER SCHAFFEN: DIE POETIK DES INNEREN SINNS Gewöhnlich wird der Name Herder, wenn es um eine Typologie der Sinne im 18. Jahrhundert geht, geradezu topisch mit dem Tastsinn und dem Gehör verbunden, die von Herder beide gegen eine Dominanz des Auges profiliert werden. Dies ist natürlich richtig. Es bedeutet jedoch nicht, dass Herder das Auge als einen zweitrangigen Sinn betrachtet. Im Gegenteil, wiederholt weist er auf die herausragende Bedeutung des Auges bzw. des Sehsinns hin, und in seinen Texten sind Metaphern aus dem Bereich des Visuellen omnipräsent.25 Wenn er sich dennoch mehr für den Tastsinn und das Gehör 22 J. Schulte-Sasse: »Einbildungskraft/Imagination«, 92. 23 Ebd. 111. 24 Vgl. ebd. 110. 25 So ist neben der Rede von ›Bildern‹ und ›Gemälden‹ oft vom ›Malen‹ (z.B. vom Malen des inneren Sinns, des Klimas, der Erkenntnis etc.) zu lesen, von den ›Augen‹ des inneren Sinns etc. Zur besonderen Bedeutung des Auges vgl. J.G. Herder: »Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit«, 299-300, J.G. Herder: »Über Bild, Dichtung und Fabel«, 634 oder J.G.Herder: »Plastik. Einige

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zu interessieren scheint, so geschieht dies immer vor dem Hintergrund der Annahme, dass die äußeren Sinne miteinander harmonieren und ihre Wahrnehmungen im Innern des Menschen synthetisiert werden müssen, damit aus ihnen ›Gedankenbilder‹ geschaffen werden können. Jedem Sinn und so auch dem Auge kommt in diesem Synthetisierungsprozess die seiner Natur entsprechende Funktion zu. So ist das Auge beispielsweise für die Wahrnehmung der Flächen, Farben und Umrisse zuständig, die für sich genommen nur einen künstlichen Schein bilden. Zu einem Körper wird das Gesehene in der Wahrnehmung erst, wenn die visuellen Eindrücke mit den taktilen des Gefühls, d.h. der tastenden Hand, verbunden werden (P 250-254). Den Hintergrund zu diesen Überlegungen bildet Herders Konzeptuali– sierung des Menschen als ›zusammengesetztes‹ und ›künstlich‹ organisiertes Wesen (BD 633, I 136-149), dessen unterschiedliche Sinne und Vermögen einen systemischen Zusammenhang bilden (I 180-181).26 Der Ort, an dem die Wahrnehmungen zusammengeführt werden, bzw. die Instanz, die dafür verantwortlich ist, ist der ›innere Sinn‹. Je nach Kontext spricht Herder auch von der Seele. An der Schaffung der Gedankenbilder wiederum sind die unterschiedlichen Kräfte der Seele beteiligt, die ›bald Einbildungskraft und Gedächtnis‹, ›bald Witz und Verstand‹ genannt werden (I 125). Der Einbildungskraft oder Phantasie, wie Herder selbst gelegentlich paraphrasiert, kommt dabei eine besondere Funktion zu, insofern sie die seelische Kraft ist, die wie ein ›Knoten‹ (I 302) zwischen der sinnlichen Organisation des Körpers und den denkenden Kräften des Geistes vermittelt, und

Wahrnehmungen über Form und Gestalt aus Pygmalions bildendem Traume«, FA Bd. 4, 252, künftig zitiert als P. Zu einer Ästhetik des Visuellen bei Herder vgl. Stefan Greif: » […] wie ein Engel in Licht gekleidet‹ – Herders Bild- und Beschreibungsästhetik im Kontext des späten 18. Jahrhunderts«, in: Monatshefte 95/2 (2003), 207-216. 26 Vgl. aus der Forschung dazu U. Gaier: »Herders Systemtheorie«, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 23/1 (1998), 3-17 und Stefan Metzger: Die Konjektur des Organismus. Wahrscheinlichkeitsdenken und Performanz im späten 18. Jahrhundert, München 2002, 205-242. Beide Autoren schließen in diesem Zusammenhang nicht so sehr an eine mit dem Namen Luhmann verbundene Systemtheorie an, sondern entwickeln den Systemgedanken ausgehend von ›systemtheoretischen‹ Ansätzen des 18. Jahrhunderts, allem voran von Heinrich Lamberts Sytematologie.

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insofern sie für die Bildung von Gedankenbildern ›Einbildungen‹ zur Verfügung stellen kann, die nicht auf einen unmittelbaren Wahrnehmungsakt zurückgehen. Auch wenn Herder die Einbildungskraft damit nicht als eine schier reproduktive, sondern viel eher als eine produktive entwirft, so funktioniert sie doch nicht losgelöst von ihrer ›materiellen‹ Situiertheit. Im Gegenteil, sie ist nicht nur an die menschlichen Sinne gebunden, sie folgt auch den durch die Sinne vermittelten Darstellungsgesetzen der sichtbaren Welt. Abweichungen in der Wahrnehmung sind für Herder Anzeichen von Krankheit. Trotz aller Präferenz für Tastsinn und Gehör lassen sich bei Herder also ganz explizite Reflexionen zur visuellen Wahrnehmung und zu visuellen Medien finden, mit Blick auf seinen Essay über Über Bild, Dichtung und Fabel Ralf Simon zufolge sogar eine implizite ›Bildtheorie‹.27 Der Rekurs auf das Bild hat dabei vor allem die Funktion die innere Verarbeitung von Sinneswahrnehmungen zu veranschaulichen. Unter einem ›Bild‹ versteht Herder in diesem Zusammenhang die »Vorstellung eines Gegenstandes[, die] mit einigem Bewußtsein der Wahrnehmung verbunden« (BD 635) ist. Dies kann die Vorstellung eines konkret wahrgenommenen Gegenstandes sein oder aber auch ein der Einbildungskraft dargestellter, der »von sichtlichen Gegenständen [die] Gesetze borget« (BD 635). Es geht also weder um konkrete Bilder noch allein um visuelle Eindrücke des Sehsinns, schon gar nicht um Abbilder der Wirklichkeit, sondern um den Transformationsprozess von Sinneswahrnehmungen zu Gedankenbildern. Der innere Sinn als

27 Vgl. Ralf Simon: »Herders Bildtheorie«, in: Simone Neuber/Roman Veressov (Hg.), Das Bild als Denkfigur. Funktionen des Bildbegriffs in der Geschichte der Philosophie, München 2010, 139-151. Vgl. einschlägig dazu auch die Aufsätze: U. Gaier: »Denken als Bildprozeß« und Makoto Hamada: »Die Vielschichtigkeit der Begriffe ›Bildung‹ und ›Bild‹ in den Ideen«, in: Regine Otto/John H. Zammito (Hg.), Vom Selbstdenken. Aufklärung und Aufklärungskritik in Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, Heidelberg 2001, 165-175. Zur aktuellen Konjunktur des Bildthemas bei Herder vgl. auch den von U. Gaier und R. Simon herausgegebenen, sehr aufschlussreichen Band: Zwischen Bild und Begriff. Kant und Herder zum Schema, München 2010. Eine ausführliche Reflexion zur Funktion der ›inneren Bilder‹ findet sich ebenfalls in Herders Ideen: erster Teil, Buch fünf, Kapitel 4: »Das Reich der Menschenorganisation ist ein System geistiger Kräfte«, 180-182.

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›Bildner‹ (BD 637) synthetisiert die unterschiedlichen Wahrnehmungsprozesse und gibt ihnen ›Umriß, Maß und Gestalt‹, um aus dem ›Mannigfaltigen‹ eine ›Einheit‹ zu schaffen (BD 635, I 180-181), die dem Denken wiederum das Material gibt. In diesen ›Bildern‹ findet der Mensch also gleichsam eine Einheit, über die er als künstlich zusammengesetztes Wesen zunächst nicht verfügt. In ihnen zeigen sich nicht nur – wie in einem Tableau – die Zusammenhänge, die der Mensch in seiner Umwelt wahrnimmt, sondern auch der systemische Zusammenhang, in dem der Mensch selbst zu seiner Umwelt steht: Das Denken gründet bei Herder auf einem Bildprozess von »systemisch organisierten Gebilden«28, wie Ulrich Gaier formuliert, und gerade nicht auf abstrakten Begriffen, die für Herder nur »ein abgezognes, geordnetes Namensregister« (I 349) wären.29 Der Verwendung von ›Bild‹ als Terminus für einen sich im Menschen vollziehenden inneren Systemprozess korrespondiert bei Herder bezeichnenderweise auch ein gattungspoetischer: der des Sinn- oder Gedankenbildes, der aus dieser Perspektive nicht der barocken Emblematik vergleichbar funktioniert, sondern eher in die Nähe der klassischen Symbolkonzeption gerückt werden kann.30 In der Ältesten Urkunde des Menschengeschlechts bezeichnet Herder die biblische Darstellung der Schöpfungsgeschichte wiederholt als ›Bild‹, ›Gemälde‹ und ›Sinnbild‹, um zu unterstreichen, wie

28 U. Gaier: »Herders Systemtheorie«, 39. 29 An anderer Stelle gesteht Herder jedoch durchaus zu, dass diese inneren Synthetisierungen nicht zwangsläufig zu ›Bildern‹ führen müssen, sondern auch Töne, Wörter, Zeichen oder Gefühle sein können (vgl. J.G. Herder: »Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele«, 349-350). Vor dem Hintergrund seiner Ausdifferenzierung und Kodierung der Sinne, der zufolge das Auge der ›klarste‹ Sinn ist, ist die Konzentrierung auf das Bild als Medium des ›inneren Sinns‹ jedoch nur konsequent, schließlich dient der Rekurs auf die ›Klarheit‹ seit Baumgartens Ästhetik als das Argument für die Erkenntnisfähigkeit der unteren Sinnesvermögen. Diese Einschätzung des Auges trifft jedoch nicht für alle Texte von Herder zu. In der Sprachursprungsschrift z.B. wird die ›Klarheit‹ in expliziter Abgrenzung zum Auge dem Ohr zugeschrieben. Vgl. J.G. Herder: »Abhandlung über den Ursprung der Sprache«, FA Bd.1, 745, künftig zitiert als U. 30 Vgl. Harro Müller-Michaels: »Herder – Denkbilder der Kulturen. Herders poetisches und didaktisches Konzept der Denkbilder«, in: R. Otto (Hg.), Nationen und Kulturen. Zum 250. Geburtstag Johann Gottfried Herder, 67.

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sehr die Darstellung des ›Systembezugs‹ zwischen sichtbarer und unsichtbarer Welt und wie sehr die Verbindung des Darstellungsgegenstands (der Schöpfungsgeschichte) mit der gewählten Darstellungsform und -struktur korrespondieren, so dass, mit Ulrich Gaier gesprochen, die ›Schöpfungshieroglyphe‹ als ein solches ›Denkbild‹ zu einem poetischen Strukturmodell wird, das den Menschen wiederum in all seinen Vermögen anspricht.31 Am Anfang der Erkenntnis stehen aus Herders Perspektive also immer Gegenstände bzw. wahrgenommene Gegenstände und Empfindungen, die in Bilder und dann in Gedanken umgewandelt werden. Dies bedeutet jedoch zugleich, dass Erkenntnis und Wissen nicht unmittelbar aus der Anschauung der Welt entstehen, sondern nur vermittelt, mittels eines Aneignungsprozesses des wahrnehmenden Subjekts zu haben sind. Auch in der Funktionalisierung des Bildes zeigt sich also Herders vernunftkritische Haltung, mehr noch: sein Konzept einer Ästhetik der Erkenntnis, mit der er sich in die Baumgarten’sche Tradition stellt und den sinnlichen Vermögen Erkenntnisfähigkeit zuschreibt und der zufolge selbst Wissenschaftssprache »Bildersprache« (E 330) ist.32 Dabei versteht er Ästhetik genau in dem für ihn typischen doppelten Sinne: als sinnlichen Wahrnehmungs- und als (künstlerischen) Schaffensprozess. Das »Leben ist also gewissermaßen eine Poetik: wir sehen nicht, sondern wir erschaffen uns Bilder« (BD 635), so heißt es in seinem Essay Über Bild, Dichtung und Fabel.33 Aus diesem emphatischen Plädoyer für eine Bildersprache des inneren Sinns ergibt sich jedoch eine prekäre, ambivalente Situation, die den Status der Bilder (und damit auch der Erkenntnis) betrifft, sollen sie doch nicht

31 Vgl. U. Gaier: »Herders Systemtheorie«, 12. Vgl. auch J.G. Herder: »Die älteste Urkunde des Menschengeschlechts«, FA Bd. 5, 295-301. 32 Ausführlicher zu Herders Auseinandersetzung mit Baumgarten vgl. Hans Adler: Die Prägnanz des Dunklen. Gnoseologie, Ästhetik, Geschichtsphilosophie bei J.G. Herder, Hamburg 1990. 33 Sogar in der Sprachursprungsschrift, in der die Bedeutung der Sprache für die Selbstkonstitution und den Erkenntnisprozess im Mittelpunkt steht, wird den inneren Bildern eine zentrale Funktion zugeschrieben, wie Ralf Simon gezeigt hat: Die sprachliche Attributierung von Merkmalen geht von diesen inneren Bildern aus und sie wird zugleich als ein Aufprägen des eigenen Bildes beschrieben. Vgl. J.G. Herder: »Abhandlung über den Ursprung der Sprache«, 734-737 und R. Simon: »Herders Bildtheorie«, 145-146.

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nur Resultat eines subjektiven Transformationsprozesses sein, sondern zugleich auch mit den Gesetzen der Vollkommenheit korrespondieren. Wenn Herder entsprechend reklamiert, dass die Bilder ›wahr‹, ›lebhaft‹ und ›klar‹ sein müssen, so folgt er auch hierin Baumgarten, der entgegen der Cartesianischen Bestimmung der Erkenntnis ›Klarheit‹ nicht dem Denken vorbehält, sondern auch schon in den Sinnen die Möglichkeit zu ›klarer‹ Erkenntnis angelegt sieht. Die ›Klarheit‹ der sinnlichen Wahrnehmung wiederum liegt für Baumgarten in der Fülle von Merkmalen begründet, die simultan wahrgenommen werden und die Wahrnehmung auf diese Weise ›lebhaft‹ werden lassen.34 Während mit ›Lebhaftigkeit‹ und ›Klarheit‹ also Bildeigenschaften angesprochen sind, die erfüllt werden müssen, damit von sinnlicher Erkenntnis die Rede sein kann, so bezieht sich die Forderung nach Wahrheit auf den metaphysischen Ort und Stellenwert der Bilder. Zunächst steht der innere Sinn dafür ein, den Regeln des Verstandes und Bewusstseins folgend diese Gesetze zu erfüllen: Er gibt den Gedankenbildern sein ›Gepräge‹,»als ob [er] ein Stempel der Wahrheit wäre« (BD 635). Herder scheint dabei jedoch von seiner eigenen ›Medienlogik‹ eingeholt zu werden, der zufolge das Bild, wie Herder im Kontext seiner Überlegungen zur Malerei schreibt, nur »Roman, Traum« (P 259) oder »schöne Hülle, Zauberei mit Licht und Farbe« (P 264) ist. Das Gepräge des inneren Sinns allein ist nur ein ›als ob‹. Verbürgt wird die Wahrheit erst, und dies ist angesichts von Herders religiös fundierter Geschichtsphilosophie nicht weiter erstaunlich, durch Gott (BD 635, 637). Allerdings hat der Verweis auf Gott durchaus auch bildtheoretische Implikationen, die auf der Vorstellung der Gottesebenbildlichkeit des Menschen beruhen. In Über Bild, Dichtung und Fabel werden diese nicht weiter ausgeführt, in Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele wird dieser Gedanke explizit zu einem bildtheoretischen Argument, das sich auf Analogie stützt, also auf das für Herder grundlegende Verfahren der Welt schlechthin.35

34 Vgl. H. Paetzold: »Einleitung«, XX, oder den Kommentar zu »Über Bild, Dichtung und Fabel« in der Frankfurter Ausgabe Bd. 4., 1307-1308, 1325. 35 Vgl. Hans Dietrich Irmscher: »Beobachtungen zur Funktion der Analogie im Denken Herders«, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 55 (1981), 64-97.

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Sie [die Seele] ist das Bild der Gottheit, und sucht auf Alles, was sie umgibt, dies Bild zu prägen; macht das Vielfache Eins, suchet aus Lüge Wahrheit, aus unstäter Ruhe helle Tätigkeit und Würkung, und immerdar ists als ob sie dabei in sich blicke und mit dem hohen Gefühl ›ich bin Tochter Gottes, bin sein Bild‹ zu sich spreche: ›lasset uns!‹ (E 355)

Wenn die menschliche Seele als Bild Gottes (als von ihm gemachtes und ihm ähnliches Bild) selbst wiederum Bilder schafft, so folgt sie nicht nur einer analogen Tätigkeit, die sie als Gottes Geschöpf ausweist, sondern sie kann aufgrund dieser ebenfalls an der göttlichen Wahrheit partizipieren. Sie ist dabei jedoch immer auch eigenständig tätig, denn sie wiederholt oder kopiert ja nicht einfach Gottes Bild, sondern gibt ihm ›ihr Gepräge‹ – und, wenn sie sich bei diesem Akt als Bild Gottes/als Gottes Geschöpf zu erkennen scheint, so ist mit dem Akt des Bildermachens und –prägens im schöpferischen Bildgebungsprozess auch noch ein reflexives Moment verbunden. Das Selbst wird seiner selbst gewahr – als Bild bzw. in dem Bild, das es schafft.36 Diese Selbstbezüglichkeit ist, wie sich an anderer Stelle in Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele losgelöst von der Bildthematik zeigt, nicht so sehr als ein kognitiver Prozess zu verstehen, sondern sie hat ihren ›Grund‹ vielmehr im Gefühl, das damit zugleich auch ›Selbstgefühl‹ ist: »Bewußtsein des Selbstgefühls und der Selbsttätigkeit« (E 356), darum geht es Herder. Im Übersetzungsprozess der Seele ist eine »Art Rückwürkung merkbar«, die dazu führt, dass die Seele sich als »ein Eins, ein Selbst« (E 354) wahrnimmt.37

36 Zum Bildgebungsprozess als Partizipation an der göttlichen Vernunft vgl. Bernhard Teuber: »Am Anfang war …. Das Bild. Zu Vicos Genealogie von Sprache, Gesellschaft und Kultur«, in: Inka Mülder-Bauch/Eckhard Schumacher (Hg.), Am Anfang war … – Ursprungsszenen und Anfangsfiguren der Moderne, München 2008, 43-70; speziell zu Herder vgl. Hamada: »Die Vielschichtigkeit der Begriffe ›Bildung‹ und ›Bild‹ in den Ideen«, bes. 170-173 und Andreas Herz: Dunkler Spiegel – helles Dasein. Natur, Geschichte, Kunst im Werk Johann Gottfried Herders, Heidelberg 1996, insbes. 12-33. Letzter interessiert sich in diesem Zusammenhang allerdings eher für die Spiegel- als für die Bildmetaphorik bei Herder. 37 Zum Selbstgefühl als ein für das Selbst konstitutives, weil selbstbezügliches Moment vgl. auch Herders Entwürfe »Von der Ode«, FA Bd.1, 66 und J.G.

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Von einer ›nationalen Selbstbezüglichkeit‹ ist bei Herder explizit dann allerdings nicht die Rede. Dennoch legt die Logik des Herder’schen Arguments einen solchen Zusammenhang nahe. Die seelische Tätigkeit des Bilderschaffens ist ja nicht nur an das Selbstgefühl gebunden, sondern mit ihren Bildern und Gefühlen immer auch in einem nationalen Gesichtskreis verortet. Entsprechend finden sich bei Herder auch Formulierungen wie die des ›Familien‹- oder ›Nationalgefühls‹ (U 795-797), und in Über die Wirkung der Dichtkunst auf die Sitten der Völker in alten und neuen Zeiten wird ›nationale Selbstbezüglichkeit‹ gar als räumlich-topologische Struktur entworfen. Herders Hauptargument bezieht sich in diesem Zusammenhang zwar auf die Beschaffenheit der jeweiligen Nationalliteratur, aber auch das Moment der gemeinschaftlichen Rezeption trägt offenbar zur Bildung der Nation bei, weil in diesem Moment eine nationale ›Selbstspiegelung‹ stattfindet, wenn die »Eindrücke [der Dichtkunst] gemeinschaftlich empfangen und einander, wie zurückgeworfene Strahlen der Sonne mit[ge]teilt[]«38 werden. Wendet man sich aus dieser Perspektive noch einmal Herders Essay Über Bild, Dichtung und Fabel zu, so zeigt sich auch dort das Moment der Selbstbezüglichkeit, nicht explizit in der Reflexion, wohl aber in den Formulierungen, in denen der seelische Bildgebungsprozess insgesamt beschrieben wird, wenn es z.B. immer wieder heißt, dass der innere Sinn sich Bilder schafft (BD 635, 637, 640). Viel größeren Wert scheint Herder in diesem Zusammenhang allerdings auf die Standortgebundenheit der jeweiligen seelischen Bilder zu legen: An keinem Ort kann das Bild ausgeführt werden, wie an einem anderen. Dies gilt für die einzelnen Individuen, mehr noch aber für die unterschiedlichen Zeiten und Nationen, so dass »gelehrter Diebstahl« und »räuberische Händel« (BD 639) solcher Gedankenbilder eigentlich keinen Sinn machen. Obwohl der Text sich auf der Aussageebene an dieser Stelle zunächst als beschwichtigende Geste zu lesen gibt, der zufolge keine Nation um ihre ›nationalen Bilder‹ fürchten bzw. nach den Bildern einer anderen Nation trachten muss, vollzieht er doch zugleich eine

Herder: »Abhandlung über den Ursprung der Sprache«, 722. Dort wird die Selbstbezüglichkeit aber vor allem als ein an die Sprache gebundenes Moment entworfen. 38 J.G. Herder: »Über die Wirkung der Dichtkunst auf die Sitten der Völker in alten und neuen Zeiten«, FA Bd. 4, 155, zukünftig zitiert als W.

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bemerkenswerte Transformation: Aus dem ›inneren Bild‹, das eigentlich den begrifflich nicht fassbaren inneren Verarbeitungsprozess von Wahrnehmungen veranschaulicht, wird auf rhetorischer Ebene unversehens ein spezifisches Kulturgut und Kulturprodukt, ein wie auch immer zu verstehendes ›materielles Ding‹, das offenbar widerrechtlich entwendet werden kann. Vor dem Hintergrund der Herder’schen Bildpoetik ist dies jedoch nur konsequent, denn die Bilder des inneren Sinns sind ja auch die Quelle des kulturellen und künstlerischen Schaffens einer Nation und insbesondere ihrer Dichtung.

NATIONALE GEMÄLDE IN GEFAHR Die Verbindung von inneren Bildern und Dichtung führt bei Herder zuweilen zu einer gleitenden Metaphorik, in der sowohl die Bilder wie auch die Dichtung als »das Vorratshaus« (BD 639) oder die »Schatzkammer«39 der Nation bezeichnet werden, manches Mal sogar explizit als »Nationalschatz« (L 553). Aufbewahrt in den Bildern respektive in der Dichtung und Sprache liegen die Ideen, Gedanken, Kenntnisse, die Geschichte, Gesetze, Sitten und Lehren der Nation.40 In ihnen drückt sich nicht nur die nationale Vorstellungsart aus, sie sind vor allem auch Ausgangspunkt und Grundlage für die nationale Bildung und damit verbunden für das Selbstverständnis und Selbstgefühl der Nation. Der Bildungsprozess einer Nation bezieht sich also in erster Linie immer auf das Eigene, den eigenen Nationalschatz – und sollte dies auch tun, weil alles andere eine Störung des nationalen Bildungsprozesses bedeuten könnte. Entsprechend wird Grenzüberschreitung 39 J.G. Herder: »Über die neuere deutsche Literatur. Fragmente. Erste Sammlung. Zweite völlig umgearbeitete Ausgabe«, FA Bd. 1, 553, zukünftig zitiert als L. 40 Mit der Rede von den Vorratshäusern und Schatzkammern schließt Herder an eine seit der Antike bestehende memoria-Metaphorik an, die bei Herder jedoch nicht rhetorisch zu verstehen ist, sondern durch den Rückbezug auf die Vermögenstheorie für die Ästhetik produktiv gemacht wird. Entsprechend werden die ›imagines‹ der memoria bei Herder zu Bildern des inneren Sinns. Vgl. dazu R. Simon: Das Gedächtnis der Interpretation. Gedächtnistheorie als Fundament für Hermeneutik, Ästhetik und Interpretation bei Johann Wolfgang Herder, Hamburg 1998, 8-9.

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keineswegs ausschließlich positiv im Sinne eines die Bildung fördernden Austauschs bewertet, auch wenn dies bei Herder ebenfalls zu finden und von der Forschung als Argument für Herders Anschlussfähigkeit an Konzepte der Inter- und Transkulturalität zu recht stark gemacht worden ist.41 Das Herder’sche Bildungskonzept ist zunächst als ein Prozess konzipiert, der sich aus dem Austauschprozess mit der eigenen Umwelt motiviert. Mit Input jenseits dieser Umwelt, aus einem anderen klimatischen/kulturellen Kontext kann das System umgehen, für den Formierungsprozess ist dieser aber nicht zwingend notwendig. Sofern es um die spezifische Eigentümlichkeit einer Nation geht, wird der Bezug auf andere Nationen eher ex negativo mit Hilfe einer affekttheoretisch und/oder physikalisch motivierten Kräftemetaphorik begründet: Indem sich die Nationen von einander abstoßen, werden Nationen auf sich selbst, d.h. auf ihren eigenen Mittelpunkt zurückgeworfen, so dass sie sich in ihrem Bildungsprozess auf sich selbst beziehen können.42 Zugleich werden die Überlegungen zur Funktion der nationalen Bilder und Dichtung, der Vorratshäuser und Schatzkammern aber von Ausführungen begleitet, die ein latentes, durch Einfall von Außen diffus gekennzeichnetes Bedrohungsszenario entwerfen, das Störung der räumlichen Integrität im Sinne von Grenzüberschreitungen bis hin zu ›Raub‹ und ›Diebstahl‹ umfasst. Prominent zeigt sich dies, wenn Herder in Über die Wirkung der Dichtkunst auf die Sitten der Völker in alten und neuen Zeiten seine Diagnose für die neuere Zeit fällt, der zufolge der Austausch zwischen den Ländern auch in Wissenschaft und Kunst schon zu einem Verlust an nationaler Tiefe und Bestimmtheit führe. Wenn Deutschland für ihn dabei noch einmal einen besonderen Fall darstellt, so schreibt Herder tatkräftig am Topos der verspäteten Nation mit: Im Verlauf seiner Geschichte hätte Deutschland nämlich, so ist wiederholt zu lesen, im Gegensatz zu anderen Nationen keine Möglichkeit gehabt, eine eigene dichte-

41 Vgl. z.B. Bernd Fischer: »Herder heute? Überlegungen zur Konzeption eines transkulturellen Humanitätsbegriffs«, in: Herder Jahrbuch/Herder Yearbook 8 (2006), 175-193. Für das interkulturelle Argument verweist Fischer in seinem Beitrag allerdings vor allem auch auf Herders kulturellen Pluralismus und auf seine Infragestellung eines überkulturellen Betrachterstandpunktes. 42 Vgl. J.G. Herder: »Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit«, FA Bd.4, 39, zukünftig zitiert als GB, oder Ders.: »Abhandlung über den Ursprung der Sprache«, 796-797.

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rische Stimme auszubilden. Es sei entweder nach ›außen geschleppt‹ oder ›mit anderen Völkern überschwemmt‹ worden, zudem ein ›geteiltes Land‹, in dem sich die einzelnen Teile kaum untereinander verständigen können (W 209).43 In Über deutsche Literatur wird der Nationalschatz gar zu »Raub und Beute« (L 553), an dem sich Nachbarn bereichern, obwohl er doch eigentlich der eigenen Nation gehört. Das Eigene bzw. die ›Eigenheit‹ einer Nation, aus der sich auch das Historismus-Argument bei Herder ergibt, erhält in diesem Zuge einen beinahe sich verselbstständigenden Eigenwert, der nicht mehr in seiner Bedeutung für die jeweilige Bildung oder Glückseligkeit einer Nation aufgeht. Vergleichbar dem Žižek’schen ›nationalen Ding‹ scheint der Nationalschatz als Prinzip des Selbstbezugs für die nationale Bildung unabdingbar und zugleich als Garant für »Ursprung, Geschichte«, ja für die »wahre Art [der] Eigenheit« (L 553) latent in Gefahr zu sein. Wenn das Nationale in dem Moment entsteht, in dem der ›innere Sinn‹ Bilder schafft, wenn es aber eben auch nur in diesen Bildern zu haben ist, so müssen diese gut aufbewahrt und gehütet werden. Herders Schriften selbst sind entsprechend in weiten Teilen diesem Projekt gewidmet, indem sie immer wieder zumindest für die Bedeutung der Dichtung respektive der Sprache und Literatur argumentieren, wenn sie dieses Argument nicht gleich selbst zum zentralen Thema haben. Angesichts des bedrohten deutschen Nationalschatzes scheint Herder schließlich mit eignen Sammlungsund Archivprojekten zur deutschen Literatur im Allgemeinen und zu deutschen Volksliedern im Besonderen zur Sicherung beizutragen. Die zwischen Sprache, Dichtung und Literatur changierende Begriffswahl ist dabei seinem spezifischen Sprach- bzw. Literaturverständnis geschuldet, das eine scharfe Trennung zwischen Literatur und Sprache, sofern sie von ihren Ursprüngen her gedacht werden, nicht vorsieht. Sprache ist in ihrem Beginn Ausdruck von Empfindung, Bildersprache und Selbstbezug zugleich. Bei aller textuellen Eigendynamik, welche die Bedrohung des Nationalschatzes haben mag, ist die Beschäftigung mit der nationalen Bilderwelt bei Herder jedoch immer auch einem wissenschaftlich-philanthropischen und anthropologischen Interesse geschuldet, das seinen Fluchtpunkt in

43 Vgl. auch J.G. Herder: »Alte Volkslieder (Vorreden)«, FA Bd. 3, 20-21, zukünftig zitiert als V.

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Herders Idee der Humanität findet. Er hat dieses Interesse explizit mit Blick auf den deutschen Nationalschatz formuliert, als Interesse an der ›Entzifferung der menschlichen Seele‹ (L 553),44 aber auch darüber hinaus. In den Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit skizziert er das Projekt einer Naturgeschichte der Menschheit, die ihre Darstellung in einem »Gemälde der Nationen« (I 251) oder als ein »Gemälde der Menschheit« (I 249)45 finden sollte. Da dieses Projekt aufgrund seines klimatischen Ansatzes zugleich eine »physisch-geographische Geschichte der Abstammung und Verartung« (I 281) der Menschen sein würde, kommt es für Herder einer »anthropologische[n] Charte« (I 250) gleich, zu der auch konkrete, naturgetreue Abbildungen gehörten (I 250). Mit den Stichworten ›Karte‹ und ›Abbildung‹, die auf eine visualisierende und verräumlichende Darstellung abzielen, knüpft Herder in seiner Bildmetaphorik dieses Mal an den wissenschaftlichen Tableau-Begriff seiner Zeit an, ohne sich aber auf diesen zu beschränken. Semantisch schwingt in den Ideen ebenfalls das Konzept des Sittengemäldes mit, und zuweilen verwendet er den Terminus auch ganz allgemein als natur- bzw. kulturgeschichtlich motivierte Darstellung. Seine eigenen in diesem Zusammenhang beigebrachten Darstellungen unterschiedlicher Völker und Nationen bezeichnet er in den Ideen entsprechend wiederholt als ›Gemälde‹. Vergleichbar dem Transformationsprozess der inneren Bilder würde Herder schließlich auch die ›Gemälde der Nationen‹ gern einem Materialisierungsprozess unterziehen: »Es wäre schön, wenn ich jetzt durch eine Zauberrute alle bisher gegebenen unbestimmten Wortbeschreibungen in Gemälde verwandeln und dem Menschen von seinen Mitbrüdern auf der Erde eine Galerie gezeichneter Formen und Gestalten geben könnte. Aber wie weit sind wir noch von der Erfüllung dieses anthropologischen Wunsches!« (I 249)

Der Wunsch nach Materialisierung weist im Vergleich zur Transformation der inneren Bilder in nationale Kulturgüter allerdings in eine andere Richtung: Es geht nicht um Archivierung eines bedrohten nationalen Schatzes oder das Auffinden menschlicher Grundformen, sondern um eine auf die 44 Vgl. dazu auch R. Simon: Das Gedächtnis der Interpretation, 9. 45 Hervorhebungen SGK.

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Zukunft bezogene, wissenschaftliche/philanthropische Wunschvorstellung, nicht um Rettung, sondern um ein wissenschaftlich begehrenswertes, zugleich aber doch nur imaginäres »Geschenk« (I 250) für die Menschheit. Nicht aufgrund der fehlenden wissenschaftlichen Expertise oder eines bestehenden Bedrohungsszenarios ist dieses Bild nicht realisierbar, sondern aufgrund der dem Menschen eigenen Unzulänglichkeit. Alle Gemälde, die ein Mensch malen könnte, sind standortgebunden, ›klimatisch gemalt‹. Jeder trägt den »Charakter seines Erdstriches und seiner Lebensweise mit sich« (I 259). Der Mensch kann wohl seinen ›Gesichtskreis‹ überschreiten, mit dieser Grenzüberschreitung wird aber kein übergeordneter Standpunkt erreicht. Vielmehr impliziert eine gelungene Überschreitung, dass man sich in eine andere Nation hineinfühlt und dazu auch ihren ›Gesichtskreis‹ übernimmt (GB 33). Vor dem Hintergrund des oben ausgeführten Zusammenhangs von Selbstbezüglichkeit und Gemeinschaftsbildung ist es bemerkenswert, dass Herder diesen Vorgang nicht nur als ›Sympathisieren‹, sondern auch als ›Familiarisieren‹ oder ›Nationalisieren‹ bezeichnet (GB 33, V 61, I 284). Erst unter dieser Bedingung ist Verstehen möglich, die Möglichkeit einer von der Kategorie des ›Nationalen‹ losgelösten Außenperspektive damit aber zugleich verabschiedet. Das ›Gemälde der Nationen‹ ist mithin ein unmögliches Bild, es wäre eine ideale Menschheit-Imago. Zudem müsste es angesichts der sich im stetigen Wandel befindenden Nationen medientechnisch gesprochen eher ein Film denn ein Bild sein (I 353). Durch die Anlehnung an den zeitgenössischen Tableaubegriff ist diesem imaginären Wunschgemälde der Menschheit jedoch eine bemerkenswerte Raumlogik inhärent, die auch schon in den architektonischen memoria-Metaphern der Schatzkammer oder des Vorratshauses angelegt war, geht es doch im Tableau darum, durch eine räumlich-bildhafte Komposition einen Gesamtzusammenhang wissenschaftlich darzustellen. Das Vorhaben, die Naturgeschichte der Menschheit als ein Gemälde der Nationen zu präsentieren, hat zur Folge, dass durch das ›räumliche‹ Nebeneinander (auf einer horizontalen Achse) dem Eigenwert jeder Nation und ihres Gesichtskreises auf der einen und der Mannigfaltigkeit der göttlichen Schöpfung auf der anderen Seite Rechnung getragen werden kann. Es ermöglicht, den systematischen Zusammenhang zwischen einer Nation und ihrer Umwelt und zugleich die göttliche Schöpfung als ein Ganzes darzustellen. Die Einheit dieses unmöglichen Gemäldes wird ideengeschichtlich durch den Verweis auf den für alle Nationen geltenden Bezugspunkt der ›Humanität‹ gewährt.

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Entsprechend changiert die Rede vom ›Gemälde der Nation‹ auch immer zwischen einem Singular im Sinne eines Gemäldes der Menschheit und einem Plural im Sinne einer Darstellungen der ›Nationen‹, in denen sich letztlich aber nur die unterschiedlichen ›Schattierungen‹ der einen Menschheit zeigen (I 256, 340). Auf textlicher Ebene kommt der beständige Rückbezug auf den Signifikanten ›Humanität‹ einer Supplementfunktion gleich.46 Auf medialer Ebene übernimmt die Rede vom ›Gemälde‹ die einheitsstiftende Funktion und schafft darin Andersons Medien ›Roman‹ und ›Zeitung‹ vergleichbar einen gemeinsamen Vorstellungsraum. Angesichts dieses vor allem in den Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit entworfenen Projekts, in dem zumindest der Vision nach gerade die Mannigfaltigkeit der Nationen ihren Platz haben sollte, wundert es, dass in seinen Texten zugleich latent die Vorstellung eines bedrohten Nationalschatzes aufscheinen kann. Die Kontextualisierung dieser scheinbar widersprüchlichen Positionen zeigt aber, dass neben der sehr unterschiedlichen Bewertung, die Herder dem Phänomen der Grenzüberschreitung zukommen lässt, vor allem zwei verschiedene Betrachtungsweisen wirksam sind: eine mit dem Tableau einher gehende verräumlichende und eine durch den Bildungsprozess der Nation verzeitlichte. Durch das geschichtsphilosophische Telos der Humanität spannt Letztere eine zeitliche Achse auf, die das horizontale Nebeneinander dynamisiert. Ausgehend von der Frage, wie weit eine Nation auf diesem Wege schon fortgeschritten ist, werden offenbar Vergleich und Konkurrenz implizit oder explizit zu Prinzipien für die (Selbst)Beschreibung der Nationen. Geleitet wird die verzeitlichende Perspektive durch die Annahme, dass der Mensch einer zweiten, künstlichen Genesis (I 336-338) bedarf, die ihn vom »Joch des Klimas« (I 188) befreit, das ihn in seiner geistigen Bildung behindert. Sie geht also mit einer Relativierung des Herder’schen klimatheoretischen Ansatzes einher. Diese Relativierung wird aber auch noch von anderer Seite betrieben, wenn

46 Zur Humanität als formal funktionierendem, weil inhaltlich leerem Sinnversprechen der Geschichtsphilosophie vgl. R. Simon: »Historismus und Metaerzählung. Methodische Überlegungen zur Erzählbarkeit von Geschichte in Herders Geschichtsphilosophie«, in: R. Otto (Hg.), Nationen und Kulturen: zum 250. Geburtstag Johann Gottfried Herders, 86; zu Herders Konzept der Humanität als ›centre manqué‹ vgl. H. Fischer: »Herder heute?«, 187.

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Herder paradoxerweise und zum Trotz der von ihm entworfenen Bedrohungsszenarien den Bedarf eines kulturellen Inputs von Außen für die Bildung der einzelnen Nationen formuliert. Das in eine organologische Metaphorik übersetzte Prinzip der translatio studii schreibt jeder Nation ihre eigne Blütezeit zu. Das Wachsen und Vergehen einer Nation sind Teil des natürlichen Prozesses. Ohne »Einimpfungen der Völker zu rechter Zeit« (I 491) könnte diesen jedoch der Fortgang des Bildungsprozesses bzw. ihre ›Veredelung‹, wie Herder schreibt, versagt bleiben.47 Während Herder mit der Rede vom Impfen im Rahmen seines organologisch gedachten Bildungsprozesses verbleibt, diesen aber für Kulturtechniken anschließbar macht, erkennt er anderen Orts explizit auch die Vermischung als initiatorisches Moment und Prinzip des Bildungsprozesses an, mehr für die neure Zeit als für die alte, aber nicht ausschließlich. Im Mittelalter war es z.B. die Dichtkunst als »wunderbares Gemisch und zusammengesetztes Gebäude« (W 188). Nicht das Nationale gilt also für diese Zeit als das bestimmende Bildungsprinzip, sondern Vermischung und Synkretismus: »Die enge Nationaldichtkunst, so wie die enge Nationalwirkung derselben auf Sitten und Charakter hört auf« (W 188).48 Die Nation wird als das bestimmende geschichtliche Prinzip relativiert. Sie bedarf durchaus auch des an anderer Stelle als gefährlich angesehen Einfalls von außen. Für spezifische Regionen, Kulturen und Zeiten wäre sie damit schon vor ihrem Diskursbeginn in der Moderne eine überholte Denkfigur – eine vielleicht aus kulturhistorischem/philantropischem Interesse zu schützende Größe, ein Aufbewahrungsort menschlicher Grundformen.49 Bezeichnenderweise schließt Herder seine Ideen sogar mit einem Blick auf die ›Kultur Europas‹, ein Blick, der das Gemälde der Nationen in seinen mannigfaltigen Eigentümlichkeiten nun seinerseits in Gefahr bringt.

47 Vgl. auch G.von Essen: »Nationale Emanzipation als internationale Kontaktgeschichte bei Johann Gottfried Herder«, in: Ulrike-Christine Sander/Fritz Paul (Hg.), Muster und Funktionen kultureller Selbst- und Fremdwahrnehmung. Beiträge zur internationalen Geschichte der sprachlichen und literarischen Emanzipation, Göttingen 2000, 391-413, hier 409-411. 48 Hervorhebung JGH. 49 Zur Relativierung der Nation als bestimmendem Geschichtsprinzip vgl. auch R. Simon: Das Gedächtnis der Interpretation, 119-125.

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Insgesamt lässt sich diese Diagnose aber nicht für Herders Schriften verallgemeinern. Sein Blick konzentriert sich auch immer wieder auf die unterschiedlichen historischen Formierungen der Nationen. Es ist ein unentscheidbares Oszillieren zwischen den mannigfaltigen Eigenwerten jeder Nation und dem jeweiligen nationalen, z.T. durch Synkretismus und Impfung geförderten Fortschreiten zur Humanität, ein Changieren zwischen verräumlichender und verzeitlichender Perspektive. Wenn der innere und der äußere ›Bezugspunkt‹ der verzeitlichenden wie auch der verräumlichenden Betrachtungsweise in Herders Ausführungen an ganz spezifischen Scharnierstellen seiner Argumentation jeweils durch Verbildlichung anschaulich gemacht wird, durch die Bildpoetik des inneren Sinns respektive das naturgeschichtliche Projekt der Gemälde der Nationen, dann ist dieser Bezugspunkt, so lässt sich Andersons Argument in etwas erweiterter Form wieder aufnehmen, vor allem ›medial‹ vorhanden, nicht aufgrund der durch die neuen sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts etablierenden Medien, sondern durch eine Bildmetaphorik, die sich aus wissenschaftlichen Diskursen der Ästhetik, Philosophie und der Naturgeschichte speist. Subjektkonstitution und Formierung der Nation bedürfen offenbar auch bei Herder der Bilder, die bei aller geschichtsphilosophischen und theologischen Fundierung, die Herders Schreiben natürlich aufweist, das Subjekt in einer sinnlich erfahrbaren und mit Hilfe der Einbildungskraft vorgestellten Welt verorten.

Hermanns Ding MARTINA WAGNER-EGELHAAF VARUS […] diese Dinge stoßen etwas tiefer in die Brust als Nadeln. – O! vergelt ich’s ihnen, wie ich kann!1

Nach der deutschen Wiedervereinigung im Jahr 1989, die zur Erosion des Ost-West-Gegensatzes in Europa führte und die Frage aufwarf, welche Rolle die Nation(en) künftig in einem neuen Europa spielt bzw. spielen, behauptete Slavoj Žižek in bekannt zuspitzender Weise: Im östlichen Europa sucht der Westen nach seinen eigenen verlorenen Ursprüngen, nach seiner verlorengegangenen ursprünglichen Erfahrung von einer »demokratischen Erfindung«. Mit anderen Worten, Osteuropa fungiert für den Westen als dessen Ich-Ideal: als der Punkt, von dem aus der Westen sich selbst in einer sympathischen, idealisierten Form sieht, als der Punkt, von dem aus er sich als liebenswert betrachtet.2 1

Christian Dietrich Grabbe: Die Hermannsschlacht. Endgültige Fassung, in: Ders., Werke und Briefe, Historisch-kritische Gesamtausgabe in sechs Bänden, hg. von der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, bearb. von Alfred Bergmann, 3. Bd., Emsdetten 1961, 318-380, 372.

2

Slavoj Žižek: »Genieße Deine Nation wie Dich selbst! Der Andere und das Böse – Vom Begehren des ethnischen ›Dings‹«, in: Joseph Vogl (Hg.), Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen, Frankfurt a. M. 1994, 133-164, 133.

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Die Beziehung, die Žižek beschreibt, ist eine Blickbeziehung: Der Westen blickt fasziniert (von sich selbst) auf den Osten und glaubt dabei auf den naiv-faszinierten Blick des Ostens auf den Westen zu stoßen. Der imaginäre Punkt, an dem sich ›die beiden Blicke‹ begegnen, figuriert eine von psychischen Energien durchzogene Leerstelle hybrider Selbstidentifikation über die hypostasierte Position des Anderen. Diese Leerstelle konzeptualisiert Žižek als ein Ding, das »nicht auf den Aspekt symbolischer Identifizierung reduziert werden«3 kann, d.h. dieses im Leeren gegründete Ding bzw. diese dinghaft imaginierte Leerstelle bleibt unverfügbar und ist nicht im Symbolischen darstellbar. Das Band, das seine Glieder [die Glieder eines Gemeinwesens; M.W.-E.] zusammenhält, impliziert immer eine gemeinsame Beziehung zu einem Ding, in dem sich das Genießen verkörpert. Die Beziehung zu dem Ding ist das, was auf dem Spiel steht, wenn wir von der Bedrohung sprechen, die der Andere für unseren »way of life« darstellt: sie ist das, was bedroht ist, wenn zum Beispiel ein weißer Engländer in Panik gerät, angesichts der wachsenden Präsenz von »Fremden«. Nationale Identifizierung ist ihrer Definition nach aufgebaut auf eine Beziehung zur Nation als Ding.4

Das Ding, auf das sich Gemeinschaften Žižek zufolge gründen und das er hier gegenüber seinem Ausgangspunkt Osteuropa/Westeuropa auf nationale Gemeinschaften verengt, ist demnach kein Gegenstand, sondern eine Beziehung – eben diese Beziehung, die den vermeintlich faszinierten Blick des Anderen auf das Eigene im sich selbst im Anderen suchenden eigenen Blick auf den Anderen zu erkennen glaubt. Der Ausdruck ›Ding‹ reflektiert dabei die Tatsache, dass es sich um kein konkret fass- und benennbares Ding, einen Gegenstand also, handelt – dieser könnte ja spezifischer benannt werden. Er ist eine den Eindruck des Konkreten vermittelnde Bezeichnung für etwas, das sich nicht konkret benennen lässt, etwas Abstraktes also, stellt in gewisser Weise selbst eine Abstraktion dar. Anders gesagt: Ein ›Ding‹ ist in unserem Sprachgebrauch sowohl eine konkreten Gegenständen übergeordnete Kategorie als auch der allen spezifizierbaren Gegenständen gemeinsame Kern ihrer Dinghaftigkeit. Insofern oszilliert der Aus-

3

Ebd. 134.

4

Ebd. 135.

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druck ›Ding‹ zwischen abstrakter Allgemeinheit und verdichteter Gegenständlichkeit.5 Žižeks Ding lässt die Unterscheidung konkret/abstrakt ebenso kollabieren wie die Unterscheidung zwischen dem Eigenen und dem Anderen. Das ›Ding‹ ermöglicht Genießen, weil in ihm unsere Selbstkonstitution gründet, d.h. weil es unsere Selbstkonstitution ist. Allerdings: Weil diese Selbst(be)gründung ein Anderes, das Fremde, voraussetzt, den vermeintlich faszinierten Blick der Anderen auf uns selbst, der nach unserem Eigenen trachtet, ist unser ›Ding‹ konstitutiv durch die Anderen bedroht. Dieses Nation-Ding ist bestimmt durch eine Reihe widersprüchlicher Eigenschaften. Es erscheint uns als »unser Ding« (vielleicht könnten wir sagen cosa nostra), als etwas, das nur uns zugänglich ist und das »sie«, die anderen, nicht erfassen können, das aber nichtsdestoweniger fortwährend durch »sie« bedroht ist; es erscheint als das, was unserem Leben Fülle und Lebendigkeit verleiht, und dennoch können wir es nur bestimmen, indem wir zu verschiedenen Versionen leerer Tautologie Zuflucht nehmen – alles, was wir darüber sagen können, ist, daß das Ding »the real Thing« ist, »das worum es wirklich geht« etc. Wenn wir gefragt werden, wie wir die Präsenz dieses Dinges erkennen können, so ist die einzige konsistente Antwort, daß das Ding in jener flüchtigen Entität präsent ist, die wir unseren »way of life« nennen. Alles, was wir tun können, ist, zusammenhanglose Fragmente davon aufzuzählen, wie unser Gemeinwesen seine Feste organisiert, seine Paarungsrituale, seine Initiationsriten… – kurz, all die Details, durch die die einzigartige Weise sichtbar wird, in der ein Gemeinwesen sein Genießen organisiert.6

5

Peter Widmer sieht die Rolle des Dings in der Philosophie, insbesondere bei Kant und Hegel, in der erkenntniskritischen Relation einer problematisierten Subjekt-Objekt-Relation; das Ding ist das in dieser Relation Unverstandene. Vgl. Peter Widmer: »Das Ding – Von Meister Eckhart bis zu Lacan«, in: Gisela Ecker/Claudia Breger/Susanne Scholz (Hg.), Dinge. Medien der Aneignung. Grenzen der Verfügung, Königstein/Taunus 2002, 239-250.

6

S. Žižek: »Genieße Deine Nation wie Dich selbst!«, 135.

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1. DING UND FETISCH Žižeks Ding-Konzept weist eine strukturelle Analogie zum Freud’schen Fetischbegriff auf. Nach Freud verdeckt der Fetisch in der Perspektive des kleinen Knaben bzw. des Fetischisten die Kastration der Frau und damit die eigene Kastrationsangst. Der Fetisch ist, Freud zufolge, »aus Gegensätzen doppelt geknüpft«,7 weil er zum einen die Kastration der Frau verleugnet und zum anderen die Verleugnung verleugnet. Wie die Kastration bei Freud ist das Ding bei Žižek ein Mangel, eine Leerstelle; der Freud’sche Fetischist glaubt wie der Žižek’sche Nationalist an die Existenz eines die Leere substituierenden Dings. Während das imaginäre Ding des Fetischisten, der Phallus der Frau, Bild seiner Kastrationsangst ist, besteht die Bindekraft des Žižek’schen Dings gerade darin, dass es nur als konstitutiv bedroht gedacht werden kann. Das Ding bei Žižek ist nicht eines, das als von einem unwiederbringlichen Verlust bedroht imaginiert wird, wie im Falle der Kastrationsangst nach Freud, sondern es ist etwas, das in den Besitz eines Anderen überzugehen droht, womit dieser Andere zum notwendigen Gegenüber des nationalen Ichs wird. Auch wenn Žižek nicht mit Freuds Fetischbegriff argumentiert, so legt die strukturelle Analogie auch für das nationale Ding die Vorstellung fetischisierender Ersatzverdinglichungen nahe. Die Engführung mit dem Fetisch-Begriff lässt einerseits eine dem nationalen Ding inhärente Geschlechterstruktur hervortreten, die den (nationalen) Ding-Blick als konstitutiv männlich erweist, und profiliert andererseits die sprachliche Dimension, die Žižek selbst anspricht, wenn er das ›Ding‹ als etwas nicht direkt Benennbares beschreibt, als etwas, für das wir nur Ersatzbenennungen aufbringen können, wohl wissend, dass diese »Tautologien« nicht das eigentliche Ding, »the real Thing« sind. Als Fetische erfahren diese Ersatzbenennungen eine (sprachliche) Verdinglichung. Wenn Žižek das nationale Ding als Effekt des Glaubens qualifiziert und damit auf seine gleichsam religiöse Funktion verweist, ist diese immer an seine tautologisierende Wiederholung in der Sprache geknüpft.

7

Sigmund Freud: »Fetischismus (1927)«, in: Ders., Studienausgabe, Bd. III: Psychologie des Unbewussten, hg. v. Alexander Mitscherlich u.a., Frankfurt a. M. 1982, 379-388, 387.

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»Ich glaube an das (nationale) Ding«, heißt soviel wie: Ich glaube, daß andere (Angehörige des Gemeinwesens) an das Ding glauben.« Der tautologische Charakter des Dinges – seine semantische Leere, die Tatsache, daß wir über es nur sagen können, daß es »the real Thing« sei etc. – ist genau in dieser paradoxen reflexiven Struktur begründet. Das nationale Ding existiert so lange, wie die Angehörigen des Gemeinwesens daran glauben, es ist buchstäblich ein Effekt dieses Glaubens an es.8

Seine Sprachlichkeit lässt das Ding mit Lacan auch als phallischen Signifikanten erscheinen, dem kein Signifikat zugrunde liegt, der aber die, in diesem Fall nationale, Signifikation erst ermöglicht.9 Eine Nation, so führt Žižek weiter aus, existiert nur so lange, wie das spezifische Genießen derer, die an das gemeinsame Ding glauben, »in einem Set sozialer Praktiken materialisiert und in nationale Mythen übertragen wird, die diese Praktiken strukturieren.«10 Von dekonstruktiven Ansätzen setzt sich Žižek insofern ab, als er davon ausgeht, dass das Genießen einen realen, nicht-diskursiven Kern hat, der vorhanden sein muss, damit die Nation sich diskursiv konstituieren kann. Paradoxerweise gehen wir davon aus, dass »unser Ding« den Anderen unzugänglich ist, aber doch von ihnen bedroht wird. Dies liegt daran, dass der Andere, der mein Genießen stehlen könnte, der Andere in mir ist, eben jener Andere, auf den sich meine Selbstkonstitution gründet. Hier, d.h. im Hass auf das eigene Genießen, sieht Žižek die Wurzel des Rassismus.11 Dieses Genießen muss man hassen, weil man es selbst nie besessen hat, d.h. weil es sich konstitutiv entzieht. Es existiert gleichsam nur in der

8

S. Žižek, »Genieße Deine Nation wie Dich selbst!«, 136.

9

Vgl. Jacques Lacan: »Die Bedeutung des Phallus«, in: Ders., Schriften II, hg. v. Norbert Haas, Weinheim, Berlin 31991, 119-132; Doerte Bischoff: »Phallus«, in: Renate Kroll (Hg), Metzler Lexikon Gender Studies / Geschlechterforschung. Ansätze – Personen – Grundbegriffe, Stuttgart/Weimar 2002, 305f. Žižek bezieht sich in »Genieße Deine Nation wie Dich selbst!« auch auf Lacan, allerdings in Bezug auf die Bestimmung des Genießens; vgl. S. Žižek, »Genieße Deine Nation wie Dich selbst!«, 162.

10 Ebd. 136f. 11 Zum Hass vgl. insbes. Hinrich C. Seeba: »Woher kommt der Hass? Zur Rechtfertigung der Gewalt von Kleist bis Himmler«, in: Martina Wagner-Egelhaaf (Hg.), Hermanns Schlachten. Zur Literaturgeschichte eines nationalen Mythos, Bielefeld 2008, 323-340.

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Angst, dass sich der Andere seiner bemächtigen könnte. Das, was uns angeblich gestohlen wurde, haben wir also, so sieht es Žižek, niemals besessen.12 Žižek schreibt: »Jede Nationalität hat ihre eigene Mythologie errichtet, worin erzählt wird, wie andere Nationen sie des vitalen Teils ihres Genießens berauben, dessen Besitz es ihr ermöglichen würde, in vollen Zügen zu leben.«13

2. HERMANN DER CHERUSKER. DRAMA EINES NATIONALEN MYTHOS Vor dem Hintergrund der Žižek’schen Konzeption vom nationalen Ding soll im Folgenden ein wirkmächtiger deutscher Nationalmythos, derjenige von Hermann dem Cherusker, in den Blick genommen werden, wie er sich namentlich in verschiedenen Dramen immer neu inszeniert hat. Dieser nationale Mythos ist in besondere Weise auf den paradoxen Antagonismus von dem Eigenen und dem Anderen gestellt, insofern als er nicht ohne die Römer erzählt werden kann, die nach Germanien eingefallen sind, um den Germanen ihr Ding zu entwenden. Sind es in den Dramentexten, die im Folgenden analysiert werden, die Römer, die nach dem Eigenen der Germanen trachten, stehen für die Römer in der zeitgenössischen Situation, in der Heinrich von Kleist seine Hermannsschlacht geschrieben hat, die Franzosen und in der nationalsozialistischen Rezeption des Hermann-Mythos die Juden. Es soll gezeigt werden, wie auf der Grundlage der wechselseitigen Verschränkung des Eigenen und des Anderen, Germanen und Römern, über die Leerstelle des nationalen Dings die literarische Sprache eine Szene diskursiver Tautologien eröffnet, die verdeckt und doch zugleich darauf hinweist, dass der nationale Befreiungskampf, wie ihn Hermann führt, notwendig und im wahrsten Sinne des Worts ins Leere läuft, insofern als die Befreiung vom Anderen, auf den sich das Eigene gründet, schlichtweg nicht möglich ist. In der neueren geschichtswissenschaftlichen Forschung wird der Cherusker Arminius weniger als germanischer Freiheitsheld gesehen, vielmehr diskutieren die Fachleute darüber, ob er sich möglicherweise als Befehlsha-

12 Vgl. S. Žižek, »Genieße Deine Nation wie Dich selbst!«, 138. 13 Ebd. 138.

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ber römischer Hilfstruppen gegen seinen römischen Vorgesetzten auflehnte.14 Aus römischer Sicht wurde die Varus zugefügte Niederlage zwar als bedeutende Schlappe aufgefasst, aber nicht als jene welthistorische Wende betrachtet, die ihr von der deutschen Rezeption der Varusschlacht zugesprochen wurde.15 In der Gegenüberstellung von Römern und Germanen bzw. Deutschen verfährt die Rezeptionsgeschichte indessen in hohem Maße polarisierend. a) Schlegel. Klare Sache Die Polarisierung prägt in besonders eklatanter Weise Johann Elias Schlegels Drama Herrmann (1740/41), das in der folgenden Analyse des römisch-germanischen Wechselverhältnisses eine paradigmatische Leitfunktion erhält und daher ausführlicher in den Blick genommen wird als die in der Folge ergänzend und differenzierend hinzugezogenen Hermann-Dramen. »Der Schauplatz ist ein Hayn, mit den Bildern des Thuiskon und Mannus« heißt es in der Regieanweisung von Schlegels Herrmann.16 Der Hain mit den Bildern der germanischen Gottheiten, d.h. die Kultstätte, lässt sich als das Innerste und Eigenste des germanisch-nationalen17 Imaginären

14 Vgl. Reinhard Wolters: Die Schlacht im Teutoburger Wald. Arminius, Varus und das römische Germanien, München 2008, 93. 15 Mündliche Auskunft von Kai Brodersen während der Tagung »Hermannsschlachten«, die vom 26. bis 29. Juni 2008 in Münster stattfand; vgl. dazu den Tagungsband M. Wagner-Egelhaaf (Hg.), Hermanns Schlachten. 16 Johann Elias Schlegel: Herrmann, ein Trauerspiel, in: Ders., Werke, hg. v. Johann Heinrich Schlegel (1764-1773), Frankfurt a. M. 1971, 281-384, 284 (Belege künftig im fortlaufenden Text). 17 Der katachretische Anachronismus dieses Ausdrucks rechtfertigt sich durch die nationale Aneignung des Germanischen, die beispielsweise deutlich wird, wenn der Herausgeber im Vorbericht schreibt: »Dieses in der Geschichte des Vaterlands so wichtige Sujet hat sich der Dichter in reifern Jahren erwählt, da er vorhin nach dem Beyspiele der meisten Franzosen nur Stücke aus der fabelhaften Heldenzeit bearbeitet hatte. Aus seinem Gefühle und aus der Erfahrung bemerkte er, daß diejenigen Trauerspiele mehr intereßieren und stärker auf die Gemüther wirken, deren Stoff in der Geschichte des Volkes liegt, für welches man dichtet« (Schlegel, Herrmann, 285).

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lesen. Dabei scheinen die Götterbilder für das zu stehen, was es seitens der Germanen zu schützen und zu verteidigen gilt. Der Ding-Charakter der Bilder im Žižek’schen Sinn liegt darin, dass es sich bei den Bildern nur um Abbilder handelt, die etwas nicht Abbildbares repräsentieren, die Götter selbst und mit ihnen das eigene und eigentliche Germanische. Der ›Schauplatz‹ als Ort des Geschehens ist in diesem Fall ein wirklicher Schauplatz als es im Hain tatsächlich nicht mehr zu sehen gibt als die Bilder, denn die Handlung des Stücks ist eine in hohem Maße statuarische. Alles, was sich ereignet, geschieht im Wortwechsel. In den Dialogen werden sowohl das historisch-politische Geschehen berichtet als auch der dramatische Konflikt ausgetragen. Man könnte Schlegels Herrmann als ein Drama der Konfrontationen bezeichnen, von dessen fünfundzwanzig Auftritten (in fünf Akten) fünfzehn von einander konfrontierten gegnerischen Parteien bestritten werden. Das nationale Ding wird also im Wortwechsel, in der Sprache, ausagiert. Seine Protagonisten sind im Einzelnen auf germanischer Seite Herrmann, Thusnelde, Adelheid, Sigmar, der Fürst der Chauzier, der Fürst der Chatten, auf römischer Seite Varus, Segest und Marcus, ein junger Römer. Hinzu kommen die zwischen den beiden Seiten auf signifikante Weise schwankenden Figuren Siegmund, Thusneldes Bruder, und Herrmanns Bruder Flavius. Bei diesen Figuren handelt es sich um die eigentlich ›interessanten‹ Figuren des Dramas, denn sie agieren die problematische Grenze zwischen Germanen und Römern, dem Eigenen und dem Anderen, und ihrer ambivalenten Doppelzugehörigkeit, nicht etwa dem Schlachtgeschehen selbst, verdankt sich die Dynamik des Stücks. Dass es gerade die Brüder der beiden Idealgestalten und Protagonisten des Dramas, Herrmann und Thusnelde, sind, die im nationalen Spiegelverhältnis das Andere im Eigenen repräsentieren, ist in jedem Fall bemerkenswert. Dabei ist Siegmund der vergleichsweise unproblematischere Fall. In römischer Gefangenschaft zwangsweise zum Priester des Augustus konvertiert, kehrt er, wiewohl im Herzen Deutscher18 geblieben, als Repräsentant Roms nach Germanien zurück. Die Tatsache, dass er als römischer Priester im deutschen Götterhain auftritt, figuriert die Konfrontation und Engführung des germanischen und des römischen Sakralen. Freilich weist allein schon der deutsche Name des römischen Priesters auf die Asymmet-

18 Anachronistisch wird in den Hermann-Dramen des 18. und 19. Jahrhunderts von ›Deutschen‹ und ›Deutschland‹ gesprochen.

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rie dieser Konstellation hin. Dass ein Germane zum römischen Priester geweiht ist, stellt eine Verletzung des germanischen religiösen Imaginären dar. Gleich sein erster Auftritt im 1. Auftritt des II. Akts zeigt Siegmund als Zweifelnden: Siegmund. Thusnelde, grüße du des Vaterlandes Gott, In meinem Munde scheint sein Lob vielleicht ein Spott. Ach Schwester, darf ich auch in fremden Priesterbinden Mich, vor sein Angesicht zu treten, unterwinden? (II/1, 327)

Siegmund benennt auch den Grund, warum er sich in seiner römischen Priesteridentität nicht wohl fühlt: Steht meines Vaterlands bejahrte Lehre fest, Daß kein Unsterblicher sich sehn noch bilden läßt? Wie? Oder ist ein Gott in einen Leib gekleidet, Den nichts, als seine Macht, von Menschen unterscheidet? (II/1, 327)

Ihn empört, dass sich ein Mensch, Augustus, als Gott verehren lässt und mithin in Rom die Grenze zwischen Menschlichem und Göttlichem, und das ist auch die Grenze zwischen Abbildbarkeit und Nichtabbildbarkeit, nicht respektiert wird. Diese Grenze ist auch eine Grenze zwischen abstrakten und sinnlichen, um nicht zu sagen dinglichen Werten. Thusnelde bringt es auf den Punkt: Thusnelde. Durch uns, ihr Götter! Hat mein träges Vaterland Sich einst vor Rom gebeugt, und seinen Fall bekannt. Ach tretet es nicht ganz in stete Knechtschaft nieder, Und gebt ihm doch mit uns auch seine Freyheit wieder! (II/1, 327)

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Thusnelde und Siegmund waren (das ist nicht historisch19) als Pfänder in Rom (vgl. auch I/3, 323) und deswegen, so argumentiert Thusnelde, beugte sich das Vaterland, um die menschlichen Pfänder zu schützen, der römischen Oberherrschaft. Das, worum es aber geht, dies sagt Thusnelde ganz unzweideutig, ist die »Freyheit«. Diesem abstrakten Wert auf der germanischen Seite steht die Dinglichkeit der römischen Kultur, die auch vormals freie Germanen zu dinglichen Pfändern macht, gegenüber. So wird Sigmunds Gebundenheit durch die dingliche »Binde« (II/3, 330) zum Ausdruck gebracht, die Thusnelde dazu veranlasst zu fordern: »Wirf diesen eitlen Schmuck zu deinen Füßen hin« (II/1, 328). Die auf einer strikten Unterscheidung beharrende Spiegelkonstellation zwischen Römern und Germanen verbildlicht das ›Ding‹ der Deutschen, »das worum es wirklich geht«,20 in der perhorreszierten Ding-Kultur der Römer. Obwohl er genau weiß, was recht und richtig ist, nämlich dem Vaterland und seinen Werten treu zu bleiben, ist Siegmund im Konflikt, da sein Vater Segest von ihm verlangt, gemeinsam mit ihm seinen Nutzen aus dem germanisch-römischen Widerstreit zu ziehen und d.h. erst einmal mit Rom gemeinsame Sache gegen Germanien zu machen. Siegmund ist also im Loyalitätskonflikt zwischen dem Vaterland, dem Vater und Rom. Dass der Vater nicht auf der Seite des Vaterlands steht, sorgt dabei für Irritation und stellt die von den Germanen, insbesondere von Herrmann selbst, aber auch von Thusnelde und Adelheid, eingeforderte klare Abgrenzung zwischen Römern und Deutschen in Frage. Siegmund ist als ein ›schwacher‹ Deutscher eingeführt, beugt er sich doch den Überredungskünsten seines Vaters: Segest. So schwöre bey dir selbst, und bey Augustus Leben! Siegmund. Wohlan dann! Bey dem Gott, dem du mich übergeben, Schwör ich dir alles zu, was du nur selber willst. (II/7, 342)

19 Die schwangere Thusnelda geriet erst 14 n. Chr. während des GermanicusFeldzugs in römische Gefangenschaft. Vgl. dazu u.a. Klaus Kösters: Mythos Arminius. Die Varusschlacht und ihre Folgen, Münster 2009, 29. 20 S. Žižek, »Genieße Deine Nation wie Dich selbst!«, 135.

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Damit wird Siegmund erst einmal auf die dramatische Reservebank geschickt. Doch Siegmund hieße nicht Siegmund, wenn er sich nicht auf seine wahre germanische Natur besänne. Im 2. Auftritt des V. Akts kann Adelheid, die mit Thusnelde den Hain verlassen hatte, um das Kampfgeschehn aus der Nähe zu beobachten und bei den Kämpfern zu sein,21 triumphierend Segest berichten: Adelheid. […] Als Knechtschaft oder Tod auf unserm Haupte hieng, Das Feld verloren war, und Deutschland untergieng: So riß dein tapfrer Sohn dein knechtisch Hoffen nieder, Und rief den deutschen Ruhm aus seinem Tode wieder. Er warf die Binde weg, durch die er zum Altar, Als Priester und als Knecht, mit Schmach verdammet war. Dein Siegmund braucht dein Heer zu seiner Bürger Leben, Und führt es besser an, als du es ihm gegeben. (V/2, 375).

So darf Siegmund als vollkommen rehabilitiert im Schlusstableau des Dramas präsent sein, zumal er Herrmann die unversehrte Thusnelde übergeben

21 Tacitus berichtet über das germanische Schlachtverhalten: »Besonders spornt sie zur Tapferkeit an, daß nicht Zufall und willkürliche Zusammenrottung, sondern Sippen und Geschlechter die Reiterhaufen oder die Schlachtkeile bilden. Und ganz in der Nähe haben sie ihre Lieben; von dorther können sie das Schreien der Frauen, von dorther das Wimmern der Kinder vernehmen. Ihr Zeugnis ist jedem das heiligste, ihr Lob das höchste: zur Mutter, zur Gattin kommen sie mit ihren Wunden, und jene zählen oder prüfen ohne Scheu die Stiche; auch bringen sie den Kämpfenden Speise und Zuspruch. 8. Schon manche wankende und sich auflösende Schlachtreihe wurde, wie es heißt, von den Frauen wieder zum Stehen gebracht: durch beharrliches Flehen, durch Entgegenhalten der entblößten Brust und den Hinweis auf die nahe Gefangenschaft, die den Germanen um ihrer Frauen willen weit unerträglicher und schrecklicher dünkt. Aus diesem Grunde kann man einen Stamm noch wirksamer binden, wenn man unter den Geiseln auch vornehme Mädchen von ihm fordert« (Tac. Germ. 7/8; zit. n. P. Cornelius Tacitus: Germania. Lateinisch/Deutsch. Übers., erl. u. mit einem Nachwort vers. v. Manfred Fuhrmann. Stuttgart 2005, 15).

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kann, von der dieser gedacht hatte, sie sei auf dem Schlachtfeld zu Tode gekommen (vgl. V/4, 382). Dank Siegmunds Rückkehr auf die Seite der Germanen ist nun alles gut, die Freiheit wiederhergestellt – allerdings ist Thusnelde immer noch ein ›Ding‹, nun freilich ein germanisches: Siegmund. Die Götter, deren Rath zu unserm Wohl gediehn, Verkaufen dir den Sieg so hoch nicht, als es schien. Hier, Herrmann, bring ich dir dein bestes Gut zur Beute, Das man gefangen hielt, und ich zuletzt befreyte. (V/5, 383)

Die Befreiung Thusneldes als »bestes Gut zur Beute« führt die Freiheit als das abstrakte Ding des germanischen Freiheitskampfes in Thusneldes Hypostasierung mit jenem Beutegut eng, das sie von Anfang an war – und zwar für die römische und die deutsche Seite, denn als Pfand Roms hatte sie ja, wie sie eingangs selbst sagt, für das lange Stillhalten der Germanen gesorgt: »Durch uns, ihr Götter! Hat mein träges Vaterland/Sich einst vor Rom gebeugt« (II/1, 327). Natürlich ist Thusnelda nicht ›das Ding‹, aber ihr Objektstatus steht in einem strukturellen Zusammenhang mit dem ›eigentlichen Ding‹. Indem sie zum wechselnden Beuteobjekt zwischen Germanen und Römern wird, verweist ihr Dingcharakter auf ein die Beziehung zwischen Römern und Germanen begründendes eigentliches Ding. Als Frau eignet sie sich besonders zur Darstellung des nationalen Dings, ist sie, nach Lacan, doch der Phallus, nach dem sowohl die römische als auch die germanische Männlichkeit strebt. Man könnte in diesem Zusammenhang nochmals auf Tacitus verweisen, der vom Glauben der Germanen, »den Frauen wohne etwas Heiliges und Seherisches inne«,22 berichtet. Eben diese Heiligkeit scheint, so ließe sich lesen, in besonderer Weise fähig, die Unverfügbarkeit des nationalen Dings ins Werk zu setzen.23 Im Falle Sig-

22 Ebd. 8 (15). 23 Über weibliche Nationalallegorien vgl. Marina Warner: In weiblicher Gestalt. Die Verkörperung des Wahren, Guten und Schönen, Reinbek b. Hamburg 1989; Sigrid Schade/Monika Wagner/Sigrid Weigel (Hg.), Allegorien und Geschlechterdifferenz, Köln/Weimar/Wien 1985; Claudia Röser: »Zwischen Metapher und Allegorie. Europas rhetorische Verfassung«, in: Doerte Bischoff/Martina Wagner-Egelhaaf (Hg.), Mitsprache, Rederecht, Stimmgewalt. Genderkritische Stra-

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munds erscheint es als bezeichnend, dass er als römischer Priester effeminiert dargestellt wird. In dem Sinne, in dem die auf geradezu aggressive Weise immer wieder hergestellte Grenze zwischen Römern und Germanen auch die Grenze zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit bedeutet, zwischen dem Eigenen und dem Anderen, büßen Grenzgänger ihren eindeutigen Geschlechtscharakter ein. Ein hartnäckigerer Fall als Siegmund ist Flavius, Herrmanns Bruder. Dies ist nicht zuletzt an seinem römischen Namen abzulesen. Gemeinsam mit Herrmann, der damals noch Arminius hieß, in Rom ausgebildet, ist er von einer tiefgehenden Verbundenheit mit Rom und seiner Kultur geprägt. Aufgrund seiner hohen Präsenz und seines ausgeprägten dramatischen Redeanteils ist er zweifellos eine Hauptfigur in Schlegels Stück. Gleich der 2. Auftritt des II. Akts konfrontiert ihn mit seinem Vater Sigmar. Auf die Frage seines Vaters, ob er ein Deutscher sei, antwortet Flavius: »Mein Vater, ich bin deutsch, doch haß ich Rom auch nicht« (I/2, 318) – eine Zweideutigkeit, die für Sigmar keinesfalls akzeptabel ist: Sigmar. Wer Rom nicht hassen kann, kann nicht die Deutschen lieben. Was theilest du dein Herz? Sey treu mit ganzen Trieben, Sey römisch oder deutsch! Jtzt wähle deinen Freund; Rom, oder deinem Volk sey günstig oder feind! (I/2, 318)

Sigmars Rigorismus, der auf klare Unter- bzw. Entscheidung zwischen Römern und Deutschen drängt, steht Flavius’ Relativismus gegenüber, der im Stück eindeutig negativ bewertet wird, im Sinne eines modernen Politikverständnisses jedoch zweifellos die angemessenere Position darstellt: »So kann denn beyder Wohl nicht mehr vereint bestehen?« fragt er seinen Vater ungläubig (I/2, 318). Während Sigmar alles Römische in Bausch und

tegien und Transformationen der Rhetorik, Heidelberg 2006, 207-229; Dies.: »Europa Europa. Repräsentationen einer Vereinigung«, in: Kristiane Hasselmann/Sandra Schmidt/Cornelia Zumbusch (Hg.), Utopische Körper. Visionen künftiger Körper in Geschichte, Kunst und Gesellschaft, Paderborn 2004, 213231; Martina Wagner-Egelhaaf: »›Deutschland, bleiche Mutter‹. Ist die Nation (immer noch) eine Frau?«, in: D. Bischoff/Dies. (Hg.), Mitsprache, Rederecht, Stimmgewalt, 231-254.

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Bogen verdammt, weil er es für lasterhaft und dekadent hält, vermag Flavius, der von der römischen Kultur und Lebensweise angetan ist, zu differenzieren: Flavius. Von Tapferkeit und Muth soll Rom mich nicht entfernen; Roms Laster will ich fliehn, und seine Künste lernen. (I/2, 321)

Für Sigmar ist dies eine ›feige und weibische‹ Haltung (vgl. I/2, 321). Einmal mehr werden abstrakte germanische Freiheit und römische Dingverhaftetheit als Gegensätze enggeführt: Flavius. So soll der Deutsche stets in schlechten Hütten wohnen? Sigmar. Hier frey seyn, gilt mir mehr, als in Pallästen frohnen. (I/2, 321)

Die Vorstellung, das nationale Ding der Deutschen, die Freiheit, könnte in römischen Palästen zu Grabe getragen werden, macht Sigmar Angst. Wenn im nächsten Auftritt Herrmann selbst seinem Bruder ins Gewissen redet, ist es abermals die Freiheit, die gegen ein Ding, den römischen Bürgerring, ausgespielt wird: Herrmann. […] Nein, Bruder, dieser Ring schimpft eines Deutschen Hand, Die Freyheit adelt mich, und nicht ein fremdes Land. Ich schwör in diesem Hayn: Ihr Götter seyd zugegen! Dies Zeichen meiner Schmach will ich nicht von mir legen, Bis ich mein Volk durchs Schwerd von seiner Dienstbarkeit, Und mich vom Bürgerrecht des stolzen Roms befreyt; Und euch, als Sieger, dann zugleich mit diesem Ringe Auch manchen güldnen Ring erschlagner Römer, bringe. (I/3. 323)

Der Verlust der germanischen Freiheit verbildlicht sich in dem Ding-Symbol des römischen Rings, den Herrmann erst ablegen will, wenn das eigene

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Ding der Deutschen, die Freiheit, wiederhergestellt ist. Wenn im 4. Auftritt desselben Akts Flavius dann seinem römischen Freund Marcus gegenüberoder besser: zur Seite tritt, verstärkt sich der Eindruck seiner Effeminierung. Zwar begehrt er, wie am Ende des Auftritts deutlich wird, auch Thusnelde, gleichwohl legt die Ausgestaltung der Begegnung mit Marcus eine homoerotische Beziehung nahe: Flavius. Komm, werther Römer, komm, mein ganzes Blut wird rege, Das Herz hüpft in der Brust, und fühlt geschwindre Schläge. Dein Anblick ruft in mir das ganze Rom hervor, Und alle seine Lust, die ich mit Schmerz verlor. (I/4, 324)

Wenig später spricht er Marcus mit »Geliebtester« an (I/4, 324) und wenn er über seine Liebe zu Thusnelde spricht – wie er zwei Vaterländer lieben kann, kann er auch Thusnelde und Marcus lieben –, sagte er, er liebe sie auf römische Art. Die deutsche Art der Liebe leben Herrmann und Thusnelde vor; sie ordnet die private Liebe in jedem Fall der politischen Pflicht und dem Dienst am Vaterland unter: Die deutsche Liebe unterwirft sich dem Gefühl nicht, sondern sie ›lässt den Liebenden sich selbst‹, während die römische Liebe vom Trieb bestimmt ist, der den Liebenden in seiner Gewalt hat (vgl. I/4, 326). Eine Annäherung an das Römisch-Weibliche ist also mit der Gefahr, das Germanisch-Männliche einzubüßen, verbunden. Das bedrohte Ding kann nur bewahrt werden, wenn das Weiblich-Andere unterworfen wird, eine Koexistenz ist problematisch. So sind denn auch die Frauen der Deutschen ihren Männern gegenüber absolut loyal – und erfahren nur deshalb ihre sakrale Erhöhung im Symbolischen. Der Dialog zwischen Flavius und Marcus profiliert noch einmal die Szene des Hains: Marcus. Bist du es, Flavius? Ich bin vom Weg entwichen, Um diesen Hayn zu sehn, und finde dich allhier. Wie glücklich leitet mich doch meine Neubegier!

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Flavius. […] Ach! euer Umgang, Scherz, Spiel, Glanz der Gastereyen, Kehrt diese Gegenden in lauter Wüsteneyen. Und du entreißest dich der Reizung deiner Stadt, Verbannst dich in ein Land, das nichts als Wälder hat, Und wohnest, wo man kaum mit Noth dein Haus erblicket? – Wem dank ich’s, Werthester, daß mich dein Blick erquicket? (I/4, 324)

Hier wird nicht nur ein römisch-deutscher Wechselblick inszeniert, indem Flavius mit den Augen eines Römers auf den germanischen Hain blickt, der im Vergleich mit der Stadt Rom als Waldwüste erscheint; die Szene modelliert überdies die Räumlichkeit des Wechselblicks, die dem Hain als Schauplatz seine konstitutive Strukturfunktion verleiht. Der Hain, der »›ideale‹ oder idealisierte ›Mischwald‹«,24 erlaubt Aus- und Einblicke; er ist die ideale Szene, der Schauplatz der Auseinandersetzung um das nationale Ding, das durch die Götterbilder eine nur wenig ausgearbeitete Repräsentation findet. Flavius indessen ist aufrichtig zwiegespalten: Erscheint er im Wechselgespräch mit Sigmar und Herrmann als Römer, so argumentiert er im Dialog mit Segest für die Deutschen, bis dieser ihn mit dem Versprechen, ihm Thusnelde zur Frau zu geben, wenn er nicht mit den Deutschen gegen Rom kämpft, wiederum auf seine Seite zieht (vgl. III/1). Erst im V. Akt erkennt Flavius seinen Irrtum; als er sich entschließt, sich doch noch auf der Seite der Deutschen in die Schlacht zu werfen, um das Leben seines Vaters zu retten, erfährt er von seiner Mutter Adelheid, dass der Vater bereits ehrenvoll in der Schlacht gefallen sei (vgl. V/2). Während es Siegmund also gelingt, durch seine Entscheidung für die richtige, nämlich die deutsche Seite im entscheidenden Moment das Schlachtgeschehen siegreich zu beeinflussen, kommt Flavius, und darin liegt die Tragik der Figur, mit seiner Entscheidung für die richtige Seite – zu spät. Lohnend ist noch ein Blick auf die dritte Grenzfigur im Stück, Segest, Thusneldes und Siegmunds Vater. Er ist nicht deswegen der eindeutige Bösewicht in der Figurenkonstellation, weil er auf der Seite der Römer steht.

24 Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Tübingen/Basel

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1993, 201 beschreibt den Hain als prominenten Topos der römi-

schen und in der Folge abendländischen Literatur.

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Nein, schlimmer noch: die Römer sind ihm so egal wie die Deutschen, ihm geht es nur um seinen eigenen Nutzen. Seine momentane Parteinahme für die Römer ist eine rein strategische. Seinem Sohn Siegmund verrät er seine Pläne: Segest. Sohn, lerne wie man herrscht. Die Kunst, die ich dir zeige, Macht, daß ich auf den Hals gebückter Völker steige. Laß nur das harte Volk den Römern widerstehn, Und unter unser Joch durch seine Thorheit gehn. Der deutschen Fürsten Trutz hilft uns, und schadet ihnen. Sohn, diene Rom mit mir, bis uns die Deutschen dienen. Die Knechtschaft unsers Volks, ein neuerworbner Thron, Und ein uns eignes Reich ist unsrer Dienste Lohn. Dann will ich meine Macht auf meinen Schutzgott kehren, Und selber Herr zu seyn, der Römer Herrschaft stören. (II/3, 331)

In Anbetracht der verschiedenen Formen der Unentschiedenheit zwischen Rom und Deutschland stellt die Auseinandersetzung mit der unzuverlässigen Verwandtschaft bzw. der Verwandtschaft in spe (bei Schlegel sind Herrmann und Thusnelde erst verlobt) Herrmanns eigentliche Aufgabe und das entscheidende dramatische Konfliktpotenzial dar, und nicht so sehr die kriegerische Schlacht gegen Varus, die im Hintergrund läuft – und ohnehin schon geschlagen ist… Mit den beiden Abweichlern Flavius und Segest – Siegmund hat es ja noch rechtzeitig auf die richtige Seite geschafft und eben dadurch deren Sieg bewirkt! – verfährt Herrmann in souveräner Heldenmanier. Als dem neustoizistischen Tugendideal verpflichteter edler Held vergibt er seinem Reue zeigenden Bruder und Segest schenkt er um seiner Frau Thusnelde willen das Leben. Zauderei und Abweichlertum werden also am Ende nicht abgespalten, sondern reintegriert. Durch den Sieg über Rom ist die politische Freiheit wiederhergestellt, nicht aber die Freiheit von den eigenen Anderen, die offensichtlich, wie das weitere politische Geschick des Cheruskerfürsten Hermann zeigt, das größere Problem darstellen.25 Schlegels Herrmann hat unter der Parole der Freiheit der Deut-

25 Der historische Hermann wurde 21 n. Chr. von rivalisierenden Cheruskerfürsten ermordet.

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schen gegenüber Rom mit beachtlichem rhetorisch-dramatischem Aufwand gegen die Römer im eigenen Lager gekämpft. b) Klopstock. Ding-Gefühl Aus dem Hain als Schauplatz wird in Friedrich Gottlieb Klopstocks Bardiet Hermann’s Schlacht (1769) ein Fels, von dem die Protagonisten einen Ausund Überblick über das Geschehen der Schlacht haben: »Der Schauplatz ist auf einem Felsen an dem Thale in welchem die Schlacht entschieden wird.«26 Dass auch dieser Platz geheiligt ist, wird gleich in den ersten Worten der ersten Szene deutlich. Es treten Siegmar und Horst auf, Letzterer mit den Worten: »Ja, Siegmar, hier ist der Fels eben, auch sind Trümmern eines zerfallnen Altars darauf, wie Du mir es sagtest.«27 Dieser Fels wird zum Schauplatz in dreifachem Sinn: Zum einen spielt sich das Geschehen des ganzen Bardiets hier ab. Das bedeutet zum andern, dass die Zuschauerinnen oder Leser des Bardiets auf diesen Schauplatz blicken und den Protagonisten und Protagonistinnen, die hier agieren, bei ihrer Handlung bzw. ihren Handlungen zuschauen. Und drittens sehen sie diese als Schauende, denn von diesem Fels wird, wie gesagt, auf das Schlachtgeschehen herabgeblickt. Claudia Röser formuliert: »Das Theaterpublikum wird zum Beobachter der Schlachtbeobachtung und somit die Beobachtung selbst zum Gegenstand der Hermann’s Schlacht.«28 Das Geschehen, das Leserin und Zuschauer nicht ›mit eigenen Augen‹ verfolgen können, wird jedoch teichoskopisch auf dem Schauplatz kommentiert und somit in die Sprachhandlung hinein genommen.29 Allerdings wird das Gesehene und Besprochene, ganz anders als in Schlegels Drama, immer wieder auf den Schau-

26 Friedrich Gottlieb Klopstock: Hermann’s Schlacht, in: Ders., Klopstock’s Werke. Nach den besten Quellen revidierte Ausgabe. Sechster Teil. Schauspiele. Hg. u. mit Anmerkungen begleitet v. Robert Boxberger. Berlin o. J., 231-254, 258. 27 Ebd. 259. 28 Claudia Röser: »Schlachtfelder. Zur Suche nach dem Ort der Hermannsschlacht und Klopstocks Hermann’s Schlacht«, in: M. Wagner-Egelhaaf (Hg.), Hermanns Schlachten, 175-192, 185. 29 Zum Sprachhandlungsgeschehen in Klopstocks Bardiet vgl. auch Martina Wagner-Egelhaaf: »Klopstock! Oder: Medien des nationalen Imaginären. Zu den Hermann-Bardieten«, in: Dies. (Hg.), Hermanns Schlachten, 195-214, 197.

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platz geholt und so auch für das schauende Publikum sichtbar gemacht, etwa wenn blutige Gestalten direkt aus der Schlacht kommen und so im wahrsten Sinne des Wortes Zeugnis von der Schlacht geben. Dies gilt etwa für Siegmar, der in der siebten Szene tödlich verwundet auf den Schauplatz geführt wird, oder für Werdomars Sohn, der ebenfalls zu Tode verwundet in der achten Szene auf den Schauplatz getragen wird. Doch auch Hermann, der strahlende Sieger, betritt ›direkt‹ aus der Schlacht kommend den Schauplatz.30 Im Kontext der vorliegenden Fragestellung, die ihren Blick auf die wechselseitige Verschränkung der gegnerischen Parteien in Bezug auf das umkämpfte nationale ›Ding‹ richtet, lässt sich der herausgehobene Felsenschauplatz auch als Versuch der Distanznahme lesen: In der Schlacht sind die gegnerischen Seiten ineinander verknäuelt und verbissen; die Beobachtung dieses Sachverhalts von oben herab kann als Bewusstwerdung und Verdrängung zugleich interpretiert werden, denn, wie der römische Gegner selbst nur in Gestalt zweier Centurionen den Schauplatz betritt, so nimmt das schauende bzw. lesende Publikum auf dem Schauplatz im Wesentlichen nur die germanischen Akteure wahr. Will sagen: Der Kampf um Abgrenzung, die Befreiung vom Anderen findet verdeckt statt und d.h. im Falle des Klopstock’schen Bardiets in einer hypertrophen sprachlichen Inszenierung, in den Gesängen der Barden, die mehr als ein Drittel des Textes ausmachen. Die problematische Gebundenheit an den Gegner versinnbildlicht sich indes am Klopstocks Bardiet dominant durchziehenden Adler-Motiv.31 Nicht zufällig ist der Adler ein bis heute vielfach verwendetes Symbol nationaler Repräsentation. Nicht nur die Bundesrepublik Deutschland, auch die USA, aber darüber hinaus eine ganze Reihe weiterer Staaten verwenden den Adler als Nationalsymbol. In Hermann’s Schlacht stehen die lebendigen germanischen Adler, die Vögel Wodans, den toten römischen Feldzeichen, die ebenfalls als Adler gebildet sind und hier sowohl den Gott Jupiter als auch den göttlichen Kaiser Augustus repräsentieren, gegenüber. Auch wenn die kämpfenden Germanen von der Superiorität ihrer Adler überzeugt sind (»Wink Deinen Adlern, die mehr als ein Bild/Auf einer hohen Lanze sind!/Flamm’ ist ihr Blick und dürstet nach Blut! Sie verwandeln Leichen

30 Vgl. F.G. Klopstock, Hermann’s Schlacht, 316f. 31 Vgl. dazu ausführlicher, M. Wagner-Egelhaaf, »Klopstock!«, 202ff.

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in weißes Gebein!«32), so richtet sich ihr Begehren doch auf die römischen Adler, in deren Erwerb ein hoher emotiver Aufwand investiert wird. Als schließlich Hermanns toter Vater Siegmar mit den erbeuteten römischen Adlern bedeckt wird, hat nicht nur eine Umkodierung der römischen Feldzu germanischen Ruhmeszeichen stattgefunden, sondern es wird zugleich offenbar, dass die Abgrenzung des Eigenen vom Anderen vor dem Hintergrund des gemeinsamen Bild-Arsenals ein Akt der An-Eignung ist, in dem Sinne, dass etwas zurückgeholt wird, das als von den Anderen unrechtmäßig angeeignet imaginiert wird. Hermann. Wie starb mein Vater? Schweig! ich will es nicht hören. Ich halte seinen Anblick nicht mehr aus. Deckt ihn zu!… Nein, nicht mit dem Teppiche, deckt ihn mit den Adlern zu!… Nein, nicht Ihr! Gebt mir die Adler! (Er wirft sich nieder und küßt ihn und bedeckt ihm das Gesicht mit den Adlern. Indem er aufsteht.) Ach, Wodan und all Ihr Götter! Der älteste und der kühnste und der furchtbarste Deiner Krieger, o mein Vaterland, hat diese Adler nur in der Schlacht und nicht hier gesehn!33

Die ausgesprochen bildhafte und affektive Szene führt vor Augen, dass und wie das Ding-Symbol des Adlers jenes abstrakte Ding, von dem bei Žižek die Rede ist, das Ding des Vaterlands, figuriert und in Szene setzt. Dabei ist klar, dass die Adler nicht das Ding sind, es vielmehr supplementär vorstellen und agieren. Das Ding ist eine Beziehungsstruktur wie auch die Adler die verdichtete Konvergenz einer komplexen Anordnung des Begehrens repräsentieren. Indem Hermann mit den römischen Adlern das Gesicht des nunmehr zum toten Ding gewordenen Vaters bedeckt, wendet er sich sprechend an die Götter und an das abstrakte Vaterland: »o mein Vaterland«. Der reale Vater ist tot, zum Objekt geworden, das abstrakte Vaterland aber wird im Akt der Rede lebendig erhalten. Daher müssen die Adler den Vater bedecken, in dessen Namen der Sohn das Vaterland adressiert. Wenn, wie Žižek ausführt, das Ding nur über »verschiedene[] Versionen leerer Tautologie«34 symbolisiert werden kann, ergibt plötzlich die Persistenz der mehr als tautologischen Bardengesänge Sinn: Nur in der unablässigen sprachli-

32 F.G. Klopstock, Hermann’s Schlacht, 269. 33 Ebd. 336. 34 S. Žižek, »Genieße Deine Nation wie Dich selbst!«, 135.

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chen Wiederholung kann der Glaube an das hinter seiner sprachlichen Entäußerung verborgene nationale Ding gefühlte Wirklichkeit werden35: Zwei Chöre. O Vaterland, o Vaterland! Du warst ihm mehr als Mutter und Weib und Braut, Mehr als sein blühender Sohn. Mit seinen ersten Waffen. Du warst ihm die dickste, schattigste Eiche Im innersten Hain, Die höchste, älteste, heiligste Eiche, O Vaterland!36

c) Kleist. Ding-Wut Komplexer und komplizierter noch wird es in Heinrich von Kleists Hermannsschlacht (1821). Hier gehen, so könnte man sagen, die gegnerischen Parteien hinter die Frontlinien. Aus genau diesem Grund hat Wolf Kittler die Kleist’sche Hermannsschlacht als Partisanendichtung37 gelesen. D.h. die Gegner stehen sich nicht ›Aug’ in Aug’‹ gegenüber, sondern sie nehmen im Sinne der rhetorischen simulatio die Position des jeweiligen Anderen ein. Dies wird besonders offenkundig in der ›Konfrontation‹ Hermanns und des römischen Legaten Ventidius. Beständig versichert man sich der gegenseitigen Gewogenheit, d.h. jeder macht den Anderen glauben, er stehe auf dessen Seite, sei gewissermaßen dessen Eigener. Hermann gibt Venti-

35 Im Bezug auf Burke und Adam Müller verweist Ethel Matala de Mazza auf die körperliche Affizierung durch sprachliche Leerformeln zu einem ›Nationalselbstgefühl‹: »Die Affizierung durch Wörter ist eine Aussetzung, ein Aufschub der Bedeutung, den die Selbstunmittelbarkeit des sensiblen und als sensibel sich verspürenden Körpers supplementiert« (Ethel Matala de Mazza: Der verfasste Körper. Zum Projekt einer organischen Gemeinschaft in der Politischen Romantik, Freiburg i. Br. 1999, 322). 36 F.G. Klopstock, Hermann’s Schlacht, 341. 37 Vgl. Wolf Kittler: Die Geburt des Partisanen aus dem Geist der Poesie. Heinrich von Kleist und die Strategie der Befreiungskriege, Freiburg 1987.

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dius gegenüber vor, auf der Seite Roms gegen den Suevenfürsten Marbod zu kämpfen bzw. sich der römischen Unterstützung im Kampf gegen Marbod zu versichern. Umgekehrt gibt sich die römische Seite als mit den Cheruskern gegen Marbod verbündet aus, während man sich gleichzeitig Marbods Unterstützung gegen Hermann zu versichern sucht. Beide Seiten benötigen die andere Seite, um ihr jeweils eigenes Anliegen verfolgen zu können. Was Hermann jedoch letztlich zum Sieg verhilft, ist, dass er das Spiel durchschaut, während die Römer glauben, Hermann glaube ihrem Spiel. Das nationale Ding wird hier also zum Mittel- und Bezugspunkt einer in hohem Maße theatralischen Szenerie, eines Schau-Spiels im wörtlichen Sinne. Weil er die Römer glauben macht, er sei einer der Ihren, lässt Hermann sie, sehr zum anfänglichen Unwillen und Unverständnis seiner germanischen Fürstenkollegen, in das Land der Cherusker einziehen, von wo aus der vermeintliche Feldzug gegen Marbod beginnen soll. Die Römer sind also, aus cheruskischer Sicht, mitten im eigenen Territorium, aber Hermann hat dies nur induziert, um auf diese Weise hinter die römische Frontlinie gelangen zu können. Symptomatisch für diese Konstellation ist der 3. Auftritt des 1. Akts, in dem Hermann den germanischen Fürsten seine Strategie erläutert: Hermann (sich losmachend). Kurz, wollt ihr, wie ich schon einmal euch sagte, Zusammenraffen Weib und Kind, Und auf der Weser rechtes Ufer bringen, Geschirre, goldn’ und silberne, die ihr Besitzet, schmelzen, Perlen und Juwelen Verkaufen oder sie verpfänden, Verheeren eure Fluren, eure Herden Erschlagen, eure Plätze niederbrennen, So bin ich euer Mann -: Wolf. Wie? Was? Hermann. Wo nicht –? Thuiskomar. Die eignen Fluren sollen wir verheeren –?

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Dagobert. Die Herden töten –? Selgar. Unsre Plätze niederbrennen –? Hermann. Nicht? Nicht? Ihr wollt es nicht? Thuiskomar. Das eben, Rasender, das ist es ja, Was wir in diesem Krieg verteidigen wollen! Hermann (abbrechend). Nun denn, ich glaubte, eure Freiheit wärs. (Er steht auf.) (I/3)38

Dies ist in der Tat eine Schlüsselszene für das Verständnis des nationalen Dings in der Kleist’schen Hermannsschlacht. Die Fürsten hängen an den konkreten Dingen ihres Besitzes und können nicht verstehen, warum sie genau das opfern und auch noch eigenhändig zerstören sollen, worum sie ihrer Meinung nach kämpfen. Diesen konkreten Dingen (Geschirre, Perlen, Juwelen, Fluren, Herden, Plätze) steht in Hermanns Argument und Strategie das abstrakte Ding der Freiheit gegenüber. Mehr noch: die konkreten Dinge müssen geopfert werden, um das abstrakte Ding zu retten bzw. zu erlangen. Hier sagt es der Text direkt: Das ›nationale Ding‹ ist kein konkreter Gegenstand, ja, diese Vorstellung muss vernichtet werden; gleichwohl geraten die konkreten Dinge in einen offensichtlichen Strukturzusammenhang mit dem abstrakten Ding der Freiheit,39 dessen Ding-Charakter in seiner ganzen Ambivalenz gerade deshalb zutage tritt: Natürlich ist die Freiheit kein Ding wie ein Geschirr, sie ist jedoch in Hermanns Augen »the real Thing«, »das worum es wirklich geht«.40 Tatsächlich ist ›Freiheit‹ ja auch nichts Konkretes, vielmehr das Freisein von Etwas, eine negative Beziehung oder auch die Negation von Beziehung. Indem jedoch das ›eigentliche Ding‹, das als solches, Žižek zufolge, nicht benannt werden kann, von Hermann zum absoluten Wert der »Freiheit« stilisiert wird, nimmt die Freiheit nun doch wieder Dingcharakter an und gerät als Ding in die Reihe der

38 Heinrich von Kleist: Die Hermannsschlacht. Ein Drama, Stuttgart 2004, 17. 39 Vgl. E. Matala de Mazza, Der verfasste Körper, 322. 40 S. Žižek, »Genieße Deine Nation wie Dich selbst!«, 135.

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benennbaren konkreten Dinge. D.h. auch die »Freiheit« ist nicht das eigentliche Ding, sondern eines seiner tautologischen Substitute. Nicht ohne Grund wird Hermann in dieser Szene als »Rasender« gezeigt, als ein Rasender, der gleichsam blindwütig sein Ding verfolgt. Mit Žižek ist dieses Rasen eben jener Selbsthass, der daraus resultiert, dass man nicht in der Lage ist zu genießen, das Genießen vielmehr nur als konstitutiv Geraubtes denkbar ist.41 Hermanns Römerhass resultiert also aus dem abgründigen Vakuum jener inneren Position, die das nationale Ding besetzt. Eine zweite Szene bestätigt die Konstellation. Es ist die Szene im 3. Auftritt des 3. Akts, in der Hermann Thusneldas Hass, der sie am Ende des Dramas zur Bärin macht, zu schüren beginnt. Gerade da, wo sich Thusnelda für den Einzug der Römer als Römerin zurecht gemacht hat, irritiert Hermann seine Frau dadurch, dass er ihr ihren eigenen Dingcharakter vor Augen führt. Sie steht vor ihm im Glanz ihres römischen Schmucks, simuliert also die Römerin und ist mithin die ›eigene Andere‹: Hermann. […] Der Kopf, beim Styx, von einer Juno! Bis auf das Diadem sogar, Das dir vom Scheitel blitzend niederstrahlt! Thusnelda. Das ist das schöne Prachtgeschenk, Das du aus Rom mir jüngsthin mitgebracht. Hermann. So? Der geschnittne Stein, gefaßt mit Perlen? (III/3)42

Und genau dieses verdinglichte Bild zerstört Hermann mit Lust:

41 Mit der Frage »Woher kommt der Hass?« verweist Hinrich Seeba auf den Zusammenhang von Gewalt und Sprachlosigkeit, auf die Unfähigkeit von Jugendlichen, ihr Innenleben zu verbalisieren. Vgl. H.C. Seeba, »Woher kommt der Hass?«, 324. Nun ist Kleists Hermann überaus sprachmächtig, allerdings scheitert auch er an der konstitutiven Nichtbenennbarkeit des Dings. 42 H. v. Kleist, Hermannsschlacht, 39.

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Hermann. Wie wirst du aussehn, liebste Frau, Wenn du mit einem kahlen Kopf wirst gehen? Thusnelda. Wer? Ich? Hermann. Du, ja! – Wenn Marbod erst geschlagen ist, So läuft kein Mond ins Land, beim Himmel! Sie scheren dich so kahl wie eine Ratze. (III/3)43

Desgleichen stellt er ihr vor Augen, wie ihr die Römer im Falle ihres Siegs die Zähne aus dem Munde rauben würden. Auf Thusneldas irritierte Frage nach der Zweckhaftigkeit dieser Tat antwortet Hermann: Hermann (mit Laune). Die schmutzgen Haare schneiden sie sich ab, Und hängen unsre trocknen um die Platte! Die Zähne reißen sie, die schwarzen, aus, Und stecken unsre weißen in die Lücken! Thusnelda. Was! (III/3)44

Zwar ist Thusnelda hier noch ungläubig, aber sie fällt exakt dann in ihren Hass, als sich zu bewahrheiten scheint, was Hermann ausgemalt hat, als er ihr nämlich am Ende des 4. Akts Ventidius’ vorgeblichen Brief an die Kaiserin Livia vorliest, in dem dieser der Kaiserin mitteilt, dass er ihr das Haar der Germanenfürstin schicken werde.45 Thusneldas rhetorische Verdinglichung durch Hermann kreist um und erzeugt die abgründige Leere des eigentlichen Hass-Dings. Dessen zerstörerische Wut wird bezeichnenderweise dann entfesselt, als Thusnelda, die sich durch Ventidius’ scheinbare Verliebtheit denn doch geschmeichelt gefühlt hatte und nun erkennen muss, dass sie dem Schauspiel seiner Verliebtheit auf den Leim gegangen war, in ihrer Eigenliebe nahezu tödlich getroffen wird. Da ist es nur konsequent, 43 Ebd. 39. 44 Ebd. 41. 45 Vgl. ebd. 71.

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dass sich der Selbsthass gegen jenen Anderen richtet, der das Eigene zerstört hat. d) Grabbe. Erledigte Dinge Christian Dietrich Grabbes Hermannsschlacht von 1838 legt die Nichtigkeit und Leere der Ding-Position offen. Wolfgang Braungart hat, von Grabbes Text höchst irritiert, von einer »resignierten Komödie« gesprochen, die den geschichtlichen Stoff als nationalen Gründungsmythos nicht mehr ernst nehme.46 Tatsächlich wechseln sich komödiantische und heroische Szenen miteinander ab, die kaum mehr durch ein verbindendes und verbindliches Zentrum zusammengehalten werden. So sieht man z.B. Thusnelda in der 2. Eingangsszene des auch formal unförmigen Stücks47 als westfälische Hausfrau, die Varus mit Linsen, Erbsen und ranzigem Wildschweinbraten bewirtet, so erscheint sie am Ersten Tag als Lenkerin eines Streitwagens den kämpfenden Germanen wie die Vision einer Walküre am Horizont. Zwar wird der Sieg über die Römer (aus historischen Gründen) noch errungen, aber als Hermann seine Gefolgsleute nun auf den Sturm auf Rom und damit auf die Eroberung der Weltherrschaft einschwören möchte, stößt er auf keine Gegenliebe: Hermann (sieht sich um). […] Und ihr Fürsten, Herzoge, und Völker, was meint ihr, wenn wir nun vorwärts gingen, die römischen Festungen am Rhein eroberten, und zuletzt in Rom selbst den Welttyrannen Gleiches mit Gleichem vergölten?

46 Wolfgang Braungart: »›Guten Abend, liebe Männchen.‹ Grabbes Hermannsschlacht«, in: M. Wagner-Egelhaaf (Hg.), Hermanns Schlachten, 261-281, 280. 47 Auf einen sieben Szenen und 21 Seiten umfassenden »Eingang« folgt der »Erste[] Tag«mit 13 Seiten, darauf die »Erste Nacht«, die vier Seiten und zwei Szenen umfasst, der »Zweite[] Tag« mit fünf Seiten, die »Zweite Nacht« mit zwei Seiten und zwei Szenen, dann die »Zweite Nacht« mit ebenfalls zwei Seiten und zwei Szenen, der »Dritte[] Tag« (vier Seiten, zwei Szenen), die »Dritte Nacht« (fünf Seiten) und der Schluss mit zweieinhalb Seiten.

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Viele im Volk. Was geht uns Rom an. Wir haben seine Soldaten und Schreiber jetzt vom Halse. Wir können nun ruhig nach Hause gehen und da bleiben. Ein Herzog (für sich). Ich müßt ein Narr sein, unter seinem Befehl einen weiteren Feldzug mitzumachen. Er reckt den Kopf doch schon zu hoch, und würde wohl uns alle nach der Eroberung Roms als Unterbediente behandeln.48

Die Lebensgeister der Germanen regen sich erst wieder, als Thusnelda zum Schmaus einlädt. Das wäre tatsächlich von nur belangloser Komik, wenn Hermann am Ende der Dritten Nacht nicht das Prinzip der wechselseitigen Selbstkonstitution im Blick des jeweils Anderen noch einmal klar aussprechen und – im Falle des germanisch-römischen Verhältnisses – als Chimäre bezeichnen würde. Hermann (beiseit). – Ach! – Wüßte das Palatium, daß diese sonst so tapfren Leute nur ein paar Meilen weit sehen, und lieber in der Nähe äßen und tränken, als es zu zertrümmern, so würd es bei der Nachricht meines Siegs nicht so erbeben, als es mit seinem zähneklappernden Herrn und Gestein tun wird.49

D.h. Rom zittert also vor einem zahnlosen Tiger, weil die Deutschen ihr Ding nicht länger von den Römern bedroht sehen. An die Stelle des Dings ist die Erbsensuppe getreten und die Erbsensuppe ist einfach nur Erbsensuppe, sie steht in keinem Spannungsverhältnis mehr mit dem ›real thing‹, das sie substituieren könnte. Aber auch Rom ist erschlafft. Der Schluss zeigt Augustus als Schlummernden und Sterbenden. In Anbetracht der Tatsache, dass Roms Stärke wie die der Germanen an seinen inneren Gegensätzen zerbricht – es geht das Gerücht, dass Livia Augustus vergiftet habe, um Tiberius an die Herrschaft zu bringen50 –, wird die nationale Sache mit dem Hinweis auf das Kind in der Krippe ad acta gelegt. Wie ein ausgeleierter Hosengummi hat das ›Ding‹ zwischen Germanen und Römern sowohl seine politische als auch seine dramatische Spannung verloren.

48 C.D. Grabbe, Hermannsschlacht, 376. 49 Ebd. 377. 50 Vgl. ebd. 378.

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3. FAZIT Mit Žižek wurden im Vorstehenden vier maßgebliche Dramen zur Hermannsschlacht hinsichtlich des in ihnen agierenden germanisch-römischen Wechselblicks analysiert und die Begegnung der Blicke als Position des unverfügbaren Dings gelesen, das die nationale Identifizierung antreibt. In allen vier Schauspielen – und es ist wohl kein Zufall, dass es sich um Theaterstücke handelt – eröffnet das ›Ding‹ einen sprachlich-theatralen Aktionsraum, auf dem sich die Akteure in dem Maße ihrer nationalen Zugehörigkeit versichern müssen, in dem sie immer wieder fraglich zu werden scheint. Es konnte gezeigt werden, dass Schlegels Drama Herrmann von 1740/41 seine dramatische Spannung wesentlich aus der im Wortwechsel inszenierten Konfrontation zwischen Römern und Germanen bezieht und gerade die Figuren, die sich nicht eindeutig einer Seite zurechnen lassen, die Hybridität der Gegenüberstellung aufdecken. Die Dynamik des nationalen Dings wird bei Schlegel als unablässiger, doch letztlich erfolgloser Versuch, sich vom Anderen abzugrenzen, lesbar. Wird in Schlegels Drama das nationale Ding im rational-diskursiven Wortwechsel verhandelt, zieht Klopstocks empfindsames Bardiet Hermann’s Schlacht (1769) alle Register bildhafter Affektivität. Die Unverfügbarkeit des nationalen Dings produziert eine tautologische Affekt-Rhetorik, die mit der permanenten Postierung affektiv besetzter Dinge (Adler, Schilde, Lanzen, Eichen etc.) einhergeht. Am Beispiel der Adler wurde ausgeführt, wie der Kampf um das nationale Ding als Rückgewinnung eines vom Gegner Entwendeten mit einer dramatischen Inbrunst inszeniert wird, die verdecken soll, dass die tautologischen Adler um eine Leerstelle kreisen. Kleists Hermannsschlacht (1821) macht die nichtige Gründung des Eigenen im Anderen gerade sichtbar und entwickelt aus ihr seinen dramatischen Impuls. Sein Hermann hat das Prinzip durchschaut und setzt es strategisch ein. Er selbst stellt sich seiner Logik allerdings nur eingeschränkt, jagt er doch bis zum Ende dem nationalen Ding nach – wohl um nicht in seinen Abgrund blicken zu müssen. Da ist Grabbes Hermann realistischer: Den Blick auf den leeren Schauplatz kann er ertragen, um den Preis, dass der Hermannsschlacht von 1838 Drive und Ding abhandenkommen. Die beschriebenen dramatischen Logiken der nationalen Identifizierung haben eine Vielzahl von konkreten ›Dingen‹ freigesetzt: Priesterbinden, Frauen, Adler, Haare, Zähne, Erbsensuppen und andere mehr. Selbstredend sind sie nicht ›das Ding‹ – sie helfen nur, das ›na-

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tionale Ding‹ zu agieren und verhandelbar zu machen. Die logische Struktur des nationalen Dings erzeugt nicht nur sprachliche Tautologien, sondern setzt überdies fetischhafte Ersatzobjekte frei, die das nationale Reden und Handeln ermöglichen. Besonders hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang die ›Freiheit‹, für die alle Hermänner kämpfen: Fetisch und phallischer Signifikant gleichermaßen scheint sie das nationale Ding unmittelbar zu bezeichnen, ja, sich an seine Stelle zu setzen, umso mehr als sich alle Nationen auf ihre Freiheit berufen und sie zuallererst von anderen, äußeren und inneren Feinden bedroht sehen. ›Freiheit‹ ist immer auch ›Freiheit von‹. Absolute Freiheit wäre die Freiheit vom das eigene Selbst begründenden Anderen, aber genau diese Freiheit ist von einem Selbst nicht mehr zu denken – als politisches Schlagwort und dramatische Parole freilich bleibt die Freiheit nur ein Wort neben anderen Dingen…

Edition, Nation und Wissenschaft Text und Nation als Objekte in von der Hagens Nibelungen-Edition von 1807 CHRISTINA RIESENWEBER

1. EINFÜHRUNG Am Anfang des neunzehnten Jahrhunderts beginnt sich die Reihe der institutionellen Akteure, die sich auf die ›deutsche Nation‹ beziehen, um eine Mitspielerin zu erweitern: Bis zur Mitte des Jahrhunderts emanzipiert sich die Deutsche Philologie von der Klassischen Philologie und der normativen Poetik. Gemeinsam mit den Rechtswissenschaften und der Geschichtswissenschaft formt sie die ›Germanistik‹ und trägt durch eine Erschließung des literarischen Erbes der ›deutschen Nation‹ zur Ausgestaltung eines nationalen Identifikationsangebotes bei. Die Berufung auf literarische Werke und Besonderheiten der ›eigenen‹ Sprache in der Konzeption einer nationalen Identität sind dabei nicht per se neu. Indem eine Wissenschaft von der deutschen Sprache und Literatur in den universitären Kanon aufgenommen wird, entsteht bis zum Ende des Jahrhunderts allerdings ein neuer institutionell abgesicherter Ort, von dem aus die Nation erforscht werden kann. Einer der Schwerpunkte der frühen philologischen Arbeit war die Erschließung alt- und mittelhochdeutscher Texte. Unter der Prämisse, der deutschen Nation ihre literarischen Wurzeln aufzeigen zu können, sollte das bis dato nicht lesbare Erbe der deutschen, oder zumindest als ›deutsch‹ begriffenen, Literatur sprachhistorisch erschlossen und editionsphilologisch zugänglich gemacht werden. In den Editionsprojekten des neunzehnten

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Jahrhunderts konvergieren vor diesem Hintergrund zwei Prozesse der Sichtbarmachung: ›Vergessene‹ Texte werden aus dem Archiv an die Öffentlichkeit gebracht und ›vergessene‹ nationale Traditionen werden durch diese Texte erinnert. Die editorische Tätigkeit und der Bezug auf die Nation weisen dabei eine strukturelle Parallele auf: In beiden Fällen wird ein Objekt – der Text bzw. die Nation – als vorgefundener und quasi natürlicher Gegenstand behandelt, obwohl seiner Zugänglichkeit ein elaborierter Konstruktionsprozess vorausgeht. Ein frühes Beispiel aus der Geschichte der Deutschen Philologie, an dem sich diese Objektivierung sowohl der Nation als auch der Edition deutlich aufzeigen lässt, ist das Nibelungenlied. Im Folgenden werde ich anhand Friedrich Heinrich von der Hagens Nibelungen-Edition von 1807 aufzeigen, wie diese Objektivierung rhetorisch gefasst und wie sie im Verhältnis zur Begründung der Germanistik als ›deutscher‹ Wissenschaft verstanden werden kann.

2. DIE WIEDERENTDECKUNG DES NIBELUNGENLIEDS UND DER HISTORISCHE KONTEXT 1815 gibt August Zeune das Nibelungenlied als »Zelt- und Feldausgabe« zur moralischen Stärkung der deutschen Soldaten heraus und kann bereits darauf bauen, dass das Lied als »Nationalbuch« anerkannt wird.1 In der Mitte des vorangegangenen Jahrhunderts war eine solche Karriere der Nibelungen allerdings noch nicht absehbar gewesen. Nach der Wiederentdeckung der heute als Handschrift C bekannten Fassung im Jahr 17552 waren die Meinungen zu diesem Text und seiner Bedeutung für die deutsche literarische Tradition durchaus gespalten. Friedrich II. von Preußen hielt die

1

Vgl. Hinrich C. Seeba: »Nationalbücher. Zur Kanonisierung nationaler Bildungsmuster in der frühen Germanistik«, in: Jürgen Fohrmann/Wilhelm Vosskamp (Hg.), Wissenschaft und Nation. Studien zur Entstehungsgeschichte der deutschen Literaturwissenschaft, München 1991, 57-71, 57.

2

Die Fassung wurde in der gräflichen Bibliothek von Hohenems/Vorarlberg gefunden und zuerst vereinnahmt von Johann Jakob Bodmer, vgl. Otfrid Ehrismann: Nibelungenlied. Epoche – Werk – Wirkung, München 1987, 247.

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mittelhochdeutsche Epik für »nicht einen Schuß Pulver werth«.3 Klopstock widmete sich statt Siegfried und Brunhilde Hermann und Thusnelda.4 In diesen zeitgenössischen Positionen wird deutlich, dass das literarische Erbe Deutschlands keineswegs einfach vergessen war und seiner Wiederauferstehung harrte. Das Lied wird nicht als unzweifelhaft wichtiges Nationaldenkmal aufgefunden, sondern wird erst dazu gemacht. In diesem Sinne möchten Johann Jakob Breitinger und Johann Jakob Bodmer die Nibelungen in die Nähe der Homer’schen Odyssee rücken.5 Auch Johannes von Müller, der für von der Hagens Nibelungenausgabe maßgeblich werden sollte, befand im Jahr 1786: »Der Nibelungen Lied könnte die Teutsche Ilias werden«.6 Dieser Einstellung schloss sich auch Ludwig Tieck an.7 Wenige Jahrzehnte später ist das Nibelungelied im besten Sinne populär: »Wer sich [nach 1817] mit dem Nibelungenlied beschäftigte […], durfte einer breiteren Resonanz sicher sein«.8 Auch wenn Klaus Weimar diese Entwick-

3

Friedrich Zarncke: »Friedrich der Große und das Nibelungenlied«, in: Berichte über die Verhandlungen d. Kgl. Sächsischen Ges. d. Wiss., phil.-hist. KL. 1870, 203-206. Hier zit. n. Otfrid Ehrismann: Nibelungenlied. Epoche – Werk – Wirkung. 2., neu bearb. Auflage, München 2002, 171. Auch bei O. Ehrismann: Nibelungenlied, 248.

4

Vgl. den Beitrag von Martina Wagner-Egelhaaf in diesem Band.

5

Vgl. O. Ehrismann: Nibelungenlied, 247: »die Schweizer – Kollege Breitinger unterstützte Bodmer – setzten alles dran, das Nibelungenlied zu homerisieren, ohne es dabei Homer gleichrangig an die Seite zu stellen. Sie gaben den Deutschen damit das Rezeptionsmuster für die folgenden Jahrhunderte vor«.

6

Johannes von Müller: Der Geschichten schweizerischer Eidgenossenschaft Zweytes Buch. (o.J.), 171, zit. n. Helmut Brackert: »Nibelungenlied und Nationalgedanke. Zur Geschichte einer deutschen Ideologie«, in: Ursula Hennung/ Herbert Kolb (Hg.), Mediaevalia litteraria. Festschrift für Helmut de Boor zum 80. Geburtstag, München 1971. 344-364, 345.

7

Vgl. Eckhard Grunewald: Friedrich Heinrich von der Hagen. 1780-1856, Berlin/New York 1988, 46.

8

H. Brackert: »Nibelungenlied und Nationalgedanke«, 343. Zur Verlauf der Bedeutungszuschreibung des Nibelungenlieds aus wissenschaftlicher und ideologischer Perspektive vgl. ebd.

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lung mit einem Verfallsdatum versieht und als »Modeerscheinung«9 bezeichnet, kann der Beginn der Kanonisierung des Nibelungenlieds hier zeitlich bestimmt werden. Der Karriere des Nibelungenlieds als zentralem Text für die deutsche Nation fällt zeitlich zusammen mit einer politischen Verunsicherung eben jener Nation. Als Vielvölkerstaat immer schon von Grenzen durchzogen, ist mit dem Ende des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation im Jahr 1806 die Nation der Deutschen mehr denn je eine imaginäre Bezugsgröße. Parallel erfolgende theoretische Überlegungen – wie die von Fichte, von dem gleich noch die Rede sein wird – erschaffen ein Nationenkonzept, das alternative Identifikationsangebote herstellt und ›Deutschland‹ als denkbaren Begriff durch Rückgriffe auf andere Fixpunkte als den einer politischen Einheit stabilisiert. Auch aus germanistischer Perspektive erscheint das Jahr 1806 als »magisches« Datum, wie es Hartmut Gaul-Ferenschild formuliert. Zusammen mit dem »Aufbruch« markierenden Datum 1816 »berühren sich hier National- und Fachgeschichte«: »Die Emanzipation der germanistischen Philologie zur nationalen Wissenschaft mit akademischer Repräsentanz und der Aufbruch Deutschlands zur nationalen Einheit […] fallen in einen geschichtlichen Moment zusammen.«10 Die Nibelungenausgabe Friedrich Heinrich von der Hagens erscheint 1807 inmitten dieser Entwicklungen und soll hier als Beispiel für die parallele Konzeption von Nation und Edition herangezogen werden.

3. FRIEDRICH HEINRICH VON DER HAGEN UND DIE GERMANISTIK Um das Verhältnis von Nation, Edition und nationaler Wissenschaft in Bezug auf die Nibelungen-Ausgabe beschreiben zu können, ist eine Kontextualisierung der Person von der Hagens und seines Editionsprojekts in der 9

Klaus Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, Paderborn 2003, 226.

10 Hartmut Gaul-Ferenschild: National-völkisch-konservative Germanistik. Kritische Wissenschaftsgeschichte in personengeschichtlicher Darstellung, Bonn 1993, 19.

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Fachgeschichte notwendig. Eine Vielzahl von Faktoren lassen von der Hagen als singuläre Figur in der Entwicklung der Germanistik erscheinen. Die Singularität von der Hagens ergibt sich aus heutiger Perspektive durch die Rolle, die ihm von der Fachgeschichtsschreibung zugewiesen wird, und zwar der Geschichte des Faches Germanistik im 20. und 21. Jahrhundert.11 Hier wird von der Hagen meist als Figur der Gründungsphase des Faches gelesen und mit unterschiedlichen Funktionen belegt. Er wird in Beziehung zu anderen ›Gründungsvätern‹ gesetzt, insbesondere zu Karl Lachmann und Jakob und Wilhelm Grimm. Um eine plausible Ursprungsgeschichte der Germanistik herzustellen, sind solche Funktionszuschreibungen unvermeidlich. Das Besondere an von der Hagen ist hierbei vor allem, dass er an einigen Stellen zum Dilettanten oder Außenseiter gestempelt wird, obwohl eine für eine solche Abgrenzung notwendige Professionalisierung und eine klar bestimmbare scientific community zum damaligen Zeitpunkt noch gar nicht ausgebildet waren. In der Fachgeschichtsschreibung wurde von der Hagen zunächst eher in die »Randzonen der germanistischen Philologie [abgedrängt]«.12 Insbesondere durch den Vergleich mit Lachmann und den Grimms wurde die wissenschaftliche Leistung von der Hagens eher als gering bewertet, wozu nicht zuletzt die zeitgenössischen Urteile eben jener Konkurrenten ihren Teil beigetragen haben.13 Erst die neuere Fachgeschichtsschreibung der Germanistik belegt von der Hagen mit anderen Funktionen, die vor allem seine Rolle in der Institutionalisierung – und gleichzeitig der Erfindung – des Faches Germanistik betonen. So wird von der Hagen mitunter als ›Gründungsvater der Universitätsgermanistik‹ apostrophiert. Auch wenn z.B. Eckhard Grunewald in seiner umfangreichen Monografie zu von der Hagen eine solche Zuschreibung ablehnt, ist von der Hagen mit dem Gründungsmythos der Germanistik an vielen Stellen verknüpft. Konsultiert man Klaus Weimars ausführliche Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, findet man die auch in den nach-

11 Fachgeschichte der Germanistik meint in der Regel die heutige Germanistik als Literaturwissenschaft – die Bezüge zu den rechts- und geschichtswissenschaftlichen Zweigen im neunzehnten Jahrhundert werden nach der Ausdifferenzierung zu komplett eigenständigen Disziplinen meist nicht weiter verfolgt. 12 E. Grunewald: Von der Hagen, 1. 13 Dokumentiert bei ebd. 1-9.

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folgenden wissenschaftsgeschichtlichen Texten prominente Platzierung von der Hagens: Er ist einer der ersten, der »die deutsche Philologie im öffentlichen Bewußstein als eine Wissenschaft [darstellte]«, wurde aber schließlich überholt – vor allem durch die Nibelungenausgabe Lachmanns 1826 – und erhielt, so Weimar, die »sehr undankbare Rolle […] des Buhmanns«.14 Einen Platz in der Universitätsgeschichte sichert sich von der Hagen, indem er 1810 unter Verweis auf den seit 1805 bestehenden Lehrstuhl Georg Friedrich Benneckes an der Universität Göttingen eine Privatdozentur in Berlin durchsetzt und damit die zweite Stelle für einen Neuphilologen im deutschsprachigen Raum schafft.15 Diese Pionierleistung in zweiter Reihe führt allerdings nicht zu langfristiger Anerkennung: Die Privatdozentur wird kaum finanziell honoriert, so dass von der Hagen bereits 1811 seine Stelle in Berlin aufgibt und eine Bibliothekarsstelle in Breslau annimmt, um sich wirtschaftlich abzusichern. Erst 1824 wird von der Hagen schließlich als ordentlicher Professor nach Berlin berufen und schlägt damit seinen Konkurrenten Karl Lachmann aus dem Feld. Lachmann wird allerdings ein Jahr später zunächst Extraordinarius und 1827 ebenfalls ordentlicher Professor in Berlin.16 Die späte Anerkennung von der Hagens muss dabei aber nicht als Reflex auf seine wissenschaftlichen Leistungen gelesen werden. Johannes Janota zum Beispiel begründet die Berufung von der Hagens in Berlin mit dezidiert politischen Argumenten: »v. d. Hagen hatte sich durch seine Nibelungen-Bearbeitung […] einen Namen als enthusiastischer Patriot gemacht, und dieser Patriotismus scheint es gewesen zu sein, der ihm, dem philologischen Dilettanten, schließlich den Ruf […] eintrug.«17 Die nationale Wissenschaft und der Bezug auf die Nation hängen also – wenig überraschend – unmittelbar zusammen. Der Patriotismus von der Hagens zeigt sich auch in der Installation des Nibelungenlieds als »Denkmal« der »Nazionalpoesie« (V2) in der Edition von 1807.18

14 K. Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft , 227. 15 Vgl. ebd. 218ff. 16 Vgl. ebd. 240. 17 Johannes Janota (Hg.), Eine Wissenschaft etabliert sich: 1810-1870, Tübingen 1980, 16-17. 18 Friedrich Heinrich von der Hagen (Hg.), Der Nibelungen Lied, Berlin 1807. Alle Seitenangaben in Klammern im Folgenden beziehen sich auf diese Ausgabe.

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4. REDEN VON DER NATION Um den Bezug auf die Nation, wie von der Hagen ihn vornimmt, historisch kontextualisieren zu können, möchte ich einen prominenten zeitgenössischen Entwurf von ›Nation‹ in den Blick nehmen, bevor von der Hagens Ausführungen dann genauer betrachtet werden. Nach der Auflösung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation im Jahr 1806 und einer Folge rasch wechselnder Allianzen mit und gegen Napoleon gab es keinen äußeren Rahmen für deutschen Patriotismus oder Nationalismus im politischen Sinne. Mit dem »Wendejahr« 180619 erhielt die Idee der ›Kulturnation‹ in Ermangelung einer politisch einheitlichen Nation großen Zulauf. Die Auseinandersetzung gerade mit dem Nibelungenmythos als potenziell vereinigendem Kulturgut für die ›Deutschen‹ nimmt also zeitgleich mit einem veränderten Bedürfnis nach national-politischer Identität zu. Die ›deutsche‹ Literatur als Fixpunkt einer ›deutschen‹ Identität zu etablieren, rückt aus einer wissenschaftlichen Nische in das Rampenlicht politischer Aufmerksamkeit.20 Etwa zur gleichen Zeit wie die Veröffentlichung von Der Nibelungen Lied durch von der Hagen hält Johann Gottlieb Fichte21 in Berlin seine Reden an die deutsche Nation 1807/1808.22 In der vierten Rede definiert Fichte das deutsche Volk anhand eines spezifischen Merkmals: der Sprache. Eine Sprache, »die ununterbrochen durch alle Bedingungen herabgeflossen

Das Vorwort ist im Original unpaginiert, die Seitenzahlen entsprechen einer von mir eingefügten fortlaufenden Zählung V1-V4. 19 H.C. Seeba: »Nationalbücher. Zur Kanonisierung nationaler Bildungsmuster in der frühen Germanistik«, 67. 20 Zum Verhältnis von Literatur und Nation vgl. einführend ebd. Das Jahr 1806 wird hier als Höhepunkt identifiziert, »weil das Ende des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation der neuen Disziplin offensichtlich erst ihren Grund und ihre Aufgabe gegeben hat« (64). 21 Zu den wichtigsten Vorläufern der Überlegungen von Fichte zu Nation und Literatur gehört Johann Gottfried Herder. Vgl. den Beitrag von Sigrid Köhler in diesem Band. 22 Johann Gottlieb Fichte: »Reden an die deutsche Nation«, hg. v. Fritz Medicus, Hamburg 1955.

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ist«23 definiert das »Urvolk«24, wie es die Deutschen sind. Auch Fichte argumentiert aus einer Situation der tagesaktuellen Zerrissenheit der deutschen Nation und legitimiert nebenbei die philologischen Unternehmungen seiner Zeitgenossen implizit als Beitrag zur Nationalerziehung. Ein Volk ist für Fichte durch seine Sprache bestimmt, und auch wenn diese Sprache sich im Fortgang der Geschichte verändert, »bleibt es doch immer dieselbe Eine, ursprünglich also ausbrechen müssende lebendige Sprachkraft der Natur«.25 Das Paradoxon der Unlesbarkeit der eigenen Tradition, wie es sich in mittelalterlichen Texten präsentiert, kann auf diese Weise theoretisch gelöst werden: »Lasset immer nach einigen Jahrhunderten die Nachkommen die damalige Sprache ihrer Vorfahren nicht verstehen, weil für sie die Übergänge verlorengegangen sind, dennoch gibt es von Anbeginn an einen stetigen Übergang, ohne Sprung, immer unmerklich in der Gegenwart«.26 Für Fichte ist auch die Rolle der Literatur für die Nation klar definiert: Das edelste Vorrecht und das heiligste Amt des Schriftstellers ist dies, seine Nation zu versammlen [sic] und mit ihr über ihre wichtigsten Angelegenheiten zu beratschlagen; ganz besonders aber ist dies von jeher das ausschließende Amt des Schriftstellers gewesen in Deutschland, indem dieses in mehrere abgesonderte Staaten zertrennt war, und als gemeinsames Ganzes fast nur durch das Werkzeug des Schriftstellers, durch Sprache und Schrift, zusammengehalten wurde. 27

Schließlich betont Fichte die Aufgabe des Schriftstellers für die gegenwärtige Lage 1807/1808: »am eigentlichsten und dringendsten wird es sein Amt [die Nation zu versammeln] in dieser Zeit, nachdem das letzte äußere Band, das die Deutschen vereinigte, die Reichsverfassung, auch zerrissen ist«28. Die Rolle des literarischen Textes und seines Verfassers ist somit klar bestimmt und verspricht erhebliches Potenzial für den Zusammenhalt der Nation. In diesem Denkrahmen bewegt sich auch von der Hagen, der allerdings neben dem überlieferten Text und der Bedeutung des Schriftstel-

23 Ebd. 62. 24 Ebd. 121. 25 Ebd. 62. 26 Ebd. 63. 27 Ebd. 201. 28 Ebd. 201.

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lers zusätzlich die Rolle des Herausgebers als Übermittler von traditionsbestimmenden Sprachdokumenten in dieses System integrieren muss.

5. URSPRÜNGLICHKEIT UND KONTINUITÄT Wie gestaltet sich also der Bezug zur Nation bei von der Hagen? In den Paratexten zur Nibelungen-Edition greift von der Hagen auf eine Reihe zunächst sehr unterschiedlich erscheinender Strategien zurück, um das Lied in seiner Rolle für die deutsche Nation zu bestätigen und als identifikatorischen Fixpunkt zu installieren. Im Anhang seiner Nibelungen-Ausgabe von 1807 erläutert von der Hagen sein Konzept der deutschen »Nazionalpoesie« (471) ausführlich und in Abgrenzung von anderen europäischen Völkern. Im nur vierseitigen Vorwort hingegen steht die sprachliche Inszenierung des Nibelungenlieds als Brücke zwischen Vergangenheit und Zukunft Deutschlands im Mittelpunkt. Zu berücksichtigen ist bei der Lektüre dieses Vorwortes ein Umstand, den Helmut Brackert 1968 aus ideologiekritischer Perspektive als »offensichtliche Verfälschung der Dichtung«29 beschreibt: Die Inszenierungen des Nibelungenlieds als nationaler Dichtung gehen an den Details der erzählten Geschichte im Lied vorbei und zielen eher auf eine Monumentalisierung des Texts als Ganzem – so auch bei von der Hagen.30 Eine Strategie der Inszenierung des Nibelungenlieds besteht in seiner Einordnung in die deutsche Geschichte: Zentrales Moment des Vorworts von der Hagens ist der Entwurf einer geschichtlichen Kontinuität der ›Deutschen‹31 unabhängig von äußeren Umständen. Rhetorisch wird dies durch wiederholte Sprünge zwischen verschiedenen historischen Punkten realisiert, die durch die sprachliche Verbindung als notwendig aufeinander

29 H. Brackert: »Nibelungenlied und Nationalgedanke«, 349. 30 Aus diesem Grund kann an dieser Stelle auch auf eine ausführliche Lektüre des Lieds selbst verzichtet werden: Es geht von der Hagen hier weniger um konkrete Inhalte des Lieds als um seine Bedeutung eben als Nationaldenkmal. 31 Die Verwendung der Begriffe ›deutsch‹, ›Deutschland‹ etc. im Folgenden bezieht sich auf die Verwendung im Sinne von der Hagens und muss mit Perspektive auf die Konstruktion dieser Begriffe immer in Anführungszeichen gedacht werden.

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bezogen erscheinen. Modellhaft wird dabei bereits im ersten Satz das Verhältnis des spätantiken Roms zu seiner eigenen Vergangenheit zitiert: »Wie man zu des Tacitus Zeiten die Altrömische Sprache der Republik wieder hervor zu rufen strebte« (V1), entsteht auch in der Gegenwart ein neues Interesse an der eigenen Vergangenheit. Die Datierung dieser Vergangenheit – »zu des Tacitus Zeiten« – erfolgt über den römischen Geschichtsschreiber Tacitus, der wiederum als Verfasser der Germania bekannt ist. Diese früheste Beschreibung eines germanischen Volkes im ersten Jahrhundert n. Chr. wird durch diesen intertextuellen Verweis mit dem Lied verknüpft und das ›Deutsche‹ in direkter Nähe des ›Germanischen‹ gedacht. Der Bezug auf die Germania liefert hier einen Zeugen, der es erlaubt, tausend Jahre vor der Entstehung des Nibelungenlieds schon von der Geschichte der Deutschen zu sprechen. Dieser Bezug impliziert außerdem eine weitere Ausdehnung des Deutschen in eine noch entferntere Vergangenheit. Zentrales Merkmal der Germanen in Tacitus’ Beschreibung ist nämlich deren historische Kontinuität: Ich selbst schließe mich der Meinung derjenigen an, die glauben, Germaniens Völkerschaften seien nicht durch Heiraten mit anderen Völkern zum Schlechten hin beeinflußt und seien deshalb ein eigener, reiner und nur sich selbst ähnlicher Menschenschlag geworden.32

Bereits im ersten Satz des Vorworts von der Hagens finden sich so vier Zeitebenen vereint: die römische und germanische Geschichte vor Tacitus, »des Tacitus Zeiten«, die Zeit »unserer ehrenfesten Altvordern« zur Entstehung des Nibelungenlieds und schließlich die Gegenwart, »jetzt, mitten unter den zerreißendsten Stürmen« (V1). Zusätzlich wird diese Kontinuität in eine unmittelbare Zukunft projiziert, in die eine spezifisch deutsche »Revoluzion […] hereinbrechen wird« (V1) und die von der »Hoffnung auf dereinstige Wiederkehr Deutscher Glorie und Weltherrlichkeit« getragen wird (V3).

32 P. Cornelius Tacitus: Germania, hg. u. übers. v. Alfons Städele, Düsseldorf/ Zürich 1998, Abschnitt 4.1, 13. Vgl. auch früher: »Die Germanen selbst sind, so glaube ich jedenfalls, Ureinwohner und in keiner Weise durch Einwanderung oder gastliche Aufnahme mit fremden Völkern vermischt« (Abschnitt 2.1, 9).

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Diese Projektion einer geschichtlichen Kontinuität läuft parallel33 zu Fichtes Definition der Deutschen über die Stammesgeschichte, wenn er konstatiert, dass es »keinem der aus Germaniern entstandenen Völker heutzutage / leichtfallen dürfte, eine größere Reinheit seiner Abstammung vor den übrigen dazutun«34. Diese historische Konitinuität wird ergänzt und übertroffen durch die Kontinuität der Sprachentwicklung und von Fichte weiter entwickelt zum Konzept des ›Urvolks‹ der Deutschen. Hier verlässt Fichte die rein historisch-genetische Argumentation und relativiert die Zugehörigkeit zum Urvolk: »Der eigentliche Unterscheidungsgrund liegt darin, ob man an ein absolut Erstes und Ursprüngliches im Menschen selber, an Freiheit, an unendliche Verbesserlichkeit, an ewiges Fortschreiten unsers Geschlechts glaube, oder ob man alles dieses nicht glaube«.35 Dieser Glaube enthält aber ein performatives Element der Volkszugehörigkeit: Um zum Urvolk zu gehören, muss man sich zum Urvolk bekennen. Dieses Bekenntnis ist bei von der Hagen über den Rückgriff auf die Literatur modelliert: »es scheint, als suche man in der Vergangenheit und Dichtung, was in der Gegenwart schmerzlich untergeht. Es ist aber dies tröstliche Streben noch allein die lebendige Urkunde des unvertilgbaren Deutschen Karakters« (V1). Die Mängel der Gegenwart werden durch einen Rückgriff auf die Literatur der Vergangenheit zu beheben versucht. Dies äußert sich in einem »Streben« zur »Dichtung« der »Vergangenheit«, und dieses »Streben« selbst bekundet den »Deutschen Karakter«. Der Bezug auf die eigene Geschichte im literarischen Text bekundet die Zugehörigkeit zum Volk. Eine weitere Strategie besteht in einer geopolitischen Verortung des Lieds. Das Nibelungenlied wird durch von der Hagen als zentraler historischer Bezugspunkt monumentalisiert. Auch wenn die Wiederentdeckung des Textes »aus langer Vergeßenheit« (V1) zum Veröffentlichungszeitpunkt gerade ein halbes Jahrhundert zurückliegt, profiliert von der Hagen das Nibelungenlied als »unsterbliche[n] alte[n] Heldengesang« (V1) und als »das erhabenste und vollkommenste Denkmal einer so lange verdunkelten Nazionalpoesie« (V2). Während von der Hagen den »übrigen, zwar auch

33 Es soll hier keine direkte Rezeptionsverbindung zwischen Fichte und von der Hagen angenommen werden, aber von der Hagen hat sich für Fichtes Vorlesungen zumindest interessiert, vgl. E. Grunewald: Von der Hagen , 69. 34 J.G. Fichte: Reden, 60-61. 35 J.G. Fichte: Reden, 121, Hv. C.R.

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nicht unbedeutenden und geringen Resten« dieser Dichtung einen Nebensatz, aber keine namentliche Nennung einräumt, bezieht er das Nibelungenlied auf ein anderes deutsches »Denkmal«. Das Lied ist »dem koloßalen Wunderbau Erwins von Steinach [sic] vergleichbar« (V2). Erwin von Steinbach galt als Erbauer das Straßburger Münsters (erbaut 1176–1439), welches 1807 seit bereits 150 Jahren das höchste Gebäude der Welt war.36 Die Referenz auf den Sakralbau führt von der Hagen nicht aus, setzt das Nibelungenlied aber durch diese Kontextualisierung in Verbindung mit einem mittelalterlichen Monument von unübertroffener Sichtbarkeit und Kontinuität. Durch die Benennung des Straßburger Münsters als Teil der deutschen Nationalkultur geschieht gleichzeitig eine implizite Territorialisierung des Deutschen: Straßburg im Elsass markiert einen geopolitisch relevanten Ort im Kräftespiel zwischen Frankreich und Deutschland. Indem von der Hagen Straßburg, immerhin der Ursprungsort der französischen Marseillaise, als deutsch vereinnahmt und mit dem Nibelungenlied parallelisiert, wird der Text politisch konkret und formuliert sich implizit als Widerstand gegen die französische Hegemonie der Zeit. In diesem Kontext steht auch die Ankündigung einer »weit größeren, gründlicheren, und auch unschuldigeren Revoluzion, als jene äußere unserer Tage« (V1).37 Dieser Bezug auf Frankreich stellt eine negative Abgrenzung des Deutschen von einem Außen dar. Abgesehen von dieser Differenzbildung wird aber in von der Hagens Vorwort vor allem das Eigene herangezogen, um das Deutsche zu bestimmen und darin »Trost« und »Erbauung« zu finden (V1). Dem Lied werden spezifisch deutsche Eigenschaften zugeschrieben. Dabei dient nicht nur der große geschichtliche Kontext als Rahmen, sondern auch die Geschichte jedes Einzelnen, markiert durch die »wunderbaren Mährchen der Kindheit«, welche im Nibelungenlied »wiederkommen« und »nachklingen« (V2). Der

36 Dabei ist anzumerken, dass das Straßburger Münster die Auszeichnung als höchstes Gebäude der Welt erst weit nach seiner Erbauung erhielt, weil drei zuvor größere Bauwerke zerstört worden waren, zuletzt die Marienkirche in Stralsund. Ab 1874 überragte St. Nikolai in Hamburg das Straßburger Münster. 37 Dass das Nibelungenlied selbst durch seinen Bezug zu Worms aus geographischer Perspektive nicht ›deutsch‹ genug wäre, ist auf der anderen Seite als Argument gegen das Lied als Nationalepos vorgebracht worden, vgl. H. Brackert: »Nibelungenlied und Nationalgedanke«, 350.

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politische Rahmen wird somit auf das Private projiziert und an die Erinnerung jedes Einzelnen angebunden. Über die Markierung als Märchen, die als dem Deutschen bekannt vorausgesetzt werden, verortet von der Hagen das Nibelungenlied als immer schon bekannt. Bemerkenswert ist an dieser Stelle, wie von der Hagen diese »Erinnerungen und Ahnungen« (V2) darstellt. Von der Hagen verfasst sie als eine Liste von Tugenden, die sich im Nibelungenlied finden und den Leser »mit Stolz und Vertrauen auf Vaterland und Volk« erfüllen sollen (V3). Der Rückgriff auf die Listenform bei der Modellierung des Eigenen und Nationalen kann mithilfe von Žižeks Konzept der nationalen Identifikation in seiner Funktionsweise genauer bestimmt werden. Ganz im Sinne des Žižek’schen uneinholbaren NationDings kann auch das Nationale im Nibelungenlied durch von der Hagen nicht auf einen Begriff gebracht werden: »Alles, was wir tun können«, so ist bei Žižek zu lesen, »ist, zusammenhanglose Fragmente davon aufzuzählen […] all die Details, durch die die einzigartige Weise sichtbar wird, in der ein Gemeinwesen sein Genießen organisiert«.38 Und genau dies tut von der Hagen: Gastlichkeit, Biederkeit, Redlichkeit, Treue und Freundschaft bis in den Tod, Menschlichkeit, Milde und Großmuth in des Kampfes Noth, Heldensinn, unerschütterlichen Standmuth, übermenschliche Tapferkeit, Kühnheit, und willige Opferung für Ehre, Pflicht und Recht, Tugenden, die in der Verschlingung mit / den wilden Leidenschaften und düstern Gewalten der Rache, des Zornes, des Grimmes, der Wuth und der grausen Todeslust nur noch glänzender und mannichfaltiger erscheinen […] . (V2/V3)

Liest man diese Auflistung als spezifisch deutsch konnotierte Formen des Genießens, so ließe sich auch die Aufgabe, die dem Nibelungenlied in der Organisation der nationalen Einheit auf diese Weise zugeschrieben wird, mit Žižek wie folgt ausformulieren: »Eine Nation existiert nur so lange, wie ihr spezifisches Genießen in einem Set sozialer Praktiken materialisiert

38 Slavoj Žižek: »Genieße Deine Nation wie dich selbst! Der Andere und das Böse – Vom Begehren des ethnischen ›Dings‹«. In: Joseph Vogl (Hg.), Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen, Frankfurt a.M. 1994, 133164 (dt. Erstveröffentlichung in: Lettre international 18, 1992), hier 135.

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und in nationale Mythen übertragen wird«39. Wenn man diese »sozialen Praktiken« in einem weiten Sinne versteht, also nicht nur in Bezug auf konkrete Rituale und Feste, sondern auch auf Eigenschaften, die mit dem eigenen Brauchtum verknüpft gedacht werden können – »Gastlichkeit«, »Standmuth«, »Leidenschaften« – dann sichert von der Hagen hier einen Bezugspunkt der Nation. Er listet nicht nur die Praktiken auf, die als ›deutsch‹ begriffen werden können – die »zusammenhanglosen Fragmente« –, sondern liefert gleichzeitig den Mythos, an dem sich diese kristallisieren und durch den sie tradiert werden können. Von der Hagens Editionsprojekt liefert in diesem Sinne einen neuen alten Mythos: Er präsentiert einer breiten Öffentlichkeit einen bis dahin weitgehend unbekannten Text, inszeniert diesen aber als Teil einer geschichtlichen longue durée. Dass der Text bis dato kaum eine Rolle für das nationale Selbstverständnis gespielt hat, wird dadurch entschuldigt, dass er ›kurzzeitig‹ in Vergessenheit geraten war. Inszeniert wird dieser Text als überhistorischer Spiegel der Nation, der durch seinen monumentalen Charakter einen unverrückbaren Fixpunkt für das deutsche Selbstverständnis liefert. Im Gestus des Lesbarmachens des immer schon verstandenen Eigenen wird aus einem zuvor exklusiven Text für wenige Philologen ein Identifikationsangebot für das ganze Volk. Die Tragweite des Editionsprojekts von der Hagens zielt somit nicht allein auf die Rekonstruktion eines Textes, sondern auf die Konstruktion der Nation.

6. AUTOR, HERAUSGEBER UND PUBLIKUM Dass von der Hagens Edition des Nibelungenlieds dennoch und vor allem ein editionsphilologisches Unterfangen ist, bliebt natürlich unbestritten. Aber auch die Rolle, die von der Hagen sich selbst als Editor zuweist, lässt sich auf ihre Funktion für die ›Nation‹ hin untersuchen. Die editorischen Grundsätze von der Hagens für seine »Verjüngung« des Nibelungenlieds sind in ausführlicher Form bei Eckhard Grunewald nachzulesen40 und sollen hier nicht im Einzelnen nachvollzogen werden. Zwei Aspekte möchte ich dennoch erwähnen: 39 S. Žižek: »Genieße Deine Nation«, 136-137. 40 Vgl. E. Grunewald: Von der Hagen, insbesondere 45-67.

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Gegenüber seiner ersten »Probe« aus der Nibelungen-Bearbeitung, die von der Hagen 1805 publiziert hatte, zog er für die Gesamtausgabe von 1807 eine breitere Grundlage an Handschriften heran.41 Dies geschah insbesondere aufgrund einer überraschend eingetreten Konkurrenz-Situation: Ludwig Tieck arbeitete zeitgleich an einer Nibelungen-Edition, was von der Hagen zur Eile antrieb und ihn dazu bewog, seine eigenen philologischen Standards anzuheben, um hinter dem textkritischen Anspruch Tiecks nicht zurückzubleiben. Das fast publikationsfertige Manuskript überarbeitete von der Hagen ab 1805 unter größerem Aufwand und publizierte schließlich noch vor Tieck.42 Dass von der Hagen strengere editionsphilologische Maßstäbe einführte als zuvor, ist also nicht nur oder nicht vor allem durch den von ihm bearbeiteten Text bestimmt, sondern durch persönliche, wissenschaftliche und damit Reputations-relevante Kontextfaktoren. Das Ergebnis, und dies ist der zweite relevante Punkt, war dennoch kein hermetischer, wissenschaftlicher Text mit unübersichtlichem kritischen Apparat. Grunewald äußert zusammenfassend im Vergleich mit der »Probe« von 1805: »Allgemein ist die ›Erneuung‹ von 1807 durch ein größeres Entgegenkommen an den Leser gekennzeichnet«.43 Dies hatte allerdings nicht zur Folge, dass die Leser dieses Entgegenkommen auch honorierten: Neben einigen positiven Besprechungen war das Urteil der akademischen Welt über Der Nibelungen Lied langfristig eher negativ, da der Text weder wissenschaftlichen noch literarischen Ansprüchen genüge. Und auch das ›Volk‹ las den Text nicht: »Die Niebelungen liegen wie Blei«, fasst die Verlegerin gute drei Jahre nach dem Erscheinen den schlechten Verkaufserfolg des Buches zusammen.44

41 Ursprünglich hatte von der Hagen mit der von Müller 1782 veröffentlichten Ausgabe gearbeitet. Christoph Heinrich Müller (auch: Myller) ist es, der »unter großen Schwierigkeiten mit Bodmers Hilfe eine erste Gesamtausgabe des Nibelungenliedes herausbrachte« (O. Ehrismann: Nibelungenlied, 248). 42 Im Nachwort würdigt von der Hagen Tieck als Konkurrenten (488); Hölter beschreibt die Beziehung der beiden später als »aufrichtige Freundschaft«. Hölter, Achim: Ludwig Tieck. Literaturgeschichte als Poesie, Heidelberg: Carl Winter 1989, 46. 43 E. Grunewald: Von der Hagen, 52. 44 Zit. n. ebd. 58.

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Dennoch kann von der Hagens Nibelungen-Edition nicht als reiner Misserfolg gewertet werden. Zum Einen öffnet es von der Hagen den Weg in die akademische Anerkennung über den nachträglich verliehenen Doktortitel. Zum Anderen generiert die Diskussion seiner Textausgabe eine rege Debatte über das Nibelungenlied und trägt zu dessen Etablierung als zentralem Text der frühen Germanistik bei. Das Lied wird damit in den Diskurs zur Nation im 19. Jahrhundert eingebunden. Die Wirkungen der NibelungenAusgabe scheinen also im historischen Ergebnis nicht gekoppelt zu sein an eine konkrete und große Leserschaft. Grunewald entwickelt die These, dass sich von der Hagens Ausgabe des Nibelungenlieds ohnehin – unabhängig von der Funktionsbestimmung im Vorwort – weder an die akademische Welt noch an breite Leserschichten richtete, sondern »zuerst und vor allem« für »Künstler und Dichter«45 einen Zugang zu dem als Nationalepos vorgestellten Text schaffen möchte. Die Wissenschaft spielt aus dieser Perspektive die bei der Verbreitung eines neuen identifikatorischen Angebots für die Deutsche Nation keine große Rolle. Vor allem die künstlerische Vermittlung des Textes hätte das Potenzial, den Text als Nationaldenkmal zu profilieren. Von der Hagen selbst wäre also noch gar nicht der Vermittler des Lieds. Eine genaue Lektüre des Vor- und Nachwortes von der Hagens relativiert diese Stoßrichtung allerdings. Welches Publikum intendiert von der Hagen als Zielgruppe für sein neues altes Nationalepos? Bevor von der Hagen im Nachwort seine editionskritischen Grundlagen erläutert, führt er auf dreißig Seiten aus (467497), mit welchem Ziel und für welches Publikum er die Ausgabe des Nibelungenlieds konzipiert hat. Dabei würdigt und kritisiert von der Hagen zunächst den bisherigen Umgang mit alten deutschen Texten. Er betont dabei unter Rückgriff auf editorische und poetische Bearbeitungen alter Texte, dass sich die Deutschen in einem »nur gelehrten und literarischen Verhältnisse« zu ihren »Nazionalwerken« befänden (475-476), da die deutsche Sprache sich historisch stärker gewandelt habe als z.B. die französische oder italienische. In diesem Sinne ist der Zugriff auf das Nibelungenlied also immer schon ein vermittelter, da es der Bildung bedarf, um die alten Texte zu verstehen. Diese Lücke möchte von der Hagen schließen und den Text wieder verständlich machen. Die Kriterien für diese Vermittlung des Textes

45 E. Grunewald: Von der Hagen, 63.

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sind bei von der Hagen von zwei Polen bestimmt. Zum Einen geht es ihm um den ›echten‹ Text: »Eine solche Arbeit mußte, wenigstens stillschweigend, eine kritische Rezension der Urschrift zur Grundlage haben« (489). Durch den Vergleich verschiedener – wenn auch nicht aller vorhandenen – Handschriften, gelang es von der Hagen, »eine Bereicherung von 72 ganz neuen […] gewiß ächten Strophen« (489) zu bisherigen Ausgaben hinzuzufügen. Die Authentizität des Textes wird durch die physisch vorhandenen, alten Textüberlieferungen bezeugt. Auf der anderen Seite geht es von Hagen gleichermaßen weniger um die Aufdeckung der Vergessenen oder Verschütteten, als um die Inszenierung eines alten Textes. Dies wird besonders deutlich wenn von der Hagen angibt, dass es im Rahmen seiner »Erneuung« darum ginge, »das Alterthümliche und Urkundliche in Farbe und Ton nicht zu verwischen« (497), er wenig später aber erklärt, dass er »manches Alterthümliche, das sich im Original gerade nicht fand, eingeführt« habe (500, Hv. C.R.). Von der Hagens Vermittlungsleistung besteht also nicht nur darin, den mittelalterlichen Text wieder herzustellen, sondern in seiner »Verjüngung« einen Text herzustellen, der seinen Vorstellungen des »Alterthümlichen« entspricht. Er produziert damit ein Bild der mittelalterlichen Literatur für das neunzehnte Jahrhundert, und gibt dies auch deutlich zu. Die ausführliche Darlegung der Methodik seiner Vermittlungsaufgaben wird allerdings im Anhang zu Der Nibelungen Lied durch mehrere Aspekte unterbrochen, die eine Unmittelbarkeit des »Nazionalgedichts« suggerieren. Während die Eingriffe von der Hagens am Text einerseits betont werden, also die Vermitteltheit der Textgestalt explizit gemacht, spielen Aspekte der Direktheit, Unvermitteltheit und Subjektlosigkeit eine große Rolle. Der erste Schritt hierbei ist, den Text sich selbst rechtfertigen zu lassen:

Vor allen aber stellt sich unter diesen epischen Nazionalgedichten [Minnesinger und Heldenbuch] wieder das Lied der Nibelungen als das in jeder Rücksicht vollendeteste dar; und nachdem dasselbe in vorliegender Bearbeitung sich durch sich selber als solches verkündet und beurkundet hat: so bedarf es hier wohl keiner Rechtfertigung mehr, so wenig über ihre Wahl, als über diese ihre Art und Weise. (477/78)

Der Text »verkündet und beurkundet« sich selbst und macht zusätzliche Erklärungen überflüssig. Die Präsenz des gedruckten Textes ist die Präsenz

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des ›echten‹ Textes. Der Bezug auf einen – notwendigerweise subjektiv motivierten – Autor des Lieds bleibt aus.46 Darauf aufbauend erläutert von der Hagen die von ihm intendierte Rezeption des Textes, und schlägt dabei zwei Richtungen ein. Erstens plädiert er, wie es Grunewald betont, tatsächlich für eine Aneignung des Textes durch zeitgenössische Schriftsteller. Insbesondere die Dramatisierung der Nibelungen erscheint ihm ein gewichtiges Desiderat, denn »nur auf eine einzige Weise ist hier an eine würdige Umgestaltung des großen alten Werkes zu denken« (478): Es »wäre nun gar sehr zu wünschen«, dass ein geeigneter Schriftsteller »uns die große Geschichte in einer Reihe von Tragödien vor Augen stellte und vorüber führte, und uns so endlich auch ein nazionales Drama erschüfe, wie es kein neueres Volk auszuweisen hätte« (479). Die Vermittlung des Nibelungenlieds wird dabei ganz auf einen zukünftigen Dramatiker projiziert: »Der Bogen liegt da; spanne ihn, wer mag.« (479). Dem vorliegenden Text räumt dies im Rückschluss den Status des noch Unvermittelten ein. Der zweite Aspekt in von der Hagens Publikumsvorstellung zielt in eine andere Richtung. Wohl wissend, dass es für seinen Text kaum Leser gibt, räumt er ein: »Jeder, der hier [d.h. in Deutschland] ordentlich etwas will, muß sich gleichsam erst ein Publikum schaffen« (493). Im Folgenden schafft von der Hagen sich dieses Publikum in einem Dreischritt. Zunächst schreibt er für »ein gewißes höheres, unsichtbares Publikum« (494). Dieses überzeitliche »geheime Tribunal aus den größten und trefflichsten Männern« ist das erste Publikum, in dessen Gefolge sich »vielleicht auch äußerlich ein wahrhaftes und kompetentes Publikum« bilden möge, wobei von der Hagen vor allem befreundete Philologen »im Sinne« gehabt haben dürfte (494). Schließlich richtet sich das Lied auch an »die Übrigen«, hier allerdings lediglich vermittelt durch die zu erwartende Dramatisierung, für die ein Verständnis des Urtextes keineswegs nötig sei (494). Zusammenge-

46 Die unmittelbare Präsenz des Textes, inszeniert als Text ohne Autor, findet sich in der Nibelungenrezeption wiederholt, vgl. O. Ehrismann: Nibelungenlied, 25354, vor allem unter Bezug auf die romantischen Konzepte von Natur- vs. Kunstpoesie. Die Unmöglichkeit, das Lied einem konkreten Autor zuzuschreiben, ist ein hiervon zu unterscheidender Umstand, denn »der ›Dichter‹ des Nibelungenliedes hat sich, den Gesetzen der Gattung gehorchend, hinter sein Werk zurückgezogen« (O. Ehrismann: Nibelungenlied, 232).

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nommen bedeutet dies: Der Nibelungen Lied richtet sich nicht an ein konkretes Publikum im engeren Sinne. Dies ist bemerkenswert, weil durch dieses Manöver beide Seiten der Nationengleichung plötzlich entleert scheinen: Was ›das Deutsche‹ ist, kann nur durch eine offene Liste bedeutet werden, die sich in einem ›Nationalgedicht‹ manifestieren soll. Wer aber ›die Deutschen‹ sind, die diesen Text tatsächlich rezipieren sollen, bleibt angesichts von der Hagens Publikumsbestimmung ebenso unterbestimmt. Und genau genommen hat das »Nazionalgedicht« auch keinen Herausgeber bzw. es existiert losgelöst von diesem. Zunächst verweist von der Hagen auf die kollektiven Bemühungen, die sein Projekt unterstützt haben und auch in Zukunft tragen sollen, und parallelisiert dabei den »Ursprunge« des Nibelungenlieds mit seiner Edition desselben (496): ein einzelner Autor ist in beiden Fällen nicht feststellbar. Im Vorwort heißt es, das Lied sei »aus Deutschem Leben und Sinne erwachsen und zur eigenthümlichen Vollendung gediehen« (V2). In diesem Sinne zieht von der Hagen sich im Nachwort auch selbst aus dem Geschehen zurück: Das Werk gehört der Nazion, – die doch immer noch in einigen großen Stellvertretern lebt, oder vielmehr in diesen erst wieder erstanden ist – nicht einem Einzelnen an; und ich will gern dahinter verschwinden: denn nur der Ruhm des Vaterlandes ist mein Ziel. (495)

7. OBJEKTIVIERUNG UND WISSENSCHAFT Benedict Anderson bemerkt in seinem Vorwort zu Imagined Communities ein Paradoxon, mit dem das theoretische Nachdenken über Nationen konfrontiert wird: »[the] objective modernity of nations to the historian’s eye vs. their subjective antiquity in the eyes of nationalists«47. Die Nation wird im zeitgenössischen Kontext als älter und natürlicher imaginiert, als sie bei der Betrachtung größerer historischer Zusammenhange beschrieben werden kann. Von der Hagens rhetorische Strategien lassen sich in diesem Begrifflichkeiten als der Versuch beschreiben, die subjektive Perspektive der großen Vergangenheit der deutschen Nation zu objektivieren, also als bereits 47 Benedict Anderson: Imagined Communities. Reflections on the Origins and Spreads of Nationalism, London/New York 2006, 5.

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gegeben und nicht erst konstruiert erscheinen zu lassen. Indem die Einflussnahme von Individuen, vor allem aber von der Hagens eigene Vermittlungsleistung, in den kommentierenden Texten zum Lied verwischt wird, steht der Text scheinbar von allein als nationales Objekt, das auf gewisse Weise immer bereits vorhanden war, einer identifizierenden Bezugnahme zur Verfügung. Die am Beginn des 19. Jahrhunderts neu entstehende Verwissenschaftlichung der Auseinandersetzung mit der Nation, die Entstehung der Germanistik, bietet eine Möglichkeit, dieses Verhältnis von ›nur‹ subjektiver Wahrnehmung und Objektivierung zu institutionalisieren. Von der Hagen verschwindet nicht völlig hinter dem Text, wie er es im Nachwort anbietet, sondern legt im Gegenteil detailliert dar, an welchen Stellen er im Text zu finden ist: durch eine ausführliche Darstellung seiner editorischen Prinzipien (497-527). Auf diese Weise erzeugt der Herausgeber eine intersubjektive Nachvollziehbarkeit seiner Eingriffe und somit einen Effekt der Objektivität. An dieser Stelle überschneiden sich nun mehrere Entwicklungen: 1.

2.

3.

Die Entstehung des modernen Nationalstaats, wie sie sich im 19. Jahrhundert auch in Deutschland vollzieht, begünstigt eine nationale Geschichtsschreibung und deswegen eine potenziell infinite Verlängerung der gegenwärtigen Identitätskonzepte in die Vergangenheit. Die Diskussion des Begriffs ›Wissenschaftlichkeit‹, wie sie bereits seit dem frühen 18. Jahrhundert geführt wird, ebnet den Weg für einen als objektiv konstruierten Zugang zur nationalen Geschichte.48 Der ›gelehrte‹ Umgang mit einem literarischen »Text als Objekt«49 beeinflusst die Umgestaltung der wissenschaftlichen Disziplinen und mündet in die ›nationale Wissenschaft‹ Germanistik.

Diese Tendenzen scheinen sich zunächst gut zu ergänzen: Durch einen wissenschaftlichen Zugriff auf Literatur als Teil der nationalen Geschichte er-

48 Vgl. Klaus Weimars Diskussion des prozessualen Wissenschaftsbegriffs (K. Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft, 210-212). 49 Vgl. K. Weimar, der das Konzept vom »Text als Objekt des [akademischen] Lesers« seit etwa 1780 verzeichnet (K. Weimar: Geschichte der deutschen Literaturwissenschaft, 206).

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öffnet sich ein Handlungsfeld, das Konzepte der deutschen Nation unterfüttern kann, indem es auf intersubjektiv nachvollziehbare Weise deren Geschichte als eine Literaturgeschichte beschreibt. Außerdem ermöglicht das Desiderat einer nationalen Geschichtsschreibung im historischen Kontext die staatliche Integration einer solchen Literaturwissenschaft, also die verbindliche Einordnung in den Kanon der entstehenden Universitätslandschaft. Angesichts einer nicht als kontinuierlich erfahrbaren nationalen Geschichte wird mit der Deutschen Philologie als ›nationaler Wissenschaft‹ eine Expertenkultur etabliert, die – mit staatlichem Gütesiegel der Akademisierung versehen – scheinbar desinteressiert, also wissenschaftlichobjektiv, die Voraussetzungen für eine als deutsch markierte Geschichte schaffen kann. Dazu gehört zum Beispiel, dass das Grimm’sche Projekt der Sprachgeschichte das Postulat Fichtes von der »Sprache ohne Unterbrechung« (61) praktisch absichert, indem es durch eine verbindliche Übersetzung früherer Sprachstufen des Deutschen die Übersetzung selbst unproblematisch und damit unsichtbar macht. Dass was zuvor unverstanden bleiben musste, obwohl es als ›Eigenes‹ galt, wird durch die sprachhistorischen Projekte des 19. Jahrhunderts wieder zugänglich. Die Präsentation nationaler ›Sprachdenkmäler‹, also auch die Bemühungen um das Nibelungenlied seit seiner Entdeckung, installiert eine Kulturgeschichte des Vergessenen als des eigentlich immer schon Gewussten, und inszeniert auf diese Weise ebenfalls eine kontinuierliche Geschichte: der »alte Heldengesang« ist der »unsterbliche« (V1). Indem diese Verfahren im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend als ›wissenschaftlich‹ markiert werden, wird die Vermittlungsleistung des Sprach- oder Literaturhistorikers transparent, er50 kann gegen den Modus der wissenschaftlichen Objektivität aus der Gleichung subtrahiert werden und das nationale Denkmal steht scheinbar von allein, obwohl es von komplexen Stützkonstruktionen gehalten wird. Anders formuliert: Die Einbindung in die Institution Wissenschaft schafft einen Rahmen, in dem die Geschichte und das Wesen der Nation zwar durch einzelne Subjekte konstruiert wird, durch die Markierung wissenschaftlicher Wahrheiten als ›objektiv‹ wahr sind diese subjektiven Perspektiven im wissenschaftlich-philologischen Text aber nicht mehr als Partikularitäten oder ›nur‹ von

50 Historisch korrekt ist es an dieser Stelle nicht notwendig, eine Sprach- oder Literaturhistorikerin anzunehmen.

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einem einzelnen Subjekt wahrgenommen markiert. Erst bestimmte Auffassungen von ›Wissenschaftlichkeit‹ ermöglichen eine solche Rekonstruktion der Geschichte, die der Nation dienlich sein kann. Die Einführung der ›Wissenschaftlichkeit‹ in die Konstruktion nationaler Identifikationsangebote bringt eine seltsame Doppelstruktur mit sich. Einerseits ist von der Hagen in seinen Paratexten bemüht, sich hinter den von ihm edierten Text zurückzuziehen. Andererseits dokumentiert er ausführlich, dass seine Manipulationen des Textes auf jeder einzelnen Seite zu finden sind. Hier zeigt sich die Logik des gerade entstehenden Systems der modernen Wissenschaft. Folgt man Niklas Luhmanns Ausführungen zu den Eigenschaften von Wissenschaft als System, kann als eine ihrer spezifischen Strukturen das Moment der Reputation gelten.51 Im Gegensatz zum Hauptcode der Wissenschaft, ›Wahrheit‹, ist Reputation an den Namen einzelner Wissenschaftler gebunden. Auch wenn objektive Wahrheit ihr Ziel ist, kann die Wissenschaft auf die Markierung einzelner Subjekte nicht verzichten. Da von der Hagen also nicht nur an der Installation eines Nationaldenkmals beteiligt ist, sondern gleichzeitig seine eigene Karriere im Blick hat, entsteht die doppelte Bewegung: Sein Verschwinden hinter dem Text zielt auf nationale Identifikation im politischen Sinne, sein Hervortreten als Bearbeiter des Textes zielt auf seine eigene Identität als Akteur auf dem Neuland der Germanistik. Der Literaturhistoriker darf nicht aus der Gleichung subtrahiert werden, weil er als Anwärter auf Reputationsgewinn in seiner Arbeit präsent bleiben muss. Die Verwissenschaftlichung der nationalen Literaturtradition beinhaltet also an dieser Stelle zwei einander widerstrebende Bewegungen: Das ›Nationaldenkmal‹ soll einerseits unmittelbar zugänglich sein und muss andererseits durch ausgewiesene Experten vermittelt werden. Die Logik der Wissenschaft liefert – weiterhin systemtheoretisch gedacht – eine Lösung dieses Dilemmas. Da der ›Nebencode‹ Reputation52 nur innerhalb wissenschaftlicher Zirkel als Differenzkriterium von Relevanz ist, kann die »Nazionalpoesie« in andere Systeme exportiert werden, ohne den Wissenschaftler zu berücksichtigen. Die Geschlossenheit des Systems Wissenschaft schafft einen Rahmen, indem die Konstruktion der Nation durch ein-

51 Ich verwende den Reputationsbegriff im Sinne Luhmanns, vgl. u.a. Niklas Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1992, 244-251. 52 Vgl. N. Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, 247.

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zelne Subjekte vollzogen werden kann, ohne deren ›Natürlichkeit‹ oder eben Objektivität für die Verwendung innerhalb anderer Systeme zu berühren.

8. FAZIT Gleichzeitig mit einer äußeren Auflösung der deutschen Nation werden zu Beginn des 19. Jahrhunderts Konzepte vom Deutschen tradiert, die nicht auf politische Einheit angewiesen sind. Mit Fichte können die Deutschen als Sprach- und Kulturgemeinschaft gedacht werden, die sich in im gemeinsamen Bekenntnis zu einer Geschichte als zusammengehörig fühlen. Die Installation des Nibelungenlieds als Nationalepos produziert einen Bezugspunkt für dieses Gemeinsame. An von der Hagens Vor- und Nachwort lassen sich einige der nationalen Funktionen des Lieds aufzeigen: Es liefert als Denkmal ein konkretes Monument, dass zu identifikatorischen Bezugnahme bereit steht. Es bietet als historisch überlieferter Text die Möglichkeit zur Konstruktion einer weit zurückreichenden Geschichte. Es ist als sprachlich verfasstes Stück Nationalliteratur ein Beleg für die Kontinuität von Sprache und Kultur der deutschen Nation. Außerdem liefert es Hinweise auf Eigenschaften, welche die Vorstellungen vom Gemeinsamen der Deutschen umschreiben können, ohne sie auf einen Begriff bringen zu müssen. Die zeitgleiche Entwicklung einer nationalen Wissenschaft ermöglicht es, dieses Denkmal zu erschaffen und gleichzeitig den Prozess seiner Konstruktion zu verschleiern. Die Objektivierungsstrategien der modernen Wissenschaft erlauben es, die deutlich sichtbaren Eingriffe eines einzelnen Subjekts auf eine Weise zu kontextualisieren, die das Philologen-Subjekt hinter dem literarischen Text verschwinden lässt, sobald die Systemgrenzen der Wissenschaft übersprungen werden. Innerhalb der Wissenschaft aber ist der Bezug einer Einzelperson auf die Nation, und ihr Verdienst an der Nation, sichtbar und honorierbar. Vom System Wissenschaft, oder gar Literaturwissenschaft, im Jahr 1807 zu sprechen, stellt natürlich in gewisser Weise einen Anachronismus dar. Keineswegs gibt es zu diesem Zeitpunkt bereits ein geschlossenes System mit klaren wahr/falsch-Bedingungen oder einer deutlich geregelten innen/außen-Differenz. Erst im Anschluss – zum Beispiel in der Verhandlung der Lachmann’schen »Methode« zur Textedition – vollzieht sich eine insti-

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tutionelle Schließung, die zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts über die verbindliche Aufnahme in universitäre Prüfungskanones und regelmäßige Einrichtung von Professuren eine Disziplin mit gesichertem institutionellen Status produziert. Von der Hagen spielt in diesem Prozess, wie oben angedeutet, nur eine marginale Rolle. Dennoch lassen sich anhand der Analyse seines Falles wichtige Konsequenzen für zukünftige Untersuchung der Verbindung von Literatur, Wissenschaft und Nation ziehen. Eine Betrachtung der Objektivierungsstrategien vor der institutionellen Schließung der nationalen Wissenschaft von der Literatur, wie ich sie hier vorgeführt habe, kann den Blick für Strategien schärfen, die die Anforderungen verschiedener Systeme miteinander zu vereinbaren versuchen. An von der Hagens Editionsprojekt ist aufgrund der noch fehlenden Etablierung strenger wissenschaftlicher Kriterien wesentlich leichter zu sehen, dass das Prinzip der Verwissenschaftlichung weniger Objektivität schafft als vielmehr Subjektivität verschleiert. Sowohl für die historische Betrachtung der Literaturwissenschaft als auch für die Reflexion des Nationenbegriffs im 19. Jahrhundert muss dieses Beziehungsgeflecht der Strategien von Relevanz sein. Insbesondere wenn sich Interessen überschneiden, wie hier das der nationalen Identität und der Etablierung einer neuen Disziplin, müssen die Bedingungen der einzelnen Elemente ebenso untersucht werden wie ihre Interdependenzen, die sich nie rein additiv zueinander verhalten können.

Der »deutscheste Mann unserer Geschichte« Luther im nationalen Diskurs zu Beginn des 19. Jahrhunderts FRIEDERIKE KRIPPNER

Die von Norbert Mecklenburg konstatierte »Lutherferne«1 des 20. Jahrhunderts scheint sich im 21. Jahrhundert zumindest mit Blick auf das Kino und Fernsehen nicht fortzusetzen.2 So kam mit Luther im Jahr 2003 ein international und mit dem Hollywood-Schauspieler Joseph Fiennes in der Titelrolle prominent besetzter, zudem kommerziell erfolgreicher Film in die Kinos.3 Und auch in der ersten Staffel von Guido Knopps ausgesprochen quotenträchtiger Reihe Die Deutschen (2008) war die vierte der zehn Folgen unter dem Titel Luther und die Nation. Der Reformator und Förderer der 1

Norbert Mecklenburg: »Durch politische Brille und Butzenscheiben. Literarische Lutherbilder in der Heine-Zeit«, in: Hartmut Kircher/Maria KlaĔska (Hg.), Literatur und Politik in der Heine-Zeit. Die 48er Revolution in Texten zwischen Vormärz und Nachmärz, Köln u.a. 1998, 1-15, 1.

2

Die Begeisterung für die Reformation spiegelt sich auch in der aktuellen Feier einer ganzen ›Lutherdekade‹: Nicht nur im Jahr 2017, sondern bereits das ganze Jahrzehnt davor wird der Reformator gefeiert, vgl. z.B. die Website: http://luther 2017.de (31.1.2012).

3

Luther (USA u.a. 2003, R: Eric Till). Der ökonomische Erfolg des Films, der auch in den Nebenrollen mit Schauspielern wie Alfred Molina, Sir Peter Ustinov und Uwe Ochsenknecht aufwartet, war erwartungsgemäß in Deutschland weit größer als in den USA.

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deutschen Sprache ganz dem Kirchenmann gewidmet.4 Die Sendung war die einzige der zehn Folgen, die bereits im Titel auf die tragende Rolle ihres Protagonisten im Hinblick auf die ›Nation‹ aufmerksam machte. Das ist auch deshalb bemerkenswert, weil zu Luthers Lebzeiten bekanntlich zwar der Begriff, nicht aber das moderne Nationenkonzept existierte, auf das hier

4

Luther und die Nation. Der Reformator und Förderer der deutschen Sprache, Erstausstrahlung am 4.11.2008 im ZDF. Dass nationale Erzählungen auch im 21. Jahrhundert und auch im Medium Film die Funktion erfüllen, der Nation bzw. hier ›den Deutschen‹ eine möglichst imposante Genealogie zu verleihen, ein junges Konzept also alt erscheinen zu lassen, zeigt die Machart der Serie: Jede Folge ist – in Spielfilmsequenzen und ExpertInnengesprächen – um einen (männlichen) Helden zentriert, der exemplarisch für ein Kapitel deutscher Geschichte stehen soll. Die Zeitspanne, in der dem/der deutschen Zuschauer/in erläutert wird, »wer wir sind« und »woher wir kommen« (vgl. den Trailer der Reihe), umfasst 1000 Jahre und es ist wohl nicht zuletzt dem Pathos dieser Zahl geschuldet, dass mit Otto I. begonnen wird und damit in einer Zeit, in der von so etwas wie ›Deutschland‹ kaum die Rede sein kann. Überraschender als dieser Beginn mutet im Übrigen aber noch der Schluss der Serie an. Die letzte Folge ist Wilhelm II. gewidmet; in einem fünfminütigen Abriss werden gegen Ende Weimarer Republik, Nationalsozialismus (der Zeit von 1933-1945 werden knapp 30 Sekunden eingeräumt), Bundesrepublik und DDR sowie die Wiedervereinigung abgehandelt. Man könnte meinen, dass die letzten 90 Jahre deutscher Geschichte durchaus mehr Aufmerksamkeit verdient hätten, wenn es um die Frage geht, ›wer die Deutschen seien‹ – offensichtlich liegt der Schwerpunkt also mehr auf der zweiten Frage, nämlich ›woher sie kommen‹. Dies wird noch deutlicher dadurch, dass nach diesem kurzen Abriss in Rückblenden die letzten 1000 Jahre ›deutscher‹ Geschichte noch einmal in umgekehrter Chronologie rekapituliert werden, so dass die Serie endgültig mit dem von Otto I. gesprochenen Satz »Das Reich ist heilig« endet. Der Erfolg von »Die Deutschen« führte zu »Die Deutschen II« (Erstausstrahlung November/Dezember 2010 im ZDF), einer ganz ähnlich konzipierte Serie, bei der neben den männlichen »Helden« aber auch verstärkt »Visionärinnen« (vgl. den Trailer der Serie) zum Zuge kommen. Die Folgen beider Staffeln sind abrufbar unter http://diedeutschen.zdf. de (31.1.2012).

DER »DEUTSCHESTE MANN UNSERER GESCHICHTE« | 107

angespielt wird.5 Der insofern anachronistisch anmutende Titel ist nur ein Detail, aber eines, das eindrücklich darauf verweist, dass die Betonung der dezidiert nationalen Verdienste des Reformators bis heute kaum an Attraktivität eingebüßt hat. Luthers Wirken teleologisch auf die Entstehung der Nation hin zu interpretieren erscheint auch deshalb nicht unmittelbar evident, weil die von Luther angestoßene Reformation bekanntlich nicht zur politischen Einheit führte, sondern zur Glaubensspaltung und damit zu anhaltenden Konflikten: Dass die einzelnen Fürstentümer fortan verschiedenen Konfessionen angehörten, wurde noch nach dem Zusammenbruch des Heiligen Römischen Reichs 1806 zur politischen Belastungsprobe für die deutsche Nationalbewegung.6 Besagte ZDF-Folge sieht Luthers Verdienst um die Nation denn auch weniger in den direkten politischen Folgen der Reformation als vielmehr in seiner Bedeutung für die Entwicklung der neuhochdeutschen Sprache. Luther als Förderer der deutschen Sprache, der damit die Grundlage eines zusammenwachsenden Nationalstaates erst ermöglichte – das ist ein Narrativ, das seit langem etabliert ist. Doch die Indienstnahme der Figur ›Luther‹ für das moderne Nationenkonzept, oder anders gesagt die Vorstellung von Luther als Wegbereiter der deutschen Nation ging in der Vergangenheit noch darüber hinaus: Luther wurde zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu einem der präsentesten und offenbar in den unterschiedlichsten politischen Lagern aktivierbaren Nationalhelden. Sein steiler Aufstieg zum Nationalhelden fällt damit in einen Zeitraum, in dem die Diskurse des Nationalen in Deutschland – wie auch in Europa – grundlegend umstrukturiert wurden. Nach dem Fall des alten Reichs 1806 und unter der teilweisen Besetzung durch Napoleon erreichte die Sehnsucht nach einer deutschen ›Nation‹ ein zuvor unbekanntes Ausmaß. Das Projekt ›Nation‹ wurde dabei von den unterschiedlichsten Kreisen verfolgt, die Anstrengungen zielten auf die Stiftung einer gemeinsamen ›deutschen Identität‹.

5

Luther verstand sich zwar als ›Deutscher‹, aber »ohne modern-nationalistische Einfärbung« (Werner Conze: »Zum Verhältnis des Luthertums zu den mitteleuropäischen Nationalbewegungen im 19. Jahrhundert«, in: Bernd Moeller (Hg.), Luther in der Neuzeit. Wissenschaftliches Symposion des Vereins für Reformationsgeschichte, Gütersloh 1983, 178-193, 179).

6

Vgl. stellvertretend ebd.

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Es verwundert daher nicht, dass im 19. Jahrhundert so viele ›deutsche‹ Heldenfiguren auf das diskursive Spielfeld der Nation traten: neben Luther wäre etwa an den Cheruskerfürsten Hermann oder an Kaiser Barbarossa zu denken. Die Entwürfe solcher nationalen Heldenfiguren können dabei allesamt strukturell als Verbildlichung und phantasmatische Materialisierung des Begehrens nach nationaler Identität begriffen werden.7 Gleichzeitig stellt sich aber auch die Frage, ob und wie sich diese Heldenfiguren voneinander unterscheiden. Denn zumindest ›Hermann‹ und ›Luther‹ scheinen in gewisser Weise austauschbare Namen zu sein, konnten sie im zeitgenössischen Diskurs doch gleichermaßen und häufig auch in direkter Analogie den Kampf gegen Rom verbildlichen (und damit nach außen die Abgrenzung vom katholischen Frankreich).8 Wie sehr die Zuschreibungen an Heldenfiguren im Kontext von nationalen Erzählungen typisiert waren, zeigt sich auch in Figuren der Wiederkehr: Luther konnte ebenso als ›zweiter

7

Auf solche Verbildlichungsstrategien, die Nationen überhaupt erst ermöglichen, verweist Slavoj Žižek (»Genieße Deine Nation wie Dich selbst! Der Andere und das Böse – Vom Begehren des ethnischen ›Dings‹«, in: Joseph Vogl (Hg.), Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen, Frankfurt a.M. 1994, 133-164). In Anlehnung an Jacques Lacans subjekttheoretische Überlegungen zum Spiegelstadium versteht Žižek nationale Identifikation als eine Beziehung zur »Nation als Ding« (135). Das ›nationale Ding‹ verspricht das Angebot einer vollen Identität, ist dabei aber gleichzeitig – analog zur Lacanschen Differenz zwischen dem Ich und der Spiegel-Imago – immer schon verloren und folglich nicht einholbar: »Der Mangel (Kastration) ist ursprünglich« (138). Dieser Mangel, der der Nation konstitutiv innewohnt, wird in eine imaginierte Bedrohung nach Außen verlagert: Den Anderen wird unterstellt, das nationale Ding stehlen zu wollen. Der Glaube an das Genießen des nationalen Dings und an die gleichzeitige Bedrohung von außen ist es dabei, was nach Žižek nationale Identität konstituiert. Damit eine Nation existieren kann, muss das Genießen derer, die an das nationale Ding glauben, »in einem Set sozialer Praktiken materialisiert und in nationale Mythen übertragen [werden], die diese Praktiken strukturieren« (137).

8

Vgl. auch die Ausführungen im zweiten Abschnitt der vorliegenden Untersuchung zu Karl Follens Gedichtzyklus, in dem Luther als ›zweiter Hermann‹ tituliert wird; so übrigens auch schon im 18. Jahrhundert in der Ode Luther des Klopstockschülers Johann Andreas Cramer (1771).

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Hermann‹ angesprochen werden wie Lessing, Goethe oder später auch Bismarck als ›zweiter Luther‹. Doch obwohl die Figuren damit tendenziell austauschbar erscheinen, lassen sich für ›Luther‹ auch ganz spezifische Formen der Einbindung in den nationalen Diskurs bestimmen. ›Luther‹ ist in gewisser Hinsicht als nationaler Held komplizierter herzuleiten als etwa ›Hermann‹: Wurde Letzterer als militärischer Held und/oder als Befreier Germaniens respektive Deutschlands imaginiert, so erscheinen Luthers nationale Verdienste sehr viel diffuser. Zugleich eignete sich ›Luther‹ damit – wie zu zeigen sein wird – als Projektionsfläche für die unterschiedlichsten Interessen. Im Folgenden soll es also um die Funktionen gehen, die ›Luther‹ als Figur im nationalen Diskurs zu Beginn des 19. Jahrhundert erfüllen konnte. Dabei ist offensichtlich, dass die zu diskutierenden Lutherimaginationen nicht an ihrer Übereinstimmung mit dem Wissen über die real-historische Person des 16. Jahrhunderts gemessen werden können. Wenn man sich auf eine solche Fragestellung nach historischer ›Korrektheit‹ verpflichtet, kann man nur wie Walter Mostert konstatieren, dass die »ungeheure Wirkungsgeschichte« des Nationalhelden ›Luther‹ in »scharfem Kontrast zu der Substanzlosigkeit dieses Lutherbildes« 9 stehe – substanzlos in dem Sinne, dass die imaginierte Figur des Helden kaum etwas mit der historischen Person gemein zu haben scheint. Wenn man die »Verzerrung«10 der Lutherfigur dagegen als Resultat produktiver literarischer, politischer und philosophischer Aneignungsprozesse versteht,11 dann wird sichtbar, wie die Figur ›Luther‹ etwa im nationalen Diskurs um- und weitergeschrieben wird. In dieser Absicht möchte ich drei Möglichkeiten der Resemantisierung Luthers für die ›Sache der Nation‹ aufzeigen: Erstens konnte mit ›Luther‹ die zeitgenössisch virulente Engführung (und damit einhergehende Aufwertung) des Konzepts der Nation mit religiösen Denkweisen gelingen. Zwei-

9

Walter Mostert: »Luther, Martin (1483-1546). III. Wirkungsgeschichte«, in: Gerhard Müller (Hg.), Theologische Realenzyklopädie, Bd. 21, Berlin/New York 1991, 567-594, 573.

10 Vgl. N. Mecklenburg: »Durch politische Brille und Butzenscheibe«, 1. 11 Ähnlich auch Alexander von Bormann: »Luther im Nationalsozialismus: Die Versöhnung von Wotan und Christus«, in: Ferdinand van Ingen/Gerd Labroisse (Hg.), Luther-Bilder im 20. Jahrhundert. Symposion an der Freien Universität Amsterdam, Amsterdam 1984, 59-78, 61f.

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tens bot die Vorstellung von der Reformation als einem temporalen Prozess, der bislang noch nicht zum Abschluss gekommen war, eine Möglichkeit der radikal-revolutionären Inanspruchnahme ›Luthers‹, ›Luther‹ erscheint als Mann der ›Tat‹. Und schließlich galt ›Luther‹ auch noch als Mann des ›Wortes‹: Er wurde als Gründer einer einheitlichen deutschen Sprache und der schönen Literatur angesehen und so in die Erzählung von der Entstehung einer deutschen ›Kulturnation‹ eingebunden. Die Differenzierung in diese drei dominanten Diskursoptionen ist natürlich eine analytische, und es wird sich zeigen, dass sich alle drei Möglichkeiten der Inanspruchnahme stets überlagerten. Gleichzeitig scheinen die meisten nationalen Rückbezüge auf ›Luther‹ aber auf diese drei Möglichkeiten verpflichtet zu sein, und dabei war es offensichtlich gleichgültig, ob ›Luther‹ von liberaler oder konservativer Seite beansprucht wurde.12 Angesichts der Fülle des Materials13 kann im Folgenden nur exemplarisch verfahren werden: Die Verbindung von Nation und Religion lässt sich

12 Selbstverständlich geschah die Indienstnahme Luthers für die Nation konfessionell nur von protestantischer Seite. Es gab stets auch eine starke katholische Opposition, die sich insbesondere in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts verdichtete, was etwa den großen Erfolg von Johannes Janssens Die Geschichte des deutschen Volkes seit dem Ausgang des Mittelalters, 8 Bde., Freiburg, 18781894 erklärt, in der er ein negatives Bild der Reformation und ihrer Folgen zeichnet. 13 Eine größere Arbeit, die die gesamte Luther-Literatur des 19. Jahrhunderts erschließen würde, fehlt bedauerlicherweise bislang. Für die Zeit des Vormärz vgl. N. Mecklenburg: »Durch politische Brille und Butzenscheiben«. Vgl. auch Günther Hartung: »Luther-Bilder in deutscher Literatur«, in: Ders., Literatur und Welt. Vorträge, Leipzig 2002, 11-32, Hartmut Laufhütte: »Martin Luther in der deutschen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts«, in: Ferdinand van Ingen/Gerd Labroisse (Hg.), Luther-Bilder im 20. Jahrhundert. Symposion an der Freien Universität Amsterdam, Amsterdam 1984, 27-57 und Hartmut Lehmann: »Martin Luther als deutscher Nationalheld«, in: Luther. Zeitschrift der LutherGesellschaft 55 (1984), 53-65. Reiches Material bieten die eher theologisch ausgerichteten Arbeiten von Heinrich Bornkamm: Luther im Spiegel der deutschen Geistesgeschichte. Mit ausgewählten Texten von Lessing bis zur Gegenwart, Göttingen 21970 und Heinz-Hermann Brandhorst: Lutherrezeption und bürgerliche Emanzipation. Studien zum Luther- und Reformationsverständnis im deut-

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am Beispiel des Wartburgfestes 1817 und an Zacharias Werners Drama Die Weihe der Kraft (1806/7) vorführen; die Wirkungskraft der Imagination einer Figur ›Luther‹, die direkt zur (revolutionären) Tat aufzurufen schien, realisierte sich eindrücklich in Karl Sands Mord an August von Kotzebue (1819), der zum Kreis der Unbedingten um Karl Follen gehörte; und die Vorstellung von ›Luther‹14 als einer kulturellen Gründerfigur ist in Heines Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland (1835) dokumentiert.

1. ›GOTTESGLAUBE, DER FUSSET IM VATERLÄNDISCHEN BODEN‹ Wenn Luther als Kirchenmann im 19. Jahrhundert in den Diskurs der Nation eingebunden wird, ist damit ein struktureller Zusammenhang von Nation und Religion angesprochen, den Benedict Anderson in seiner einflussreichen Studie Imagined Communities15 aus dem Jahr 1983 prägnant vorgetragen hat. Der Titel des Textes formuliert bereits die Hauptthese, die die theoretische Diskussion um die Nation tiefgreifend geprägt hat: Nach Anderson ist die Nation eine »vorgestellte politische Gemeinschaft – vorgestellt als begrenzt und souverän.«16 Die Formulierung der ›Vorstellung‹ dient dabei nicht nur dazu, das konstruktivistische Moment von Andersons Ansatz zu betonen, in dem die Nation eben nicht als ›natürlicher‹ Verbund gedacht wird, sondern sie verweist auch ganz praktisch darauf, dass allen größeren schen Vormärz (1815-1848) unter besonderer Berücksichtigung Ludwig Feuerbachs, Göttingen 1981. Für die bildkünstlerische Rezeption Luthers im 19. Jahrhundert vgl. stellvertretend Henrike Holsing: Luther – Gottesmann und Nationalheld. Sein Image in der deutschen Historienmalerei des 19. Jahrhunderts, Köln 2004, PDF abrufbar unter http://kups.ub.uni-koeln.de/2132/ (31.1.2012). 14 Im Folgenden wird im Interesse einer besseren Lesbarkeit auf die Anführungszeichen, die markieren sollen, dass es sich nicht um die real-historische Person, sondern um Luther-Imaginationen handelt, verzichtet, da ›Luther‹ nur noch in diesem Sinne gebraucht wird. 15 Benedict Anderson: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, erw. Neuausgabe, Frankfurt a.M./New York 1996. 16 Ebd. 15, Hervorhebung F.K.

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Gemeinschaften – die über Face-to-Face Kontakte hinausgehen – das Moment der Vorstellung inhärent ist. Auch andere Gemeinschaften sind also vorgestellt, aber sie sind weit weniger wirkmächtig als die Nation, die in letzter Konsequenz sogar den Tod ihrer Mitglieder fordern kann. Die Affinität zum Tod »als der letzten Stufe in einer Schicksalshierarchie«17 teilt die Nation nach Anderson mit der religiösen Gemeinschaft und auch darüber hinaus zeigt sich ein enger Zusammenhang beider Konstrukte. Ohne davon auszugehen, dass Nationalismen (die die Nation als vorgestellte Gemeinschaft erst produzieren) religiöses Denken vollständig ablösten, versteht Anderson das 18. Jahrhundert als historisch bedeutende Schnittstelle, um die Entstehung von Nationalismus und Nation zu begreifen, weil hier die »Abenddämmerung religiöser Denkweisen« mit »der Morgenröte des Zeitalters des Nationalismus«18 zusammenfällt. Diese historische Koinzidenz, die nicht missverstanden werden darf als geschichtliche Notwendigkeit, verweist auf eine ähnliche Struktur beider kultureller Systeme, denn beide verhalten sich ordnungsstiftend zu den existentiellen anthropologischen Fragen und schaffen zugleich eine ähnliche temporale Logik von Geschichte: Mit dem Verfall der Religiosität verschwand das Leid, in das der Glaube eine Ordnung gebracht hatte, keineswegs. Der Zusammenbruch des Paradieses macht den Tod willkürlich und überführt jeden Erlösungsgedanken der Absurdität. Notwendig wurde somit eine Umwandlung des Unausweichlichen in Kontinuität, der Kontingenz zu Sinn. Wie wir sehen werden, waren (und sind) nur wenige Dinge hierzu geeigneter als die Idee der Nation. Auch wenn man Nationalstaaten weithin als »neu« und »geschichtlich« versteht, so kommen die Nationen, denen sie den politischen Ausdruck verleihen, immer aus unvordenklicher Vergangenheit und, noch wichtiger, schreiten in eine grenzenlose Zukunft. Es ist das »Wunder« des Nationalismus, den Zufall in Schicksal zu verwandeln.19

Nationalismen ermöglichen also, sich als Mitglied einer Gemeinschaft zu verstehen und sie wirken sinnstiftend, indem sie dieser Gemeinschaft einen Ewigkeitswert verleihen. Darin ähneln nationale Gemeinschaften den reli-

17 Ebd. 19. 18 Ebd. 20. 19 Ebd. 20.

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giösen Gemeinschaften strukturell, aus denen und gegen die sie, so Anderson, historisch entstanden.20 Die vergleichbare Struktur von Nationalismen und religiösen Denkweisen, die Anderson betont, macht plausibel, warum die Etablierung des Kirchenmanns Luther als Nationalheld so problemlos gelingen konnte. Um das zu verdeutlichen, kann auf eines der eindrücklichsten Ereignisse der national-religiösen Luther-Imagination verwiesen werden, das einen »Meilenstein [darstellt] [...] auf dem Weg, der zur Hochstilisierung Luthers als deutschem Nationalhelden führte«21: das Wartburgfest, das am 18. und 19. Oktober 1817 sowohl zur Erinnerung an Luthers Thesenanschlag 1517 als auch zum Gedenken an die Völkerschlacht bei Leipzig 1813 gefeiert wurde.22 Die Burschenschafter standen mit der Idee, beide Gedenktage zu-

20 Darauf, dass diese historische Abfolge zumindest in Deutschland nicht so bruchlos verlaufen ist, hat die Forschung in letzter Zeit wiederholt hingewiesen. Vgl. aus der jüngeren Forschung, die nicht mehr eine eindeutige Säkularisierungsthese vertritt, sondern vielmehr das Geflecht von Nation, Säkularisierung und Religion in den Blick nimmt, stellvertretend die Sammelbände von Gerd Krumeich/Hartmut Lehmann (Hg.): »Gott mit uns«. Nation, Religion und Gewalt im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Göttingen 2000 und Michael Geyer/Hartmut Lehmann (Hg.): Religion und Nation. Nation und Religion, Studien zu einer unbewältigten Geschichte, Göttingen 2004; darin für einen ersten Forschungsüberblick der einführende Beitrag von Michael Geyer (11-32). 21 Friedrich Wilhelm Kantzenbach: »Luther – Vaterfigur noch fürs 20. Jahrhundert?«, in: Werner Faulstich/Gunter E. Grimm (Hg.), Sturz der Götter? Vaterbilder im 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1989, 38-62, 38. 22 Da sich der Thesenanschlag erst am 31. Oktober 1817 zum 300. Mal jähren sollte, handelte es sich also um eine Vorverlegung zugunsten des Datums der Völkerschlacht (16.-19. Oktober 1813). Im Einladungsschreiben der Jenaer Burschenschaft wird der Akzent auf das Reformationsjubiläum gelegt, die Zusammenlegung wird eher praktisch begründet: »Um aber nicht in Collision zu kommen mit jenen übrigen Feierlichkeiten, welche durch die unsrige leicht gestört werden könnten, und da auch das Siegesfest der Schlacht bei Leipzig in diese Zeit fällt, so sind wir darüber einig geworden, dieses Fest am 18. Oct. 1817 und zwar auf der Wartburg bei Eisenach zu feiern, weil erstens auf diese Art den Entfernteren Zeit und Gelegenheit gegeben wird, Theil zu nehmen an dem Feste, ohne gerade bedeutend zu versäumen [sic!], zweitens ebenfalls die

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sammenzulegen, nicht allein: Schon ein Jahr zuvor hatte Goethe ebenfalls dafür plädiert, wenn auch aus anderen Gründen als die Jenaer Burschenschafter, die schließlich zum Wartburgfest luden. Ausgangspunkt von Goethes Überlegungen waren nicht unbedingt patriotische und keineswegs antifranzösische Ressentiments, sondern vielmehr seine Skepsis gegenüber der protestantischen Jubiläumseuphorie.23 Goethe verband mit der Idee der Zusammenlegung beider Gedenkfeste die Hoffnung, dass damit eine Vertiefung protestantisch-katholischer Konflikte vermieden werden könnte; er wollte ein Fest, das »von allen Glaubensgenossen« gefeiert werden konnte. Dass die Feierlichkeiten nicht nur innerhalb Deutschlands konfessionelle Grenzen überwinden, sondern auch darüber hinaus vereinigend wirken sollten, betonte Goethe nachdrücklich: Ihm schwebte zwar ein »Fest aller Deutschen vor«, das aber nicht nur ein »Nationalfest«, sondern vielmehr ein »Fest der reinsten Humanität«, ein »Weltfest«24 werden sollte.25

Entfernteren nicht um die eigentliche Feier des 18. Oct. gebracht werden durch die Reise, und wir endlich das Fest in drei schönen Beziehungen, nämlich der Reformation, des Sieges bei Leipzig, und der ersten freudigen und freundschaftlichen Zusammenkunft deutscher Burschen von den meisten vaterländischen Hochschulen am dritten großen Jubiläum der Reformation begehen können.« (»Einladungsschreiben der Jenaischen Burschenschaft an die protestantischen Universitäten Deutschlands, 1.8.1817«, in: Hugo Kühn (Hg.), Das Wartburgfest am 18. Oktober 1817. Zeitgenössische Darstellungen, archivalische Akten und Urkunden, Weimar 1913, 11-13, 11). 23 Goethe stand dem religiösen Gehalt und den politischen Folgen der Reformation insgesamt eher distanziert gegenüber. Was ihn an Luther interessierte, war vor allem dessen genialischer Charakter. Darauf verweist etwa die häufig zitierte Formulierung aus einem Brief an Karl Ludwig von Knebel: »Denn, unter uns gesagt, ist an der ganzen Sache [der Reformation, F.K.] nichts interessant als Luthers Charakter und es ist auch das Einzige, was der Menge eigentlich imponiert. Alles Übrige ist ein verworrener Quark, wie er uns noch täglich zur Last fällt.« (Johann Wolfgang Goethe: »Brief an Knebel, 22. August 1817«, in: Ders., Werke, 4. Abt., Bd. 28, hg. v. Bernhard Suphan u. Carl Schüddekopf, Weimar 1903, 227.). 24 J.W. Goethe: »Zum Reformationsfest« [Nachlaß], in: Ders., Werke, 1. Abt. Bd. 42, 2. Abt., hg. v. Bernhard Seuffert u.a., Weimar 1907, 32-34.

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Das Wartburgfest, das ungefähr 500 Studenten und einige Professoren im Oktober 1817 feierten, fand nicht nur aufgrund der Bücherverbrennung wenig Zustimmung des Dichters.26 Der ganz andere Tenor manifestierte sich schon im Vorfeld in einem der Antwortschreiben, die auf die Einladung der Jenaer Burschenschaft folgten: Wir alle finden die Anordnung des Festes zweckmäßig und gut, gewiß wird kein Gemüth dem gemeinsamen, herrlichen Sinn desselben verschlossen bleiben. Aber auch darüber seid ihr ohne Zweifel mit uns einverstanden, daß an diesem Feste, bei der Erinnerung an so treffliche That freien Geistes, ein kräftiges Wort fürs Vaterländische und für die Vereinigung in demselben besonders gut gelingen müsse.27

Das ›Vaterländische‹ kam während des Festes dann in der Tat nicht zu kurz. Luther wurde als Nationalheld der Deutschen gefeiert, der zwar »wohlthätig für alle Völker, am meisten aber für sein deutsches Volk«28 gewirkt habe, wie es in der Festansprache hieß, die der Burschenschafter und Theologiestudent Heinrich Arminius Riemann hielt: Der Gottesglaube, dessen Reinheit Luther uns wieder gegeben, kann nur dann dem Menschen das werden, was er sein soll, wenn er fußet im vaterländischen Boden, wenn er seine Anwendung findet im Vaterlande, durch dieses im bürgerlichen Wir-

25 Vgl. dazu Regine Otto: »Wie feiert man ›ein Fest der reinsten Humanität‹? Nachfragen zu einem Vorschlag Goethes«, in: Christian Kluwe/ Jost Schneider (Hg.), Humanität in einer pluralistischen Welt? Themengeschichtliche und formanalytische Studien zur deutschsprachigen Literatur. Festschrift für Martin Bollacher, Würzburg 2000, 251-261. 26 Vgl. J.W. Goethe: »Brief an Zelter am 16. Dezember 1817«, in: Ders., Werke, 4. Abt., Bd. 28, 334-337. 27 Dietrich Georg Kieser: Das Wartburgfest am 18ten October 1817. In seiner Entstehung, Ausführung und Folgen. Nach Actenstücken und Augenzeugnissen. Nebst einer Apologie der academischen Freiheit und 15 Beilagen, Jena 1818, 94f., Hervorhebung F.K. 28 »Rede im Minnesängersaale der Wartburg gehalten am 18. Oct. 1817 von Riemann, der Theologie Beflissenem, Ritter des eisernen Kreuzes«, in: Hugo Kühn (Hg.), Das Wartburgfest am 18. Oktober 1817. Zeitgenössische Darstellungen, archivalische Akten und Urkunden, Weimar 1913, 56-63, 58.

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kungskreise und weiter im häuslichen Leben. Ohne die innigste Betrübnis können wir deshalb die Jahrbücher der deutschen Geschichte nicht aufschlagen, denn wir sehen, wie so ganz trübe diese schöne Seite des Lebens daliegt, wie einem verderblichen Weltbürgersinn die Vaterlandsliebe weichen muß. 29

Riemann formulierte eine Opposition von ›Weltbürgersinn‹ und ›Vaterlandsliebe‹, die Goethe gerade nicht teilte. Luther wurde von den Burschenschaftern ganz für die Sache des ›Vaterlandes‹ vereinnahmt. Im Wartburgfest vermischten sich Gedenken an die Reformation, affirmatives Nationalgefühl und liberale Bestrebungen und all dies geschah mit einer gehörigen Portion Pathos. Ähnlich wie andere Redner des Wartburgfestes nutzte auch Riemann seine Festansprache um zu zeigen, wie sich dieses Nationalgefühl konkret äußern sollte, und rief zum Kampf »für des Vaterlandes Heil«30 auf. Das ›Heil‹ bestand zum einen in einer dauerhaften Befreiung von den »Fesseln der Zwingherrschaft und Knechtschaft«31 (vor allem durch die Franzosen) und zum anderen in des »Vaterlandes Einigkeit«32 (damit richtete man sich innerdeutsch gegen die feudalabsolutistischen Fürstendynastien und deren Anhänger). Dabei verband Riemann seinen Aufruf mit dem Gedenken an Luther und die Gefallenen der Befreiungskriege gleichermaßen: Du Mann Gottes [Luther, F.K.], du starker Fels der Kirche Christi, der du mit eisernem Muthe gegen die Finsterniß ankämpftest, der du auf dieser Burg den Teufel bezwangst, nimm unser Gelübde an, wenn dein Geist noch in Gemeinschaft mit uns steht! Euch, Geister unserer erschlagenen Helden, Schill und Scharnhorst, Körner und Friesen, Braunschweig-Oels und ihr andern alle, die ihr euer Herzblut vergossen habt für des deutschen Landes Herrlichkeit und Freiheit, die ihr jetzt über uns schwebt, in ewiger Klarheit mit hellem Blick in die Zukunft schaut, euch rufen wir auf zu Zeugen unsres Gelübdes. Der Gedanke an euch soll uns Kraft geben zu jedem Kampfe, fähig machen zu jeder Aufopferung.33

29 Ebd. 58f. 30 Ebd. 61. 31 Ebd. 62. 32 Ebd. 59. 33 Ebd. 61f.

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Luthers theologisches Wirken wird durch die ähnliche rhetorische Struktur der Anrufungen mit dem der Gefallenen enggeführt: Der Tod für das vielbeschworene ›Vaterland‹ erscheint äquivalent mit Luthers Kampf gegen den »Teufel«. Damit gelang Riemann nicht nur eine religiöse Aufwertung der Kriegshelden, sondern auch des Kampfes für das ›Vaterland‹ überhaupt. Im Rückbezug auf Luther erhält der Aufruf »zu jedem Kampfe, [...] zu jeder Aufopferung« einen Sinn, der über das Irdische hinausweist – und es bleibt dabei diffus, ob der Kampf für die Nation oder für die Religion stattfindet, mehr noch: beide scheinen hier als Ziel des geforderten Kampfes gleichsam in eins zu fallen. Luther eignete sich also offensichtlich dafür, Prinzipien von Nationalismus und religiöser Gemeinschaft zu vereinen, obgleich auf dem Wartburgfest weit mehr vom ›Vaterlande‹ als von der Nation die Rede war. Das alte Reich war 1806 aufgelöst worden und die von den Teilnehmern des Wartburgfestes erhoffte politische Einigung eines gemeinsamen Deutschlands trotzdem nicht erreicht. Schon die Zusammenlegung von Reformationsfest und Gedenken an die Befreiungskriege zeigt den Versuch, den aktuellen Kampf um die Einigung des ›Vaterlandes‹ in den Zusammenhang einer historischen Genealogie zu bringen. Luther wurde in Riemanns Rede zum Gewährsmann für die burschenschaftlichen Interessen. Die Politisierung und Nationalisierung der Figur stand dabei im Interesse einer gleichzeitigen religiösen Aufwertung der Nation oder eben des ›Vaterlandes‹. Ein zweites Beispiel für diese charakteristische Überblendung religiöser und nationaler Denkfiguren ist Zacharias Werners erfolgreiches LutherDrama Die Weihe der Kraft. Es wurde am 11. Juni 1806 mit Iffland in der Titelrolle in Berlin uraufgeführt und im selben Monat noch vierzehn Mal gespielt.34 Offenbar hatte Werner mit seinem Drama den Nerv der Zeit ge-

34 Vgl. Sulger-Gebing: »Werner, Friedrich Ludwig Zacharias«, in: Allgemeine Deutsche Biographie (ADB), Bd. 42, Leipzig 1897, 66-74, 69. Für eine etwas ausführlichere Diskussion des Dramas vgl. Gerhard Schulz: Die deutsche Literatur zwischen französischer Revolution und Restauration, Teil 2: Das Zeitalter der Napoleonischen Kriege und der Restauration 1806-1830, 605-607 sowie H. Laufhütte: Martin Luther in der deutschen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, 34-38. Dass das Drama heute noch regelmäßig zitiert wird, ist wohl vor allem auf den Widerruf des 1811 zum Katholizismus übergetretenen Autors mit

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troffen, auch wenn der Text zumindest in der Leseausgabe wenig bühnentauglich erscheint.35 Gleich im Prolog des Dramas wird deutlich, dass historische Korrektheit nicht Werners Anliegen war: »Sey in der Chronik nichts davon zu lesen, / Nicht ihr, dem Ruf des Innern muss ich dienen; / Was im Gemüth gelebt, ist dagewesen!«36 Der sprechende Titel des Dramas zeigt den Kern des vorgeführten Luther-Bildes: Luther wird als Verkörperung der ›Kraft‹ gedacht, die aber der ›Weihe‹ der Liebe bedarf, die durch Katharina von Bora figuriert wird. Den ersten Handlungsstrang bildet folgerichtig Luthers beeindruckender Kampf um die rechte Lehre; man sieht ihn ›kraftvoll‹ bei der Verbrennung der Papstbulle, imposant in einer langen Szene am Reichstag zu Worms – dem Kaiser fällt bei seinem Anblick das Szepter aus der Hand –, aber auch häuslich im Gespräch mit seinen Eltern37. Ähnlich viel Raum wird aber auch Katharinas nicht minder heftigem

der Ode Die Weihe der Unkraft (1814) sowie auf die Diskussion des Dramas in Theodor Fontanes Novelle Schach von Wuthenow (1882) zurückzuführen. 35 Das offenbar publikumswirksam aufgeführte Drama wurde von der zeitgenössischen Kritik selten wohlwollend aufgenommen (vgl. G. Schulz: Das Zeitalter der Napoleonischen Kriege und der Restauration, 607). Auch die Teilnehmer des Wartburgfestes konnten wenig mit dem Text anfangen: Das Drama wurde neben Büchern wie dem Code Napoléon (1804) oder Kotzebues Die Geschichte des deutschen Reichs (1814/15) feierlich verbrannt. Es handelte sich dabei nach Auffassung der Burschenschafter um Bücher, »die der allgemeinen Stimmung des deutschen Volkes nicht zusagte[n]« (»Zugabe des Festes«, in: H. Kühn (Hg.), Das Wartburgfest am 18. Oktober 1817. Zeitgenössische Darstellungen, archivalische Akten und Urkunden, 85). Auch im Akt der Bücherverbrennung machte man im Übrigen Anleihen bei der Reformation, konnte man sie doch als Imitation von Luthers Verbrennung der Papstbulle verstehen (vgl. ebd. 86). 36 Zacharias Werner: Martin Luther, oder Die Weihe der Kraft. Eine Tragödie, Berlin 1807, XIX. Im Folgenden im Fließtext zitiert als WK. 37 Damit ist eine weitere wirkmächtige Semantisierung Luthers im 19. Jahrhundert angesprochen: Luther als (bürgerlicher) Hausvater. Wenngleich dieses LutherBild nicht dezidiert national war, so ist sein politisches Potential nicht zu unterschätzen, denn es »propagierte mit der traditionalistischen Familienmoral zugleich ein patriarchalisch-ständisches Staatsmodell, mit dem Lobpreis von Hausvater- und Gelehrtendasein zugleich die Trennung von Privatheit und Öf-

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Ringen um Luthers Liebe eingeräumt. Am Ende gewinnt die ehemalige Nonne den nach dem gewaltsamen Mord an seinem jungen Famulus Theobald durch die Hand eines Bilderstürmers sichtlich verstörten Reformator für sich: LUTHER (sie kraftvoll umschlingend): Mein Stab und Licht! KATHARINA Mein Retter und mein Heil! ERZBISCHOF (laut ausrufend): Die heil’ge Liebe hat den Tod besiegt! (WK 376)

Die solchermaßen vom Erzbischof gesegnete Vereinigung des Paares präfiguriert ein weiteres, größeres, gleichsam politisches Zusammenfinden, denn nachdem Luther sich auch noch der Treue der Fürsten mit deren »Ritterwort« (WK 377) versichert hat, strömt »Volk jedes Alters und Geschlechts, Bürger, Bauern, Studenten, Bergleute« (WK 378) herbei, um ihren »Vater« (WK 377) zu sehen: LUTHER (feierlich): [...] Jetzt unterlieg’ ich nicht! – Halleluja, ich siege! Die feste Burg ist Gott! – Du Volk der Deutschen schwöre – (indem er sein Schwerdt herauszieht und das Kreutz des Heftes den um ihn stehenden Fürsten vorhält) Kraft – Freiheit – Glauben – Gott! – DIE FÜRSTEN (indem sie zu Luthern treten, und die Finger auf das Heft des Schwerdts legen – feierlich und langsam:) Kraft in Gott! – (das Volk spricht mit erhobenen Händen die Worte nach) BERGLEUTE (im Hintergrunde singend und spielend) Glück auf! Glück auf! – FÜRSTEN UND VOLK (wie vorhin) Freiheit in Gott! – BERGLEUTE (wie vorher) Wir fördern es herauf! DIE FÜRSTEN Glauben – LUTHER (schnell einfallend – mit dem stärksten Pathos – einen Schritt vortretend) An uns und Gott! – KATHARINA (leise – zugleich) An Dich und Gott! FÜRSTEN UND VOLK (zugleich) An uns und Gott! BERGLEUTE Das blinkende Erz

fentlichkeit, die Reduktion politischer auf ›innere‹ Freiheit.« (N. Mecklenburg: »Durch politische Brille und Butzenscheibe«, 5).

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Wir fördern es herauf! Der Vorhang fällt. (WK 378-381)

Die Schlussszene kulminiert im Gründungsakt einer politisch wie religiös konstituierten (deutschen) Gemeinschaft. Das Zusammenspiel von Politik und Religion wird nicht nur anhand der Figuren – auf der einen Seite die Fürsten, auf der anderen Seite Luther und der Erzbischof – deutlich, sondern auch in der doppelten Semantik des Freiheitsbegriffs: Volk, Fürsten und das Liebespaar schwören auf die »Freiheit in Gott« und zugleich »schenk[t]« Luther den Fürsten, »was [sie] lang entbehrt[] – Freiheit!« (WK 377) Insbesondere vor dem Hintergrund der Szene auf dem Wormser Reichstag, in der die deutschen Fürsten fast einhellig hinter Luther stehen – und mit ihm in Opposition zum ungeliebten, weil fremden Kaiser –, wird deutlich, dass es sich hierbei auch um politische Freiheit handelt. Die Gleichzeitigkeit der religiösen und politischen Fundierung von Gemeinschaft zeigt sich auch an Luthers Kostümen. Eigentlich Kirchenmann steht er am Ende des Stücks »in Rittertracht« (WK 342) vor Fürsten und Volk. »[R]itterliche[] Jagdkleidung, mit Mantel und Speer« (WK 304) musste er bereits zu Beginn des 5. Akts gegen seine Mönchskutte tauschen, dort noch widerwillig, wenn auch sein Famulus Theobald bereits hier feststellte, dass dies die Kleidung sei, die seinem Herrn eigentlich gezieme: »Seid ihr denn nicht ein Ritter? – Herr, ich dachte, / Ihr hättet Euch im Doktor nur vermummelt, / Und schient nun ’mal auch wieder, was Ihr seid!« (WK 311) Den als Doktor ›vermummelten‹ Luther sieht man noch im zweiten Akt in seiner Studierstube in Wittenberg sitzen. In der zitierten Schlussszene steht der Reformator als Ritter, nunmehr gar mit Schwert statt Speer in der Hand, umringt vom Volk und spricht die Schwurformel vor: »Du Volk der Deutschen schwöre [...] / Kraft – Freiheit – / Glauben – Gott! –« (WK 379) Die sowohl religiöse als auch politische Semantik dieses Schwurs führt dabei in die Nähe der Begründung einer Nationalreligion – eine Kopplung von »Thron und Altar«, derer man sich insbesondere in Preußen dann mehr und mehr bediente und die der national-konservative Theologe und Politiker Adolf Stoecker später unter dem bekannten

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Schlagwort des »Heiligen Evangelischen Reichs Deutscher Nation« zusammengefasst hat.38

2. ›DIE REFORMATION MUSS VOLLENDET WERDEN! ‹ Luthers Metamorphose vom Doktor zum Ritter in Werners Weihe der Kraft thematisiert über diese »Anbiederung an das Bündnis von Thron und Altar«39 hinaus auch das prekäre Verhältnis von (gelehrtem) ›Wort‹ und (bewaffneter) ›Tat‹. Luther konnte für beides herangezogen werden: Er stand gleichzeitig paradigmatisch für die Kraft des Wortes (dazu später mehr) und für die Notwendigkeit der Tat. Dabei ermöglichte die Rückberufung auf Luther sogar die Rechtfertigung des revolutionären Akts; eine Inanspruchnahme, die in der zeitgenössischen Parole »Die Reformation muss vollendet werden« gipfelte. Mit diesen Worten begründete Carl Ludwig Sand eine Tat, die wohl als radikalstes Beispiel des revolutionären (und hier gar terroristischen) Rückbezugs auf Luther und die Reformation gelten kann. Am 23. Mai 1819 hatte der Student und Burschenschafter, der ein leidenschaftlicher Luther-Verehrer war, den Dichter und russischen Staatsrat August von Kotzebue in dessen Wohnung als ›Vaterlandsverräter‹ erdolcht. In der Schrift Todesstoß dem August von Kotzebue, die Sand während des Mords bei sich trug, versuchte er, seine Tat in einen größeren Sinnzusammenhang einzuordnen:

38 Vgl. zum wechselseitigen Einfluss von Protestantismus und Nationalismus in Deutschland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stellvertretend Gangolf Hübinger: »Sakralisierung der Nation und Formen des Nationalismus im deutschen Protestantismus«, in: Gerd Krumeich/Hartmut Lehmann (Hg.): »Gott mit uns«. Nation, Religion und Gewalt im 19. und frühen 20. Jahrhundert, 233-247. Die Idee der Nationalreligion, die in Preußen dann ganz reelle politische Wirkmacht entfaltete, ist schon bei Herder entwickelt; er verwendet den Begriff in der Adrastea auch in Bezug auf den lutherischen Protestantismus, vgl. hierzu H. Bornkamm: Luther im Spiegel der deutschen Geistesgeschichte, 26f. 39 G. Hartung: »Luther-Bilder in deutscher Literatur«, 27.

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»Ein Christus kannst Du werden!« So erkenne, mein Volk, die Zeit, wo, nach langer Irrfahrt, Freudigkeit und Einheit in’s Leben wiederkehren soll! Die Reformation, vor drei Jahrhunderten begonnen, wollte unser Volksleben nach dem Ebenbilde Gottes erneuen; – sie ist noch nicht vollbracht! denn noch besteht Gewissenszwang, Knechtschaft, Zerrissenheit der Brüder auf unserm Lande, und Keiner kann sich einer christlichen, rein menschlichen Ordnung erfreuen. Brüder, löset die alten Ketten des Papstthums, die Ketten der Herrscher-Willkühr! – Wir Teutsche – ein Reich und eine Kirche! Die Spaltung zwischen geistlich und weltlich sey vernichtet! Glaube, Lehre und That sollen sich in Eins zusammenthun, und in der christlichen Begeisterung des freien teutschen Bürgers neu aufleben! Die Reformation muß vollendet werden! 40

Auch bei Sand war die Herstellung von politischer Einheit untrennbar mit der Entstehung einer protestantischen Nationalreligion verbunden, die »Spaltung zwischen geistlich und weltlich« in seinen Augen offenbar Teil der Misere, dass das »Volksbilde« sich noch immer nicht nach dem »Ebenbilde Gottes« erneuert habe. Die religiöse und politische Rechtfertigung des Mordes, den er bis zu seiner Hinrichtung ein Jahr nach der Tat nicht bereute, erfolgt in der Schrift, indem Sand ihn als direkte Fortsetzung von Luthers Bestrebungen darstellt. Die Auffassung, dass die Reformation unvollendet geblieben bzw. nicht radikal genug durchgeführt worden sei, entstand bereits kurz nach Luthers Tod und wurde in Pietismus und Aufklärung in je verschiedener Weise aktualisiert. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde diese Gedankenfigur dann aber aus ihrem traditionell kirchlich-theologischen Bezugsrahmen gelöst und in einen politischen Kontext übersetzt.41 Wenn Sand sich »ein Reich und eine Kirche« erhoffte, dann zeigt dies die doppelte Zielrichtung der ersehnten Revolution an, die aber als ein und dieselbe empfunden wurde: Die

40 Carl Ludwig Sand: »Todesstoß dem August von Kotzebue«, in: Carl Ernst Jarcke, Carl Ludwig Sand und sein, an dem kaiserlich-russischen Staatsrath v. Kotzebue verübter Mord. Eine psychologisch-criminalistische Erörterung aus der Geschichte unserer Zeit, Berlin 1831, 205-209, 209, Hervorhebung im Original. 41 Vgl. hierzu H.-H. Brandhorst: Lutherrezeption und bürgerliche Emanzipation, 28-34.

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Notwendigkeit der Einheit der Nation wurde religiös legitimiert, sie war in dieser Logik der notwendige Abschluss der Reformation. Sand übernahm diese Vorstellung aus dem radikalen Kreis um Karl Follen. Dieser hatte als Student in Gießen die Gruppe der Unbedingten gegründet und in diesem Kontext das »bemerkenswerteste literarische Produkt [der] ganzen burschenschaftlichen Lyrik«42 verfasst: Das große Lied,43 das aus verschiedenen Gedichten bestand, die »das politische, wie auch religiöse Glaubensbekenntniß der Unbedingten«44 darstellten. Teil dieser Sammlung ist auch das Abendmahlslied freier Freunde, aus dem Sand in seiner Schrift den Vers »ein Christus kannst Du werden« zitierte. Dass Sand seine Tat als konsequente Fortführung der Ideenwelt der Unbedingten begreifen konnte, als Umsetzung des ›Wortes‹ in die ›Tat‹, wird anhand des Abendmahlslieds deutlich: Ihr Geister der Freien und Frommen, Wir kommen, wir kommen, wir kommen, Eine Menschheit zu retten aus Knechtschaft und Wahn, Zur Blutbühn’, zum Rabenstein führt unsre Bahn. Auf Zwingherrn Nacken zu fußen, Lohnt uns auch der Dolch in dem Busen.45

Von dergleichen blutrünstigen Versen wimmelt es nur so in der Gedichtsammlung. Der Aufruf, jeder könne »ein Christus« werden, wird in der Idee des Opfertodes für das »teutsch[e] Vaterland«46 expliziert.47 Auch Luther 42 G. Schulz: Das Zeitalter der Napoleonischen Kriege und der Restauration, 141. 43 Das große Lied zirkulierte erst im Geheimen; veröffentlicht wurde es später durch den ehemaligen Unbedingten Ferdinand Johannes Wit, genannt von Dörring. 44 Ferdinand Johannes Wit, genannt von Dörring: Fragmente aus meinem Leben und meiner Zeit, 1. Band, Leipzig 1830, 429. 45 Karl Follen: »Abendmahlslied freier Freunde«, in: F.J. Wit, gen. v. Dörring: Fragmente aus meinem Leben und meiner Zeit, 1. Band, 438-442, 441. 46 Ebd. 440. 47 Züge der Märtyrerverehrung nahm auch die breite Begeisterung für Sand nach dessen Hinrichtung an. Man versuchte Locken und Blut gleichsam als Reliquien des Verstorbenen zu ergattern und sein Henker errichtete aus den Brettern des

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wird in der Sammlung gewürdigt und auch in diesem Zusammenhang fand sich ausreichend Gelegenheit, es zumindest sprachlich ›bluten‹ zu lassen: Das Christenthum starb, als das Volk sich vergaß, Sein Leichnam, das Pfaffenthum, wucherte baß, In Klauen und Haaren. Der Pfaffe der Pfaffen trat auf und schrie: Ich Papst bin der Hirte, Du Menschheit mein Vieh. Doch Huß, dem die Wahrheit die Mutterbrust bot, Nicht die welsche, die giftige Amme; Der als Priester vermählte den Kelch mit dem Brod, Stand frei, eine Sonne im Abendroth, In der Märtyrer Flamme. Der Unschuld heiliger Schnee zerfloß, Und Martin Luther, der Frühling sproß. Das war Gottes Odem, die Frühsonnenglut Nach der Abendglut blutiger Lohen, Das war der Luther, das freie Blut, Volksblut, germanischer Gottesmuth, Die Geißel der Hohen, Der Wahrheit Flamberg, der Thaten Dolch Auf das Pfaffengewürm, auf den römischen Molch. Du zweiter Hermann, dem Rom sich gebeugt! [...] Die Wahrheit umfaßt er, die Flammenbraut, Wie der Sturm die glühende Wolke; Der Luther, der sprach ja so lauter, so laut, Daß den Pfaffen es graut, dass das Volk sich erbaut’, Heil, Heil unserm Volke!

Schafotts eine Gartenlaube, in der dann burschenschaftlich gesinnte Versammlungen abgehalten wurden, vgl. G. Schulz: Das Zeitalter der Napoleonischen Kriege und der Restauration, 125.

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Im Garten der Freiheit die herrlichste Blum’, Im Volksthum erblühe das Christenthum!

48

Der Luther des als Neujahrslied freier Christen betitelten Gedichts ist ein Krieger: »der Thaten Dolch«, die Wahrheit, die eine »Flammenbraut« ist, die Pfaffen, denen es »graut«, lassen fast vergessen, dass Luther den Dolch nicht selbst in die Hand nahm. Der Vergleich mit dem Cheruskerfürsten Hermann als einem militärischen Held unterstützt dieses Bild des wehrhaften Luther noch. Einem so verstandenen Reformator konnte sich Sand bei seinem terroristischen Mord durchaus nahe fühlen.

3. ›GEISTESFREIHEIT‹, ›SPRACHE‹ UND DIE ›SCHÖNE LITERATUR‹ Carl Ludwig Sands Attentat auf Kotzebue und die Texte der Unbedingten sind wohl die radikalsten Beispiele der Rückberufung auf die noch zu vollendende Reformation und ihren Urheber. Doch der Gedankengang – nämlich die Vorstellung, dass Luther mit der Reformation etwas angestoßen habe, das in der Gegenwart revolutionär zu einem Ende gebracht werden müsse – war keineswegs nur im latent terroristischen Milieu zu verorten. Was bei den Unbedingten mit der Idee einer Nationalreligion verbunden war, war bei Heine ganz anders kontextualisiert. Seine Überlegungen zum Stellenwert der Reformation für Deutschland entfaltete er insbesondere in dem Text Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland (1835), der zunächst in Frankreich unter dem Titel De l’Allemagne (1834/35) erschienen war. In Abgrenzung von Madame de Staëls gleichnamigem Werk, das sich vor allem der spiritualistischen Grundlagen des deutschen Idealismus widmet, fragt Heine in seinem Abriss der deutschen Philosophie seit Luther nach deren sozialer respektive politischer Bedeutung. Dabei entwickelt er ein dreistufiges Geschichtsmodell, in dem auf die Reformation die Ausbildung einer deutschen Philosophie folgt, der sich wiederum die (kommende) politische Revolution anschließen soll:

48 Karl Follen: »Neujahrslied freier Christen«, in: F.J. Wit, gen. v. Dörring: Fragmente aus meinem Leben und meiner Zeit, 1. Band, 442-444, 443f.

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Die deutsche Philosophie ist eine wichtige das ganze Menschengeschlecht betreffende Angelegenheit, und erst die spätesten Enkel werden darüber entscheiden können, ob wir dafür zu tadeln oder zu loben sind, daß wir erst unsere Philosophie und hernach unsere Revolution ausarbeiteten. Mich dünkt, ein methodisches Volk wie wir, mußte mit der Reformation beginnen, konnte erst hierauf sich mit der Philosophie beschäftigen, und durfte nur nach deren Vollendung zur politischen Revolution übergehen.49

Im Anschluss an Hegels dialektische Geschichtsphilosophie geht es Heine bei diesem Dreistufenmodell der religiösen, philosophischen und schließlich politischen Revolution stets um das Verhältnis von ›Gedanke‹ und ›Tat‹.50 In Luther sieht Heine die erhoffte Synthese beider bereits angedeutet: Wie von der Reformation, so hat man auch von ihren Helden sehr falsche Begriffe in Frankreich. Die nächste Ursache dieses Nichtbegreifens liegt wohl darin, daß Luther nicht bloß der größte, sondern auch der deutscheste Mann unserer Geschichte ist; daß in seinem Charakter alle Tugenden und Fehler der Deutschen aufs großartigste vereinigt sind, daß er auch persönlich das wunderbare Deutschland repräsentiert. Dann hatte er auch Eigenschaften, die wir selten vereinigt finden, und die wir gewöhnlich sogar als feindliche Gegensätze antreffen. Er war zugleich ein träumerischer Mystiker und ein praktischer Mann in der Tat. Seine Gedanken hatten nicht bloß Flügel, sondern auch Hände; er sprach und handelte. Er war nicht bloß die Zunge, sondern auch das Schwert seiner Zeit.51

Hier ist Luther beides: Mann des ›Wortes‹ wie Mann der ›Tat‹. Doch Luthers Taten sind paradoxerweise auch seine Worte, die nicht nur Flügel ha-

49 Heinrich Heine: »Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland«, in: Ders: Sämtliche Schriften, Bd. 3, hg. v. Klaus Briegleb, München 2005, 507641, 638. 50 Zum Verhältnis von Heines Ausführungen zu Hegels idealistischer Geistphilosophie vgl. Gerhard Höhn: Heine Handbuch. Zeit – Person – Werk, Stuttgart, Weimar 32004, 347-357. 51 H. Heine: »Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland«, 538, Hervorhebung F.K.

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ben, sondern eben auch Hände. Heine schreibt dem »deutscheste[n] Mann unserer Geschichte« grundlegende Verdienste zu, die alle ursächlich für den weiteren Geschichtsverlauf sind. Neben der Anerkennung der »notwendigsten Ansprüche der Materie«52 (in diesem Zusammenhang findet das pseudolutherische Zitat »Wer nicht liebt Wein, Weiber [sic!] und Gesang, der bleibt ein Narr sein Lebenlang«53 Eingang in den Text) sind das vor allem dreierlei: Die Deutschen verdanken Luther die »Geistesfreiheit«, er gab ihnen »die Sprache« und schließlich eröffnete er ihnen auch noch »ganz eigentlich die schöne Literatur«.54 Diese intellektuelle Trias, die bei Heine letztlich der Grund dafür ist, dass in Deutschland zunächst eine philosophische und (noch) keine realpolitische Revolution stattgefunden hat, steht paradigmatisch für ein drittes Feld, in dem Luther zur wichtigen nationalen Identifikationsfigur wurde: dem der Kultur. Heines Argumentationsstrang korrespondiert mit einer Gedankenfigur, die sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert fest etablierte: mit der Vorstellung, dass die Deutschen von ihren Dichtern und Denkern geprägt seien, ein Gedanke, der seine politische Wirksamkeit im noch heute produktiven Begriff und Konzept der deutschen ›Kulturnation‹ entfaltet.55 Die Idee ist schon 1813 in dem von Heine ungeliebten Werk Madame de Staëls entwickelt, und sie liest sich bei Wolfgang Menzel 1828/1836 so: Die Deutschen thun nicht viel, aber sie schreiben desto mehr. [...] Das sinnige deutsche Volk liebt es zu denken und zu dichten, und zum Schreiben hat es immer Zeit. [...] Was wir auch in der einen Hand haben mögen, in der andern haben wir gewiß immer ein Buch.56

52 Ebd. 540. 53 Ebd. 538. 54 Ebd. 549. 55 Vgl. hierzu Günther Blaicher: »Die Deutschen als ›das Volk der Dichter und Denker‘. Entstehung, Kontexte und Funktionen eines nationalen Stereotyps«, in: Historische Zeitschrift 287 (2008), 319-340. Blaicher kann die heute geläufige Formel ›Volk der Dichter und Denker‹ erst in den 1880er Jahren nachweisen; die Denkfigur des nationalen Stereotyps etablierte sich aber bereits früher. 56 Wolfgang Menzel: Die deutsche Literatur, 1. Teil, Stuttgart 21836, 3f.

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Der Schriftsteller und Literaturkritiker Menzel sieht die Gefahr, dass in Deutschland »nur Bücher statt der Thaten glänzen«57 könnten. Er wendet sich damit gegen die deutsche »Vielschreiberei«58, betont aber letztlich die Stärken der deutschen Literatur: Doch Worte gibt es, die selber Thaten sind. Alle Erinnerungen und Ideale des Lebens knüpfen sich an jene zweite Welt des Wissens und des Dichtens, die von des Geistes ewiger That erzeugt, geläutert und verklärt wird. Und in dieser Welt sind wir Deutsche vorzugsweise heimisch. Die Natur gab uns überwiegenden Tiefsinn, eine herrschende Neigung, uns in den eignen Geist zu versenken, und den unermeßlichen Reichthum desselben aufzuschließen. Indem wir diesem nationellen Hang uns überlassen, offenbaren wir die wahre Größe unserer Eigenthümlichkeit und erfüllen das Gesetz der Natur, das Geschick, zu dem wir vor andren Völkern berufen sind. [...] Das Licht der Ideen, die von Deutschland ausgegangen, wird die Welt erleuchten.59

Die Gedankenfigur, dass die Deutschen besonders viele ›Dichter und Denker‹ hervorgebracht hätten, wird regelmäßig ambivalent bewertet: Denn sie kann einerseits als Formulierung nationaler Stärke verstanden werden, bei Menzel ist das die Hoffnung, dass das »Licht der Ideen« von Deutschland aus die Welt »erleuchten« werde. Andererseits stellt sie aber auch eine Begründung für die Annahme dar, dass es sich bei den Deutschen um ein politisch besonders untätiges – im Sinne von ›revolutionsarmes‹ – Volk handle. Beide Funktionen – Bekräftigung von nationaler Stärke und Argument für das Fehlen einer echten politischen Revolution – konnte auch die Berufung auf Luther im Diskurs erfüllen. Auffällig oft wird Luther dabei zu einer Art Gründungsfigur stilisiert. In Heines Rekurs auf Luther und die Reformation ist äußerst präsent, dass mit Luther etwas ganz Neues auf dem Feld der Kultur begonnen habe. So erörtert er in einem ausführlichen Vergleich der Literatur vor und nach Luther, dass man überhaupt erst ab Luther von »schöne[r] Literatur« sprechen könne.60

57 Ebd. 10. 58 Ebd. 5. 59 Ebd. 11. 60 H. Heine: »Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland«, 549552, 549.

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Vor allem Luthers Bibelübersetzung wurde in diesem Kontext zur Geburtsstunde der deutschen Sprache und Kultur überhaupt erklärt, so etwa bei Friedrich Ludwig Jahn: Luther bleibt ein ewiger Ehrennahme unter den Völkerheilanden, und den Großgeistern seines Volks, selbst bei seinen Glaubensgegnern; und wenn man ihm auch kein anderes Verdienst lassen müßte, als das unsterbliche um die Sprache. […] So ward Luther für das gesammte Deutsche Volk ein Raummacher, Wecker, Lebenserneuerer, Geistesbeschwinger, Ausrüster mit der edelsten Geisteswehr, Herold eines künftigen Bücherwesens, und der Erzvater eines dereinstigen deutschen Großvolks, durch das aufgefundene Vermächtnis einer Gemeinsprache. In ihr, in dem wahren Hochdeutschen, hat er [...] seinem Volke, einen einenden, bindenden, bündenden Geist hinterlassen; der späterhin alle die großen Vorkämpfer angehaucht hat, die mustergültiges Deutsch in ihren Werken verewigten [...].61

Als Luthers größtes Verdienst um die deutsche Nation der Neuzeit erscheint hier das »Vermächtnis einer Gemeinsprache«, die dann politische Einheit erst ermöglichte – eine Argumentationsfigur, die auch heute noch (man denke an Knopps Fernsehreihe Die Deutschen) überaus präsent ist. Offensichtlich sind Reste der nationalen Luther-Imaginationen also auch in gegenwärtigen Diskursen wirksam, wenngleich sie auch nicht mehr so prominent sind wie im 19. Jahrhundert. In dessen erstem Drittel etablierte sich eine mächtige Figur des Nationalhelden ›Luther‹, die mit verschiedenen Charakteristika und Bedeutungspotentialen ausgestattet war. Abschließend lassen sich die drei vorgestellten dominanten Möglichkeiten der Einbindung Luthers in den nationalen Diskurs noch einmal an einem der Schlagworte des 19. Jahrhunderts verdeutlichen: dem der ›Freiheit‹. Dass Luther die ›Freiheit‹ gebracht habe, wurde immer wieder als Argument für seine nationalen Verdienste angeführt: ›Freiheit‹ konnte dabei religiös konnotiert, aber auch real-politisch gemeint sein oder im Sinne von Heine ›Geistesfreiheit‹ bedeuten. Im Zuge der kontinuierlichen Resemantisierungsprozesse wurde Luther als Nationalheld im Diskurs der Nation fest etabliert. Begreift man Luther dabei als Materialisierung des Begehrens nach nationaler Identität, dann kann man insbesondere in der zweiten

61 Friedrich Ludwig Jahn: Deutsches Volksthum, Leipzig 91813, 161 u. 163f., Hervorhebung im Original.

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Hälfte des 19. Jahrhundert weitere Verbildlichungsstrategien des Nationalhelden verfolgen: davon zeugen die zahlreichen Lutherdenkmäler, die allerorten entstanden.

Deutsches Waidwerk Jägermeister und Jagdgemeinschaft im Heimatfilm der 1950er Jahre CHRISTIAN SCHMITT

Zu Beginn der 1950er Jahre ist die Welt des deutschen Jägers nicht mehr so sorgenfrei wie noch zwanzig Jahre zuvor. Wie ein nostalgischer Nachruf auf die gute alte Zeit liest sich das Vorwort eines Buches über Waidwerk zwischen den Zeiten (1950), in dem der Jagdfunktionär Ulrich Scherping über die Gründe für den angebrachten Zweifel am deutschen Jagdwesen aufklärt: Zu hart hat viele das Schicksal getroffen, zu schwer lastet auf manchem der Verlust der Heimat, und zu einsam ist es um uns geworden. Zum fröhlichen Jagen gehört eine gewisse Unbekümmertheit, gehört die Möglichkeit, sich freizumachen von den täglichen Sorgen. Mir will das nicht mehr so recht gelingen.1

Was sich hier bereits andeutet, ist eine auffällige Verschränkung von zwei semantischen Bereichen: dem Bereich des Jagdwesens und dem Bereich zeitgenössischer gesellschaftlicher Fragen. Zur Disposition steht insgesamt nicht nur ersterer, sondern auch, wie es fortan mit Deutschland weitergehen soll. Der ›täglichen Sorgen‹ sind zu dieser Zeit in der jungen Bundesrepublik tatsächlich viele: Die Städte liegen zu großen Teilen in Trümmern. Etwa ein Fünftel der Bevölkerung ist, darauf spielt Scherping an, ›entwurzelt‹

1

Ulrich Scherping: Waidwerk zwischen den Zeiten, Berlin/Hamburg 1950, 9.

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und streift auf der Suche nach einer neuen Heimat durch das Land, kritisch beäugt von den Alteingesessenen. Die innerdeutsche Teilung beginnt sich im Zeichen des Kalten Krieges als dauerhaft abzuzeichnen. An ›fröhliches Jagen‹ ist schon deshalb kaum zu denken, weil die Besatzungsmächte sämtliche Waffen konfisziert haben – von nationaler Souveränität kann auch in solchen Dingen vorerst keine Rede sein. Es gibt allerdings Hoffnung. Sich von den ›täglichen Sorgen‹ freizumachen, stellt insbesondere jene Institution in Aussicht, die den Krieg weitgehend unbeschadet überstanden hat und produktions- wie erzähltechnisch nahtlos an die Zeit vor 1945 anzuknüpfen weiß: das Kino. Vor allem Heimatfilme, die ab 1950 gut ein Viertel der westdeutschen Filmproduktion ausmachen, locken die Massen in die Kinos und erklären die Flucht aus dem Alltag zum Programm.2 Die Blütezeit des deutschen Heimatfilms wird bis zum Ende der 1950er Jahre dauern. »Fast programmatisch fungierte das Kino der Adenauer- und Erhardzeit«, so Anton Kaes, als »Traumwelt«, in der »die Wünsche nach einem heilen Deutschland, nach schönen heimischen Landschaften und edlen deutschen Menschen erfüllt wurden«.3 Die Heimatfilme der 1950er Jahre gehen allerdings nicht in ihrer eskapistischen Funktion auf, sondern stehen mindestens ebenso deutlich im (ideologischen) Dienste der Nation, die sie in ihren Bildwelten neu zu begründen suchen. Dem infrastrukturellen und marktwirtschaftlichen Aufbau der 1950er Jahre steht dieser imaginäre Wiederaufbau, der auf eine Identitätskrise sondergleichen reagiert, gleichberechtigt zur Seite. Im Heimatfilm, in den Weiten der Lüneburger Heide oder den Bergwäldern der Alpen, sind auch die deutschen Jäger wieder in ihrem Element. Die Semantik der Jagd, des Jägers und der Jagdgemeinschaft scheint sich besonders zu eignen, um deutsche Identität zu repräsentieren (und zu garan-

2

Vgl. zum deutschen Heimatfilm der 1950er die Studie von Johannes von Moltke: No Place Like Home. Locations of Heimat in German Cinema, Berkeley u.a. 2005; sowie Jürgen Trimborn: Der deutsche Heimatfilm der fünfziger Jahre. Motive, Symbole und Handlungsmuster, Köln 1998; Gertraud Koch et. al.: »Die fünfziger Jahre. Heide und Silberwald«, in: Wolfgang Kaschuba et.al. (Hg.), Der deutsche Heimatfilm. Bildwelten und Weltbilder, Tübingen 1989, 69-95. Zu den Besuchs- und Produktionszahlen vgl. ebd. 78.

3

Anton Kaes: Deutschlandbilder. Die Wiederkehr der Geschichte als Film, München 1987, 22.

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tieren). Über diese Semantik kann die nationale Gemeinschaft sich noch einmal ihrer selbst versichern. Diesem Zusammenhang zwischen Jagdsemantik und Gemeinschaftsdenken, der bisher kaum in den Fokus der Forschung geraten ist, werde ich im Folgenden am Beispiel zweier Filme nachgehen. Von (1) psycho- und diskursanalytischen Überlegungen zur kollektiven Identifizierung ausgehend, stehen dabei vier Aspekte im Vordergrund. In Hans Deppes GRÜN IST DIE HEIDE (1951), der als traditionsbegründender Film im Zentrum der Analyse steht, ist das zunächst die Figur des Wilderers, die nicht nur herangezogen wird, um die Dynamik von Eigenem und Fremdem zu figurieren, sondern auch, um die zeitgenössische Flüchtlingsproblematik einer imaginären Auflösung zuzuführen (2). An der Figur des Jägers lassen sich Fragen der Autorität und des Blickes verhandeln (3), während Jagdreviere und -objekte als einheitsstiftende Projektionsflächen divergenter Sehnsüchte herhalten (4). Eine weitere Dimension der Jagdsemantik macht Alfons Stummers FÖRSTER VOM SILBERWALD (1955) stark: Hier steht die Jägerfigur als hegender Förster im Zeichen zivilisationskritischer Fragen, die mit sozialdarwinistischen und christlichen Positionen enggeführt werden (6). Insgesamt sind beide Heimatfilme nicht nur als exemplarische Zeugnisse einer zeitgeschichtlichen Situation zu verstehen, für die das Nationale zum Problem geworden ist. Sie fungieren darüber hinaus auch als Problemlöser, die an einer Neubegründung nationaler Identität mitarbeiten, indem sie diese auf ein Bildfeld zu verpflichten suchen, das die Imagination der Gemeinschaft noch einmal erlaubt. Und das tun sie im Verbund mit anderen Diskursen, deren Spuren sich in den Filmen abzeichnen. Gerade auch diesen Spuren, die unter anderem in die jagdkundliche Fachliteratur führen (5), werden die folgenden Überlegungen zu folgen versuchen, um den Filmen jene ›soziale Energie‹ (Stephen Greenblatt) der Zeit zurückzuerstatten, die sich in ihnen manifestiert.

1. GEMEINSCHAFT ALS VERSPRECHEN Gemeinschaften, so könnte man den Konvergenzpunkt aktueller psychound diskursanalytischer Theorieangebote zusammenfassen, existieren gar nicht – jedenfalls nicht im Sinne einer irgendwie naturwüchsigen Entität. Ihre Existenz (und dann auch: ihre Kohärenz) verdankt sich vielmehr diskursiven Artikulationsprozessen: Codierungen und Mythen, die der Ge-

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meinschaft eine für einzelne Individuen anschlussfähige Form geben. Psychoanalytische Überlegungen zu Prozessen der Gemeinschaftskonstitution, wie sie jüngst Slavoj Žižek vorgetragen hat, bleiben dabei allerdings nicht stehen. Sie versuchen vielmehr, hinter solche konkreten Formen, in denen Gemeinschaftlichkeit artikuliert wird, zu blicken und die spezifischen Dynamiken zu erklären, die solchen diskursiven Artikulationsprozessen zugrunde liegen. In dieser Perspektive stellt sich dann heraus (so die psychoanalytische Erklärung), dass der Wunsch nach stabilen Gemeinschaftskonstruktionen – nach Bildern, Erzählungen und Mythen, die die Homogenität und Kontinuität von Gemeinschaften repräsentieren – genau wie der Wunsch nach einem stabilen Selbstbild auf einem grundlegenden Mangel beruht. In diesem Sinne teilen alle diese Konstruktionen eine phantas– matische Qualität: Sie behaupten Einheitlichkeit, wo eigentlich Differenz die Regel ist und täuschen über die Tatsache hinweg, dass es die eine (einheitliche) Gemeinschaft nicht gibt, nicht geben kann.4 Zu diesem Mangel tritt eine weitere Entität, die bei Žižek ›Genießen‹ heißt und die man als diskursbegründend verstehen kann. In Žižeks Perspektive, die insbesondere die Nation im Blick hat, entstehen Gemeinschaften auf der Grundlage eines geteilten Strebens nach diesem Genießen, wobei sie gleichzeitig die Tatsache zu verdecken suchen, dass das Genießen niemals erreicht werden kann. Jeder Gemeinschaftsdiskurs ist in dieser Logik eine »elementare ideologische Verfahrensweise«5, ein Versprechen, das die Rückkehr zu einem lustvollen Befriedigtsein, dem Genießen, verspricht; ein Versprechen, das aber grundsätzlich deswegen nicht haltbar ist, »weil eine solche Rückkehr das Brechen des Verbots nach sich ziehen würde, welches sowohl die Sprache als auch das Subjekt gründet«.6

4

Um diesen produktiven und performativen Aspekt von Identität stärker in den Blick zu rücken, wurde von anderer Seite der Begriff der ›Identifizierung‹ starkgemacht. Vgl. Stuart Hall: »Introduction: Who Needs ›Identity‹«, in: Ders./Paul DuGay (Hg.), Questions of Cultural Identity, London u.a. 1996, 1-17.

5

Slavoj Žižek: »Jenseits der Diskursanalyse«, in: Judith Butler u.a., Das Undarstellbare der Politik. Zur Hegemonialtheorie Ernesto Laclaus, Wien 1998, 123131, 130.

6

Judith Butler: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Frankfurt a.M. 1997, 274.

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Von diskursanalytischer Seite sind die psychoanalytischen Positionen aus verschiedenen Gründen kritisiert worden. Meines Erachtens sind die entscheidenden Fragen folgende. Erstens: Ist es legitim, eine (psychische) Substanz anzunehmen, die der Existenz von Gemeinschaftsdiskursen vorausgeht und deren Ausformungen zu erklären in der Lage wäre? Zweitens: Was geriete in den Blick, wenn man das annimmt? Und drittens: Kann diese Sichtweise für historisch je spezifische Ausformungen von Gemeinschaftsdenken überhaupt produktiv sein, falls sie davon ausginge, dass die grundlegenden Dynamiken sich nicht verändern? Genau diese Dynamiken sind es nun aber auch, die das psychoanalytische Theorieangebot genauer zu beschreiben erlaubt. Davon ausgehend eröffnen sich Einsichten auch, wie die folgenden Analysen zeigen werden, für die spezifischen Formen, mittels derer Gemeinschaftlichkeit kodiert wird. Žižek diskutiert solche Formen als ›politische Signifikanten‹, als besondere Form entleerter Signifikanten, über die sich Gemeinschaftsdiskurse besonders gut etablieren lassen.7 Solche Signifikanten – etwa die ›Heimat‹ oder die ›Freiheit‹ – sind gewissermaßen weniger codiert als dass sie dazu aufrufen, sie je individuell aufzufüllen: Sie enthalten das Versprechen von Gemeinschaft – und in psychoanalytischer Perspektive zugleich das Versprechen einer Überwindung des Mangels und einer Rückkehr zum Genießen. Ich habe an anderer Stelle ausführlich pathetische Artikulationen als rhetorische Formen untersucht, die eben solche »Versprechen des Signifikanten«, wie Judith Butler es nennt, inszenieren.8 Žižek selbst führt als Beispiel ein Narrativ (hier gleichbedeutend mit Mythos9) an: das Narrativ des Juden in der antisemitischen Ideologie. Insofern das ideologische System seine Konsistenz von der Organisation seines heterogenen ›Rohmaterials‹ in ein kohärentes Narrativ bezieht, ermöglicht die genann7

Vgl. dazu auch Urs Stäheli: »Die politische Theorie der Hegemonie. Ernesto Laclau und Chantal Mouffe«, in: André Brodocz/Gary S. Schaal (Hg.), Politische Theorien der Gegenwart II. Eine Einführung, Opladen 2001, 193-223.

8

J. Butler: Körper von Gewicht, 274. Vgl. Christian Schmitt: »Hermannspathos oder: Wie man ›Deutschland‹ erweckt. Zur rhetorischen Konstruktion der Nation um 1813/18«, in: Martina Wagner-Egelhaaf (Hg.), Hermanns Schlachten. Zur Literaturgeschichte eines nationalen Mythos, Bielefeld 2008, 285-305.

9

Vgl. dazu den Band von Helmut Berding (Hg.): Mythos und Nation. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit 3, Frankfurt a.M. 1996.

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te Entität die Erfahrungen der Wirtschaftskrise, der politischen Frustration und der ›nationalen Demütigung‹ in ein einzelnes großes Narrativ zu vereinigen. Sobald man als den ihnen gemeinsamen Faden den ›jüdischen Plot‹ ausmacht, werden sie zu Bestandteilen desselben (narrativen) Plots.10

Was ergibt sich daraus für die folgenden Film- und Textanalysen? Wenn diese Analysen den Verschränkungen zweier Semantiken, der Semantik der Jagd und der Semantik der Gemeinschaft, nachzugehen versuchen, so gilt es erstens, die von der Psychoanalyse vorgeschlagene Fundierung solcher Codierungen mit zu bedenken. Das Jagdwesen scheint dem nationalen Diskurs der Zeit um und nach 1950 ein Bildfeld anzubieten, in dem die Nation als geschlossene, homogene und kontinuierliche Gemeinschaft weiterhin imaginierbar ist und das das Versprechen der Gemeinschaft weiter ermöglicht – trotz aller historischen Erfahrungen (Krieg, Völkermord, Diktatur) und konträrer aktueller Entwicklungen (Flüchtlinge, deutsche Teilung). Die Filme geben, das werden die Analysen zeigen, aber auch Dinge zu lesen, die von der psychoanalytischen Theorie zu wenig bedacht worden sind.11 Dazu gehört insbesondere die Frage der Autoritäten, die über Codierungen und Mythen verfügen. Eine weitere Frage ist semiotischer Art und sie betrifft den Status jener ›leeren Signifikanten‹, die Žižeks Modell als privilegierte Formen von Gemeinschaftsdiskursen starkmacht: Ist es, angesichts der behaupteten Leere, möglich, diese Signifikanten anders zu füllen und damit andere kollektive Identitäten zu stiften? Das Ziel der folgenden Analyse wird also nicht nur darin bestehen, die Verbindungen von Jagd- und Gemeinschaftsdiskurs nachzuzeichnen, sondern auch die Spannungen in den Blick zu nehmen, die eine solche Verschränkung (wie jeder Prozess der Identitätskonstruktion) beinhaltet. Diese Spannungen finden sich auch im Heimatfilm der 1950er Jahre, obgleich dieser sie mit seinen idyllischen Bildern so augenfällig zu verdecken scheint.12 Und genau hier ist meines Erachtens auch die Dimension des 10 Slavoj Žižek: Denn sie wissen nicht, was sie tun. Genießen als ein politischer Faktor, Wien 1994, 23. 11 Ich folge hier den produktiven Anregungen von Judith Butler. Vgl. J. Butler: Körper von Gewicht, v.a. 259-303. 12 Vgl. auch J. von Moltke: No Place Like Home, der eine ebensolche Aufmerksamkeit auf die »instabilities and contradictions« (82) einfordert, wie sie sich im Heimatfilm manifestieren, und auf weitere Ansätze dieser Art hinweist.

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Imaginären anzusiedeln, die in Filmen zudem auf die Bildlichkeit von Prozessen der Identitätsartikulation bezogen ist. Insofern das Kino als »Institution der Imaginarisierung schlechthin«13 von Prozessen der Gemeinschaftsbildung nicht nur erzählt, diese in Erzählungen und Figuren repräsentiert, sondern sie auch, als Dispositiv und Apparatur selbst installiert und vor Augen führt, ist es zuletzt auch diese Bildlichkeit, die im Falle des Films bedacht werden muss.

2. WILDERER: DIEBE DES GENIESSENS Slavoj Žižeks Narrativ/Mythos des Juden in der antisemitischen Ideologie, das/den ich kurz angesprochen habe, findet sich an prominenter Stelle auch in seinem Essay zum Nationalismus – allerdings mit leicht verändertem Personal. Unter dem Titel Der Diebstahl des Genießens erzählt Žižek diese Geschichte, um das Verhältnis von (nationaler) Gemeinschaft und Fremden modellhaft zu fassen und zugleich die diesem Verhältnis zugrunde liegende (rassistische) Dynamik analytisch einzuholen.14 Sie an dieser Stelle noch einmal zu erzählen, erübrigt sich insofern, als Deppes Film GRÜN IST DIE HEIDE die gleiche Geschichte erzählt, also den psychoanalytischen (Meta-) Mythos bestätigt. Der Film bezeugt damit die Gültigkeit des Modells für eine spezifische historische Situation. Er gibt dem Modell allerdings auch eine bestimmte Gestalt: Was im antisemitischen Narrativ der ›Jude‹ ist und in Žižeks modellhafter Refiguration des Mythos als ›Dieb‹ in Erscheinung tritt, das ist im Film der ›Wilderer‹.15 Entsprechend wird die Dorfgemeinschaft, die der Wilderer (nicht nur) in diesem Heimatfilm stört, als Repräsentation der nationalen Gemeinschaft lesbar.

13 Torsten Hahn: »Das Subjekt des Spektakels. Das Imaginäre im Kino«, in: Erich Kleinschmidt/Nicolas Pethes (Hg.), Lektüren des Imaginären. Bildfunktionen in Literatur und Kultur, Köln u.a. 1999, 179-201, 188. 14 Vgl. Slavoj Žižek: »Genieße Deine Nation wie dich selbst! Der Andere und das Böse – Vom Begehren des ethnischen ›Dings‹«, in: Joseph Vogl (Hg.), Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen, Frankfurt a.M. 1994, 133-164. 15 Dass es hier um eine Mythologie geht, darauf weist Žižek selbst noch einmal explizit hin. Vgl. S. Žižek: »Genieße Deine Nation«, 137f.

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Abbildung 1: Jägergespräche (Grün ist die Heide)16

Bereits die Eröffnungssequenz des Films zeigt, wie diese Übertragung funktioniert. Wir werden zum Zeugen eines Dialogs zwischen zwei Jägern, dem alten Oberförster und dem Jungförster Walter Rainer (Rudolf Prack): »Man gibt sich alle Mühe, man will den Wald wieder aufbauen und seinen Tierbestand, und da ist so ein Kerl, der alles sabotiert und einem die besten Hirsche und Böcke wegschießt.« Gleichsam zwanglos eröffnet die Semantik des ›Wiederaufbaus‹ hier die Übertragung des Wilderer-Plots auf die gesellschaftliche Realität um 1950. Unklar bleibt allerdings zunächst die Identität des Wilderers. Fest steht lediglich, dass es einen solchen gibt. Eine Vermutung, die Rainer wenig später ausspricht, macht die Parallele zu Žižeks Narrativ ganz deutlich: »Das muss ein Mensch sein, der aus Passion wildert. Der von einer unseligen Leidenschaft besessen ist. Das Wildbret lässt er doch immer liegen.« Der Wilderer (wer immer es sein mag) wird hier lesbar als jener Andere, der (scheinbar) Zugriff auf ein Genießen hat, das der Gemeinschaft versagt ist. Was er dieser Gemeinschaft entwendet hat, nennt Žižek deren ›Ding‹ – im Film erfährt dieses Ding eine erste Konkretisierung in der Replik des Oberförsters auf Rainers Vermutung: »Und die Geweihe, die Trophäen, die nimmt er immer mit«. Von da an ist die Heidegemeinschaft, von der der Film erzählt, über die Differenz zu diesem Wilderer definiert. Der Blick auf

16 Alle Abbildungen mit freundlicher Genehmigung der Beta Film GmbH.

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den Anderen ersetzt den Blick auf das Eigene; die Unterstellung eines Diebstahls verdeckt die Tatsache, dass das Diebesgut eigentlich immer schon verloren war. Die Gemeinschaft entsteht dergestalt als phantasmatisches Konstrukt, vermittels des Glaubens an die gemeinsame ›Sache‹, der Berufung auf einen spezifischen way of life und mittels der wiederholten tautologischen Beschwörung des Dings – soweit noch einmal das Žižek’sche Modell.17 Kompliziert wird es im Film nun allerdings, als es darum geht, den Signifikanten dieses ›Wilderers‹ einer Figur zuzuweisen. Drei Möglichkeiten spielt der Film durch. Der erste Verdacht fällt auf drei musizierende Vagabunden, die die Heide durchstreifen, nicht gerne arbeiten und sich nach eigener Aussage ›mit dem Himmel zudecken‹.18 Rainers Verdacht – »Ob die nicht auch wildern?« – wird jedoch vom Oberförster sogleich zurückgewiesen. Beim zweiten Verdächtigen, dem Ostflüchtling Lüder Lüdersen (Hans Stüwe), der sich mit seiner Tochter Helga (Sonja Ziemann) vorübergehend bei seinem Bruder eingerichtet hat, erhärtet sich der Verdacht, den wiederum Rainer hegt. Des Försters Vermutung, der Wilderer müsse von ›einer unseligen Leidenschaft‹ besessen sein, bestätigt sich voll und ganz, wird doch die Jagdlust von Lüdersen als pathologische Kompensation eines Verlustes gezeigt. Dieser Wilderer wildert im niedersächsischen Revier, weil er sein ostpreußisches Revier verloren hat. Er wähnt sich gleichsam in heimatlichen Gefilden, wird also als Figur entworfen, die einen weiteren entleerten Signifikanten, die ›Heide‹, zu seinen Gunsten aufzufüllen vermag – was ihm zu einer illusionären Heimat verhilft. Er selbst sieht sich dabei übrigens durchaus im Recht. Dadurch wird er für die Gemeinschaft zum Problem. Lüdersen selbst erhält am Ende des Films das Wort und darf seine Wilderei – wenngleich für die intradiegetischen Zuhörer nur andeutungsweise – in einer kleinen Ansprache begründen: Wenn ich hier im Walde war, dann hab ich mich oft wieder wie zuhause gefühlt. Die schöne Natur, sie hat mich hinweggetröstet über das, was ich verloren habe. Ich war

17 Vgl. S. Žižek: »Genieße Deine Nation«, v.a. 134-139. 18 Die ›Einstellung des Fremden zur Arbeit‹, in der sich die Vagabunden so offensichtlich von der Heidegemeinschaft unterscheiden, zählt S. Žižek: »Genieße Deine Nation«, 137, zu den Phantasmen vom perversen ›Genießen des Fremden‹.

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nahe daran, mich selber zu verlieren. Aber durch Güte und Verständnis, wie sie mir hier entgegengebracht worden sind, habe ich mich wiedergefunden.

Am Ende wird Lüdersen dann zum Teil der Gemeinschaft. Im Falle dieses Ostflüchtlings, der den anderen Entwurzelten seiner Art ein Gesicht gibt, entfaltet der Film sein integratives Potenzial. Johannes von Moltke hat in seiner Studie No Place Like Home die filmischen Mechanismen dieser Integration mustergültig herausgearbeitet.19 Besonders deutlich manifestieren sie sich in jener Sequenz am Ende des Films, deren Schauplatz ein Schützenfest ist und wo schlesische Flüchtlinge gemeinsam ein Lied vom deutschen Riesengebirge anstimmen dürfen. Im integrativen Blick der Kamera fließen dabei schlesische und niedersächsische Wappen ebenso ineinander wie Jägertrachten und Landestrachten ununterscheidbar werden. Der Schwenk der Kamera auf den überkuppelnden Himmel, mit dem der Film auch eingesetzt hatte, verweist hier noch einmal auf die integrative Funktion landschaftlicher Aufnahmen, wie sie für den Film insgesamt festzustellen ist – worauf ich noch zurückkommen werde. Mit der Eingliederung Lüdersens in die Heidegemeinschaft verschiebt sich die Frage nach dem ›Diebstahl des Genießens‹ erneut auf ein anderes Feld. Der Verdacht trifft diesmal eine Figur, die sich am Ende als wirklicher Wilderer entpuppt, sich nicht der Gemeinschaft zurechnen lässt und auch vor Mord nicht zurückschreckt. Es handelt sich um den Raubtierwärter Pistek, der wiederum eine Gruppe personifiziert: das fahrende Volk eines Zirkus, der vorübergehend in der Heide seine Zelte aufgeschlagen hat. Bereits der erste Auftritt dieser Figur im Film ist vielsagend, verfügt doch Pistek über keinen Pass. Sein nicht beglaubigter Name steht, ganz im Gegensatz zu Lüder Lüdersen, im Zeichen des Fremden. Während der tautologische Name des Ostflüchtlings die zu erwartende Integration in den norddeutschen Sprachraum bereits ankündigt, haftet Pisteks Name die Konnotation des (fremden) Östlichen an. Metonymisch wird dieser Raubtierwärter zudem über seine Schützlinge, Tiger und Löwen, an eine Form des animalischen Genießens gebunden. Seine Jagdmethode ist ebenso bezeichnend, hat er doch als Fallensteller keinerlei Anteil an jener ›Waidgerechtigkeit‹, die als moralisches Signum der Gemeinschaft fungiert und auf die ich noch zu sprechen kommen werde. Nicht einmal seine Motivation, etwa als Verantwortungsbewusstsein den ihm anvertrauten Tieren gegenüber, lässt der 19 Vgl. J. von Moltke: No Place Like Home, 91.

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Film dabei gelten. Pistek handelt aus purem Eigennutz, steckt er doch das Geld, das er zum Erwerb von Futterfleisch erhält, in die eigene Tasche. Das gemeinschaftliche ›Ding‹ manifestiert sich in seiner Gegenwart als pures Fleisch – und nicht mehr als Trophäe, wie bei Lüdersen –, das zudem noch verkäuflich ist. Abbildung 2: In der Manege (Grün ist die Heide)

Liest man Pistek als Repräsentanten einer Gruppe, so gibt es allerdings im Film einen Ort, an dem dieser Andere mitsamt seiner »perversen«20 Art des Genießens bestens aufgehoben ist – und das schon bevor er am Ende im Gefängnis landen wird: den Zirkus. In Form einer einschließenden Ausschließung fungiert die Manege im Film als integrativer Rahmen, in dem selbst das Schießen auf einen Menschen erlaubt ist; allerdings nur im Rahmen einer Blickkonstellation, die das Fremde als solches markiert und zugleich beherrschbar macht.21 In der Manege darf der Clown auf den Zwerg schießen, während das Publikum belustig oder fasziniert dem Spektakel zu20 S. Žižek: »Genieße Deine Nation«, 137. 21 J. von Moltke: No Place Like Home, 87, nennt die Zirkussequenzen als Beispiel für die vielfältigen ›visual attractions‹ des Heimatfilms, die immer wieder die Handlung unterbrechen. Seine richtige Beobachtung ist meines Erachtens um die ideologische Dimension dieser Zirkusbilder zu ergänzen, die eben auch Motive, Zeichen und Blickstrukturen der Narration aufgreifen und reflektieren.

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schaut, das im Film zusätzlich von der statischen Frontalperspektive der Kamera in einem sicheren Rahmen verankert wird. Insgesamt stellt das allerdings lediglich eine vorübergehende Form der Integration dar. Am Ende muss der Zirkus ebenso weiterziehen wie jene drei Vagabunden, auf die ich nun noch einmal zurückkomme. Ich möchte das in Form eines Plädoyers tun. Allzu oft wurden diese drei Figuren, die in gleicher Besetzung auch andere Heimatfilme durchstreifen, als belanglose sidekicks abgetan; als Figuren, die immer wieder die Handlung unterbrechen und komisch, aber letztlich harmlos sind.22 Was aber wäre, wenn diese drei Vagabunden eine andere Perspektive auf den Film und seine Modellierung der Gemeinschaftskonstitution erlauben würden? Genau dies ist meines Erachtens der Fall, insofern diese Figuren den diskutierten Mechanismus von Integration und komplementärer Ausschließung zu stören scheinen. In diesem Sinne figurieren die Vagabunden einen ›dritten Weg‹. Das gilt zunächst auf der Ebene der Narration: Weder werden die drei im Laufe des Films sesshaft und damit ganz zum Teil der Gemeinschaft, noch nehmen sie am Ende das Angebot wahr, sich dem Zirkus anzuschließen. Stattdessen stehlen sie den Dieben (dem Zirkus) zunächst die Show, dann eine Wurst und behaupten dazu keck: »Bleibe im Lande und nähre dich redlich« – wobei der Satz in dem Moment, wo er ausgesprochen wird, schon der gezeigten ›Realität‹ widerspricht. Eine gemeinschaftliche Maxime wird dabei ebenso desavouiert wie das Narrativ des Diebstahls.23 Ihr subversives Potenzial erfasst aber nicht nur die auf Eindeutigkeit verpflichtete Sprache, sondern auch das Blickregime der Zirkusmanege. Die illusionistische Vorführung eines Zauberkünstlers, die sie eigentlich verschwinden lassen soll, zerstören die drei dadurch, dass sie den doppelten Boden sichtbar machen. Sie lassen sich aber nicht nur nicht zum

22 In diesem Sinne weist etwa Jürgen Trimborn auf die »verharmlosten Probleme der bettelnden Musikanten« (107) hin, ohne jenen irritierenden Momenten Beachtung zu schenken, welche die Vagabunden in den Film einbringen. Vgl. J. Trimborn: Der deutsche Heimatfilm, 106ff., mit weiteren Belegen aus der Forschung. 23 Es liegt nahe, diese widersprüchliche Wort-Bild Kombination als Katachrese im Sinne von Judith Butler zu lesen. Solche Katachresen müssen vom Diskurs ausgeschlossen werden, insofern sie Benennungsakte zu subvertieren in der Lage sind. Vgl. J. Butler: Körper von Gewicht, 285-297; v.a. 293.

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Verschwinden bringen, sondern nehmen auch die Etikettierung als Clown, mitsamt der Eingliederung in den Zirkus, am Ende nicht an. Subversiv bleiben sie darüber hinaus auch als Repräsentanten einer anderen filmischen Logik, die sich dem Zwang der Narration entzieht und in Form von Situationskomik und musikalischen Einlagen immer wieder für Unterbrechungen sorgt.24 Die drei Vagabunden, die auch als romantische Figuren gelesen worden sind,25 exemplifizieren meines Erachtens vor allem aber das, was Judith Butler eine Form der scheiternden Identifizierung nennt. Solche Formen weisen darauf hin, dass andere Identifizierungen möglich sind oder dass Identifizierung überhaupt anders möglich sein könnte. Aus diesem Grund sind mir die Vagabunden, die in diesem Sinne einen Gegenpol zum integrativen Impetus des Heimatfilms ausbilden, sympathisch. Sie entziehen sich erfolgreich der Festlegung, mithin der Autorität. Die den Vagabunden zugeordnete Verkörperung des ›Dings‹, das sie der diebischen (Zirkus-)Gemeinschaft selbst entwenden, ist am Ende nur eine ›Wurst‹. Aber um die geht es ja bekanntlich meistens.

3. JÄGER: DIE AUTORITÄT DES BLICKES Die Wilderer-Figur ist in Deppes Film, wie im Heimatfilm überhaupt, nicht die einzige Figur, die den Žižek’schen Mythos vom ›Diebstahl des Genießens‹ re-inszeniert und dergestalt als Figur der Gemeinschaftsbildung lesbar wird. Mindestens ebenso wichtig wie die Figur des ›Diebs‹ ist dafür eine andere Instanz, die den Raubtierwächter (und Wilderer) Pistek im Film folgendermaßen adressiert: »Ein Mensch ohne Pass ist doch nur ein halber Mensch«. Pistek antwortet dem Polizisten recht selbstbewusst: »Bin ich eben ein halber Mensch, Herr Wachtmeister.« Damit allerdings bestätigt er die Ansprache des Polizisten und dessen Autorität, die sich hier in der Zuweisung einer Identitätsposition (›halber Mensch‹) manifestiert. In Žižeks Überlegungen spielt das Problem der Autorität ebenfalls eine Rolle und

24 Das Verfahren ähnelt der genrespezifischen Struktur des Musicals und weist zurück auf das frühe ›Kino der Attraktionen‹. Vgl. dazu auch J. von Moltke: No Place Like Home, 78ff., der die Beachtung solcher spektakulären Strukturen des Heimatfilms einfordert. 25 Vgl. J. Trimborn: Der deutsche Heimatfilm, 107.

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Žižek versucht sich ihm über die Figur des ›Herren‹ anzunähern. Dieser fungiert im Modell als Instanz, die dem Anderen seine (andere) Position zuzuweisen in der Lage ist, wie Žižek wiederum am Beispiel des Faschismus erläutert: »Die Aufgabe des Herrn ist es, den Exzeß in den Griff zu bekommen, indem er seine Ursache in einer klar begrenzten gesellschaftlichen Instanz lokalisiert: ›Sie sind es, die unser Genießen stehlen, die uns auf Grund ihres exzessiven Verhaltens Ungleichgewicht und Antagonismus bescheren…‹«26 Das erklärt allerdings noch nicht, woher diese Autorität, die man als Verkörperung des (väterlichen) Gesetzes lesen muss, ihre Legitimität erhält – eine Tatsache, auf die wiederum Judith Butler in ihrer Žižek-Lektüre hingewiesen hat.27 Wer kann, in GRÜN IST DIE HEIDE, überhaupt Autorität für sich beanspruchen? Die erste Antwort muss wohl lauten: derjenige, der im Besitz einer Waffe ist. Das ist erstens der Wilderer, aber gerade seine Autorität ist nicht rechtens. Legitim ist der Waffenbesitz lediglich für die beiden Jäger, und das weist auf den realgeschichtlichen Kontext zurück, wurde doch mit dem alliierten Kontrollratsbefehl Nr. 2 (1946) jedermann der Besitz von Waffen zunächst verboten. Das galt auch für die im Aufbau befindliche Polizei, während die Besatzungsmächte die geltenden Bestimmungen allerdings »für eine kleine Zahl von Jägern« lockerten.28 Mit der schrittweisen Wiedergewinnung der staatlichen Souveränität seit 1952 trat auch das Reichswaffengesetz von 1938 wieder in Kraft, was für die Jäger der meisten Bundesländer eine Erleichterung bedeutete, die bis zur Neufassung des Gesetzes 1973 galt und den Besitz von Waffen (lediglich) an den Erwerb des Jagdscheins koppelte.29 Der Jäger wird in dieser Perspektive, die der Film eröffnet, lesbar als Autorität der ersten Stunde, die im weiteren Verlauf allerdings das staatliche Gewaltmonopol tendenziell auch in Frage stellt, in-

26 S. Žižek: »Genieße Deine Nation«, S. 146. 27 Vgl. J. Butler: Körper von Gewicht, S. 155f. 28 Reinhard Scholzen: »Mehr Sicherheit per Gesetz? Die Genese des deutschen Waffengesetzes«, in: Die politische Meinung 10 (2003), 33-42, 34. 29 In den frühen 1970er Jahren reagierte man mit der Änderung des RWaffG auf den aufkommenden Terror der Baader-Meinhof-Gruppe und schlug dazu die Gesetzgebungskompetenz auf dem gesamten Gebiet des Waffenrechts endgültig dem Bund zu, wozu eine Grundgesetzänderung notwendig war. Vgl. R. Scholzen: »Mehr Sicherheit«, 35.

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sofern er mit dem Staat konkurriert. Im Film spielt das jedoch keine Rolle, ist der Jäger doch hier gerade derjenige, der die kollektive Ordnung im Dienste aller verbürgt.30 Das stößt allerdings nicht nur auf Gegenliebe. Wenn der wohlhabende Gutsbesitzer den Förster Rainer als »Grünrock« abtut, der auf seinem Grund und Boden gar nichts zu sagen habe, dann deutet sich an, dass der Film auch von veränderten Machtverhältnissen erzählt. Probleme gibt es nicht nur in sozialer Hinsicht, sondern auch zwischen den Generationen und den Geschlechtern. Die Jäger sehen sich mit einem Wilderer konfrontiert, wodurch gerade der alte Oberförster um seine Stelle fürchtet. Der Gutsbesitzer sieht sich mit einer Neubewertung ›ostelbischer‹ Gutsherrlichkeit konfrontiert. Lüder Lüdersen hat sein (ostelbisches) Land ohnehin verloren und muss sich nun von seiner eigenen Tochter beschützen lassen. Bleibt der Amtsrichter, dessen Autorität allerdings von einer bedrohlichen weiblichen Figur in Frage gestellt wird, die seinem Heiratsangebot lange Zeit mehr als gleichgültig gegenübersteht. Um die Autoritäten – die Väter, (potenziellen) Ehemänner und Dorfhonoratioren – steht es insgesamt also nicht allzu gut. In dieser Perspektive kann man den Film – in der gängigen Lektüre – als Problemlöser lesen, der am Ende die gemeinschaftliche Ordnung wiederherstellt, mit kleinen Einschränkungen im Detail. Die widerspenstige Reiterin, um mit den Frauenrollen zu beginnen, fällt bei einem Ritt in die Heide vom Pferd und entschließt sich, im Heidedorf zu bleiben (ob sie heiraten wird, bleibt offen). Mögliche Generationenkonflikte scheinen durch die Übergabe der Försterrolle an den Nachfolger geregelt. Der Ostflüchtling und pathologische Wilderer Lüdersen darf zwar auch am Ende keine Waffe besitzen; er muss das allerdings auch nicht mehr, hat er sich doch in der Gemeinschaft ›wiedergefunden‹. Die Narration macht insgesamt ein vielfältiges Kompensationsangebot, das im Jäger kulminiert und jenem Mangel an nationaler Souveränität abzuhelfen in der Lage scheint, der in den 1950er Jahren allgegenwärtig ist. ›Wir sind wieder wer‹ – das muss hier heißen: Wir sind wieder Jäger und verfügen mindestens über dessen Autorität. Damit scheint mir eine weitere Dimension von Autorität bezeichnet, die der von Žižek genannten zur Seite zu stellen wäre: Autorität

30 Vgl. als repräsentativ für diese gängige Deutung des Försters als »obersten Vertreter der Ordnungsutopie des Heimatfilms« (113) etwa J. Trimborn: Der deutsche Heimatfilm, 112ff.

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hat derjenige, der über das ›Ding‹ verfügt. Und insofern dieses Ding im Film unterschiedliche (symbolische, fetischistische) Verkörperungen erfährt, spiegelt sich darin Autorität. Was bei der figurenzentrierten Analyse der letzten beiden Absätze aus dem Blick geraten ist, ist allerdings jene Instanz, deren Autorität noch um einiges maßgeblicher ist, wenn es darum geht Positionen zuzuweisen oder ›Dinge‹ zu beanspruchen: die Instanz des Films selbst und insbesondere der blicklenkenden Kamera, die ihrerseits ›Schüsse‹ (shots) abzugeben berechtigt ist. In Deppes Film operiert diese Kamera meist im Verborgenen. Sie weist nicht eigens auf ihre blicklenkende Funktion hin, sondern orientiert sich an den Regeln des klassischen continuity-Systems amerikanischer Herkunft, das vor allem darauf bedacht ist, die Macht der Erzählinstanz soweit es geht in Vergessenheit geraten zu lassen.31 Es gibt allerdings einige wenige Szenen, in denen diese Rechnung nicht ganz aufzugehen scheint. In einer von ihnen entpuppt sich der Blick, den die Kamera auf das Geschehen richtet, nachträglich als falsch. Von einer sentimentalen Liebesszene schneidet der Film zunächst zu jenem Prachthirsch, der sich längst im Visier des Wilderers befindet. Abbildung 3: Der Hirsch (Grün ist die Heide)

31 Vgl. dazu die einschlägige Studie von David Bordwell et. al.: The Classical Hollywood Cinema. Film Style and Mode of Production to 1960, London 1991.

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Der Kamerablick auf das Tier ist hier scheinbar an Lüdersens Perspektive gebunden, den die nächste Einstellung mit angelegtem Gewehr zeigt, bevor wieder das Liebespaar in den Blick gerät. Erst ein Schuss aus dem off stört die intime Szenerie; durch die Schuss-Gegenschuss-Konstruktion, die der Film hier wählt, scheint es fast, als hätte der Gewehrschuss dem Liebespaar gegolten. Lüdersen selbst entkommt. In den folgenden Sequenzen enthüllt die Erzählung neue Details, die rückwirkend eine neue Bewertung des Gezeigten erzwingen. Das Opfer der (Gewehr-)Schüsse war diesmal nicht der Hirsch, sondern ein Gendarm; Lüdersen hat allerdings gar keinen Schuss abgegeben. Damit weist der Film zum ersten Mal auf die Existenz eines weiteren, gefährlicheren Wilderers hin. Was dabei in den Blick gerät, ist die autoritäre Funktion der Kamera selbst, die nicht eigentlich falsche Bilder gezeigt hat. Falsch sind lediglich die Konstruktionen, die sich den Bildern beigesellen und sie in eine sinnvolle Geschichte zu überführen suchen. Die Zuweisung der Position des Anderen an Lüdersen, wie sie der Film mittels Montage nahelegt, erweist sich dabei als Fehlschluss. Und das wiederum impliziert zweierlei: Erstens ist der wirkliche Wilderer, den man in der Sequenz allenfalls mit einem flüchtig zu sehenden Schatten identifizieren mag, niemals im Blick der Kamera gewesen – ganz im Gegensatz zu Lüdersen, den der Zuschauer bereits zu Beginn des Films als Wilderer gezeigt bekommt. Abbildung 4: Mutmaßlicher Wilderer (Grün ist die Heide)

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Der ›wirkliche‹ Andere operiert dagegen, so erfahren wir jetzt, im Verborgenen. Ihn sichtbar zu machen, obliegt ganz und gar der Macht des Films. Damit gibt der Film (zweitens) zu erkennen, dass er an dem Prozess der Ermittlung des Anderen selbst maßgeblich beteiligt ist. Die Zuschreibung der fremden Position ist der filmischen Perspektive geschuldet, die sich dergestalt als eigentliche Autorität zu erkennen gibt. Wenn das in Szenen wie der beschriebenen tendenziell sichtbar wird, indem die Kamera als Autoritätsinstanz selbst in den Blick gerät, so bemüht sich der Film an anderer Stelle, die Positionen (wieder) zu stabilisieren. Das gilt insbesondere für die bereits angesprochenen Zirkusszenen am Ende, die eine wirkmächtige optische Konstellation aufrufen, ein Dispositiv, das geeignet ist, den Anderen einem Blickregime im Sinne von Foucault zu unterwerfen, ohne dabei die Stelle offenzulegen, von der aus die Unterwerfung erfolgt. 32 Dies gelingt allerdings, wie schon gesagt, nicht im Falle der Vagabunden. Wenn diese sich selbst wieder sichtbar zu machen in der Lage sind, entfalten sie auch von hier noch einmal subversives Potenzial, ohne dass das unbedingt im Sinne ihres Erfinders (oder im Sinne der sie rahmenden Kamera) gelegen hätte. Die Vagabunden erinnern somit an die Möglichkeit, sich der Autorität zu entziehen, die sie dem gemeinschaftlichen Diskurs zuzurechnen (oder: sie auszuschließen) sucht.

4. TIERE UND REVIERE: GRÜNE GRÜNE HEIDE – ROTER ROTER HIRSCH Irritierend bleibt meines Erachtens jenes Bild des bedrohten Hirschs, das am Ende keiner Figurenperspektive mit Sicherheit zuzurechnen ist. Wem gehört dieser Hirsch? Wer nimmt ihn in den Blick? Wie ist es um den Status dieses ›Dings‹ bestellt, dem alle nachstellen? Ähnliche Fragen stellen sich für jene relativ unspezifischen Landschaftsbilder, die im Film immer wieder zwischen die erzählenden Sequenzen montiert werden. Zwei Texte des ›Heidedichters‹ Hermann Löns, der im Film als intertextueller Referenzpunkt dient, verraten mehr über die Gemeinsamkeiten der beiden Phä-

32 Vgl. zur filmanalytischen Operationalisierung der Foucault'schen Thesen den Überblick bei Thomas Elsaesser/Malte Hagener: »Auge und Blick«, in: Dies., Filmtheorie zur Einführung, Hamburg 2007, 103-135.

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nomene. Der erste gibt Deppes Film seinen Titel: »Ja grün ist die Heide«, heißt es im Gedicht, das die drei Vagabunden auch zwischendurch als Lied anstimmen dürfen, »Die Heide ist grün, / Aber rot sind die Rosen, / Wenn sie da blühn.«33 Das zweite Gedicht erzählt von einem liebeskranken Jäger, der auf der Heide zu jagen pflegte: »Die roten roten Hirsche, / die roten roten Reh, / Die habe ich geschossen, / Mein Herz das schrie juchhe.«34 Auffällig sind an beiden Texten die tautologischen Attribute, die sich gleich mehrfach an die ›Heide‹ einerseits und an die ›Hirsche‹ (beziehungsweise ›Rehe‹) andererseits anheften, ohne doch eigentlich besonders viel auszusagen. Die Charakterisierung der Verse als tautologisch gemahnt an Žižeks Überlegungen zum nationalen Ding zurück, dessen Beschwörung sich vor allem in tautologischen Wendungen vollzieht. Es handelt sich hierbei um jene ›leeren Signifikanten‹, von denen ebenfalls schon die Rede war. Was leisten diese Signifikanten? Sie bieten sich, so muss man mit Žižek vermuten, unterschiedlichsten Besetzungen (sprich: semantischen Konkretisierungen) an und entfalten dergestalt integratives Potenzial. Betrachten wir zunächst die ›roten roten Hirsche‹, die im Film nicht allein als fotografische Repräsentationen begegnen, sondern auch als Gemälde, das im Dienstzimmer der Förster hängt. Das Gemälde könnte von jenem Jagdmaler stammen, der vor allem den Hirschen der (ostpreußischen) Rominter Heide ein Gesicht und ein Nachleben gegeben hat: Gerhard Löbenberg.35 Betrachtet man einen Werkkatalog – etwa jenen einer Ausstellung,

33 Hermann Löns: »Das Geheimnis«, in: Ders., Sämtliche Werke in acht Bänden, Bd. 1, hg. v. Friedrich Castelle, Leipzig 1925, 298. 34 H. Löns: »Der verwundete Jäger«, in: Ders., Sämtliche Werke, 309. 35 Die Rominter Heide war im 19. und 20. Jahrhundert »eines der bedeutendsten Rotwildreviere in Europa« und der »Rominter Hirsch [erlangte] wegen seiner Geweihstärke und seines Endenreichtums in Jägerkreisen immer größere Berühmtheit« (14). Als ›Reichsjägermeister‹ suchte Hermann Göring hier das bestehende Staatsjagdrevier für Repräsentationszwecke zu nutzen, indem er etwa einen ›Reichsjägerhof Rominten‹ errichten ließ. In der Nachkriegszeit wird Rominten zum Topos des Verlustes, etwa bei Scherping, der »in Rominten herrliche, unvergeßliche Bilder in jeder Hirschbrunft gesehen« hat (U. Scherping: Waidwerk, 109). Rominten erhält denn auch bei der 1954 stattfindenden Internationalen Jagdausstellung in Düsseldorf eine eigene Gedenkschau. Was Scherping nicht nur an dieser Stelle seines Buches verschweigt, ist die barbari-

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die 2004 im Ostpreußischen Jagdmuseum in Lüneburg stattfand36 –, so fällt der Unterschied zwischen diesen Rominter Hirschen und anderen, etwa Karpaten-, Harz-, oder Hunsrückhirschen nicht wirklich ins Auge. Das liegt daran, dass es keinen gibt. Die Hirsche der verlorenen ostpreußischen Heimat sind mit denen der niedersächsischen Heide austauschbar, wie auch die Heiden selbst austauschbar sind. Gerade deswegen kann Lüder Lüdersen sich in der Heimat wähnen; sein Beispiel zeigt, dass die Besetzung von Hirsch und Heide bestens funktioniert, zumindest eine Weile lang. Solche Hirsche funktionieren, so meine These, im Film (wie im nationalen Jagddiskurs überhaupt) als Repräsentationen des gemeinschaftlichen Dings. Diesem Ding gegenüber aber gilt es auch, die richtige Einstellung an den Tag zu legen – eine weitere Lektion, die der Film lehrt. Pisteks rein materielles Begehren nach dem Hirsch-Ding, bei dem dieses sich am Ende als ›Fleisch‹ manifestiert, zerstört die Gemeinschaft. Für Lüdersen ist das Ding als ›Trophäe‹ relevant, das ist schon besser. Die ›Wurst‹ der Vagabunden ist nur eine witzige Schwundstufe des Dings. Im Grunde beharrt der Film allerdings darauf, dass sich das Ding überhaupt nicht manifestiert; jede solche Manifestation entstellt das ›wahre‹ Ding, weil sie ihm nicht gerecht werden kann. Und wenn man es schon repräsentieren muss, dann möglichst unkonkret, flüchtig, tautologisch – um die gemeinsame Sache nicht zu gefährden. Das beste Ding ist in dieser Hinsicht das unzugängliche Ding: der Hirsch, der nur gehegt wird und sich überhaupt selten blicken lässt. Er ist ja da, im Unterholz, das weiß man. Genau daraus erklärt sich nun auch jene Ungebundenheit der filmischen Perspektive auf den Hirsch, die ich als irritierend bezeichnet hatte. Das Filmbild eignet sich, um noch eine medientheoretische Überlegung anzuschließen,

sche Rolle, die er selbst als Forstoberer zusammen mit Walter Frevert bei der Einrichtung eines neuen Reichsjagdreviers im polnischen Bialowies gespielt hat. Vgl. dazu und zum Zusammenhang von nationalsozialistischer Repräsentationsund Jagdpolitik kritisch Volker Knopf/Uwe Neumärker: Görings Revier. Jagd und Politik in der Rominter Heide, Berlin 2007, v.a. 128ff. Die obigen Zitate zur Heide ebd. 36 Vgl. Jörn Barfod et. al. (Hg.): Natur und Jagd in der Malerei von Gerhard Löbenberg, Melsungen 2004. Das Ostpreußische Jagdmuseum, dessen Existenz noch einmal die Bedeutung der Zuwanderer für Niedersachsen bezeugt, wurde später in Ostpreußisches Landesmuseum umbenannt.

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eigentlich nicht besonders gut als ›leerer Signifikant‹, insofern es immer schon Realitätseffekte bedingt, es mithin zu konkret ist.37 Um das ›Ding‹ dennoch so offen wie möglich zu halten, muss der Film auf Verfahren zurückgreifen, die man in Analogie zum literarischen Text tautologisch nennen könnte. Solche Verfahren sind zum Beispiel eine monotone Farbgebung, Schatten oder die Herauslösung aus dem diegetischen Raum. Und genau hier trifft sich der Hirsch mit der Heide. Die semantische Vagheit ist also die Bedingung dafür, dass dieser Hirsch als gemeinschaftliches Ding auch des Ostflüchtlings herhalten kann. Das heißt, wie schon diskutiert, allerdings nicht, dass hier keinerlei Autorität im Spiel wäre. Letztlich macht die Kamera den Diskurs. Ähnliches gilt für die Heidelandschaft. Auch diese in Bildern gezeigte Landschaft ist in GRÜN IST DIE HEIDE letztlich ein Angebot, das darin besteht, sie als Projektionsfläche zu nutzen. Damit löst der Film auch das Dilemma der um 1950 real existierenden Ortlosigkeit. Der reale Verlust konkreter Orte (Städte, Ostgebiete) wird im ›tautologischen‹ Landschaftsbild aufgehoben. Und als Name für dieses durch landschaftliche Bezüge hergestelltes Gemeinschaftsgefühl, das zwischen Vergangenheit und Gegenwart sowie zwischen konkretem Ort und lokaler Unbestimmtheit zu schwanken scheint, gilt gemeinhin das Konzept der ›Heimat‹.38 Als ambivalentes Konzept erlaubt es der Begriff, eine quasi urwüchsig-natürliche Ortsverbundenheit mit einer utopischen Ortsungebundenheit zusammen zu denken. Im Film begegnet diese doppelte Begründung von Heimat in der zwanglosen Verbindung von Natur und Nomadentum. Im imaginierten Revier kommt beides zusammen, und dafür steht wiederum die Figur von Lüder Lüdersen ein, der sich sein verlorenes Revier schafft, indem er wildert. Den Einwand seiner Tochter – »Aber es ist doch ein Unterschied, ob man in seinem eigenen Wald jagt oder in einem fremden« – lässt er nicht gelten. Die Nachkriegsklage von Ulrich Scherping, die heimatlosen Jäger hätten nicht nur den Verlust der Heimat ›als solcher‹, sondern auch noch den Verlust des

37 Eine medientheoretische Explikation habe ich im Rückgriff auf Roland Barthes’ Überlegungen zur Rhetorik des Bildes an anderer Stelle versucht. Vgl. Christian Schmitt: Kinopathos. Große Gefühle im Gegenwartsfilm, Berlin 2009. 38 Vgl. Gunther Gebhard et al.: »Heimatdenken. Konjunkturen und Konturen. Statt einer Einleitung«, in: Dies. (Hg.), Heimat. Konturen und Konjunkturen eines umstrittenen Konzepts, Bielefeld 2007, 9-56.

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Reviers zu verschmerzen – »in dem ihnen Busch und Baum, Hase und Huhn vertraut sind«39 –, sucht der Film mit dieser Konstellation zu kompensieren: Die Heimat mag unwiederbringlich verloren sein, aber das Revier ist es nicht. Die immer wieder eingeschobenen Landschaftsaufnahmen, die der Film zeigt, entwerfen diese Heimat über die entleerten Signifikanten ›Heide‹, ›Wald‹ und ›Wild‹ als letztlich offenes Angebot. Je grüner die Heide und je röter der Hirsch, desto mehr Potenzial für die gemeinschaftliche Besetzung.

5. DEUTSCHES WAIDWERK Eine Frage ist bisher noch nicht deutlich geklärt worden: Was genau gewinnt die Gemeinschaft, die sich um das semantische Feld des Jägers und der Jagd organisiert? Und welche Anknüpfungspunkte bietet dieses Feld gerade der nationalen Gemeinschaft? Eine Antwort ermöglicht der Blick in einen Bestseller der Jagdliteratur, dessen jüngste Auflage (2007) noch heute im Buchhandel erhältlich ist: Walter Freverts Buch Jagdliches Brauchtum (1936), dessen Erstauflage ganz im Zeichen völkischer Rhetorik steht.40 Im einleitenden Vorwort von Ulrich Scherping – einem weiteren Jagdfunktionär, der sich in der Nachkriegszeit schriftstellerisch betätigen wird41 – fällt die Wortkombination ›Deutsches Waidwerk‹ zum ersten Mal; aber zunächst geht es um eine Legitimation jener Jagdbräuche, die das Buch von Frevert akribisch katalogisiert. »Die Frage, ob zum deutschen Waidwerk ein jagdliches Brauchtum gehört«, so Scherping, »ist heute entschieden«.42

39 U. Scherping: Waidwerk, S. 150. 40 Walter Frevert: Jagdliches Brauchtum, Berlin 1936. Die Neuauflage der 1950er Jahre erschien unter dem Titel: Das jagdliche Brauchtum. Jägersprache, Bruchzeichen, Jagdsignale und sonstige Jagdgebräuche, 5. bearb. Aufl., Berlin/ Hamburg 1951. 41 Zur Biografie von Frevert und Scherping vgl. kritisch V. Knopf/U. Neumärker: Görings Revier; sowie verklärend, wenngleich nicht unkritisch Andreas Gautschi: Walter Frevert. Eines Weidmanns Wechsel und Wege, 2. Aufl., Melsungen 2005. Vgl. auch Anm. 35. 42 Ulrich Scherping: »Vorwort«, in: W. Frevert, Jagdliches Brauchtum, 3. Das Folgende ebd.

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Ohne solche Jägerbräuche sei »das Waidwerk ein Unding«. Der Begriff des ›Undings‹, der nicht von ungefähr an Žižeks Geschichte gemahnt, führt auf die richtige Spur: Jagdliches Brauchtum ist genau jener way of life, der dazu dient, ein gemeinsames Ding zu bezeugen: das Ding der Jagdgemeinschaft. Dass diese dann zum Modell der nationalen Gemeinschaft wird, daran arbeitet der Text selbst tatkräftig mit, indem er Jäger, Jagd und Waidwerk permanent mit nationalen Attributen verknüpft. Ein Beispiel: Wir deutschen Jäger aber wollen und sollen stolz darauf sein, daß wir uns trotz aller Anfeindungen einer undeutschen Zeit unser jagdliches Brauchtum erhalten haben bis auf den heutigen Tag. Das war nur möglich, weil der deutsche Jäger immer deutsch gedacht hat, und weil sich der Kern der deutschen Jägerschaft durch die stete Berührung mit Wald und Wild seelisch gesund gehalten hat.43

Der deutsche Jäger figuriert, über den indexikalischen Bezug zur Natur, zu Wald und Wild, somit den über die Zeit unveränderlichen, natürlichen, gesunden Wesenskern der Nation, den er dieser (bei Bedarf) auch immer wieder zurückzuerstatten in der Lage ist. Noch die einzelnen Praktiken selbst werden semantisch immer wieder an das Nationale rückgebunden. Dass die Verwendung von Buchenzweigen als Bruchzeichen – aus abgebrochenen Zweigen hergestellte Zeichen, die zur Verständigung vor Ort dienen – nicht waidmännisch sei, mag noch angehen. »Ebenso selbstverständlich« sei es aber auch, so Frevert, »daß ausländische Holzarten, wie z.B. Weymuthskiefer und Douglasie nicht als Bruchzeichen genommen werden können«.44 Solche Zeichen würden, so muss man ergänzen, die vom Text hergestellte Anbindung der Nation an die Natur verunmöglichen. Wenn Frevert immer wieder darauf hinweist, dass die von ihm versammelten Bräuche »wieder Allgemeingut der Jäger werden«45 müssten, so zeigt sich darin ein erzieherischer Gedanke, der den Status von Freverts eigenem Text noch einmal anders definiert. Es geht hier weniger darum, einen allgemeingültigen nationalen way of life lediglich sprachlich zu fixieren, sondern das Buch versteht sich auch als Anleitung zur Einübung der richtigen Gebräuche. Durch die semantische Verschränkung von Jagd und Nation ist eine solche Einübung in das richtige Waidwesen zugleich eine 43 Ebd. (meine Hervorhebungen, CS) 44 W. Frevert: Jagdliches Brauchtum, 53. 45 Ebd. 52.

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Einübung in einen nationalspezifischen way of life. Und die entsprechende Lektion in Deutschsein vermittelt der Jäger, der solchermaßen zur Erzieherfigur wird – einer Figur, die gerade in der Zeit nach 1945 notwendig erscheint. Diese Pädagogik bleibt allerdings der nationalen Gemeinschaft vorbehalten, und sie beinhaltet keine Umerziehung, sondern eine Rückführung auf das, was immer schon da war und nur verschüttet ist: »Der Amerikaner wird niemals deutsches Waidwerk richtig begreifen, weil ihm die Einfühlung in das tiefste Wesen der deutschen Jagd fehlt. In anderen Ländern haben sich andere jagdliche Sitten, andere jagdliche Gebräuche entwickelt, die dem Deutschen fremd sind.«46 In der Neuauflage des Buches von 1951 sucht man solche Hinweise auf begriffsstutzige Amerikaner vergeblich, was angesichts der neuen Machtverhältnisse nicht verwundert. Nun bemüht man sich vordergründig um Internationalität, wie auch Scherpings Buch Waidwerk zwischen den Zeiten (1950) oder der Jagd und Hege in aller Welt betitelte Katalog der Internationalen Jagdausstellung, die 1954 in Düsseldorf stattfindet, bezeugen. Ulrich Scherping darf, inzwischen als Hauptgeschäftsführer des Deutschen Jagdschutzverbandes, zu letzterem wieder ein Vorwort beisteuern. Diesmal beschwört er eine internationale Gemeinschaft: »Uns alle aber, mögen wir dem edlen Waidwerk in diesem oder jenem Lande dienen, trennen keine politischen Grenzen, uns eint das gemeinsame Band der Liebe zum Wald und zum Wild«.47 In der dazugehörigen Ausstellung erhalten in der ›Straße der Nationen‹ auch die Amerikaner einen Platz. Schaut man genauer hin, finden sich allerdings wiederum Hinweise darauf, dass das Jagdwesen nach wie vor als nationaler Bezugspunkt entworfen wird, der Ordnung in die »heutige Zeit der radikalen Unsicherheit«48 zu bringen verspricht. Man schließt dabei an einen Aspekt an, der den jagdlichen Bräuchen in Form eines Wertbezugs von vornherein beigegeben war. Im neuen Vorwort von Jagdliches Brauchtum kündigt sich das, wovon man sich dabei abgrenzen

46 Ebd. 10. 47 Ulrich Scherping: »Veranlassung und Bedeutung der Internationalen Jagdausstellung 1954 in Fortsetzung der Tradition der bisherigen internationalen Jagdausstellungen«, in: Deutscher Jagdschutzverband (Hg.), Jagd und Hege in aller Welt. Erinnerungswerk an die Internationale Ausstellung Jagd und Sportfischerei Düsseldorf 1954, Düsseldorf 1955, 9-10, 10. 48 W. Frevert: Das jagdliche Brauchtum (1951), 3.

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muss, bereits in Gestalt einer »materialistische[n]« Art und Weise an, in der »sich die Welt um uns gebärdet«.49 Bei der Etablierung dieses Wertsystems, das den Namen »Waidgerechtigkeit« trägt, ist explizit auch von einem anderen Genießen die Rede: Ziel und Zweck der Jagdausübung ist nicht mehr allein die Befriedigung einer Leidenschaft oder das Genießen eines Vergnügens, sondern das verantwortliche Bewußtsein, für alle Zukunft Wild und Jagd zu behaupten. Diese Gedanken mit ihrer ethischen Bewertung der Jagd sind bereits vom Brauch zum Recht geworden und finden ihren Ausdruck in zahlreichen Bestimmungen der Jagdgesetze.50

Denkt man an Žižeks Thesen zurück, so liegt es nahe, dieses andere Genießen als verdeckten Kern der eigenen Identität auszumachen, die nun auf eine moralische Semantik bezogen ist. Genau diesem ethischen Code der ›Waidgerechtigkeit‹, der eine Wertgemeinschaft zu begründen dient, gelingt dann auch der Sprung in die Nachkriegszeit. Der Vergleich der beiden Auflagen von Freverts Buch zeigt, dass lediglich einige zu deutliche nationale Bezüge wegredigiert worden sind. In der Ausgabe von 1936 heißt es zur ›Waidgerechtigkeit‹ noch: »Waidgerechte Jagd ist etwas ausgesprochen Deutsches, kein anderes Volk kennt diesen Begriff in unserer Deutung.«51 In der Neuauflage wird lediglich der Verweis auf die Anderen getilgt, während die tautologische Bestimmung der ›Waidgerechtigkeit‹, die das Konzept im Žižek’schen Sinne offenhält, erhalten bleibt: Waidgerecht jagen, heißt anständig jagen! Anständigkeit ist ein Ausfluß der Gesinnung. Man ist ein anständiger Kerl oder ist es nicht! […] Waidgerecht jagen heißt – ein deutscher Jäger und Heger sein in des Wortes hehrster Bedeutung! […] Es ist nicht möglich, im einzelnen eine erschöpfende Darstellung zu geben, was nach allgemein anerkannten Grundsätzen waidmännisch ist und was nicht. Wenn Ihr's nicht fühlt, Ihr werdet's nie erjagen! Wohl aber möchte ich einige Dinge anführen, gegen die häufig noch verstoßen wird, und die altem Brauch und guter Waidmannssitte widersprechen.52

49 Ebd. 50 Ebd. 10 (meine Hervorhebungen, CS). 51 Ebd. 116. 52 Ebd. 123f.

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Freverts Text widerspricht hier im Grunde seiner eigenen Ankündigung, indem er das, was nicht waidgerecht ist, doch sehr wohl zu katalogisieren ansetzt. Sein Katalog wird damit selbst zu einer Art Gesetz, das die ›Gerechtigkeit‹, von der allenthalben die Rede ist, einerseits zu konkretisieren sucht, und andererseits doch in einer Weise unbestimmt lässt, die die immer neue Auffüllung mit neuen Inhalten möglich macht. Das gilt noch mehr für jene ›Jagdgesetze‹, die der Text von 1936 direkter als ›Reichsjagdgesetz‹ anspricht.53 Gerade diese Gesetze haben allerdings maßgeblichen Anteil daran, dass die Anderen, von deren Genießen es sich für die deutsche Jägerschaft zu distanzieren gilt, rechtlich greifbar werden, dass sie einen Namen und ein Gesicht bekommen.54 Diese Anderen sind weiterhin als Bedrohung relevant. Scherping spricht, einigermaßen unbestimmt, von »Hinz und Kunz«, die sich zur Zeit der Niederschrift seines Buches wieder des Tellereisens bedienten, um Wild zu fangen. Ein populär-kriminologisches Buch namens Wilddieberei und Förstermorde, das 1954 neu aufgelegt wird, charakterisiert sie im Kapitel Landfahrendes Volk als »ewig hin- und hergetriebene[] Menschen«, die »auf der Landstraße verfolgt und gehetzt« würden und daher »naturgemäß Ruhe und Rast in den Wäldern« suchten: »Außerdem ist der Zigeuner als sehr geschickter Schlingensteller bekannt.«55 Im Heimatfilm heißt dieser neue Andere, der einer Form des animalischen Genießens frönt, dem Materialismus verfallen ist und sich nicht an die ethischen Grundsätze der Jagd hält, dann zum Beispiel Pistek. Insgesamt dient das in den angesprochenen Texten allgegenwärtige Konzept der ›Waidgerechtigkeit‹ als eine Art Zeitkapsel, die ein Set von gemeinschaftlich relevanten Werten über die Lücke des Nationalsozialismus hinweg zu retten geeignet ist und dergestalt Kontinuität verbürgt. Der

53 Vgl. ebd. 11. Das 1934 verabschiedete Reichsjagdgesetz wurde 1952 nach kleineren Änderungen, die vor allem das (alle Register völkischer Rhetorik aufbietende) Vorwort und die Präambel betrafen, in bundesdeutsches Recht überführt. Vgl. dazu Werner Rösener: Die Geschichte der Jagd. Kultur, Gesellschaft und Jagdwesen im Wandel der Zeit, Darmstadt 2004, 377ff. 54 Sie haben, darüber hinaus, auch Anteil daran, dass das gemeinsame Ding zur Sache, zum ›Volksgut‹ wird – ein Aspekt, den ich hier nicht weiter verfolgen kann. Vgl. W. Frevert: Jagdliches Brauchtum, 10. 55 Otto Busdorf: Wilddieberei und Förstermorde, 2 Bde., neu hg. von Fritz Vorreyer, Braunschweig 1954, 107.

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Signifikant der ›Hege‹ erlaubt dabei ganz neue Einschreibungen, die eine positive Neubegründung der nationalen Gemeinschaft in den 1950ern im Zeichen der Jagdsemantik ermöglichen. Noch das von Ulrich Scherping maßgeblich mitgestaltete Reichsjagdgesetz, das die hegenden Aspekte der Jagd rechtlich festschreibt, wird zum Ausweis dafür, dass eben nicht alles, was in nationalsozialistischen Zeiten entwickelt wurde, schlecht ist: »So sind wir Deutschen wenigstens einmal zu etwas nutze gewesen.«56 Scherpings autobiografisch angelegter Bericht Waidwerk zwischen den Zeiten entwickelt davon ausgehend einen neuen Mythos, der sich als Entwicklungsnarrativ manifestiert und Kontinuität stiftet. Immer wieder beschwört er, in nach wie vor biologischer Metaphorik, einen »Weg der Veredelung, den jeder einzelne von uns« ebenso gegangen sei wie das Jagdwesen insgesamt. In Form einer persönlichen Bekehrungsgeschichte, wie sie der Kapiteltitel Vom Saulus zum Paulus vorgibt, führt dieser Weg vom »schieß- und beutelustigen Wildtöter« zum »bedächtige[n] und verantwortungsbewußte[n] Wildheger«.57 Auffällig ist dabei auch die immer wieder festzustellende religiöse Legitimierung, die mit einem pädagogischen Duktus einhergeht und eine weitere unbelastete Anbindung des semantischen Felds der Jagd erlaubt. »Deutsches Waidwerk in seines Wortes bester Bedeutung ist eine gewaltige erzieherische Kraft zum Guten und Edlen, zum Einfachen und Sauberen, zum Gott-nah-sein«58, heißt es bei Scherping, dessen Kapitel Vom Saulus zum Paulus denn auch in einer jagdlichen Apotheose endet. Fortschrittsgeschichte wird zur Heilsgeschichte, an deren Ende, da ist sich Scherping sicher, der »Mehrheit der deutschen Jäger der Hirsch mit dem Kreuz und dem Leib des Erlösers«59 erscheinen wird. Damit wird auch der Hirsch selbst, das Ding der (nationalen) ›Jagdgemeinschaft‹, noch einmal in ein transzendentes Feld verschoben, das ebenso unverfügbar ist wie es für ideologische Zwecke, Zwecke der gemeinschaftlichen Mobilisierung, verfügbar gemacht werden kann.

56 U. Scherping: Waidwerk, 42. 57 Ebd. 12. Das vorherige Zitat ebd. 58 Ebd. 10. 59 Ebd. 24.

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6. HEGE DEINEN HIRSCH – DAS DING UND DIE DINGE Die in der Analyse der jagdlichen Literatur herausgearbeiteten Aspekte der Jagdsemantik – Hege, Pädagogik und Religiosität – sind auch für Alfons Stummers Film DER FÖRSTER VOM SILBERWALD (1955) maßgeblich. Der Film, dessen Schauplatz die Bergwelt der Alpen ist, kreist um dieselben Fragen wie Deppes GRÜN IST DIE HEIDE und beantwortet sie auch ganz ähnlich. Wieder stört ein Wilderer die Harmonie einer dörflichen Gemeinschaft; wieder wird die Position dieses Wilderers mit mehreren Figuren besetzt. Bei beiden, dem Bildhauer Max (Erik Frey) und einem Hund, handelt es sich um Fremde, die diesmal dem Bereich der Stadt – im Gegensatz zum Land – zugeordnet sind. Integriert wird keiner von beiden: Der Bildhauer kehrt am Ende wieder in die Stadt zurück, aus der er gekommen ist; der Hund wird vom Förster Hubert (Rudolf Lenz) getötet. Auch diese Försterfigur, die die Wilderer aufspürt, wird als maßgebliche Autorität gezeichnet, was sich insbesondere in einer Vielzahl von Fern- und Zielfernrohrperspektiven manifestiert. Im Unterschied zu Deppes Film wird hier allerdings der Jäger-Förster selbst vorübergehend aus der Gemeinschaft ausgeschlossen und erst am Ende, im Rahmen einer kirchlichen Hubertusfeier, wieder aufgenommen. Anders als in GRÜN IST DIE HEIDE ist das gemeinschaftliche ›Ding‹ in Stummers Film von Anfang an nicht nur von Wilderern bedroht, sondern in erster Linie von Vertretern der Dorfgemeinschaft selbst. Das Rotwild der ersten Einstellungen flüchtet nicht etwa vor Gewehrschüssen, sondern vor den Äxten der Holzfäller. Zur Disposition steht der titelgebende Silberwald samt darin lebendem Wild, und die anfänglich aufgeworfene, leitmotivische Frage eines Dorfbewohners – »Brauch’ mer a Joagd? Oder a Geld?« – bringt den grundlegenden Konflikt des Films bereits zum Ausdruck. In dieser narrativen Konstellation ist das Fremde von Anfang an in der Gemeinschaft selbst, als (ihr inhärenter) Prozess der zunehmenden Entfremdung verortet, die genau jenem ›krassen Materialismus‹ entspricht, wie ihn Scherping und Frevert in ihren Texten anprangerten. Zur Disposition steht somit das gemeinschaftliche Ding selbst wie auch der richtige Umgang mit ihm. Der Film beantwortet die Frage am Ende eindeutig: Die Gemeinschaft benötigt ihren Wald, den man anfänglich abholzen und zu Geld machen will, und das in diesem lebende Wild als ideellen gemeinschaftlichen Bezugspunkt, nicht aber als materielles Gut – und genau diesen Bezugspunkt

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weiß der Förster, der hier zum Heger und Lehrer wird, im Laufe des Films vor der Verdinglichung im Dienste pekuniärer Interessen zu bewahren. Im Unterschied zu Deppes Film liefert DER FÖRSTER VOM SILBERWALD seine (nicht nur) jagdliche Programmatik explizit mit. In einer entscheidenden Szene darf der Förster seinen Standpunkt der Städterin Liesl (Anita Gutwell) erläutern. Auf ihre Frage – »Warum jagen Sie das Wild eigentlich?« – hat er eine Antwort parat, die das Konzept der Waidgerechtigkeit aufgreift: »Die Jagd ist«, so Hubert, »eines der großen Geschenke der Natur an die Menschen. Wer waidgerecht jagt, steht mitten in der Ordnung des Lebens.« Auf die Nachfrage von Liesl, »Auch, wenn er tötet?«, erläutert der Förster: »Ja. Früher haben Wölfe, Bären und Luchse in unseren Wäldern viel Wild gerissen. Nur das Beste ist übrig geblieben. Heute muss eben der Jäger das schwächliche und kranke Wild aussuchen und abschießen.« Seine Funktion erschöpft sich aber nicht nur in dieser biohygienischen Aufgabe; als Heger des gemeinschaftlichen Dinges muss er – in der Logik des Films – dieses Ding auch in semantischer Hinsicht für die Gemeinschaft ›rein‹ erhalten. Von hierher wird noch einmal deutlich, was die hegende Jägerfigur leistet: Indem sie der Verdinglichung der Natur (Wald, Wild) entgegentritt, stellt sie deren Funktionalisierung als gemeinschaftliche Projektionsfläche sicher. Warum ein ›verdinglichtes‹ Ding für die Gemeinschaft schlechter sein sollte als ein ideales, beantwortet der Film hingegen nicht explizit. Man mag den pädagogischen Gestus auch in den filmischen Mitteln erkennen, auf die der Film zurückgreift, um das, worum es geht, ins Bild zu rücken: die auffälligen und ubiquitären Nahaufnahmen von dem, was es zu hegen gilt.60 Mit Großaufnahmen von Rotwild setzt der Film ein, während im Folgenden – vom Reh, über Murmeltier, Auerhahn, Dachs, Rehkitz, Uhu, Adler, Fuchs, Mufflon, Gemse, Steinbock, Bär, Marder – nahezu die gesamte Fauna der alpinen Bergwelt in den Fokus des Betrachters gerückt

60 Ursprünglich war der Film als Dokumentarfilm geplant. Dass es sich beim FÖRSTER VOM SILBERWALD (OT: ECHO DER BERGE) um einen österreichischen Film handelt, widerspricht meiner Argumentation aus zwei Gründen nicht: erstens der Popularität in Deutschland und der modellbildenden Funktion für deutsche Heimatfilme; zweitens der ohne Weiteres auf den deutschen Kontext übertragbaren alpinen Topoi. Der deutsche Verleihtitel weist außerdem noch einmal auf die Bedeutung der Försterfigur gerade für den bundesdeutschen Kontext hin.

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wird. Daraus resultiert eine merkwürdige Ambivalenz, insofern gerade der dadurch in den Blick geratene Objektstatus der Tiere auf eine filmische Form der ›Verdinglichung‹ hindeutet. Eine ähnliche Ambivalenz ist auch für die bereits angesprochene jagdliche Apotheose am Ende des Films zu konstatieren, welche die Reintegration des Försters in die Gemeinschaft anzeigt. Die Predigt des Priesters, der einen Hirsch mit Weihwasser segnet, verweist noch einmal auf die »hohe Aufgabe«: als »heiliges Erbe« gelte es Wild, Wald und Waidwesen für »kommende Generationen« zu erhalten. Das ist allerdings in erster Linie nicht materiell gemeint. Vielmehr zeigt sich hier noch einmal, welche integrative und kontinuitätsstiftende Funktion diesem ›Erbe‹ für die Gemeinschaft zukommt, wenn es als immaterielles ›Ding‹ gehegt wird. Das gemeinschaftliche ›Ding‹ scheint zwischen diesen beiden Optionen immer schon zu oszillieren: Es muss unkonkret sein, um phantasmatisch besetzt werden zu können; und muss sich doch zugleich immer wieder in konkreten Objekten manifestieren, damit sich von ihm (und seinem Diebstahl) überhaupt erzählen lässt. Entscheidend bleibt auch, wer in semantischer Hinsicht über das ›Ding‹ verfügen darf, und das sind nach wie vor der Förster und auch der Priester. In Konkurrenz treten sie dabei allerdings gerade in den 1950er Jahren mit jenen, deren ›Dinge‹ zu begehrenswerten Objekten der neuen Konsumgemeinschaften werden. * Wenn die besprochenen Heimatfilme Signifikanten wie den ›Jäger‹, das ›Wild‹ oder das ›Waidwesen‹ in den Dienst nationaler, identitätsstiftender Diskurse stellen, so heißt das nicht, dass dieselben Signifikanten nicht auch von anderen Interessent/innen entdeckt und besetzt werden könnten. Der Mythos vom ›Ding‹ und seinem Diebstahl kann, so gesehen, auch der nationalen Gemeinschaft entwendet werden. Genau das passiert in den 1950er Jahren und zeichnet sich auch in den besprochenen Filmen ab. Die Landschaften der Filme dienen nicht nur als kollektive Projektionsflächen von Heimat, sondern finden sich zeitgleich auch in Tourismuskatalogen und auf Werbeplakaten. Das Bedürfnis, das sie in diesem Kontext zu stillen versprechen, geht von den gleichen Signifikanten aus wie das Heimatversprechen – nutzt diese allerdings für andere Zwecke und im Dienste anderer Autoritäten. Ähnliches gilt für die Signifikanten ›Jäger‹ und ›Hirsch‹, die noch in den 1950ern ihre Karriere als Werbeträger für eine bis heute erfolg-

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reiche deutsche Schnapsmarke, den Jägermeister, beginnen. Nationale Konnotationen werden erfolgreich mit exportiert, und gerade das sorgt auf dem globalen Markt für Erkennungspotenzial und Umsatz – bis in jüngste Zeit.61 Nationalität und Konsum geraten dabei in ein spannungsvolles Wechselverhältnis. Aufbauend auf der Verbindung von Jagd- und Nationalsemantik kann nun auch die Werbung die fraglichen Zeichen in ihre Dienste nehmen und als Verkaufsargument (made in Germany) nutzen. Der materialistische Diskurs, von dem sich der FÖRSTER VOM SILBERWALD oder die Jagdliteratur zu distanzieren suchen, hat diese Zeichen längst erfasst. ›Wald‹, ›Hirsch‹ und ›Jäger‹ sind eben doch verkäuflich, und sie werden verkauft, wenn nicht in naturam, so doch als Image, das eines Referenten entbehrt und im gleichen Zuge doch die Altehrwürdigkeit und Authentizität des Produktes behauptet: als ›Mythen des Alltags‹ (Roland Barthes). Im Heimatfilm und im Jagddiskurs der frühen 1950er Jahre zeichnen sich diese Dinge am Rande immer schon ab – etwa dann, wenn schnittige Sportwagen vorfahren oder selbstgemachte Liköre verkostet werden. Wichtiger ist meines Erachtens hier allerdings (noch) die gemeinschaftliche ›Sache‹, ist jene von den Filmen und Texten in Angriff genommene semantische und moralische Imprägnierung, die es der nationalen Gemeinschaft erlaubt, sich noch einmal als einheitliche zu imaginieren. Und für diese Imprägnierung eignet sich, wie ich in meinen Überlegungen zu zeigen versucht habe, kaum ein semantisches Feld so sehr wie das des (deutschen) Waidwesens. Hier gelingt noch einmal die Restitution einer Verbindung mit dem gemeinsamen Ding, das sich in der Natur manifestiert und das seine Legitimität gerade diesem Entwurf einer überzeitlichen und materiellen Interessen enthobenen Natur verdankt. Zum Hoffnungsträger und Lehrer der Nation werden dabei die Jäger. Über den Jäger, das Waidwerk, die Waidgerechtigkeit und den Hirsch entsteht die (nationale) Gemeinschaft noch einmal als wäre nichts gewesen. Wie brüchig solche Versuche der moralischen Imprägnierung bleiben müssen, geben die Filme dabei allerdings am Rande immer mit zu lesen: indem sie Figuren zeigen, die sich einer klaren Einordnung und Adressierung entziehen; indem sie Autoritätspositionen, wenn schon nicht aufgeben, so doch problematisieren; oder indem sie auf Bilder rekurrieren, deren man nie gänzlich habhaft werden kann.

61 Vgl. Claudia Keller: »Der Geist aus der Flasche«, in: Der Tagesspiegel vom 24.08.2003.

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Noch deutlicher wird das, wenig später, in jenen Anti-Heimatfilmen der 1960er Jahre der Fall sein, welche die negativen (etwa rassistischen) Folgen dieser Dynamiken der kollektiven Identifizierung deutlicher offenlegen als ihre Vorgänger der 1950er und sich für nationale Selbstversicherungen nicht mehr anbieten, damit allerdings auch kein breites Publikum mehr finden. Die jagdlichen Motive und Figuren der früheren Heimatfilme werden dabei übernommen und zugleich einer weitreichenden Umdeutung unterzogen – wie etwa in Peter Fleischmanns JAGDSZENEN AUS NIEDERBAYERN (1969), wo die Dorfgemeinschaft keinem Wild mehr nachstellt, sondern einem sexuellen Außenseiter. Das wiederum ist allerdings eine weitere Geschichte der (semantischen) Entwendung, die der hier erzählten ergänzend zur Seite zu stellen wäre.

Gemeinschaften Roter Männer: Dakotas, Delawaren und DDR-Bürger ›Der Indianer‹ als Figur eines deutschen Imaginären KATHARINA GRABBE

WIE KOMMT DER INDIANER IN DIE DDR? Wie kein anderes Genre erzählt der Western-Film den Gründungsmythos der USA von der Eroberung, Inbesitznahme und Zivilisierung des Landes. Der Western repräsentiert »nicht nur den nationalen Gründungsmythos, sondern die amerikanische Ur-Erzählung schlechthin«1 und steht in einer besonderen Verbindung mit der politischen Kultur der Vereinigten Staaten.2 Der »Western als Nationalepos«3 ist ein Genre, das die Geburt einer Nation thematisiert: »Das Entstehen neuer Gemeinschaften bildet einen

1

Martin Weidinger: Nationale Mythen – Männliche Helden. Politik und Ge-

2

Vgl. Stephen McVeigh: The American Western, Edinburgh 2007. McVeigh sieht

schlecht im amerikanischen Western, Frankfurt a.M. 2006, 224. den Western »as a narrative that has been fundamentally connected to the evolving political culture of the United States […]. The American Western was, then, from its inception at the end of the nineteenth century, a form that reflected, shaped and challenged the American political landscape.” (S. McVeigh: American Western, viii.) 3

Georg Seeßlen: Western. Geschichte und Mythologie des Westernfilms, Marburg 1995, 197.

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klassischen Topos des amerikanischen Kinos, insbesondere des Westerngenres. Nirgendwo kann genauer beobachtet werden, wie dem Mythos entsprechend aus Wildnis Zivilisation entsteht, wie der Akt des StaatSchaffens vor sich geht.«4 Das Westerngenre, solchermaßen beteiligt an der Erfindung der amerikanischen Nation und zugleich als produktive filmische ›Bildermaschine‹, verspricht also ergiebige Anschlussstellen für eine Befragung nach dem nationalen Imaginären bzw. danach, wie nationale Gemeinschaften imaginär entworfen und verhandelt werden. Während die skizzierte Verbindung von Westerngenre und USA hinreichend bekannt ist, erscheint es zunächst weniger auf der Hand zu liegen, die Frage nach der Herstellung von Gemeinschaft im Westernfilm ausgerechnet an das Kino der Deutschen Demokratischen Republik der 1960er und -70er Jahre zu stellen. Auch wenn es auf den ersten Blick überraschend anmutet, brachte es der Western in der DDR zu einer beachtlichen Karriere. Als der erfolgreichste aller Spielfilme der Deutschen Film AG (DEFA), die zwischen 1946 und 1990 monopolistisch als Filmproduktionsgesellschaft der DDR arbeitete, kann der Indianerfilm Die Söhne der Großen Bärin (DDR 1966, R: Josef Mach) gelten. 1966, im Jahr seines Kinostarts, sahen acht Millionen Zuschauer den Film5. Statistisch gesehen verfolgte ungefähr jede/r Zweite in der DDR vom Kinosessel aus, wie Häuptling Tokei-ihto gegen Goldsucher, Cowboys und Militär besteht und seine Dakotas aus der Reservation zu einem Neuanfang in der Freiheit jenseits des Missouri führt. Die Produktion der »Abenteuerfilme im Milieu der Indianer«, wie sie bezeichnet wurden, ging nach diesem sensationellen Erfolg in Serie6 und

4

M. Weidinger: Nationale Mythen, 21.

5

Vgl. Gerhard Wiechmann: »Zwischen Karl May und Karl Marx. Der DEFAIndianerfilm Tecumseh«, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hg): Jugendbilder in den DDR-Medien, Bonn 1998, 45-58, 45. Wiechmann ergänzt zu den Zuschauerzahlen folgende Information: »Wichtig zu wissen ist auch, daß die Indianerfilme bis 1990 immer wieder, vor allem im Sommer, neu eingesetzt wurden und einige Kopien damit auf abenteuerlich hohe Abspielzahlen kommen […] Das heißt: Die ursprüngliche Zuschauerzahlen […] wurden später noch beträchtlich erhöht!« (G. Wiechmann: »Zwischen Karl May und Karl Marx«, 47).

6

In Babelsberg wurden zwischen 1966 und 1979 insgesamt zwölf Indianerfilme produziert. Für eine Übersicht vgl. Klaus Wischnewski: »Träumer und gewöhnliche Leute 1966 bis 1979«, in: Filmmuseum Potsdam (Hg.), Das zweite Leben

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Schauspieler Gojko Mitiþ, der jugoslawische Darsteller der Haupt- und Häuptlingsfiguren, wurde zum Superstar und damit zur Ausnahmeerscheinung in der DDR, wo ein Personenkult jenseits des Politischen eigentlich nicht akzeptiert war.7 Wie erklärt sich das Phänomen DEFA-Indianerfilm? Wie kam die DEFA als staatliche Filmgesellschaft der DDR im Auftrag sozialistischer Kulturpolitik dazu, sich im Western-Genre – dem Genre des US-amerika– nischen Mythos – zu versuchen? Wie kam der Indianer in die DDR? ›Der Indianer‹, das soll im Folgenden näher ausgeführt werden, hat sich nicht zufällig auf die Leinwände der DDR-Kinos verlaufen. Vielmehr hat er im deutschen kulturellen Kontext zum Zeitpunkt seines Auftauchens im DEFA-Film bereits eine vielseitige Laufbahn hinter sich als Figur, die in verschiedener Weise immer wieder für die Verhandlung kollektiver Bedürfnisse und die Indienstnahme für nationale Belange herangezogen wurde. Der vorliegende Beitrag will zunächst diese Funktionalisierung ›des Indianers‹ als Figur eines spezifisch deutschen Imaginären nachzeichnen. Die Rede von ›dem Deutschen‹ ist selbstverständlich ebenso fragwürdig wie diejenige von ›dem Indianer‹. Doch vermag der genauere Blick auf die fiktionale Ausgestaltung des einen möglicherweise Aufschlüsse über die Selbstimagination des anderen zu geben. So wird im Folgenden der These nachgegangen, dass mit der Figur ›des Indianers‹ Entwürfe dessen, was vermeintlich ›deutsch‹ ist oder wie Deutsche vielleicht gerne wären, durchgespielt werden. Anhand eines konkreten Filmbeispiels soll ›der Indianer‹ daraufhin untersucht werden, was er über ›die Deutschen‹ und ihre Selbstbilder aussagen kann. Bei der Beschäftigung mit den Wildwestproduktionen bzw. Indianerfilmen der DEFA gilt es, den Fährten des Genres zu folgen und die Filme daraufhin anzuschauen, wie und welche Gemeinschaften hier entworfen werden und in welchem Verhältnis diese Entwürfe zur Nation bzw. zum Nationalen stehen.

der Filmstadt Babelsberg. DEFA-Spielfilme 1946-1992, Berlin 1994, 212-263, vgl. insbesondere den Abschnitt »Phänomen Indianerfilme«, 220-223. 7

Vgl. G. Wiechmann: »Zwischen Karl May und Karl Marx«, 45: Hier wird Mitiþ als der »einzige Leinwand-›Star‹ der DDR« bezeichnet.

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›DER INDIANER‹ ALS FIGUR EINES DEUTSCHEN NATIONALEN IMAGINÄREN Die DEFA-Indianerfilme speisen sich aus einer ambivalenten Faszination, die in Deutschland eine lange Tradition hat und in deren Zentrum ›der Indianer‹ steht. Leicht bekleidet in Lederschurz und Fransenhemd, mit Feder im wehenden schwarzen Haar und Kriegsbemalung im edlen Gesicht bewegt sich ›der Indianer‹ spätestens seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts leichtfüßig – selbstredend in Mokassins – durch das deutsche kollektive Imaginäre und gestaltet es mit. Die Faszination der Deutschen für alles Indianische, die Beschäftigung mit der und Begeisterung für die Indianerthematik gehen über das Interesse in anderen europäischen Ländern noch hinaus.8 Hartmut Lutz diagnostiziert deshalb sogar eine spezifisch »deutsche Indianertümelei« bzw. eine »German obsession« des »Indianthusiasm«9. Als das Charakteristische des deutschen Indianthusiasm wurde verschiedentlich herausgestellt, dass der Indianer hier nicht einfach als Alteritätsfigur, also als der ganz Andere des Europäers, oder, wie im klassischen Hollywoodwestern10, als ›böse Rothaut‹

8

»Indianthusiasm, of course, existed in other European countries as well […] It seems, however, that the identificatory enthusiasm for things Indian – which predated and outlasted Karl May’s fictions by over a hundred years – has particularly flourished in German lands.« Susanne Zantop: »Close Encounters. Deutsche und Indianer«, in: Colin G. Calloway/Gerd Gemünden/Susanne Zantop (Hg.), Germans and Indians. Fantasies, Encounters, Projections, Lincoln/ London 2002, 3-14, 4.

9

Hartmut Lutz: »German Indianthusiasm. A Socially Constructed German National(ist) Myth«, in: C.G. Calloway/G. Gemünden/S. Zantop (Hg.), Germans and Indians, 167-184, 167. Vgl. dazu auch im selben Band: Susanne Zantop: »Close Encounters. Deutsche und Indianer«, 3-14; und: Christian F Feest: »Germany’s Indians in an European Perspektive«, 25-43. Sowie: Hartmut Lutz: ›Indianer‹ und ›Native Americans‹. Zur sozial- und literarhistorischen Vermittlung eines Stereotyps, Hildesheim 1985.

10 Bernd Kiefer und Norbert Grob benennen den »Krieg gegen die Indianer« als eine der neun zentralen Erzählungen des Western-Genres (23) und streichen heraus, der Krieg gegen die Ureinwohner sei in diesem Genre »ein Krieg, den der Western bis in die 50er-Jahre als den gegen das naturhaft Böse nachträglich

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fungiert. Die Beziehung zwischen ›dem Deutschen‹ und ›dem Indianer‹ lässt sich vielmehr als eine identifikatorische beschreiben, die durch Sympathie und Gleichsetzung mit dem Indianer gekennzeichnet ist. »Die Bereitschaft, den Indianer als eine Art Blutsbruder aufzufassen, ist eine deutsche Besonderheit«11, schreibt Max Hollein in dem Ausstellungskatalog I like America. Fiktionen des Wilden Westens. Die gleichnamige Ausstellung, die 2006/07 in der Schirn Kunsthalle Frankfurt zu sehen war, widmete sich den Manifestationen dieser besonderen Beziehung zwischen Deutschen und ›Indianern‹ in den bildenden Künsten sowie im Film und dokumentierte, dass die deutsche Indianer-Begeisterung gerade »in der visuellen Kultur des deutschsprachigen Raumes unübersehbare Spuren hinterlassen hat«12. Die Identifikation mit ›dem Indianer‹ – darauf scheint die Ausstellung hinzuweisen – sucht sich ihr Gegenüber also bevorzugt in Bildern. Mit dieser Nähe zwischen den deutschen Indianerfantasien und medialen Gestaltungen des Bildhaften deutet sich eine Nähe zwischen ›Indianer‹ und dem Imaginärem an. Das Imaginäre, mit Jacques Lacan verstanden als jene sich beständig aktualisierenden und somit niemals abgeschlossenen Prozesse und Dynamiken, die jeglichem wenn auch stets illusionären SelbstEntwurf oder Selbst-Bild zugrunde liegen, bezieht sich auf Bilder bzw. aktualisiert sich über Bilder. Wie es Lacan in der ›Modellgeschichte‹ des Imaginären, seinen Ausführungen zum Spiegelstadium, vorführt, bedarf es für jegliche Identifikation, also für die Herausbildung eines Ichs wie auch

noch ideologisch legitimierte; erst in der Zeit des Vietnamkrieges wurden im Western Züge des Genozids an den Indianern – und dann als politische Allegorie – drastisch inszeniert« (16f.): Norbert Grob/Bernd Kiefer: »Einleitung«, in: Dies., Filmgenres: Western, unter Mitarbeit v. Marcus Stiglegger, Stuttgart, 1240. Vgl. ebenfalls G. Seeßlen: Western, darin insbesondere: »Indianer-Western«, 122-127 und »Rassenprobleme im Western«, 142-147 sowie »Die Rückkehr des verschwundenen Amerikaners: Neue Indianerfilme«, 197-215. 11 Max Hollein: »Vorwort«, in: Pamela Kort/Max Hollein, I like America. Fiktionen des Wilden Westens, München: 2006, Katalog zur Ausstellung »I like America. Fiktionen des Wilden Westens«, Schirn Kunsthalle Frankfurt, 28.09.200607.01.2007, 9-15, 9. 12 Eric Ames: »Cooper-Welten. Zur Rezeption der Indianer-Truppen in Deutschland, 1885-1910«, in: P. Kort/M. Hollein, I like America. Fiktionen des Wilden Westens, 213-229, 214.

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eines kollektiven Wir, eines bildhaften Gegenübers, des Spiegelbilds. Auf dieses können sich die Vorstellungen der eigenen Geschlossenheit, die Vorstellungen von Identität projizieren.13 Dass diese Identifikation stets nur temporär funktioniert und die Ineinssetzung mit dem Bild notwendig illusionär bleibt, erzählt nicht nur der Spiegelstadiumsaufsatz, sondern wird bereits in unserem allgemeinen Verständnis des Begriffs ›imaginär‹ reflektiert. Dies widerspricht jedoch nicht der Wirkmächtigkeit der imaginären Prozesse. Ganz im Gegenteil erhalten sie gerade durch ihren unabschließbaren Charakter ihre besondere Produktivität, in der sie sich beständig neue Bilder suchen müssen, um sich momenthaft zu aktualisieren und funktionierende Selbstentwürfe herzustellen. Selbstverständlich können solche ›Bilder‹ auch narrativ verfasst sein, jedoch lässt sich aufgrund der strukturellen Analogie von einer besonderen Nähe zwischen bildhaften Medien und dem Imaginären ausgehen. Wie Ausstellung und Katalog beispielhaft belegen, eignet sich für bestimmte Zusammenhänge offensichtlich ausgerechnet ›der Indianer‹, um eine Vielzahl materieller Bilder zu speisen und mit identifikatorischer Energie aufzuladen. ›Der Indianer‹ ist also für ›die Deutschen‹ nicht nur eine Figur, über die sich spannende Geschichten erzählen lassen. Sie ist insbesondere anschlussfähig, weil sie Bilder liefert, mit denen die Prozesse des Imaginären produktiv arbeiten können und die sich als Projektionsflächen für identifikatorische Entwürfe anbieten. Dieser Konnex von imaginärer Bildhaftigkeit und identifikatorischem Potential in der Figur ›des Indianers‹ soll in der weiteren Argumentation näher untersucht werden.

13 Vgl. dazu Jacques Lacan: »Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint. Bericht für den 16. internationalen Kongreß für Psychoanalyse in Zürich am 17. Juli 1949«, in: Ders., Schriften I, ausgewählt und hg. v. Norbert Haas, übers. v. Rodolphe Gasché u.a., 3. korr. Aufl., Weinheim/Berlin 1991, 61-70. Der Aufsatz ist ebenfalls verfügbar in dem Reclam-Band Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart, hg. u. kommentiert v. Dorothee Kimmich, Rolf Günter Renner u. Bernd Stiegler, Stuttgart 1996, 177-187. Vgl. zum Spiegelstadium einführend: Dylan Evans: Wörterbuch der Lacanschen Psychoanalyse, übers. v. Gabriella Burkhart, Wien 2002. Sowie: Gerda Pagel: »Im Banne des Spiegels – ›Ich ist ein anderer‹«, in: Dies., Jacques Lacan zur Einführung, 4. verb. Aufl., Hamburg 2002, 21-35.

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Selbstverständlich handelt es sich bei der Figur, die im Mittelpunkt der von Lutz festgestellten Indianer-Besessenheit steht, um eine Fiktion. ›Der Indianer‹, der als ›edler Wilder‹ die Denker der Aufklärung faszinierte, in den Wildwest-Shows und Völkerschauen des ausgehenden 19. Jahrhunderts vorgeführt wurde, als Held in den Romanen von Karl May14 oder auf den Bühnen der Karl May-Festspiele auftritt und dessen Lebensweise Hobbyisten in Indianerklubs15 nachahmen, hat mit den so vielen wie vielfältigen ethnischen Gruppen der Urbevölkerung der amerikanischen Kontinente nicht viel gemein. Bereits die mehr als grob vereinheitlichende Bezeichnung ›Indianer‹, die auf den Irrtum der indienreisenden Entdecker der ›Neuen Welt‹ und der daraus resultierenden Fehl-Benennung der ersten Bewohner Nordamerikas zurückgeht, verweist auf den fiktionalen Charakter der kulturellen Rede vom ›Indianer‹. 16 Wie der aus europäischer Perspektive neu entdeckte Kontinent zur Einschreibefläche kolonialer Macht wurde, bietet sich auch der imaginäre Körper des ›Indianers‹ für die Projektion unterschiedlichster Fantasien an. Gerade die (offensichtliche) Fiktionalität des Indianers scheint ihn zur Figur des Imaginären zu prädestinieren. Eric Ames argumentiert mit Bezug auf die Auftritte von Indianertruppen und die Völkerschauen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, dass sich die starke Faszination der Deutschen durch die Indianer aus einer spezifi-

14 Vgl. auch: Karl Markus Kreis: »Deutsch-Wildwest. Die Erfindung des definitiven Indianers durch Karl May«, in: P. Kort/M. Hollein, I like America. Fiktionen des Wilden Westens, 249-273. 15 Zur Indianerhobbyistik in der DDR vgl.: Friedrich von Borries/Jens-Uwe Fischer, Sozialistische Cowboys. Der Wilde Westen Ostdeutschlands, Frankfurt a. M. 2008. Vgl. zu den westdeutschen Indianerklubs: Peter Bolz: »Indianer und Deutsche: Eine klischeebeladene Beziehung«, in: Peter Bolz/Hans-Ulrich Sanner, Indianer Nordamerikas. Die Sammlungen des Ethnologischen Museums Berlin, Berlin 1999, 9-21. 16 Die koloniale Begriffsgeschichte der Bezeichnung ›Indianer‹ teilen auch andere Übertragungen wie ›Häuptling‹ oder ›Stamm‹. Dies sind eurozentristische Bezeichnungen, die sich für angemessene Beschreibungen der gesellschaftlichen und kulturellen Strukturen nicht eignen. Der vorliegende Beitrag verwendet diese Begriffe insofern, als sie in den behandelten Texten bzw. Filmen auftauchen, und weil es ihm gerade um die Analyse der europäischen Muster geht, für die die kulturelle Rede vom ›Indianer‹ funktionalisiert wird.

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schen Rezeptionshaltung, einer kreativen Eigenbeteiligung der Zuschauer/innen an der Fiktion des Indianers speist.17 So habe das Erfolgsrezept der Wildwest-Shows weniger in der vermeintlichen Authentizität der vorgeführten Indianerfiguren und ihrer wissenschaftlichen Präsentation gelegen als vielmehr darin, dass die Rezipienten in ihnen bereits vertraute literarische Figuren wiedererkannten und gewissermaßen ›zum Leben erweckten‹. Was Ames hier als Logik der Vivifikation18 bezeichnet, lässt sich auch an die Denkfigur des Imaginären anschließen, wird doch ein Mechanismus der Verlebendigung und Aktualisierung bereits tradierter Bilder beschrieben, der das Imaginationsvermögen der Zuschauer/innen einbezieht. Das Imaginäre erweist sich so als ein Prozess, der eine aktive Beteiligung voraussetzt. Die Bilder sind nicht einfach da, sondern müssen auf eine bestimmte Art und Weise aufgenommen, als Projektionsfläche für die eigenen imaginären Entwürfe angenommen und als solche gefüllt werden. ›Der Indianer‹ begegnet den meisten ›Deutschen‹ in Form von stereotypen Bildern. Susanne Zantop, die sich mit ›dem Indianer‹ insbesondere im Rahmen ihrer Studien zu den Kolonialfantasien der Deutschen beschäftigt19, spricht von einem »Prozeß der Klischeeisierung, d.h. der Verflachung und ›Verbildlichung‹«, den ›der Indianer‹ durchlaufen habe und »an dessen Ende Winnetou, Old Shatterhand und ihre Inkarnationen Pierre Brice und Lex Barker stehen«20. Die Formulierung ›Verbildlichung‹ weist dabei auf eine entscheidende Eigenschaft ›des Indianers‹ hin, die zwar bei Zantop nicht ausgeführt wird, sich hier aber anschließen lässt: ›Der Indianer‹ ist eine imaginäre Figur in dem Sinne, dass er ein Bild ohne Original vorstellt, also wie die Imago im Spiegel des Lacan’schen Spiegelstadiums ein Bild

17 Vgl. E. Ames: »Cooper-Welten«. 18 Ebd. 214. 19 Vgl.: Susanne Zantop: Kolonialphantasien im vorkolonialen Deutschland (1779 1870), Berlin 1999. 20 Susanne Zantop: »›Der Indianer‹ im Rasse- und Geschlechterdiskurs der deutschen Spätaufklärung«, in: Herbert Uerlings/Karl Hölz/Viktoria Schmidt-Linsenhoff (Hg.), Das Subjekt und die Anderen. Interkulturalität und Geschlechterdifferenz vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Berlin 2001, 119-133, 121. Zum Indianerbild als Klischee und seiner Entwicklung in Abhängigkeit von gesellschaftlichen Veränderungen siehe auch: P. Bolz: »Indianer und Deutsche: Eine klischeebeladene Beziehung«.

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ist, dem stets eine Täuschung, eine Verkennung zugrunde liegt. ›Der Indianer‹ ist in keiner Weise authentisch, dennoch bzw. gerade deswegen bietet er sich als Projektionsfläche für identifikatorische Selbstentwürfe an. Die ›Verbildlichung‹ zum Klischee und Stereotyp lässt ›den Indianer‹ zum Anschauungsobjekt werden, zu dem wir in erster Linie über den Blick in Beziehung treten. Dieses In-Beziehung-Treten ist es, durch das ›der Indianer‹ zum imaginären Gegenüber wird. Daher hat ›der Indianer‹ seine besonders wirkmächtigen und stark rezipierten Medialisierungen als Ausstellungsgegenstand in den Völkerschauen des späten 19. Jahrhunderts, als Bühnenfigur der Karl-May-Festspiele und nicht zuletzt als Filmheld gefunden. Inwiefern ist ›der Indianer‹ jedoch eine Figur eines nationalen Imaginären? Inwiefern bietet er Anschlussstellen für Prozesse insbesondere kollektiver Identifikation und die Herstellung überindividueller Selbstentwürfe? Bereits in der deutschen Spätaufklärung, so weist Zantop nach, wird ›der Indianer‹ als Projektionsfigur für nationale Fantasien und Begehren, Selbstentwürfe und Wunschbilder geprägt.21 Zantop beschreibt ›den Indianer‹ des deutschen Aufklärungsdiskurses als »ambivalente[] ›Figur des Dritten‹«22, die eine Zwischenposition einnimmt und die Oppositionen des europäischen Denkens wie ›Alte‹ und ›Neue Welt‹ oder ›wild‹ und ›zivilisiert‹ unterläuft. Gerade dadurch böte sich ›der Indianer‹ den Deutschen an als »self-projection as the Indianer of Europe, colonized and oppressed by others yet longing to be free«23. Durch seine »Zwischen-Position«24 bleibt ›der Indianer‹ »vieldeutiges Zeichen […] und Schnittstelle verschiedener Diskurse« wodurch er »für deutsche Beobachter, die sich im ausgehenden 18. und angehenden 19. Jahrhundert selbst auf der Suche nach einer nationalen ›Identität‹ befanden, als Projektionsfläche umso geeigneter«25 wurde. Diese

21 S. Zantop: »›Der Indianer‹ im Rasse- und Geschlechterdiskurs der deutschen Spätaufklärung«. 22 Ebd. 122. 23 S. Zantop: »Close Encounters«, 5. 24 S. Zantop: »›Der Indianer‹ im Rasse- und Geschlechterdiskurs der deutschen Spätaufklärung«, 123. 25 S. Zantop: »›Der Indianer‹ im Rasse- und Geschlechterdiskurs der deutschen Spätaufklärung«, 133. Als Projektionsfläche für nationale Fantasien wird ›der Indianer‹ auch bei H. Lutz: »German Indianthusiasm« betrachtet, der ›den Indianer‹ in eine Tradition deutscher Nationalideologie einordnet, in der Tacitus

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bei Zantop beschriebene Vagheit und Unbestimmtheit, ›Verflachung‹ und ›Verbildlichung‹ machen ›den Indianer‹ für kollektive Identifikationen anschlussfähig und lassen ihn zur Figur eines nationalen Imaginären werden. Auch wenn Zantop nicht mit dem Begriff des Imaginären arbeitet, können ihre Ausführungen dennoch als Beispiele für die Funktionsweisen des Imaginären und die Produktivität des Zusammenspiels von Indianerimaginationen und Imaginärem herangezogen werden. Denn sie zeigt auf, wie gerade über die Art und Weise, in der das Aussehen ›des Indianers‹ beschrieben wird, also über sein Bild, nationale Bedürfnisse der Deutschen verhandelt werden bzw. wie sich mittels daran geknüpfter Begehrensstrukturen so etwas wie ein deutsches Nationales erst entwirft. Es kann also ein Konnex von Indianer, Bildhaftigkeit und der Herausbildung des Nationalen beobachtet werden. Ein weiteres Beispiel für diesen produktiven Zusammenhang liefert Barbara McCloskeys Untersuchung zu Indianerdarstellungen und Wildwest-Szenen in Gemälden und Zeichnungen deutscher bildender Künstler des 19. und frühen 20. Jahrhunderts.26 McCloskey arbeitet heraus, wie in diesen künstlerischen Darstellungen der zeitgenössische Nationenbildungsprozess reflektiert wird. Dass dafür ausgerechnet der Indianer als Motiv herangezogen wird, darin sieht McCloskey die Markierung »eine[s] historischen Wandel[s] in der Wahrnehmung des Indianers, der in dieser Zeit in Deutschland zu beobachten war: Vom Objekt ethnografischer Neugier wurde er zu einem starken Symbol der Identifikation mit nationalistischen Idealen.«27 ›Der Indianer‹ wirkt nicht

Germania und das Nibelungenlied als Produzenten der Vorstellung einer »German ›tribal‹ ethnicity« und damit der Grundlage der »German-Indian identification« (S. 172) angesehen werden. 26 Barbara McCloskey: »Von der ›Frontier‹ zum Wilden Westen. Deutsche Künstler, nordamerikanische Indianer und die Inszenierung von Rasse und Nation im 19. und frühen 20. Jahrhundert«, in: P. Kort/M. Hollein (Hg.), I like America. Fiktionen des Wilden Westens, 299-321. 27 B. McCloskey: »Von der ›Frontier‹ zum Wilden Westen«, 300. McCloskey zeigt auf, wie sich »eine komplexe und widersprüchliche Vorstellung vom Indianer als einem Symbol« entwickelte, »das nicht nur für die Vergangenheit, die Vormoderne, stand, sondern auch für den gegenwärtigen und zukünftigen Weg der deutschen Nation«. Als ein Beispiel unter anderen führt sie Emanuel Leutzes Gemälde Der letzte Mohikaner (1850) an, dass sie als eine politische Positionie-

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nur als Vorstellungsbild, auch bzw. gerade als Gegenstand konkreter Bilder – Gemälde und Zeichnungen – wird er für die Ausgestaltung eines nationalen Imaginären funktionalisiert. ›Der Indianer‹ lässt sich also als Figur eines deutschen nationalen Imaginären lesen, die seit dem späten 18. Jahrhundert immer wieder in Erscheinung trat und über die bestimmte, historisch bedingte Belange des Nationalen verhandelt wurden.

DEFA-INDIANER Mit Die Söhne der Großen Bärin betrat der Indianer im Jahr 1966 die Leinwände der DDR-Kinos und erreichte von dort große Zuschauerzahlen. Die produktive Nähe und Verwandtschaft zwischen dem Kino und dem Imaginären als konstellativer Anordnung der Identifikation über Bildentwürfe und Selbsttäuschung wurde von der psychoanalytischen Filmtheorie ausgiebig beschrieben.28 Wie das Kino gezielt als Gestaltungsmittel für ein kollektives Imaginäres genutzt wird, dafür kann die Geschichte der DEFA als Beispiel herangezogen werden. Die Filmproduktionsgesellschaft der DDR wurde 1946 gegründet29 und war ein unmittelbar nach Kriegsende von den sowjetischen Besatzern etab-

rung des Künstlers einordnet, mit der er für die unerfüllt gebliebenen Ziele und Ideale der revolutionären Bewegungen um 1848 eintrat. Der Mohikaner, als letzter Vertreter seines edlen Volkes und damit zugleich als tragische, jedoch überlegene Figur, wird solchermaßen zum Sinnbild für die vorerst gescheiterte Idee einer nationalen Einheit. 28 Vgl. einschlägig: Christian Metz: Der imaginäre Signifikant. Psychoanalyse und Kino [1982], übers. v. Dominique Bühler u.a., Münster 2000. Zur Einführung siehe: Hermann Kappelhoff: »Kino und Psychoanalyse«, in: Jürgen Felix (Hg.), Moderne Film Theorie, Mainz 22003, 130-159. Sowie: Thomas Elsaesser/Malte Hagener: »Spiegel und Gesicht«, in: Dies., Filmtheorie zur Einführung, Hamburg: 2007, 75-102. 29 Nach verstärkten Krisen in den 1980er Jahren kam das Ende der DEFA mit dem Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland. 1990 wurde die DEFA zunächst in die Verwaltung der Treuhandanstalt überführt. Die ehemaligen DEFA-Filmstudios in Babelsberg wurden

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liertes Instrument der Kulturpolitik für den Aufbau des ›neuen Deutschlands‹. Film war in diesem Sinne nicht einfach (nur) Propagandainstrument, sondern sollte aktiv zur Gestaltung der sozialistischen Gesellschaft beitragen.30 Gerade dieser politische und kreative Auftrag, mit dem Wertschätzung im ideellen wie materiellen Sinne verbunden war, zog in den ersten von liberal-zurückhaltender Kulturpolitik geprägten Jahren eine ganze Reihe talentierter Filmschaffender an, die in der Mitgestaltung der neuen, anderen deutschen Gesellschaft eine künstlerische Herausforderung sahen. So äußert sich Kurt Maetzig – 1937 von der Reichsfilmkammer von jeglicher Arbeit am Film ausgeschlossen, 1946 DEFA-Mitgründer und einer der ersten DEFA-Regisseure – rückblickend über die produktive Aufbruchsstimmung der Anfangsjahre: Wir wollten geistig und künstlerisch einen Neuanfang. Uns bewegte eine strikt antifaschistische Haltung, wir strebten danach, auch mit der Filmkunst zur Demokratisierung beizutragen. Daß wir aber zugleich durch unsere eigene Vergangenheit verbunden waren mit alter deutscher, also auch mit Ufa-Tradition, ist uns damals viel weniger bewußt gewesen. Unmittelbar nach dem Krieg war es für mich fast eine Selbstverständlichkeit, dort arbeiten zu wollen, wo die Chance eines radikalen Bruches mit der Entwicklung, die zum Faschismus geführt hatte, in praktischer Filmarbeit verwirklicht werden konnte. Das war hier im Osten. Es gab dafür hier anfangs einen großen Freiraum.31

Die DEFA trat also an, um mit der DDR ein ›neues Deutschland‹ zu gestalten und mit ihren Filmen Bildentwürfe für ein neues kollektives Imaginäres

zwei Jahre später, 1992, von einem Medienkonzern übernommen und befinden sich mittlerweile im Besitz privatwirtschaftlicher Unternehmen. Der DEFANachlass wird heute von der DEFA-Stiftung verwaltet. Vgl. dazu die Informationen auf der Homepage der Stiftung http://www.defa-stiftung.de/ (22.01. 2012), sowie: Séan Allan: »DEFA: An Historical Overview«, in: Séan Allan/ John Sandford (Hg.), DEFA. East German Cinema 1949-1992, New York/Oxford 4

2003, 1-21.

30 Vgl. Dagmar Schittly: »DDR-Alltag im Film. Verbotene und zensierte Spielfilme der DEFA«, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 17 (2002), 23-27, 23. 31 Kurt Maetzig: Neuer Zug auf alten Gleisen, siehe http://www.filmportal.de (22.01.2012).

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zu liefern. Die zwanzig Jahre später in Serie gehenden Indianerfilme scheinen auf den ersten Blick nicht so ganz in dieses intellektuelle Programm und zu seinem kulturpolitischen Anspruch zu passen. Doch auch »die einzige kontinuierliche Erfolgsserie in einem Genre«32 in der DDR untersteht den im Prinzip gleichen kulturpolitischen Überlegungen. Die Entstehung der DEFA-Indianerfilme kann als unmittelbare Reaktion auf die westdeutschen Karl May-Verfilmungen gesehen werden. Mit Der Schatz im Silbersee (BRD 1962, R: Harald Reinl) begann die überaus erfolgreiche Winnetou-Filmwelle des bundesrepublikanischen Kinos, von der auch die DDR erfasst wurde. Zwar zeigten die Lichtspielhäuser der DDR die Westproduktionen nicht, doch boten zum Beispiel die Prager Kinos Gelegenheit für Begegnungen des DDR-Publikums mit Winnetou und Old Shatterhand.33 Dem Erfolg der westdeutschen Western und dem anwachsenden Einfluss des (West-)Fernsehens sollte im sozialistischen Sinne ›politisch korrekte‹ Unterhaltung entgegen gesetzt werden. Statt May’scher Fantastereien und Lügenmärchen sollte ›historisch Wahres‹ vermittelt werden und dabei, entsprechend dem kulturpolitischen Auftrag der DEFA, die weltanschaulichrelevanten, auf die Gegenwart übertragbaren Botschaften transportiert werden. Solchermaßen sollten jedoch nicht einfach Produkte einer als Entertainment getarnten Erziehung entstehen – quasi die sozialistische takehome-message im Indianerkostüm. Wie Gerhard Wiechmann herausstellt, verstand sich das theoretische Programm der ›sozialistischen Unterhaltung‹ nicht als schlichter Ausgleich zur Arbeitswelt. 34 Stattdessen erhielt Unterhaltung eine konkrete gesellschaftliche Funktion, insofern als Kunsterlebnisse, wie sie etwa der Film ermöglicht, zur Lösung des Spannungsverhältnisses zwischen Berufsleben und dem Wunsch nach Erholung beitragen sollten und somit ganz konkret als Mittel der Stabilisierung des politischen Systems gesehen wurden. Im Jahr 1966, dem Uraufführungsjahr von Die Söhne der großen Bärin, wurde die Unterhaltung in Gestalt der Indianerfilme zudem unvorhergesehen zur »Rettungsboje«35 für die DEFA. 1966 war das Jahr der ›Kaninchen-

32 K. Wischnewski: »Träumer und gewöhnliche Leute«, 220. 33 Vgl. G. Wiechmann: »Zwischen Karl May und Karl Marx«, 45. 34 Vgl. ebd. 46. 35 K. Wischnewski: »Träumer und gewöhnliche Leute«, 221.

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filme‹36: In der Folge des 11. Plenums des SED-Zentralkomitees wurde fast die komplette DEFA-Jahresproduktion verboten.37 Der Kurswechsel innerhalb der Sowjetunion hatte seine Auswirkungen auf die DDR und ihre Kulturpolitik, die nach einer relativ liberalen Phase in den Jahren nach dem Mauerbau nun demonstrativ verschärft wurde. Die Söhne der Großen Bärin war von diesem kulturpolitischen Kahlschlag nicht betroffen; ganz im Gegenteil – die Indianerfilme gingen danach in Serie. Die Erfolgsgeschichte der DDR-Indianerfilme begann und begleitete also eine Zeit, die vom »Rückzug ins Private«38 gekennzeichnet war, in der sich die Filmschaffenden von einer problematisierenden Thematisierung des Politischen abwendeten bzw. abwenden mussten. Die DEFA-Indianerfilme können einerseits als geplant eingesetztes Mittel zur Vermittlung politisch-ideologischer Botschaften angesehen werden. Andererseits lässt sich jedoch insbesondere vor der Folie der spezifischen Funktion des Indianers als imaginäre Figur im deutschen Kontext fragen, ob in den Filmen nicht über die Propaganda hinaus ein ›nationales Ding‹ verhandelt wird? In seinem Aufsatz Between Karl May and Karl Marx stellt Gerd Gemünden die DEFA-Indianerfilme den westdeutschen Karl-May-Verfilmungen gegenüber und argumentiert, dass die DEFAIndianerfilme nationale Identität verhandeln, indem sie in der Erzählung der Kolonialisierung Nordamerikas aus der Perspektive der Indianer den antifaschistischen Gründungsmythos der DDR aufgreifen und zugleich den kapi-

36 Diese Bezeichnung für die verbotenen Produktionen leitet sich her von dem Titel des ebenfalls verbotenen Films Das Kaninchen bin ich (DDR 1965, R: Kurt Maetzig). Siehe dazu auch die entsprechenden Kapitel in: Wolfgang Gersch: Szenen eines Landes. Die DDR und ihre Filme, Berlin 2006. Sowie: Stefan Soldovieri: »Censorship and the Law: The Case of Das Kaninchen bin ich (I am the Rabbit)«, in: S. Allan/J. Sandford (Hg.), DEFA. East German Cinema 19491992, 146-163. 37 Vgl.: S. Allan: »DEFA: An Historical Overview«, insbesondere 11-14; Wolfgang Gersch: »Film in der DDR. Die verlorene Alternative«, in: Wolfgang Jacobsen/Anton Kaes/Hans Helmut Prinzler (Hg), Geschichte des deutschen Films, 2. akt. u. erw. Aufl., Stuttgart 2004, 357-404, insbesondere 376-387. 38 D. Schittly: »DDR-Alltag im Film«, 27.

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talistischen Imperialismus kritisieren.39 So schreibt Gemünden, die Erzählung vom Neuanfang der Dakotas in Die Söhne der Großen Bärin wirke wie »blueprints for a better socialist Germany«40. Tatsächlich scheint Häuptling Tokei-ihto (Gojko Mitiþ) mit seiner Zielsetzung »Ackerbau, zahme Büffel züchten, Eisen schmieden, Pflüge machen – das ist unser neuer Weg« nicht nur die entwurzelten Dakotas für den neuen ›Arbeiterund Bauernstaat‹ gewinnen, sondern zugleich die Zuschauer in den ostdeutschen Kinos an die Grundprinzipien ihres Staates erinnern zu wollen. Nun ist ›nationale Identität‹, mit der Gemünden argumentiert, jedoch insbesondere im Fall der Rede von der DDR oder der Bundesrepublik zwischen 1945 und 1990 eine labile Kategorie. Nicht nur ist nach ’45 die Inanspruchnahme des Nationalen generell problematisch geworden. Zudem wirft das gleichzeitige Vorhandensein von zwei deutschen Staaten mit konkurrierenden Weltanschauungen von vornherein die Frage auf, worauf sich der Begriff der Nation eigentlich bezieht. So war denn auch die Nation im politischen Programm der DDR keine Bezugsgröße, sah man sich doch vielmehr als Teil der Gemeinschaft der sozialistischen Länder. Gemündens These, dass sich die DEFA-Indianerfilme als Identifikationsangebote lesen lassen, die sich an der Etablierung einer positiven DDR-Identität beteiligen wollen, scheint somit zunächst diesen historischen Umständen nicht Rechnung zu tragen. Verschiebt man jedoch den Fokus von der Frage nach nationaler Identität zu der nach einem nationalen Imaginären, erweisen sich Gemündens Thesen als sehr anschlussfähig. Die DEFA-Western greifen mit ›dem Indianer‹ eine Figur auf, die im deutschen Kontext immer wieder Bilder für die Verhandlung und Erprobung nationaler Selbstentwürfe geliefert hat. Das Auftauchen dieser Figur im Film der DDR und ihre begeisterte Aufnahme beim Publikum lässt die Frage zu, inwiefern auch hier das besondere identifikatorische Potential ›des Indianers‹ für Kollektive eine Rolle spielt. Zu fragen ist weiterhin, ob sich dadurch den Filmen, die vordergründig im Dienst der sozialistischen Ideologie stehen und folglich andere Gemeinschaftskonzepte als das der Nation erwarten lassen, eine zweite Lesart einfügt und sich die Filmbilder von den Indianern als Identifikationsangebote lesen lassen, in denen doch auch auf Identitätskategorien wie

39 Gerd Gemünden: »Between Karl May and Karl Marx. The DEFA-Indianerfilme (1965-1983)«, in: Film History 10 (1998), 399-407. 40 Ebd. 400.

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die der Nation zurückgegriffen wird. Wenn der Mechanismus des Imaginären stets auf eine – wenn auch illusionäre – Schließung aus ist, könnte es sein, dass sich die Nation, als bewährte Gestalt dieser Schließung, hier dem Diskurs wieder einschreibt. Diesen Fragen soll im Folgenden anhand eines konkreten Filmbeispiels nachgegangen werden.

CHINGACHGOOK, DIE GROSSE SCHLANGE Zweierlei ›rote Gemeinschaften‹: Delawaren und DDR-Publikum Ein Jahr nach Die Söhne der Großen Bärin lief 1967 mit Chingachgook, die große Schlange41 der zweite DEFA-Indianerfilm in den ostdeutschen Kinos an. Der Film spielt im Jahr 1740 und basiert auf James Fenimore Coopers Lederstrumpf-Roman Wildtöter (1841). Damit liegt dem DDRFilm eine der weltberühmten Western-Geschichten zugrunde, die dazu noch von einem amerikanischen Autor verfasst wurde. Trotz dieser deutlichen Fiktionalitätsmerkmale erzählt der Film wie kaum ein anderer der DEFA-Indianerfilme seine Filmhandlung mittels eines geradezu dokumentarischen Gestus. Dies gilt insbesondere für die Eingangssequenz und nimmt im Verlauf der Handlung ab. Eröffnet wird der Film mit einer fast zweiminütigen Tanzszene, die eher eine ethnologische Dokumentation als einen Abenteuerstreifen erwarten lässt. Hier weisen viele Details der Ausstattung auf eine sorgfältige Recherche hin und generieren damit den Anschein von Authentizität. Auch die langen Einstellungen dieser Eingangssequenz, die Zeit für ausgiebige Betrachtung geben, tragen zu dem Eindruck, dass die Zuschauer dokumentarische Bilder zu sehen bekommen, bei. Während in der folgenden Sequenz eine Trommel den Delawarenstamm in der Mitte des Dorfes zusammenruft, nimmt eine Off-Stimme die historische Verortung vor und präsentiert die Indianer als unschuldige Opfer eines intriganten Kapitalismus in der Folge der englisch-französischen Kolonialkriege:

41 Chingachgook, die große Schlange, DDR 1967, R: Richard Groschopp

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Die Ereignisse, die wir schildern, spielen in den frühen Tagen der amerikanischen Kolonien. Die Delawaren, wie alle Indianerstämme, treiben Handel mit den europäischen Siedlern. Die Indianer haben keinen Vergleich für den Wert ihrer kostbaren Pelze. Für Geräte aus Eisen, Tomahawks und Gewehre, aber auch für die ersten Pferde müssen sie einen vielfachen Gegenwert bezahlen. Dieser unehrliche Handel zwingt die Indianer immer mehr in wirtschaftliche Abhängigkeit. Die um den Besitz des Landes streitenden Kolonialmächte nutzen ihre Macht. Die roten Männer erkennen nicht, dass sie ihre Freiheit verlieren und ihre Stammesfeindschaften verhängnisvoll zugespitzt werden. So werden die Delawaren erbitterte Feinde der Huronen.

Diese in sachlich-getragenem Ton gesprochenen Ausführungen lassen keinen Zweifel über die ideologischen Fronten aufkommen: Die ›unschuldige‹ und ›ursprüngliche‹ Kultur der Indianer wird vom Einfluss der »unehrliche[n]«, »streitenden« Kolonialmächte vergiftet. Der dokumentarische Stil sorgt dafür, dass diese Einordnung nicht als Teil einer fiktionalen Erzählung, sondern als historisch verbürgt erscheint. Unmittelbar anschließend wird in einem weiteren Tanz Chingachgook (Gojko Mitiþ), Hauptfigur und Held des Films und damit zugleich Identifikationsfigur für das Publikum, vorgestellt. Die Sympathien der Zuschauer sind also mit den ›roten Männern‹ und in dem historisierenden Kommentar der Stimme aus dem Off wird noch eine zweite, auf die Gegenwart der Zuschauer zielende Botschaft hörbar. Hinter den Kontrahenten auf der Leinwand, den ›Roten‹ und den ›Weißen‹, wird ein anderes vertrautes antagonistisches Gegnerpaar erkennbar, das von Sozialismus und Kapitalismus. Die Bedrohung der ›roten Gemeinschaft‹, von der der Film erzählt, betrifft das DDR-Kinopublikum also ganz unmittelbar. Unter den Vorzeichen von ›historischer Wahrheit‹ und ›Authentizität‹ transportiert der Film zugleich eine aktuelle, ideologische Botschaft von Kapitalismuskritik, Antiimperialismus und Antifaschismus, die im Handlungsverlauf immer wieder aufgegriffen und ausgestaltet wird. So wird die eigentliche Handlung des Abenteuerfilms überhaupt erst angestoßen durch die Folgen der in den kapitalistischen Intrigen entstandenen Feindschaft zwischen den Huronen und Delawaren: Die Huronen entführen Wahtawah, die Braut Chingachgooks, feige aus dem Delawarendorf. Die Suche nach Wahtawah und ihre Befreiung durch Chingachgook und seinen Sidekick, den ›Weißen‹ Wildtöter, bilden den eigentlichen Plot. Um die Seite der ›Bösen‹ einführend auf den Punkt zu bringen, dient eine Szene im englischen Fort, die für den Handlungsverlauf ansonsten

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nicht weiter relevant erscheint. Hier wird deutlich: Der Imperialismus der streitenden Kolonialmächte fußt auf einer rassistischen Weltsicht. Die Werte, um die es in diesem Krieg geht, heißen »Macht, Land und Reichtümer« und um diese zu erlangen, gilt es, »bis zum letzten Indianer zu kämpfen«. Diese unmittelbare Verschränkung von kapitalistischem Weltbild und rassistischem Gedankengut, die im weiteren Verlauf immer wieder aufgerufen wird, entspricht der zeitgenössischen Rhetorik der DDR. Die grundsätzliche Annahme einer untrennbaren Verbindung zwischen Kapitalismus und Faschismus bildet die Basis für den antifaschistischen Gründungsmythos der DDR. Diese Gleichsetzung dekliniert der Film bis zur letzten Konsequenz durch und setzt im Überfall der englischen Soldaten auf das Lager der Huronen den daraus folgenden Völkermord ins Bild. Der Überfall auf das Indianerlager verdreht zum einen die Logik des klassischen HollywoodWestern, wo stets die Indianer die weißen Siedler überfallen und skalpieren. Hier sind es hingegen ›die Weißen‹ und sogar das Militär, die die Indianer überfallen und es sind ›die Weißen‹, denen das Skalpieren zugeschrieben wird. Der Film geht jedoch über die bloße Kritik an den einseitigen Schilderungen des Westerngenres hinaus. Gezeigt wird der (verdrehte) ›Indianerüberfall‹ als organisierter, systematischer Völkermord, bei dem die Uniform der Täter als deutliches Zeichen eines Bedeutungsunterschiedes fungiert. Die Uniform weist den Mord an den Indianern als kollektives Schuldigwerden einer Nation aus. Ähnlich wie es Katrin Sieg für die westdeutschen Karl May-Festspiele der 1950er Jahre herausgearbeitet hat, kann auch hier davon ausgegangen werden, dass die Darstellung des Genozids an den Indianern im zeitgenössischen Kontext als Subtext den Genozid an den europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland mittransportiert. 42 Sieg interpretiert die Rolle der Bad Segeberger Festspiele für die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft als die der Bereitstellung von ›Wiedergutmachungsfantasien‹ bzw. einer »Technology of Forgetting«43, in der in einem Stellvertreterverhältnis Winnetou durch seine Freundschaft mit dem Weißen Old Shatterhand zugleich den (kollektiv)schuldig gewordenen

42 Vgl. Katrin Sieg: »Race and Reconstruction: Winnetou in Bad Segeberg«, in: Dies., Ethnic Drag. Performing Race, Nation, Sexuality in West Germany, Ann Arbor 2002, 73-113. 43 K. Sieg: »Race and Reconstruction«, 84.

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Deutschen verzeiht.44 Für den ostdeutschen Rahmen lässt sich eine etwas andere Einordnung vermuten, die sich weniger mit dem Problem des eigenen Schuldigwerdens auseinander setzt, jedoch auf andere Weise mit identifikatorischen Angeboten operiert. Der deutsche Nationalsozialismus und Faschismus sind die Abgrenzungsfolie, vor der sich die DDR als ›das bessere Deutschland‹ entwarf. Damit ruft der Film hier den antifaschistischen Gründungsmythos der DDR in Erinnerung. 45 Der Film adressiert seine zweite Botschaft also deutlich an das DDR-Filmpublikum und macht Identifikationsangebote, die sich auf die Gegenwart beziehen lassen. In der Gegenwart der Filmzuschauer gibt es jedoch zwei konkurrierende Entwürfe für ›das bessere Deutschland‹. So lässt sich neben der ideologischen Erzählung vom Kampf der ›roten Männer‹ gegen die kapitalistisch-faschistische Bedrohung zugleich eine Erzählung über die zwei Deutschlands erkennen. Allianzen: Blutsbrüder und sozialistische Völkerfreundschaft Die DEFA-Indianer wurden im Kampf gegen die westdeutschen Karl MayVerfilmungen auf die Leinwand geschickt. Zwischen dem Beispiel Chingachgook und den Westproduktionen ergibt sich durch die TitelfigurSidekick-Konstellation eine auffällige Parallele. Wie Winnetou kämpft auch Chingachgook mit einem ›Bleichgesicht‹ als Verbündetem an seiner

44 ›Der Indianer‹ wird also auch bei Sieg zu einer Figuration, über die bestimmte nationale Bedürfnisse und Begehren fokussiert werden. In den FreilichtbühnenFestspielen werden laut Sieg die Deutschen wieder ›gut gemacht‹, indem ihnen hier ermöglicht wird, sich mit den jüdischen Opfern des Holocaust – die für Sieg hinter den Indianern der Bühnenstücke aufscheinen – zu identifizieren und sich damit auf die ›gute Seite‹ zu schlagen bzw. als ›die Guten‹ zu imaginieren. Solchermaßen figuriert ›der Indianer‹ hier wiederum ein nationales Imaginäres, indem er die Projektionsfläche bietet für bestimmte kollektive Bedürfnisse, die der mit Sieg als traumatisiert verstandenen Nachkriegsgesellschaft Westdeutschlands die kathartische Möglichkeit eines positiven Selbstentwurfs bietet. 45 Vgl. zum Antifaschismus als Gründungsmythos der DDR: Katrin Hammerstein: »Schuldige Opfer? Der Nationalsozialismus in den Gründungsmythen der DDR, Österreichs und der Bundesrepublik Deutschland«, in: Regina Fritz/Carola Sachse/Edgar Wolfrum (Hg.), Nationen und ihre Selbstbilder. Postdiktatorische Gesellschaften in Europa, Göttingen 2008, 39-61, insbesondere 41-44.

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Seite, dem Jäger Wildtöter.46 Diese Figurenkonstellationen sollen hier kurz näher betrachtet und auf die Frage nach den zwei konkurrierenden Deutschlands in der Gegenwart der Erfolgsfilme bezogen werden. Winnetou und Old Shatterhand können sicherlich als eine der bekanntesten Paarungen des deutschen Kinos gelten. In den westdeutschen Winnetoufilmen wie auch in den Karl May-Festspielen47 wird Old Shatterhand als ›guter Weißer‹ deutlich von anderen ›bösen Weißen‹ unterschieden. Vor diesen beschützt Old Shatterhand seine Indianer-Freunde, die solchermaßen in der Rolle der naiven und deshalb bedrohten ›Eingeborenen‹ bleiben. Auch als ›guter Weißer‹ ist Old Shatterhand der anderen Seite zugeordnet – und das sind die europäischen ›Eroberer‹ des nordamerikanischen Kontinents. Old Shatterhand ist also beides, Freund der Indianer und gleichzeitig ihr Besatzer. Er entspricht damit dem Prototypen eines ›guten Kolonialherren‹ oder auch einer freundlichen Besatzungsmacht. Damit lässt die Figur Old Shatterhand, zudem in der weitaus bekanntesten Besetzung der Winnetou-Filme von dem amerikanischen Actionschauspieler Lex Barker gespielt, an einen weiteren Aspekt der deutsch-deutschen Nachkriegsgeschichte denken. Old Shatterhand wird in den Karl May-Verfilmungen immer wieder als ›der große weiße Bruder‹ Winnetous und der Indianer bezeichnet. Die Rede vom ›großen Bruder‹ ruft im Kontext der frühen Jahre der Bundesrepublik die USA als Verbündete und Besatzer Westdeutschlands auf. Zu diesem Bild des ›großen Bruders‹ gehört die Stilisierung der USA als Befreier Europas von Hitler und dem Faschismus und als ›Kolonialherren‹ des westdeutschen Wirtschaftswunders.

46 Mit der Gestaltung Chingachgooks als Hauptfigur und Wildtöters als seinen Begleiter nimmt der DEFA-Film im Übrigen eine deutliche Abweichung von der Romanvorlage vor. Bei Cooper steht Wildtöter als Titelfigur im Zentrum der Handlung, während Chingachgook überhaupt erst im vierten Kapitel auftritt. Vgl. James Fenimore Cooper: »Der Wildtöter«, in: Ders., Lederstrumpf, Band 1, Gütersloh 1991, 7-114. 47 Zu ›Wiedergutmachungsfantasien‹ werden Sieg zufolge die Karl May-Spiele insbesondere durch die Figur des Old Shatterhand, der als Rächer und Beschützer der bedrohten Indianer den ›guten Deutschen‹ rehabilitiere und als Identifikationsfigur für die Zuschauer im westlichen Nachkriegsdeutschland diente. Vgl. K. Sieg: »Race and Reconstruction«.

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In den bundesrepublikanischen Indianerfantasien erhält ›der Indianer‹ Winnetou Unterstützung durch Old Shatterhand. Im Unterschied dazu setzen die ostdeutschen Filme auf andere Muster. Im Gegensatz zu Old Shatterhand kommt Wildtöter nicht von Außen, sondern ist bei den Delawaren aufgewachsen, sozusagen indianisch sozialisiert. Die Blutsbrüderschaft stellt das wichtigste und oft betonte Element der Beziehung zwischen Old Shatterhand und Winnetou dar. Die Verbindung zwischen Chingachgook und Wildtöter hingegen muss nicht erst durch langwierige und ritualisierte Zeremonien als Blutsbrüderschaft installiert werden. Stattdessen bezeichnen sich Wildtöter und Chingachgook als Freunde. Folgt man der Analogie Old Shatterhand/Winnetou = USA/Bundesrepublik, dann bestätigt die Konstellation Wildtöter/Chingachgook für das Verhältnis Sowjetunion/DDR eine Beziehung, die nicht Besetzte und Besatzermacht umfasst, sondern immer schon ideologisch in der sozialistischen Solidarität begründet liegt. Blutsbrüderschaft muss hier nicht erst geschlossen werden; ein anderes rotes Band, die sozialistische Freundschaft, garantiert bereits die Verbindung. Entsprechend dieser Argumentation kämpfen Wildtöter und Chingachgook auf der Leinwand zwar Seite an Seite für die gemeinsame Sache, aber Wildtöter ist nicht wie so oft Old Shatterhand der aktive Part oder Retter in letzter Not, sondern Chingachgook bleibt stets der Herr seiner Handlungen und wird als Widerstandskämpfer mit einer klaren politischen Mission gezeigt. Im Namen von Gespaltene Eiche – Indianer aller Länder, vereinigt euch! Das Ziel von Chingachgooks Partisanenmission ist zum einen die Befreiung seiner Braut Wahtawah, zum anderen geht es um den Frieden zwischen den Stämmen der Delawaren und Huronen. Chingachgook hat die Absicht ›der Weißen‹ durchschaut, die Zwietracht zwischen den Indianern stiften und diese Uneinigkeit für die Verfolgung ihrer kapitalistischen und imperialistischen Interessen einsetzen. Die Parole, die sich Chingachgook auf die Fahnen geschrieben hat, lässt sich demnach auf eine sozialistische Formel bringen: ›Indianer aller Länder, vereinigt euch!‹.48 Gegen den Zusammenschluss der roten Brüder sind in dem konkreten Beispiel des Films engli-

48 Vgl. G. Gemünden: »Between Karl May and Karl Marx«, 400.

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sche und französische Kolonisatoren, wie im übertragenen Sinne der Kapitalismus machtlos. Wenn am Ende des Films der sterbende Huronenhäuptling den Überlebenden des Massakers seine Botschaft verkündet, hat Chingachgook sein Ziel erreicht: »Schließt Frieden mit allen Stämmen der roten Männer!«, sind die letzten Worte des alten Häuptlings. Diese Einheit, die am Ende des Films erreicht wird und eine bessere Zukunft verspricht, ist die leitende Idee des Films. Unterstrichen wird diese zentrale Stellung, die der Friedensschluss zwischen den beiden Stämmen im Film einnimmt, durch einen vergleichenden Blick in Coopers Romanvorlage. Der Text sieht keinerlei Versöhnung zwischen den Indianervölkern vor – ganz im Gegenteil beteiligen sich die Delawarenkrieger sogar an der vollständigen Vernichtung der Huronen durch die Engländer.49 Der Film nimmt also eine deutliche Umschrift vor. In der Betonung des Ideals der Vereinigung scheint zudem mehr angesprochen zu sein, als nur die sozialistischen Ideen von Internationalismus und Völkerfreundschaft.50 Der Film erzählt von zwei ›Brudervölkern‹ über die die historischen Ereignisse hereingebrochen sind und die durch den Willen und die Handlungen anderer Mächte gespalten und zur (Klassen-)Feindschaft getrieben wurden. Auf die Huronen wirkt das Bündnis mit den ›Bleichgesichtern‹ prägend. Während das Volk der Delawaren unschuldig feiert oder Chingachgook als ihr Repräsentant auf friedlichen Missionen unterwegs ist, können die Huronen ihr hinterlistiges Treiben nicht lassen. Wiederum wird die Abweichung von der Textvorlage bedeutungsvoll: Während der Leders-

49 Vgl. J.F. Cooper: »Der Wildtöter«, 113. 50 Diesen Aspekt in einem anderen Rahmen weiterzuverfolgen, wäre jedoch sicherlich nicht minder lohnenswert, ruft doch der Film mit der zentralen Gestaltung des Zusammenschlusses der beiden Stämme Assoziationen an den ›Irokesenbund‹ auf und damit an jenen Völkerbund aus sechs indianischen Nationen, auf dessen Verfassung sich nicht nur die Gründungsväter der USA bezogen, sondern dessen Gesellschafts- und Familienform auch bei Friedrich Engels aufgrund der »kommunistischen Haushaltung« als Gegenmodell zu den kapitalistisch und patriarchisch organisierten modernen Gesellschaftssystemen Europas fungiert. Vgl.: Friedrich Engels: »Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates«, in: Karl Marx/Ders., Werke, Bd. 21, Ost-Berlin 5

1975, 36-84. Für den Hinweis danke ich Sigrid G. Köhler.

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trumpf-Roman die Huronen als ›böse Wilde‹ zeichnet51, sind die Huronen im Film nicht ›von Natur aus‹ schlecht. Vielmehr ist es erst der böse Einfluss ›der Weißen‹ – und damit der Kapitalisten und Imperialisten –, der die Huronen zu Feinden der Delawaren werden lässt.52 Der Film zeigt die Huronen als durchdrungen vom kapitalistischen und Warenwert-fetischistischen Denken der Weißen. So lassen sich die Huronen etwa durch Nippes-Gegenstände zum Austausch ihrer Gefangenen bewegen, wobei sie sich als gewiefte Verhandlungspartner erweisen. Im Gegensatz dazu sind die Delawaren frei von solchen Tauschgedanken. Mit dem Ausruf »Ein Delawaren-Mädchen kauft man nicht frei!« lehnt Chingachgook jeden Gedanken an ein ähnliches Tauschgeschäft zur Befreiung seiner Braut ab. Das marktwirtschaftlich orientierte Denken entspricht nicht den Delawaren. Mit der Zeichnung dieser Opposition wird der Film als Erzählung über die zwei Staaten des geteilten Deutschlands lesbar. Dabei stellen die Delawaren, allen voran Chingachgook, die Identifikationsfiguren für das ostdeutsche Publikum dar. Verstärkt bzw. deutlich erkennbar wird die Bezugnahme auf das geteilte Deutschland besonders durch die Figur des alten Häuptlings, der am Ende des Films die Vereinigungsbotschaft ausspricht und damit zugleich die Einheit performativ herstellt. Signifikant ist sein bildhafter Name, Gespaltene Eiche. Damit wird die Eiche als der deutsche Baum und als Metapher für Deutschland oder, konkreter, für die deutsche Nation aufgerufen.53 Diese Konnotation, die deutlich auf den deutschen zeitgenössischen Kontext des Filmpublikums hinweist, ist wiederum einer Abweichung von Coopers Roman geschuldet. Im Text heißt der Huronenhäuptling Rivenoak. Anders als viele deutsche Übersetzungen der Erzählung, die zwar Deerslayer in Wildtöter übertragen, aber Rivenoak unübersetzt lassen, nimmt der Film eine Übersetzung vor und betont damit

51 Vgl. J.F. Cooper: »Der Wildtöter«. 52 Vgl. dazu auch noch einmal die bereits zitierte Eingangssequenz des Films. 53 Vgl. dazu: Annemarie Hürlimann: »Die Eiche, heiliger Baum deutscher Nation«, in: Bernd Weyergraf (Hg.), Waldungen. Die Deutschen und ihr Wald, Katalog zur Ausstellung der Akademie der Künste, 20.09.-15.11.1987, Berlin 1987, 62-69; sowie: Alexander Demandt: »Der Wald und die Bäume«, in: Ders., Über die Deutschen. Eine kleine Kulturgeschichte, Berlin 2007, 166-192, insbesondere 185-189; sowie: Dietmar Peil: »Eiche«, in: Günter Butzer/Joachim Jacob (Hg.), Metzler Lexikon literarischer Symbole, Stuttgart/Weimar 2008, 75f.

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den ›sprechenden Namen‹ bzw. macht ihn interpretierbar. Der Rivenoak des Romans hat keine friedensstiftende Funktion. Zu einer Versöhnung zwischen Delawaren und Huronen kommt es im Text nicht. Rivenoak stirbt mit seinen Stammesbrüdern. Im Gegensatz dazu wird im Film mit der Wiedervereinigung der in zwei verfeindete Stämme geteilten ›roten Männer‹ die Spaltung der Nation zurückgenommen. Häuptling Gespaltene Eiche kann danach beruhigt im Kreis der versöhnten Indianer sterben. Zwei Stämme – Eine Nation Die ›deutsche Einheit‹, die hier am Ende des Films (wieder)hergestellt wird, ist eine Einheit zu sozialistischen Bedingungen und setzt damit eine Fantasie ins Bild, die zur Zeit, als der Film erschien, bereits überlebt war: die Vorstellung von einem Überzeugungssieg der DDR über die Bundesrepublik. Hinter dem Zusammenschluss der Indianerstämme wird die Zielsetzung der DDR lesbar, mit der Bundesrepublik nicht nur wirtschaftlich mithalten zu können, sondern als Staat ein Lebensumfeld und zugleich eine Lebensqualität bieten zu können, die auch für die ›anderen Deutschen‹ ein ›besseres Deutschland‹ wäre. Die im Film gezeigte Wiedervereinigung der Indianer setzt die ostdeutsche Utopie eines Anschlusses der Bundesrepublik an die DDR auf friedlichem Wege und aus rationalen Gründen ins Bild. Indem der Film die Allegorie der deutschen Eiche aufruft, thematisiert er eine Vorstellung der Nation als quasi-natürliche, organische Gemeinschaft. Eine solche Gemeinschaft kann auch durch eine künstliche, ›nur‹ politische Teilung durch unterschiedliche weltanschauliche Systeme nicht zerstört werden. Delawaren und Huronen sind Verbündete verfeindeter Mächte und kämpfen an gegenüberliegenden Fronten, doch bleiben sie trotz dieser Feindschaften Brüder. Sie sind Angehörige verschiedener Stämme, doch beide sind Indianer. Dieses ›Indianersein‹ ist es, was Huronen und Delawaren verbindet. Damit ist es wiederum die ›rote Haut‹ bzw. das ›Indianerblut‹, wodurch die Zugehörigkeit begründet wird. Dieses Bild von nationaler Zusammengehörigkeit schließt damit an die gleiche rassistische Blut-Logik an, die der Film auf der Oberfläche der Handlung offen kritisiert und als unmenschlich markiert. Zugleich scheint der Film mit diesem Bild der gespaltenen Indianereinheit eine weitere Vorstellung aufzunehmen, die im zeitpolitischen Diskurs zirkulierte. Das Bild der beiden Stämme, die durch verfeindete Mächte ge-

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trennt wurden, aber dennoch Söhne des gleichen Volkes bleiben, ließe sich auch mit dem Schlagwort ›zwei Stämme – eine Nation‹ zusammenfassen. Nachdem der Bau der Mauer 1961 unmissverständlich alle Hoffnung auf eine baldige Wiedervereinigung Deutschlands zunichte gemacht hatte, begann sich in der westdeutschen Politik diejenige Leitlinie herauszubilden, die man, Egon Bahrs Worte aufgreifend, als ›Wandel durch Annäherung‹ benannte und die in erster Linie die Politik der SPD war. Es setzte sich die Auffassung durch, dass der status quo akzeptiert und in den Alltag integriert werden müsse, eine Politik, die schließlich zur offiziellen Anerkennung der DDR führte. Diese Politik – hier für die westdeutsche Seite skizziert – fand zwar auf Seiten der DDR kein Gegenstück. Hier wurde das deutsch-deutsche Verhältnis als internationales Verhältnis betont und stets von der Bundesrepublik als ›Ausland‹ gesprochen. Die Filmlektüre gibt Hinweise darauf, dass die Vorstellung von Deutschland als lediglich temporär getrennter Nation jedoch auch auf der östlichen Seite des Eisernen Vorhangs nicht unbekannt war. Die kollektive Vorstellung eines ›eigentlichen, wahren Deutschlands‹, das durch etwas anderes als die Staatsgrenzen bestimmt werde, fand 1969 ihr Motto, als Willy Brandt in seiner Antrittsrede als Kanzler der Bundesrepublik das Schlagwort ›zwei Staaten – eine Nation‹ prägte. Willy Brandt sagte in seiner Regierungserklärung »Auch wenn zwei Staaten in Deutschland existieren, sind sie doch füreinander nicht Ausland; ihre Beziehungen zueinander können nur von besonderer Art sein«54 und fasste damit genau diese Vorstellung einer nationalen Einheit Deutschlands trotz der Trennung und Zugehörigkeit zu zwei gegensätzlichen Systemen in Worte. Der DEFA-Indianerfilm, so ließ sich zeigen, weist ganz ähnliche Vorstellungsbilder wie der zeitgenössische Diskurs auf. Der Genrefilm zeichnet unterschiedliche und durchaus widersprüchliche Entwürfe von Gemeinschaft. Neben der den offiziellen politischen Leitlinien entsprechenden Gegenüberstellung von ›roten Männern‹ und der kapitalistisch-imperialistischen Bedrohung finden sich auch Bilder und Erzählstränge, die auf die nachhaltige Wirkmächtigkeit der Identitätskategorie Nation hindeuten. ›Der Indianer‹ erweist sich also wiederum als schillernde Figur, die sich nicht

54 Regierungserklärung von Bundeskanzler Willy Brandt am 28. Oktober 1969, http://www.hdg.de/lemo/html/dokumente/KontinuitaetUndWandel_erklaerungB randtRegierungserklaerung1969/ (22.01.2012).

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nur für die Gestaltung intentionalisierter Entwürfe anbietet und funktionalisieren lässt. Darüber hinaus gehend trägt ›der Indianer‹ immer schon bestimmte imagines im Gepäck, die seiner Rothaut eingeprägt wurden und die aufscheinen, auch wenn sein Bild als Projektionsfläche für ganz andere Zuschreibungen genutzt werden soll.

SIE REITEN WEITER… Ausblickend lässt sich fragen, wie es mit dem Indianer als Figur eines deutschen Imaginären weitergeht. Zu denken ist dabei etwa an den spektakulären Überraschungserfolg, den Michael ›Bully‹ Herbig 2001 mit seiner Wildwest-Komödie Der Schuh des Manitu landete. Der Klamaukfilm um Häuptling Abahachi und seinen Blutsbruder Ranger, in denen sich auf den ersten Blick Karl Mays Figuren Winnetou und Old Shatterhand erkennen lassen, gilt als einer der erfolgreichsten deutschen Filme seit dem Zweiten Weltkrieg. Dass es sich dabei um keine Eintagsfliege handelte, zeigt sich nicht nur an dem nachhaltigen Erfolg des Films. Der Schuh des Manitu wird zudem seit 2008 als Musicalproduktion, für die John von Düffel den Bühnentext schrieb, am Berliner Theater des Westens gespielt. Film und Musical parodieren die Karl May-Filme der 1960er Jahre. Der Schuh des Manitu ist damit ein »entschieden deutscher Film«55, lassen sich seine Gags und Kalauer sowie seine Bildsprache doch nur verstehen, wenn man die Anspielungen und Zitate einordnen kann. Diese intertextuellen Verweise funktionieren und verweisen somit auf die nachhaltige Wirkmächtigkeit der Indianerfantasien. Der Film führt die deutsche Indianerbegeisterung als bizarr vor und parodiert sie gemeinsam mit anderen Klischees des Deutschen, in deren Reihe er sie damit einordnet.

55 Michael Allmaier: »Der Schatz im Silbersockensee. Michael Herbigs Filmkomödie Der Schuh des Manitu ist der erfolgreichste deutsche Film seit sieben Jahren, und alle rätseln, warum«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 193, 21.08.2001, http://www.filmportal.de (01.07.2010).

Wolken.Heim. genießen. Elfriede Jelineks Nationaltheater MATTHIAS SCHAFFRICK

I Ebenso wie das Subjekt steckte die Nation in einer postmodernen Krise. Für die Soziologie Niklas Luhmanns stellte die Nation vor etwas mehr als zehn Jahren ein ›epistemologisches Hindernis‹ dar, das sich in der »Auslaufphase« befindet, »mehr Schaden als Nutzen stiftet und [...] auf Grund vergangener Plausibilitäten die jetzt nötigen Einsichten«1 blockiert. Angesichts dieser Gefahr eines verhinderten, aber politisch unbedingt notwendigen Durchblicks belebt sich die Auseinandersetzung mit dem Konzept der ›Nation‹, das im Zuge der Globalisierung für obsolet und tot gehalten wurde.2 Gerade weil die Nation mehr Schaden als Nutzen stiftet, sind Einsichten in dieses Identifikationsmodell notwendig. Der Begriff ›Nation‹, wie man ihn heute verwendet, gewinnt im späten 18. Jahrhundert seine modernen Konturen. Der Verlust des königlichen Repräsentationskörpers macht ein neues Modell politischer Ordnung erforderlich, das kollektive Imaginationen von Einheit ermöglicht und dadurch Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft vermittelt. Bei der Bildung einer solchen nationalen Gemeinschaft setzen einige Dichter ihre Hoffnungen auf das Na1

Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1997, 1055.

2

Vgl. zur Bedeutung des Nationalen bei der Konstitution des Globalen Saskia Sassen: Das Paradox des Nationalen. Territorium, Autorität und Rechte im globalen Zeitalter, Frankfurt a.M. 2008.

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tionaltheater. Zu ihnen gehören Johann Elias Schlegel, Gotthold Ephraim Lessing und Friedrich Schiller. Sie haben zwar verschiedene Vorstellungen von einem Nationaltheater, dennoch verbindet ein Gedanke ihre Überlegungen: Sie verstehen das Theater als eine Institution, in der die nationale Gemeinschaft und die moralischen Werte einer Nation im gemeinsamen Erleben erfahrbar werden. Schlegel, Lessing und Schiller, ihnen steht als gemeinsames Ziel die Bildung einer Nation vor Augen, welche die Auswahl und Gestaltung der Stoffe, Motive und Figuren für das Nationaltheater prägt und die ihrerseits vom Theater geprägt wird. Die Zugehörigkeit zu einer Nation zeigt sich darin, dass man als Mitglied einer Nation von sich als »Wir« sprechen kann. 200 Jahre nach Schlegel, Lessing und Schiller erprobt und problematisiert Elfriede Jelinek das Sprechen als Nation in ihrem Theaterstück Wolken.Heim. (Uraufführung 1988,3 Erstveröffentlichung 1990). Dieser sprachlich und rhetorisch komplexe Theatertext gestaltet sich als eine Art ›Heiligenlitanei‹ des deutschen Nationaldiskurses seit 1800. »Die verwendeten Texte sind unter anderem von: Hölderlin, Hegel, Heidegger, Fichte, Kleist und aus den Briefen

3

Die Premiere fand am 21. September 1988 am Schauspiel Bonn mit dem Untertitel »Eine Invention zu Heinrich von Kleist« statt und stand im Rahmen des dortigen Themenschwerpunktes »Wir Deutsche« (vgl. die Ankündigung der Premiere in der Süddeutsche[n] Zeitung vom 19.09.1988, Nr 216, 12). Das Thema »Nation« ist 1988 virulent, da in diesem Jahr die Reichspogromnacht von 1938 50 Jahre zurücklag. Für die österreichische Autorin Jelinek dürfte zudem das sogenannte Bedenkjahr von Bedeutung gewesen sein. Das Bedenkjahr diente der Erinnerung an die Ereignisse und Verbrechen, die auf die Verbindung Österreichs mit dem nationalsozialistischen Deutschland, den ›Anschluss‹ Österreichs, folgten. In diesem Zusammenhang entstand Thomas Bernhards Stück Heldenplatz (1988), das die österreichische Gegenwart im Jahr 1988 mit dem Nationalsozialismus in Beziehung setzt (vgl. zu den Kontexten Hans Höller: Thomas Bernhard, Reinbek 82004, 7-19). Claus Peymanns Inszenierung von Heldenplatz feierte anderthalb Monate nach Jelineks Stück am 4. November 1988 Premiere und erfuhr – auch aufgrund der sich um Heldenplatz rankenden Skandalgeschichte – wesentlich größere öffentliche Aufmerksamkeit als Wolken.Heim..

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der RAF von 1973–1977« (WH 158 [Hervorheb. im Original, ms]),4 erläutert ein paratextueller Nachtrag. Diese Texte mit nationalen bzw. nationalistischen Inhalten sind neben anderen, ungenannt bleibenden Texten in Wolken.Heim. inter- bzw. »transtextuell«5 verwoben und entstellt. Mit der Montage von Texten dieser ›Dichter und Denker‹ und Briefen der RAF steckt Wolken.Heim. mitten im deutschen Nationaldiskurs. Dieser Diskurs transportiert entgegen der Idealvorstellung von nationaler Einheit und Identität bei den Nationaltheaterautoren in wesentlich markanterer Weise Unbestimmbarkeit und Bedrohlichkeit. Diese These ergibt sich, wenn man Wolken.Heim. als reflektierenden Beitrag zum deutschsprachigen Nationaldiskurs heranzieht und die Positionierung des Theaterstückes zu diesem Diskurs analysiert. Ein theoretisches Erklärungsmodell für den ambivalenten Status der Nation zwischen Gemeinschaftsbildung und kulturell-ethnischer Ausgrenzung liefert der psychoanalytisch inspirierte Kulturwissenschaftler und Philosoph Slavoj Žižek in seinem Aufsatz Genieße Deine Nation wie Dich selbst! (1994, Erstveröffentlichung 1992). Anders als Luhmann, der um eine Überwindung der Idee von der Nation bemüht ist, versucht Žižek die nationalen Spannungen und die anhaltende politische Sprengkraft des Nationalen psychoanalytisch zu entschlüsseln. Žižek bestimmt die Nation als das ›Ding‹, durch das eine Gemeinschaft ihr Genießen organisiert.6 Das Genießen ist eine Kategorie der Psychoanalyse Jacques Lacans. Es vollzieht sich als eine Überschreitung, als ein schmerzhafter Exzess. »Dieser Exzeß des Genießens scheint den Untergang des Subjekts nicht nur in Kauf zu nehmen, sondern zu ersehnen. So schreibt Lacan: ›jouissance ist der Weg zum

4

Elfriede Jelinek: »Wolken.Heim«, in: Dies., Stecken, Stab und Stangl. Raststätte oder sie machens alle. Wolken.Heim. Neue Theaterstücke, Reinbek 22002, 135158, wird im fortlaufenden Text in Klammern zitiert als »WH«.

5

Vgl. Evelyn Annuß: Elfriede Jelinek – Theater des Nachlebens, München 22007,

6

Vgl. Slavoj Žižek: »Genieße Deine Nation wie Dich selbst! Der Andere und das

185f. Böse – Vom Begehren des ethnischen ›Dings‹«, in: Joseph Vogl (Hg.), Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen, Frankfurt a.M. 1994, 133-164, grundlegend 134-139.

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Tod.‹«7 Anders als es die Etymologie des Begriffs nahelegt, vereint die Nation nicht durch die Geburt, sondern den Tod. Wolken.Heim. zufolge wäre nicht der ›Tod der Nation‹ zu beklagen, sondern zu beschreiben, dass der Diskurs des Nationalen auf den Toten gründet, welche die Geschichte der deutschen Nation verzeichnet und verantwortet.

II Wolken.Heim. ist das erste Theaterstück Jelineks, das vollständig auf Szenen- und Regieanweisungen verzichtet und ohne die Markierung von Figurenrede auskommt.8 In diesem Text, der durch Leerzeilen in 23 Abschnitte unterteilt ist,9 spricht ein nicht näher identifizierbares »Wir«. Diese vermeintlich einheitliche Sprechinstanz erzeugt – auch mit Blick auf den paratextuellen Nachsatz – »den Eindruck eines unaufhörlichen und heterophonen Stimmengewirrs, das sich nur punktuell verorten läßt und immer wieder in sich zerfällt.«10 Gegen diese Zerfallserscheinungen konstituiert das gemeinschaftliche Sprechen durch die Pronomen der 1. Person Plural eine Textkohärenz,11 die inhaltlich lediglich durch die Isotopie des ›Nationalen‹ gegeben ist.

7

Kai Hammermeister: Jacques Lacan, München 2008, 77 [Hervorheb. im Original, ms].

8

Vgl. zu dieser ›Radikalisierung der Theaterästhetik‹ Bärbel Lücke: Elfriede Jelinek. Eine Einführung in das Werk, Paderborn 2008, 126. Ich vermeide das Etikett »postdramatisches Theater«, um Wolken.Heim. nicht vorschnell zu kategorisieren.

9

In der bei Steidl erschienenen, anders gesetzten Erstausgabe von Wolken.Heim. könnte man aufgrund anderer Seitenumbrüche 24 Abschnitte zählen. Vgl. Elfriede Jelinek: Wolken.Heim, Göttingen 1990.

10 Evelyn Annuß: »Zwangsleben und Schweigen in Elfriede Jelineks Wolken. Heim.«, in: Sprache im technischen Zeitalter 38 (2000), 32-49, 33. 11 Die Kohärenzbildung durch das kollektiv sprechende »Wir« wird besonders dort hervorgehoben, wo Jelinek eine Sprechinstanz oder Anrede aus der Textvorlage durch die 1. Person Plural ersetzt. Ein Beispiel für dieses Verfahren sind die Verse »Denn, ihr Deutschen, auch ihr seid / Tatenarm und gedankenvoll« aus Hölderlins Ode An die Deutschen (1797/98) (in: Ders., Gedichte. Eine Auswahl,

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Im Nachtrag werden die Namen derjenigen Autoren genannt, welche die in Wolken.Heim. zitierten Texte verfasst haben. Dadurch erschließt sich der Text erst rückwirkend. Allerdings lässt sich das »Wir« als Sprechinstanz nicht durch die Aufdröselung der Zitatmontage entfalten.12 Nicht Hölderlin, Heidegger, Fichte und die anderen Größen der nationalen Geistesgeschichte bilden ein fiktives Sprachkollektiv. Gegen diese vereinheitlichende Annahme argumentiert Maja Sibylle Pflüger, indem sie »stilistische Brüche« und »inhaltliche Diskrepanzen« in Jelineks Text ausfindig macht und hervorhebt.13 Das »Wir« ist nicht fassbar und bekommt weder ein Gesicht noch eine Maske. Evelyn Annuß konstatiert: »Jelineks Wir ist die Potenz der Prosopopoiia, auch Kollektiva ein Gesicht zu verleihen, genommen.«14 Das ist einerseits ein Mangel, andererseits ein Gewinn an Sprache: Das »Wir« erscheint nicht als eine oder mehrere Dramenfiguren, es wird

hg. v. Gerhard Kurz, Stuttgart 2003, 19.), die bei Jelinek transformiert werden zu: »Aber wir Guten, auch wir sind tatenarm und gedankenvoll!« (WH 139). 12 Georg Stanitzek geht hingegen davon aus, dass es sich bei der Nennung der Autoren am Ende »um eine Aufforderung zum Studium, zur Autopsie, zur Verifikation« handele (Georg Stanitzek: »Kuckuck«, in: Dirk Baecker/Rembert Hüser/Ders. [Hg.], Gelegenheit. Diebe. 3 x Deutsche Motive, Bielefeld 1991, 1180, 47.). Dieses Erklärungsmodell veranlasst ihn dazu, archäologisch tätig zu werden, um den Tiefenschichten des Textes auf den Grund zu gehen. Ich sehe allerdings die Gefahr, durch die Rekonstruktion und Re-Kontextualisierung der Zitate hinter Jelineks Zitiertechnik zurückzufallen und die literarische Struktur, die für Wolken.Heim. kennzeichnend ist, zu verfehlen. Neben Stanitzek haben vor allem Maja Sibylle Pflüger und Margarete Kohlenbach viel zur Entwirrung der Zitate beigetragen. Vgl. Maja Sibylle Pflüger: Vom Dialog zur Dialogizität. Die Theaterästhetik von Elfriede Jelinek, Tübingen/Basel 1996, 198-203, sowie Margarete Kohlenbach: »Montage und Mimikry. Zu Elfriede Jelineks Wolken.Heim.«, in: Kurt Bartsch/Günther A. Höfler (Hg.), Elfriede Jelinek, Graz 1991, 121-153, 144-147. 13 Beide Zitate bei M.S. Pflüger: Vom Dialog zur Dialogizität, 197f. Vgl. z.B. das unmittelbare Nebeneinander von genus sublime aus Hölderlins Oden und einfacher, aggressiver Semantik der RAF-Briefe (WH 152). 14 E. Annuß: Jelinek – Theater des Nachlebens, 139.

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selbst zur Sprache.15 Annuß gibt in ihrer ausführlichen Wolken.Heim.Lektüre zu bedenken, dass dieses »Wir« als Echo zu lesen ist, dem in Ovids Metamorphosen die Funktion einer Totenklage zugeschrieben wird.16 Das Echo, eine entmaterialisierte und unverortbare Stimme, entfremdet den Sinn der vorgängigen, nicht rekonstruierbaren Aussage, die im Echo nachund widerhallt.17 Durch den Bruch der syntaktischen Konstruktion18 z.B. führt das Echo zu einer Verfremdung der zitierten Texte in der Wiederholung des nicht einholbaren Schon-Gesprochenen. Das Echo ist damit nicht nur eine Trope für das körperlose Sprechen des »Wir«, sondern ebenfalls ein Modell für den Umgang mit Zitaten in Wolken.Heim. – und darüber hinaus für Jelineks Autorschaft. Letzteres ist insofern erstaunlich als Bettine Menke festhält, dass die »Rede der Echo […] das Gegenmodell zur Autorschaft«19 darstellt. Menke bezieht sich damit auf die Ursprungslosigkeit und Nicht-Intentionalität, Verspätung und Nicht-Autorisierung der Echo-Rede.20 Die in diesem Sinne ›autorlose‹ Autorschaft reflektiert Jelinek in ironischen Bemerkungen, die sich in Regieanweisungen sowie in kommentierenden Texten zu ihren Theaterstücken finden. »Die Autorin ist weg, sie ist nicht der Weg.«21 – »Die Autorin gibt nicht viele Anweisungen, das hat sie inzwischen gelernt.«22 Bei aller Selbstbeschränkung der Autorposition und -funktion vergegenwärtigen diese Kommentare permanent die Autorin. Das Nachklingen der Autorschaft betont, dass die Texte ihre Entstehung der Intention einer Autorin zu verdanken haben, wie dieser Tatsache zugleich jegliche Bedeutung

15 »[S]ie [die Figuren, ms] werden zu Sprache.« B. Lücke: Jelinek, 126 [Hervorheb. im Original, ms]. 16 Vgl. E. Annuß: Jelinek - Theater des Nachlebens, 193. 17 Vgl. Bettine Menke: »Rhetorik der Echo. Echo-Trope, Figur des Nachlebens«, in: Doerte Bischoff/Martina Wagner-Egelhaaf (Hg.), Weibliche Rede – Rhetorik der Weiblichkeit. Studien zum Verhältnis von Rhetorik und Geschlechterdifferenz, Freiburg i.Br. 2003, 135-159. 18 Vgl. ebd. 136. 19 Ebd., 153 [Hervorheb. im Original, ms]. 20 Vgl. ebd. 153f. 21 Elfriede Jelinek: Macht nichts. Eine kleine Trilogie des Todes, Reinbek 2002, 90. 22 Elfriede Jelinek: Ein Sportstück, Reinbek 22004, 7.

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abgesprochen wird. Die Charakterisierung der Autorschaft als Echo macht Jelineks in Wolken.Heim. angelegte Theaterästhetik plausibel. Der Theatertext kann auf Regieanweisungen und dramatis personae verzichten. Die Inszenierung auf der Bühne übernimmt nämlich die Regisseurin oder der Regisseur – und dem Regietheater kann die Autorin ohnehin keine Anweisungen geben. Damit unterlaufen Jelineks Stücke per se die Forderung einer texttreuen, an der Autorintention orientierten Inszenierung.23 Andererseits überrascht es jedoch, dass Jelinek am Ende des Stückes bis auf die Briefe der RAF ausgerechnet Autoren und eben nicht Texte nennt, die als Grundlage für Wolken.Heim. dienen. Die Textstruktur, die Theaterästhetik und die Autorschaft von Wolken.Heim. ergeben sich aus dem Zusammenspiel zwischen den im Nachtrag genannten Referenzen und der Sprechinstanz, dem »Wir«. Das »Wir«, das für den Zusammenhalt und die Vereinheitlichung der heterogenen Textteile sorgt, beharrt vom Beginn des Textes an darauf, »zuhaus« zu sein. »Jetzt sind wir zuhaus« (WH 137), »Wir sind bei uns zuhaus« (WH 138), »Wir sind hier zuhaus« (WH 139), »wir sind zuhaus« (WH 150f.), »Wir sind zuhaus« (WH 152), »Wir sind zuhaus zuhaus«, »Hier sind wir zuhaus.« (WH 157) und passim. In ritueller Weise wird dieser Kehrvers wiederholt und gibt Wolken.Heim. dadurch einen paralysierenden Rhythmus. Das Verfahren erinnert an Heinrich Heines Die schlesischen Weber (1844/45) und ihr »Wir weben, wir weben!« am Ende jeder der fünf Strophen in Heines Gedicht.24 Aber während die »schlesischen Weber« Deutschlands – das in der fünften Strophe zu »Altdeutschland« wird – »Leichentuch« weben und damit politisch-revolutionär agieren, wenn auch letztlich erfolglos, so scheint das undefinierbare »Wir« aus Wolken.Heim. bereits vom Leichentuch bedeckt und im Boden begraben zu sein. »Bei uns, im Boden sind wir heimisch.« (WH 146) In diesem Boden

23 Zu den Inszenierungen, die sich den Herausforderungen der Jelinek’schen Stücke stellen, und zur größtenteils konservativen Theaterkritik vgl. André Barz: »›[...] muß nach drei Seiten Jelinek-Lektüre schreiend aus dem Fenster springen [...]‹ Elfriede Jelinek und das Theater«, in: LiLi 154/39 (2009), 98-111, hier besonders 101-106. 24 Vgl. Heinrich Heine: »Die schlesischen Weber«, in: Ders., Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, Bd. 2, Neue Gedichte, bearb. v. Elisabeth Genton, hg. v. Manfred Windfuhr, Hamburg 1983, 150.

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wird es daraufhin jedoch unheimlich und ungemütlich: »Der Boden, in dem wir liegen, schwankt, ein furchtbarer Schlag durchdröhnt ihn. Wir kommen heraus!« (WH 146) Und dieses Herauskommen aus dem Boden verheißt nichts Gutes. Das Zuhause-Sein muss infrage gestellt werden: »Sind wir zuhaus? Nimmst du freundlich, wie einst, Himmel der Heimat, uns auf?« (WH 151) Insbesondere die Variationen des wiederholten »wir sind zuhaus« sind bemerkenswert. Neben der Infragestellung fällt ein Tempuswechsel zum Imperfekt im 19. Abschnitt auf: »Wir waren zuhaus.« (WH 153) Der Abschnitt 20 endet mit dem dreifach wiederholten Satzbruchstück »Nachhaus. Nachhaus. Nachhaus.« (WH 155), das wie das Imperfekt eine Entfernung von »zuhaus« ausdrückt. Die Abwandlungen des »zuhaus«-Motivs markieren einen Mangel, ein Stück, das fehlt, um wirklich »zuhaus« zu sein.25 Diese Sehnsucht nach einem »zuhaus«, das Geborgenheit und Sicherheit verheißt, wird in der Bedeutung für das Thema »Nation« in Wolken.Heim. diskutiert, um daran anschließend zu klären, welchen Anteil Erinnern und Vergessen an der Ausbildung einer nationalen Geschichte haben. Schließlich wird Wolken.Heim. nach seinem Beitrag zu den Diskursen des Nationalen befragt und mit dem Konzept des Nationaltheaters gegengelesen. Doch zuerst soll der Analyse mit Žižeks Konzept der ›Nation als Ding‹ ein theoretischer Rahmen gegeben werden.

III Genieße Deine Nation wie Dich selbst! Dieser Imperativ nennt das Konzept der Lacan’schen Psychoanalyse, das für Žižeks Nationenbegriff entscheidend ist: die jouissance. In seiner Lacan-Einführung entschlüsselt Kai

25 Eine im Jahr 2005 unter der Regie von Claus Peymann uraufgeführte Fortsetzung von Wolken.Heim. hat Jelinek 2004 unter dem Titel Wolken.Heim. Und dann nach Hause veröffentlicht: Vgl. Elfriede Jelinek: »Wolken.Heim. Und dann nach Hause«, in: manuskripte. Zeitschrift für Literatur 166/44 (2004), 2833. Der Text führt das »Wir« in ein nicht lokalisiertes »daheim«. Er endet mit den Sätzen: »Wir sind wir. Dabei sind doch wir nicht einmal ich. Aber dafür endlich daheim. Wir bewerben uns und schreiben uns auf einen Zettel. Wir schreiben auf, wo wir wohnen. Irgendwo. Egal.« (ebd. 33).

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Hammermeister die Zweideutigkeit dieses schillernden Begriffs: »Im Französischen bezeichnet jouissance sowohl ein unspezifisches intensives Genießen wie auch das spezifische Genießen des Orgasmus.«26 Aus dieser Polysemie von Genießen und »Wollust«27 ergibt sich der Zusammenhang zwischen Lacans Genießen und Freuds Jenseits des Lustprinzips (1920) – »was nicht irgendein Buch von Freud ist und [...] auch nicht irgendein Buch von Freud für Lacan«.28 Um die Beziehung zwischen (dem Genießen) der Nation und dem Tod einsichtig zu machen, ist also der Dreischritt »Freud – Lacan – Žižek« notwendig. Für Lacan verbindet sich das Genießen nicht mit der Libido, sondern mit dem entgegengesetzt wirkenden Todestrieb, »der für Lacan jene Tendenz des Subjekts bezeichnet, die vom Lustprinzip gesetzten Grenzen zu durchbrechen.«29 Diese Transgression, dieser Exzess bedingt nicht mehr Lust, sondern Unlust bzw. Schmerz. Die jouissance liegt »jenseits des Lustprinzips«.30 Das ist verständlich, wenn man sich vor Augen führt, was Freud in Bezug auf den Todestrieb postuliert: »Das Ziel alles Lebens ist der Tod«.31 Freud geht es um die Richtung dieses »konservativen« Triebes, die nach hinten weist, zurück zu einem Ursprungszustand, der das »Wiederfin-

26 K. Hammermeister: Lacan, 76. Vgl. auch den Artikel über das »Genießen« bei Dylan Evans: Wörterbuch der Lacanschen Psychoanalyse, Wien 2002, 113-115. 27 In der Suhrkamp-Ausgabe von Roland Barthes’ Die Lust am Text (frz. Originalausgabe 1973) wird jouissance als »Wollust« übersetzt: »(Plaisir/Jouissance, Lust/Wollust: terminologisch schwankt das noch, ich stolpere, ich verheddere mich. Auf jeden Fall gibt es da immer eine Spanne der Unentschiedenheit; die Unterscheidung wird nicht zu sicheren Klassifizierungen führen, das Paradigma wird knirschen, der Sinn wird prekär, revozierbar, reversibel, der Diskurs wird unvollständig sein.)« Roland Barthes: Die Lust am Text, Frankfurt a.M. 1974, 8f. 28 Jacques Derrida: »Aus Liebe zu Lacan«, in: Ders., Vergessen wir nicht – die Psychoanalyse!, hg., übers. u. mit einem Nachwort v. Hans-Dieter Gondek, Frankfurt a.M. 1998, 15-58, 17. 29 K. Hammermeister: Lacan, 77. 30 Vgl. S. Žižek: »Genieße Deine Nation wie Dich selbst«, 162, Anm. 1. 31 Sigmund Freud: »Jenseits des Lustprinzips«, in: Ders., Gesammelte Werke XIII, hg. v. Anna Freud, Edward Bibring u.a., Frankfurt a.M. 61969, 1-69, 40.

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den von Identität«32 verheißt. Diese Identität ist allerdings nicht im Leben, sondern nur im Tod zu finden. Auch für Žižek und Lacan ist Identität (lebend) unmöglich. Das Subjekt ist durch einen konstitutiven, unüberbrückbaren Mangel an Identität gekennzeichnet, der sich aus dem Spiegelstadium ergibt. Erkennen des Selbst ist demnach Verkennen des Selbst. Das gleiche Prinzip des irreduziblen Mangels gilt auch für eine kollektive Identität wie die nationale. Trotzdem muss es einen Mechanismus geben, der den Zusammenhalt sowohl des Subjekts als auch der Gemeinschaft garantiert. An dieser Stelle kommen die Begriffe ›Ding‹ und ›Genießen‹ im Bezug auf die Nation ins Spiel. ›Genießen‹ ist ein kontraintuitiver Begriff. Das Genießen hat nichts mit Genuss zu tun. Es ist nur auf zwei, vermittelte Arten denkbar: als den anderen unterstelltes und neidvoll beäugtes Genießen oder als durch die symbolische Ordnung untersagtes, existenziell unmögliches Genießen.33 Für Žižek ist das Genießen so wichtig, weil es auf eben diese zwei Arten die Sehnsüchte und Imaginationen einer Nation ursächlich antreibt.34 Diese Formen eines verhinderten Genießens halten eine Gemeinschaft wie die Nation zusammen. »Eine Nation existiert nur so lange, wie ihr spezifisches Genießen in einem Set sozialer Praktiken materialisiert und in nationale Mythen übertragen wird, die diese Praktiken strukturieren.«35 Žižek betont hier einerseits, dass die Existenz der Nation von dem Genießen abhängig ist. Andererseits bedarf es einer Übertragung des Genießens in die symbolische Ordnung sozialer Praktiken und nationaler Mythen. Durch diesen Transfer werden die beiden Möglichkeiten des Genießens als entweder Verbot oder Unterstellung realisiert. Die symbolische Ordnung besteht aus den Erzählungen, Geschichten, Mythen und Bildern, die das nationale Gemeinschaftsgefühl mit

32 S. Freud: »Jenseits des Lustprinzips«, 37. Freud bezeichnet Triebe am Ende des Textes allgemein als »Bedürfnis nach Wiederherstellung eines früheren Zustandes« und erläutert dies mit dem Mythos von den Kugelmenschen aus Platons Symposion (vgl. ebd. 62-64). 33 Žižek geht vor allem auf die erste Variante unter dem Stichwort »Diebstahl des Genießens« ein. Vgl. S. Žižek: »Genieße Deine Nation wie Dich selbst«, 136139. 34 Vgl. ebd. 136. 35 Ebd. 136f. [Hervorheb. im Original, ms].

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Inhalten versehen und von der abgeschlossenen, einmaligen nationalen Identität erzählen, die psychoanalytisch gedacht jedoch unmöglich ist. Entscheidend für Žižek ist, dass allein das Symbol ›Nation‹ für die Nation nicht ausreicht. In »dekonstruktivistischer« Manier zu betonen, daß die Nation keine biologische oder trans-historische Gegebenheit, sondern eine kontingente diskursive Konstruktion, ein überdeterminiertes Resultat von textuellen Praktiken sei, ist somit irreführend: Auf diese Weise wird die Rolle des Überrests eines realen, nicht-diskursiven Kerns des Genießens übersehen, der da sein muß, damit die Nation qua diskursivem Entitäts-Effekt ihre ontologische Konsistenz erhält.36

Žižek geht über die Erkenntnisse des linguistic turn und ihre dekonstruktivistische Radikalisierung hinaus, indem er auf die Lacan’sche Unterscheidung von Realität und Realem zurückgreift. »Das Reale unterscheidet sich Žižek zufolge von der Realität, die sprachlich bzw. symbolisch konstruiert ist. Es liegt jenseits der sprachlichen Darstellbarkeit«.37 Die Realität ist ausschließlich durch das Gewebe, den Text der symbolischen Ordnung zugänglich, d.h. die Realität ist sprachlich hergestellt. Vom Genießen, in dem sich das Reale manifestiert, können sich die Mitglieder einer Nation lediglich erzählen, ohne dass es tatsächlich erreicht werden könnte. Bei diesen Geschichten und Bildern handelt es sich um das sogenannte Phantasma, eine temporäre Manifestation des Spiegelstadiums im Alltag als ein imaginärer Schirm, der als Schutz vor dem traumatischen Realen fungiert. Zum Realen gehört auch die Nation als Ding. Warum? Der Grund liegt in dem »realen, nicht-diskursiven« Kern, durch den die Nation erst zum Vorschein kommt. Lacan definiert »dieses Ding, das da ist jenseits«,38 in seinem Seminar VII Die Ethik der Psychoanalyse als Bestandteil im Register des Realen. Dort ist das Ding unerreichbar. Zudem ist

36 S. Žižek: »Genieße Deine Nation wie Dich selbst«, 137 [Hervorheb. im Original, ms]. 37 Hyun Kang Kim: Slavoj Žižek, Paderborn 2009, 56. 38 Jacques Lacan: Die Ethik der Psychoanalyse. Das Seminar von Jacques Lacan Buch VII (1959-1960). Textherstellung von Jacques-Alain Miller. In deutscher Sprache hg. v. Norbert Haas/Hans-Joachim Metzger, Weinheim/Berlin 1996, 80 [Hervorheb. im Original, ms].

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es unmöglich symbolisierbar. Es ist gerade das, was die Symbolisierung allererst und auf ganz unterschiedliche Art und Weise ermöglicht. Das Ding ist eine Leere, die im Sinne des Phantasmas mit Imaginationen gefüllt wird. Diese Imaginationen verdecken die Leere und den Mangel, die wiederum konstitutiv für die symbolische Ordnung sind.39 Wir können die Leere nicht verstehen, aber durch die Füllung mit Inhalt erlangt sie ihre Bedeutung. Auf diese Weise muss auch der Begriff ›Nation‹ kontinuierlich mit Inhalt gefüllt werden. Dabei bleibt der Begriff unbestimmbar und offen für variierende Inhalte, die immer neue Imaginationen zulassen.40 Alles was über die Nation gesagt werden kann, erfasst ihr Wesen nicht vollständig.41 Aus Žižeks Perspektive zeichnet sich die sprachlich-symbolische Verfasstheit der Nati-

39 Vgl. J. Lacan: Ethik der Psychoanalyse, 56-88. 40 Das Prinzip von Entleerung und Füllung veranschaulicht Martin Heidegger in seinem berühmten Aufsatz Das Ding (1950) am Beispiel eines Kruges. Neben anderen philosophischen Ding-Konzepten spielt Heideggers ›Ding‹ für Lacan und Žižek eine entscheidende Rolle. (Vgl. zur Begriffsgeschichte des ›Dings‹ Peter Widmer: »Das Ding – Von Meister Eckhart bis zu Lacan«, in: Gisela Ecker/Claudia Breger/Susanne Scholz [Hg.], Dinge – Medien der Aneignung. Grenzen der Verfügung, Königstein/Taunus 2002, 239-250. Heidegger ist auch bei Jelinek ein Thema, auf das sie sich häufig bezieht. In ihrem Stück Totenauberg [1991] tritt Heidegger als Dramenfigur auf.) Heidegger fragt sich bei seiner Erläuterung des Dings am Beispiel eines Kruges: »Wie faßt die Leere des Kruges?« Und er gibt auch die Antwort: »Die Leere faßt in zwiefacher Weise: nehmend und behaltend. Das Wort ›fassen‹ ist darum zweideutig. Das Nehmen von Einguß und das Einbehalten des Gusses gehören jedoch zusammen. Ihre Einheit aber wird vom Ausgießen her bestimmt, worauf der Krug als Krug abgestimmt ist.« (Martin Heidegger: »Das Ding«, in: Ders., Vorträge und Aufsätze, Gesamtausgabe, Band 7, Frankfurt a.M. 2000, 165-187, 173.) Dass der Krug als Ding fasst, d.h. erfasst und einfasst, gelingt nur durch die Leere. Das zweideutige Fassen bestimmt sich aber durch das Ausgießen, das Entleeren. Dadurch geschieht eine Vermittlung von Anwesenheit und Abwesenheit der Leere bzw. der Füllung. Die Füllung lässt sich nur von der Leere her denken, die wiederum von der Entleerung abhängt. Entscheidend ist: Nicht die Materialität des Kruges definiert den Krug, sondern seine ontologisch gedachte, materielle Leere, die fasst, um entleert zu werden. Es handelt sich um eine materialisierte Leere. 41 Vgl. S. Žižek: »Genieße Deine Nation wie Dich selbst«, 136.

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on durch Unvollständigkeit, durch einen Mangel an Einheit und Identität aus. Wolken.Heim. soll daraufhin untersucht werden, wie diese sprachliche Struktur im Text literarisch codiert wird.

IV »Wir sind immer fassungslos, wenn auch nur einer uns im Gedächtnis behält, über eine Zeit hinaus« (WH 137) heißt es am Anfang von Wolken.Heim.. Das Zusammenspiel von »fassungslos« und »behält« eröffnet ein Spannungsverhältnis, in dem sich die doppelte Funktion der Nation als Ding manifestiert. Die Fassungslosigkeit kann einerseits die Überraschung angesichts des Erinnerns, des im Gedächtnis-Behaltens bezeichnen, andererseits wird damit der Flüchtigkeit und der Unmöglichkeit des Erfassens und Erinnerns Ausdruck verliehen. In diesem Satz konstituiert sich das paradoxe Verhältnis zwischen einem Behältnis (»Gedächtnis«) und einem ›Ding‹, das nicht zu fassen ist, sondern sich vielmehr durch seine Fassungslosigkeit, seine inhaltliche Leere definiert. Die Relation von ›Erinnern‹ (behalten) und ›Vergessen‹ (nicht fassen) konstituiert das Gedächtnis.42 Zugleich wird dieses Verhältnis durch die Begriffe ›Gedächtnis‹ und ›Zeit‹ temporalisiert. Das, was dort behalten wird, ist ohnehin fassungslos, also nicht zu fassen, sodass es immer als etwas anderes erscheint, als es ursprünglich zu sein schien. Es kommt in Jelineks Stück stets zu Verschiebungen, Verfremdungen und Verdrängungen von Sinn und Bedeutung.43 Die Verkennung der kollektiven Identität des nationalen »Wir« folgt der gleichen sprachlichen Logik, wenn es heißt: »wir können uns nicht fassen« (WH 143).44 In diesem Zusammenhang rekurriert der Text – ebenso

42 Vgl. Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 72007, 30, 64. Assmann geht von einer Unwahrscheinlichkeit des Erinnerns aus, die das Erinnern erklärungsbedürftig mache (vgl. ebd. 67). 43 Insofern kann man mit Lücke von einem »Theater der Dekonstruktion« sprechen. Vgl. B. Lücke: Jelinek, 101f. 44 Stanitzek formuliert diesen psychoanalytisch hergeleiteten Gedanken von der Dissoziation der Identität als »Lücke zwischen Wir und Wir im Wir« (G. Stanitzek: »Kuckuck«, 33 [Hervorheb. im Original, ms.]).

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wie im Zusammenhang mit dem Zuhause-Sein des »Wir« – auf den Boden. Der Boden kann das »Wir« nicht behalten, nicht fassen. »Der Boden hält uns nicht, er gibt uns wieder her« (WH 143), und etwas später: »Der Boden faßt uns nicht« (WH 144). In dieser beunruhigenden, dem Ding eingeschriebenen Dynamik von »fassen« und »entleeren« konfrontiert Wolken.Heim. die Leserinnen und Leser in massiver Weise mit dem Tod und den nicht vom Boden erfassten Toten. »Es kehrt das Verhältnis von Leben am Licht und unterirdischem Tod sich um. Unsere Leichname rücken an die Oberfläche und erinnern an die Verwesung einstiger Herrlichkeit.« (WH 151) Durch die Umkehrung von Leben und Tod kommen die Toten ans Licht und damit die Erinnerung an eine Vergangenheit, die unterirdisch allmählich, aber nicht spurlos verwest. Das Loch bzw. der Riss im Boden offenbart das ›Unfassbare‹, die Vergangenheit dessen, das Gedächtnis davon und die Erinnerung daran, was sonst unbemerkt zu Staub zerfiele. Was dort zum Vorschein kommt, wirkt bedrohlich: Es figuriert den traumatischen Kern der Nation als Ding. Dieses (nationale) Ding »sucht uns heim aus der Ordnung des Realen, aus dem die meisten Heimsuchungen stammen.«45 Heimsuchungen lassen sich mit dem Titel Wolken.Heim. assoziieren.46 Zwar konnotiert das »Heim« auch Heimat und Geborgenheit, es erinnert jedoch ebenso an Heimsuchung, Einengung und Begrenzung sowie an Heimlichkeit und das »Unheimliche«.47 Die »Wolken« als erster Teil des Titels sind ebenso zweideutig. Sie sind wolkig, also weich und weiß, sie können Vorhersagen dienen und gedeutet werden, andererseits sind sie flüchtig und unbestimmbar und können als dunkle Gewitterwolken bedrohlich wirken. »Wo stille Wolken uns umschweben, da staunen wir und wis-

45 K. Hammermeister: Lacan, 63. 46 Auf »Wolkenkuckucksheim« (die zwischen Himmel und Erde liegende Luftstadt aus Aristophanes’ Komödie Die Vögel) und den »Kuckuck« und seine Kulturgeschichte gehe ich hier nicht ein, da beide Interpretationsrichtungen nicht zur Argumentation beitragen. Vgl. dazu ausführlich G. Stanitzek: »Kuckuck«, 70-80. 47 Mit Bezug auf Freuds gleichnamige Abhandlung und auf Horkheimer/Adorno vgl. Philipp Sarasin: »Die Wirklichkeit der Fiktion. Zum Konzept der ›imagined communities‹«, in: Ders., Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, Frankfurt a.M. 2003, 150-176, 175, Anm. 71.

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sens nicht zu deuten.« (WH 156) – so akzentuiert Wolken.Heim. die Unbestimmbarkeit der Wolken. Da in Wolken.Heim. RAF-Texte verwendet werden, verbindet man mit diesem Titel zudem »Stammheim« und damit den Namen eines Gefängnisses und Gefangenschaft.48 Die im Titel »Wolken.Heim.« angelegte Ambiguität von heimatlicher Geborgenheit und bedrohlicher Einengung durchzieht den gesamten Text wie folgendes Beispiel illustriert. Nichtig und leer, wie Gefängniswände, der Himmel. Eine beugende Last über den Häuptern uns hängt. Jetzt stehn wir auf. Wie jammervoll ist doch diese Zeit. Wir kauern uns zusammen, friedlich zu werden und froh unter den Blumen zu ruhn, zuhaus. (WH 156)

Nicht Weite vermittelt der Himmel, sondern Begrenzung und EingesperrtSein, ein Gefühl wie zwischen Gefängniswänden. Auf das plötzliche Aufstehen folgt das resignative Zusammenkauern angesichts der Angst und des Leids, der »Last über den Häuptern«. Das »Wir« sehnt sich nach einem friedlichen und ruhigen Zustand »unter den Blumen«, also im Boden bei den Toten. Zwischen den Polen der an dieser Stelle etablierten Oppositionen von Friede, Freude, Leichtigkeit und Ruhe einerseits und Bedrängnis, Schwere, Leere, Ratlosigkeit andererseits changiert Wolken.Heim.. An diesem Zitat aus dem 21. Textabschnitt lässt sich darüber hinaus eine absteigende Entwicklung innerhalb des Textes aufzeigen. Im vierten Abschnitt heißt es noch: »Es reißt uns hinauf, und nichtig fallen wir wieder zurück in Gefängniswände, doch hier sind wir. Egal, was über den Köpfen uns hängt.« (WH 138) Die im adversativen »doch« und im gleichgültigen »egal« sich abzeichnende aufständische und unbeeindruckte Haltung ge-

48 Der historisch-politische Kontext des Stückes legt außerdem eine Assoziation mit dem ehemaligen österreichischen Bundes-Präsidenten Kurt Waldheim nahe, dessen Amtszeit (1986-92) von Diskussionen über Verstrickungen in nationalsozialistische Kriegsverbrechen bestimmt war. Jelinek hat sich mit Waldheim in zwei auf ihrer Homepage abrufbaren Texten auseinandergesetzt: In der Heinrich-Böll-Preis-Rede In den Waldheimen und auf den Haidern (1986) (unter »zu Politik und Gesellschaft«) und in dem »Dramolett« Präsident Abendwind (Uraufführung 1987, Erstveröffentlichung 1988) (unter »Theatertexte«), www.elfrie dejelinek.com (28.02.2011).

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genüber der aussichtslosen, begrenzten und bedrückenden Lage verläuft sich zum Ende des Textes in Ratlosigkeit und Resignation – und in die Sehnsucht nach »zuhaus«. Das nationale Ding wirkt aber nicht nur bedrohlich, es wird auch bedroht – und zwar durch die anderen. Die anderen haben das Genießen nämlich vermeintlich gestohlen. Der von Žižek beschriebene »Diebstahl des Genießens« meint, dass wir annehmen, die anderen verfügten über eine geheime Art des Genießens oder wollten uns die Möglichkeit zu genießen stehlen.49 Daher ist es notwendig, die eigene Nation gegen die anderen abzugrenzen. Nur in der Differenz zu den anderen manifestiert sich das nationale Wir-Gefühl und das »Bei sich selbst Sein« (WH 138) des Nationalgeistes. Dies bringt auch Wolken.Heim. in prägnant schlichten Oppositionen zum Ausdruck. »Wir sind hier. Dort sind die andern« und »Wir sind nicht die andren« (beide Zitate WH 141). Diese Abgrenzung von den anderen führt die entsprechende Aggressivität mit sich: »Wir blicken hinüber, den Nachbarn nicht fürchtend, wir treten ihm aufs Haupt« (WH 139f., vgl. auch WH 142). Vor dem Hintergrund dieser Aggressivität und Abgrenzung gegenüber den anderen bedient sich Wolken.Heim. der Rhetorik, mit der die Nationaldiskurse bei Fichte, Kleist und den anderen Repräsentanten dieses Diskurses geführt werden, auch wenn Wolken.Heim. deren Euphorie und Selbstüberschätzung zu weiten Teilen fehlt. Dieses Verhältnis veranschaulicht ein Zitat, in dem das Ende aus Fichtes dritter Rede[...] an die deutsche Nation (1807/08) entfremdet wird. Zudem wird die Vorstellung von Leichnamen, die aus dem Boden an die Oberfläche rücken, aktualisiert. Wind komm herzu aus den vier Winden, und blase an diese Getöteten, dass sie wieder lebendig werden! Zu uns kommen aus der Erde! Zu uns, sie gehören zu uns! So wird der Wind, so werden Stürme und Regengüsse und sengender Sonnenschein die Totengebeine gebleicht haben, der belebende Atem der Geister hat noch nicht aufgehört zu wehen. Zu uns! Er wird auch unseres Nationalkörpers erstorbene Gebeine ergreifen und sie aneinanderfügen, daß sie herrlich erstehen in neuem verklärtem Leben. Und wir mittendrin! Und wir! (WH 155)

49 Vgl. S. Žižek: »Genieße Deine Nation wie Dich selbst«, 137.

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Diese Textstelle stimmt in großen Teilen mit Fichtes Text überein, der an dieser Stelle ebenfalls zitiert, und zwar die »Vision von der Auferweckung Israels« aus dem Buch Ezechiel (Ez 37, 1-10).50 Fichte verwendet für die Mobilisierung des Nationalgeistes eine säkularisierte biblische Prophetenvision. Nicht Gott ist es, der die Nation zum Leben erweckt, sondern der Geist der deutschen Idealisten. Eine auffällige Abwandlung, die Wolken.Heim. gegenüber Fichtes Vorlage vornimmt, besteht in der Transformation des »herrlich dastehen«51 bei Fichte zu »herrlich erstehen« bei Jelinek. So gewinnt die Auferweckung in Wolken.Heim. eine lebendigere Wirkung mit der Horror-Vision auferstehender Toter mit konkreten Körpern. »Wolken.Heim. entmetaphorisiert Fichtes Ezechiel-Zitat, die Rede von den erstorbenen Gebeinen; das Stück legt deren Gleichsetzung mit getöteten Körpern nahe.«52 Diese Nationen-Zombies werden durch die Hinzufügung der fordernden Zwischenrufe des »Wir« (»Zu uns, sie gehören uns!«, »Zu uns!«) zusätzlich vergegenwärtigt, d.h. konkretisiert und materialisiert. Der Verweis auf die ganz konkreten Toten, nicht abstrakte Gebeine, macht die Rede vom National-Körper zu einer grauenhaften Vergegenwärtigung der Opfer und Toten, die »[z]u uns kommen aus der Erde« und mit denen man vom nationalen Ding heimgesucht wird. Schließlich wird die Vision in dem angefügten »Und wir mittendrin!« ironisch gebrochen und das »Wir« erneut in einem Bereich der Toten lokalisierbar. Andere Textstellen bestätigen, dass die Stimme des »Wir« als Echo oder Totenklage zu verstehen ist, als eine gespenstische Stimme von ›Untoten‹, die den Diskurs des Nationalen in Wolken.Heim. dominieren. »Untote« (WH 138, 141, 144) tauchen in Wolken.Heim. wiederholt auf. Die Schwelle zwischen Leben und Tod wird durch die Nennung von »Intensivstationen« (WH 152f.) noch hervorgehoben. Lebende Tote, die auf Intensivstationen gewaltsam am Leben gehalten werden, denen der Tod verwei-

50 Vgl. zu den Veränderungen, die Fichte an der Bibelvorlage vornimmt, M.S. Pflüger: Vom Dialog zur Dialogizität, S. 240-242, sowie G. Stanitzek: »Kuckuck«, 48-50. 51 Johann Gottlieb Fichte: Reden an die deutsche Nation, hg. v. Fritz Medicus, Hamburg 1955, 58. 52 E. Annuß: Jelinek – Theater des Nachlebens, 167.

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gert wird, sprechen für die Nation.53 Die an dieser Stelle zitierten Textfragmente stammen in erster Linie aus den »Briefen der RAF«, deren Semantik (»Infusionen, Maschinerie«, »Schlauch«, »Isolation«, WH 152; »Gegenpropaganda«, WH 153) die Diktion der Texte aus dem 18. und 19. Jahrhunderts durchbricht. Die sprachliche Spannung korrespondiert mit einer politisch-existenziellen, geradezu biopolitischen Aufladung der Nation.54 Die Entscheidung über Leben und Tod und die Bestimmung der Relation zwischen diesen beiden erfahren eine Rückbindung an den Nationaldiskurs. »Was suchen wir bei den Toten? Das Leben!« (WH 148) Tod und Leben gehen eine enge Verschränkung ein, sodass sie ununterscheidbar werden. Zugleich wird ihre gewöhnliche zeitliche Beziehung umgekehrt. Das Leben wird im Tod gesucht. Diese Wendung verspricht ein Wiederfinden von Identität, wenn man an Freuds Ausführungen zum Todestrieb denkt. Mit der Auferweckung der Toten gelingt die Konstitution der nationalen Identität. Die Endlichkeit wird aufgebrochen, um daraus das möglichst unendliche Leben, die »Ewigkeit« (WH 143, 149) der Nation zu gewinnen. Zugleich führt die Auferweckung der Toten in ein zombiehaftes Grauensszenario. Wolken.Heim. konfrontiert mit dem traumatischen Ding und dessen schmerzhaftem Genießen im Tod und der Begegnung mit den Untoten. Die nationale Identität ist laut Wolken.Heim. nicht nur an ein »Totengedenken«55 gebunden, nicht nur Identifikation mit den Toten, sondern führt selbst in den Tod. Die imaginären Identifikationsmodelle, die ein Ding wie die Nation anbietet, gehen einher mit Bedrohungen und Schrecken, die hinter den alltäglichen Nationalismen liegen.

53 Untote und Wiedergänger spuken häufig durch Jelineks Texte. Paradigmatisch für die Verwendung dieses Motivs ist ihr Roman Die Kinder der Toten (1995). 54 Eine ausführliche Lektüre der Bezüge zur RAF liefert Annuß. Sie geht auf den RAF-Terror, die Gefangenschaft in Stammheim und die Zwangsernährung des im Hungerstreik befindlichen Holger Meins im Kontext der theoretischen Konzepte ›Biopolitik‹ und ›Ausnahmezustand‹ ein. Vgl. E. Annuß: Jelinek – Theater des Nachlebens, 219-240. 55 »Totengedenken ist in paradigmatischer Weise ein Gedächtnis, ›das Gemeinschaft stiftet‹. In der erinnernden Rückbindung an die Toten vergewissert sich eine Gemeinschaft ihrer Identität«, so J. Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, 63.

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V Die Toten lenken den Blick auf die Erinnerung und die Vergangenheit und damit auf die Geschichte der Nation – »denn in der Geschichte haben wir es mit der Vergangenheit zu tun« (WH 143). Die Namen Hegel, Fichte und Kleist am Ende von Wolken.Heim. rufen eine Geschichte der deutschen Nation auf, die als eine Geschichte der Befreiung zur Freiheit erzählt wird. So heißt es zu Beginn des dritten Abschnitts von Wolken.Heim. in einer idealistisch-romantischen Mischung aus Hegel und Hölderlin unter Jelineks Regie: Die Freiheit das einzig Wahrhafte des Geistes. In uns haben wir unsre Mitte und sind zuhaus. Droht uns der Nordwind auch, wir fallen nicht von den Ästen ins Laub. Wir bleiben sitzen. Ruhig lächeln wir. Daheim. Wir haben nicht die Einheit außer uns, wir haben sie gefunden, sie ist in uns selbst und bei uns selbst. Die Freiheit. Die Materie hat ihre Substanz außer ihr, der Geist aber ist das Bei sich selbst Sein. Wie wir. Wie wir. (WH 138)

Die Naivität der doppelten Affirmation am Ende des Zitats konterkariert die philosophische Aufladung des drittletzten Satzes über die Differenz von Materie und Geist. Mit Rekurs auf die oben analysierte Fichte-Entfremdung wird deutlich, dass der Geist die Nation im deutsch-idealistischen Diskurs zur Auferstehung und zur Freiheit führt. Aber schon die Syntax markiert den Freiheitsbegriff als problematisch. Die Ellipse im ersten Satz der zitierten Textstelle führt zur Dissoziation der folgenden Gedanken. Die Sprechinstanz fühlt sich bedroht. Im Zentrum steht der Satzabbruch »Die Freiheit.« denkbar unbestimmt. Um welche »Freiheit« soll es sich denn handeln? Diese Isolation des Begriffs erinnert an den schon genannten Heinrich von Kleist und seine Herrmannsschlacht (1808, Erstveröffentlichung 1821), die ebenfalls zu den in Wolken.Heim. verarbeiteten Texten gehört. In Kleists Herrmannsschlacht erläutert der Cherusker Herrmann im dritten Auftritt des ersten Aktes den germanischen Fürsten seine Strategie der ›verbrannten Erde‹. Herrmanns Plan sieht vor, dass die Fürsten ihren Besitz zerstören und zurücklassen. Die Fürsten reagieren irritiert: »Wie? Was?« Die Dialogepisode schließt folgendermaßen:

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Herrmann. Nicht? Nicht? Ihr wollt es nicht?

Thuiskomar. Das eben, Rasender, das ist es ja, Was wir in diesem Krieg verteidigen wollen!

Herrmann (abbrechend). Nun denn, ich glaubte, eure Freiheit wär’s. (er steht auf)

Thuiskomar. Was? – Allerdings. Die Freiheit –56

Allerdings. Wie wir. Wie wir. Wolken.Heim. selbst liefert die Erklärung von Herrmanns Strategie mit, wenn es an anderer Stelle heißt: »Zerstört muß werden, wenn neu geschaffen werden soll.« (WH 148) Unter diesen Bedingungen ist die Freiheit allerdings nicht das große idealistische Ziel der Befreiung, sondern sie fordert ihre Opfer und radikale Einschränkungen.57 Da verwundert es nicht, dass das »Wir« eingegrenzt zwischen Gefängnismauern sitzt. Fichtes Erziehungsprogramm der Nation klingt in Wolken.Heim. entfremdet so: »Die Toten wecken wir auf [...]! Für diesen Zweck muß freilich die natürliche Freiheit des einzelnen auf mancherlei Weise beschränkt beschränkt beschränkt werden« (WH 154). Die Epizeuxis von »beschränkt« markiert, dass der Gewinn von Freiheit im zweckorientierten, idealistisch-pädagogischen Programm à la Fichte notwendigerweise mit dem Verlust von Freiheit einhergeht – »auf mancherlei Weise«. Die Berufung auf die Freiheit im Namen der Nation verkennt paradoxerweise die Einschränkungen und die Grenzen, welche die Nation und ihre Begründung der Freiheit setzen – gerade wenn diese Freiheit dem Zweck der Befreiung oder der Nationenbildung untergeordnet ist. Die Nation ist dieser Logik zufolge, die Wolken.Heim. sprachlich hervorhebt, nichts anderes als die Be-

56 Heinrich von Kleist: Die Herrmannsschlacht. Ein Drama, in: Ders., Sämtliche Werke, Brandenburger Ausgabe, Band I/7, hg. v. Roland Reuß in Zusammenarbeit mit Peter Staengle, Frankfurt a.M./Basel 2001, 27. 57 Erläuterungen zu Herrmanns Strategie – auch im Kontext des Erziehungsprogramms, das Fichte in den Reden entwirft – finden sich bei Raimar Zons: »Deutsche Assassinen. Kleists Hermannsschlacht«, in: Martina Wagner-Egelhaaf (Hg.), Hermanns Schlachten. Zur Literaturgeschichte eines nationalen Mythos, Bielefeld 2008, 215-237, 222-229.

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schränkung von Freiheit. Dieser Mangel wird jedoch durch die Nation als Ding verdeckt, da sie als Mangel zugleich das Begehren nach Freiheit in ihrem Rahmen fest installiert. Wolken.Heim. jedoch desavouiert das nationale Beharren auf Freiheit als eine Beschränkung der Freiheit. Neben dieser Eingrenzung durch die Nation hebt Wolken.Heim. konsequent hervor, dass nationale Geschichte die Aspekte ›Tod‹ und ›Boden‹ einbindet. »Unsre Geschichte ist die der Toten, bis der Boden endgültig verstummt.« (WH 144) Die Geschichte wird in Wolken.Heim. an einen nicht verstummenden, redseligen Boden gebunden. Die Danksagung zwischen Titel und Beginn des Stückes nennt Jelineks Referenz für diesen Gedanken: »Dank an Leonhard Schmeiser (›Das Gedächtnis des Bodens‹) und Daniel Eckert.« (WH 136 [Hervorheb. im Original, M.S.]) Der Essay Das Gedächtnis des Bodens (1987) von Leonard Schmeiser dient, wie Pflüger schreibt, für Wolken.Heim. »als intertextueller Materiallieferant und zugleich als Metatext.«58 Schmeiser räsoniert in diesem Essay über die Bedeutung des Bodens und der Bodenmythologie für die nationale Geschichte; insofern ist dieser Text ein Metatext für Wolken.Heim.. Zudem umkreist Schmeiser das Verhältnis von geologischer Oberfläche und Tiefe, Stimme und Schrift und interpretiert den Boden als Repräsentant und Gedächtnis nationaler Geschichte im Diskurs der Romantik.59 Dabei zitiert er philosophisches und literarisches Textmaterial, das auch Jelinek verwendet. Entscheidend sind die Konnotationen des Bodens in Wolken.Heim.. Im Boden kulminieren die theoretisch hergeleiteten und für Wolken.Heim. analysierten Eigenschaften der Nation: das Gefühl von Heimat und Häuslichkeit, die Einengung und Begrenzung (»Unterm Boden gefesselt«, WH 148), die Toten und die Überreste ihrer Körper (»Aus unsren Knochen steckt ein Teppich im Boden«, WH 151) und die aggressive Abgrenzung von den anderen (»Tödlich ist unser Boden den Fremden.«, WH 147). Der »Boden« hält die Isotopie »Nation« zusammen und figuriert insofern für den realen, nicht-diskursiven Kern, der die symbolischen Bindungen an die Nation strukturiert.

58 M.S. Pflüger: Vom Dialog zur Dialogizität, 203. 59 Vgl. Leonhard Schmeiser: »Das Gedächtnis des Bodens«, in: Tumult. Zeitschrift für Verkehrswissenschaft 10 (1987), 38-56.

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Es haftet immer eine Art »Überschuß des Realen« an ihr [der Nation, M.S.]: Die »nationale Identität« definiert sich unter Berufung auf die kontingente Materialität von »gemeinsamen Wurzeln«, von »Blut und Boden« usw. Kurz gesagt, die »Nation« bezeichnet gleichzeitig die Instanz, in deren Namen die »organischen« Bindungen aufgelöst werden, und den »Restbestand der Prä-Moderne in der Moderne«.60

Sowohl Žižek als auch Jelinek heben in bemerkenswerter Konvergenz die Bedeutung des Bodens für die Nation hervor. Im Kontext der Blut und Boden-Ideologie oder der Rede von »gemeinsamen Wurzeln« (»wir wurzeln im Grund«, WH 142) wird der Boden zum identitätsstiftenden Element der nationalen Gemeinschaft. Zudem wird die Beziehung zur Nation durch die Bezugnahme auf den Boden naturalisiert; der naturgegebene Boden verdeckt das kontingente Moment der Gemeinschaft. Schließlich legitimiert der Boden den geopolitischen Besitzanspruch einer Gemeinschaft auf ein bestimmtes Territorium.61 Aber der Boden repräsentiert auch das todbringende Reale (»Der Fremde, tödlich ist ihm unser Boden.«, WH 158). Dieses Reale bindet die Geschichte der Nation an die Schichten toter Körper im Boden. »Wir werden geschichtet, Gerippe der Geschichte« (WH 147f.).

60 S. Žižek: »Genieße Deine Nation wie Dich selbst«, 154 [Hervorheb. im Original, ms]. 61 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang ein Abschnitt aus Peter Handkes literarischem Reisebericht Die Kuckucke von Velika Hoþa, in dem der IchErzähler schildert, wie Serben aus Velika Hoþa unter Bezugnahme auf den Boden ihren Anspruch auf Gebiete im Kosovo rechtfertigen. »Wenn einer der Bewohner der Enklave überhaupt von seinem Recht sprach, dann von einem, das abzuleiten war von der Gegenwart und einer sie begründenden, lebendigen, unverjährten Vergangenheit, von dem Leben auf diesem Boden und dessen Bearbeiten durch den da Ansässigen jetzt, jetzt und jetzt im Verein mit dem Vorleben und Vorarbeiten der Eltern, der Großeltern, der Urgroßeltern, der Vor- und Vorvorfahren. Dieses Recht brauchte keine Legende und schon gar keinen Mythos. Das Recht auf das Land kam aus dem Jetzt und dem Hier.« (Peter Handke: Die Kuckucke von Velika Hoþa. Eine Nachschrift, Frankfurt a.M. 2009, 94.) Diese Passage belegt das Verfahren, die Vergangenheit mittels des Bodens zu vergegenwärtigen (»jetzt«) sehr eindrücklich, ein Verfahren, das Jelinek radikal infrage stellt.

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Die Geschichte ist also in der Tat eine Geschichte der Toten und eine Geschichte der Heimsuchung durch diese Toten. In der Heimsuchung werden die vergessenen Toten zu gegenwärtigen Untoten, die ein zentrales Motiv für Wolken.Heim. darstellen. Žižeks Beschreibung des ambivalenten historischen Status der Nation korreliert damit. Er betont, dass das vermeintlich überholte Konzept ›Nation‹ eine historisch moderne Erfindung ist, die paradoxerweise für ein vormodernes Konzept von Gemeinschaft gehalten wird.62 Die zweideutige und widersprüchliche Natur der modernen Nation entspricht jener der Vampire und anderer lebender Toter, die fälschlicherweise als »Überbleibsel aus der Vergangenheit« angesehen werden – während ihr Platz erst durch das Hereinbrechen der Moderne konstituiert wird.63

Die Übertragung des Oxymorons »lebende Tote« auf die Nation ist kennzeichnend für Jelineks Stück und steht dort als Motiv für die Bedrohlichkeit und die Unkontrollierbarkeit, die Eigensinnigkeit der nationalen Geschichte. Für diese Charakterisierung der – insbesondere deutschen – Geschichte stellt das Märchen Das eigensinnige Kind 64 aus den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm eine Parabel dar.65 In diesem Märchen findet ein Kind, weil es nicht tut, was seine Mutter möchte, nicht Gottes »Wohlgefal-

62 Vgl. den Hinweis auf dieses Paradox bei Benedict Anderson: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, Revised ed., London/New York 2006, 5. 63 S. Žižek: »Genieße Deine Nation wie Dich selbst«, 154 [Hervorheb. im Original, ms]. 64 Nachzulesen in Brüder Grimm: Kinder- und Hausmärchen, 2. Bd., Märchen Nr. 61-144, nach der Großen Ausgabe von 1857, textkritisch rev., kommentiert und durch Reg. erschlossen, hg. v. Hans-Jörg Uther, München 1996, 247f. 65 In dieser Weise deuten Oskar Negt und Alexander Kluge das Märchen. Vgl. Oskar Negt/Alexander Kluge: »Der antike Seeheld als Metapher der Aufklärung; die deutschen Grübelgegenbilder: Aufklärung als Verschanzung; ›Eigensinn‹«, In: Jürgen Habermas (Hg.), Stichworte zur ›Geistigen Situation der Zeit‹, 1. Bd., Frankfurt a.M. 41982, 135-163, 160f.

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len«. Es wird krank und stirbt. Doch nachdem das Kind beerdigt ist, kommt sein »Ärmchen« immer wieder aus der Erde hervor.66 In Wolken.Heim. wird das Märchen auf die Geschichte übertragen: Das Ende der Geschichte ist uns mißlungen. Sie kommt immer wieder auf uns zu, rasend auf ihren Schienen. Warum stirbt sie nicht? Was haben wir getan? Was haben wir getan? Warum wächst ihr die Hand aus dem Grab? Und zeigt auf uns? Wir wollen vergessen werden. (WH 144)

Den Wunsch vergessen zu werden, erfüllt die Geschichte dem nationalen »Wir« nicht. Im Gegenteil, die Geschichte kehrt sich um, und rast auf das »Wir«, auf die Gegenwart zu. Die Geschichte klagt an und zeigt auf das »Wir«. Sie wächst aus dem Grab. Hans-Jörg Uther beschreibt dieses Märchen als »eine Warnsage mit unglücklichem Ausgang (Tote offenbaren ihre Schuld)«.67 Die Anspielung auf das Märchen bei Jelinek verkehrt die moralische Didaxe. Die Lebenden werden mit ihrer Schuld konfrontiert. »Was haben wir getan? Was haben wir getan?« Diese Repetitio in Verbindung mit der Fragesyntax des gesamten Textabschnitts impliziert eine historische Schuld, deren Vergessen mit Wolken.Heim. verhindert werden soll. Die Nennung der »Schienen« im Zitat ist Teil eines Wortfeldes, das die Verbrechen des Nationalsozialismus und den Holocaust umfasst. Dazu gehören außerdem die »Autobahnbrücken« (WH 137), die »Gräber[...]« (WH 146) und die »Gerippe« (WH 148) sowie die Verwendung von Heideggers Rektoratsrede, die von einer martialischen, nationalsozialistischen Semantik durchzogen ist.68 Jelineks Wolken.Heim. thematisiert eine andere bedrückende und brüchige Geschichte der deutschen Nation jenseits der Freiheit. Angesichts dieser Geschichte bleibt einem Žižeks Rede vom ›Genießen der

66 Vgl. zu diesem Märchen in Bezug auf Wolken.Heim. auch E. Annuß: »Zwangsleben und Schweigen«, 40-42. 67 Hans-Jörg Uther: Handbuch zu den »Kinder- und Hausmärchen« der Brüder Grimm. Entstehung – Wirkung – Interpretation, Berlin/New York 2008, 261. 68 Vgl. Martin Heidegger: Die Selbstbehauptung der deutschen Universität. Das Rektorat 1933/34, Frankfurt a.M. 21990. Vgl. etwa die Begriffe »Führerschaft« (14), »Führer« (9, 10, 15f.), »Kampf« (18f.), »Volk« oder »volklich« (10, 12f., 15-17, 19).

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Nation‹ – auch wenn dieses Genießen Schmerz, Leid und Tod impliziert – im Halse stecken. Wolken.Heim. widersetzt sich einer diskursiv geordneten Erinnerung. Offizielle nationale Geschichtsschreibungen regulieren das Verhältnis von Vergessen und Erinnern häufig aufgrund politischer Interessen. Dies führt zu einer Umcodierung der Historie, die sich in zwei Schritten vollzieht: als Verdrängung gewaltsamer und zerstörerischer Akte in der Geschichte einer Nation und als Nationalisierung vergangener Ereignisse, die für die immer schon gegebene nationale Identität der Gemeinschaft einstehen sollen.69 Wolken.Heim. entzieht sich dieser Form nationaler Geschichtsschreibung. Nicht die Nennung der und die Erinnerung an die Toten beruhigen hier das Gewissen, die Stimmen der Toten brechen in sprachlichen Bruchstücken selbst hervor. Durch dieses Verfahren legt das Stück die Brüche im nationalen Geschichtsdiskurs offen. Indem es ein Echo von Hölderlin, Hegel, Heidegger usw. zu lesen bzw. zu hören gibt, übersteigert es die Rede über die Nation. Das hyperbolische Montieren von Texten unterminiert die idealistische Vorstellung von romantischen, nationalen Gemeinschaften. Die Nation konstituiert sich über die andere, von Wolken.Heim. zum Vorschein gebrachte Seite dieses Diskurses, auf der Aggressivität, Bedrohung und Vernichtung liegen.

VI In Wolken.Heim. kommt die Nation in der Sprache zum Vorschein, nicht in Mythen oder Bildern. Durch die Schrift erhält das Genießen seine Substanz und wird auf der Ebene des Textes nachweisbar – jenseits eines nationalen Subjekts. In einer Passage, die wie eine Beschreibung von Wolken.Heim. klingt, beschreibt Žižek den Zusammenhang von Sprache als symbolischer Ordnung auf der einen und Genießen auf der anderen Seite: Sobald das Feld der Signifikanten vom Genießen durchdrungen wird, wird es unbeständig, porös, gelöchert – das Genießen ist das, was nicht symbolisiert werden

69 Vgl. zu diesem Prozess der Umcodierung von Geschichte im Zuge von Vergessen und Erinnern (mit Bezug auf Ernest Renan und Benedict Anderson) P. Sarasin: »Wirklichkeit der Fiktion«, 161f.

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kann; seine Anwesenheit im Feld der Signifikanten kann nur durch die Löcher und Ungereimtheiten dieses Feldes entdeckt werden [...].70

Nur durch die »Löcher« im Feld der Signifikanten kann das Genießen symbolisiert werden. Insofern präsentiert Jelineks Text mit seiner unbeständigen, ›anstößigen‹, elliptischen Sprache eine Struktur für das Genießen der Nation. Auch Jelineks Texte können zwar nicht versprachlichen, was nicht symbolisiert werden kann, aber in der Struktur der Texte manifestieren sich die Löcher und Lücken der Sprache. Das nationale Phantasma wird brüchig. In diese Brüche schreibt sich das Reale ein.71 Der imaginäre Schirm des Phantasmas funktioniert wie ein ästhetischer ›Schein‹, der das Reale verschleiert und durch Erzählungen, Mythen und Symbole die nationale Identität zusammenhält. Am Anfang von Wolken.Heim. fühlt sich das »Wir« dementsprechend und entgegen der späteren Bedrängtheit noch ruhig und emotional geborgen im Schein der Lichter. Die nationale Identität scheint gesichert. »Ein schönes Gefühl, in der Nacht über unsre Autobahnbrücken zu fahren, und unten strahlt es aus den Lokalen: noch mehr Menschen wie wir! Ein heller Schein« (WH 137). Am Anfang des Textes steht eine idealistische Vision, die sich im gemütlichen Zusammensein der Menschen ausdrückt, sich jedoch im selben Moment in den weniger idyllischen »Autobahnbrücken« bricht. Die Formulierung »Menschen wie wir« und das Schlüsselwort »Schein« bilden Bezugspunkte zu Friedrich Schillers Modell eines Nationaltheaters, das »nur einer Empfindung Raum [gibt] – es ist diese: ein Mensch zu sein.«72 Was damit gemeint ist, präzisiert Schiller in seinen Ausführungen Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen (1794/95). Schillers Konzept einer ›ästhetischen Erziehung‹ zufolge

70 Slavoj Žižek: Der erhabenste aller Hysteriker. Psychoanalyse und die Philosophie des deutschen Idealismus, 2. erw. Aufl. Wien/Berlin 1992, 240. 71 Vgl. Slavoj Žižek: »Jenseits der Diskursanalyse«, in: Judith Butler et al., Das Undarstellbare der Politik. Zur Hegemonietheorie Ernesto Laclaus, hg. v. Oliver Marchart, Wien 1998, 123-131, 129. 72 Friedrich Schiller: »Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken?«, in: Ders., Sämtliche Werke, Bd. V, Erzählungen. Theoretische Schriften, hg. v. Wolfgang Riedel, München 2004, 818-831, 831.

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gelangt der Mensch durch die Schönheit zur Freiheit.73 Der durch die schöne Kunst konstituierte ästhetische Schein ist durch eine »Doppelstellung«74 gekennzeichnet: Er überwindet die entfremdende gesellschaftliche Wirklichkeit, die den Menschen zur Vereinseitigung seiner Anlagen zwingt. Trotzdem besteht der Schein innerhalb dieser Wirklichkeit.75 Dadurch wird das Ideal einer harmonischen, friedlichen und freien menschlichen Gemeinschaft im ›ästhetischen Zustand‹76 möglich, wenn auch nicht wirklich. Keinesfalls Betrug oder Verleugnung der Realität markiert der Schein seinen Unterschied zu dieser. Der Schein ist ein Wesenszug der schönen Kunst, der die Kunst gegenüber anderen Diskursen auszeichnet. Ihre »gemeinsamkeitsstiftende, solidarisierende Kraft«77 kann die Kunst nur im Modus des ästhetischen Scheins entfalten. In seinem Schaubühnen-Aufsatz aus dem Jahre 1784, also zehn Jahre zuvor, schreibt Schiller: »[W]enn uns Welt und Geschäfte anekeln [...] und unsre Reizbarkeit unter Arbeiten des Berufs zu ersticken droht, so empfängt uns die Bühne – in dieser künstlichen Welt träumen wir die wirkliche hinweg«.78 Die Bühne ist aber nicht nur Befreiung von den alltäglichen Pflichten und Geschäften, sondern im Idealfall auch eine Instanz moralischer

73 So lautet jedenfalls Schillers Programm. Er hofft, mit den Briefen zu zeigen, dass man, um das politische Problem der Freiheit zu lösen, »durch das ästhetische den Weg nehmen muß, weil es die Schönheit ist, durch welche man zu der Freiheit wandert.« Friedrich Schiller: »Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen«, in: Ders., Sämtliche Werke, Bd. V, 570-669, 573. 74 Josef Früchtl: »Schein«, in: Karlheinz Barck (Hg.), Ästhetische Grundbegriffe, Bd. 5, Stuttgart 2003, 365-390, 373. 75 Vgl. zum ästhetischen Schein besonders den 26. und 27. Brief bei F. Schiller: »Über die ästhetische Erziehung«, 655-669. 76 Im Schaubühnen-Aufsatz ebenso wie in den Briefen über die ästhetische Erziehung, spricht Schiller von einem »mittleren Zustand« (F. Schiller: »Was kann eine gute stehende Schaubühne«, 821.). Diese Übereinstimmung ermöglicht es, die beiden Texte miteinander in Beziehung zu setzen. 77 Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt a.M. 1988, 59. Habermas liest Schillers Briefe als »erste programmatische Schrift zu einer ästhetischen Kritik der Moderne« (ebd.). 78 F. Schiller: »Was kann eine gute stehende Schaubühne«, 831.

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Aufklärung und ein Medium politischer Regierung und des Rechts.79 »Die Schaubühne ist der gemeinschaftliche Kanal, in welchen von dem denkenden bessern Teile des Volks das Licht der Weisheit herunterströmt und von da aus in milderen Strahlen durch den ganzen Staat sich verbreitet.«80 Durch diesen Einfluss wirkt die Institution Theater auf die Bildung der Nation ein. »[W]enn wir es erlebten«, so Schiller, »eine Nationalbühne zu haben, so würden wir auch eine Nation.«81 Das gemeinsame Erleben der Menschen vereint sie zu einer Gemeinschaft. Die Nationalbühne bewirkt vermittelt durch den ästhetischen Schein, durch »Anschauung und lebendige Gegenwart«82, durch »sichtbare Darstellung«83 Freiheit, Gemeinsinn, Übereinstimmung und nationale Einheit. Sie ist der »Kanal«, der die Nation im Staat erlebbar macht und verbreitet. Gemeinschaft, Moral, Freiheit, Schein: Schillers euphorische, ästhetisch-politische Konzeption des Nationaltheaters gilt nicht mehr für Jelineks Nationaltheater. Wolken.Heim. konstituiert keinen Schein, nichts Imaginäres, das Stück bringt durch die Sprache Gewalt und Bedrohung zum Vorschein und die nationale Ideologie zu Fall. In Bezug auf die Darsteller auf der Bühne schreibt Jelinek in einem programmatischen Text zum Theater Sinn egal. Körper zwecklos.: Bis er wieder zum Vorschein kommen darf, der auch eine Art Schein ist, aber gleichzeitig auch wirklich. Gefährlich. Für alle. [...] Ungesichert, aber gesteuert. In meinen Schriftzügen festgelegt, bis er hervorkommt, mit diesen Zügen entgleist, in den Wald kracht, und als ein anderer wieder zum Vorscheinen gebracht wird. Ich

79 Vgl. zu einer politischen, von Foucaults Gouvernementalitätskonzept geleiteten Lesart des Schaubühnen-Aufsatzes Peter Schnyder: »Schillers ›Pastoraltechnologie‹. Individualisierung und Totalisierung im Konzept der ästhetischen Erziehung«, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 50 (2006), 234-262, 253255. 80 F. Schiller: »Was kann eine gute stehende Schaubühne«, 828. 81 Ebd. 830. 82 Ebd. 822. 83 Ebd. 824.

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halte mein Licht, um ihm nachzuscheinen, aber jetzt ist er endgültig weg, egal ob ich es will oder nicht.84

Die Erweiterung des Scheins zum »Vorschein« bildet einen Kontrast zu Schillers ästhetischem Programm für die Nationalbühne. Im Vorschein fällt die Unterscheidung von Schein und Wirklichkeit zusammen. Der Vorschein lässt die Durchquerung des phantasmatischen Scheins aufscheinen, aber nur kurzzeitig und nur in der symbolischen Ordnung der Sprache. Auf der Bühne »entgleist« der Text. Während in Schillers Vorstellung die Schaubühne soziale Ordnung herstellt, gerät bei Jelinek die Sprache außer Kontrolle. Die in »Schriftzügen« materialisierte Sprache »kracht« in den »Wald«, der wie der »Zug« eine Allegorie für die Sprache darstellt. Diese Wald-Sprache ist jedoch im Gegensatz zu den technischen »Schriftzügen« naturalisiert, kollektiv, unkontrollierbar, unüberschaubar und voller Irrwege. Aber auch die technisierten Schrift-Züge sind unberechenbar, sie »entgleisen«. Permanent wird etwas Neues, ganz Anderes zum Vorschein gebracht, das sich der Verfügung entzieht und daher eine unvorhersehbare Wirkung entfaltet. Im Zum-Vorschein-Bringen verselbstständigt sich die Sprache. Jelinek entfaltet diesen poetologischen Gedanken in ihrer Nobelpreisrede Im Abseits aus dem Jahre 2004. Den Hintergrund dafür bildet Heideggers Sprachphilosophie.85 Abgesehen davon, dass Heidegger (neben Trakl) einer von den zwei explizit genannten Namen in der Rede ist, rekurriert vor allem Jelineks »Weg«-Metaphorik auf Heidegger und dessen Titel Unterwegs zur Sprache (1959).86 Die Verselbstständigung der Sprache klingt dann in

84 Elfriede Jelinek: »Sinn egal. Körper zwecklos«, in: Dies.: Stecken, Stab und Stangl, 7-13, 13. 85 Heidegger und Jelinek wiederum treffen sich bei Hölderlin, sowohl in Im Abseits als auch in Wolken.Heim.. Vgl zu dieser Konstellation Andrea Geier: »Geburtstagsgrüße mit Hölderlin. Arendt – Heidegger – Jelinek und die Wohnsitze des Denkens«, www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=10034 (18. 08.2008). 86 Jelinek bezeichnet die Sprache als »Unterwegssein«. Daneben finden sich Formulierungen wie: »Die Sprache gerät ja irrtümlich manchmal auf den Weg, aber aus dem Weg geht sie nicht.« Elfriede Jelinek: Im Abseits, www.elfriedejeli nek.com (24.01.2009), ohne Seitenzahlen. Der Text findet sich auf der Homepage unter »Aktuelles – 2005«.

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Jelineks Rede z.B. folgendermaßen: »Die Sprache weiß, was sie will.« – »Die Sprache geht.« – »In Wirklichkeit ist sie nicht nur mir, sie ist auch allen anderen ungehorsam. Sie ist für sich.«87 Gegen Ende der Rede Im Abseits nimmt Jelinek Bezug auf die Sprache der Toten. »Da kommt einer, der schon gestorben ist, und der spricht zu mir, obwohl das für ihn nicht vorgesehen ist. Er darf das, viele Tote sprechen jetzt mit ihren erstickten Stimmen, jetzt trauen sie sich das, weil meine eigene Sprache nicht auf mich aufpaßt.«88 Das Unsagbare, das Verschwiegene bemächtigt sich der Sprache. Die Toten werden wie in Wolken.Heim. durch die Sprache vergegenwärtigt, sie werden zu sprachlichen Untoten. Spätestens das Ende der Rede macht aber deutlich, dass Jelineks Poetik weder mit Heidegger noch mit Hölderlin beizukommen ist, und wahrscheinlich auch nicht mit Schiller – oder Žižek. »Was aber bleibt, stiften nicht die Dichter.«89 Mit dieser Negation und leichten Variation des letzten Verses aus Hölderlins Gedicht Andenken (1802-06), mit diesem Echo auf »Was bleibet aber, stiften die Dichter«90 entkräftet Jelinek sowohl ihre Bezugnahmen auf die Traditionslinie »Hölderlin – Heidegger« als auch überhöhte Anforderungen an ihre literarischen Texte und das Theater. Was kann Jelineks Nationaltheater eigentlich wirken? Wolken.Heim. ist Jelineks Beitrag zum Nationaltheater. Das Stück präsentiert allerdings keine dramatische Handlung und verweigert sich einem nationalen Narrativ. Es macht die Nation nicht anschaulich. Es verzichtet auf Figuren, Dialoge sowie Regieanweisungen von Seiten der Autorin. Formal weist Wolken.Heim. auf nachfolgende Theatertexte von Jelinek vo-

87 Jelinek: Im Abseits. In diesen Sätzen spiegelt sich Heideggers Sprachphilosophie wider, die er in der These »Die Sprache spricht« (Martin Heidegger: »Die Sprache«, in: Ders., Unterwegs zur Sprache, Gesamtausgabe, Band 12, Frankfurt a.M. 1985, 7-30, 10 [Hervorheb. im Original, ms].) zusammenfasst. Diese tautologisch konstruierte Formulierung drückt einerseits die Eigenständigkeit bzw. Eigensinnigkeit der Sprache aus, andererseits zeigt sich darin ihr performativer Charakter. Die Sprache ereignet sich im Sprechen. Sie bringt die Dinge und auch das Ding Nation erst durch das Sprechen zum Vorschein. 88 E. Jelinek: Im Abseits. 89 Ebd. 90 Friedrich Hölderlin: »Andenken«, in: Ders., Gedichte, 103f., 104.

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raus, ebenso wie Jelinek das Thema ›Tod‹, das in Wolken.Heim. in Beziehung zur Nation gesetzt wird, in späteren Texten wieder aufgreifen wird.91 Als Nationaltheater stellt Wolken.Heim. die Sprache in den Mittelpunkt. Diese Sprache ist sperrig, heterogen, assoziativ und verhindert eine imaginäre Identifikation mit der Nation. Sprachliche Verfahren bringen zum Vorschein, was sich sprachlich nicht auflösen lässt: das Reale, die Nation als Ding. Dieses Reale, das dem Ideal der nationalen Gemeinschaft widerspricht und sich hinter dem nationalen Imaginären verbirgt, besteht in Vergessen, Verdrängung und Tod. Gerade indem Wolken.Heim. auf die explizite Nennung von Holocaust und Nationalsozialismus, Krieg und Vernichtung verzichtet, verweigert sich das Stück einer vereinnahmenden, diskursiven Erinnerung.92 An dem Realen der Nation scheitert die Symbolisierung. Würde es symbolisiert, d.h. versprachlicht, ginge das Reale verloren. Stattdessen stellt Wolken.Heim. das Hereinbrechen des nationalen Dings in seiner bedrohlichen, beklemmenden und zerstörerischen Dimension dar. Das Nationaltheater zeigt, dass die Nation nicht da ist, um das Andenken an viele Opfer zu bewahren, sondern in sehr viel größerer Zahl Tote fordert. Diese Einschicht findet ihre theoretische Entsprechung darin, dass das Genießen der Nation zum Tode führt, da Identität und jouissance unter den hier zugrunde gelegten psychoanalytischen Vorannahmen strukturell unmöglich sind. Jelineks Nationaltheater inszeniert kein moralisch-normatives Bildungsprogramm. Nicht durch die Institution eines Nationaltheaters, in dem nationale Stoffe und Themen auf dem Spielplan stehen, soll eine Nation entstehen. In Wolken.Heim. ist die Nation selbst zum Gegenstand des Nationaltheaters geworden. Wolken.Heim. ist das Echo des immer schon gesprochenen Nationaldiskurses, für den die im Nachtrag angegebenen Autoren paradigmatisch einstehen. Mythen, Bilder, Geschichten und letztlich die Sprache, auf die sich die deutsche Nation beruft, werden in ihrer Doppeldeutigkeit und Widersprüchlichkeit offengelegt. Der Einheit der Nation

91 Vgl. neben dem Roman Die Kinder der Toten auch Macht nichts. Eine kleine Trilogie des Todes (1999). 92 In Wolken.Heim. also wird »Erinnerung verstanden als Verunsicherung über das Vergangene und nicht als dessen Vereinnahmung.« Dieter Heimböckel: »Subversionen der Erinnerung im postdramatischen Theater: Heiner Müller – Elfriede Jelinek – Rainald Goetz«, in: DU 57/6 (2005), 46-53, 53.

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steht die Uneindeutigkeit der Sprache gegenüber. In der sprachlichen Ambiguität offenbart sich der soziale Antagonismus, an dem jede nationale Identität scheitert. Die Nation erschöpft sich nicht in Heimat und Freiheit, sie bedingt Ausgrenzungen und Gewalt. Eine historisch belastete, ausgrenzende nationale Rhetorik kann nicht zu gesellschaftlicher Integration führen. Für diese Spannung im Verhältnis von Sprache und Politik sensibilisiert Jelineks Nationaltheater.

Slavoj Žižek und Der Fundamentalist, der keiner sein wollte (De-)Konstruktionen der amerikanischen Nation nach dem 11. September 2001 ANNA THIEMANN None of us would ever wish the evil that was done on September the 11th. Yet after America was attacked, it was as if our entire country looked into a mirror and saw our better selves. We were reminded that we are citizens, with obligations to each other, to our country, and to history.1 GEORGE W. BUSH, »2002 STATE OF THE UNION ADDRESS«

In seiner »State of the Union Address« vom 29. Januar 2002 war George W. Bush darum bemüht, der vom Terrorismus heimgesuchten Nation ein unerschütterliches Selbst- bzw. Spiegelbild zu verleihen. Genau einundzwanzig Wochen nach den Anschlägen vom 11. September 2001 und beinahe vier Monate nach Beginn des Afghanistankriegs beschreibt der damalige U.S.-Präsident den auflebenden Patriotismus seiner Mitbürger als einen Akt der kollektiven Selbstfindung und Rückbesinnung auf den ame1

George W. Bush: »2002 State of the Union Address«, in: American Rhetoric, http://www.americanrhetoric.com/speeches/stateoftheunion2002.htm (24.04.2009)

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rikanischen Exzeptionalismus. Mit seinem Hinweis auf das »bessere Selbst« der Amerikaner beschwört Bush die Wiederkehr des »American Adam«2, des geschichtslosen und daher schuldfreien »neuen Menschen«3, der sich einst voller Zuversicht den nordamerikanischen Kontinent zu eigen machte. Gleichzeitig impliziert Bushs Appell an die Bürgerpflichten seiner Landsleute, dass die amerikanische Toleranz und Freiheitsliebe unter den aktuellen Bedingungen weichen müssen. Wie Susan Sontag schon kurz nach den Anschlägen feststellte, drängten die Bilder des Terrors und Bushs polarisierende Krisenrhetorik den paradoxen amerikanischen Charakter, der sich zugleich durch Toleranz und Konformismus, Anarchie und Gesetzestreue auszeichnet, einseitig in die Rolle des fremdenfeindlichen und regierungshörigen Bürgers.4 So konnte es der Bush-Regierung gelingen, kurz nach den Anschlägen Gesetze zu erlassen, die eine starke Einschränkung der Bürgerrechte sowie verschärfte Regularien für Einwanderer und Einreisende vorsahen.5 Das Schicksal der infolgedessen von der amerikanischen Nation Verstoßenen und im Ausland Verfolgten beschreibt der Roman The Reluctant Fundamentalist (2007)6, der von seinem britisch-pakistanischen Autor als »strange-shaped, oddly reflective mirror«7 bezeichnet wird. Mit seinem ei-

2

R.W.B. Lewis: The American Adam. Innocence, Tragedy, and Tradition in the Nineteenth Century, Chicago, 1959

3

Vgl. Crevecoeurs bekannte Formulierung: »What then is the American, this new man?«. J. Hector: St. John De Crevecoeur: Letters from an American Farmer, New York 1904, 54.

4

Vgl. Susan Sontag: »9.11.01«, in: Dies./Paolo Dilonardo/Anne Jump (Hg), At the Same Time. Essays and Speeches, New York 2007, 105-107; Dies.: »A Few Weeks After«, in: At the Same, 108-117.

5

Hierzu gehört z.B. der umstrittene USA PATRIOTIC Act, der im Oktober 2001 verabschiedet wurde. Vgl. Department of Justice: »The USA PATRIOT Act. Preserving Life and Liberty«, http://www.justice.gov/archive/ll/highlights.htm (10.10.2010)

6

Mohsin Hamid: The Reluctant Fundamentalist, Orlando 2008. Im Folgenden

7

Mohsin Hamid im Interview: »Mohsin Hamid. ›We are not afraid‹«, in: The

wird der Roman mit Seitenangabe im Text zitiert. Man Booker Prizes, http://www.themanbookerprize.com/perspective/articles/ 101 (31.07.2009)

SLAVOJ ŽIŽEK UND DER FUNDAMENTALIST, DER KEINER SEIN WOLLTE | 223

gentümlichen Spiegel konterkariert Mohsin Hamid das positive Selbstbild der USA8, indem er vor allem auf die innere Spaltung der Nation und die Vorgeschichte des 11. September 2001 aufmerksam macht. Dabei spielt der Roman auf seiner formalen und inhaltlichen Ebene mit der spiegelbildlichen bzw. medialen Struktur von (nationaler) Identitätsbildung, der die Brüchigkeit immer schon eingeschrieben zu sein scheint. Diese Aspekte sollen im Zentrum der folgenden Analyse stehen, die den Roman zum Anlass nimmt, um die (De-)Konstruktion der amerikanischen Nation nach dem 11. September 2001 zu thematisieren. Das angedeutete Konzept von The Reluctant Fundamentalist rückt den Roman in die Nähe poststrukturalistischer Identitäts- und Nationalitätsdiskurse, die den theoretischen Rahmen dieser Untersuchung bilden sollen. Besonders die Psychoanalyse Lacan’scher Prägung scheint geeignet, um den Zusammenhang zwischen spiegelbildlicher und medialer Identifikation einerseits und der Konstruktion nationaler Gemeinschaft andererseits zu durchleuchten. Für die Nation wie auch für den speziellen Fall der USA wurde diese komplexe Beziehung von dem psychoanalytisch geschulten Kulturkritiker Slavoj Žižek aufgearbeitet. Seine Ausführungen zum 11. September 2001 bieten strukturelle und inhaltliche Anknüpfungspunkte, die im Folgenden zu einer Erhellung der komplexen Bedeutungsstruktur von The Reluctant Fundamentalist beitragen sollen. Vorerst sei angemerkt, dass sowohl Žižek als auch Hamid die Situation nach den Terroranschlägen aus der Perspektive des außenstehenden Intellektuellen beschreiben und dass sich ihre Diagnosen in wesentlichen Punkten überschneiden.

8

Die im Kontext dieses Aufsatzes verwendeten Begriffe ›USA‹ und ›Amerika‹ implizieren unterschiedliche Sichtweisen bzw. Bedeutungen. Während sich die Länderbezeichnung ›USA‹ auf das Territorium der Vereinigten Staaten von Amerika bezieht, verweist der bedeutungsoffene Begriff ›Amerika‹ auf die Idee Amerikas, die eng mit dem Diskurs des American Dream verknüpft ist.

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ŽIŽEK UND DAS NATIONALE DING DER USA It is crucial to reassert the old Lacanian lesson of the mirror-phase: I constitute myself as Ego only by recognizing myself in the mirror image – that is by encountering my virtual double, with whom I then engage in an ambiguous love-hate relationship (loving him because he is like me, hating him for the very same reason, because he threatens to occupy my place). SLAVOJ

ŽIŽEK,

»OF

C ELLS

AND

SELVES«9

Mit der Lacan’schen Psychoanalyse wird der Spiegel, den George W. Bush seinen Landsleuten am 29. Januar 2002 vorhält, als das Imaginäre der Nation lesbar, als eine fiktive Identitätskategorie, die das Phantasma einer geschlossenen nationalen Gemeinschaft hervorbringt. In Jacques Lacans Identitätstheorie wird die Subjektbildung durch die Identifikation mit dem eigenen Spiegelbild – d.h. durch das In-Beziehung-Treten zu einem äußerlichen Gegenüber – zugleich begründet und verunmöglicht. Im Spiegelstadium besteht eine Differenz zwischen dem stets fragmentierten Dasein des Subjekts und seiner geschlossenen imago, sodass sich ein konstitutiver Mangel einstellt.10 Dieser Mangel kann auch als Riss gedacht werden, der innerhalb des Subjekts zwischen seiner inkohärenten Existenz und seinem konsistenten Selbstbild verläuft. Die Schließung des Risses gelingt nur momenthaft und imaginär, d.h. sie bleibt eine Illusion. Die dadurch bedingte Unabschließbarkeit imaginärer Identitätsbildung verleiht ihr eine besondere Flexibilität und Produktivität, denn der ständige Bedarf nach neuen Medien 9

Slavoj Žižek: »Of Cells and Selves«, in: Elizabeth Wright/Edmond Wright (Hg.), The Žižek Reader, London 1999, 302-320, 315.

10 Vgl. Jacques Lacan: »Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint. Bericht für den 16. internationalen Kongreß für Psychoanalyse in Zürich am 17. Juli 1949«, in: Dorothee Kimmich/Rolf Günter Renner/Bernd Siegler (Hg.), Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart, Stuttgart 1996, 177-187.

SLAVOJ ŽIŽEK UND DER FUNDAMENTALIST, DER KEINER SEIN WOLLTE | 225

des Imaginären eröffnet die Möglichkeit einer performativen Veränderung des eigenen Selbstentwurfs. Das erste Medium des Imaginären, das Spiegelbild, wird im Laufe des Lebens durch andere (narrative) Bilder11 oder das Antlitz des Anderen substituiert. Das personifizierte Gegenüber changiert zwischen Selbst- und Feindbild, da seine imaginierte Vollkommenheit zugleich begehrt und gehasst wird. Durch diese ambiguen Identifikations- und Abgrenzungsstrukturen sind die Grenzen zwischen dem Eigenen und dem Fremden permeabel, das Eine durchdringt stets das Andere und umgekehrt. Das komplexe Lacan’sche Identitätskonzept wurde von Slavoj Žižek auf den speziellen Fall der nationalen Identität übertragen. In seinem Aufsatz »Enjoy the Nation as Yourself!« (1993) definiert er die nationale Identifikationsstruktur als »shared relationship towards a Thing«12. Der Žižek’sche Dingbegriff ist mit Lacans individual-subjektivem Ding verwandt, das durch seine Abwesenheit bzw. seine semantische Leere den Mangel im Subjekt begründet und zugleich sein Begehren auslöst. Im Fall der Nation, so Žižek, wird dieser Mangel durch imaginäre Phantasmen verdeckt, auf die sich das Begehren der losen Glieder der Nation richtet. Zusammen genommen konstituieren diese Phantasmen den way of life einer nationalen Gemeinschaft, der konkrete soziale Praktiken und nationale Mythen umfasst – »in short, all the details by which is made visible the unique way a community organizes its enjoyment [Herv. i.O.]«13. In dieser Konstellation sind nationalistische und rassistische Tendenzen immer schon angelegt, da die Nation das Ding bzw. das Genießen durch den Anderen bedroht sieht: »We always impute to the ›other‹ an excessive enjoyment: he wants to steal our enjoyment (by ruining our way of life) and/or he has access to some secret, perverse enjoyment.«14 Folgt man Žižeks Ausführungen zur Konstitution nationaler Identität und zu den Folgen des 11. September 2001, so stand mit dem von Präsident

11 Vgl. R.W.B. Lewis’ Konzept des nationalen »narrative image«. R.W.B. Lewis: The American Adam, 75-155. 12 Slavoj Žižek: »Enjoy Your Nation as Yourself!«, in: Ders., Tarrying with the Negative. Kant, Hegel, and the Critique of Ideology, Durham 1993, 200-237, 201. 13 Ebd. 14 Ebd. 203.

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Bush emphatisch beschworenen American way of life15 zugleich das nationale Ding und damit die nationale Identität der USA auf dem Spiel. Das spezielle nationale Ding der Amerikaner hat Žižek in mehreren seiner Schriften diskutiert.16 In der Essaysammlung Welcome to the Desert of the Real (2002) betont er, dass der American way of life weniger durch substantielle Inhalte als durch eine Struktur des Mangels definiert ist. Die symbolische Ordnung der USA erwecke den Eindruck weltloser Scheinhaftigkeit, das unheimliche Gefühl, Teil eines Schauspiels (»spectacle«17) zu sein.18 Diesen Umstand führt Žižek auf die Wirkmächtigkeit der populären Filmkultur für das amerikanische Selbstverständnis zurück. Der Bildschirm, auf dem sich das nationale Imaginäre der Amerikaner abspielt, sind die visuellen Massenmedien – allen voran die Produktionen aus der Traumfabrik Hollywood. In diesem Zusammenhang bescheinigt Žižek der amerikanischen Kultur ein selbstreflexives Bewusstsein, wenn er aufzeigt, dass Filme wie Peter Weirs TRUMAN SHOW (1998)19 und Larry und Andy Wachowskis

15 In seiner ersten Fernsehansprache nach den Anschlägen auf das World Trade Center und das Pentagon am 11. September 2001 sagte George W. Bush: »Today, our fellow citizens, our way of life, our very freedom came under attack in a series of deliberate and deadly terrorist acts.« George W. Bush: »9/11 Address to the Nation«, in: American Rhetoric, http://www.americanrhetoric.com/speeches/ gwbush911addresstothenation.htm (24.04.2009) 16 Der Sprach- und Sozialphilosoph Andreas Hetzel hat sich in seinem Aufsatz »Das reine Ereignis. Philosophische Reaktionen auf den 11. September« einer zusammenfassenden Analyse dieser Schriften gewidmet. In Bezug auf die Žižek’sche Argumentation kommt der vorliegende Aufsatz zu ähnlichen Ergebnissen. Allerdings konzentriert sich die folgende Analyse auf das nationale Imaginäre der USA, während Hetzel von Lacans Theorem des Aktes und Žižeks Ereignisbegriff ausgeht. Vgl. Andreas Hetzel: »Das reine Ereignis. Philosophische Reaktionen auf den 11. September«, in: Matthias N. Lorenz (Hg.), Narrative des Entsetzens. Künstlerische, mediale und intellektuelle Deutungen des 11. September 2001, Würzburg 2004, 267-286. 17 Slavoj Žižek: »Passions of the Real, Passions of Semblance«, in: Ders., Welcome to the Desert of the Real. Five Essays on September 11 and Related Dates, London 2002, 5-32, 13. 18 Vgl. A. Hetzel: »Das reine Ereignis«, 277-278. 19 The Truman Show (USA 1998, R: Peter Weir).

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MATRIX (1999)20 ebenso wie ihr literarischer Vorgänger Time out of Joint (1959)21 von Philip K. Dick auf die Logik der amerikanischen Wirklichkeitserfahrung anspielen: »The underlying experience of Time out of Joint and of The Truman Show is that the late-capitalist consumerist Californian paradise is, in its very hyperreality, in a way unreal [Herv. i.O.], substanceless, deprived of material inertia.«22 In seinen Essays zum 11. September 2001 führt Žižek aus, dass die mediale Erfahrung der Terroranschläge in New York und Washington von der Hollywood’schen Bildstruktur präfiguriert wurde: »[F]or us, corrupted by Hollywood, the landscape and the shots of the collapsing towers could not but be reminiscent of the most breathtaking scenes in big catastrophe productions [...] – just remember the series of movies from Escape from New York to Independence Day.«23 Am 11. September 2001 hat nicht das Unvorstellbare, der Einbruch des Realen, stattgefunden, sondern eine Verschiebung im symbolischen System. Der Terror im eigenen Land, welcher bisher nur als cinematisches Katastrophenszenario in Erscheinung trat, ist plötzlich Teil der amerikanischen ›Wirklichkeit‹ geworden. Außerhalb bekannter Actionfilme mit Happyendgarantie bedrohen diese Bilder das Sicherheitsgefühl und die Siegermentalität der amerikanischen Nation. Die imaginäre Unterscheidung zwischen ›uns‹, die in der geschützten westlichen Welt leben, und den ›anderen‹, deren vermeintlich prämodernes Leben von alltäglicher Gewalt beherrscht ist, scheint plötzlich aufgehoben24: [B]efore the WTC collapse [...] we lived in our reality, perceiving Third World horrors as something that was not actually part of our social reality, as something which existed (for us) as a spectral apparition on the (TV) screen – and what happened on September 11 was that this fantastic screen apparition entered our reality [...] (i.e. the symbolic coordinates which determine what we experience as reality).25

Obwohl die Terroranschläge zu einer Verwirrung von Täter- und Opferrollen geführt und damit das nationale Ding, den American way of life, gefähr-

20 The Matrix (USA 1999, R: Andy Wachowski/Larry Wachowski). 21 Philip K. Dick: Time out of Joint, Philadelphia 1959. 22 S. Žižek: »Passions of the Real, Passions of Semblance«, 13. 23 Ebd. 15-16. 24 Vgl. A. Hetzel: »Das reine Ereignis«, 277. 25 S. Žižek: »Passions of the Real, Passions of Semblance«, 16.

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lich bedroht haben, deutet Žižek den 11. September 2001 nicht als epochal einschneidendes Ereignis. Für ihn beinhalten die Folgen der Anschläge vielmehr ein Wiedererstarken des amerikanischen Patriotismus und eine Renaissance der (welt-)politischen Ordnung des Kalten Krieges: What if – as the massive display of American patriotism seems to demonstrate – the shattering experience of September 11 ultimately served as a device which enabled the hegemonic American ideology to ›go back to basics‹, to reassert its ideological co-ordinates against the antiglobalist and other critical temptations?26

Žižeks Verweis auf den »display [dt. ›Darstellung‹, ›Vorführung‹, ›Bildschirm‹] of American patriotism« betont die phantasmatische Struktur der amerikanischen Einigkeit gegen den Terror, die die eigentliche Spaltung der Nation nur notdürftig verdeckt. Die Notwendigkeit nationaler Geschlossenheit hätten die USA zum Anlass genommen, um Globalisierungskritiker und ihre Behauptung des Kulturrelativismus in die Schranken zu weisen, sodass die Weltmacht ihr altes ideologisches Programm neu aufzunehmen vermochte. Dieses Programm sieht Žižek durch das Primat ökonomischer Interessen gekennzeichnet. Die vordergründige Rechtfertigung für internationale Interventionen, der Schutz von Demokratie und Menschenrechten, verschleiere nur das wahre Motiv der Amerikaner, ihren wuchernden Geldfetischismus, den Žižek mit einer fundamentalistischen Ideologie vergleicht.27 Für die von den Interventionsschlägen der USA betroffenen Staaten seien die Folgen verheerend. Die geheimen Stellvertreterkriege und offenen Militäreinsätze der USA würden nicht nur ihren vermeintlichen ›Zivilisierungsplan‹ verfehlen, sondern sogar sein Gegenteil bewirken. Tolerante muslimische Gesellschaften mit einer langen säkularen Tradition wie der des einstigen Afghanistans würden durch das Eingreifen der USA nachhaltig geschädigt. Der nun dort herrschende muslimische Fundamentalismus, gegen den die amerikanischen Streitkräfte seit dem 11. September 2001 verschärft vorgehen, sei durch die außenpolitischen Eingriffe der USA zuallererst hervorgebracht worden:

26 Slavoj Žižek: »Reappropriations. The Lesson of Mullah Omar«, in: Ders.: Welcome to the Desert of the Real, 46-47. 27 »[T]he global capitalist liberalism which opposes Muslim fundamentalism is itself a mode of fundamentalism.« Ebd. 52.

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[F]ar from expressing some deep ›traditionalist‹ tendency, [the rise of the Taliban] was the result of the country being caught up in the whirlpool of international politics – it was not a defensive reaction to it, it emerged directly as a result of the support of foreign powers (Pakistan, Saudi Arabia, the USA itself).28

Žižeks zentrale These besagt, dass der vermeintliche Fundamentalismus, den die USA ihrem Gegner zuschreiben, der amerikanischen Nation selbst zugrunde liegt, denn eng verknüpft mit dem erwähnten ökonomischen Marktfundamentalismus29 ringen in den USA rechte religiöse Gruppierungen um die Vorherrschaft.30 Diese Konstellation führt Žižek zu der Schlussfolgerung, dass die USA in ihren aktuellen Kriegen in Afghanistan und im Irak im Grunde sich selbst, ihren eigenen Exzess bekämpfen. In ihrer blinden und paranoiden Wiederholung traditioneller Verhaltensmuster verpassten die USA die Chance, den Gewaltzirkel des Terrors zu durchbrechen: America should learn humbly to accept its own vulnerability as part of this world, enacting the punishment as a sad duty, not as an exhilarating retaliation – what we are getting instead is the forceful reassertion of the exceptional role of the USA as a global policeman, as if what causes resentment against the USA is not its excesses of power, but its lack of it.31

Das Eingeständnis der eigenen Verwundbarkeit und damit die Anerkennung des Eigenen im Fremden wird von Žižek als verpasste Möglichkeit ins Spiel gebracht: »[O]n September 11, the USA was given the opportunity to realize what kind of world it was part of. It might have taken the opportunity – but it did not [...]!«32

28 Ebd. 43. 29 Der Begriff »market fundamentalism« wurde unter anderem von Henry A. Giroux geprägt. Vgl. Henry A. Giroux: The Terror of Neoliberalism. Authoritarianism and the Eclipse of Democracy, Boulder 2004, 10. 30 »[They] practice a terror of their own, legitimized by (their understanding of) Christianity.« S. Žižek: »Reappropriations«, 43. 31 Ebd. 49. 32 Ebd. 47.

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MOHSIN HAMIDS THE RELUCTANT FUNDAMENTALIST Mohsin Hamids The Reluctant Fundamentalist simuliert gewissermaßen die Situation des schreibenden Kulturkritikers. Die Rahmenerzählung folgt den Konventionen eines dramatischen Monologs, dessen Hauptgegenstand die autodiegetisch erzählte Binnenhandlung darstellt. Seit seiner ›Erfindung‹ im neunzehnten Jahrhundert findet sich der dramatische Monolog vornehmlich in der lyrischen Dichtung, hat aber seit den 1980er Jahren auch andere Gattungen durchdrungen. Texte, die die Form des dramatischen Monologs aufweisen, bestehen aus einer einzigen direkten Rede des Erzählers, der mit einer oder mehreren anderen Figuren spricht und interagiert. Die Handlungen und Sprechakte dieser anderen Figuren kann der Leser nur anhand der Informationen des Erzählers rekonstruieren. Laut M.H. Abrams besteht das vornehmliche Ziel dieser Erzählperspektive darin, dem Leser den eigentümlichen Charakter des einzigen Sprechers nahezubringen.33 Damit wird der Monolog zu einem narrativen Spiegelbild, welches die wesentlichen Züge der Hauptfigur reflektiert. In ihrer aktuellen Einführung zur Geschichte und Funktion des dramatischen Monologs führt Glennis Byron aus, dass die Popularität dieser Erzählform in den letzten dreißig Jahren wieder stark zugenommen hat.34 Es ist sicherlich kein Zufall, dass sich diese Entwicklung in einer Phase vollzogen hat, in der Identitätsdiskurse einstiger Minoritäten ihren Anfang nahmen. Ähnlich wie Abrams betont Byron, dass der Sprecher in seinem konkreten sozialen Umfeld verortet und seine Beziehung zu anderen Mitgliedern der Gesellschaft beleuchtet wird.35 Das dadurch bedingte sozialkritische Potential des dramatischen Monologs wird oftmals (im Namen) von marginalisierten Gruppen instrumentalisiert. So kann z.B. das weibliche Sprechersubjekt eines dramatischen Monologs einem mirror image gegenübertreten und damit die Differenz zwischen Selbst- und Fremdbestimmung zum Ausdruck bringen.36 In Mohsin Hamids Roman finden gleich mehrere spiegelbildliche Konfrontationen statt. In der Binnenerzählung berichtet der junge Pakistani

33 M.H. Abrams: »Dramatic Monologue«, in: Ders./Geoffrey Galt Harpham, A Glossary of Literary Terms, Boston 82005, 70-71, 70. 34 Vgl. Glennis Byron: Dramatic Monologue, London 2003, 130-132. 35 Vgl. ebd. 3-4. 36 Vgl. ebd. 63.

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Changez über seine gescheiterte Identifikation mit den Phantasmen der amerikanischen Nation. In der Rahmenhandlung kommt der Adressat des Monologs ins Spiel, ein namenloser Amerikaner, der Changez in einem Café in der Altstadt von Lahore, Pakistan, begegnet. Während Changez dem Fremden ein changierendes Bild der USA vor Augen führt, entpuppt sich auch dieser als eine ambigue Figur, deren freundliche oder feindliche Absichten bis zum Ende des Romans im Dunkeln bleiben. Passend dazu bemerkt der Autor in einem Interview: »The novel implicates the audience; it holds up a mirror to what they are.«37 Diese doppelte Reflexionsstruktur und das darin implizierte Konzept der Nation sollen im Folgenden nachvollzogen und analysiert werden. Es wird sich zeigen, dass der Roman gegensätzliche Phantasmen der USA evoziert und das Land dadurch als eine zerrissene Nation imaginiert. Die nationale Geschlossenheit nach dem 11. September 2001 wird zwar vorgeführt, aber zugleich problematisiert und in Frage gestellt.

PHANTASMEN DES AMERIKANISCHEN (ALB-)TRAUMS Das Problem der nationalen Identität wird bereits auf den ersten Seiten des Romans aufgeworfen. Nachdem Changez dem Unbekannten seine Sympathie für Amerika versichert und sich als Fremdenführer angeboten hat, stellt jener die Rückfrage, wie der Pakistani ihn überhaupt als Amerikaner identifizieren konnte. Weder die Hautfarbe noch ein kulturspezifischer Kleidungsstil, so Changez, habe den entscheidenden Hinweis geliefert. Seine Nationalität habe der Amerikaner allein durch seine Haltung und sein Verhalten (»bearing [Herv. i.O.]«, 2) verraten, die offenbar eine bestimmte Beziehung zu seiner fremden Umgebung zum Ausdruck bringen. Nationale Identität wird also gleich zu Beginn des Romans entontologisiert und als eine flexible Beziehungsstruktur zwischen dem nationalen Subjekt und seiner Außenwelt vorgestellt. Changez’ Fokus richtet sich daraufhin auf die Aufarbeitung seiner speziellen Beziehung zur amerikanischen Nation. Der Pakistani verbrachte

37 Mohsin Hamid im Interview: »Stanford Daily Interview with Mohsin Hamid on Novel and Personal Experiences« vom 23.04.2007, mohsinhamid.com, http:// www.mohsinhamid.com/interviewstanford2007.html (31.07.2009).

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insgesamt viereinhalb Jahre in den USA, zuerst als Stipendiat an der Princeton University in New Jersey und später als Angestellter des Eliteunternehmens Underwood Samson (US)38, einer Consulting Firma mit Sitz in New York City, die für große Kunden weltweite Unternehmensschätzungen vornimmt. Zu Beginn seines USA-Aufenthalts strebt Changez nach dem American Dream und partizipiert mit Begeisterung am Schauspiel des American way of life. Die phantasmatischen Dimensionen dieser Lebensart werden wiederholt betont, wenn amerikanische Verhaltensmuster als Simulacra von Hollywoodinszenierungen vorgestellt werden: »Princeton inspired in me the feeling that my life was a film in which I was the star and everything was possible.« (3) Auch bei Underwood Samson verhalten sich die Mitarbeiter wie Figuren aus amerikanischen Kinofilmen. So mimt der Kollege Wainwright Val Kilmer in TOP GUN39 und schwört den Berufseinsteiger mit STAR WARS-Zitaten40 auf seine Aufgaben als Trainee ein.41 Während seines ersten ›Auslandseinsatzes‹ in Manila übernimmt Changez schließlich den Part eines bekannten Geheimagenten mit internationaler Mission: »I was, in my own eyes, a veritable James Bond – only younger, darker, and possibly better paid« (63-64). Durch seine Imitation typisch (anglo-)amerikanischer Verhaltensmuster kann Changez seinem Auftritt als Wirtschaftsspion der USA die nötige Authentizität verleihen: »I attempted to act and speak, as much as my dignity would permit, more like an Ameri-

38 Anna Hartnell bemerkt treffend, dass die Initialen der Firma ihre Verbindung und Assoziation mit der amerikanischen Nation mehr als deutlich machen. Vgl. Anna Hartnell: »Moving through America. Race, Place and Resistance in Mohsin Hamid’s The Reluctant Fundamentalist«, in: Journal of Postcolonial Writing 46/3-4 (2010), 336-348, 337. 39 »Twirling his pen between his fingers in a fashion reminiscent of Val Kilmer in Top Gun, he [Changez’ Kollege Wainwright] leaned towards me and whispered, ›No points for second place, Maverick.‹ ›You’re dangerous, Ice Man,‹ I replied – attempting to approximate a naval aviator’s drawl – and the two of us exchanged a grin.« M. Hamid: The Reluctant Fundamentalist, 35. 40 »›Beware the dark side, young Skywalker.‹ He [Wainwright] had a penchant for quoting lines from popular cinema, much as my mother quoted the poems of Faiz and Ghalib.« Ebd. 38. 41 Top Gun (USA 1986, R: Tony Scott); Star Wars Episode I-VI (USA 1977, 1980, 1983, 1999, 2002, 2005, R: George Lucas).

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can [Herv. i.O.]. […] I felt enormously powerful […], knowing my team was shaping the future.« (65-66) Durch diese Vergleiche wird die Wirkmächtigkeit der Hollywoodkultur für das amerikanische Selbstbild verdeutlicht. Die erwähnten Militär-, Kriegs- und Geheimdienstfilme können zudem als konkrete Anspielungen auf die imperialistischen Phantasien der amerikanischen Nation verstanden werden. Die Tatsache, dass der Außenseiter Changez unmittelbar in das amerikanische Rollenspiel hineinfindet, verweist auf die globale Dominanz und Verbreitung amerikanischer Kulturgüter. Gleichzeitig lässt die implizierte Verletzlichkeit seiner Würde, die durch sein amerikanisches Gehabe bedingt zu sein scheint, auf einen Identitätskonflikt schließen, der im Laufe des Romans immer virulenter wird. In Manila, dem einstigen Schauplatz des imperialistischen SpanischAmerikanischen Krieges, wird Changez plötzlich mit Identifikationsangeboten konfrontiert, die ihn an seiner Loyalität gegenüber den USA zweifeln lassen. Als seine Limousinenfahrt ins Stocken gerät, erblickt der amerikanisierte Pakistani plötzlich ein altvertrautes Spiegelbild: »I glanced out the window to see, only a few feet away, the driver of a jeepney returning my gaze. There was an undistinguished hostility in his expression. [...] [H]is dislike was so obvious, so intimate [Herv. i.O.], that it got under my skin.« (66-67) Diese Begegnung nimmt Changez als ein einschneidendes Erlebnis wahr, bei dem sich gegensätzliche Identitätsentwürfe gleichzeitig abstoßen und durchdringen. Während der Filipino ihn als Amerikaner und damit als Feind wahrnimmt, meint Changez in seinem Gegenüber sich selbst zu erkennen: »[H]e and I shared a sort of Third World sensibility. […] I felt I was play-acting when in reality I ought to make my way home.« (67) Mit den Augen eines von der westlichen Welt unterdrückten Volkes nimmt Changez auch die Terroranschläge vom 11. September 2001 wahr, die sich während seines Aufenthalts auf den Philippinen ereignen: I turned on the television and saw what I first took to be a film. But as I continued to watch, I realized that it was not fiction but news. I stared as one – and then the other – of the twin towers of the New York’s World Trade Center collapsed. And then I smiled [Herv. i.O.]. Yes, despicable as it may sound, my initial reaction was to be remarkably pleased. (72)

An dieser Stelle des Romans vollzieht sich die phantasmatische Verschiebung im symbolischen System, von der in Žižeks Essaysammlung über die

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Terroranschläge in New York und Washington die Rede ist. Der Angriff auf die amerikanische Nation spielt sich nicht mehr auf der Kinoleinwand, sondern als Teil der Weltnachrichten ab. Changez’ Reaktion auf die Fernsehbilder zeigt allerdings, dass auch der echte Terror nach den Maßgaben der Hollywoodlogik rezipiert wird. So ist er außer Stande, hinter der Mattscheibe die Opfer der Katastrophe zu sehen, da ihr Schicksal kein Bestandteil der unmittelbaren medialen Inszenierung der Katastrophe ist.42 Der endlose Loop der brennenden Türme am Morgen des 11. September 2001 wiederholt (bis heute) nur den symbolischen Fall des World Trade Center, des Zentrums der amerikanischen (Wirtschafts-)Macht – ein Anblick, der Changez Genugtuung verschafft: [M]y thoughts were not with the victims [Herv. i.O.] of the attack – death on television moves me most when it is ficticious and happens to characters with whom I have built relationships over multiple episodes – no, I was caught up in the symbolism [Herv. i.O.] of it all, the fact that someone had so visibly brought America to her knees. (72-73)

In den folgenden Monaten bemüht Changez sich, seine antiamerikanischen Gefühle zu unterdrücken, indem er die imaginären Phantasmen Amerikas höchst selektiv wahrnimmt. In den USA meidet er Nachrichtensendungen und konsumiert stattdessen »soothing sitcoms« (99), die seine Faszination von dem amerikanischen Traum am Leben erhalten. Doch auf Dauer scheint es unmöglich, die durch Bars und Empfangsräume flackernden Bilder über das ›Nachspiel‹ der Terroranschläge zu ignorieren. Auch die Berichterstattung über den Afghanistankrieg folgt den Vorgaben des Hollywood’schen Imaginären.43 Die Reportagen über den ungleichen Kampf

42 Aufnahmen der Opfer, die sich am 11. September 2001 in den oberen Stockwerken des World Trade Center befanden und freiwillig in den Tod stürzten, wurden kurz nach den Anschlägen tabuisiert. Vgl. Tom Junod: »The Falling Man«, in: Esquire 140/3 (2003), 176-181, 198-199. 43 Hierzu bemerkt Žižek: »The ultimate twist in this link between Hollywood and the ›war against terrorism‹ occurred when the Pentagon decided to solicit the help of Hollywood: at the beginning of October 2001, the press reported that a group of Hollywood scenarists and directors, specialists in catastrophe movies, had been established at the instigation of the Pentagon, with the aim of imagi-

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zwischen der hochmodernen amerikanischen Luftwaffe und den »illequipped and ill-fed Afghan tribesmen below« erinnern Changez an den Film TERMINATOR44 – »but with the roles reversed so that the machines were cast as heroes« (99). Der Vergleich mit ausgerechnet diesem Film, der zur Zeit des Kalten Krieges entstanden ist, liefert einen Interpretationsrahmen für die aktuelle weltpolitische Lage, in dem die USA als Aggressor und nicht als Opfer lesbar werden. Zugleich wird deutlich, dass die Kritik an technologischem Fortschritt und imperialistischer Expansion nicht nur von außen an die USA herangetragen wird, sondern auch in ihrem Inneren, ihren eigenen kulturellen Praktiken wirksam ist. Die U.S.-Bürger in Hamids Roman interessieren sich allerdings für ein anderes Imaginäres, die bereits erwähnten Filme STAR WARS und TOP GUN, die schon während des Kalten Krieges die Heldenrolle der USA hervorkehrten. Die durch diese filmischen Inszenierungen zu Tage tretende innere Spaltung Amerikas wird im zweiten Teil der Analyse noch weiter ausgeführt. Die weltpolitische Lage und der grassierende Rassismus in den USA bestärken Changez in seiner Suche nach antiamerikanischen Identitätsentwürfen. Als Folge seiner veränderten Selbst- und Weltwahrnehmung fasst er gar den Beschluss, sich sein amerikanisches Ich auszutreiben: I was looking about me with the eyes of a foreigner, and not just any foreigner, but that particular type of entitled and unsympathetic American who so annoyed me when I encountered him in the classrooms and workplaces of your country’s elite. This realization angered me; staring at my reflection in the speckled glass of my bathroom mirror I resolved to exorcise the unwelcome sensibility by which I had been possessed. (124)

Eine vollkommene Abkehr vom Phantasma des amerikanischen Traums gelingt ihm während seines letzten ›Auslandseinsatzes‹ für Underwood Samson im Januar 2002. Als rechte Hand des Vizepräsidenten der Firma wird er exklusiv damit beauftragt, einen Buchverlag im chilenischen Valparaiso auszuspionieren. Der Verlagsleiter Juan-Bautista bemerkt bald, dass Changez nicht nur den Marktpreis, sondern auch den ideellen Wert literarischer

ning possible scenarios for terrorist attacks and how to fight them.« S. Žižek: »Passions of the Real, Passions of Semblance«, 16. 44 The Terminator (USA 1984, R: James Cameron).

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Werke zu schätzen weiß und empfiehlt ihm, das nahe gelegene Haus von Pablo Neruda zu besuchen. Der kommunistische Dichter verstarb kurz nach der von den USA unterstützten Machtergreifung Pinochets, die sich am 11. September 1973 ereignete. Diese historischen Details werden in dem Roman nicht explizit erwähnt, aber als ›Endstation‹ auf Changez’ Karriereweg bei Underwood Samson muss ihnen besondere Bedeutung beigemessen werden. Die implizite Verbindung der Ereignisse vom 11. September 1973 und 2001 unterstreicht die Verdrängung des amerikanischen Imperialismus im kulturellen Gedächtnis der USA, wo »September 11« und »9/11« stets mit den terroristischen Anschlägen im eigenen Land assoziiert werden.45 Hamids Roman verbindet diese Problematik mit der Geschichte Pakistans, denn das Umland Valparaisos und Nerudas Haus erinnern Changez an seine Heimatstadt Lahore: »[I]n spirit it seemed only an imaginary caravan ride away from my city, or a sail by night down the Ravi and Indus.« (147) Changez inspiziert das komplette Anwesen Nerudas. Hinter der Bar entdeckt er einen seltsamen Spiegel, »a convex mirror, which Neruda had employed to convince his guests that they were drunk« (147). Im Haus des verstorbenen Dichters kann der Spiegel als metafiktionales Element gelesen werden, das die Funktion literarischer Texte thematisiert. Wie der »strangeshaped, oddly reflective mirror«, mit dem Hamid seinen eigenen Roman vergleicht, bricht Nerudas »convex mirror« mit den Konstruktionsvorgaben eines ›normalen‹ Spiegels und verändert dadurch die Realitätswahrnehmung des Betrachters. Beide Autoren setzen den (literarischen) Spiegel als Mittel ein, um dem Leser verdrängte Aspekte der Wirklichkeit, wie etwa dessen Rauschzustand, vor Augen zu führen. Dieser Effekt stellt sich auch innerhalb des Romans in Bezug auf Changez ein, der nach der Besichtigung des Neruda-Anwesens eine bewusste Entscheidung für die Seite seiner Heimatregion trifft. Er beschließt, seine Zeit in Chile damit zu verbringen, die Internetberichterstattung über die Konflikte im Mittleren Osten zu verfolgen. Damit lässt er sich auf ein global vernetztes Medium des Imaginären ein, das sich dem Einfluss der amerikanischen Informationspolitik entzieht. Changez ist sich im Klaren darüber, dass die Vernachlässigung seiner Mitarbeit in dem wichtigen Firmenprojekt nur seine Entlassung zur Folge haben kann. Doch genau darauf arbeitet er nun auch hin, denn der neue

45 Vgl. Marc Redfield: »Virtual Trauma. The Idiom of 9/11«, in: diacritics 37/1 (2007), 55-80, 59.

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Blick auf die weltpolitische Lage bestärkt ihn in der Überzeugung, dass seine Identifikation mit dem amerikanischen Wertesystem ein fataler Irrtum war: I was [...] a servant of the American empire at a time when it was invading a country with a kinship to mine [...]. [...] I had thrown in my lot with the men of Underwood Samson, with the officers of the empire, when all along I was predisposed to feel compassion for those [...] whose lives the empire thought nothing of overturning for its own gain. (152)

Wie Žižeks Essays zum 11. September 2001 deutet der Roman an, dass der durch die USA vertretene globale Kapitalismus einer fundamentalistischen Ideologie gleichkommt. So wird die Firmenphilosophie von Underwood Samson mit folgenden Worten umschrieben: »Focus on the fundamentals. This was Underwood Samson’s guiding principle, drilled into us since our first day at work.« (98)46 Am Tag seiner Entlassung verstärkt und erweitert der Erzähler die These von der fundamentalistischen Grundhaltung Amerikas, indem er ihr eine okkult-religiöse Dimension zuschreibt: »I did not permit my gaze to linger on the imposing reception area – which struck me now as reminiscent of the gleaming façade of some exalted and exclusive temple.« (159) Offenbar ist Changez nun in der Lage, den Phantasmen des amerikanischen Traums zu widerstehen. Ohne feste Anstellung verliert er seine Aufenthaltserlaubnis in den USA und reist zurück nach Pakistan, wo er sich fortan als globalisierungskritischer Hochschuldozent gegen die politische Einmischung der USA in seiner Heimatregion ausspricht. Der Ausschluss dieser kritischen Stimme aus dem öffentlichen Diskurs der USA steht symptomatisch für die Abtötung jedweder Selbstkritik nach dem 11. September 2001. Da Changez’ Einwände gegen die amerikanische Außenpolitik in den USA nicht gehört werden, sucht er in Lahore die Begegnung mit dem namenlosen Amerikaner. Er verfolgt die Absicht, ihn an der pakistanischen Sichtweise teilhaben zu lassen und vielleicht sogar von einem an-

46 Margaret Scanlan verweist ebenfalls auf diesen Zusammenhang: »With repetition, the association of merciless capitalism with fundamentalism comes to define Underwood Samson.« Margaret Scanlan: »Migrating from Terror. The Postcolonial Novel after September 11«, in: Journal of Postcolonial Writing 46/3-4 (2010), 266-278, 275.

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deren Amerikabild zu überzeugen. Der Name Changez (frz. ›ändert euch!‹) unterstreicht diesen Aspekt des Romans. Zugleich erinnert er an den mongolischen Herrscher Dschingis Khan (engl. auch Changez Khan47), der Gebiete vom Adriatischen Meer bis China eroberte.48 Damit reflektiert der Name die ambivalente Rolle der Hauptfigur, die zwischen der eines pazifistischen Menschenrechtlers und der eines potentiellen Terroristen changiert.

WIDER DIE AMERIKANISCHE NATION Wie bereits angedeutet, weist die amerikanische Nation in Hamids Roman einen Riss auf, der sie schon vor den Anschlägen auf New York und Washington innerlich spaltet. Damit wird der paradoxe Charakter Amerikas zum Ausdruck gebracht, auf den Susan Sontag in ihren Reaktionen zum 11. September 2001 hingewiesen hat. Diese konstitutive Zerrissenheit wird unter anderem deutlich, wenn New York und Amerika, die aus der Außenperspektive oftmals in eins gesetzt werden, von Changez als zwei unterschiedliche Welten beschrieben werden: »For me moving to New York felt – so unexpectedly – like coming home. […] I was in four and a half years never an American; I was immediately [Herv. i.O.] a New Yorker.« (33) Während seiner Zeit in den USA erfährt Changez die Stadt als tolerant und weltoffen. Dort scheint es sogar möglich, eine Identität aus kulturellen Versatzstücken auszuleben: I took advantage of the ethnic exception clause that is written into every code of etiquette and wore a starched white kurta of delicately worked cotton over a pair of jeans. It was a testament to the open-mindedness and – that overused word – cosmopolitan [Herv. i.O.] nature of New York in those days that I felt completely comfortable on the subway in this attire. (48)

Die innere Spaltung Amerikas thematisiert The Reluctant Fundamentalist nicht nur durch Anspielungen auf ideologisch entgegengesetzte Hollywoodproduktionen und die Beschreibung unterschiedlicher kultureller

47 Vgl. J.L. Metha: Mughal Empire. 1526-1707 (= Advanced Study in the History of Medieval India, Band 2), Neu-Delhi 1984, 10. 48 Vgl. Ata Malik-Juvaini: Ghengis Khan. The History of the World Conqueror, Manchester 1997.

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Räume, sondern auch mit einer zentralen Figur des Romans: Erica. Schon ihr Name lässt vermuten, dass »Erica« und »America« eng aufeinander bezogen sind. Die junge Princetonabsolventin aus reichem Elternhaus übt auf Changez eine ungeheure Faszination aus, die sich zu Liebe und sexuellem Begehren steigert. Obwohl sich beide zueinander hingezogen fühlen, bleibt ihre Liebe unerfüllt. Viele Passagen des Buches legen nahe, dass Changez’ und Ericas unglückliche Liebe seine schwierige Beziehung zu seinem Gastland widerspiegelt. So spricht er in Bezug auf seine endgültige Ausreise aus den USA, die gleichzeitig den unwiderruflichen Abschied von Erica zu bedeuten scheint, von einem »breakup of a romantic relationship that involved great love« (158). Zu Beginn des Romans scheint Erica das aufgeschlossene Amerika zu repräsentieren, sie interessiert sich für Changez’ Kultur und amüsiert sich sogar über seine ironisch-makabren Bemerkungen über islamische Nuklearmächte.49 Der Roman macht gleichzeitig deutlich, dass Erica in Kreisen verkehrt, in denen minutiöse Selbstdarstellung und ›Imagepflege‹ eine große Rolle spielen. Nach einiger Zeit durchschaut Changez Ericas Fassade und bemerkt, dass sich hinter ihrer vordergründigen Heiterkeit ein fragmentiertes Wesen verbirgt: »I met her eyes, and […] perceived that there was something broken [Herv. i.O.] behind them, like a tiny crack [dt. ›Riss‹, ›Spalte‹] in a diamond that becomes visible only when viewed through a magnifying lense; normally it is hidden by the brilliance of the stone.« (52) Ihre Zerrissenheit bringt Changez und Erica zunächst näher zusammen: »[T]he crack inside her; it evoked in me an almost familial tenderness.« (59) Ihrem pakistanischen Freund gegenüber spricht Erica offen über ihre seelischen und körperlichen Wunden. So reißt sie sich in einer Situation plötzlich die Kleidung vom Leib, um Changez eine frische Sportverletzung zu zeigen. Später deutet sich an, dass Erica und Changez von ähnlichen Verletzungen betroffen sind und ihr geteiltes Leid anerkennen.50 Wie die 49 »I [Changez] said I hoped to be the dictator of an Islamic republic with nuclear capability; the others [befreundete Studenten] appeared shocked, and I was forced to explain that I had been joking. Erica alone smiled; she seemed to understand my sense of humor.« M. Hamid: The Reluctant Fundamentalist, 29. 50 Als Changez lange nach seiner letzten Begegnung mit Erica bei einem Autounfall in Pakistan eine Prellung an genau der Stelle erleidet, an der sich Ericas Sportverletzung befand, wünscht er sich, sie würde nie mehr verblassen. Vgl. M. Hamid: The Reluctant Fundamentalist, 173.

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Analyse im weiteren Verlauf zeigen wird, trauern beide um einen verlorenen Teil ihrer Identität, den sie zugleich abstoßen und begehren. Eines Tages erfährt Changez, dass Ericas Verletzlichkeit von einem schweren Verlust herrührt: Ihre Jugendliebe Chris starb vor Jahren an Lungenkrebs, und trotz ihrer Versuche, den Schicksalsschlag in einem geheimnisvollen Manuskript zu verarbeiten, scheint sie unfähig, darüber hinweg zu kommen: »Theirs had been an unusual love, with such a degree of commingling of identities that when Chris died, Erica felt, she had lost herself; even now, she said, she did not know if she could be found.« (91) Als verloren gegangener Bestandteil ihrer Identität repräsentiert Ericas Exfreund eine andere Seite Amerikas. Der Name Chris(tian) legt nahe, dass über diese Figur die christlich-konservativen Aspekte Amerikas51 ins Spiel gebracht werden. Der Roman verrät nicht viele Details über Chris’ Persönlichkeit, aber die wenigen Hinweise auf seine Biographie sind viel sagend. So erfährt Changez, dass Chris ein leidenschaftliches Interesse an Comicbüchern hatte, von dem Erica sich mitreißen ließ: »He had a collection of European comic books with which they were obsessed, and they used to spend hours at home reading them and making their own: Chris drawing, Erica writing.« (28) Eine von Chris’ Zeichnungen bekommt Changez eines Tages zu Gesicht, es handelt sich um eine Illustration zu Vol 714 pour Sydney (1968) der belgischen Comicserie Les Aventures de Tintin et Milou. Ein Blick auf die Geschichte der Serie bringt aufschlussreiche Informationen ans Licht, auf die der Roman The Reluctant Fundamentalist nicht näher eingeht. Von 1929 bis zu seinem Tod im Jahre 1983 schickte der belgische Comicautor Georges Remi alias Hergé seine Helden auf abenteuerliche Reisen durch die ganze Welt. Die bebilderten Reiseberichte erfüllten dabei die Funktion eines stetig changierenden nationalen Imaginären. Vor allem

51 Anna Hartnell argumentiert, dass Chris das Christentum und den Kolonialismus der ›alten Welt‹ personifizierten. Sie insistiert auf einer Unterscheidung zwischen dem zukunftsorientierten Imperialismus der USA (bzw. Underwood Samsons) einerseits und der traditionsbewussten Haltung Europas (bzw. der Figur Chris) andererseits. Eine Grenzziehung erweist sich jedoch als schwierig, da (Am-)Erica eine multiple ›Persönlichkeit‹ aufweist. Vgl. A. Hartnell: »Moving through America«, 342-345.

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frühe Bände wie Tintin au pays des Soviets (1930)52 oder Tintin au Congo (1931)53 machten durch rassistische Klischees von sich reden, die antibolschewistische und kolonialistische Ansichten beförderten. Später sah Hergé sich gezwungen, sich für politisch unkorrekte Details zu entschuldigen und diese in späteren Ausgaben zu revidieren. Inwieweit ihm dies gelungen ist, bleibt fraglich, da seine Bücher auch heute noch für ihre kolonialistische Weltsicht kritisiert werden.54 Chris’ Faible für Tintin lässt sich vor diesem Hintergrund als Interesse für ein spezielles nationales Imaginäres deuten, das einen vornehmlich okzidentzentrischen – wenn nicht gar kolonialistischen – Blick auf andere Länder eröffnet. Ebenso bemerkenswert ist Ericas Äußerung, dass Chris in seinem Leben nur eine einzige Zigarette geraucht habe (vgl. 28), dem Lungenkrebs

52 Hergé: Tintin au pays des Soviets, Tournai 1981. 53 Hergé: Tintin au Congo, Tournai 1946. 54 Vgl. Norimitsu Onishi: »Tintin at 70: Colonialism’s Comic-Book Puppet?«, in: New York Times vom 08.01.1999, http://www.nytimes.com/1999/01/08/world/ kinshasa-journal-tintin-at-70-colonialism-s-comic-book-pup-pet.html?scp=1&sq =rhinoceros%20belgium%20war%20tintin&st=cse&pagewanted=print (31.07.2009); »Student aus Kongo verklagt Tim und Struppi«, in: Weltonline vom 08.08.2007, http://www.welt.de/kultur/article1089188/Student_aus_Kongo _verklagt_Tim_u nd_Struppi.html?page=13(31.07.2009). Der 1968 erschienene Band Vol 714 pour Sydney kann als Versuch gelten, sich dem antikolonialistischen Zeitgeist der damaligen Generation anzunähern. In dem Buch taucht Tintins altbekannter Gegenspieler Rastapopoulos auf, ein gefährlicher Verbrecher, der sich in seinem bürgerlichen Leben als Filmproduzent ausgibt. Rastapopoulos hat sondonesische Rebellen angeheuert, um den reichen Geschäftsmann Laszlo Carreidas auf eine einsame Insel zu entführen, und lässt seine Handlanger glauben, er würde sie dafür in ihrem nationalen Befreiungskampf unterstützen. Unter dem Einfluss eines Wahrheitsserums gesteht der Gangster allerdings, dass er nie vorhatte, sich für die Sache der Sondonesier einzusetzen. Der Comicband, der als schnelle Antwort auf die populäre Asterix-Serie über den Aufstand der Gallier gegen das römische Imperium verfasst wurde, gilt als »das schlechteste aller Alben von Hergé«. Die Revision der kolonialistischen Perspektive kann demnach als gescheitert gelten. Michael Farr: »Warum fürchteten Tim und Struppi Asterix, Mr. Farr?«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 19.05.2007, Z8; vgl. auch Hergé: Vol 714 pour Sydney, Paris 1968.

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also offenbar ohne eigenes Verschulden zum Opfer gefallen ist. Wenn hier der häufig bemühte Vergleich zwischen Krebs und Terrorismus herangezogen wird,55 kann das Zünden dieser einen Zigarette als Anspielung auf hochgradig umstrittene außenpolitische Entscheidungen der USA gedeutet werden – man denke etwa an die Nuklearangriffe während des Zweiten Weltkriegs oder die militärischen Interventionen im Irak. Diese werden aus amerikanischer Sicht bagatellisiert, obwohl sie das Entstehen radikal antiamerikanischer Haltungen begünstigt haben. Vor dem Hintergrund dieses impliziten Vergleichs überrascht es kaum, dass Ericas Erinnerungen an Chris ausgerechnet durch die Anschläge vom 11. September 2001 neu aufleben. Völlig eingenommen von einem nostalgischen Verlangen nach Chris kapselt sie sich immer mehr von der Außenwelt ab. Zur gleichen Zeit verfällt auch die amerikanische Nation der Sehnsucht nach einer imaginären Vergangenheit56: America, too, was increasingly giving itself over to a dangerous nostalgia at that time. There was something undeniably retro about the flags and uniforms, about generals addressing cameras in war rooms and newspaper headlines featuring such words as duty and honor [Herv. i.O.]. I had always thought of America as a nation that looked forward; for the first time I was struck by its determination to look back [Herv. i.O.]. (114-115)

Auch die Stadt New York wird von diesem retrospektiven Begehren ergriffen. Changez vergleicht die Stadt mit der Kulisse eines Films über den Zweiten Weltkrieg: Living in New York was suddenly like living in a film about the Second World War; I, a foreigner, found myself staring out at the set that ought to be viewed not in Technocolor but in grainy black and white. What your fellow countrymen longed for was unclear to me – a time of unquestioned dominance? of safety? of moral certainty? I did not know – but that they were scrambling to don the costumes of another era was apparent. I felt treacherous for wondering whether that era was

55 Vgl. Susan Sontag: »One Year After«, in: At the Same Time. 118-123. 56 In Bezug auf die um sich greifende Nostalgie in New York spekuliert Changez: »[P]erhaps theirs was a past all the more potent for its being imaginary.« M. Hamid: The Reluctant Fundamentalist, 114.

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fictitious, and whether – if it would indeed be animated – it contained a part written for someone like me. (115)

An dieser Stelle fokussiert Changez wieder das imaginäre Medium jedweder Realitäts- und Selbstwahrnehmung. Indem er betont, dass das aktuelle nationale Imaginäre der USA als Schwarzweißfilm wahrgenommen werden sollte, besteht er darauf, die historische Kontinuität amerikanischer Innenund Außenpolitik anzuerkennen.57 Changez fordert demnach eine kritische Erinnerungsarbeit, die der Roman selbst schon leistet. Gleichzeitig deutet sich an dieser Stelle Changez’ spätere Verstoßung aus der amerikanischen Gesellschaft an. Denn das neue (alte) nationale Imaginäre der USA hält in der Tat kein Rollenangebot für den Pakistani bereit, und auch Erica scheint Changez aus ihrem Leben auszuschließen. Nach vergeblichen Versuchen, sie zu erreichen, erfährt er schließlich, dass sie in eine Nervenheilanstalt eingeliefert wurde. Während eines Besuchs erklärt sie ihm, dass ihr Verlangen nach Chris sie daran hindert, mit Changez zusammen zu sein, und bittet ihn, ohne sie glücklich zu werden. Einige Zeit später verschwindet Erica unter mysteriösen Umständen, nur ihre Kleidung wird auf einer felsigen Klippe am Hudson River gefunden. Ihre sterblichen Überreste bleiben zwar unauffindbar, aber da sie sich von ihren Freunden und Verwandten verabschiedet hat, liegt die Vermutung nahe, dass sie Selbstmord begangen hat, um Chris nahe zu sein. Demnach erweist sich das einseitig konservative Amerika aus Sicht des Romans als krankhaft und selbstzerstörerisch. Nach Ericas Verschwinden kommen überraschende Details über ihr mysteriöses Wesen ans Licht. Wie sich herausstellt, hat sie das Andenken an Chris nie ganz losgelassen und den Text zu ihrem gemeinsamen Comicprojekt in ihrem geheimen Roman fortgeschrieben. Das Manuskript gibt Changez Rätsel auf: »[H]er novel was no tortured, obviously autobiographical affair. It was simply a tale of adventure, of a girl on an island who learns to make do.« (166) Anstatt eine Autobiographie zu schreiben und sich als Individuum zu inszenieren, versteckt sich Erica hinter der synekdo-

57 Georgiana Banita, die sich auf die innenpolitischen Maßnahmen der USA konzentriert, verweist zurecht auf den »barely concealed racial subtext« dieser Textpassage. Georgiana Banita: »Race, Risk, and Fiction in the War on Terror. Laila Halaby, Gayle Brandeis, and Michael Cunningham«, in: Literature Interpretation Theory 21 (2010), 242-268, 250.

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chischen Beziehung zu ihrer Romanfigur (»a girl on an island«). Diese Figur scheint – in Anlehnung an den Mythos des »American Adam« – als unbedarfte »American Eve« in Erscheinung zu treten. Allerdings erfährt die traditionelle Selbstdarstellung des starken und von jedweder Schuld befreiten Amerikas durch die Genderkonstellation in Ericas Roman einen Riss. Die Vorstellung einer unschuldigen »American Eve« bringt den Widerspruch zwischen amerikanischen Unschuldsbehauptungen und historischen Tatsachen auf den Punkt. Changez stellt schließlich erstaunt fest, dass sein Schicksal in Ericas Geschichte keinen Platz findet. Auch die verletzliche Erica, die er in Princeton kennen gelernt hat, sucht er vergeblich: »I could not locate Erica in the rhythms or sounds of what she had written; it seemed a mistake, offered me no clues.« (Ebd.) Die Tatsache, dass Changez Ericas Schilderung einer abenteuerlichen Landnahme keinen Realitätsbezug bescheinigen kann, macht ihre Geschichte als eine Form der Selbstdarstellung lesbar, die Komplexitäten vereinfacht und historische Gegebenheiten bis zur Unkenntlichkeit verfälscht. Gegen diese Tendenz einer einseitigen Inszenierung der amerikanischen Nation setzt der Roman The Reluctant Fundamentalist ein deutliches Zeichen. In ihm erblickt der amerikanische Leser mit Sicherheit ein anderes Spiegelbild als jenes, welches George W. Bush in seiner »State of the Union Address« vom 29. Januar 2002 evoziert. Im Gegensatz zu dem U.S.Präsidenten entwirft der literarische Text zunächst das Bild einer gespaltenen Nation, die zugleich für und wider den okzidentzentrischen Rassismus, Kolonialismus und Imperialismus spricht. Als Folge des 11. September 2001 scheint sich dann eine nationale Geschlossenheit einzustellen, die in dem Roman allerdings historisiert und damit zugleich problematisiert – um nicht zu sagen – pathologisiert wird. So überlebt bis zum Ende die Hoffnung auf Besserung – darauf, dass die andere Erica bzw. das tolerante und aufgeschlossene Amerika eines Tages zurückkehren wird. Bevor Changez in den USA seinen letzten Flug nach Lahore antritt, denkt er an Ericas letzten Spaziergang am Hudson River: »I thought of how cold she would have been on that walk. And so I left my jacket on the curb as a sort of offering, as my last gesture before returning to Pakistan, a wish of warmth for Erica – not in the way one leaves flowers for the dead, but rather as one twirls rupees about the living.« (168)

The Sound of Germany Nationale Identifikation bei Rammstein KERSTIN WILHELMS

»Was hat sich die Band dabei eigentlich gedacht«1, fragte sich 2009 die Süddeutsche Zeitung anlässlich der Veröffentlichung der neuen Rammstein-Single Pussy. Rammstein sind seit einigen Jahren neben Tokyo Hotel und Kraftwerk der erfolgreichste deutsche Pop-Export und haben damit Nena von Platz eins verdrängt. Galt bislang insbesondere in den USA das Musical The Sound of Music als Lieferant für paradigmatische Deutschland-Bilder,2 so wurde es im vergangenen Jahrzehnt zusehends durch die 1

Paul Philipp Hanske: »Adrett fett. Zwischen Ideologie und Travestie: Das neue Album der Band Rammstein«, in: Süddeutsche Zeitung 242/21.10.2009, 13.

2

Das Musical und insbesondere die Verfilmung von Robert Wise aus dem Jahr 1965 waren in Amerika große Kassenerfolge. Von der Filmkritik verschmäht, gewann die Hollywood-Version eines ›Heimatfilms‹ gleich fünf Oscars, darunter der für den besten Film. (Vgl. Hans-Jürgen Kubiak: Die Oscar Filme. Die Besten Filme der Jahre 1927/28 bis 2004. Die Besten nicht englischsprachigen Filme der Jahre 1947-2004. Die Besten Animationsfilme der Jahre 2001 bis 2004, Marburg 2005, 147.) Basierend auf der Autobiographie von Maria Augusta Trapp erzählen Musical und Filmadaption die Geschichte einer vor dem Naziregime flüchtenden österreichischen Künstlerfamilie. Während das Fluchtziel im Musical die Schweiz ist, flieht die Trapp-Familie im Film nach Amerika. The Sound of Music spielte insgesamt bis heute 100 Millionen Dollar ein (vgl. ebd. 147), allerdings nicht in Deutschland und Österreich, der eigentlichen Heimat des ›Heimatfilms‹. Hier floppte Meine Lieder – meine Träume, wie The Sound

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›Neue Deutsche Härte‹ ersetzt. Statt blondblauäugiger Dirndlträgerinnen vor Alpenlandschaften bestimmen nun schwitzende Hünen mit E-Gitarre, Grabesstimme und pyrotechnisch versierten Live-Auftritten das Bild von Deutschland im Ausland. Warum die Band im Ausland, insbesondere in den USA,3 so erfolgreich ist, kann sich in Deutschland anscheinend keiner so recht erklären. Dieses »präzivilisatorische Monument« sei mit seinem »deliranten Suff-Gelalle« eine »Schande der Popmusik«,4 heißt es 1997 in der Zeit. Die gleiche Zeitung stellt vier Jahre später gar fest, Rammstein würde das deutsche Wesen »verramschen«.5 Vor dem Hintergrund dieser Medienschelte mag man sich fragen, warum in Deutschland ein derart unterkühltes Verhältnis zu einer Band herrscht,6 die doch in ihren Texten Goethe und die Brüder Grimm zitiert und zu Beginn der ein oder anderen Bühnenshow auch schon mal ein Wagner-Präludium intoniert7 und damit doch eigentlich als Stütze klassischer deutscher Kulturtradition gelten könnte. Warum aber findet diese Positionierung in der hiesigen Kulturlandschaft (zumindest durch die klassischen Kulturmedien) nicht statt und wo-

of Music in Deutschland betitelt wurde, vermutlich da der deutsche Filmverleih sämtliche Nazi-Szenen entfernte und damit die Konzeption des Films zerstörte. (Vgl. Horst Peter Koll/Katholisches Institut für Medieninformatik: Lexikon des internationalen Films, http://www.zweitausendeins.de/filmlexikon/?sucheNach =titel&wert=30637, (23.01.2012). 3

In den USA wird die Gruppe ausgiebig mit Preisen bedacht: Allein 2005 erhielt Rammstein den MTV-Music-Award »Best German Act« und den World Music Award »Best Selling Artist Around The World – Germany«.

4

Thomas Mießgang: »Musik aus der Folterkammer: Der Erfolg der ostdeutschen Rockgruppe Rammstein«, in: Die Zeit 46/7.11.1997, http://www.zeit.de/1997/46 /rammstein.txt.19971107.xml (23.01.2012)

5

Thomas Groß: »›Schlafes Brüder‹. Alpträume aus der Retorte – Die Band Rammstein verramscht deutsches Wesen«, in: Die Zeit 14/29.3.2001, http:// www.

6

Die soll nicht darüber hinweg täuschen, dass die Band eine große Fangemeinde

zeit.de/2001/14/Schlafes Brueder _ (23.01.2012) in Deutschland hat (dazu später). Jedoch scheint sie dem deutschen Feuilleton nicht ganz geheuer zu sein. 7

Das Lied Dalai Lama zitiert den Erlkönig von Goethe, im Video zu Sonne wird das Märchen Schneewittchen zitiert und bei einem Auftritt in Nottingham 2005 betrat Rammstein zu dem Präludium einer Wagner-Overtüre die Bühne.

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rin liegt das Unbehagen begründet, das sich in der deutschen Öffentlichkeit bemerken lässt, während die Band in den USA große Verkaufserfolge feiert?

1 Spätestens seitdem es Musiksender wie MTV, VIVA oder VH-1 gibt, hat sich der Video-Clip zu einem eigenständigen künstlerischen Genre entwickelt und damit auch zu einem Objekt der Wissenschaft. Carol Vernallis hat in ihrer Analyse des Videos zu Madonnas Cherish deutlich gemacht, dass im Unterschied zu narrativen Spielfilmen, bei denen lange Abschnitte mit relativ nahtlosen Übergängen zwischen Szenen und Einstellungen die Regel sind, der Video-Clip aus schnell aneinander gereihten, extrem kurzen Sequenzen besteht.8 Vernallis bezieht sich auf David Bordwell wenn sie definiert, dass eine Narration über einen Handelnden mit identifizierbaren Absichten und eindeutigen Charakteristika verfügt, ebenso wie über Hindernisse, die dem Erfolg des Handelnden im Wege stehen.9 In diesem Sinne sind Video-Clips zumeist keine Narrationen, da sie in der Regel nicht über derart Handelnde verfügen. Dennoch ist nicht davon auszugehen, dass die Sequenzen aus zufällig aneinander gereihten Bildern bestehen. Weiter stellt Vernallis fest, dass die Verbindung von Songtext und Bildern enigmatisch erscheint. Nur selten entsprechen die in Video-Clips gelieferten Bilder der Diegese der Texte. Stattdessen spricht Vernallis von einer »Lücke« (orig. »gap«) zwischen Bild und Text.10 Wenn also davon ausgegangen wird, dass die Bilder im Video nicht nur sinnlos aneinander gereihte Produkte eines Zufallsgenerators sind, sondern in einer Beziehung sowohl miteinander als auch zum Song stehen, dann muss gefragt werden, wie diese Beziehung aussieht und wie sie hergestellt wird. Dabei kommt die soeben erwähnte ›Lücke‹ ins Spiel: Im Video-Clip herrscht ein scheinbar nur mangelhaft vorhandener Zusammenhang zwischen den gezeigten Bilder und der Textdiegese. Hierdurch kommt eine strukturelle Offenheit zustande, die durch 8

Vgl. Carol Vernallis: »The Aesthetics of Music Video: An Analysis of Madonna’s Cherish«, in: Popular Music 17/2 (1998), 153-182, 157.

9

Vgl. ebd. 175.

10 Vgl. ebd. 163.

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die nicht-narrative Abfolge der Bilder ausgebaut wird. Diese Offenheit führt dazu, dass eine aktive Zuschauerrezeption stimuliert wird, derart dass der Videoclip Assoziationen zulässt, sie gar herausfordert. Diese Assoziationen funktionieren, da sie auf ein kulturelles Paradigma zurückgreifen, das durch die im Clip gezeigten Bilder und Szenen aufgerufen wird. Unter einem Paradigma ist ein Vorrat an Elementen zu verstehen, aus dem im jeweiligen Zusammenhang ein Element ausgewählt und mit anderen Elementen kombiniert wird. Dabei wird die Achse der Selektion als Paradigma, die der Kombination als Syntagma bezeichnet.11 Das ausgewählte Element bleibt auf alle anderen Elemente bezogen, in der Art, dass diese Elemente einen nicht im Syntagma ausgeführten kulturellen Hintergrund des Textes darstellen, der aber im Paradigma präsent gehalten wird. Der Begriff ›kulturelles Paradigma‹ bezeichnet demnach »den Vorrat jener Texte, auf die jede Sequenz vergleichsweise bezogen bleibt und vor dem sie allererst ihren spezifischen Sinn gewinnt«.12 Die Rezeption eines Zuschauers verläuft daher in kulturell ›gesteuerten‹ Bahnen, indem ein Element, z.B. ein Bild, im Syntagma eines Videos auf viele nicht gezeigte Bilder im Paradigma einer Kultur verweist. Die strukturelle Offenheit eines Video-Clips stimuliert also den Einsatz dieses kulturellen Paradigmas, so dass ein Spiel des Anzitierens kollektiv geprägter Bilder auf der einen Seite eine Ergänzung auf der anderen Seite herbeiführt. In diesem Verhältnis greifen sowohl das Zitat als auch die Ergänzung auf das kulturelle Paradigma zurück. Ein kurzes Beispiel aus dem umfangreichen Werk der Band soll darstellen, wie dieses Verhältnis von syntagmatischer und paradigmatischer Achse in den Rammstein-Clips produktiv wird, um Bilder mit Bedeutung aufzuladen. In dem Video zum Song Pussy steht Sänger Till Lindemann intensiv gestikulierend an einem Redepult, hinter ihm die deutsche Flagge. Dabei singt er stakkatohaft mit übertrieben gerolltem ›R‹. Das Bild, das hier zitiert wird, ist das von Adolf Hitler am Pult. Dieses Zitat ist als Vorstellungsbild

11 Es handelt sich hier um den strukturalistischen Paradigma/Syntagma-Begriff. Vgl. z.B. Arne Klawitter/Michael Ostheimer: Literaturtheorie – Ansätze und Anwendungen, Göttingen 2008, 122. 12 Moritz Baßler: »Rammstein Cover-Version von Stripped. Eine Fallstudie zur deutschen Markierung angelsächsicher Popmusik«, in: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 52/2 (2005), 218-232, 220.

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im kulturellen Paradigma präsent, das aus konkreten, medial transportierten Bildern gespeist wird, wie beispielsweise aus Dokumentationen über das Dritte Reich oder dem Charlie Chaplin-Film The Great Dictator13. Bereits in diesem Film werden Hitlers ›R‹, seine Gestik und Mimik parodiert, eine Überzeichnung, die die Vorstellung von Hitler bei den nachfolgenden Generationen beeinflusst hat und mit der nun auch Lindemann spielt. Bilder wie diese sind nicht nur in Deutschland bekannt, sondern gehören auch in den USA zum kollektiven Paradigma als Teil eines Fremdbildes über die andere Kultur, in diesem Fall über Deutschland. Die Offenheit des Video-Clips für Assoziationen aus dem kulturellen Paradigma hat eine identifikatorische Funktion: Der einzelne Zuschauer wird über den Clip in einen kollektiven Rezeptionszusammenhang gestellt, da die Assoziationen, mit denen die ›Lücken‹ gefüllt werden, aus dem kulturellen Paradigma gespeist werden. Damit ist der Video-Clip äußerst produktiv für kollektive Identifikationen, da er als Vehikel für einen kollektiv assoziierten kulturellen Hintergrund dient. Oder, anders ausgedrückt, das Kunstwerk dient als Katalysator für die Etablierung von Zugehörigkeiten, z.B. zu einer Fangemeinschaft14, einer Jugendkultur15 oder eben einer nationalen Gemeinschaft, wie im Weiteren zu zeigen sein wird. Denn hier operieren Rammstein: Die Band macht in ihren Video-Clips nationale Zugehörigkeiten und Identitäten zum Thema.

2 Das Bemerkenswerte an Rammsteins Stripped ist, dass es sich bei diesem Video um ein doppeltes Zitat handelt. Einmal ist der Song eine CoverVersion des Depeche Mode-Klassikers von 1986 und darüber hinaus ist das Video aus Sequenzen der Olympia-Filme Fest der Völker und Fest der Schönheit (1938) von Leni Riefenstahl zusammengesetzt. Das Originelle an 13 The Great Dictator (USA 1940, R: Charles Chaplin). 14 Man denke an Videos wie Never Forget von Take That, das aus einer Collage von Fanbildern und Bandbildern besteht. 15 Zum Beispiel durch Darstellung von Kleidungsstilen und Frisuren, die die einzelnen Szenen voneinander unterscheiden, z.B. die Kleidung und Frisuren von amerikanischen Rappern und die von Heavy-Metal-Bands.

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diesem Werk aus gecovertem Song und zusammen geschnittenen Filmszenen muss also in der Aneignung und Verarbeitung der jeweiligen Quellen durch Rammstein liegen. Dass Rammstein kräftig eingreifen und umgestalten, merkt man bereits bei nur einmaligem Hinhören: Sänger Till Lindemann singt den englischen Text mit schwerem deutschen Akzent und dem für Rammstein üblichen übertrieben gerollten ›R‹. Diese Kombination der englischen mit der deutschen Sprache macht den Song zu einem Hybrid aus englischem Original und deutscher Aneignung. Zugleich wird ein Klischee der deutschen Sprache aufgegriffen, das, wie bereits erwähnt, durch HitlerParodien zum Stereotyp geworden ist. Zu Beginn des Videos werden, ebenso wie in den Olympia-Filmen, griechische Statuen eingeblendet. Die Statue des Diskuswerfers wird in beiden Versionen in einen menschlichen Diskuswerfer überblendet, so dass es scheint als würde die Statue zum Leben erwachen. An dieser Stelle wird im Video jedoch nicht der Olympionike der 30er Jahre gezeigt, sondern Rammstein-Sänger Till Lindemann. Dieser erscheint dadurch am Ende einer historischen Linie der Körperästhetiken, die von griechischen Statuen über Riefenstahls Darstellung faschistischer Körperideale bis zu Lindemann, also bis in den modernen Popbetrieb, führt.16 Der gestählte Männerkörper galt im Faschismus als Ideal und wurde durch eine Ästhetik von Riefenstahl inszeniert, die diesem Ideal derart gerecht wurde, dass sich der Name Riefenstahl zu einem Synonym für diese faschistische Ästhetik entwickelte.17 Diese Parallelisierung der Riefenstahl’schen Körperästhetik und

16 Vgl. Valerie Weinstein: »Reading Rammstein, Remembering Riefenstahl: ›Fascist Aesthetics‹ and German Popular Culture«, in: Neil Christian Pages/Ingeborg Majer O’Sickey/Mary Rheil (Hg), Riefenstahl Screened. An Anthology of New Criticism, New York 2008, 130-148, 135. M. Baßler: »Rammstein CoverVersion von Stripped«, 227. Dass die Nationalsozialisten bemüht waren eine Verbindung zur griechischen Antike herzustellen, ist erkennbar an der Tatsache, dass die ’36er Olympiade die erste war, die einen Fackellauf von Athen nach Berlin stattfinden ließ. Der bis heute übliche Brauch findet seine Wurzeln also in Hitlers Propaganda-Inszenierung. 17 Vgl. Herbert Holba/Günther Knorr/Peter Spiegel: Reclams deutsches Filmlexikon. Filmkünstler aus Deutschland, Österreich und der Schweiz, Stuttgart 1984, 320. Die Autoren betonen, dass Überblendungen, wie sie hier vom Diskuswerfer auf Lindemann erfolgt, typisch für die damalige Körperästhetik waren.

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der eines Till Lindemann setzt den faschistischen Kitsch-Körper mit dem modernen Männerkörper gleich und inszeniert damit das Überleben eines archaischen Körperideals. Damit sei nicht gesagt, dass Till Lindemann die (im wörtlichen Sinne) Verkörperung männlicher Körperideale heutiger Zeit ist. Vielmehr ist sein Körper selbst ein Kunst-Körper, der als Zitat zu lesen ist, das etwas Überkommenes präsent hält und damit stereotype Erwartungen an ›den deutschen Mann‹ erfüllt. Dies ist insofern skandalös, als es Darstellungen im modernen Popbetrieb in die Nähe faschistischer Ästhetik stellt. Das bereits oben erwähnte ›R‹-Rollen unterstützt dies: In dem Depeche Mode-Song werden eskapistische Visionen besungen (»Metropolis/ Has nothing on this / Let me hear you/ Make decisions/ Without your television / Let me see you stripped down to the bone«18). Dieser Eskapismus wird bei Rammstein durch Hitler-Aussprache und RiefenstahlBilder mit dem Nationalsozialismus in Verbindung gebracht, um dadurch eine Parallele zu ziehen zwischen faschistischer Kulturskepsis und moderner Popkunst.19 Dieser Kommentar zum Popbusiness wird vorgetragen durch ein strategisches Spiel mit Bildern von der deutschen Nation, wie sie im amerikanischen Paradigma eingelagert sind. Rammstein erfüllen die internationale Erwartung einer markiert deutschen Paradigmatisierung, indem sie Stripped mit Filmmaterial aus der Nazi-Zeit unterlegen (Nazi-Assoziationen erfüllen internationale Erwartungen, was ›das Deutsche‹ betrifft, offenbar noch immer am sichersten).20

Dies erklärt, warum Rammsteins öffentliche Auftritte in Deutschland bisweilen mit einigem Vorbehalt aufgenommen werden, denn diese Bilder entsprechen nicht dem deutschen Selbstbild, sondern beschwören vielmehr Traumatisches und bisweilen Tabuisiertes.21

18 In der Rammstein-Version fehlt das »to the bone« 19 Vgl. V. Weinstein: »Reading Rammstein, Remembering Riefenstahl«, 137. 20 M. Baßler: »Rammstein Cover-Version von Stripped«, 226. 21 Dass Riefenstahl zu diesem Bereich des Tabuisierten gehört, lässt sich an der Tatsache erkennen, dass sie nach dem Fall des Dritten Reichs keinen Erfolg mehr mit ihren Filmen in Deutschland verbuchen konnte. Nicht einmal mehr ihre Tierproduktionen wurden vom deutschen Markt angenommen. (Vgl. Hans-

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Der zweite besonders aufschlussreiche Moment im Hinblick auf das Nationale ist im Video nicht vorhanden. Was paradox klingt, ist ein markiertes Fehlen, eine Auslassung von etwas, das man in Riefenstahl-Filmen erwartet: Die Hakenkreuzfahne. In den Olympia-Filmen taucht die Fahne an verschiedenen, mehr oder weniger prominenten Stellen auf. Im Rammstein-Video wird auf das Einblenden der Fahne verzichtet, eine Tatsache, die im Riefenstahl-Kontext durchaus als etwas Fehlendes markiert ist.22 Stattdessen wird die Flagge der Vereinigten Staaten für einige Sekunden in Großaufnahme gezeigt und danach die Japans, mit ihnen die medaillengekrönten Sportler. Strukturalistisch gesprochen wird durch das markierte Fehlen ein Frame geöffnet, der Frame ›faschistische Symbole‹, in dem die japanische Flagge als metonymisches Substitut fungiert, da Japan als Verbündeter des ›Dritten Reichs‹ sowohl Achsenmacht war als auch einer der Hauptgegner der USA im Zweiten Weltkrieg. Auf diese Weise wird das Thema Faschismus, das stark mit Deutschland verbunden ist, im Paradigmatischen präsent gehalten. Das Ineinanderblenden der japanischen und der US-amerikanischen Fahnen lässt diese Opposition jedoch verschwinden und suggeriert eine Verbindung zwischen beiden Staaten. Diese Geste wirkt skandalös vor dem Hintergrund, dass in den Medien, z.B. durch Filme wie Pearl Habor von Michael Bay (2001), die Gegnerschaft Japans zu den USA präsent gehalten wird. Diese Selbstsetzungen werden durch Stripped also unterlaufen und ironisiert. Allein die Tatsache, dass die amerikanische Flagge im Riefenstahl-Film auftaucht und dass Rammstein, bzw. StrippedRegisseur Philipp Stölzl, diese Szene für das Video benutzen, kann als ironisches Zeichen gelesen werden: Die USA werden dadurch in den Propagandazusammenhang des Nazi-Regimes gestellt. Somit wird auch hier eine Selbstinszenierung als Befreier vom europäischen Faschismus unterlaufen. Als dritter Punkt ist zu bemerken, dass es nicht der Afroamerikaner Jesse Owens23 ist, den Riefenstahl vor die amerikanische Flagge stellt, sondern ein weißer Athlet mit Lorbeerkranz, der, im Gegensatz zum vierfachen

Michael Bock: Lexikon Regisseure und Kameraleute von A-Z, Hamburg 1999, 393.) 22 Vgl. M. Baßler: »Rammstein Cover-Version von Stripped«, 221. 23 Der US-Amerikaner afroamerikanischer Abstammung gewann 1936 als erster Athlet vier olympische Goldmedaillen, ein Rekord, den nach ihm nur Carl Lewis 1984 einstellte.

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Goldmedaillengewinner, den Vorstellungen von einem ›Arier‹ entspricht. Jesse Owens jedoch ist der erfolgreichste Sportler der Berliner Spiele von 1936 und als solcher bis heute weltbekannt. Sein Fehlen an dieser Stelle ist also auffällig, es ist markiert. Dass Stölzl gerade diese Szene für das Video auswählt, ist bemerkenswert, denn das Ersetzen des schwarzen Sportlers durch einen weißen wird im Rammstein-Video zum ironischen Kommentar zur amerikanischen Rassenpolitik, der Songtext »let me see you stripped« an dieser Stelle verweist auf die nackte, weiße Haut. Das Video zu Stripped arbeitet also mit jenen Verfahren gezielter Auslassung bzw. Anzitierung, die im vorigen Abschnitt beschrieben wurden. Dass diese Verfahren hier funktionieren, liegt nicht zuletzt an der Ästhetik der Riefenstahl-Filme selbst. Riefenstahls Produktionen stellten seinerzeit maßgebliche Innovationen auf dem Feld der Filmtechnik dar und beeinflussten später Werbefilme und – bemerkenswerterweise – die Ästhetik von Musikvideos.24 Dies liegt in dem Arrangement ihrer Filme begründet, die aus der Montage sehr kurzer Sequenzen besteht, welche nah an die Klänge der Musik von Herbert Windt angelegt sind.25 Daher ist es nicht übertrieben zu behaupten, dass die filmischen Verfahren in Riefenstahls Dokumentationen als Vorläufer heutiger Clip-Ästhetik betrachtet werden können.

3 Rammstein bedienen sich in ihrem Video zu Stripped Bildern, die eng mit Fremdvorstellungen über Deutschland verbunden sind. Diese Bilder wirken aus der Eigenperspektive zwar bedrohlich, da sie kollektiv Tabuisiertes bildlich inszenieren, nach außen bestätigen sie jedoch Stereotype. Diese Bestätigung von Stereotypen macht vermutlich einen großen Teil der Popularität von Rammstein im Ausland aus. Doch wozu dienen sie? Welche Funktionen haben diese stereotypen Fremdbilder für die eigene nationale Identifikation?

24 Vgl. Hans-Michael Bock: Lexikon der Regisseure und Kameraleute, Reinbek 1999, 393. 25 Vgl. Michael Mackenzie: »From Athens to Berlin: The 1936 Olympics and Riefenstahl’s Olympia«, in: Critical Inquiry 52/2 (2003), 302-336, 304.

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Rammstein rufen diese Stereotype auf, indem sie bildhaft Symbolisches in ihren Videos platzieren, um dadurch kollektives ›Wissen‹ aus dem kulturellen Paradigma zu aktivieren. Es ist die besondere Leistung der RammsteinInszenierungen, komplexe Zusammenhänge auf ein bildliches Symbol zu reduzieren, das in Videos strategischen Einsatz finden kann. Ein bereits genanntes Beispiel hierfür ist das rollende ›R‹, das auf Hitlers Rhetorik verweist. Durch die sehr spezielle Aussprache wird die Nazi-Anspielung auf einen einzigen Laut reduziert und dadurch auf eine Art und Weise darstellbar, die offen genug ist, um Assoziationen zu wecken, aber auch eindeutig genug, um diese Assoziationen auf Hitler zu lenken. In den RammsteinVideos werden also implizites Wissen und unkonkrete Bildlichkeiten aus dem kulturellen Paradigma aufgegriffen und in anschauliche Strukturen übersetzt. Etwas Komplexes und in sich Differenziertes wie Deutschland mitsamt seiner wechselvollen Geschichte wird auf diese Weise heruntergebrochen auf wenige Bilder, Gesten, Handlungen und Figuren. Für den Blick einer beliebigen Nation auf eine andere bedeutet dies, dass die andere Nation benennbar und damit anschlussfähig wird für den eigenen kulturellen Zusammenhang mit den ihm eigenen Bewegungen der Abgrenzung und Identifikation. Slavoj Žižek beschreibt diese Bewegung anhand der historischen Situation nach dem Ende der Sowjetunion: Im östlichen Europa sucht der Westen nach seinen eigenen verlorenen Ursprüngen, nach seiner verloren gegangenen ursprünglichen Erfahrung von einer »demokratischen Erfindung«. Mit anderen Worten, Osteuropa fungiert für den Westen als dessen Ich-Ideal: als der Punkt, von dem aus der Westen sich selbst in seiner sympathischen, idealisierten Form sieht, als der Punkt, von dem aus er sich selbst als liebenswert betrachtet.26

Hier wird jene Blickbeziehung mit einem positiven anderen, dem Ich-Ideal, aufgegriffen, wie Jacques Lacan sie in seiner Metaphorik des Spiegelstadi-

26 Slavoj Žižek: »Genieße Deine Nation wie dich selbst! Der Andere und das Böse – Vom Begehren des ethnischen ›Dings‹«, in: Joseph Vogl (Hg.), Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen, Frankfurt a.M. 1994, 133164, 133.

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ums27 beschreibt. Deutlich wird hier, dass es um ein Verkennen geht und um ein Ignorieren der tatsächlichen Situation in Osteuropa, denn wie Lacan sagt, ist das Gegenüber »auf einer fiktiven Linie situiert«,28 damit außerhalb einer realpolitischen Wirklichkeit angesiedelt. Die ist auch völlig zu vernachlässigen, denn – auch das wird in diesem kurzen Zitat sehr deutlich – das Gegenüber ist weder personalisiert noch verfügt es über eine autonome Gestalt: Der Inhalt, die Bedeutung des Gegenübers ist immer nur das Ich, in diesem Fall Westeuropa, das im anderen seinem eigenen, von sich selbst faszinierten Blick begegnet. Deshalb ist jedes tatsächliche Wissen vom anderen sekundär. Die Übertragung der zitierten These auf das Verhältnis der USA zu Deutschland funktioniert nicht eins zu eins, denn es ist nicht davon auszugehen, dass in Deutschland etwas Ursprüngliches gesucht wird, das die USA verloren haben. Dennoch fungiert die Rammstein-Inszenierung von

27 Žižek gewinnt seine Konzeption von kollektiver Identifizierung aus dem von Jacques Lacan beschriebenen Szenario des Spiegelstadiums. Letzterer begreift Subjektbildung als einen Prozess der Identifikation mit einem idealen anderen, der als Orientierungspunkt für das eigene Ich fungiert. Das kindliche Ich identifiziert sich mit seinem Spiegelbild, in dem es sich selbst zu erkennen glaubt. Dieses Erkennen stellt nun freilich ein Verkennen dar, insofern es sich beim Spiegelbild um eine körperliche Einheit handelt, die das Kind nicht aus sich heraus besitzt und die es nur an einem Ort wahrnehmen kann, an dem es sich nie befindet: im Spiegel. Subjektbildung als Identifikation besteht also in einem beständigen Prozess der Annäherung an dieses »Ideal-Ich« im Spiegel, die allerdings nur asymptotisch gelingen kann. Zurück bleibt ein Riss im Subjekt, den das Ich in Ermangelung der Einheit mit Bildern verdeckt um die Identifikation nicht abbrechen zu lassen. Das Ich bleibt jedoch ein Gespaltenes, eine Einswerdung mit dem Ich-Ideal ist nicht möglich, da es ein fiktives Gegenüber ist (Vgl. Jacques Lacan: »Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint«, in: Ders., Schriften I, Weinheim/Berlin 1986, 61-70, 64) und verbleibt daher nur als »Versprechen zukünftiger Ganzheit« (Dylan Evans: Wörterbuch der Lacanschen Psychoanalyse, Wien 2002, 279.), die bis dahin nur im subjektiven Imaginären Bestand hat. Das Imaginäre ist damit als ein Prozess der Identifizierung zu verstehen, der einer beständigen Aktualisierung bedarf. 28 J. Lacan: »Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion«, 64.

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›Deutschland‹ als Projektor für den amerikanischen Blick auf sich selbst. In den Karikaturen des protofaschistischen Übermenschen, den donnernden Bässen, den Stakkatogesängen mit rollendem ›R‹, den Feuersbrünsten und Nazi-Anspielungen wird das Amerikanische zum liebenswürdiger Kontrapart, zum Befreier, Befrieder, zum ›großen Bruder‹. Die Bewegung der Identifikation und Abgrenzung finden in diesem Spiegelverhältnis gleichzeitig statt. Das Eigene bleibt immer unbenennbar, so Žižek, denn im Zentrum des nationalen Diskurses steht das nationale ›Ding‹, das als etwas Außerdiskursives zwar den Umgang einer Nation mit seiner Identität und Zugehörigkeit strukturiert, über das aber kein Mitglied der Gesellschaft etwas sagen kann. Dieses Nation-Ding ist bestimmt durch eine Reihe widersprüchlicher Eigenschaften. Es erscheint uns als »unser Ding« (vielleicht können wir sagen cosa nostra), als etwas, das nur uns zugänglich ist und das »sie«, die anderen, nicht erfassen können, das aber nichtsdestoweniger fortwährend durch »sie« bedroht ist; es erscheint als das, was unserem Leben Fülle und Lebendigkeit verleiht, und dennoch können wir es nur bestimmen, indem wir zu verschiedenen Versionen leerer Tautologie Zuflucht nehmen – alles, was wir darüber sagen können, ist, dass das Ding »the real Thing« ist, »das, worum es wirklich geht« etc. Wenn wir gefragt werden, wie wir die Präsenz dieses Dinges erkennen können, so ist die einzige konsistente Antwort, dass das Ding in jener flüchtigen Entität präsent ist, die wir unseren »way of life« nennen. Alles, was wir tun können, ist, zusammenhanglose Fragmente davon aufzuzählen, wie unser Gemeinwesen seine Feste organisiert, seine Paarungsrituale, seine Initiationsriten…– kurz, all die Details, durch die die einzigartige Weise sichtbar wird, in der ein Gemeinwesen sein Genießen organisiert.29

Da das Eigene so ungreifbar scheint, ist es umso wichtiger, ein klares Bild vom anderen zu haben. In ihm suchen wir, was wir bei uns nicht finden können: ein klar definiertes, strukturiertes Bild von uns. Indem ein Ich sich mit dem anderen identifiziert (was freilich nur eine Schein-Identifizierung sein kann, weil das Wesen des anderen ein fiktives ist, das aus dem Ich selbst entspringt), begegnet es an seinem Ort sich selbst als Gegenüber, als Entgegengesetztes, Abgegrenztes. Entsprechend ist die Martialität der Bilder, die Rammstein bisweilen liefern, nicht abschreckend, im Gegenteil. 29 S. Žižek: »Genieße Deine Nation wie dich selbst!«, 135.

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Vielmehr erscheint in dieser Konstellation das Eigene liebenswürdiger, je grausamer und abschreckender der entgegengesetzte andere Part dargestellt wird. Das Eigene begegnet sich im anderen als Ideal-Ich. Durch diese Vision des Ideal-Ich wird ein stabiles Bild vom Eigenen erzeugt, das dazu dient, die Sprachlosigkeit der Selbstreferenz im nationalen Diskurs zu verschleiern. Die Faszination, die Rammstein bei einem amerikanischen Publikum auslöst, könnte daher in ihrer Leistung begründet liegen, Bilder aus dem kollektiven Paradigma der amerikanischen Kultur zu aktivieren, die für Prozesse kollektiver Identifikation eingesetzt werden. Potenziert durch den Video-Clip, ein Genre, das über eine sehr offene Struktur verfügt und somit durch wenige Anspielungen im Syntagma die paradigmatische Dimension herbeizitiert, kann nun eine Spiegelprojektion stattfinden, die zum systematischen Verkennen des Eigenen und zur Verschleierung der semantischen Leere des nationalen Diskurses beiträgt. Rammstein ist »in Wahrheit eben nicht so sehr die deutscheste Band der Welt – sondern die amerikanischste Band Deutschlands«.30

4 Dies erklärt darüber hinaus auch, warum ein deutsches Publikum auf Rammstein anders reagiert. Wie bereits erwähnt bedienen sich Rammstein eines Bildrepertoires, um Vorstellungen auszulösen, die selber wiederum medialen Präsentationen entspringen (z.B. Hitlers Aussprache ist bekannt durch Dokumentationen und Parodien durch Chaplin u.a.). Mit Žižek kann die Funktionalität dieses Verfahrens für den nationalen Diskurs erklärt werden: Das Bild vom anderen muss in seiner Komplexität begrenzt sein, um eine Identifikation mit dem Eigenen über den anderen zu ermöglichen, damit sich durch die Betrachtung eine Vorstellung von Gemeinschaft etablieren kann. Dennoch ist das Bild von sich selbst mehr als das Spiegelbild in den Augen des anderen. Vermutlich ist es ebenfalls weniger stereotyp als das Bild vom anderen. Umso faszinierender aber könnte für uns das Bild sein, 30 Peter Richter: »Frühsport bei Tiffany«, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 50/19.12.2010, 27.

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das andere von uns haben. Wir wollen wissen, wie andere uns sehen und mit welchen stereotypen Vorstellungen das Fremdbild von uns verbunden ist. Dies könnte wohl auch der Grund für den Erfolg der Single Amerika in den USA sein.31 In Song und Video erscheinen die Vereinigten Staaten als Hegemon unter den Vorzeichen globaler Marktwirtschaft. Menschen verschiedener Ethnien werden gezeigt mit Symbolen nordamerikanischer Kultur, wie Hamburger, Pizza-Kartons, Ölbohrtürme und Santa Claus. Die Lyrics entsprechen diesen Bildern: We’re all living in Amerika Amerika ist wunderbar We’re all living in Amerika Amerika Amerika Wenn getanzt wird will ich führen Auch wenn ihr euch alleine dreht Lasst euch ein wenig kontrollieren Ich zeige euch wie’s richtig geht Wir bilden einen lieben Reigen Die Freiheit spielt auf allen Geigen Musik kommt aus dem Weißen Haus Und vor Paris steht Mickey Mouse We’re all living in Amerika Amerika ist wunderbar We’re all living in Amerika Amerika Amerika Ich kenne Schritte die sehr nützen Ich werde euch vor Fehltritt schützen

31 Platz 37 der Billboard-Charts, ein guter Schnitt für eine ausländische RockBand.

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Und wer nicht tanzen will am Schluss Weiß noch nicht dass er tanzen muss Wir bilden einen lieben Reigen Ich werde euch die Richtung zeigen Nach Afrika kommt Santa Claus Und vor Paris steht Mickey Mouse We’re all living in Amerika Coca Cola Wonderbra We’re all living in Amerika Amerika Amerika This is not a love song I don’t sing my mother tongue No, this is not a love song We’re all living in Amerika Coca Cola Sometimes war We’re all living in Amerika Amerika Amerika

Da der Text zum Teil auf Deutsch zum Teil auf Englisch gesungen wird, ist für ein englischsprachiges Publikum nur der Refrain und die abschließende Bridge verständlich. In Verbund mit dem Video könnte zunächst der Eindruck entstehen, »Amerika« würde auf das Höchste gelobt (»Amerika ist wunderbar« »We’re all living in Amerika«), denn auch die Figuren im Video scheinen recht glücklich mit ihren amerikanisch konnotierten Symbolgütern. Doch die Ironie lässt sich nur schwer übersehen, wenn sich beispielsweise ein eigentlich nach Mekka betender Muslim vor einem Ölbohrturm verneigt. Spätestens mit der Bridge »this is not a love song/ I don’t sing my mother tongue« werden alle Missverständnisse aufgeklärt und es wird deutlich, wie das hier entworfene Verhältnis zwischen

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Deutschland und Amerika aussieht: Amerika als negatives Gegenstück zu dem, was mit der Muttersprache (»mother tongue«) verbunden ist, nämlich Deutschland. Aus der Perspektive amerikanischer Zuschauer/innen findet hier etwas anderes statt als in Stripped, denn während dort Präsentationen von Stereotypen des anderen Landes im Vordergrund stehen, werden hier Vorstellungen des anderen vom Eigenen dargestellt. Letzteres geschieht in einer Form, die die idealisierende Blickbeziehung nicht mehr ohne Weiteres ermöglicht. »Amerika« sucht sich selbst im anderen, doch der andere blickt nicht zurück. Diese Beziehung wird im Video selbst inszeniert als Blickbeziehung zwischen Zuschauer/in und den Rammstein-Mitgliedern. Die Bandmitglieder erscheinen im Video in zwei verschiedenen Kostümen: zunächst als Astronauten auf dem Mond, später ungefähr zu besagter Bridge, als ›Indianer‹ auf Kriegsfuß. Zu Beginn singt Lindemann als Astronaut auf dem Mond mit offenem Helm. Sein Blick zielt nicht direkt in die Kamera, sondern etwas versetzt darunter hinweg. Am Ende des Videos lösen Rammstein die Mondlandung als Inszenierung auf, eine Anspielung auf eine Verschwörungstheorie, derzufolge die Mondlandung von 1969 eine Hollywood-Produktion gewesen sein soll. Im Augenblick dieser Auflösung zwinkert Gitarrist Paul Landers in ›Uncle Sam‹-Haltung in die Kamera, einer der wenigen Momente, in denen ein direkter Blickkontakt mit dem Publikum stattfindet. Dadurch wird hier zwar eine Blickbeziehung inszeniert, allerdings nicht mit einem Ich-Ideal als das sympathische Eigene im anderen, vielmehr werden durch die Haltung des Gitarristen ein verlorener Krieg, Militarismus, Zerstörung und Propaganda konnotiert. Auf ›Uncle Sam‹ folgt entsprechend die Entlarvung der Mondlandung als HollywoodProduktion, die Zerstörung der Illusion von Ruhm und Überlegenheit der amerikanischen Nation. Dennoch hat sich das amerikanische Publikum nicht angewidert von Rammstein abgewendet, auch wenn die Diskussionen um diesen Song in den verschiedenen Internet-Foren hohe Wellen schlagen.32 Eine Erklärung hierfür könnte lauten, dass dieses Amerika-Bild als Fremdbild und damit als zu Deutschland gehörig wahrgenommen wird. Damit produzieren Rammstein hier nicht eine reine Kritik an den USA, sondern sie liefern weiteres Material für den Entwurf eines Bildes vom anderen, zu dem eben

32 Zum Beispiel auf youtube.com: http://www.youtube.com/watch?v=4w9Eks Ao5hY, (27.01.2010).

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auch ein bestimmtes Bild und eine bestimmte Haltung gegenüber den USA gehört. Die Vorstellung von einem Deutschland, vielmehr einem Europa, das mit einer jahrhundertealten Kulturtradition im Rücken die Nase über das amerikanische Popbusiness rümpft, ist ein ähnliches Stereotyp wie das vom Sauerkraut essenden Deutschen oder vom Café au lait trinkenden Franzosen. Dass Rammstein dieses Klischee aufgreifen und in Text und Video verarbeiten, entspricht dann doch wieder der in Stripped beschriebenen Taktik.

5 In Deutschland erreichte Amerika 2004 Platz zwei der Single-Charts. Derart hohe Verkaufszahlen sind für eine Rockband aus dem alternativen Milieu selten. Daher kann man sich fragen, woher dieses Interesse an dem Song rührt. Die Antwort auf diese Frage findet sich ebenfalls bei Slavoj Žižek. In dem bereits oben zitierten Absatz macht er deutlich, dass das andere nicht nur idealisierend, sondern auch bedrohlich sein kann.33 Es bedroht das eigene Genießen, schreibt Žižek und meint damit die Beziehung zum NationDing, diesem seltsamen, unnennbaren Zentrum des nationalen Diskurses. Jede Gemeinschaft organisiert ihre Beziehung zu ihrem Ding auf eigene Art und Weise. Dadurch glauben sich solche Gemeinschaften von anderen zu unterscheiden, sie halten sich für einzigartig und unverwechselbar. Das Ding, und damit das Genießen, erscheint den Mitgliedern der Gemeinschaft allerdings als dauerhaft und ständig durch den anderen bedroht. Diese Bedrohung besteht in der Angst vor einem hegemonialen Akt der Unterdrückung oder auch in der Angst vor einer Infizierung mit dem anderen, der dem Eigenen auf Dauer die ›Reinheit‹ (Einzigartigkeit, Unverwechselbarkeit) nimmt und es zersetzt.34 Szenarien dieser Bedrohung werden in Amerika inszeniert. Besonders provokativ ist in dieser Hinsicht die Verkleidung der Bandmitglieder als Indianer. Native Americans sind wohl das bekannteste Beispiel für hegemoniale Unterdrückung einer Kultur. In zahlreichen Indianer-Romanen 33 Vgl. S. Žižek: »Genieße Deine Nation wie dich selbst! «, 139. 34 Vgl. ebd. 139.

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wird beschrieben, wie der Einzug des ›Weißen Mannes‹ das Leben der nordamerikanischen Einwohner dramatisch verändert. Heute sind diese Kulturen fast völlig zerstört.35 Dadurch werden Indianer zu einem starken Bild im Kontext der Kritik an der Vormachtstellung der USA im Globalisierungswettlauf. Indem sich die Rammsteiner Indianerkostüme anziehen, findet eine Parallelisierung zwischen Indianern und Deutschen statt, eine höchst provokante Geste. In Amerika wird aus der deutschen Perspektive das Amerikanische als Bedrohung für den eigenen ›way of life‹ inszeniert und damit die Angst einer Nation vor Überfremdung angesprochen. Rammstein beliefern also den deutschen nationalen Diskurs ebenfalls mit anschlussfähigem Material, das Stereotype bestätigt und ein Bild vom anderen prägt, das der Abgrenzung dient. (Dabei wird offensichtlich vergessen, dass die Stellung Deutschlands im Kontext der internationalen Politik und Wirtschaft den USA wohl eher vergleichbar als entgegengesetzt ist.) Dennoch werden die deutschen Indianer hier nicht nur als Opfer gezeigt, vielmehr befinden sie sich auf dem Kriegsfuß, bemalen sich die Gesichter und tanzen mit Tomahawk ums Feuer. Sie blasen scheinbar zum Gegenangriff, zur Verteidigung ihrer nationalen Belange. Gleichzeitig allerdings sind es nicht nur deutsche Indianer, die im Video auftreten, sondern auch deutsche Astronauten, so dass wiederum das Deutsche und das Amerikanische in den dargestellten Figuren zusammenkommen. Auch wenn man sich die Textzeilen noch einmal genauer ansieht, fällt auf, dass mit Wörtern wie »führen« und »kontrollieren« ein semantisches Feld um das Konzept des Herrschens formiert wird, das um veraltete, heute ungebräuchliche Ausdrücke wie »wir bilden einen lieben Reigen« ergänzt wird. Somit werden erneut auf subtile Weise die USA und der Nationalsozialismus enggeführt. Das zeigt, dass Rammstein nicht nur die beiden Nationen mit anschlussfähigem Material versorgen und die Die-und-WirFront verhärten. In jeder Konstruktion der Polarität ist bei Rammstein gleichzeitig eine Bewegung der Gleichsetzung, also der Unterwanderung der Polarität enthalten. Es konnte also gezeigt werden, dass in Rammsteins Stripped und Amerika Prozesse nationaler Identifikation zur Disposition gestellt werden, indem sie einerseits die Abgrenzungsbewegung dieser Prozesse inszenieren, diese Bewegung aber andererseits in Frage stellen und unterlaufen. Dabei

35 Vgl. den Beitrag von Katharina Grabbe in diesem Band.

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schrecken Rammstein nicht davor zurück, unheilvolle und traumatische Bilder mit klischeehaften Versatzstücken deutscher Kulturtradition zu verbinden, um ein stereotypes Deutschlandbild zu kreieren. Wahrscheinlich ist deshalb die Band den traditionellen deutschen Kulturmedien nicht geheuer: Den wohlgehegten Schatz dieser ›Kulturnation‹ auf Stereotype zu reduzieren und noch dazu mit Nazi-Anspielungen zu kombinieren, ist freilich skandalös.

Die Flucht oder : Was die Nation mit Ostpreußen zu tun hat CAREN HEUER

»Die Geschichte von Flucht und Vertreibung geht uns alle an. Sie ist Teil unserer nationalen Identität und unserer gemeinsamen Erinnerungskultur«, erklärt Angela Merkel auf dem ›Tag der Heimat‹ des Bund der Vertriebenen (BdV) im August 2009 in Berlin.1 Hiermit ist der Ausgangspunkt meines Aufsatzes formuliert, der exemplarisch eine der Geschichten von Flucht und Vertreibung untersucht und dabei die Fragestellung fokussiert, inwiefern nationale Identität über diese Geschichte, den Film Die Flucht, verhandelt wird. Im März 2007 läuft zur besten Sendezeit um 20.15 Uhr im Ersten Deutschen Fernsehen (ARD) Die Flucht 2. Anstelle des Tatort wird der erste Teil ausgestrahlt, der zweite, noch immer bei beeindruckender Einschaltquote3, folgt einen Tag später. In der Hauptrolle agiert Maria Furtwängler, auch die Nebenrollen sind mit Angela Winkler, Hanns Zischler, Max von 1

Vgl. o. A.: »›Es gibt keine Umdeutung der Geschichte‹. Bundeskanzlerin Merkel wirbt beim Tag der Heimat des BdV für die Erinnerungsstätte an Flucht und Vertreibung«, in: Süddeutsche Zeitung 24.08.2009, 5.

2

Die Flucht (Deutschland 2007, R: Kai Wessel).

3

Ca. 11,8 Millionen Menschen sehen Die Flucht im Fernsehen. Maria Furtwängler erhält als beste Hauptdarstellerin den Jupiter sowie den DIVA-Award in der Kategorie Publikumspreis/Beste Hauptdarstellerin TV. Letzterer wird für die kommerziell erfolgreichste Leistung im deutschen Fernsehen verliehen. Vgl. http://www.diva-award.de, (30.01.2009).

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Thun u.a. prominent besetzt. Aber gerade Maria Furtwängler, die für ihre Leistung als Lena Gräfin von Mahlenberg den Publikumsbambi erhalten wird, ist ein Pfund, mit dem sich wuchern lässt: Blond, blauäugig, schlank und großgewachsen mit aristokratisch schmaler Nase4 hätte sich wohl kaum eine vergleichbar bekannte Schauspielerin in Deutschland finden lassen, die das blaublütige Ostpreußen derartig stereotyp verkörpert. Der Plot der Flucht ist schnell erzählt: Lena Gräfin von Mahlenberg (Maria Furtwängler) reist im Sommer ´44 auf das Gut ihres Vaters (Jürgen Hentsch) in Ostpreußen, um sich mit dem Kranken auszusöhnen. Dieser hatte sie als Mutter eines unehelichen Kindes verstoßen. Infolge der Bettlägerigkeit ihres Vaters übernimmt Lena die Leitung des Gutes und damit die Verantwortung für die Gutsangestellten und Kriegsgefangen, auch ihre Tochter Victoria (Stella Kunkat) holt sie zu sich. Trotz Lenas Verlobung mit dem alten Kinderfreund Heinrich (Tonio Arango), dem angehenden Baron von Gernstorff, entsteht zwischen ihr und dem französischen Kriegsgefangenen François (Jean-Yves Berteloot) »eine tiefe Liebe, die jedoch zum Scheitern verurteilt ist«5 (soweit der Klappentext der DVD). Als die Rote Armee immer weiter nach Ostpreußen vorstößt, ist es an Lena, den Treck des Mahlenbergschen Gutes sicher über das Haff bis hin nach Bayern zu führen. Die Flucht markiert den bisherigen Höhepunkt eines Diskurswandels, genauer gesagt eines Wandels in der öffentlichen Debatte um die Schuld der Deutschen im ›Dritten Reich‹: Die Deutschen stehen nicht länger als Täter, sondern im zunehmenden Maße als Opfer des Zweiten Weltkrieges im Mittelpunkt des Interesses. Andreas Kelletat spricht von »Verschiebun-

4

»Sie hat auch das Gesicht dazu«, sagt der Produzent Nico Hofmann im Making Off der DVD zur Begründung für die Besetzung der Lena von Mahlenberg mit Maria Furtwängler. Als Adelsspross ist die Schauspielerin, so meine ich, umso glaubwürdiger, als sie selbst um mehrere Ecken mit dem berühmten Dirigenten Furtwängler verwandt und mit dem Medienmogul Hubert Burda verheiratet ist, sprich sich beheimatet im alten deutschen Kultur- und Wirtschaftsadel – da stört auch der fehlende Titel nicht weiter.

5

Momente der Trivialliteratur sind unübersehbar und zeigen sich offen z.B. in dem Namen des Gutes von Baron Gernstorff: Schloss Lahnstein. Ein Schloss gleich lautenden Namens ist Schauplatz unzähliger Intrigen der Vorabendserie Verbotene Liebe (ARD).

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gen der deutschen Erinnerungskultur«6 und nennt eine Reihe von Indizien für diese These: Die anonymen Tagbuchaufzeichnungen Eine Frau in Berlin7 widmen sich dem Thema der Massenvergewaltigungen durch Angehörige der Roten Armee in Berlin, Jörg Friedrichs Der Brand8 beschreibt »in epischer Breite«9 die Bombardierungen und Zerstörungen deutscher Städte durch die Luftangriffe der Alliierten. Kelletat führt auch Oliver Hirschbiegels Der Untergang10 in seiner Indizienkette an. Der Untergang inszeniere den Täter schlechthin, Adolf Hitler (gespielt von Bruno Ganz), nicht länger als das personifizierte Böse, sondern als »ein[en] Menschen von Fleisch und Blut. Mit Stärken und Schwächen. Abstoßend und anziehend bis zu letzten Stunde, in der er selbst zum Opfer wird«11, wie der rechtsextreme Karl Richter in der FAZ zitiert wird.

6

Andreas Kelletat: »Von der Täter- zur Opfernation? Die Rückkehr des Themas ›Flucht und Vertreibung‹ in dem deutschen Vergangenheitsdiskurs bei Grass und anderen«, in: Triangulum. Germanistisches Jahrbuch für Estland, Lettland und Littauen. 10/4 (2003), 132-147, 133.

7

Anonyma: Eine Frau in Berlin, Frankfurt a.M. 2003. Mittlerweile ebenfalls verfilmt: Anonyma – Eine Frau in Berlin (Deutschland 2008, R: Max Färberböck).

8

Jörg Friedrich: Der Brand. Deutschland im Bombenkrieg 1940-1945, München 2002. Die Bombardierung deutscher Städte durch die westlichen Alliierten im Zweiten Weltkrieg wurde 2005 zum Thema des Fernsehfilms Dresden. Vgl. Dresden (Deutschland 2005, R: Roland Suso Richter). Dresden wurde am 05. und 06. März 2005 im ZDF ausgestrahlt, für die Produktion zeichnete sich derselbe Produzent, Nico Hofmann, verantwortlich wie zwei Jahre später für Die Flucht.

9

A. Kelletat: »Von der Täter– zur Opfernation«, 133.

10 Der Untergang (Deutschland 2004, R: Oliver Hirschbiegel). 11 Thomas Holl: »›Als Hitler mir die Hand schüttelte.‹ Ein Rechtsextremist als Komparse im Führerbunker des ›Untergangs‹«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 229/01.10.2004. Vgl. http://www.faz.net/s/Rub8A25A66CA9514B9892 E0074EDE4E5AFA/Doc~EF7085E2AF6A244E6BB08C8290DC5305E~ATpl~ Ecommon~Scontent.html (07.06.2010). Karl Richter, verurteilt wegen Volksverhetzung, ist ein rechtskonservativer Publizist und wissenschaftlicher Berater der NPD-Landtagsfraktion in Sachsen. Dass es ihm gelang, als Komparse an den Dreharbeiten zu Der Untergang teilzunehmen, sorgte für einen Skandal.

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Nicht in Kelletats Aufzeichnung genannt ist Sebalds 1997 gehaltene Züricher Poetikvorlesung ›Luftkrieg und Literatur‹; in dem Vorwort zum Abdruck seiner Vorlesung spricht Sebald von der »in den letzten Kriegsjahren von Millionen gemachte[n] Erfahrung einer nationalen [deutschen] Erniedrigung sondergleichen«12. Sebalds Worte provozieren mich zu der Entgegnung, welcher Natur die Erfahrungen und Erniedrigungen von Millionen im deutschen Vernichtungskrieg und Holocaust gewesen sein mögen. Eine solche Äußerung verbliebe allerdings in der alten Aufrechnung von Schuld und Leid, als dürfe deutsches Leiden angesichts des deutschen ›Zivilisationsbruchs‹ im Zweiten Weltkrieg nicht zum Thema gemacht werden, als gelte ein Erzähltabu in Bezug auf deutsche Opfererfahrung als Bombardierte, Vertriebene und Geflohene. Günter Grass ist es, dem der Status als Tabubrecher zukommt. Grass’ Im Krebsgang13 beschreibe, meint der SPIEGEL-Journalist Volker Hage, auf »hohem literarischen Niveau«14 (in Abgrenzung von bisheriger Fluchtliteratur) die Flucht der Ostdeutschen vor der Roten Armee gen Westen am Beispiel vom Untergang der Wilhem Gustloff15. Im Krebsgang weist sich selbst als Novelle aus, formuliert den Anspruch bereits im Titel, an exponiertet Stelle also, etwas Neues zu erzählen, die berühmte ›unerhörte Begebenheit‹. So unerhört ist das Thema in der Bundesrepublik indes nicht: Noch bis in die 1960er-Jahre existiert ein Bundesministerium für Vertriebene, das die Belange der Vertriebenen und Geflohenen vertritt, die Partei BHE (Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten) hat bis 1961 nennenswerte, teils zweistellige Wahlergebnisse in

Vgl. den entsprechenden Artikel in der FAZ. Richter ist hier vor allem deshalb zitiert um zu verdeutlichen, dass der skizzierte Diskurswandel auch von der äußersten Rechten wohlwollend betrachtet wird. 12 W.G. Sebald: Luftkrieg und Literatur. Mit einem Essay zu Alfred Andersch, München/Wien 1990, 6. 13 Grass, Günter: Im Krebsgang, München 32007. 14 Volker Hage: »›Das tausendmalige Sterben‹. Die Versenkung des Flüchtlingsschiffs ›Wilhelm Gustloff‹ in Günter Grass Novelle ›Im Krebsgang‹«, in: Stephan Aust/Stephan Burgdorff (Hg.), Die Flucht. Über die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten, Bonn 2003, 39-47, 42. 15 Auch die Ereignisse vom Untergang der Wilhelm Gustloff wurden für das Fernsehen (ZDF und ORF) verfilmt: Die Gustloff (Deutschland 2008, R: Joseph Vilsmaier).

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den Flüchtlingsländern Schleswig-Holstein, Hessen, Niedersachsen und Bayern; der Bund der Vertriebenen hat mit der CDU-Bundestagsabgeordneten Erika Steinbach noch immer ein wortgewaltiges Sprachrohr, ihr gelingt es, den Bau eines Zentrums gegen Vertreibung in Berlin trotz anfänglich massiver Proteste der polnischen und tschechischen Regierung durchzusetzen16. Auch willkommen sind die Angehörigen der Vertriebenenverbände als Wählerinnen und Wähler: Auf dem Nürnberger Sudetentag 2002 erklärt der damalige Kanzlerkandidat Stoiber, die Union werde – es sind schließlich Wahlkampfzeiten – »im Hinblick auf die Osterweiterung der Europäischen Union die berechtigten Anliegen der Heimatvertriebenen zur Sprache bringen«17 und sich für die Interessen der Sudetendeutschen, des »vierten Stamms Bayerns«18, einsetzen. Nicht zuletzt die ethnisierende Rede vom »Stamm«, derer sich auch die sudetendeutsche Landsmannschaft bedient19, erinnert an nationalsozialistische Propagandastrategien, mit der einst das Sudetenland besetzt wurde – Kanzler ist Herr Stoiber trotzdem nicht geworden. Festzuhalten ist: Im Krebsgang ist nicht das erste Buch seiner Art: Seit Kriegsende ist eine lange Reihe an literarischen und autobiographischen Texten zum Themenkomplex Flucht und Vertreibung verlegt und auch gelesen worden, wie Louis Ferdinand Helbig in dem einzigen Standardwerk

16 Vgl. O. A.: »Streit um Zentrum gegen Vertreibung beendet«, in: Süddeutsche Zeitung 05.02.2008 http://www.sueddeutsche.de/politik/292/432042/text/ (28. 01.2009). Vgl. auch o. A.: »Kabinett macht Weg frei für Vertriebenen-Zentrum frei«, in: Spiegel online 19.03.2008 http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0, 1518,542442,00.html (28.01.2009). Erika Steinbach ist nicht zuletzt deshalb so umstritten, weil sie 1990 im Bundestag gegen die Anerkennung der OderNeisse-Linie als deutsche Grenze zu Polen abstimmte. Ihr Abstimmungsvotum erklärte Steinbach mit den Worten: »Man kann nicht für einen Vertrag stimmen, der einen Teil unserer Heimat abtrennt.« Zit. n. Thomas Schmid: »Zentrum für Vertreibung. Die Deutschen haben sich vom Osten abgewandt«, in: Die Welt 7/09.01.2010 http://www.welt.de/politik/deutschland/article5789379/Die-Deutschen-haben-sich-vom-Osten-abgewandt.html (07.06.2010). 17 Edmund Stoiber zit. n. Hahn, Heinz Henning: »›Wo ist Ihre Heimat?‹«, in: Aust/Burgdorff, Die Flucht (2003), 116-125,120. 18 Ebd. 19 Vgl. ebd. 119.

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zum Thema nachweist.20 Dazu gehören Texte von namenhaften SchriftstellerInnen wie Peter Härtling, Christa Wolf, Johannes Bobrowski, Heinz Piontek, Uwe Johnson, Marion Gräfin Dönhoff, Christine Brückner u.v.a. Und doch, so Helbig, sahen sich die entsprechenden Texte in der Kritik, obwohl oder vielleicht gerade weil sie so erfolgreich waren, einem Revisionismus- und Revanchismusverdacht ausgesetzt21, insbesondere wenn sie von den Vertriebenenverbänden als Lektüreempfehlungen ausgewiesen oder von ihnen herausgegeben wurden22. Diesen üblen, weil neonationalistischen Stallgeruch verliert die Flucht- und Vertreibungsliteratur nicht erst, aber umso publikumswirksamer, als sich der damals noch als moralisch integer geltende Nobelpreisträger Grass23 des Themas annimmt und mit Im Krebsgang für die »literarische Sensation […] des Jahres«24 sorgt. Erst der alte SPD-Wahlkämpfer Grass, der sich in den 1970ern für die Ostpolitik Willy Brandts und damit für die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze ein-

20 Vgl. Ferdinand Louis Helbig: Der ungeheure Verlust. Flucht und Vertreibung in der deutschsprachigen Belletristik der Nachkriegszeit, 3. aktualisierte und erweiterte Auflage, Wiesbaden 1996. 21 Vgl. ebd. 36f., 42. 22 Vgl. http://www.bund-der-vertriebenen.de/service/ (30.01.2009). 23 Grass’ Geständnis, formuliert in seiner Autobiographie Beim Häuten der Zwiebel, als junger Mann in der SS-Panzer-Division ›Fundsberg‹ gedient zu haben, sorgte 2006 für einige Aufregung. Eine verspätete Lebensbeichte, aber auch Doppelmoral wurde Grass vorgeworfen, da ausgerechnet er, der jahrzehntelang vor neonationalistischen Tendenzen Warnende, nun eine Nazi-Vergangenheit gestünde. Vgl. z.B. o. A.: »Bekenntnis zur Waffen-SS. Merkel teilt Kritik an Grass«, in: Der Spiegel 34/21.08.2006 http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,432767,00.html (30.01.2009). Vgl. auch o. A.: »Grass Geständnis entzweit die Intellektuellen«, in: Der Spiegel 33/12.08.2006 http://www.spiegel. de/kultur/literatur/0,1518,431436,00.html vom 12.08.2006, (30.01.2009). Vgl. den Hinweis in Grass’ Text in: Günter Grass: Beim Häuten der Zwiebel, Göttingen 2006, 120. 24 Beyersdorf, Hermann: »Günter Grass ’ ›Im Krebsgang‹ und die Vertreibungsdebatte im Spiegel der Presse«, in: Barbara Beßlich/Katharina Grätz/Olaf Hildebrand (Hg.), Wende des Erinnerns? Geschichtskonstruktionen in der deutschen Literatur nach 1989, Berlin 2006. 157-167, 158.

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setzt, verleiht dem Thema, das zum Dauerbrenner in den Feuilletons wird25, political correctness. Derartig legitimiert folgen in dichter zeitlicher Nähe die Fernsehreihe Die große Flucht26 unter der Leitung des ZDF-Historikers Guido Knopp, Tanja Dückers Himmelskörper27, Reinhard Jirgels Die Unvollendeten28, Christoph Heins Landnahme29 und Alles umsonst30 von Walter Kempowski. Im ZDF werden die Fernsehzweiteiler Dresden31 und Die Gustloff32 Quotenschlager. Doch um das eigentliche Fluchtgeschehen, um das Trecken, geht es auch bei Grass nicht. Es geht um den Untergang der Gustloff. Die Flucht auf der Straße aber steht unter dem Nimbus des Unsagbaren: »Mit der Flucht auf dem Landweg begann das Sterben am Straßenrand. Ich kann es nicht beschreiben. Niemand kann das beschreiben.«33 Der Untersuchungsgegenstand dieses Artikel, Die Flucht, suggeriert aber

25 Beyersdorf ist ein Überblick der Presseresonanz auf Im Krebsgang in Deutschland und England zu verdanken, wobei auch die Publikationsorgane der Vertriebenenverbände Berücksichtigung finden. Vgl. Fußnote 14. 26 Als Buch erschienen unter Guido Knopp: Die große Flucht. Das Schicksal der Vertriebenen, München 2002. 27 Tanja Dückers: Himmelskörper, Berlin 22005. 28 Reinhard Jirgl: Die Unvollendeten, München/Wien 2003. 29 Christoph Hein: Landnahme, Frankfurt a. M. 2004. 30 Walter Kempowski: Alles umsonst, München 2006. 31 Vgl. Fußnote 7. Dresden wird 2005 mit dem Deutschen Fernsehpreis ausgezeichnet. 32 Vgl. Fußnote 14. Auch Die Gustloff wird wie Dresden und Die Flucht in dem von anderen TV-Highlights weitestgehend freien Monat März gesendet und so zum Fernsehereignis mit den höchsten Einschaltquoten im Jahr 2008 (Marktanteil von 23.5% bei 8.45 Millionen ZuschauerInnen). Vgl. z.B. o. A.: »›Gustloff‹ ist erfolgreichster deutscher TV-Film«, in: NW-News 07.01.2009 http://www.nw -news.de/nw/lokale_news/herford/?cnt=2775404 (30.01.2009). 33 G. Grass: Im Krebsgang, 102. Der Topos des Unsagbaren geht bis auf die mystische Tradition zurück und ist speziell einer der Holocaust-Literatur, findet aber auch in der Flucht- und Vertreibungsliteratur Anwendung. Durch die Rede von dem undarstellbaren Schrecken, dem die Flüchtlinge ausgesetzt sind, wird, ob intendiert oder nicht, eine Analogie gewagt von der humanitären Katastrophe der Massenflucht 1945 und dem industrialisierten Genozid an den Juden Europas.

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qua Titel genau das: die filmische Darstellung des Undarstellbaren. Nun ist ein Film kein Buch, das Imaginäre der Nation hat im Film die Chance nicht länger nur metaphorisch oder als sprachlich gefasstes Phantasma, sondern in wortkonkreter Bedeutung bildhaft sichtbar zu werden34. Anschaulich wird aber auch im Film nur das Phantasma, nicht das nationale ›Ding‹ selbst, dessen Eigenschaft es ja gerade ist, so Žižek in Rückgriff auf Lacans Modell der Subjektgenese, unerreichbar zu sein35. In seinem berühmten Aufsatz Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion36 beschreibt Lacan, wie sich das Kleinkind mittels eines Spiegels identifiziert und ein imaginäres Bild von sich entwirft. Im Bild antizipiert das Kind eine Ganzheit und Unabhängigkeit, die es tatsächlich noch gar nicht erreicht hat37: Indem das Subjekt sich erkennt, verkennt es sich. Das vollkommene Ideal-Ich des

34 Vgl. dazu Christian Metz: »Der kinematographische Signifikant ist wahrnehmbar (visuell und auditiv). Der Signifikant der Literatur ist es ebenfalls, da man ja die Schriftfolge lesen muß, doch er erfordert ein beschränkteres Wahrnehmungsregister, da nur Grapheme, nur Schriftzeichen wahrgenommen werden müssen. […] das Kino [ist] wahrnehmbarer, wenn man so sagen könnte, als viele andere Ausdrucksmittel.« Wie die Literatur besteht das Kino, so Metz, aus Nachbildungen von abwesenden Gegenständen, wobei der Detailreichtum des Kinos jedoch dem der Literatur überlegen ist: »Der ungewöhnliche Wahrnehmungsreichtum ist schon in seinem Prinzip von einer ungewöhnlichen Irrealität geprägt. Stärker oder auf einzigartigere Weise als die anderen Künste bindet uns das Kino ans Imaginäre: es bietet eine enorme Wahrnehmung, die, obwohl es sie sofort in ihre eigene Abwesenheit umschlagen läßt, nichtsdestoweniger den einzig anwesenden Signifikanten darstellt.« Christian Metz: Der imaginäre Signifikant. Psychoanalyse und Kino, Münster 2000, 44, 46. Hervorhebungen im Original. 35 Vgl. Slavoj Žižek: »Genieße Deine Nation wie Dich selbst! Der andere und das Böse – Vom Begehren des ethnischen ›Dings‹«, in: Joseph Vogl (Hg.), Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen, Frankfurt a. M. 1994, 133-164, 135f. 36 Jacques Lacan: »Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung scheint. Bericht für den 16. Internationalen Kongreß für Psychoanalyse in Zürich am 17. Juli 1949«, in: Ders., Schriften I, hg. v. Norbert Haas, Olten/Freiburg, 1973, 61-70. 37 Ebd. 62.

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Kindes (moi) im Spiegel, nach dem es sich formt, ist für das Kind vor dem Spiegel (je) unerreichbar. Hierin manifestiert sich die grundsätzliche Aussage des Spiegelstadiums »das Ich ist ein anderer«38, mit der das Subjekt als gespalten beschrieben wird. Das Spiegelerlebnis ist nach Lacan eine »exemplarische Situation«39, die sich als Grundstruktur in allen Identifikationsprozessen, auch in kollektiven, wiederfindet. Für das Spiegelstadium ist der Blick ebenso zentral wie für das Filmerlebnis: Der Blick organisiert entlang von Bildern Identifikationsprozesse, der Film besteht aus »einer Kette zahlreicher Spiegel«40. Anders gesagt: Die Leinwand (im vorliegenden Fall die Bildröhre) wird zum Spiegel, in dem die Zuschauerin zwar abwesend bleibt, sich aber mit dem Blick selbst als Akt der Wahrnehmung, den die Kamera vorgibt, identifiziert. Die Identifikation mit dem Blick der Kamera ist die Voraussetzung für alle weiteren Identifikationen. Žižek überträgt Lacans Konzept der Subjektwerdung auf Prozesse der nationalen Identifizierung, die »ihrer Definition nach aufgebaut [ist] auf eine Beziehung zur Nation als Ding«41. Das »Ding« ist dem Realen zuzuordnen, neben dem Imaginären und dem Symbolischen eine der drei Ordnungen, mit deren Hilfe psychoanalytische Phänomene fass- und beschreibbar werden. Wie das Reale ist das Ding nicht symbolisierbar; das Ding steht als immer schon verlorenes Objekt konstitutiv für den Mangel, den das Symbolische kennzeichnet42, und wird lediglich auffindbar im Phantasma, das den Mangel verschleiert. Wie der leere Signifikant erzeugt das Phantasma als Substitut des Dings eine imaginäre Einheit,43 die Zielpunkt des Begehrens ist. Das Phantasma ist lesbar als Schirm, hinter dem das Genießen (scheinbar) möglich ist – »scheinbar« nur deshalb, weil das Subjekt durch

38 Jacques Lacan: Seminar II. Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse. Olten/Freiburg 1980, 14. 39 J. Lacan: »Das Spiegelstadium«, 63. 40 C. Metz: Der imaginäre Signifikant, 51. Ausführlich zum Verhältnis von Spiegel, Film und Identifikation 44-56. 41 S. Žižek: »Genieße Deine Nation wie Dich selbst«, 135. 42 Zur für das Symbolische bestimmenden An- und Abwesenheit vgl. z.B. Jacques Lacan: Schriften II, hg. v. Norbert Haas, Olten/Freiburg 1975, 27. 43 Vgl. Urs Stäheli: »Die politische Theorie der Hegemonie: Ernesto Laclau und Chantal Mouffe«, in: André Brodocz/Gary S. Schaal (Hg.): Politische Theorie der Gegenwart II, Opladen 2001, 193-221, 201.

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den Mangel bestimmt wird, so dass der Genuss von Fülle und Ganzheit den Tod des Subjekts zur Folge hätte. Derart fallen Genießen und Thanatos44 zusammen, das Genießen ist »der Weg zum Tod«45 und wird verkörpert vom Ding, das »Fülle und Lebendigkeit«46, das ein Ende des Mangels verheißt. Wenn bei Žižek die Nation zum Ding erklärt wird, heißt das nicht anderes, als dass das nationale Ding als »the real Thing«47 die Erfüllung des Genießens in Gestalt einer geschlossenen Identität anzubieten scheint. Der Ort der Selbstidentifikation und damit der Verkennung ist das Imaginäre, der Bereich der Täuschung und Illusion. Hier zeigt sich die Schnittstelle mit Andersons Modell der Nation als vorgestellter, imaginierter Gemeinschaft48, deren Mitglieder ein fiktives Wir konstruieren, das Differenzen innerhalb der Gruppe einebnet. Wenn die Geschichte von Flucht und Vertreibung Teil unserer nationalen Identität ist, wie Angela Merkel behauptet, dann wird ein solches fiktives ›Wir‹ gezeichnet, das vergessen lässt, dass die riesige Mehrheit des gegenwärtigen deutschen ›Wir‹ nicht geflohen ist oder vertrieben wurde. Wieso sind Flucht und Vertreibung trotzdem eine nationale Angelegenheit bzw. identifikatorische Bezugspunkte der Deutschen? Wie kommt die Nation nach Ostpreußen, welche Signifikanten verweisen auf die Nation? Um diese Frage beantworten zu können, müssen zu allererst die semantischen Stränge herausgearbeitet werden, über die eine ostpreußische Identität hergestellt wird, um diese dann auf ihre Anschlussfähigkeit an ein nationales Imaginäres zu überprüfen.

 

44 Vgl. Jacques Lacan: »Subversion des Subjekts und Dialektik des Begehrens im Freudschen Unbewussten«, in: Ders., Schriften II, 3. korrigierte Auflage, Berlin/Weinheim 1991, 165-204. Vgl. auch Sigmund Freud: Jenseits des Lustprinzips (= Studienausgabe, Bd. 3: Psychologie des Unbewußten), Frankfurt a. M 8

1997, 213-272.

45 Jacques Lacan: Seminar XVII, 17, zit. n. Dylan Evans: Wörterbuch der Lacanschen Psychoanalyse, Wien 2002, 314. 46 S. Žižek: »Genieße Deine Nation wie Dich selbst«, 35. 47 Ebd. 136. 48 Vgl. Benedict Anderson: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts (1988), Nachw. v. Thomas Mergel, Frankfurt a.M./New York 2

1996, S16ff.

DIE FLUCHT | 275

I

»GROSSER GOTT, WIR LOBEN DICH« DAS CHRISTLICHE OSTPREUSSEN

Eines der semantischen Felder, über die ostpreußische Identität in Die Flucht imaginiert wird, ist das Christentum. Geflohen wird in Die Flucht zunächst nämlich nicht, jedenfalls im ganzen ersten Teil nicht. Der Film setzt ein in Berlin, im Sommer 1944. Lena ist im Begriff nach Mahlenberg aufzubrechen, während Vicky mit der Kinderlandverschickung aus Berlin evakuiert werden soll. Zum Abschied nimmt sich Lena eine Kette vom Hals, an der ein Kreuz hängt, und legt sie Vicky um mit den Worten: »Sie wird dich beschützen.« Das wäre nun nicht weiter bemerkenswert, wenn damit nicht bereits gleich zu Beginn des Films die Gläubigkeit und Gottesfurcht der Ostpreußen eingeführt würde – ein Moment, das in 183 Minuten Filmlänge immer wieder bemüht und herbeizitiert wird: im Gesang, im Gebet und im Verweis auf Gott. Die Gebete, darunter das Vaterunser, sind genau wie das Lied Großer Gott, wir lobe Dich, gesungen nach der Ente auf dem Feld, Teil eines christlichen Rituals, das auf der Flucht Halt gibt, während alle anderen Strukturen in Auflösung begriffen sind. Im religiösen Ritus sind alle Menschen gleich, der Glaube wirkt gewissermaßen als Gleichmacher, der die Unterschiede zwischen den Geschlechtern, den Generationen und nicht zuletzt den sozialen Schichten durchstreicht. Das, was Anderson für das Singen der Nationalhymne geltend macht, gilt auch hier: Das gemeinsame Singen vermittelt eine Ahnung der Gleichzeitigkeit und Gemeinsamkeit, die nach Anderson für die Vorstellung einer nationalen Gemeinschaft prägend sind, als eine »greifbare Realisierung der vorgestellten Gemeinschaft im Widerhall der Stimmen«49. Im Moment des gemeinschaftlichen Singens wird die hierarchische Ordnung einer Gesellschaft aufgelöst; um mit Ernest Gellner zu sprechen: »[E]ine sozial mobile, anonyme Gesellschaft tut plötzlich so, als sei sie eine nach außen geschlossene traute Gemeinschaft.«50 Das Singen markiert den Punkt der imaginären Schließung als egalitäre Gemeinschaft, die zugleich die ausschließt, die nicht in den Stimmenchor einfallen, weil sie des Deutschen nicht ausreichend mächtig sind: die Kriegsgefangenen.

49 Vgl. B. Anderson: Die Erfindung der Nation, 146. 50 Ernest Gellner: Nationalismus. Kultur und Macht, Berlin 1999, 123.

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Eine Variante erfährt dieses Moment in der Weihnachts-Szene, in der sich alle Gutsangehörigen versammeln, um gemeinsam Stille Nacht, heilige Nacht zu singen. Diesmal stimmen die Kriegsgefangenen in den Gesang mit ein und singen das wohl berühmteste Weihnachtslied der Welt in ihrer jeweiligen Muttersprache: An die Stelle nationalsprachlicher Ein- und Ausschließung tritt das gemeinschaftliche Singen, die »rettende Stund«51 der (Christen-)Einheit versprechenden Geburt Jesu Christi. Auch dieser kollektive Identifikationsentwurf funktioniert über Ab- und Ausgrenzung. Wird zwar nicht die Nation, sondern der gemeinsame Glaube anschaulich im Phantasma des gemeinsamen Gesanges, so wird doch nur das nationale Ding für den Moment gegen eine andere kollektive Bezugsgröße eingetauscht, die alle Nicht-Christen ausgrenzt. Dennoch, an Weihnachten obsiegt im gläubigen Film-Ostpreußen die Humanität über die nationalsozialistischen Rassismen, denen entsprechend den Deutschen jeder gleichberechtigte Umgang mit den »sowjetischen Untermenschen«52 untersagt war. Nazis, wirkliche Nazis, das sind in diesem Film die Anderen, der stellvertretene Gauleiter und die SS. Der Nationalsozialismus (nicht der Krieg) befindet sich – mit Ausnahme des Hitlerjungen Fritz – außerhalb, in der nächstgelegenen Stadt, im Büro des Gauleiters, und dringt in die ostpreußische Idylle nur über den Volksempfänger und Besuche des stellvertretenden Gauleiters ein. Ist der Rest der Nation dem Nationalsozialismus anheim gefallen, so ist man in der ostpreußischen Provinz im wahrsten Sinne des Wortes ›weit ab vom Schuss‹. Verkörpert wird das Reich durch seine Vertreter, die allesamt Uniform tragen; die Uniform, das nationalsozialistische Deutschland repräsentierend, markiert innerhalb der Deutschen einen bedeutungsvollen Unterschied, der sagt: Schuldig geworden ist nicht das Kollektiv, sondern nur eine bestimmte Gruppe, die der nationalsozialistischen Anderen. Für das Jahr 2007, in dem der Film erstmalig ausgestrahlt wird, ist dieser Unterschied von immanenter Wichtigkeit, wie noch zu erläutern sein wird. Glaube und Religion treten im Film an die Stelle der Nation, o-

51 Joseph Mohr: Stille Nacht, heilige Nacht (1813). 52 Vgl. Cornelia Schmitz-Bering: Vokabular des Nationalsozialismus. Lemma: »Untermensch«, Berlin/New York 2000, 618-621. Vgl. auch Heinrich Himmler: »Einige Gedanken über die Behandlung der Fremdvölkischen im Osten «, in: Reinhard Kühl (Hg.), Der deutsche Faschismus in Quellen und Dokumenten, Köln 31978, 328-340.

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der genauer: Die deutsche Nation des Nationalsozialismus ist nicht das Ding der Ostpreußen. Dass das Christentum die Nation als Ding ersetzt, bietet sich aufgrund einer strukturellen Analogie an, die auf Glauben fußt: Das Ding existiert nach Žižek so lange, »wie die Angehörigen eines Gemeinwesens daran glauben, es ist buchstäblich ein Effekt dieses Glaubens an es.«53

II 

»DER HIMMEL SO HOCH, DIE FERNE SO MÄCHTIG« ZUM PREUSSISCHEN IMAGINÄREN

Das Christentum arbeitet als semantisches Feld im Film mit an der Herstellung eines ostpreußischen »way of life«54, der nicht zuletzt durch einen spezifischen ostpreußischen Raum und dessen feudalistische Herrschaftsordnung geprägt ist. Dass es sich bei dem einsamen, dicht und grün zugewachsenen Bahngleis um einen Ort in Ostpreußen handelt, an dem Lena an einem winzigen Bahnhof aus Berlin eintrifft, erfährt die Zuschauerin durch die Bildunterschrift »Ostpreußen«. Es folgt eine Kutschfahrt auf nichtasphaltierten Allee auf das Gut der Mahlenbergs zu. Die Kamera löst sich von der Kutsche und bewegt sich an Geschwindigkeit zunehmend in Vogelperspektive auf das Gutshaus und seine Anlage zu. Untermalt wird die Kamerafahrt, die das gesamte Wohnhaus und seine repräsentativen Außenanlage inkl. Springbrunnen und Rondell nicht einmal zur Gänze einzufangen vermag, mit anschwellenden Streicherklängen. Es entsteht ein Eindruck von Größe und Herrschaftlichkeit, der durch die Spalier stehenden Gutsangehörigen noch verstärkt und durch die Innenräume bestätigt wird. Passend zu der schlechten körperlichen und geistigen Verfassung des Grafen sind diese bis auf Lenas Zimmer dunkel und wirken trotz ihrer großzügigen Ausstattung leer und unbewohnt. Umso heller und belebter scheint die Küche, in denen sich das Gesinde bei der Arbeit befindet. Unmittelbar folgt, wohl um die Zuschauer/innen nach den Leuten nun mit dem Land vertraut zu machen, Lenas erste Ausrittszene, die erste von dreien: Wieder begleiten Streicher die Szenerie, in der man Lena über grüne Wiesen unter blauem Himmel mit Schäfchenwolken galoppieren sieht, 53 S. Žižek: »Genieße Deine Nation wie Dich selbst«, 136. 54 Ebd. 137.

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auf einsamen Feldwegen zwischen Birkenwäldchen und Getreidefeldern, schließlich bei tief stehender Sonne eine Treibjagd beobachtend55. Und in der Tat: Der Eindruck, der über den ostpreußischen Naturraum vermittelt wird, ist ein friedlich-idyllischer, in den die Kriegsmaschinerie noch nicht Einzug gehalten hat. Der Mensch ist als Souverän dem Naturraum überlegen, den er sich jagend, anbauend, gestaltend zu Diensten zu machen weiß. Die zweite Ausrittszene fügt der ersten keine neuen Bilder hinzu, wieder steht die Sonne tief, der blaue Himmel ist bis auf wenige Schönwetterwolken klar, das Grün der Wiesen ist satt und erstreckt sich in endloser Weite, als würde sich erst durch die nahezu bildgleiche Wiederholung das Bild von der idyllischen Naturlandschaft einprägen. Bedrohlich wird die Natur skizziert, als der Herbst kommt: Der Himmel verdunkelt sich, ein Vogelschwarm fliegt davon56, blattlose Bäume prägen die Landschaft, während Lenas Stimme aus dem Off erklingt: Und auch als die Rote Armee im Herbst zum ersten Mal auf deutschem Boden stand und wir die grausame Wirklichkeit des Krieges mit eigenen Augen zu sehen bekamen, glaubte ich noch immer, die Nazis würden niemals ostpreußischen Boden der Verwüstung preisgeben.

 Der Figurenrede entsprechend werden deutscher und ostpreußischer Boden miteinander assoziiert. Dass der im Film inszenierte »deutsche Boden« seinen deutschen Gehalt nicht aus Staatsgrenzen ableitet, sorgt auf einer analytischen Makroebene für Irritation und einige Komik, wenn man sich vor Augen führt, dass mitnichten im ehemaligen Ostpreußen, sondern in Litauen gedreht wurde. Die Wiederholung des Wortes »Boden«, mal deutsch, 55 Dass zum fröhlichen Jagen eine gewisse Unbekümmertheit gehört, ist auch dem Beitrag von Christian Schmitt in dem vorliegenden Band zu entnehmen 56 Die Szenerie erinnert auffällig an die Aufzeichnungen von Hans Graf von Lehndorff: »Aber als der Sommer ging und die Störche zum Abflug rüsteten, ließ sich das bessere Wissen von dem, was bevorstand, nicht länger verborgen halten. Überall in den Dörfern sah man Menschen stehen und zum Himmel starren, wo die großen vertrauten Vögel ihre Kreise zogen, so als sollte es diesmal der letzte Abschied sein. Und jeder mochte bei ihrem Anblick etwa das gleiche empfinden:›Ja, ihr fliegt nun fort! Und wir? Was soll aus uns und unserem Land werden?‹« Vgl. Hans Graf von Lehndorff: Ostpreußisches Tagebuch. Aufzeichnungen eines Arztes aus den Jahren 1945-47. München 151985, 9.

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mal ostpreußisch, weckt Erinnerungen an deutsche Blut- und Bodenideologie, die von einer wesensmäßigen Verbindung zwischen dem Land und seinen BewohnerInnen ausging und ein Band zwischen ›Rasse‹ und Land konstruierte, dem entsprechend »die Rasse als Quelle der Nation und der lautere Bauer als Quelle der Rasse«57 galt. Den dritten und letzten Ausritt unternimmt Lena nicht allein, sondern mit Baron von Gernstorff. Die Szene setzt ein mit einem Panoramabild der verschneiten Landschaft. Vor dem Hintergrund der schneebedeckten Weite und der zum dritten Mal untergehenden Sonne erscheinen die Reitenden winzig, bis sie auf einer Anhöhe zum Stehen kommen. Den Blick in die Ferne des Sonnenunterganges gerichtet zitiert Baron Gernstorff: »Das Licht so stark, der Himmel so hoch, die Ferne so mächtig, sagt Hans Lehndorff. Schau es dir an, Lena, ein letztes Mal.« Nachdem er sie an den gemeinsamen Fluchtplan erinnert hat, galoppieren sie in entgegengesetzte Richtungen davon. Die Szene ist erwartbar und wird in keinster Weise ironisch gebrochen, durch den intertextuellen Verweis persifliert sie sich jedoch unfreiwillig selbst. Das Zitat nach Hans Lehndorff stammt aus dessen Tagebuchaufzeichnungen aus den Jahren 1945-47, die erstmalig 1961 veröffentlicht wurden. Die Figur Baron Gernstorff verfügt also entweder über prophetische Textkenntnisse oder aber der Film markiert sich selbst als Teil eines diskursiven Gewebes, das aus unentwirrbaren textuellen Fäden ohne Anfang und Ende besteht. In diesem Verständnis arbeitet der Film Die Flucht erkennbar mit am Mythos um Flucht und Vertreibung. Als historische Ereignisse sind die Flucht und Vertreibung der Deutschen aus dem Osten erzählte Geschichte geworden, die nur noch in Texten auffindbar ist. Unterzieht man den Film einer kritischen Lesart, wird deutlich, dass Die Flucht – auch wenn es sich um einen dezidiert nicht-metareflexiven Film handelt – in ihren intertextuellen Momenten auf ihre eigene Gemachtheit verweist, die sich aus Topoi, Motiven und Versatzstücken gängiger Fluchtund Vertreibungsliteraturen speist. Das intertextuelle Moment zeigt aber noch mehr, dass nämlich der ostpreußische Raum einem Narrativ unterliegt, er wird erzählt, existiert weder präsprachlich noch prädiskursiv.58 Ein

57 Anna Bramwell: »›Blut und Boden‹«, in: Étienne François/Hagen Schulz (Hg.): Deutsche Erinnerungsorte Bd. 3, München 2003, 380-391, 383. 58 Zur narrativen Raumproduktion vgl. B. Anderson: Die Erfindung der Nation, 171-176.

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wie auch immer gearteter Naturraum geht dem sprachlichen und/oder bildlichen nicht voraus, sondern wird durch ihn entworfen, geprägt, inszeniert als eine Projektionsfläche für Identifikationsprozesse. Ohne die Bildunterschrift »Ostpreußen« wäre Ostpreußen nicht erkennbar, zugleich ist eben dieses Erkennen ein Verkennen, nicht nur weil in Litauen gedreht wurde. Der ostpreußische Raum ist eine Imago, ein Bild und zugleich eine Einbildung, das als kollektives Objekt des Imaginären umso wirkmächtiger geworden ist, je häufiger es wieder erzählt, je häufiger es reproduziert wurde. Zur Reproduktion des ostpreußischen Raumes gehört im Kontext von Flucht und Vertreibung unverzichtbar die Inszenierung der verschneiten Landschaft als feindliche Naturgewalt, deren heulendem Wind und »Eiseskälte« die Fliehenden ausgeliefert sind. In der filmischen Bildkomposition werden sie zu winzigen, dunklen Gestalten vor grauem Firmament, als Individuen unerkennbar. Als letzte Zeichen der Kultur ragen die Kopfweiden aus dem Schnee hervor, das Weiß des Schnees wird zur idealen Projektionsfläche; der Schnee verwandelt den nutzbar gemachten Raum der Sesshaften in den der Nomaden, der Flüchtenden. Die Kriegsmaschine entwickelt sich als Zivilisation auslöschendes Naturereignis: Panzer der Roten Armee durchbrechen die Alleen, die Ordnungen im Raum; die symmetrischen Anlagen des Gutshauses fallen den Panzerketten zum Opfer, der ostpreußischen Raumidylle, dieser agrarischen Utopie, wird ein brutales Endegesetzt. Unter dem Schnee scheint zugleich ein gesellschaftliches Gefüge begraben zu werden, dessen feudalistische Strukturen denen einer egalitären Notgemeinschaft weichen. Die Fliehenden besetzen den Schwellenort des Dazwischen, der nach Victor Turner durch Dunkelheit, Wildnis und Tod gekennzeichnet ist59. Mit Turner werden die Flüchtlinge lesbar als Schwellenwesen, die ihren angestammten Platz in der gesellschaftlichen Ordnung verloren und noch keinen neuen gefunden haben. Sie haben keinen Rang, kein Eigentum, das auf eine Position hindeuten würde, Hierarchien sind in Auflösung begriffen. Ihr Schicksal ertragen die Schwellenwesen in Demut und Passivität.60 Sie nehmen »einen Augenblick in und außerhalb der Zeit«61

59 Victor Turner: Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur, Nachw. v. Eugen Rochberg-Halton, Frankfurt a. M./New York 1989, 95. 60 Vgl. ebd.

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ein und sie besetzen als Flüchtende, so ließe sich ergänzen, einen Transitraum, der eigenen Regeln unterworfen ist. Turner spricht von der communitas, der Gesellschaft Gleicher, deren Mitglieder sich der Autorität der Älteren unterstellen, da ein klares ›Unten und Oben‹ fehle. In Die Flucht kommt Lena – und damit doch wieder der Hierarchiehöchsten, nicht der Ältesten – die Aufgabe der guten Hirtin zu, die ihre Herde sicher in den Westen bringen muss62. Als Lena das Gesinde zum Aufbruch drängt, spielt sie ein letztes Mal die Karte der Herrschaft aus: »Das ist ein Befehl.« Danach wird nur noch an den Verstand appelliert, unangemessenes Verhalten ist zum Schaden der Einzelnen. Ihre privilegierte Stellung nutzt Lena nicht länger für eigene Privatinteressen, sondern stellt sie in den Dienst der Gemeinschaft, z.B. als sie den Heimatlosen einen Übernachtungsplatz allein durch Nennung ihres Namens verschaffen kann.63 »Das in den meisten Formen des Schwellenzustands aufkommende Gefühl der Humanität erhält einen mystischen Charakter», schreibt Turner. » […] man bringt diese Übergangsphase mit dem Glauben an die Macht schützender und strafender Wesen oder Mächte göttlichen und übermenschlichen Ursprungs in Beziehung«64. Entsprechend viel wird auf der Flucht gebetet; in Not und Tod sind alle gleich, der Treck wird zur Utopie einer Gemeinschaft Gleichgestellter. Die Idee der gesellschaftlichen Gleichheit gilt gemeinhin als eine der Französischen Revolution, folgerichtig ist es der Kriegsgefangene François, der noch vor der Flucht erklärt: »Ich bin kein Knecht, kein preußischer Sklave. Bei uns gibt es das nicht mehr und hier hoffentlich bald auch nicht mehr.« Ein Zufall, dass ausgerechnet der Franzose François zum Fürsprecher von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit wird? Wohl kaum. Der Film wiederholt ein altbekanntes Erklärungsmuster für die Ursachen des Nationalsozialismus: Preußen als Träger von Militarismus, politischer Reaktion und Obrigkeitshörigkeit habe den Nationalsozialisten erst den Boden

61 Ebd. 96. 62 Der Treck kann mit Hobsbawm als Schwarm gekennzeichnet werden, der aus Freiwilligen besteht und ohne Befehle auskommt: Rüdiger Baron von Gernstorff muss sich seinen Tee selber kochen. Vgl. Zygmunt Baumann: Gemeinschaften. Auf der Suche nach Sicherheit in einer bedrohlichen Welt, Frankfurt a. M. 2009, 15. 63 Vgl. V. Turner: Das Ritual, 103. 64 Ebd. 104.

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geebnet. »Wir haben uns gemein gemacht mit ihnen«, sagt Lenas Vater als Vertreter des preußischen Adels. Obgleich Preußen bereits 1871 mit der Reichsgründung im Deutschen Reich aufgeht, obwohl schon Reichskanzler Franz von Papen 1932 die letzte preußische Landesregierung absetzt, beschließt der Alliierte Kontrollrat 1947 in Gesetz Nr. 46 formell juristisch Preußens Ende, »erfüllt von dem Wunsche, die weitere Wiederherstellung des politischen Lebens in Deutschland auf demokratischer Grundlage zu sichern«.65 Preußens Untergang wird zur Voraussetzung, mit der Gründung der Bundesrepublik 1949 einen demokratischen deutschen Staat zu etablieren. Dass die Flucht des Mahlenbergschen Trecks in Bayern endet, der für Preußen größtmöglichen Fremde, verwundert vor diesem Hintergrund nicht, sind die Bayern doch, wie Franz Schöningh 1945 in der Süddeutschen Zeitung konstatiert, (im Gegensatz zu den Preußen) bereits »im Wesen demokratisch«66. Ferner müsse der »Albdruck des großen preußischen Blocks zerschlagen«67 werden, um den Weg frei zu machen für eine föderalistische Demokratie. Preußen per Gesetz zu negieren, obgleich 1947 die Oder-Neisse-Linie bereits als neue deutsche Ostgrenze fungierte, alle preußischen Gebiete also nicht länger deutsch waren, ist als Versuch interpretierbar, Preußen als Projektionsfläche der deutschen Nation zu zerstören, um das Imaginäre des Nationalen mit neuen Bildern besetzen zu können. Der Film Die Flucht zitiert diesen Teil des bundesrepublikanischen Gründungsmythos: In Bayern angekommen ist die feudale Gesellschaftsordnung Ostpreußens durch die gemeinschaftliche Erfahrung der Flucht beendet. Im trauten Miteinander wird das Geschirr im Fluss gewaschen, Läuse haben ohne Rücksicht auf alte Ränge die Köpfe befallen, Lena reitet dem Treck nicht länger voran. Die ›Wildnis‹ des Schwellenzustandes68 kehrt sich um in sonnige Maiidylle, gelbe Rapsfelder unter blauem Himmel bestimmen das Bild. Erst die Flucht hat das ermöglicht, was Anderson für die Nation konstatiert, die Entstehung einer Gemeinschaft »unabhängig von realer Ungleichheit und Ausbeutung als ›kameradschaftlicher‹ Verbund von Glei-

65 http://www.verfassungen.de/de/de45-49/kr-gesetz46.htm (01.09.2009). 66 Schöningh, Franz: »Löst Preußen auf! Bemerkungen zum deutschen Föderalismus«, in: Süddeutsche Zeitung 23.10.1945, 2. 67 Ebd. 68 Vgl. V. Turner: Das Ritual, 95.

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chen«69. Ein letztes Bisschen Preußen verkörpert Babettes Sohn, ein unverbesserlicher Hitler-Junge, der vom Nationalsozialismus nicht zu lassen vermag (»Wir waren ihn nicht wert, den Führer!«) und der den preußischsten aller Namen trägt: Fritz.

III »DIE STUNDE DER FRAUEN« DAS ÜBERLEBEN DER UNSCHULD Der ostpreußische »Way of Life«70, maßgeblich sein patriarchales Gefüge wird durch die Flucht in den Grundfesten erschüttert, wie der Film plakativ herausstellt. »Es ist die Stunde der Frauen«, erklärt Lenas Vater, bevor er sich erschießt. Der Krieg, so suggeriert der Film, ist die Sache der Männer, während den Frauen das Aufräumen zukommt. Von den Kriegsgefangenen abgesehen sind die männlichen Figuren des Films entweder Nazis oder Mitläufer, Verbrecher, Feiglinge, grausam und unbelehrbar. Aus einer »siegreichen Armee ist nur ein Haufen rüpelhafter Männer übrig [geblieben], weil alle Guten gestorben sind«, meint Baronin Gernstorff und wiederholt damit ein Hitler-Wort, nach dem 1945 alle Guten gefallen und nur die »Minderwertigen« noch am Leben seien71. Übrig bleiben im Film in erster Linie Frauen und Kinder. Diese Figuren werden mit einigen wenigen Ausnahmen der unschuldigen Zivilbevölkerung zugeordnet, die sich nicht aktiv an den Gräueln der Nationalsozialisten und des Zweiten Weltkrieges beteiligt hat. Psychoanalytisch gesprochen: Sie verlassen ihren Ort am Rand der symbolischen Ordnung nicht, sie bleiben von einer aktiven Teilhabe am Bereich der Kultur ausgeschlossen, ihre Aufgaben sind Reproduktion und unmittelbare Daseinsvorsorge als Stütze der männlichen Ordnung. Zwar ist Lena schon vor der Flucht verantwortlich für die Geschicke des Gutes, doch zu einer sprachlich gefassten ›Staffelübergabe‹ zwischen Vater und Tochter kommt es nicht. Erst kurz bevor sich der alte Gutsherr erschießt, überträgt er Lena die Verantwortung für die Gutsangehörigen mit dem to-

69 B. Anderson: Die Erfindung der Nation, 17. 70 S. Žižek: »Genieße Deine Nation wie Dich selbst«, 137. 71 Zit. n. Helmut Kistler: »Der Zusammenbruch des Dritten Reiches«, in: Bundeszentrale für Politische Bildung http://www.bpb.de/popup/popup_druckversion. html?guid=K7C3XG, (31.08.2009).

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pisch gewordenen Satz »Es ist die Stunde der Frauen.« Mit der Verantwortung übernimmt Lena die symbolische Sprechposition des Phallus, die sie innehat, bis der Treck Bayern erreicht. Die Emanzipation der weiblichen Figuren ist indes keine freiwillige, sondern die notgedrungene in einer Gemeinschaft, der die Männer abhanden gekommen sind. Die Aussage des Grafen »Es ist die Stunde der Frauen« wird zum Diktat, das für die lethargisch-depressive Baronin Gernstorff jedoch die eigene Rettung bedeutet. Unter der Last der Verantwortung schwört sie dem Morphium ab und wird zur tragenden Stütze der Treckenden. Ihr Phallusverlust, im Text figuriert in dem Verlust zweier Söhne,72 wird ausgeglichen durch eine aktive Position in der symbolischen Ordnung. Zum Schluss des Filmes, nachdem der letzte ihr verbliebene Sohn Heinrich verstoßen wurde, hat sich die Baronin eines verwaisten Jungen gleich einem Ziehsohn angenommen, Hand in Hand gehen die beiden im Treck mit. Die Emanzipation der Baronin ist folglich lesbar als eine von ihrer gesellschaftlichen Position als passiver Gutsherrin – die mit keinerlei Arbeit beauftragt war – aber mitnichten als eine Emanzipation von ihrer weiblichen Geschlechterrolle, deren Wert traditionell über die Existenz von (bevorzugt männlichen) Kindern bestimmt wird. Es zeigt sich jedoch, dass die alten Familienbande, die auf einer

72 Nach Freud ist die Geburt eines männlichen Kindes die einzige Chance der Frau, sich den Phallus symbolisch anzueignen, als Ersatz für den fehlenden Penis. Das Dreiecksverhältnis zwischen den Eltern Baron und Baronin von Gernstorff und ihrem Sohn Ferdinand liest sich wie aus einem psychoanalytischen Lehrbuch und sei an dieser Stelle zumindest kurz umrissen: Die Beziehung von Mutter und Sohn ist geprägt von Zärtlichkeit und dem Austausch von Küssen, es ist eine sexualisierte Beziehung, in der sich die Beteiligten als jeweils sexuell Anderes setzen. Entsprechend groß ist die Feindseligkeit zwischen Vater und Sohn, der dem Gesetz des Vaters in den Selbstmord entflieht. Ferdinand gelingt es nicht, sich als Subjekt zu entwerfen, er bleibt ein Objekt seiner Eltern und weigert sich durch seinen Suizid, länger an der symbolischen Ordnung, dem Krieg, teilzunehmen, vor dem ihm seine Mutter (getreu der symbiotischen Mutter-Kind-Dyade) bewahren wollte und in den ihn sein Vater geschickt hatte. Vgl. Sigmund Freud: Der Untergang des Ödipuskomplex (= Studienausgabe, Bd. 5: Sexualleben), Frankfurt a. M. 1972, 243-251, 246f. Vgl. auch Ders.: Einige psychische Folgen des anatomischen Geschlechtsunterschiedes (= Studienausgabe, Bd. 5: Sexualleben), Frankfurt a. M. 1972, 254-266, 262f.

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Blutsverwandtschaft basierten, durch neue abgelöst werden. Die nationalsozialistische Idee von der Abstammungsgemeinschaft hat, so suggeriert der Film, ausgedient. Die Rede von der »Stunde der Frauen« ist nahezu allen Flucht- und Vertreibungsliteraturen explizit oder implizit inhärent, allen voran in Krockows Die Stunde der Frauen73, das 2007, 20 Jahre nach dem Erstdruck, in der 16. Auflage vorliegt. Die populärwissenschaftliche Studie des ZDF-Historikers Guido Knopp widmet der der »Stunde der Frauen« ein eigenes Kapitel. Etwas weniger explizit findet sich der Topos wieder in Brückners Poenichen-Trilogie74 oder in autobiographischen Texten wie Marion Gräfin Dönhoffs Namen, die keiner mehr nennt75. Zur Geschichte von Flucht und Vertreibung gehört auch die der Vergewaltigungen durch Soldaten der Roten Armee, deren Opfer im Film Babette und Frau Meisner werden. Dabei handelt es sich ausgerechnet um die Frauenfiguren, die für die Zuschauerin sichtbar schuldig werden: Babette ist eine glühende Hitler-Anhängerin, Frau Meisner versagt den Kriegsgefangenen angemessene Essensportionen. Der wie die Rede von der »Stunde der Frauen« Topos gewordene Satz »Frau, komm« fällt auch im Film, der von den Vergewaltigungen aber kaum etwas zeigt, sie im Bilddunkel geschehen

73 Christian Graf von Krockow: Die Stunde der Frauen. Bericht aus Pommern 1944 bis 1947, München 162007. 74 Christine Brückner: Jauche und Levkojen (1975) / Nirgendwo ist Poenichen (1977) / Die Quints (1985): Die Poenichen-Trilogie, Berlin 62003. Die Jahresangaben der Erstausgaben zeigen einmal mehr, dass die Geschichte von Flucht und Vertreibung bereits Jahrzehnte vor Grass’ Im Krebsgang mit großer Leserresonanz erzählt worden ist. 75 Marion Gräfin Dönhoff: Namen, die keiner mehr nennt. Ostpreußen – Menschen und Geschichten, München 291998. Überhaupt hat die Figur der Lena von Mahlenberg Züge der couragierten Gräfin, die dem Treck der Dönhoffs von Ostpreußen nach Westen ebenfalls auf einem Fuchs vorneweggeritten ist, nachdem sie zuvor für die Leitung des familiären Gutes verantwortlich war. Dass es sich bei der Autorin der Romanvorlage zum Film um Dönhoffs Großnichte, Tatjana Gräfin Dönhoff, handelt, verstärkt den Eindruck, die Figur Lena von Mahlenberg sei eine Anleihe an den Menschen Marion Dönhoff, was der Fiktion den Anschein von Authentizität verleiht. Vgl. Tatjana Gräfin Dönhoff/Gabriela Sperl: Die Flucht, Berlin 2007.

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lässt und gnädig früh abblendet – den Schein des Unsagbaren, Undarstellbaren aufrecht erhaltend. Die russischen Soldaten, die ansonsten im Film seltsam abwesend und stets anonym bleiben, begehen ihre Vergewaltigungen unter den Augen ihrer Befehlshaber, brutal, saufend, um sich schießend, erbarmungslos. Nicht wegen der Vergewaltigung, sondern wegen des unnützen Verbrauchs von Munition wird einer von ihnen standrechtlich erschossen. Das Genießen der russischen Anderen, ihr »Exzess«, wie Žižek schreibt76, ist herausgestellt, das Bild vom primitiven ›sowjetischen Untermenschen‹ – in der entsprechenden Filmszene auf seine tierischen Triebe reduziert, gutturale Laute ausstoßend – bleibt ungebrochen.77 Die Eroberung von Feindesland wird über den Körper der Frau ausgetragen, der die Grenzen des nationalen Kollektivs symbolisiert.78 Die Vergewaltigungen werden lesbar als Markierungspraktiken und als Versuche, sich das nationale Ding (scheinbar figuriert im Frauenkörper) der deutschen Anderen anzueignen, die Feinde um ihr Genießen zu bringen. »Die Stunde der Frauen« – das meint nichts anderes, als dass es die Frauen gewesen sind, die in Abwesenheit der Männer für das Überleben zuständig und zugleich die Opfer der Besatzer waren. Die Wendung erinnert an die Trümmerfrauen der zerbombten deutschen Großstädte, deren Arbeit erst den Wiederaufbau und damit das Wirtschaftswunder ermöglichte. Der Neuanfang in der vermeintlichen ›Stunde Null‹ liegt in den Händen der Frauen. Auch das ist Teil des Gründungsmythos, den die Bundesrepublik von sich erzählt und der im Film wiederholt wird, nachdem alle Männerfiguren gestorben oder verschwunden sind. Die weibliche Hauptfigur, Lena, führt die ihr anvertrauten Menschen zu einem Neubeginn im Westen – »Ohne sie keine Hoffnung!« weiß Babette. Lenas (politische) Unschuld wird unterstrichen durch die Ikonographie des Films: Den Kopf madonnengleich in einen grau-blauen Schal gehüllt führt Lena den Treck an. Sie, die eigentliche Magdalena heißt, gleicht ihrer biblischen Namensvetterin Maria Magdalena nicht nur als Führungspersönlichkeit und Hoffnungsträgerin, sondern ist wie diese inszeniert als eine reuige Sünderin. Zu keinem Zeitpunkt beklagt Lena ihren Verlust an Heim und Hof, vielmehr wird das Ver-

76 Vgl. S. Žižek: »Genieße Deine Nation wie Dich selbst«, 137. 77 Positiv gekennzeichnet ist der russische Kriegsgefangene Nikolai, dessen Kinderliebe allerdings einem Stereotyp vom Russen verhaftet bleibt. 78 Vgl. Nira Yuval-Davis: Gender & Nation, London/New Delih 1997, 22f.

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lorene als gerechte Strafe inszeniert. Diese Lesart wird gestützt durch die Ernte-Szene des Films, in der der kommende Untergang Ostpreußens vorweggenommen wird: Die Ernte bedeutet im Alten Testament Freudenzeit oder drohendes Ende (vgl. AT, 3. Mose 26). Am Tag der Ernte, des Gerichts, wird Gott das Unkraut vom Weizen trennen (vgl. NT, Mt 3,12). Der Film kündigt ein Weltgericht an bei unheilvoller Musik, dunkel vertrockneten Blättern im Wind und düster verhangenem Himmel. Den Deutschen wird der Prozess gemacht, ihn überleben im Film körperlich unbeschadet die Unschuldigen, die Frauen. Damit gewinnt auch der Neuanfang nach Kriegsende, die Gründung der Bundesrepublik, an Unschuld, sind die politisch Vorbelasteten doch tot, bestraft, verschwunden.

IV OSTPREUSSEN UND DIE BUNDESREPUBLIK Der Rückgriff auf Bilder und Motive des Christentums, der vielen Fluchtund Vertreibungstexten inhärent ist, führt zu einer mythischen Aufwertung des Erzählten, die sagt: Hier hat sich keine Flucht, nein, ein »Exodus«79 hat sich ereignet. In der Bibel bezeichnet »Exodus« den Auszug der in Ägypten versklavten Juden durch die Wüste Sinai. Ein Vergleich der deutschen fliehenden Zivilbevölkerung 1945 mit den Juden erscheint im Schatten des Holocausts und seiner Todesmärsche als schlichtweg geschmacklos, lädt die Ereignisse aber mit Bedeutung auf, indem er ihnen eine religiöse Dimension verleiht. Mythen stiften Sinn, umso stärker dann, wenn kein Sinn erkennbar ist und sich weltliches Geschehen dem Verstand entzieht: »Vielleicht steckt in all dem doch ein Sinn?« sagt Babette zu sich selbst. Aber

79 In vielen Texten zu Flucht- und Vertreibung ist von einem »Exodus« die Rede. Vgl. z.B. Andreas Kossert: Damals in Ostpreußen. Der Untergang einer deutschen Provinz, München 2008, 154-162. Vgl. auch die Inhaltsbeschreibung auf dem Buchrücken von Guido Kopps Die große Flucht (vgl. Fußnote 26), vgl. auch Hans Ulrich Wehler: »Einleitung«, in Aust/Burgdorff, Die Flucht, 10. Titelstiftend bei Hans-Ulrich Engel: 40 Jahre nach Flucht und Vertreibung…als der Exodus begann. Augenzeugen berichten, Düsseldorf 1985. Vgl. auch Ulrike Bontert: »Der deutsche Exodus in den Augen der polnischen Repatriierten«, in: Elke Mehnert (Hg.): Landschaften der Erinnerung: Flucht und Vertreibung aus deutscher, polnischer und tschechischer Sicht, Frankfurt a.M. 2001, 238-241.

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Mythen tun noch mehr, sie tragen mit ihren Erklärungsmustern zur Begründung und Stärkung kollektiver, in diesem Fall nationaler, Identität bei, meint Kirsten Prinz.80 Nach Prinz, der ich mich hiermit anschließe, ermöglichen religiöse Motive in Flucht- und Vertreibungstexten eine Lesart, die von einer Analyse der historischen Ereignisse ebenso absieht wie von der Frage nach Ursache und Wirkung, indem sie auf das metaphysische Abstraktionsangebot eingeht, das die Texte anbieten. »Eine Nation existiert nur so lange, wie ihr spezifisches Genießen in einem Set sozialer Praktiken materialisiert und in nationale Mythen übertragen wird, die diese Praktiken strukturieren« 81, heißt es bei Žižek. Die Geschichte von Flucht und Vertreibung, wie sie Die Flucht erzählt, trägt alle Züge eines Mythos: Der narrative Kern, der sich aus gängigen Versatzstücken anderer Flucht- und Vertreibungstexte speist, weist die hochgradige Beständigkeit bei marginaler Variationsfähigkeit auf, die Hans Blumenberg für den Mythos geltend gemacht hat82. Klischee gewordene Bilder wie die von der ostpreußischen Raumidylle und ihrer tiefgläubigen BewohnerInnen werden bedient, stereotype Figuren wie der Hitlerjunge Fritz, der kinderliebe Nikolai oder der charmant-sozialistische Franzose François inszeniert. Kein Bild, das Teil des Mythos geworden ist, wird ausgelassen: Vergewaltigungen deutscher Frauen, aufgehängte Deserteure der Wehrmacht, Tieffliegerbeschuss des Trecks auf dem zugefrorenen Haff, der letzte Blick zurück auf die Heimat, der Selbstmord der Dagebliebenen – alles wird im Film zitiert. Der »Reiz der Erprobung neuer und eigener Mittel der Darbietung«83 besteht aus der Liebesgeschichte zwischen Lena und dem Kriegsgefangenen François, die trotz aller Widrigkeiten ein glückliches Ende nimmt, als sich die Liebenden in Bayern wiedersehen. Zu diesem Zeitpunkt ist alle Schuld gesühnt: Die Männer, die im Film das »einseitig männliche Prinzip«84 von Krieg und

80 Vgl. Kirsten Prinz: »›Von Erinnerung beklebt‹. Fluchtdarstellungen und Mythos am Beispiel journalistischer Texte und Günter Grass‹ ›Im Krebsgang‹«, in: Annette u. Linda Simonis (Hg.): Mythen in Kunst und Literatur. Tradition und kulturelle Repräsentation, Köln/Weimar/Wien 2004, 140-159, 143. 81 S. Žižek: »Genieße Deine Nation wie Dich selbst«, 137. 82 Vgl. Hans Blumenberg: »Arbeit am Mythos«, in: Wilfried Barner et. al.(Hg.), Texte zur modernen Mythentheorie, Stuttgart 2003, 194-200, 194. 83 Ebd. 84 C. Krockow: Die Stunde der Frauen, S. 9.

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Kampf vertreten, sind entweder tot oder verschwunden.85 Baron Gernstorff, sein Sohn Ferdinand und Graf Mahlenberg sterben durch eigene Hand, alle ihrer persönlichen Schuld eingedenk. »Der Kreislauf der Schuld, jetzt holt er mich ein«, sagt Baron Gernstorff, bevor er sich mit einer Viehkette erhängt. Mit den ostpreußischen Patriarchen stirbt Preußen. Mit der Flucht und Vertreibung seiner Bewohner hört Preußen, wie gezeigt werden konnte, als Träger von Militarismus und Konservatismus auf zu existieren. Der Film liefert Bilder, über die sich ein neues nationales Imaginäres entfalten kann, Bilder, die von Gemeinschaft, Gleichheit und Frieden zwischen bayrischen Rapsfeldern geprägt sind. In Die Flucht überleben die ›guten Deutschen‹, die als unschuldige, weil zivile Frauen und Kinder, in die Mühlen des Krieges geraten, und die so zur Folie einer positiven Imagination von den ›guten Deutschen‹ werden. Die zwei Frauenfiguren, an denen nationalsozialistische Sympathien vorgeführt werden, bezahlen dafür, indem sie vergewaltigt werden. Die Leiden der Flüchtenden sind eine Strafe für die Sünden der Anderen, der Männer, der Nazis - und Erlösung gibt es nur für die, die sich Jesus Christus anschließen (vgl. NT, Kol 1,14): » […] und vergib uns unsere Schuld«, beten die Treckenden. Hinter diesem Gemisch aus Schuld und Vergebung, aus Strafe und Erlösung von der Sünde durch Jesus Christus, steckt die Vorstellung, die »Schuld der Deutschen« sei im Osten bezahlt worden86. Somit werden die Ereignisse von Flucht und Vertreibung mit Hilfe mythischer Rhetorik sinnstiftend für ein Kollektiv. Um daran glauben zu können, dass eine Rechnung beglichen wurde, müssen die verloren gegangenen Ostgebiete, ihre Landschaften und Traditionen, die untergegangenen Lebensweisen etc. immer wieder erinnert werden, in

85 Einer derjenigen, die verschwinden, ist Heinrich: Noch wenige Tage vor Kriegsende verurteilt er drei Deserteure zum Tod. Als jemand, der sich stets treu an geltendes Recht gehalten hat, ist er zwar kein überzeugter Nazi, aber ein Nutznießer des Systems: »Wenn ich eines Tages Richter bin am Obersten Gericht, wirst du mich verstehen!« sagt er zu Lena und steht damit stellvertretend für die große Gruppe der Juristen, die dem Nationalsozialismus wohlfällig waren und doch die Entnazifizierungsprogramme der Alliierten unbeschadet überstanden. Damit bricht der Film das Bild von den blühenden Landschaften im Westen, der Neuanfang ist nur ein scheinbarer. 86 Vgl. z.B. Heinrich Windelen: Texte zur Deutschlandpolitik. Reihe III, Bd. 2, Bonn 1985, 133.

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Kunst, Literatur und Vertriebenenverbänden: Wir, die Deutschen, haben für unsere Schuld, die im Film eigentümlich abstrakt bleibt, bezahlt. Die Anderen haben uns zur Strafe um unser Genießen gebracht – auch wenn wir das, um das wir gebracht wurden, nie wirklich besessen haben.87 Damit wird jede Arbeit am Mythos von Flucht und Vertreibung zur Katharsis. Über den Mythos wird das Begehren der Deutschen nach einem positiven nationalen Selbstentwurf verhandelt. Die Schuldfrage wird im Film ausgelagert, nämlich François übertragen, der den amerikanischen Besatzern helfen will, »die Schuldigen von den Unschuldigen zu unterscheiden«. Worin die ›deutsche Schuld‹ nun eigentlich besteht, ist unklar. Der Holocaust bleibt unerwähnt, der deutsche Vernichtungskrieg im Osten Europas verliert sich in vagen Andeutungen – im Mythos wird jedes Erklärungsbedürfnis stillgestellt88. Die Geschichte von Flucht und Vertreibung gehört zur Neuerfindung der deutschen Nation, die für die Gründung der Bundesrepublik nötig war. Als Mythos ist sie noch heute identitätsstiftend, weil sich in nationalen Mythen das Genießen eines Gemeinwesens organisiert89: Gemeinschaften legitimieren sich durch ihre Gründungsgeschichten. Diese stiften Sinn, bieten Orientierungen und Perspektivierungen, mit deren Hilfe die Zufälle historischer Verläufe wegerzählt und die Vielschichtigkeiten ökonomischer, sozialer und Prozesse reduziert werden. Damit bedienen diese Erzählungen zum einen die aufklärerischen Seiten aller Mythen: das Bedürfnis nach einem festen Platz in der Welt, nach ihrer Durchdringung und Verarbeitung. Zum anderen verklären sie, weil sie vorschnelle gedankliche Verbindungen anbieten. Die an Brüchen reiche deutsche Geschichte weist gerade darum ein verstärktes Bedürfnis nach Mythen auf. So werden historische Ereignisse umgeschrieben in der Absicht, die offenen Wunden zu heilen, die nie gewesene Einheit zu beschwören oder zu stiften. Solche Gründungsmythen kompensieren einen Mangel an ›selbstverständlicher‹ – nationaler – Identität.

87 Vgl. S. Žižek: »Genieße Deine Nation wie Dich selbst«, 138. 88 Vgl. H. Blumenberg: »Arbeit am Mythos«, 216. 89 Vgl. S. Žižek: »Genieße Deine Nation wie Dich selbst«, 137. 90 Matteo Galli/Heinz-Peter Preusser: »Deutsche Gründungsmythen. Allegorien und Genealogien nationaler Identität. Eine Einleitung«, in: Dies. (Hg.), Deut-

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In psychoanalytischer Terminologie meint das, dass es sich bei der Geschichte von Flucht und Vertreibung als Teil des bundesrepublikanischen Gründungsmythos um ein Phantasma handelt, das den Mangel verschleiert und als Substitut des nationalen Dings eine imaginäre Einheit91 erzeugt. Wenn Žižek Recht hat und eine Nation nur so lange existiert, wie ihr Genießen in nationale Mythen übertragen wird92, muss der Mythos von Flucht und Vertreibung weiterhin erzählt werden. Folgerichtig erlebt der Mythos gerade jetzt eine kulturelle Hochkonjunktur – in einer Zeit, in der die den Mythos Erzählenden, die Zeitzeugen, aussterben. Dass sich ein Film in besonderer Weise eignet, Sinn und Einheit zu stiften, ist nicht zuletzt begründet im Blick, den die Kamera vorgibt und mit dem sich die Zuschauer/innen unentrinnbar identifizieren müssen, dem Diktat der der allzu eingängigen Bilder ausgeliefert.

sche Gründungsmythen (= Jahrbuch Literatur und Politik, Band 25), Heidelberg 2008, 7-20, 7. 91 Einheit im Sinne von gesamtdeutscher Einheit stiftet der Film Die Flucht nicht zuletzt über seine Besetzungsliste, die neben namenhaften westdeutschen Filmgrößen auch die in Ostdeutschland sozialisierten DarstellerInnen Gabriela Maria Schmeide und Winfried Glatzeder führt. Winfried Glatzeder war seit dem Film Die Legende von Paul und Paula einer der gefragtesten Schauspieler der DDR. Dass Glatzeder in Die Flucht nur noch zum Diener Dietrich taugt, der seinem Herrn auch im Tod nicht von der Seite weicht und im Film weitestgehend stumm bleibt, erscheint vielsagend in Bezug auf das nationale Ding der Deutschen fast 20 Jahre nach der Wiedervereinigung. – Diesen Hinweis verdanke ich Christina Riesenweber. 92 Vgl. S. Žižek: »Genieße Deine Nation wie Dich selbst«, 136f.

Gnade vor Recht? Eine Lektüre der Begnadigungsdebatte um Christian Klar STEPHAN BERGHAUS    Im Mai 2007 entschied sich Bundespräsident Köhler gegen eine vorzeitige Begnadigung des wegen seiner RAF-Tätigkeit seit vierundzwanzig Jahren einsitzenden Christian Klar. Vorausgegangen war eine ausgesprochen emotional und polarisierend geführte politische und publizistische Debatte über die Legitimität einer solchen, in der Autorität des Bundespräsidenten liegenden Entscheidung1. Im Verlauf der Diskussion sprachen sich Angehörige von RAF-Opfern sowohl für (der Sohn Siegfried Bubacks) als auch gegen eine vorzeitige Freilassung aus (die Witwe Hanns Martin Schleyers), während die politische Debatte zunehmend um die Frage kreiste, inwiefern eine Begnadigung gerechtfertigt sei oder dem Amt des Bundespräsidenten und dem Rechtsstaat insgesamt schaden könnte. Aus einem bis dahin lediglich politisch-formalen Akt war damit eine Situation von ›nationaler Bedeutung‹ geworden, in der die anstehende Entscheidung einen nicht näher definierten nationalen Konsens zu gefährden drohte. Wie lässt sich die breite und mit viel Schärfe geführte Debatte in ihrer Dynamik erklären? Wurden, so ließe sich fragen, durch die spezifischen Umstände kollektive Vorstellungen von ›Nation‹ und ›Einheit‹ aufgerufen 1

Für eine detaillierte Analyse der medialen Berichterstattung vgl.: Marina Deiß: Gnade für Gnadenlose? 30 Jahre deutscher Herbst und die »Begnadigungsdebatte« in den Medien, Marburg 2008. Der Titel nimmt Bezug auf Sabine Christiansens Talkshow in der ARD vom 27.1.2008 zum Thema: »Gnade für Gnadenlose – Zweite Chance für Mörder?«.

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und erneut zur Verhandlung gestellt? Können die z.T. heftigen Reaktionen der Beteiligten mit dem drohenden Verlust kollektiver Erzählungen verständlich gemacht werden? Ausgehend von diesen Überlegungen soll im Folgenden der Frage nachgegangen werden, was genau das Skandalöse der Begnadigung im Hinblick auf ihren ›nationalen Gehalt‹ ausgemacht hätte. Dabei handelt es sich beim Begnadigungsrecht des Bundespräsidenten zunächst um ein juristisches, auf die Struktur des Rechtsstaats bezogenes Institut. In den Debatten um eine mögliche Begnadigung zeigt sich allerdings, dass dieser, an sich abstrakt-formale Aspekt des Rechts nicht zum Anlass genommen wird, um über den Staat, sondern um über die Nation zu sprechen. Die Begnadigung erhält damit eine neue Rahmung. So wird sie zu einem Prüfstein eines noch näher zu bestimmenden Nationalen und aktiviert die entsprechenden Dynamiken. Erst durch diese Perspektivierung kann die Figur der Gnade als Bedrohung für die Einheit der Nation wahrgenommen werden. Dies geschieht, so die These, indem die Gnade die Grundannahmen nationaler Einheitsvorstellungen sichtbar macht und zugleich in Frage stellt. Im Fall der Begnadigung von RAF-Terroristen kommt noch eine weitere Dimension hinzu: mit der Entlassung der letzten inhaftierten Terroristen droht der nationalen Identität ein Außen abhanden zu kommen, dass zeitgeschichtlich von höchster Bedeutung war und diese in bestimmter Hinsicht immer noch zu besitzen scheint, zumindest aus der Perspektive der Akteure in dieser Debatte. Um die Logik des Nationalen nicht zu gefährden stehen, wie die Argumentation im Folgenden zeigen will, zwei wesentliche Vorgehensweisen zur Verfügung. Die eine besteht darin die Gnade schlicht zu verweigern. Als Konsequenz sieht man sich allerdings mit der eigenen ›Gnadenlosigkeit‹ konfrontiert. Die anderen besteht im Versuch, die Gnade als Teil des Nationalen zu integrieren. Dies geschieht, indem sie als erneut als Teil des Rechtsstaats gedeutet und damit in den Bereich rational begründbaren Handelns gerückt wird. In dieser Erklärung geht die paradoxe Struktur der Gnade jedoch nicht auf, so dass sie auch hier die angestrebte Einheit des Nationalen zu sprengen droht. Das Irritationspotential der Gnade lässt sich dabei, so die Argumentation, durch keine der geschilderten Verfahrensweisen auflösen. Erschlossen wird die ›Begnadigungsdebatte‹ in drei Schritten: zunächst werden einige systematische Bedeutungsdimensionen des Gnadenbegriffs im Hinblick auf seine Anwendung und Diskussion im geltenden Recht, d.h.

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im Art. 60, Abs. 2 des Grundgesetzes (Begnadigungsrecht des Bundespräsidenten) beleuchtet. Dabei wird die paradoxe Konstruktion der Gnade als stets neu zu füllender Bereich des (nationalen) Imaginären ausgewiesen. Im Anschluss wird die Funktion der RAF als Bezugshorizont der Debatte skizziert, bevor Christian Klars Grußwort an die Rosa-Luxemburg-Konferenz (veröffentlicht in der Zeitung junge welt am 15.1.2007) und die darauf folgende Diskussion analysiert werden. Hieraus wird eine bislang wenig bedachte Perspektive auf die Entscheidung des Bundespräsidenten zur Verweigerung der Begnadigung entwickelt. Schließlich wird am Beispiel des Romans Das Wochenende2 von Bernhard Schlink vorgeführt, inwiefern die Literatur die Funktion übernimmt, dem nationalen Imaginären ein Gesicht zu verleihen, indem sie das Paradox der Gnade zumindest vorübergehend in eine Erzählung einbindet.  

DER BEGRIFF DER GNADE SYSTEMATISCHE PERSPEKTIVEN Wesentlich für die Semantik des Gnadenbegriffs ist die Verflechtung juristischer-politischer und religiöser Aspekte. Bereits nach römischem Recht stand dem Kaiser das »völlig unbeschränkte Recht zu, einzelne durch Begnadigung (indulgentia) für straffrei zu erklären.«3 Im frühen Mittelalter ist ein herrschaftliches Gnadenrecht bekannt, das sich an das Lehenswesen knüpft. Zugleich gewinnt auch das christliche Gnadenverständnis zunehmend an Bedeutung: »Die christlichen Begriffe der G., Barmherzigkeit und Nächstenliebe nahmen von nun an bestimmenden Einfluss auf die weitere Entwicklung von G.ngewährung und Straferlass, indem eine Durchdringung weltlichen Rechts mit der theologischen Begriffswelt erfolgte.«4 Erst in der Neuzeit wird das Gnadenrecht als ›Majestätsrecht‹ den Gerichten entzogen und ausschließlich in die Hand des Landesherrn gelegt. Dabei wird der öffentliche Charakter der Gnade gestärkt, indem sie nicht mehr nur

2 3

Bernhard Schlink: Das Wochenende, Frankfurt a.M./Wien/Zürich 2008. Andreas Bauer: »Gnade«, in: Albrecht Cordes et al. (Hg.), Handwörterbuch der deutschen Rechtsgeschichte (HRG), Berlin 2011, Bd. II, Spalte 424-430, 424.

4

Ebd.

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vom privaten Interesse des Begnadigenden abhängt, sondern im Sinne der justa causa an bestimmte Voraussetzungen gebunden. Bis in die Gegenwart verbleibt das Begnadigungsrecht fortan beim jeweiligen Landesoberhaupt. In der christlichen Tradition wurde die Gnade in der Vermittlung durch Paulus und Augustinus als ein durch die Menschwerdung Christi ermöglichtes Geschenk Gottes verstanden, »das als feie liebende Zuwendung […] ohne jede menschliche Vorleistung«5 gegeben wird. Im Verlauf des Mittelalters und der frühen Neuzeit etablierte sich jedoch eine Institutionalisierung der Gnade im Ablasshandel, der die Vergebung der Sünden auf eine ökonomische Basis stellte. Erst mit Luthers polemischer Wendung gegen den Ablass und die Gnade als Tauschoption erfolgte die (Wieder-) Einsetzung der Gnade als unbeeinflussbarer göttlicher Akt. Für Luther ist die Gnade eine unverdiente Gabe Gottes. Damit emanzipiert er sie von der Bindung an kirchliche Autorität und betont die Souveränität Gottes. Die staatliche oder kirchliche Macht kann demnach nicht, wie im Ablass vorgesehen, die Umwandlung vom Sünder zum Gerechten bewirken (gratia habitualis). Damit geht dem Menschen aber auch seine diesbezügliche Handlungsmöglichkeit verloren, er ist, als prinzipiell Schuldiger, dem Wohlwollen einer übergeordneten göttlichen Instanz ausgeliefert. Er wird zugleich freier von weltlichen Autoritäten und abhängiger von göttlichen. Dieses lutherische Verständnis prägte auch mit die Form der juristischen Gnade, als diese, wie beschrieben, ab Ende des 16. Jahrhunderts nach und nach in die Hände der Landesfürsten überging. Im rechtsphilosophischen Diskurs der Aufklärung (z.B. bei Kant) wurde schließlich vor dem Hintergrund rationaler Gesetzesmaximen verstärkt die Forderung laut, dass Straftäter sich die Gnade verdienen müssen. Das Gnadenrecht wurde dabei als »eine (noch erforderliche) Notwendigkeit infolge inhumaner Gesetzgebung« verstanden. Gänzlich abgeschafft wurde es nur für kurze Zeit während der Französischen Revolution um eine lückenlose Gleichheit vor dem Gesetz zu etablieren: »Das Recht, Gnade zu erweisen, wäre nichts anderes als das Recht, das Gesetz zu brechen: dies darf es nicht geben in einer freien Herrschaftsform, wo das Gesetz für alle gleich sein muß«6. Zeit-

5

Eugen Ruckstuhl: »Gnade III. Neues Testament«, in: Gerhard Müller et al. (HG.), Theologische Realenzyklopädie (TRE), Berlin 2008, Bd. 10, Spalte 1515.

6

Johann Georg Schätzler: Handbuch des Gnadenrechts. Gnade – Amnestie – Bewährung, München 21992, 3.

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gleich gab es aber auch weiterhin Befürworter (z.B. Hegel), für welche »die Begnadigungskompetenz entweder als Zeichen einer ›höheren Gerechtigkeit‹ oder als ein Mittel zur Verwirklichung eines ›besseren‹ Rechts angesehen wurde«.7 Als Privileg des jeweiligen Staatsoberhaupts wurde das Begnadigungsrecht über das Kaiserreich und die Weimarer Republik bis in die bundesrepublikanische Verfassung hinein übernommen, wobei zwischen Landesund Bundesgnadenrecht unterschieden wird8. Mit dem Übergang in das juristische System ist die Begnadigung somit zwar vom göttlichen über den landesherrlichen zu einem im modernen Sinne rechtsstaatlich eingebundenen Akt geworden. Die Traditionen, welche das Gnadenrecht dabei jedoch fortschreibt, führen allerdings – wie die Begnadigung Klars gezeigt hat – bis heute zu Irritationen und Diskussionen. Als wesentliche Bedeutungsstränge lassen sich damit die zwei folgenden festhalten: Zum einen die Vorstellung der Gnade als eines Geschenks, einer Gabe. Dabei wird die Entscheidung zwischen Einbindung bzw. Freistellung von ökonomischen Strukturen essentiell, also die Frage nach dem Gabecharakter oder dem notwendigen ›Verdienen‹ der Gnade. Gerade die ökonomische Dimension als Grundmodell menschlicher Beziehungen scheint das Selbstverständnis westlicher Gesellschaften (in diesem Falle Deutschlands) zu treffen und aktiviert daher, wie die Analyse im Folgenden zeigt, ein nicht unbeträchtliches Bedrohungspotential. Zum anderen erscheint die Gnade als göttliches bzw. als Majestätsrecht, welches in der demokratischen Verfassung der Bundesrepublik auf den Bundespräsidenten übergegangen ist. Hierdurch werden Fragen der Autorität, der lückenlosen Geltung des Rechts sowie der individuellen Handlungsmacht angestoßen. Dass eine Konstruktion wie das Gnadenrecht in einer demokratisch angelegten Verfassung nicht restlos aufgeht, zeigen die aktuellen juristischen Deutungs- und Erklärungsmodelle.

7

Renate Just: Recht und Gnade in Heinrich von Kleists Schaupiel »Prinz Friedrich von Homburg«, Göttingen 1993, 74. Vgl. auch Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts, Hamburg 1995.

8

Vgl. das Kapitel »Gnadenkompetenz« in J.G. Schätzler: Handbuch des Gnadenrechts 18-35.

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GNADE VOR RECHT DER RECHTSFREIE RAUM DES GRUNDGESETZES Auch das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland beinhaltet, wie erwähnt, eine Gnadenregelung, nämlich Art. 60, Abs. 2: Begnadigungsrecht des Bundespräsidenten. Damit ist im zentralen Bezugstext des – gerade in der hier behandelten Debatte intensiv bemühten – Rechtsstaats eine vom Recht legitimierte Konstellation jenseits des Rechts angelegt. Durch Art. 60, Abs 2 wird prinzipiell die Möglichkeit der Gnade bzw. Begnadigung eingeführt. Diese wird zugleich zu einem »Staatsakt«9 erklärt, indem sie an den Bundespräsidenten als ersten Mann im Staat und damit dessen Repräsentanten delegiert wird. Er übt das Begnadigungsrecht aus, d.h. er gewährt im Einzelfall Straftätern Gnade, wenn diese von einem Bundesgericht verurteilt wurden. Ein solcher Akt beruht auf seiner individuellen Entscheidung10 und ist nicht weiter begründungs- oder rechenschaftspflichtig. Es handelt sich also zugleich um einen staatlichen Akt (im Rahmen des Bundespräsidentenamts) und um den Prozess einer persönlichen Entscheidungsfindung. Damit schreibt das Grundgesetz eine nicht mehr juristisch oder ökonomisch begründbare Struktur gesetzlich fest. Dies führt zu einer paradoxen Situation: Die Gemeinschaft, die sich auf den »Rechtsstaat« und damit auf das Grundgesetz als für alle verbindlichen Text beruft, besitzt in ihrem Zentrum – repräsentiert durch den Bundesprä-

9

Deutscher Bundestag – Wissenschaftliche Dienste: Das Begnadigungsrecht des Bundespräsidenten, Nr. 10/07 (15. Februar 2007), http://www.bundestag.de/ wissen/analysen/2007/Das_Begnadigungsrecht_des_Bundespraesidenten.pdf (26.1.2009).

10 »In allen Fällen, vor allem wenn sich der Bundespräsident selbst ein Bild vom Gnadengesuchsteller macht, ist seine höchstpersönliche Entscheidung Ergebnis seiner eigenen Befassung, seiner unmittelbaren Eindrücke und seiner Einschätzungen. Angesichts des höchstpersönlichen Charakters der Gnadenentscheidung kommt es auf seine Überzeugung an.« Stefan Ulrich Pieper: »Das Gnadenrecht des Bundespräsidenten – eine Bestandsaufnahme«, in: Matthias Herdegen et al. (Hg.), Staatsrecht und Politik. Festschrift für Roman Herzog zum 75. Geburtstag, München 2009, 355-377, 359.

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sidenten – eine nicht definierte Leere, einen rechtsfreien Raum11. Eine Erklärung hierfür fällt selbst dem wissenschaftlichen Dienst des Bundestages schwer, der von Gnade als einem »nach herkömmlichem Verständnis nicht auf Recht, sondern auf Gnade im Sinne von Wohlwollen nach rechtlich

11 Bei der Annahme eines rechtsfreien Raums innerhalb eines demokratischen Rechtsstaats liegt natürlich der Begriff der »Ausnahmesituation« von Giorgio Agamben nahe. Meines Erachtens würde dieser aber die gegebene Situation nicht angemessen beschreiben und damit die hier verfolgte Perspektive des Imaginären schwächen. Der Unterschied zu Agambens Konzept liegt dabei im Bezug auf das »nackte Leben«, also die Verfügung über Leben und Tod innerhalb des Lagers. Diese Art von Souveränität besitzt der Bundespräsident nicht und so kann man hier auch nicht von einer Reduzierung auf das »nackte Leben« im Sinne einer Unterscheidung von ›bios‹ und ›zoe‹ sprechen. Im Gegenteil ist die Spannung gerade darin begründet, dass der Inhaftierte ein politisches Subjekt bleibt. Von seiner Anlage her lässt sich Agambens Souveränitätsbegriff daher nicht mit der Position des Bundespräsidenten in Übereinstimmung bringen. Letzterer steht eben nicht, wie bei Agamben, sowohl innerhalb als auch außerhalb der Rechtsordnung, sondern die Rechtsordnung weist ihm einen spezifischen Raum zu, innerhalb dessen er eine bestimmte, nicht mehr an rechtliche Begründung gebundene Entscheidung treffen darf. Analogisierbar erscheint mir daher lediglich, dass die Ausnahmesituation bei Agamben eine »paradoxe Schwelle der Ununterscheidbarkeit errichtet« (Agamben 2002: 28). Sie kann demnach weder als faktische noch als rechtliche Situation beschrieben werden. Gleichzeitig bleiben die rechtliche Norm und die Ausnahmesituation jedoch in Beziehung: letztere wird als Bezugsmodus benötigt. Das heißt also als das, was zwar ausgeschlossen ist, aber zu dem die rechtliche Ordnung in Beziehung bleiben muss, um sich überhaupt als das zu konstituieren, was sie ist. Diese spannungsreiche Figur lässt sich auch in der Begnadigungs-Debatte erkennen. Zu fragen wäre daher, inwiefern die Gnade ebenso wie der Ausnahmezustand als Reflexionsfigur des Souveränen dienen kann. ›Souverän‹ wäre unter dieser Perspektive also zu verstehen als die Position, von der aus man Gnade erteilen kann. Vgl. zur Ausnahmesituation: Giorgio Agamben: Ausnahmezustand, Frankfurt a.M. 2004. Ders.: Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt a.M. 2002.

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nicht geregeltem Ermessen gegründete[n] Staatsakt«12 spricht. Noch problematischer erscheint die Verortung der Gnade innerhalb des Systems der Gewaltenteilung, die entweder »offen gelassen«13 wird oder die sie gänzlich außerhalb des Rechts situiert:  Die rechtliche Einordnung von Gnadenentscheidungen hat das Bundesverfassungsgericht offen gelassen und als mögliche Kategorien den Verzicht, den Befehl und den Dispens angeboten. Zumindest soll sie dem Bereich der Exekutive zuzuordnen sein und einen Eingriff der Exekutive in die rechtsprechende Gewalt darstellen, wie er sonst dem Grundsatz der Gewaltenteilung fremd ist. Überwiegend geht die Literatur jedoch davon aus, dass sich Gnadenentscheidungen jeder rechtlichen Einordnung entziehen. Teilweise wird ihnen sogar jeglicher Rechtscharakter abgesprochen. Zumindest können sie als Akte sui generis bezeichnet werden, welche sich im Bereich zwischen den drei klassischen Gewalten ansiedeln.14 (Hervorh. i. Orig.)

 Auch die Kommentare zum Grundgesetz können nur auf die Strittigkeit der Gnadenentscheidung verweisen. Denn auch wenn sie keine rechtlichen Akte darstellen, sind sie doch zugleich auch nicht bloß Verwaltungsanordnungen:  Streitig ist die Einordnung einer Gnadenentscheidung. Nach wohl hM sind Gnadenentscheidungen keine Rechtsakte mit der Folge, dass sie gerichtlich nicht angefochten werden können. […] Namentlich Strafgnadenentscheidungen, die der Bundespräsident selbst fällt, sind keine Verwaltungsakte, sondern haben staatsleitenden und politischen Charakter.15



12 Deutscher Bundestag – Wissenschaftliche Dienste: Das Begnadigungsrecht des Bundespräsidenten. 13 Ebd. 14 Ebd. 15 Volker Epping/ Christian Hillgruber (Hg.): Beck’scher Online-Kommentar GG, Art. 60, Rn 12-12.1, München, Ed. 8 http://beck-online.beck.de/default.aspx?vp ath=bibdata/komm/BeckOK_VerfR_12/GG/cont/beckok.GG.a60.glB.glll.gl4.ht m (01.10.2010).

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Hier wird bereits auf das Feld des Politischen verwiesen, auf das als ein wesentliches Element bei der Konstruktion von Gemeinschaften im nächsten Abschnitt genauer einzugehen sein wird. Zugleich fällt auf, dass der Begriff der Gnade in der juristischen Rede nicht restlos rationalisierbar ist. Es verbleibt ein »irrationale[s] Element«, auch wenn das Bundesverfassungsgericht dies – freilich in einem Zirkelschluss – aufgrund der demokratischen Verfasstheit des Grundgesetzes als unmöglich konstatiert: Allerdings stellte das Bundesverfassungsgericht fest, dass die Übernahme und Übertragung des Gnadeninstituts durch Weimarer Reichsverfassung und Grundgesetz auf das demokratische Staatsoberhaupt – ohne nähere Umschreibung und Normierung – zur Folge haben müsse [sic!], dass das irrationale Element entfallen sei, weil dieses in einer modernen demokratischen Gesellschaft keinen Platz mehr haben könne.16

Wie das Zitat vorführt, begründet das Bundesverfassungsgericht die rationale Anlage der Gnade mit ihrer Existenz innerhalb einer als rational erachteten Staatsform. Damit wird der Fortbestand des Gnadenrechts in juristischen Begründungstexten letztlich aus sich selbst heraus legitimiert. Rechtsphilosophische Positionen, wie diejenige Gustav Radbruchs, erweitern den Argumentationskontext. So kommt Radbruch zu dem Schluss, dass das Gnadenrecht die unverhohlene Anerkennung der Fragwürdigkeit allen Rechts bedeute. Mit der Gnade verknüpft sich demnach das Akzeptieren der Tatsache, dass diese Welt nicht allein eine Welt des Rechts sei, dass es neben dem Recht noch andere Werte gebe und dass es nötig werden könne, diesen Werten gegen das Recht zur Geltung zu verhelfen17. Auf diese Weise erklärt die Rechtsphilosophie den nicht mehr begründungspflichtigen Raum der Begnadigung mit ihrer gesellschaftlichen, außerjuristischen Funktion. Die Inkonsistenz innerhalb des juristischen Begründungszusammenhangs wird demnach in Kauf genommen um eine Kohärenz im größeren Rahmen einer Wertegemeinschaft zu ermöglichen. Ähnlich argumentiert auch Pieper, wenn er zwar zunächst fragt »Ist Gnade noch zeitgemäß?«18 und von einem »Anachronismus«19 spricht. In seinem Fazit hinge-

16 S.U. Pieper: »Das Gnadenrecht des Bundespräsidenten – eine Bestandsaufnahme«, 362. 17 Vgl. Gustav Radbruch: Rechtsphilosophie, Stuttgart 81973, 272ff. 18 S.U. Pieper: »Gnadenrecht des Bundespräsidenten«, 371

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gen resümiert er abschließend, dass sich die Begnadigung »trotz aller Kritik als verfassungsrechtliches Institut bewährt«20 hat. Neben Kommentar-Texten, die somit das Begnadigungsrecht aus seiner juristischen Praxis heraus legitimieren, findet man auch Positionen, die zur Verdeutlichung auf die Literatur zurückgreifen. So etwa, wenn Johann Georg Schätzler in seinem Handbuch des Gnadenrechts Kleists Prinz Friedrich von Homburg heranzieht, um das Verhältnis von Recht und Gnade zu illustrieren21 oder auf Shakespeares Stücke verweist: Daß das Recht zu strafen und das Recht zu begnadigen untrennbar zusammen gehören, lehrt uns der Dichter. Shakespeare stellt in Maß für Maß, im Kaufmann von Venedig, aber auch in der Komödie der Irrungen das ganze Spektrum dar, in dem Recht und Gnade einander zu widerstreiten scheinen und doch ineinander fließen. Er macht sichtbar, daß Recht nicht ohne Gnade gedacht noch verwirklicht werden kann, daß Gnade die menschliche Komponente des Rechts ist. Bis zu welchem Grad die Spannung zwischen Gerechtigkeit und Gnade getrieben werden kann, läßt Kleist im Prinz von Homburg erleben.22

Der Literatur wird hier die Funktion zugesprochen, das abstrakte Recht in eine sinnhafte und anschauliche Erzählung zu bringen. Sei es demnach durch literarische Texte oder durch die Debatten, die mit ihrer Anwendung einhergehen: Die Begnadigung bedarf immer wieder neuer, bildhafter Konkretisierungen. Auf diese Weise löst sich die Gnade vom abstrakten, rechtsstaatlichen Zusammenhang und wird mit bestimmten Erzählungen und Werten, wie etwa ›Freiheit‹ oder ›Gerechtigkeit‹ verknüpft. Diese fungieren als diskursive Vermittler, indem sie einerseits eine individuelle Identifikation erlauben und andererseits eine einheitliche, kollektive Bezugsgröße anbieten. Es ist dieses Verhältnis zwischen subjektrelevanten Identifikationen und ihrer Projektion auf die Vorstellung einer nationalen Einheit, das für die Konstruktion des Imaginären relevant wird. Die ›Nation‹ und die sie be-

19 Ebd. 372. 20 Ebd. 377. 21 Vgl. zu dieser Fragestellung aus literaturwissenschaftlicher Perspektive auch R. Just: Recht und Gnade in Heinrich von Kleists Schauspiel »Prinz Friedrich von Homburg«. 22 J.G. Schätzler: Handbuch des Gnadenrechts, 5.

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treffenden Begriffe und Erzählungen erhalten dadurch einen für das Subjekt existenziell erscheinenden Status. Um diesen zu erhalten, muss er immer wieder bestätigt und als das ›Eigene‹ identifizierend wahrgenommen werden. Auf diese Weise werden laut Slavoj Žižek23 »nationale Mythen«24 geschaffen und immer wieder aufs Neue erzählend bestätigt. Da sie stark identifikatorisch besetzt sind, gewinnen sie eine Funktion für die Vorstellung eines eigenen »way of life«, des nicht näher konkretisierbaren eigenen Nation-Ding[s]«25. Auf diese Weise wirken sie kollektiv sinnstiftend für die Vorstellung einer einheitlichen Nation und dienen zugleich dem individuellen Identifikationsbedürfnis der darin eingebundenen Subjekte. Da die vermeintliche Schließung des nationalen Diskurses aber stets nur imaginiert ist, wird sie zugleich auch als fragil und ständig bedroht erlebt. Die jeweiligen nationalen Erzählungen müssen dann – je nach Machtverhältnissen und diskursiven Verschiebungen – immer wieder neu verhandelt und in eine aktualisierte, ›gültige‹ Version gebracht werden. Das Imaginäre wäre dabei genau als dieser Prozess der beständigen Neubestimmung und Aktualisierung zu denken. Eine solche Perspektive macht deutlich, dass genau diese Arbeit am Imaginären auch die Debatte um die Begnadigung von Christian Klar kennzeichnet.

ZEITGESCHICHTLICHER KONTEXT Um ein Verständnis der Ausgangssituation im Jahr 2007 zu gewinnen, wird im Folgenden kurz die Rolle der RAF in ihrer Funktion für die bundesrepublikanische, öffentlich-politische Debatte skizziert. Dies geschieht anhand einer Perspektivierung, welche die Bildung von nationalen Gemeinschaften als einen Prozess der Ein- bzw. Ausschließungen versteht, die um ein nationales Imaginäres kreisen.

23 Slavoj Žižek: »Genieße Deine Nation wie Dich selbst! Der Andere und das Böse – Vom Begehren des ethnischen ›Dings‹«, in: Joseph Vogl (Hg.), Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen, Frankfurt a. M. 1994, 133164. 24 Ebd. 137. 25 Ebd. 135.

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Begreift man die Herausbildung und Erhaltung von politischen Gemeinschaften mit Ernesto Laclau/Chantal Mouffe26 als hegemonialen Diskurs, so lässt sich auch die erwähnte Debatte als eine Form der (Re-) Artikulation von anerkannten Positionen und gültigen Beziehungen verstehen. Entscheidend ist dabei die Dynamik zwischen dem Versuch, einerseits den Diskurs über die Einheit der Nation zu einem – stets imaginär bleibenden – Stillstand zu bringen und andererseits dessen notwendigem Scheitern. Dieser Prozess speist sich u.a. aus der ambivalenten Beziehung, die jede Gemeinschaft zu den einem ›Anderen‹ unterhält, das sie als ›nicht zugehörig‹ oder ›nicht akzeptabel‹ ausgrenzt. Dieses konstitutive Außen ermöglicht einerseits überhaupt erst die Definition der eigenen Identität. Zugleich bedroht es diese aber auch ständig, indem es die vollständige Ausbildung und das Genießen dessen, was als »unser Ding«27 verstanden wird, durch seine Existenz unmöglich macht. Betrachtet man vor diesem Hintergrund die Debatte um die Auseinandersetzung mit der RAF, so fokussieren die zeitgenössischen Texte und Aussagen immer wieder den Begriff der ›Freiheit‹ bzw. seine Variationen als ›freiheitlich-demokratische Grundordnung‹ oder ›freiheitlicher Rechtsstaat‹ einerseits, ›Befreiung‹ von Unterdrückung andererseits. Letzteres wird von beiden Seiten für sich reklamiert. Die Aktionen der RAF riefen unter anderem deshalb ein so ungeheures Echo hervor, weil sie die kollektive Vorstellung einer freiheitlich-demokratischen »Ursprungslegende«28 der Bundesrepublik gewaltsam in Frage stellten. Dabei basierte der bundesrepublikanische Konsens auf der Vorstellung, dass Westdeutschland nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs und damit aus einer ›Stunde Null‹ als demokratischer, ›entnazifizierter‹ Staat hervorgegangen ist. Demgegenüber sah die RAF die BRD stets zum einen als Folgestaat des Dritten Reichs und zum anderen als eine Art kapitalistisches Zwangssystem. Freiheit ließe sich demnach erst in der Zerstörung des Systems bzw. in dessen Umwandlung finden. Dass die Gewalt der RAF von Seiten des Staates mit

26 Ernesto Laclau/ Chantal Mouffe: Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus, Wien 32006. 27 S. Žižek, »Genieße Deine Nation wie dich selbst«, 135. 28 Philipp Sarasin: »Die Wirklichkeit der Fiktion. Zum Konzept der ›imagined communities‹«, in: Ders., Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, Frankfurt a.M. 2003, 151-176, 160.

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Maßnahmen und Gesetzen beantwortet wurde, die von vielen Menschen ebenfalls als, diesmal staatlich legitimierte, Form der Gewaltausübung empfunden wurde, brachte der RAF vorübergehend ein nicht unbeträchtliches Identifikationspotential ein. Der Diskurs über das Nationale war damit in Bewegung geraten, er ließ sich nicht mehr auf eine gemeinschaftliche Position limitieren. Mit Žižek gesprochen, war das Genießen des »nationalen Dinges«29 gestört, in diesem Fall durch zwei konkurrierende Versionen individueller und gesellschaftlicher Freiheit. Dementsprechend bildete auch noch in der Auflösungserklärung der RAF vom 20.4. 1998 ›Freiheit‹ bzw. ›Befreiung‹ das Leitmotiv:  Der Kampf im gesellschaftlichen Riß, den unsere Feindschaft markierte, griff einer wirklich gesellschaftlich werdenden Befreiung nur voraus [...].

 Die RAF entstand aus der Hoffnung auf Befreiung. [...]

 Der bewaffnete Kampf war in vielen Teilen der Welt die Hoffnung auf Befreiung. [...]Die RAF entstand als Konsequenz aus den Diskussionen Tausender, die sich in der BRD am Ende der sechziger und den beginnenden siebziger Jahren mit dem bewaffneten Kampf als Weg zur Befreiung auseinandersetzten. Die RAF nahm den Kampf gegen einen Staat auf, der nach der Befreiung vom NaziFaschismus mit seiner national-sozialistischen Vergangenheit nicht gebrochen hatte. (Hervorh. S.B.)30

 Demgegenüber lag bzw. liegt die Freiheit für den deutschen Staat gerade in dem, mit der Gründung der Bundesrepublik in Kraft getretenen, rechtsstaatlich-demokratischen System. In Abgrenzung zu den undemokratischdiktatorischen Strukturen während der NS-Zeit sah man nun mit der demokratischen Verfassung alle notwendigen Freiheits- und Menschenrechte gewahrt und gewährt. Daher war es aus der Perspektive des Staates die RAF als terroristische Gruppe, welche die Freiheit bekämpfte. So spricht der §129 StGB zur »Bildung einer terroristischen Vereinigung« gerade davon, dass eine solche u.a. dadurch definiert wird, dass sie »Straftaten gegen

29 S. Žižek: »Genieße Deine Nation wie dich selbst«, 137, Hervorh. im Orig. 30 http://www.rafinfo.de/archiv/raf/raf-20-4-98.php (4.8.2009).

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die persönliche Freiheit«31 begeht. Damit standen sich zwei Versuche gegenüber, mithilfe des Freiheitsbegriffs eine kollektiv gültige Perspektive auf die Nation und ihre Geschichte zu etablieren. Sie bezeichneten zugleich die diskursive Grenze, an der sich die jeweils eigene Identität durch Abgrenzung konturiert. Das Vorhandensein der Gegenposition verhindert dabei stets, dass diese Identität vollständig erreicht wird, während sie zugleich erst die Formulierung einer eigenen Position ermöglicht. Erst mit der Selbstauflösungserklärung der RAF 1998 bot sich somit die Möglichkeit einer vordergründigen Schließung des nationalen Diskurses in Bezug auf die bundesrepublikanische Geschichte. Durch die einseitige Erklärung verschwand das bis dahin zumindest noch latent vorhandene Bedrohungspotential der Gruppe. Deren Symbole konnten daher nun im Sinne eines marktwirtschaftlichen Freiheitsverständnisses umgedeutet und angeeignet werden. Dabei signalisierte eine medienwirksame Verwendung der Symbole nun deren zunehmende Umkodierung und Ungefährlichkeit, indem sie sich, losgelöst von ihren Inhalten, in einer provokativen Geste erschöpften32. Dieser Status ließ daher auch eine Adaption durch die Popkultur zu, welche die Symbole der RAF als entkontextualisierte und kritikentleerte Designelemente aufzugreifen begann.33 Mit der Integration einer auf bloße Ikonographie reduzierten RAF in den Kreislauf der marktwirtschaftlichen Verwertung entstand die Illusion einer Schließung dieses politischen Diskurses. Illusorisch deshalb, da auch diese Arretierung bzw. Vereinnahmung wiederum auf einem Ausschluss basierte. Die zunehmende Verwendung und öf-

31 § 129a StGB, Absatz (1), 2, http://bundesrecht.juris.de/stgb/__129a.html (21.1. 2009). 32 Ausdruck hiervon sind Publikationen wie die von Kraushaar und die filmische Bearbeitung des RAF-Stoffes (Die Stille nach dem Schuss, Baader, Der BaaderMeinhof-Komplex), vgl. Wolfgang Kraushaar: Die RAF und der linke Terrorismus, Hamburg 2006. 33 Vermarktet als ›radikaler Chic‹ zeugen Modemarken wie ›Prada-Meinhof‹ oder die Bilderserie ›RAF-Parade‹ des Modemagazins ›Tussi de Luxe‹ ebenso von einer konsumaffirmativen Umwandlung der RAF-Embleme und kollektiv erinnerten Situationen wie die Lieder der Absolute Beginners (»Söhne Stammheims«) oder der Gruppe Wizo (»R.A.F.«).

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fentliche Präsenz der betreffenden Bilder war nur um den Preis der Ausgrenzung der beteiligten Individuen und Biographien aufrecht zu halten. Die verurteilten RAF-Mitglieder, die mit ihrer Biographie und ihren potentiellen Aussagen für die nicht integrierbaren Aspekte der RAF standen, waren in den medialen und öffentlichen Diskursen nicht präsent. Zugleich hatten sie aber weiterhin die Funktion des auszugrenzenden Anderen zu erfüllen. Ihren Ausdruck fand diese nicht aufzulösende Zwischenstellung in der langfristigen Inhaftierung der verbleibenden RAF-Mitglieder. Auf diese Weise blieben diese dem kollektiven Bewusstsein erhalten, waren aber aus dem öffentlichen Raum ausgeschlossen und traten so nicht mehr als aktive Subjekte in Erscheinung. Diese zwischen innen und außen oszillierende Position verlieh den Häftlingen nach und nach den Anschein von »Untoten« (Semler 2007, 3) des nationalen Imaginären. Verstärkt durch die stereotyp reproduzierten Fotos aus der Zeit ihrer Verhaftung erhielt die seltene mediale Erwähnung der Häftlinge den Charakter einer ebenso notwendigen wie vorübergehenden Heimsuchung.  

EIN GRUSSWORT UND DIE FOLGEN DIE POLITISCHE DIMENSION DER DEBATTE Diese relativ stabile Situation änderte sich im Jahr 2007 in zweifacher Hinsicht. Zum einen jährte sich der sogenannte ›Deutsche Herbst‹34 von 1977 zum dreißigsten Mal und warf damit die Frage nach der Bedeutung und kollektiven Einordnung der Ereignisse erneut auf. Zum anderen zeichnete sich ab, dass der damalige Bundespräsident Köhler über das bereits 2003 von Christian Klar gestellte Gnadengesuch entscheiden würde. Vor diesem Hintergrund entwickelte sich eine Debatte, die sich zwar an der Frage der Begnadigung entzündete. In ihrer Struktur verhandelt sie jedoch zugleich die prinzipiellen Bedingungen der Teilhabe an der nationalen Gemeinschaft und damit auch am nationalen Imaginären. Dies geschah maßgeblich anhand von zwei Texten sowie den an sie geknüpften performativen Sprechhandlungen. Beim ersten Text handelte es sich um ein Grußwort, das Chris-

34 Vgl. zur Problematik dieses Begriffs: Eckhard Jesse: »›Deutscher Herbst‹? Die RAF und der linke Terrorismus«, in: Mut 9 (2007), 6-13.

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tian Klar anlässlich der jährlich stattfindenden Rosa-Luxemburg-Konferenz verfasste. Der zweite relevante Text in diesem Kontext ist das Begnadigungsrecht des Bundespräsidenten. Beide Texte besitzen einen performativen Charakter, da sie durch ihren Text- bzw. Sprachverlauf eine Handlung vollziehen, welche den Status der sprechenden oder der betroffenen Personen verändert. Das Grußwort mit seinem Akt des Grüßens kann dabei in Anlehnung an die Sprechakttheorie35 als diskursiver Individualisierungsakt verstanden werden, also als eine Handlung, mit der sich ein Individuum als solches erkennbar macht und in einen herausgehobenen Kontakt mit anderen tritt. Die Begnadigung ist ihm insofern vergleichbar, als auch sie ein spezifisches Individuum auszeichnet und damit hervorhebt. Durch die in Aussicht gestellte Wiederaufnahme in die Gemeinschaft wird es zudem deren Mitgliedern gleichgestellt. Beide Akte unterscheiden sich allerdings darin, dass das Individuum beim Grußwort selbst initiativ ist, während die Begnadigung von der Gemeinschaft bzw. bestellten Autoritäten ausgeht. Mit seinem öffentlichen Grußwort brachte sich Klar damit als aktives und sprechendes Subjekt wieder in die Gemeinschaft ein, aus der er offiziell noch ausgeschlossen war. Ist die Geste des Grüßens somit geeignet, ein bestimmtes Individuum als solches zu bezeichnen, so lag bei Klars Grußwort die Problematik nicht nur in der verfrühten Übernahme einer aktiven Sprecherposition. Das für die Öffentlichkeit Anstößige lag darüber hinaus offenbar in der Diskrepanz zwischen der Bedeutung der Sprechhandlung einerseits und ihrer sprachlich-rhetorischen Umsetzung andererseits. Betrachtet man den Wortlaut36 seines Schreibens, fällt die Abwesenheit individualisierender Sprachstrukturen auf. So findet das Pronomen ›ich‹ nur ein einziges Mal Verwendung, zudem in Parenthese: »Das Thema [...] bedeutet – so verstehe ich es – vor allem die Würdigung der Inspiration, die seit einiger Zeit von verschiedenen Ländern Lateinamerikas ausgeht.« Ansonsten stehen die Sätze fast durchweg im Passiv (»wird Geltung gegeben«, »an einer Perspektive gearbeitet«, »dass die großen Gesellschaftsbereiche den chauvinistischen ›Rettern‹ entrissen werden«, »es muss immer wieder betont werden«), so dass die Sprecherposition als eine beobachtende und weder geo- noch biographisch fassbare Instanz erscheint (die einzigen Hinweise liefern die Anrede ›Liebe Freunde‹ sowie die deiktischen Be-

35 Vgl. John L. Austin: How to do things with words, Cambridge 21975. 36 Z.B. unter http://www.tagesschau.de/inland/meldung54808.html (26.1.2009).

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zeichnungen ›dort‹ für Lateinamerika und ›hier‹ für Europa.) Als Akteure werden dagegen ausschließlich Gruppen genannt: »Europa«, »das imperiale Bündnis«, »jedes Land der Erde«, »Regierungen«, »große professionelle PR-Agenturen«, »chauvinistische Retter«, »das Kapital«, »die Welt«. Individuen kommen ebenfalls nur in Gruppenkontexten vor: »die internationale Besitzerklasse«, »die Massen«, »die zukünftigen Neugeborenen«, »der Mensch«. Meinungen oder eigene Perspektiven werden dabei verdinglicht und entpersonalisiert als allgemeines Ziel formuliert: »Die spezielle Sache dürfte sein«, »Sonst wird es nicht möglich sein«, »Es muss immer wieder betont werden«. Durch diese rhetorischen Strategien verschwindet das sprechende Subjekt im Text, womit die geisterhafte und konturlose Stimme den erwähnten Status des »Untoten« zu bestätigen scheint, der einer nicht weiter definierten Ordnung angehört. Zudem disqualifiziert sich der Autor selbst als mögliches Begnadigungssubjekt, wenn man davon ausgeht, dass Gnade stets nur einem Individuum widerfährt und zugleich dessen (Wieder-)Aufnahme in das Kollektiv bedeutet. Diese Aufnahme wird aber wesentlich sprachlich vollzogen und ist, wie der weitere Verlauf der Debatte zeigt, selbst wiederum uneindeutig. Sie verlangt die Übernahme bestimmter Begrifflichkeiten und Modi der Aussage, die Klar sowohl als Individuum als auch im Rahmen des Kollektivs positionieren. Die Forderungen, die hauptsächlich aus dem konservativen politischen Lager an ihn herangetragen werden, ähneln sich dabei zumeist. So äußert sich beispielsweise der damalige bayrische Ministerpräsident Stoiber (CSU) »skeptisch, ob hier wirklich die Voraussetzungen für Gnade vor Recht gegeben sind«37, da Klar kein Zeichen der Reue zeige. Noch immer scheine bei ihm eher der »Geist einer geradezu militanten Ablehnung unserer Demokratie und unserer Gesellschafts- und Werteordnung« vorzuherrschen. Noch härter fällt das Urteil des FDP-Vorsitzenden Guido Westerwelle aus:



37 Karin Geil: »Kritik der eigenen Partei«, in: Zeit online 19 (03.05.2007), http: //www.zeit.de/online/2007/19/kritiker-koehler-klar/komplettansicht (30.08.2011).

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Klar ist kein geläuterter Täter, sondern bleibt ein verurteilter Serienmörder, dessen Begnadigung ich strikt ablehne. Wer Gnade vor Recht erbittet, aber unsere Grundordnung nicht anerkennt, hat keine Gnade verdient.38

Ähnlich der damalige CSU-Generalsekretär Markus Söder: Für RAF-Terroristen, die keine Spur von Reue zeigen, darf es keine Bewährung oder Begnadigung geben. Das wäre ein Schlag ins Gesicht der Opfer und ihrer Angehörigen. Wir dürfen das Vertrauen der Menschen in unseren Rechtsstaat nicht durch die Begnadigung von RAF-Terroristen enttäuschen. Klar und Mohnhaupt wollten unser Land ins Chaos stürzen und unseren Rechtsstaat zerstören. Für diese verstockten und uneinsichtigen Terroristen darf es keine Begnadigung geben.39

 Und der CDU-Innenexperte Wolfgang Bosbach bringt es so auf den Punkt: »Keine Gnade ohne Reue.«ϰϬ Damit kreisen die Aussagen um zwei Hauptaspekte: einerseits die grundsätzliche ›Werteordnung‹ bzw. der ›Rechtsstaat‹, andererseits die Forderung nach ›Reue‹. Der erste Aspekt formuliert den Gedanken einer Ordnung, in der alles durch Recht, also juristisch begründbare Interaktionen regelbar erscheint41. Geht man von dieser Annahme aus, wird Gnade an sich fragwürdig, da sie die Gerechtigkeit des bestehenden Systems selbst ins Zwielicht rückt. Dies führt zu der auch in der juristischen Debatte aufgeworfenen Frage nach dem Platz der Gnade in einer bereits als gerecht und menschenwürdig verstandenen Strafordnung. So gibt Pieper zu bedenken:  Der Rechtsstaat beansprucht, dass die unter seinem Regime verhängten Strafen ›gerecht‹ sind: Das ist nur dann der Fall, wenn den Täter eine Schuld trifft (nulla poena sine culpa) und das Strafmaß verhältnismäßig ist. […] Wenn aber Strafen den An-

38 Stephan Trinius: Dossier RAF. Gnade vor Recht? Die Diskussion um eine vorzeitige Haftentlassung ehemaliger RAF-Täter (Bundeszentrale für politische Bildung). http://www.bpb.de/themen/XMNA9A.html (26.01.2009). 39 Ebd. 40 Ebd. 41 Das implizit mitschwingende Gegenteil des ›Rechtsstaats‹ wäre der ›Unrechtsstaat‹, ein Begriff, der häufig in politischen Diskussionen zur Abgrenzung gegenüber der DDR Anwendung findet.

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spruch erheben können gerecht zu sein, bleibt für eine Gnade, deren Funktion darin besteht, Härten des Gesetzes, etwaige Irrtümer der Urteilsfindung sowie Unbilligkeiten bei nachträglich veränderten allgemeinen oder persönlichen Verhältnissen auszugleichen, kaum noch Raum.42

 Entweder, so das Argument, ist Gnade im Rechtsstaat letztlich überflüssig oder der Rechtsstaat im Umkehrschluss nicht gerecht. Das letzteres gerade durch die Begnadigung eines Terroristen ersichtlich wird, könnte als ironische Wendung der skizzierten Debatte gelesen werden. Es verweist aber zugleich auf das grundsätzliche Dilemma, in dem sich der Bundespräsident befindet, der eine Begnadigungsentscheidung zu fällen hat. Die zweite Forderung zielt vordergründig ebenfalls auf die Annahme der bemühten Werteordnung durch Einsicht in die Verwerflichkeit begangener Taten. Neben dieser moralischen Dimension enthält die Forderung allerdings auch noch eine weitere, eine ökonomische Komponente. Diese basiert auf der Idee des Tauschhandels als Basis zwischenmenschlicher Beziehungen. Auch Gnade, das suggeriert diese Sichtweise, ist nicht umsonst zu haben, auch sie will laut Westerwelle »verdient« werden. Anders ausgedrückt könnte man auch sagen, alles hat einen Preis und dieser Preis wird nun von Klar gefordert. Die Gefahr, die aus einer Auflösung dieser Tauschbeziehung für die Geschlossenheit des nationalen Diskurses entsteht, wird deutlich, wenn man sich noch einmal die religiöse Dimension des Gnadenbegriffs vergegenwärtigt. So führt das RGG unter dem Stichwort ›Gnade‹ aus:  Zur näheren Bestimmung ist zu sagen: Es ist der Gnade wesentlich, daß sie aus der Freiheit Gottes kommt. Sie ist freie Herablassung, in der Gott allein der majestätisch Gewährende und in keiner Weise der Abhängige und Bedürftige ist. […] Es ist der Gnade wesentlich, daß sie ungeschuldete Zuwendung ist. Sie ist grundsätzlich das, was nicht verdient und erworben, sondern nur als unverdientes Geschenk empfangen werden kann. Der in der röm.-kath. Heilslehre einfließende Gedanke, es könne durch menschliches Verhalten (wenn auch nur mit Hilfe schon empfangener Gnade) weitere Gnade verdient werden, erscheint von daher mit dem Wesen der Gnade selbst unvereinbar.43 (Hervorh. i.Orig.)

42 S.U. Pieper: »Gnadenrecht des Bundespräsidenten«, 373. 43 Wilfried Joest: »Gnade Gottes«, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart.

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Deutlich wird hier der Aspekt des unverdienten Empfangens der Gnade, ihrer Grundlosigkeit bzw. einzigen Begründung im Liebeshandeln Gottes. Die Folge ist eine asymmetrische Beziehung, da die Gnade per Definition gar nicht verdient oder erworben, sondern nur als Geschenk empfangen werden kann. Eingebunden in ein rechtstaatliches System schafft die Gnade somit eine Stelle, an der ökonomische ebenso wie juristische Ordnungsvorstellungen negiert werden. Derrida hat dieses Störpotential unter dem Begriff der ›Gabe‹ diskutiert, der sich begriffsgeschichtlich genau an diese religiöse Gnadenvorstellung anschließt44. Für ihn besteht die Struktur einer echten Gabe wesentlich darin, dass sie keiner Gegengabe bedarf und zudem intentionslos gegeben wird. Indem sie für den Empfangenden unerwartet kommt und nicht auf Erwiderung zielt, stört sie die »Ordnung der Kausalitäten« und durchbricht »das Kontinuum einer Erzählung«45. Aus der Perspektive des nationalen Imaginären wäre dies die Erzählung eines juristisch wie ökonomisch gerechten Staates, durch den sich die Individuen zu einer ›freien‹ Nation zusammenschließen. Eine solche Gabe kann – gerade wenn sie mit dem obersten Repräsentanten des Staates verbunden ist – über die direkt Beteiligten hinaus auf die Strukturen der Interaktion und der damit verbundenen Identifikationen wirken – in diesem Fall die Annahme, dass der Wert des Individuums durch seine Leistung bestimmt wird, und die Ökonomie des Tauschs. So verstanden besitzt die Gnade das Potential, die auf Identifikation mit dem eigenen ›Ding‹ gründende kollektive Identität in Frage zu stellen, indem sie eine mögliche Alternative aufzeigt. Als Gabe der Freiheit verwischt sie die zuvor klar erscheinende Grenze zwischen eigenem (›Rechtsstaat‹) und fremdem (›Willkür‹) Freiheitsbegriff. Denn obwohl sie innerhalb rechtsstaatlich vorgesehener Strukturen erfolgt, enthält sie zugleich ein Moment der Willkür, der Zufälligkeit und Unbegründbarkeit. Die

Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft, dritte, völlig neu bearbeitete Auflage in Gemeinschaft mit Hans Frhr. v. Campenhausen, Erich Dinkler, Gerhard Gloege und Knud E. Løgstrup hg. v. Kurt Galling, Tübingen 1958, Bd. 2, 1641. 44 Jacques Derrida: »Wenn es Gabe gibt – oder: ›Das falsche Geldstück‹«, in: Michael Wetzel/Jean-Michel Rabaté (Hg), Ethik der Gabe. Denken nach Jacques Derrida, Berlin 1993, 93-136. 45 Ebd. 118.

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wiederholte Forderung von hauptsächlich konservativen Politikern an Klar, sich seine Begnadigung zu verdienen, zeugt daher von der Bedrohung, welche von einer ›unverdienten‹ Gnade ausginge. Bedroht erscheint dabei allerdings zunächst lediglich ein bestimmtes politisches Selbstverständnis. Unter Zuhilfenahme des ›Nationalen‹ wird dies dann zu einem gesamtgesellschaftlichen Bedrohungsszenario umformuliert. Erst so erscheint eine Begnadigung als Prüfstein des nationalen ›Eigenen‹.

DAS DILEMMA DES BUNDESPRÄSIDENTEN Vor dem Hintergrund der möglichen Begnadigung von Klar stellt der rechtliche Status der Gnade damit in zweifacher Hinsicht ein Problem dar. Spräche der Bundespräsident tatsächlich eine Begnadigung aus, würde die Wiederaufnahme in die Gemeinschaft nicht anhand von begründbaren Gesetzen geregelt, sondern durch einen Willkürakt erfolgen. Auf diese Weise wird deutlich, dass es ein Jenseits der Rechtsordnung gibt, das aber von dieser legitimiert und als notwendiger Bestandteil erachtet wird46. Diese Einsicht verwischt die zuvor klaren Linien zwischen Rechtsstaatlichkeit und Rechtlosigkeit, wodurch die Vorstellung des Rechtsstaats als Garanten der Freiheit erneut in Bedrohung gerät. Hinzu kommt, dass die Gnade eine Entscheidung verlangt, die letztlich nicht nur unbegründbar bleibt, sondern im Sinne von Laclau/Mouffe unentscheidbar ist, da sie auf keinen überprüfbaren oder handlungsleitenden Kriterien basiert. Eine solche Entscheidung wird demzufolge im Bereich des Politischen gefällt, verstanden als ein »Ensemble jener Entscheidungen, die auf einem unentscheidbaren Terrain getroffen worden sind, d.h. einem Terrain, für welches Macht konstitutiv ist.«ϰϳ. Der Bundespräsident entscheidet, weil er aufgrund seiner Position die Macht dazu hat. Damit wird sichtbar, dass in diesem Falle Macht – und kein Argument oder Gesetz – die Grundlage dieser politischen Entscheidungsfindung bildet. Die Struktur der Gnadenentscheidung spiegelt damit auf politischer Ebene das Vorgehen der

46 An dieser Stelle deckt sich meine Lesart mit Agambens Auffassung einer konstitutiven Beziehung der Norm zum Ausnahmezustand, die diesen ausschließt, ihn aber zugleich als Bezugsgröße benötigt (vgl. Fußnote 10). 47 Ernesto Laclau: Emanzipation und Differenz , Wien 2002, 103.

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göttlichen Gnade ebenso wie das des souveränen Herrschers, die beide dem Begnadigten unerklärlich bleiben, ihm widerfahren. Diese Verbindung von Kontingenz und Macht ist in der politischen Debatte durch eine Perspektivierung kritisiert worden, die eine strukturelle Parallele vom Terror- zum Gnadenakt zieht. »Beide sind grundlos und verweisen damit auf die Dimension eines souveränen Aktes außerhalb der bestehenden Ordnung.«48 Als grundsätzlich verschieden erweisen sich bei genauerem Hinsehen allerdings die Bedingungen und die Art dieses »souveränen Aktes«. So sind das Anwendungsgebiet des Begnadigungsrechts ebenso wie der Ausübende klar definiert und in das Rechtssystem eingebunden. Zudem bezieht sich die Begnadigung auf ein einzelnes Individuum bzw. dessen Vergehen. Terroristische Akte beruhen dagegen auf einer Selbstermächtigung, die für sich einen Status jenseits aller Rechtsgebundenheit postuliert. Aus dieser Perspektive können dann sämtliche Mitglieder einer Gruppe oder eines Staates zu Repräsentanten des abgelehnten Systems und damit zu möglichen Zielen von Terrorakten werden. Darüber hinaus handelt es sich bei terroristischen Handlungen zumeist um Gewaltakte, die das Entscheidungsrecht über Leben und Tod anderer beanspruchen. Demgegenüber verändert die Begnadigung zwar den zivil- und strafrechtlichen Status des Betroffenen, lässt aber seine Grundrechte unangetastet. Der Vergleich erweist sich somit als verkürzt, gibt aber zugleich dem Unbehagen Ausdruck, dass dem obersten Repräsentanten des Staates eine Art rechtsfreier Raum, eben die vermeintliche Position »außerhalb der bestehenden Ordnung«49 zugestanden wird. Denn was mit der Begnadigung bleibt, ist das juristische Paradox, dass das Recht selbst das Recht außer Kraft setzt.50 Für die Begnadigung durch

48 Felix Ensslin: »Die doppelte Verdrängung. Nicht nur der Terror, auch die Gnade empört das Rechtsempfinden«, in: Die Zeit 13/22.03.2007. 49 Ebd. 50 Die daran anschließende Frage nach der generellen Legitimität von Autorität hat Derrida mit dem Hinweis auf eine ursprüngliche Setzung beantwortet, welche die Autorität letztlich in sich selbst gründet. In der christlichen Sphäre geschieht dies durch die Bibel, im vorliegenden juristisch-politischen Sprachgebrauch durch die Präambel des Grundgesetzes. Damit stößt der jeweilige Diskurs an seine Grenze und verweist auf das, was Derrida den »mystische[n] Grund der Autorität« (25) nennt. In der hier vorgeschlagenen Lektüreperspektive wird die-

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den Bundespräsidenten bedeutet dies eine Umkehr der Vorzeichen: eigentlich als Demonstration der Souveränität des Staates und seines Umgangs mit Delinquenten gedacht, verweist sie nun auf die letztendliche Grundlosigkeit bzw. Fragwürdigkeit ebendieser Souveränität. Zwar könnte man, ganz in der absolutistischen Tradition des Begriffs, diese Grundlosigkeit gerade als ›Letztentscheidungsbefugnis‹51 zum Merkmal bundespräsidialer Souveränität erklären und sie damit bewusst integrieren. Aus der Geschichte des Begriffs ließe sich solch ein Souveränitätskonzept also durchaus begründen. Der Verlauf der Debatte zeigt jedoch, dass diese Begründungsfigur auf breite Ablehnung stieß. Eine solche, von den skizzierten Vorstellungen des Tausches und der rechtlich begründeten Freiheit losgelöste Entscheidung, war offenbar nicht geeignet, den Bereich des nationalen Imaginären auf eine annehmbare Weise zu füllen. Hier zeigt sich erneut das Irritationspotential der Gnade, die den Identifikationsprozess des Einzelnen mit dem kollektiven Nationalen stört. Zu sehr gleicht das Bild der Gnade dem der Willkür, erscheint die Gabe der Freiheit als unverdient ausgegebenes und damit in seinem Wert degradiertes Geschenk. Wenn dies zudem vom Bundespräsidenten ausgegeben wird, droht die durch ihn vertretene Nation als Identifikationsgröße verloren zu gehen. Für die Subjekte, die sich identifizierend auf sie beziehen, könnte sie nicht mehr als das exklusive ›Eigene‹ fungieren. Als einzige Möglichkeit bleibt so die Verweigerung der Begnadigung. Mit diesem Schritt bleibt der Staat zwar im juristischen Sinne gerecht, erhält allerdings den Anschein des Gnadenlos-Inhumanen.

ser mystische Grund allerdings nicht, wie Derrida ausführt, durch »Schweigen« (28) vernebelt, sondern beständig mit Imaginärem auf- und ausgefüllt. Vgl. Jacques Derrida: Gesetzeskraft. Der mystische Grund der Autorität, Frankfurt a.M. 1991. 51 Vgl.: Dieter Grimm: Souveränität, Herkunft und Zukunft eines Schlüsselbegriffs, Berlin 2009.

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DAS WOCHENENDE BERNHARD SCHLINKS LITERARISCHE BEARBEITUNG DER DEBATTE Im Anschluss an die öffentliche Debatte hat sich auch die Literatur mit der beschriebenen Dynamik und ihren Begründungsfiguren auseinandergesetzt. Dabei hat sie, im Unterschied etwa zur Rechtstheorie, die Möglichkeit, das Geschehen durch den Einsatz literarischer Bildlichkeit und narrativer Mitteln auf spezifische Weise zu perspektivieren und zuzuspitzen. Auf diese Weise arbeitet sie an der Verhandlung des nationalen Imaginären mit, indem sie alternative, bestätigende oder kritische Lesarten anbietet. Einen solchen Versuch unternimmt der bereits erwähnte Text Das Wochenende des gelernten Juristen Bernhard Schlink, der nur einige Monate nach der sogenannten Begnadigungsdebatte erschien und sich in seiner Handlungsstruktur stark daran anlehnt. Zugleich geht er darüber hinaus, indem er das Szenario einer tatsächlichen Begnadigung durchspielt. Für die Perspektive eines nationalen Imaginären wird die Erzählung dadurch relevant, dass sie die vorausgegangene Debatte mit literarischen Mitteln fortschreibt. Hierzu greift der Text wesentliche Aspekte der Debatte auf (so z.B. das Verdienen von Gnade und das Bezahlen von Schuld, die religiöse Gnadendimension, die Frage nach individueller und gesellschaftlicher Freiheit) und übersetzt sie in eine spezifische Bildlichkeit. Auf diese Weise gibt die Erzählung dem Imaginären vorübergehend eine (narrative) Gestalt. Sie tut dies auf eine sehr affirmative Art, indem sie das Irritationspotenzial der Gnade an gesellschaftliche und religiöse Vorstellungen anbindet. Damit lässt sich der Text – und die folgende Analyse wird dies auch tun – als literarische Legitimierung der zuvor realiter erfolgten Gnadenverweigerung lesen. Inhaltlich bewegt sich die Lektüre dabei an vier, die Narration strukturierenden Punkten entlang: das Motiv des Todes, die Frage nach Schuld und Gnade, die biologistische Anlage des Textes sowie sein Freiheitskonzept. Schlinks Text beginnt mit der Entlassung des ehemaligen Terroristen Jörg. Er ist nach 23-jähriger Haft im Anschluss an ein Gnadengesuch tatsächlich vom Bundespräsidenten begnadigt worden. Ähnlich wie Christian Klar hatte er zuvor noch »an einen obskuren linken Kongreß über Gewalt eine Grußbotschaft geschrieben«52. Diese hat in Schlinks Text zwar zu Dis52 B. Schlink: Das Wochenende, 10.

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kussionen über die Legitimation von Jörgs Begnadigung geführt, letztlich die Begnadigung selbst aber nicht verhindert. So wird er am Tag seiner Entlassung von seiner Schwester abgeholt und für sein erstes Wochenende in Freiheit zu einem Landhaus in Brandenburg gebracht, wo er zurück ins Leben finden soll. Dort trifft er mit Menschen zusammen, die in der Zeit vor seiner Inhaftierung mit seinen Zielen sympathisiert oder ihm sich während seiner Haft angenähert haben. Alle haben mittlerweile bürgerliche Berufe ergriffen und sind als Lehrerin, Anwalt, Unternehmer, Bischöfin oder Journalist tätig. Damit stehen sie zugleich als (bisweilen recht stereotyp angelegte) Sprachrohre der wichtigsten Diskurse innerhalb der Begnadigungsdebatte: juristische, marktwirtschaftlich-ökonomische, religiöse, mediale und schließlich, über den im Buch stückweise eingeschobenen fiktionalen Text der Lehrerin Ilse, literarische Positionen. Hinzu kommen mit Jörgs Freund Marko eine (linke) politische Perspektive, mit der Tochter eines Freundes eine Vertreterin der Nach-Wende-Generation sowie mit Jörgs Sohn die Opferperspektive. Untergliedert in die drei Abschnitte Freitag, Samstag und Sonntag verhandelt der Text nun in der Art eines Kammerspiels die Frage nach Möglichkeiten und Konditionen der Wiederaufnahme Jörgs in die Gemeinschaft, die sich hier als vorübergehend abgeschlossener Mikrokosmos53 präsentiert. Mit Jörgs Ankunft im Landhaus beginnen auch die Auseinandersetzungen und Gespräche, die schnell um einen entscheidenden Punkt kreisen:  Aber Ulrich kam ihr zuvor. »Ihr erinnert euch sicher noch an den ersten Fall und die erste Predigt«, er nickte Andreas und Karin zu, »Ilse an die erste Unterrichtsstunde und Henner an den ersten Artikel. Ich werde nie meine erste Brücke vergessen; ich habe in keine spätere Arbeit so viel Zeit und Liebe gesteckt und an ihr was fürs Leben gelernt. Wie war das mit dem ersten Mord, Jörg? Hast du an ihm…« »Hör auf, Ulrich, hör bitte auf!« brach es aus seiner Frau heraus. Resigniert hob Ulrich die Arme und ließ sie wieder sinken. »Okay, okay. Wenn ihr meint…« Henner

53 Mit dieser inselhaften Abgeschlossenheit, die durch die starken Regenfälle noch illustriert wird, verweist der Text damit von Beginn an auf den utopischen Charakter der dargestellten Gemeinschaft.

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merkte, daß er nicht wußte, was er meinen sollte, und als er in die Runde sah, las er in den Gesichtern anderer, daß sie’s auch nicht wußten.54

 Jörgs erster Mord erscheint hier als eine Art negativer rite de passage, der mit dem ökonomisch definierten Eintritt der Anderen in die Arbeitswelt, mithin die Gesellschaft, parallelisiert wird. Der Mord bedingt dagegen den Austritt aus der Gesellschaft. Die Geburt des Terroristen wurzelt damit im gewaltsamen Tod des Anderen. Er stellt die Grenze und Bedingung nicht nur der Gesellschaft, sondern der conditio humana überhaupt dar. Indem Jörg zum Mörder und Terroristen wird, missachtet und überschreitet er diese Grenze. Es ist dieser Übertritt – so der Fokus des Textes – und nicht die anschließende 23-jährige Haftzeit, an der eine mögliche Begnadigung gemessen werden muss. Dass Jörg allerdings mit dieser Tat letztlich bereits sein eigenes (Todes-)Urteil gesprochen hat, legt die in den Text eingeschobene Binnenerzählung nahe. Darin beginnt die Lehrerin Ilse während des Wochenendes einen Text über das Leben von Jan zu schreiben, einem gemeinsamen Freund aus dem damaligen Sympathisantenumfeld. Ausgehend von der Idee, dessen damaliger Selbstmord könnte nur ein Vorwand zum Untertauchen gewesen sein, entwirft sie einen alternativen terroristischen Lebenslauf. Auf diese Weise wird es dem Text zum einen möglich, eine fiktive biographische Verdoppelung vorzunehmen, während er darüber zum anderen den Bogen zu gegenwärtigen terroristischen Bewegungen und Bedrohungsszenarien spannt. In Ilses Erzählung wird Jan, im Gegensatz zu Jörg, nicht verhaftet und beteiligt sich im Folgenden u.a. an der SchleyerEntführung55. Dabei ruft der Text bekannte Bilder auf, wie etwa das Foto des Arbeitgeberpräsidenten vor einem Emblem der RAF und vermittelt so die fiktive individuelle Biographie mit dem kollektiven Gedächtnis. Bezeichnenderweise beginnt Jans terroristische Biographie im Gegensatz zu der Jörgs, jedoch nicht mit einem Mord, sondern mit Selbstmord. Dieser ist zwar mit Hilfe von Medikamenten nur inszeniert, wird aber dennoch als traumatisch erlebt:

54 B. Schlink: Das Wochenende, 40f. 55 Zwar fällt der Name Schleyer nicht im Text, aber aufgrund der beschriebenen Situation wird deutlich, dass es sich um die Schleyer-Entführung handelt.

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Auf einmal kommt die Angst. Auf einmal fühlt sich, was nur wie der Tod aussehen soll, wie der wirkliche Tod an. Sein Leben geht zu Ende, und was danach kommt, ist nicht mehr sein Leben, sondern das eines anderen. Wenn es kommt – Jan weiß nicht mehr, daß er nicht sterben wird. Der Tod läßt nicht mit sich spielen. Er läßt nicht mit sich spaßen. Er… Voller Todesfurcht verliert Jan das Bewußtsein.56

Der Austritt aus der Gesellschaft ist hier ein gewaltsamer Akt, dem Tod vergleichbar. Erst um diesen Preis kann Jan nun anschließend als ›Untoter‹ wiederkehren und die Gesellschaft heimsuchen – damit in seinem Status durchaus den ›untoten‹ einsitzenden Terroristen vergleichbar. Die (imaginierte) Zerstörung des eigenen Körpers verweist bereits auf die Destruktivität bzw. Unmöglichkeit der dadurch gewonnenen Position und auf ihr zwangsläufiges Ende. Begründet wird dieses notwendige Scheitern dreifach: gesellschaftlich, religiös und biologisch. Gesellschaftlich deutet der Text die terroristische Position, wie erwähnt, als eine Absage an die Menschlichkeit und damit auch an das gesellschaftliche Zusammenleben: Ulrich ließ ihn [Jörg] nicht ausreden. […] »Nach deinem ersten Mord habe ich gefragt. Wie’s dir bei ihm ging. Ob du bei ihm was fürs Leben gelernt hast.« […] Alle sahen Jörg an. Er hob die Hände, als wolle er reden und seinen Worten Nachdruck geben, und ließ sie sinken. Er hob sie noch mal und ließ sie noch mal sinken. »Was soll ich sagen? Im Krieg schießt und tötet man eben. Wie soll es einem da gehen? Was soll man da lernen? Wir hatten Krieg, und also habe ich geschossen und getötet. Bist du jetzt zufrieden?«57

 Mord erscheint hier als Faktum, das sich nicht erklären lässt, da es im Rahmen der Gemeinschaft keinen Platz hat. Er markiert stattdessen einen Zustand außerhalb der Gesellschaft und der Gesetze. Insofern ein Individuum dabei über Leben und Tod des anderen entscheidet, handelt es sich hier tatsächlich – so wie bei dem von Jörg angeführten »Krieg« – um eine Art des »Ausnahmezustands«. Damit stellt der Text von Beginn an einen durch Gesetze geregelten Gemeinschaftsraum und einen durch Regellosigkeit und Eigenmächtigkeit gekennzeichneten Außenraum gegenüber. Diese Regello-

56 B. Schlink: Das Wochenende, 68. 57 Ebd. 100f.

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sigkeit erfährt Jan, nach dem Erwachen aus seinem todesähnlichen Zustand, zunächst als Freiheit: »Er war frei, war niemandes Schuldner, zu keiner Liebe, keiner Freundschaft, keiner Rücksicht verpflichtet, nur zur Hingabe an die Sache. Was für ein Glück, was für ein Rausch der Freiheit!«58 Diese Freiheit ist aber, wie der Text anschließend vorführt, eine unmenschliche, amoralische Freiheit, sozusagen die Lizenz zum Töten:  Er setzte die Pistole an den Hinterkopf des Mannes und schoß, und im Augenblick des Abdrückens machte er die Augen zu, kniff sie zu, und es schüttelte ihn, und er mußte an sich halten, um nicht noch mal und noch mal zu schießen. Er machte die Augen auf und sah den Mann nach vorne und vom Stuhl sinken. […] Er sah das Blut fließen, tippte den Mann mit dem Fuß an, zuerst sachte, dann fester, bis er von der Seite auf den Rücken glitt und seine Augen ins Zimmer, zur Decke, auf Jan richtete. Jan blieb stehen und starrte auf den Toten.59

Erst mit der tatsächlichen Zerstörung des fremden Körpers wird die eigene Position bewusst, indem sie als gestörte, tote Blickbeziehung erfahren wird. Um menschlich zu bleiben braucht es, so der Umkehrschluss, die Einbindung in Gemeinschaft und Gesetze: »Mit dem ersten Mord hatte Jan den Gesellschaftsvertrag aufgekündigt, unter dem wir einander nicht umbringen. Was sollte ihn danach noch halten?«60 Die durch diese Aufkündigung gewonnene Freiheit ist daher, so die Konsequenz des Textes, lediglich eine Freiheit zum Tode. Dies wird in einer gewagten Verknüpfung vorgeführt, welche den Bogen zu gegenwärtigen Ereignissen und Entwicklungen schlägt. Jans terroristische Karriere endet am 11. September 2001, als er in Absprache mit »den Arabern«61 einen Funksender ins World Trade Center bringt und selbst noch im dortigen Restaurant sitzt, als die Flugzeuge in die Türme einschlagen. Die einzige Freiheit, die ihm so letztlich bleibt, ist der Sprung aus dem Fenster: Er muß springen. [...] Jan weiß, daß er nicht schreien und fuchteln und strampeln wird [...] Er will fliegen. Er will das schnelle, schroffe, schmerzlose Ende nicht

58 Ebd. 112. 59 Ebd. 114f. 60 Ebd. 139. 61 Ebd. 194.

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fürchten und den Flug genießen. Immer wollte er frei sein, alle Bindungen hat er abgetan, er hat im Licht der Freiheit gelebt und mit ihrem Schecken. Alles, was er getan hat, war richtig, wenn er jetzt fliegt. Jan springt und breitet die Arme aus.62 

Die terroristische Freiheit entpuppt sich so als freier Fall in den Tod, das Genießen dieser Freiheit markiert das Ende des Subjekts. Zugleich wird der deutsche Terrorismus der 70er und 80er Jahre in eine problematische, teleologisch erscheinende Kausalkette mit dem terroristischen Großereignis der Gegenwart, dem Anschlag auf das World Trade Center, gestellt. Indem der Text so die kollektiv erinnerten Bilder des deutschen Herbstes mit denen aktueller Bedrohungsszenarien zu einer möglichen terroristischen Biographie verknüpft, rechtfertigt er im Umkehrschluss die Forderung nach unbegrenzter Inhaftierung der RAF-Mitglieder. Damit re-etabliert der Text als einzige gültige Version der Freiheit diejenige, die der »Gesellschaftsvertra[g]«63 gibt. Wie aber lässt sich unter dieser Perspektive Jörgs Wiedereintritt in die Gesellschaft rechtfertigen? Hierzu greift der Text das Motiv des Verdienens von Gnade auf:

62 Ebd. 196. 63 Lediglich an einer Stelle deutet der Text eine mögliche Öffnung an. So eröffnet Karin, die Bischöfin, den Sonntag mit einer kurzen Andacht, zu der die Anwesenden überraschenderweise vollständig erscheinen. Dort liest sie »den Vers über die Wahrheit, die frei macht« (197), muss aber nach einer kontroversen Diskussion die Relativität des Satzes einräumen: »Manche kehren ihn um, so daß nicht die Wahrheit frei, sondern die Freiheit wahr macht. Dann gibt es so viele Wahrheiten, wie Menschen ihre Leben frei leben – mich erschreckt der Gedanke, ich möchte, daß es eine Wahrheit gibt.« Hier entstehen kurzzeitig zwei Wahlmöglichkeiten, zwei Versionen von Freiheit. Der letzteren zufolge würde Freiheit zur Bedingung der Möglichkeit von Wahrheit gemacht, so dass Wahrheit stets nur noch individuell auf der Basis von Freiheit gefasst werden könnte. Vor einer solchen Legitimierung konkreten, individualisierten Freiheitsstrebens schreckt aber nicht nur die Bischöfin, sondern auch der Text selbst zurück, indem er die alternativen Freiheitskonzepte Jans und Jörgs mit deren Tod enden lässt.

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Ich muß mir das nicht anhören. Ich habe für alles bezahlt.« »Da hast du recht. Du mußt dir von mir nichts anhören. Du hast dir auch nie was von mir angehört. Du kannst aufstehen und aus dem Zimmer flüchten oder in den Park, und ich werde dir nicht hinterherlaufen. Aber erzähl mir nicht, daß du für alles bezahlt hast. Vierundzwanzig Jahre für vier Morde? Ist ein Leben gerade mal sechs Jahre wert? Du hast nicht bezahlt für das, was du getan hast, du hast es dir vergeben. Vermutlich schon bevor du es getan hast. Aber vergeben können nur die anderen. Die tun es nicht«..64

 Für die Wiederanerkennung durch die Gemeinschaft reicht ein zeitliches Büßen allein nicht aus. Die formal-juristische Begnadigung, so die Implikation, kann noch keine Gerechtigkeit herstellen. Dafür braucht es Vergebung und diese Struktur benötigt die Zustimmung der Gemeinschaft. Die Entscheidung eines Einzelnen – und sei es der Bundespräsident – kann diese Schuld daher nicht begleichen65. Damit ist die religiöse Bedeutungsdimension der Gnade aktiviert, wie auch die Bewertung der Bischöfin Karin verdeutlicht: »Zugleich hat, wer im Kampf getötet hat, eine Schwelle überschritten, die er nicht hätte überschreiten dürfen. Wir dürfen nicht töten.«66 Mit ihrer Paraphrase des fünften Gebots wird aus der Gesetzesübertretung eine Sünde, die Zuständigkeit wandert vom Gesetzgeber zu Gott. Der Roman lässt allerdings keinen Zweifel daran, dass hierbei keineswegs ein liebender, sondern ein strafender Gott gemeint ist. Hierzu wird der Ort der Handlung, das Landhaus und seine Umgebung, mit religiöser Bildlichkeit aufgeladen. So schlägt während des Wochenendes das Wetter um und ein immer stärker werdender Regen lässt den Bach, der das Grundstück begrenzt, zu

64 Ebd. 160. 65 Die juristischen Kommentare zur Begnadigung sprechen allerdings auch nicht von einem Freisprechen der Schuld, sondern lediglich von einem »Verzicht des Staates auf Strafe, indem eine vom Gericht verhängte Rechtsfolge nicht oder nicht weiter vollstreckt bzw. gemildert wird.« Der Text differenziert allerdings – ebenso wie vielfach auch die öffentliche Debatte – nicht zwischen Aussetzen der Strafe und Schuldfreiheit. Vgl. V. Epping/C. Hillgruber (Hg.): Beck’scher Online Kommentar GG, Art. 60, Rn 8-8.1http://beck-online.beck.de/default.aspx?vp ath=bibdata/komm/BeckOK_VerfR_12/GG/cont/beckok.GG.a60.glB.glII.gl1.ht m (01.10.2010). 66 B. Schlink: Das Wochenende, 103.

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einer bedrohlichen Größe anschwellen. Während sich damit die Grenze zum Außen dieser temporären Gemeinschaft aufzulösen und das Innere zu überschwemmen droht, dringt der Regen auch immer mehr in das marode Haus selbst ein. Für die Besucher entsteht dadurch die Szenerie einer Sintflut: »Auch das gehörte zu diesem Land. […] Daß der Regen nicht aufhören will und nur der Verstand einen vor der Angst rettet, es ergieße sich eine Sintflut aufs Land. Denn so fühlt der Regen sich an: wie eine Sintflut, die erst enden wird, wenn alles unter Wasser steht.«67 Die Natur wird hier zu einer religiös begründeten Kraft, welche mit dem Bild der »Sintflut« auf die Sündhaftigkeit und legitime Bestrafung der Menschen, aber auch auf die Möglichkeit eines Neuanfangs verweist. Die christliche Perspektivierung wird im Anschluss mit der nationalen kurzgeschlossen, indem die offizielle Bekanntgabe von Jörgs Begnadigung durch den Bundespräsidenten im Rahmen einer fiktiven »Berliner Domrede«68 erfolgt, also sozusagen von der Kanzel herab verkündigt wird69. Als der Regen schließlich aufhört, beginnen alle in einer gemeinsamen Aktion den mit Wasser vollgelaufenen Keller auszuschöpfen: »Ilse sah sich die Einzelnen an und war vom Ganzen fasziniert, vom Schauspiel der Zusammenarbeit, von der Koordination der Körper und Hände, vom Aufgehen der einzelnen mit ihren Zu- und Abneigungen in einer gemeinsamen Aufgabe.«ϳϬ Hier entsteht das Bild eines organischen Ganzen, eines Staatskörpers, der sich aus den einzelnen Körpern seiner Mitglieder zusammensetzt. Auch Jörg scheint dabei seinen Platz in der Gemeinschaft gefunden zu haben. Doch mit dieser naturalisierenden Wendung, die den sozialen Zusammenschluss von Menschen als Körper und damit als ›organische Ordnung‹ zu fassen sucht, wird letztendlich der Ausschluss Jörgs legitimiert. Sein Verstoß gegen diese Ordnung wird nun auf körperlicher Ebene geahndet. Er hat, wie sich nach einer Andeutung des Bundespräsidenten herausstellt, »Krebs, zu spät entdeckt, schlecht operiert und schlecht bestrahlt, oder es

67 Ebd. 179. 68 Ebd. 209. 69 Hier verschmelzen noch einmal die religiöse und politische Dimension in der Figur des Bundespräsidenten, der in der Kirche einen politischen Beschluss eröffnet. 70 Ebd. 224.

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konnte so spät nichts mehr werden, und inzwischen habe ich Metastasen.«71 Der scheinbare Neuanfang entpuppt sich damit als biographisches Schlusskapitel, das eine doppelte Funktion erfüllt. Zum einen wird die Begnadigung aus ihrer bedrohlichen Willkürlichkeit gelöst und in einen rational begründbaren Mitleidsdiskurs überführt, indem der Bundespräsident einem Todkranken seine letzten Monate in Freiheit gewährt. Damit wird die Begnadigung in diesem Einzelfall verständlich, ohne dass sie als generelles Mittel annehmbar erscheinen muss. Zum anderen erklärt der Text Jörgs Krankheit rückwirkend aus seiner politischen Gesinnung:  Sie [Margarete] fand auch Jörg krank. Muß nicht krank sein, wer Leute umbringt, nicht aus Leidenschaft und Verzweiflung, sondern klaren Kopfs und kalten Bluts? Margarete hatte auch bei den Gesprächen über die RAF und den deutschen Herbst und die Begnadigung von Terroristen, die Christiane und ihre Freunde führten, wieder und wieder das Gefühl eines kranken Themas, bei dem über eine Krankheit gesprochen wurde, die damals die Terroristen befallen hatte und nun auch die Sprechenden befiel.72

 Jörgs Krebserkrankung wird so verstehbar als eine notwendige Folge ›kranken Denkens und Sprechens‹. Übertragen auf das Bild des Gemeinschaftskörpers wird der Terrorist so zum Tumor der Gesellschaft, dessen Ausschluss nicht nur vernünftig, sondern zum Erhalt des Ganzen notwendig istϳϯ. Auch Jörgs Freiheit endet damit, wie diejenige Jans, in der Zerstörung seines Körpers. Dies wird wiederum über das Bild der Natur in eine höhere Ordnung eingebunden, in welcher man, der alttestamentlichen Logik der Sintflut folgend, seinen Worten und Taten entsprechend bestraft wird. Der Roman nimmt demnach religiöse Rahmungen vor, die er jedoch in den Redezusammenhang von Krankheit und Natur übersetzt. Vermittelt durch dieses Deutungsangebot schreibt der Text die unabgeschlossene Debatte weiter und liefert einen anschlussfähigen, aktualisierten Entwurf des nationalen Imaginären. D.h., er bindet das Geschehene in eine scheinbar

71 Ebd. 214. 72 Ebd. 87f. 73 In Jörgs Fall kommt hinzu, dass es sich um Prostatakrebs handelt, wodurch er bereits unfruchtbar geworden ist. Damit wird auch die Gefahr einer möglichen Reproduktion in der Gesellschaft ausgeschlossen.

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stimmige Narration ein und stellt so zugleich ordnende und annehmbare Bilder und Metaphern zur Verfügung. Ordnend, insofern die Erzählung klar unterscheidet zwischen Tätern und Opfern, Schuldigen und Unschuldigen, Eigenem und Fremdem. Dabei werden, wie gezeigt, die Tat und der zu ihrer Tilgung nötige Preis in eins gesetzt (Mord bzw. Tod). Als Konsequenz kann die Wiederaufnahme von Terroristen in die Gesellschaft lediglich posthum geschehen, ist also nicht möglich. Trotz dieser ausgrenzendverrechnenden Erzähllogik bleibt die angebotene Lesart jedoch als solche annehmbar, da sie den Vollzug der Strafe stillschweigend an eine höhere (göttliche) Ordnung bzw. die ›Natur‹ delegiert. Die Verweigerung der Gnade und das Festhalten am Strafvollzug, wie sie im Fall von Christian Klar erfolgten, erhalten damit im literarischen Text eine retrospektive, Rechtfertigung. Der so fortgeschriebene Ausschluss ermöglicht – als Rückübertragung auf die reale Debatte – eine erneute Identifizierung des Einzelnen mit ›seiner‹ Nation. Vor diesem Hintergrund – im Wissen, dass die Logik eines ›Auge um Auge, Zahn um Zahn‹ zum Tragen kommen wird – kann der Bundespräsident in Schlinks Erzählung den Terroristen Jörg tatsächlich begnadigen. Denn eine wirkliche Teilhabe an der Gesellschaft ist von ihm nicht mehr zu erwarten. In der realen Begnadigungsdebatte war dies, wie gezeigt, nicht möglich. So blieb dort, als einziger Weg der Schuldentilgung, die weitere Inhaftierung. Damit bleiben die Terroristen bzw. die Gnadenlosigkeit und Willkür, für die sie stehen, dauerhaft ausgegrenzt. Dass der Rechtsstaat selbst letztlich mit genau dieser Gnadenlosigkeit und Willkür verfahren könnte, wird dabei verdrängt und auf das terroristische Außen projiziert. Auf diese Weise geht der literarische Versuch einer kollektiv annehmbaren Sinngebung zwar über die juristisch-politische Debatte hinaus, insofern er eine erneute Identifikation mit Begriffen wie ›Rechtsstaat‹, ›Freiheit‹ und ›Gerechtigkeit‹ als »unser[rem] Ding«74 ermöglicht. Aber auch er verbleibt, wie die Lektüre gezeigt hat, am Ende notwendig in den Strukturen des Imaginären. 

74 S. Žižek: »Genieße Deine Nation wie dich selbst«, 135.

Was kommt nach der Nation? Das ›Versprechen‹ des Schwarms in kulturwissenschaftlichen und soziobiologischen Diskursen und in Frank Schätzings Wissenschaftsroman JULIA BODENBURG

Benedict Andersons nicht mehr neue, aber im Zusammenhang mit der Forschungsperspektive des vorliegenden Sammelbandes grundlegende These, dass die Nation »an imagined political community«1 ist, erweist sich insbesondere aus literaturwissenschaftlicher Perspektive als anschlussfähig: Wenn das geistige Prinzip ›Nation‹ Bilder und Erzählungen benötigt, um vorstellbar zu sein2, können diese Bilder und Erzählungen Untersuchungsgegenstand einer literaturwissenschaftlichen Analyse sein. Fragt man aus dieser Forschungsperspektive nach dem Funktionieren der Nation, müssen die visuellen und narrativen Strategien untersucht werden, die solchermaßen Identität stiften, dass sich einander anonym bleibende Subjekte der Nation zugehörig fühlen. Der identifikatorische Prozess muss ›in Gang‹ gehalten werden und künstlerische Produkte wie Literatur oder Filme haben daran Anteil. In den letzten Jahren hat sich mit der ›Politischen Zoologie‹ eine Forschungsperspektive entwickelt, die untersucht, in welcher Weise Tiere 1

Benedict Anderson: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, rev. Ed., London, New York 2006, 6.

2

In diesem Sinne argumentierte auch schon Ernest Renan in seinem 1882 gehaltenen Vortrag, der im gleichnamigen Band vorliegt: Qu’est-ce qu’une nation? Et autres essais politiques, hg. v. Joel Roman, Paris 1992.

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in Bezug auf solche Bilder und Erzählstrategien relevant sind.3 Das Tier wird dabei sowohl als Teil politischer Ikonografie und als politischer Akteur begriffen, der an der Entwicklung und Veränderung von politischem Ordnungswissen beteiligt ist. Hier kommt der Schwarm als zoologischpolitisches Modell für Gemeinschaft ins Spiel: Erkenntnisse über den Tierschwarm werden aus kulturwissenschaftlicher Perspektive weitergedacht und auf ihre Anwendbarkeit für die Vorstellung menschlicher Gemeinschaften hin befragt. In Hinblick auf die Zukunft des Nationalstaats als eine politische Ordnung steht zur Debatte, ob die Nation noch ein adäquates Identifikationsangebot für die Bürger und Bürgerinnen eines Staates sein kann oder ob angesichts von transkulturellen Identitäten und einer globalisierten Arbeitswelt, die von ihren Individuen ein hohes Maß an Mobilität und Flexibilität fordert, nicht nach neuen Formen und Modellen von politischer Gemeinschaft gesucht werden muss. Solche anderen, das nationalstaatliche Konzept überwindenden Modelle sollen durchlässiger, offener und ›beweglicher‹ sein, etwa insofern, als sie nicht überzeitlich als feste kontinuierliche Größe gedacht werden, derer man sich langfristig im Sinne einer ›großen Idee‹ verpflichten muss. Transparenz, Beweglichkeit, lokale und zeitliche Flexibilität sind offenbar die geforderten Attribute, die ein postmodernes Individuum mitbringen muss und die erstrebenswert erscheinen. Die oben ge-

3

Vgl. dazu den Band Politische Zoologie (Anne von der Heiden/Joseph Vogl (Hg.): Politische Zoologie, Berlin 2007), der das Feld erstmals interdisziplinär erschließt und u.a. Beiträge zur Figur des guten Hirten als einem Leitmotiv politischer Zoologie und zur politischen Emblematik enthält. Eva Johach hat sich aus wissensgeschichtlicher Perspektive insbesondere mit dem modellbildenden System des Bienenstaats beschäftigt, der im 18. Jahrhundert als monarchisch geführter Staat, in dem das Gesetz des Souveräns gilt, vorgestellt wurde. Sie legt dar, dass die Metapher des Bienenstaats im Zuge der Entwicklung der modernen Biologie selbst historisiert, von ihren moralischen Konnotationen abgelöst und durch den Begriff des Organismus ersetzt wurde. Vgl. Eva Johach, »Der Bienenstaat. Geschichte eines politisch-moralischen Exempels«, in: A. von der Heiden/J. Vogl (Hg.): Politische Zoologie, 219-233. Des Weiteren ist ausdrücklich auf Niels Werbers Projekt zur ›Kulturgeschichte Sozialer Insekten‹ zu verweisen: http://www.sozialeinsekten.fb3.unisiegen.de/Projekte_files/Konstanz_ Soziale%20Insekten.pdf (10.09.10).

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nannten positiv konnotierten Merkmale der Durchlässigkeit, Dynamik, Flexibilität und Offenheit werden dem Tierschwarm zugeschrieben. Der Blick in aktuelle soziobiologische, ökonomische, sozial- und kulturwissenschaftliche Diskurse zeigt, dass der Schwarm als Strukturmodell Konjunktur hat.4 Er wird nicht nur als neuer politischer Akteur5 apostrophiert, sondern scheint als relationales Ensemble auch klassische politische Ordnungen zu hinterfragen.6 Mein Beitrag geht von der Frage aus, welche Annahmen die-

4

Vgl. Andreas Neef, »Leben im Schwarm. Ein neues Leitbild transformiert Gesellschaft und Märkte (23.01.03)«, abzurufen unter http://www.changex.de/Artic le/article_924 (26.02.2011). Vgl. auch Klaus Burmeister u.a. »Aufbruch in die Schwarm-Gesellschaft. Deutschland und Europa 2020 – Ein Zukunfts-Szenario (16.12.03)«,

abzurufen

unter

http://www.changex.de/Article/article_1277

(26.02.2011). Der 10. deutsche Trend-Tag des Hamburger Trendbüro war dem Schwarm bzw. der Schwarmintelligenz gewidmet: Jedes Jahr stellt das Büro einen aus seiner Sicht bedeutenden gesellschaftlichen Trend vor, der die Wirtschaftswelt nachhaltig beeinflusst. Des Weiteren widmete sich Ranga Yogeshwar 2003 in Quarks & Co. dem Schwarm und führte auch SchwarmExperimente mit Menschen durch. Das Magazin Sciencegarden brachte ein Dossier zum Schwarm und kürzlich sind zwei kulturwissenschaftliche Publikationen erschienen, denen dieser Aufsatz Inspiration verdankt und auf die auch hinsichtlich weiterer Literatur zum Thema verwiesen wird. Das ist zum einen Gabriele Brandstetter/Bettina Brandl-Risi/Kai Eikels (Hg.): Schwarm(E)Motion. Bewegung zwischen Affekt und Masse, Freiburg i. Br. 2007, der aus dem Sonderforschungsbereich »Kulturen des Performativen« hervorgegangen ist. Zum Zweiten zu nennen ist Eva Horn/Lucas Marco Gisi (Hg.): Schwärme. Kollektive ohne Zentrum. Eine Wissensgeschichte zwischen Leben und Information, Bielefeld 2009, dessen Beiträge für mich anregend waren, da sie aus wissensgeschichtlicher und kulturwissenschaftlicher Perspektive argumentieren. Beiträge, die sich mit dem Schwarm in literarischen Texten und im Film beschäftigen, sind allerdings noch kaum zu verzeichnen. 5

Vgl. den Soziobiologen Howard Rheingold in seinem Buch Smart Mobs. The Next Social Revolution, Cambridge, MA 2003.

6

Vgl. Sebastian Vehlken: »Schwärme. Zootechnologien«, in: A. von der Heiden/J. Vogl, Politische Zoologie, 235-257, 235f. Vgl. auch Kai van Eikels: »Schwärme, Smart Mobs, verteilte Öffentlichkeiten – Bewegungsmuster als so-

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se zumeist euphorische Rede über den Schwarm als dem neuen sozialen Paradigma in Bezug auf Vorstellungen von Gemeinschaft transportiert. Zu untersuchen ist, inwiefern der Schwarm eine Alternativfigur für das Konzept der Nation sein kann. Stellt er für das globalisierte und transkulturelle Individuum das adäquatere Gemeinschaftsmodell zur Verfügung und kann er aufgrund seiner enthierarchisierten, dezentralisierten Struktur als radikal demokratisches Modell gelten? Ich möchte das behauptete Innovationspotenzial des Schwarms an einer subjektbezogenen Lektüre des Romans Der Schwarm (2005) von Frank Schätzing prüfen. Dabei gehe ich den Fragen nach, wie der Schwarm in dem literarischen Text vorgestellt wird, welche Bildbereiche dazu aufgeführt werden und in welcher Weise diese in Bezug auf Gemeinschaft identitätsstiftend sind. Schätzings knapp 1000-seitiges Buch ist Ökothriller und Wissenschaftsroman und erzählt von der Bedrohung der Menschheit durch die Natur, welche sich an der globalen Umweltzerstörung in Form einer menschenvernichtenden Katastrophe rächt. Angesichts dieses allseitigen Desasters schließt sich ein internationales Forschungsteam zusammen, um die Weltgemeinschaft zu retten. Der evolutionäre Gewinner der Katastrophe ist die Schwarm-Intelligenz unzähliger einzelliger Lebewesen, die sich aufgrund ihrer beweglichen Gestalt und ihres genetischen Wissens perfekt an ihre Umwelt anpassen können. Der Roman scheint mit dem Einsatz der titelgebenden Schwarm-Figur der euphorischen Rede vom Schwarm als dem innovativen Modell für Gemeinschaft Rechnung zu tragen. Er schreibt sich in aktuelle globale Problemfelder ein, die nicht mehr im Rahmen von nationalstaatlichen Modellen gelöst werden können. Allerdings – und das halte ich für den entscheidenden Punkt – ist der Schwarm hier nur auf den ersten Blick die innovative Denkfigur. In meiner Analyse möchte ich zeigen, dass der Text für das Imaginäre des Schwarms genau auf jene Mechanismen/Techniken zurückgreift, die auch für die Subjekt- und Nationenbildung von Gewicht sind.

ziale und politische Organisation?«, in: Gabriele Brandstetter/Christoph Wulf (Hg.): Tanz als Anthropologie, Paderborn 2007, 33-63.

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DAS VERSPRECHEN DES SCHWARMS Zunächst zeige ich die unterschiedlichen Redeweisen über den Schwarm als Denkfigur auf und setze die ihm zugeschriebenen Attribute ins Verhältnis zur Nation. Der Tierschwarm fungiert als Beschreibungsmodell für menschliche Kollektive. Es werden dabei die Kategorien Raum und Zeit, die Organisationsstruktur sowie die Teilnehmer des menschlichen Schwarms problematisiert. Der Schwarm kann sowohl selbst ästhetischer Gegenstand als auch theoretische Figur sein, über die sich das Verhältnis von Bewegung und Performativität7 einerseits sowie innovative Organisationsmodelle8 andererseits denken lassen. Die Übertragung eines zoologischen Phänomens auf menschliche Kollektive hat ihre Voraussetzung in der Abstraktion, die den Tierschwarm zu einem Struktur-Modell werden lässt. In seiner Modellhaftigkeit kann der Schwarm dann als technisches Paradigma, soziales Organisationsprinzip oder Metaphernquelle dienen, wobei die Diskurse und ihre Redeweisen, zwischen denen übertragen wird, nicht scharf voneinander zu trennen sind. Das bedeutet nichts anderes, als auf die Erzählpraxis und Metaphernproduktion aufmerksam zu machen, die jeder Generierung von Wissen, auch der Artikulation einer behaupteten Objektivität naturwissenschaftlicher Fakten, inhärent ist. Anhand der Kategorien Raum und Zeit lässt sich das Spezifische des Schwarm-Modells aufzeigen. Der Schwarm ist ein ad-hoc-Kollektiv, er ist nicht auf Dauer angelegt. Das flüchtige Emergenzphänomen des Schwarms verspricht neue Formen der politischen Partizipation und des Engagements. Es taucht nicht umsonst in einer Zeit auf, in der Konzepte des Politischen, die auf einem institutionell-legalistischen Begriff von Ordnung gründen, nicht mehr die einzigen und dominanten sind. Der Schwarm, verstanden als neues Dispositiv von Organisation, bedarf keiner institutionellen Verankerung, er benötigt keine repräsentativen Vertreter und keine souveränen Füh-

7

Vgl. Gabriele Brandstetter u.a.: »Übertragungen. Eine Einleitung«, in: Dies./B. Brandl-Risi/K. Eikels, Schwarm(E)Motion, 7-61.

8

Den wissenshistorischen Ansatz verfolgt der Band Schwärme. Kollektive ohne Zentrum. Die Beiträge haben das Ziel, eine Epistemologie des Schwarms zwischen Leben und Information zu entwerfen. Sie legen demnach einen Schwerpunkt auf die Organisationsform des Schwarms, die einer Logik der Selbstregulierung und Selbststeuerung folgt. Vgl. E. Horn/L.M. Gisi: Schwärme.

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rungsinstanzen. Insofern fällt er nicht unter Formen kollektiver Handlungssubjekte wie die Partei, die Gruppe oder Klasse oder die Nation. Er figuriert ein temporär begrenztes Interessenkollektiv, das lokal agiert und nicht zentralistisch angeordnet ist. Im Gegensatz zu gemeinschaftlichen Formen wie Partei oder Nation müssen sich die Individuen des Schwarms nicht mit einer übergeordneten ›großen Idee‹ identifizieren. Der Grund für den Zusammenschluss ist eine gemeinsame Motivation, ein zeitliches Interesse, das vollkommen unabhängig vom Geschlecht und von der ethnischen und sozialen Herkunft ist. Neben der deregulierten Organisationsform ist damit auch der emanzipatorische Aspekt des Schwarms angesprochen: Es scheint, als seien herkömmliche, wirkmächtige Differenzlinien im Schwarm-Modell nicht mehr von Bedeutung. Die politische und epistemische Prominenz des Schwarms liegt in einer anderen Form der Organisiertheit, einer Form, die den traditionellen Architekturen des Politischen, des Denkens, des Rechnens und der Kriegführung radikal entgegengesetzt ist. Als Kollektive ohne Zentrum und ohne hierarchische Strukturierung erscheinen Schwärme im Sozialen als Organisationsformen mit größeren Freiheitsgraden, im Denken als kreativer und schneller, im Krieg als effizienter.9

Einzelinteressen gehen im Schwarm zugunsten eines evolutionär relevanten Kollektivinteresses auf. Der Schutz des Schwarms ermöglicht es dem Hering, seinem Fressfeind zu entkommen und so den Bestand der Population zu sichern. Vögel, die im Schwarm in einem bestimmten Winkel hintereinander fliegen, profitieren vom ›Windschatten‹ ihres Vorgängers und sparen auf diese Weise Energie. Ein besonders wichtiges Kriterium ist die Effizienz, die in einem selbstgesteuerten und selbstregulierten System ohne Führungsinstanz höher ist als in hierarchisch gegliederten Verbänden. Solchermaßen wird dem Kollektiv ohne Zentrum eine Schwarm-Intelligenz zugesprochen. Hier ist jedoch auch auf die Ambivalenz hinzuweisen, die der dynamischen Schwarm-Formation innewohnt. Denn gerade das dezentrale, enthierarchisierte und gestaltlose Kollektiv erscheint bedrohlich, unvorhersehbar und unkontrollierbar. »Schwärme sind darum auch ein Topos

9

Eva Horn: »Schwärme. Kollektive ohne Zentrum. Einleitung«, in: Dies./L.M. Gisi, Schwärme, 7-26, 7.

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des populären Horrors: Schwarm-Invasionen, Monster-Insekten und attackierende Vögel sind die modernen Erben jenes Entsetzens, das das 19. Jahrhundert angesichts entfesselter Volksmassen empfand.«10 Die ambivalente Bedeutungszuweisung lässt sich auch an der Heuschrecken-Metapher zeigen. Franz Müntefering illustrierte 2004 seine kapitalismuskritische Position in Bezug auf anonyme Finanzinvestoren mit der Tiermetapher des Heuschreckenschwarms. Während der Schwarm in diesem Beispiel negativ konnotiert ist, fungiert er in Redeweisen, die ebenfalls dem ›linken‹ politischen Lager zuzuordnen sind, als basisdemokratischer Entwurf. Denn auf den ersten Blick gibt es keine Bedingungen für die Teilhabe am Schwarm. Seine Offenheit wird als Vorzug formuliert; er scheint seinen Teilnehmern ein hohes Maß an Partizipationsrechten einzuräumen und somit ein Modell für eine radikalere Form von Demokratie zu sein. Auf den zweiten Blick gibt es allerdings Teilnahmebedingungen für Schwarm-Akteure. Die Individuen müssen die Voraussetzung eines gemeinsamen Kommunikationsmodusǥ erfüllen. Bei menschlichen Schwärmen, etwa in Form von Flash Mobs oder einer Critical Mass, betrifft das in erster Linie die eigene Beweglichkeit sowie den Zugang zu mobilen Kommunikationsmedien und zu den Werkzeugen, derer sich die Agenten bedienen. Als Flash Mob, zu Deutsch ›Blitzauflauf‹, werden Kollektive bezeichnet, die sich über das Internet oder per SMS organisieren. Politisch agierte ein Flash Mob vor der Bundestagswahl 2009 bei einigen Wahlkampfauftritten von Angela Merkel. Der Mob jubelte Merkel nach jedem Satz ein »Yeah!« zu, irritierte und störte so die Wahlkampfrede.11 Von CDU-Politikern wurden die Rufenden als Störenfriede bagatellisiert. Was sie erreicht haben, ist aber genau das: eine Störung, indem sie sich zu einer Masse zusammengeschlossen und gleichzeitig ihre Stimme erhoben haben. Die Tagesthemen bezeichneten am 23.09.09, kurz vor der Bundestagswahl, die Flash Mobs als neue Form des politischen Protests.12 Die Selbstbeschreibung der Critical Mass, die sich durch den Aspekt der Bewegung noch einmal von den Mobs unterscheidet, macht die Parallele zum Schwarm-Phänomen deut-

10 E. Horn: »Schwärme. Kollektive ohne Zentrum. Einleitung«, 8. 11 Vgl. M. König : »›Yeah‹ – Das letzte Mittel gegen Merkel«, in : Online Ausgabe der Süddeutschen Zeitung 22.09.2009, http://www.sueddeutsche.de/politik/ 85/488480/text/ (29.09.09). 12 http://www.tagesschau.de/multimedia/video/video573670.html (29.09.09).

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lich.13 Critical Mass ist Bewegung: Es treffen sich etwa Radfahrer, um zu einem bestimmten Zeitpunkt die gleiche Strecke in gemächlichem Tempo zu fahren. Die Gruppe bleibt kompakt, keiner reißt aus, es gibt keinen Anführer und die Teilnahme ist von den Initiatoren nicht beschränkt. Die Radfahrer unterbrechen auf diese Weise den Verkehrsfluss und machen dadurch auf eine urbane Entwicklung aufmerksam, die eine Gruppe von Verkehrsteilnehmern, die Autofahrer, bevorzugt und andere Gruppen einschränkt. In diesem Sinn kann die Critical Mass als sozio-politischer Protest mit ökologischen Beweggründen verstanden werden. Wie die beiden Beispiele zeigen, sind bestimmte Bedingungen zu erfüllen, um Teil des Schwarms sein zu können. So ist es fraglich, ob behinderte Menschen, alte und gebrechliche Personen und Kinder in dem gleichen Maße am Schwarm teilnehmen können, wie ein gesunder, gebildeter Europäer der Mittelschicht.14 Konstituiert wird der Schwarm – als Denkmodell − von Individuen, die sich zu einer bestimmten Zeit in räumlicher Anordnung zusammenschließen, wobei der Raum hier keine festen Grenzen aufweist. Der Begriff des Individuums wird in der Schwarm-Rhetorik, die den Schwarm als soziales Modell profiliert, sowohl in soziologischer als auch biologischer Hinsicht recht unreflektiert verwendet. Aus biologischer Perspektive besteht der Schwarm aus Elementen, die sich aufgrund eines Überlebensinteresses zusammenschließen. In der Übertragung auf menschliche Kollektive wird der Schwarm als ein flüchtiges Emergenzphänomen gedacht, das sich aufgrund einer gemeinsamen, temporär begrenzten Initiative bildet. In der Rede vom Agent/Akteur im Schwarm schwingen Begrifflichkeiten mit, die auf Handlung bzw. Handlungsfähigkeit abzielen. Gerade in Bezug auf die Flash Mobs und die Critical Mass ist die Handlung explizit durchdacht und auf bestimmte Effekte hin geplant. Damit ist implizit das Verhältnis des Schwarms zum Subjekt angesprochen. Wenn der Schwarm als Gemeinschaftsmodell vorgestellt wird, das möglicherweise eine Alternative zur Nation zur Verfügung stellt, ist genauer nach den Konstituenten des Kol-

13 Vgl.: http://www.critical-mass-frankfurt.de/joomla/index.php?option=com_con tent&task=view &id=1&Itemid=29 (29.09.09). 14 Etwa zwei Drittel der Weltbevölkerung verfügen bislang nicht über den Zugang zu Mobiltechnologien.

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lektivs zu fragen. Diesem Aspekt gehe ich in den folgenden theoretischen Vorüberlegungen nach, die dann die Textanalyse leiten werden.

SCHWARM UND SUBJEKT Die euphorische Rede, die den Schwarm als politischen Akteur heraushebt, nimmt meines Erachtens nicht oder nicht ausreichend das Verhältnis zwischen dem Kollektiv und seinen Konstituenten in den Blick. In der politischen Beschreibungssprache bezüglich des Schwarms ist jedoch sein Verhältnis zum Subjekt angesprochen. Deshalb ist zu überlegen, in welcher Weise das Subjekt im Verhältnis zum Schwarm zur Disposition steht. Die Herausgeber des Bandes Schwarm(E)Motion haben folgende Vermutung: Die neueren Theorien des sozialen Schwarms hypostasierten möglicherweise das Individuum und beseitigten das Subjekt15, das in dieser Gegenüberstellung als ein autonomes, handlungsfähiges, selbstreflexives gedacht werden muss. In diesem Sinne konnotiert auch Roland Barthes den Schwarm negativ; er sei eine noch »schrecklichere Vision als der Ameisenhaufen«16, weil er das Subjekt17 vernichte, indem er die Individuen gleichschalte und dressiere. Die Ambivalenz des Schwarms ist schon angeklungen: Ihm werden unterschiedliche Eigenschaften zugeschrieben, die ihn positiv oder negativ semantisieren. Die Offenheit, Effizienz und Dynamik machen den Schwarm zu einer Form, die den traditionellen Architekturen des Politischen und Gemeinschaftlichen entgegengesetzt sei.18 Wenn die Nation mit Benedict Anderson als imaginierte Gemeinschaft gedacht wird, braucht diese Konzeption der Nation das Subjekt. Der Schwarm hingegen scheint ein Kollektiv aus Individuen zu sein, in dem das Subjekt keinen Platz mehr hat. Poststrukturalistische Subjekttheorien ver-

15 Vgl. G. Brandstetter u.a.: »Übertragungen. Eine Einleitung«, 36f. 16 Roland Barthes: Wie zusammen leben, Frankfurt a. M. 2007, 85. 17 Andreas Reckwitz liefert zwei empfehlenswerte, überblickshafte Beiträge zur Kategorie des modernen Subjekts: die kurze Monografie Subjekt, Bielefeld 2008, sowie den Artikel »Subjekt/Identität: Die Produktion und Subversion des Individuums«, in: Stephan Moebius/Andreas Reckwitz (Hg.): Poststrukturalistische Sozialwissenschaften, Frankfurt a. M. 2008, 75-92. 18 Vgl. E. Horn: »Schwärme. Kollektive ohne Zentrum. Einleitung«, 7.

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stehen das Subjekt nicht mehr als selbsttransparente, reflexive, autonome und mentale Instanz, sondern dezentrieren es auf unterschiedliche Weise. Michel Foucault, Jacques Lacan, Ernesto Laclau und Judith Butler etwa rekonstruieren Subjektivität als ein Produkt von spezifisch historischkulturellen und psychischen Subjektivierungsformen. Lacans Fokus liegt auf dem Subjekt, das Teil der imaginären und symbolischen Ordnung ist. Das Spiegelstadium dient dazu, eine permanente Struktur der Subjektivierung zu veranschaulichen. Demnach ist das Ich ein von sich selbst gespaltenes, entfremdetes, das vermittelt durch die Spiegel-Imago ein Ideal-Ich setzt. Es dient als Garant von Einheit, Dauerhaftigkeit und Omnipotenz, ist realiter jedoch niemals zu erreichen. Dieses Ich der Spiegelerfahrung ist ein imaginäres und verkennt, dass das Spiegel-Ich nur Produkt einer Repräsentation ist. Jene Brüchigkeit, die dem Subjekt grundlegend zu Eigen ist, versucht es zu kaschieren. Was es konstituiert, ist demgemäß das Begehren nach Ganzheit. Das zerrissene Subjekt verortet sich im Imaginären und identifiziert sich mit einem Ideal bzw. einer Ideologie, die seinen Mangel an Sein zu verbergen in der Lage ist. Slavoj Žižek überträgt diese Begehrensstruktur des Subjekts auf nationale Kollektive. Das Phänomen des Nationalismus wird auf diese Weise als ein Begehrensmuster eines Kollektivs analysierbar. In dieser Hinsicht hat Lacans Spiegeltheorie gesellschaftspolitische Relevanz, insofern sie hilft, die Wirkungsweisen identitätsverheißender Formationen kenntlich zu machen. Formationen wie etwa die Nation stellen dem Subjekt ein Zentrum bereit, mit dem es sich identifizieren kann, das Geschlossenheit und Sinnstiftung verheißt. Žižek bezieht sich neben Lacan auch auf den Begriff des Antagonismus, den Ernesto Laclau und Chantal Mouffe in ihrer politischen Theorie entwickelt haben. Ausgangspunkt ist sowohl bei Lacan als auch bei Laclau/Mouffe die Annahme, dass die symbolische Ordnung einer Kultur ein System von differentiellen Zeichen ist, die sich stetig verschieben. Dieser Verschiebungsprozess erzeugt Bilder, mit dem sich das Subjekt identifizieren möchte. Das können sowohl idealisierte Objekte, Dinge oder Menschen, als auch Subjektformen im Sinne von ›Ideal-Ichen‹ sein.19 Das Subjekt bzw. die Nation stehen mit den begehrenswert erscheinenden Objekten in einer spezifischen Beziehung. Sie sind ihnen gegenübergestellt, insofern die Identität der Gruppe/des Subjekts nicht einfach schon da ist, sondern in der antagonistischen Beziehung

19 Vgl. A. Reckwitz: »Subjekt/Identität«, 84.

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zum Gegenüber erst hergestellt und immer wieder aktualisiert werden muss. Der Vorteil einer solchermaßen poststrukturalistisch ausgerichteten psychoanalytischen Theorieperspektive liegt darin, Psychodynamiken und den Komplex des Imaginären in den Blick zu bekommen. Das Imaginäre kann wiederum Aufschluss über die politisch-gesellschaftliche Dimension dieser Psychodynamiken geben. Meine These in Hinblick auf die folgende Textlektüre ist, dass der Schwarm-Diskurs hier Auskunft über das Imaginäre kollektiver Identität gibt und die Möglichkeit bietet, die psychodynamischen Strukturen, die begehrenswerte Objekte aufkommen lassen, zu reflektieren. Der Schwarm kann so ein begehrenswertes Ding sein. Seine Doppelgesichtigkeit macht ihn dabei interessant. Ein emphatisch konzipiertes Subjekt droht in ihm zu kollabieren, wenn er als diffuse, ununterschiedene Masse vorgestellt wird. Die Kollektivfigur kann dem isolierten und atomisierten Individuum aber auch das Gefühl von Selbstvergessenheit und das Erlebnis einer identifikatorischen Teilhabe an Vollkommenheit und Einheit zur Verfügung stellen. In Schätzings Roman ist der Schwarm eine Figur, die das Subjekt ›ins Leben ruft‹, anstatt es zu negieren. Dabei changiert der Text zwischen der Evokation eines emphatischen und poststrukturalistischen Subjektbegriffs.

DAS IMAGINÄRE DES SCHWARMS Frank Schätzings Ökothriller Der Schwarm aus dem Jahr 2004 ist ein Roman aus Diskursen, »prallvoll mit Wissen und Wissenschaft«20, wie der Autor selbst im Nachwort hervorhebt. Evolutionstheorie, Biotechnologie, Biodiversität, Umweltzerstörung und Klimaveränderung sind die Themen des Buches, die Schätzing zu einer spannenden Geschichte verknüpft, in der die Problematisierung von gender- und ethnischen Differenzen nicht ausgespart wird. Mit dem globalen Klimawandel und dem Umgang damit von politischer und wirtschaftlicher Seite hat der Roman an Diskursen teil, die zwar nationalstaatliche Grenzen überschreiten und auch nicht von einzelnen Nationen zu führen sind. Klimawandel und Klimaschutz sind jedoch zum einen geeignete Themen, um sich auf dem internationalen politischen Parkett als ökologisch engagierte Nation zu profilieren sowie innenpolitisch 20 Frank Schätzing: Der Schwarm, Köln 2005, 988. Künftig zitiert als S im Text.

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und auf nationaler Ebene auf sich aufmerksam zu machen. Der Roman verhandelt also Fragen zur Nation nicht explizit. Die post-nationalen, globalen Problemstellungen fordern die Protagonisten aber dazu heraus, nach neuen Gemeinschaftsmodellen zu suchen, die auch in nationaler Hinsicht relevant sind. In dem Ökothriller ist der Schwarm auf Ebene des plots zweifach kodiert. Aufgrund seiner Ungreifbarkeit und Undifferenziertheit erscheint er einerseits als Feindbild. Die nähere Erforschung des Schwarms lässt ihn für die Figuren des Romans andererseits zu einem faszinierenden Bild für Gemeinschaft werden, die nicht mehr auf klassische politische Ordnungskonzepte wie etwa die Nation angewiesen ist. Ich möchte in meiner Analyse die These belegen, dass der Schwarm weder das Konzept der Nation als imaginierte Gemeinschaft noch das Konzept des (Lacan’schen) Subjekts irrelevant werden lässt. Der Roman setzt die Schwarmfigur vielmehr in der Funktion ein, die imaginäre Struktur der Subjektivierung zu veranschaulichen. Zunächst ist der Schwarm reine Bedrohung. Was er bedroht, ist nicht allein die amerikanische Nation, sondern die Bedrohung ist global: Es geht um die Menschheit als solche. Die Natur scheint sich der menschlichen ›Rasse‹ entledigen zu wollen. So nimmt die Romanhandlung die klassische Dichotomie Natur – Kultur auf und spielt die beiden Pole gegeneinander aus. Das Kräfteverhältnis ist freilich nicht ausgeglichen. Dem Genre des Katastrophenfilms21 entsprechend, scheint die Natur überwältigend und alles beherrschend zu sein. Sie bricht zunächst in Form aggressiver Meerestiere über den Menschen herein; Wale töten Segler und Fischer, mutierte Würmer mit überdimensionierten Kiefern bilden einen Teppich am Strand, Muscheln saugen sich an Schiffsschrauben fest und blockieren das Fahrwerk. Unterirdische Methanverpuffungen lösen Tsunamis an den Küsten Europas aus. Um der Katastrophe Herr zu werden, wird ein Nationen übergreifender Krisenstab aus Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, Politikerinnen und Politikern einberufen. Dass das animalische Leben die Oberhand gewonnen hat, will der US-amerikanische Teil der internationalen Gruppe nicht wahrhaben; Würmer passen einfach nicht ins Feindbild. Einfacher zu handhaben wären arabische Terroristen, die den Rohöl-Markt

21 Das Buch zitiert in direkter Weise eine Vielzahl an Science Fiction-Filmen wie etwa Alien oder Abyss und scheint auf eine Verfilmung hin geschrieben worden zu sein. Bisher ist eine Verfilmung jedoch nur angekündigt worden.

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übernehmen wollen. Schätzing persifliert den US-amerikanischen Präsidenten à la George W. Bush und seine fundamental-christliche Weltanschauung sowie sein naives Freund-Feind-Schema.22 Für den vorliegenden Zusammenhang sind die tierischen Agenten jedoch aufschlussreicher als die Karikaturen der Politiker. Was der Meeresbiologe Sigur Johanson, der Walschützer Leon Anawak, die Forscherin von Search for Extraterrestrial Intelligence, Sam Crowe, und die Wissenschaftsjournalistin Karen Weaver als Verursacher der ökologischen Katastrophe entdecken, sind keine Cyborgs, Aliens oder schleimigen Monster, wie man sie aus der ScienceFiction kennt, sondern schlicht Einzeller, die in Schwärmen auftreten. Es ist also die Kollektivität der ›Urbakterien‹, die dem Menschen agierend gegenübersteht. Die agency der Schwarm-Einzeller kann mit Blick auf die Darstellung des Romans folgendermaßen näher bestimmt werden. Die einzelligen Lebewesen existieren seit Urzeiten und besiedeln immer schon den Planeten Erde. Aus evolutionsgeschichtlicher Perspektive sind sie nicht nur die ältesten, sondern auch die ›fittesten‹ Lebewesen. Ihr evolutionäres Interesse ist es zu überleben und ihre Umwelt demgemäß zu ›bewahren‹. Weil sie durch den Menschen gefährdet sind, wird das Kollektiv aktiv und setzt seine biologische Waffe ein: Die Bakterien dringen in andere Tiere ein und steuern sie. Das ist möglich, weil der Bakterienschwarm amorph ist, d.h. er kann seine Gestalt nach Bedarf verändern und auf diese Weise die Gestalt eines Fisches, einer Qualle o.ä. annehmen; er steuert sich selbst. Dabei ist der Schwarm als zusammenhängendes Gebilde, das als blaue Wolke sichtbar

22 Entsprechend zu seinem Genre besticht der Roman weniger durch eine komplexe erzählerische Konstruktion als durch seine naturwissenschaftliche Fundierung und einen spannenden Handlungsaufbau. Des Weiteren legt er nationale Stereotype offen: Alle amerikanischen Figuren, die Militär oder Regierung unterstehen, sind zwielichtig. Intellektuelle werden dagegen als integer charakterisiert und legen ein Verhalten an den Tag, das man dem ›good old Europe‹ zuschreibt: Die USA wollen ihre weltweite Vormachtstellung am liebsten durch einen groß angelegten Militärschlag sichern, während die deutsch-französischskandinavische Allianz auf Diplomatie setzt. Schließlich ist es die von Regierungsorganisationen unabhängige amerikanische Wissenschaftsjournalistin, – eine Figur, die professionell mit Sprache umgehen kann – die Kontakt zum Schwarm aufnimmt und so die Vernichtung temporär aufhalten kann.

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wird, von den abgespaltenen, kleineren Kollektiven zu unterscheiden, die in Form von Tieren den Menschen direkt angreifen. Wie ein ›Ameisenschwarm‹ kommunizieren auch die Einzeller über Duftstoffe. Schätzings Gedankenexperiment ist nicht aus der Luft gegriffen. Eva Horn zeigt die epistemologischen Grundlagen des Szenarios auf, das mit Bezug auf die Forschungen von Evelyn Fox Keller u.a. nur noch insofern in den Bereich der Science Fiction gehört, als die Erkenntnisse zur biologischen Selbstorganisation literarisch weitergedacht werden.23 Der Schwarm, wie er hier auftritt, ist fiktiv, aber aus naturwissenschaftlicher Sicht möglich und er wird als eine den Menschen in evolutionsgeschichtlicher Perspektive übersteigende ›Rasse‹ konzipiert. ›Mensch‹ und ›Schwarm‹ werden in Form eines philosophisch-anthropologischen und eines biologischen Paradigmas einander gegenübergestellt. In der Gegenüberstellung werden Differenzen, aber auch Parallelen deutlich. Schätzings Schwarm ist auf eine spezifische Weise intelligent. Das Wissen der Bakterien lagert sich in der DNA ab und wird so genetisch über Generationen von Einzellern kontinuierlich vererbt und niemals vergessen. Da die Einzeller den Planeten seit Anbeginn besiedeln, verfügen sie über ein ›kollektives Gedächtnis‹24, das Zeit und Raum übergreifend ist. Ihr unbegrenztes, genetisch vererbbares Wissens-Archiv macht sie dem Menschen überlegen, der Wissen wiederum nur begrenzt und in einer bestimmten Weise tradieren kann. Wir haben kein Rassegedächtnis. Unsere Kultur beruht auf mündlicher und schriftlicher Überlieferung oder auf Bildern. Aber unmittelbar Erlebtes können wir nicht weitergeben. Mit unserem Körper stirbt unser Geist. Wenn wir sagen, dass die Fehler der Vergangenheit nie in Vergessenheit geraten dürfen, sprechen wir einen uner-

23 Horn bezieht sich auf das so genannte Keller-Segel-Modell: Ein zellulärer Schleimpilz kann zu einem Zellorganismus aggregieren und sich durch die Ausbildung eines Fruchtkörpers vermehren. Weitere Forschungsergebnisse schreiben diesen Amöben Intelligenz zu, weil sie den kürzesten Weg durch ein Labyrinth zu einer Futterquelle gefunden hatten. Eva Horn, »Das Leben ein Schwarm. Emergenz und Evolution in moderner Science Fiction«, in: E. Horn/L.M. Gisi, Schwärme, 101-124, 121f. 24 ›Kollektives Gedächtnis‹ wird in diesem Zusammenhang nur als beschreibender Begriff verwendet und referiert nicht auf das kulturwissenschaftliche Konzept.

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füllbaren Wunsch aus. […] Bei den Yrr ist das anders. Eine Zelle lernt und teilt sich. Sie verdoppelt ihr Genom mitsamt aller Informationen, etwa so, als würden wir unser Hirn mitsamt aller Erinnerungen duplizieren. [Hervorhebung J.B.] (S, 857)

Der Roman führt die Tradierung menschlicher Kultur vor. Er zitiert explizit eine Fülle von kulturellen Dokumenten – insbesondere Science FictionFilme und -Literatur –, die die Zukunft der Menschheit imaginieren und stellt heraus, wie stark anthropologisches Wissen und Gedächtniskonzepte von Vorstellungsbildern geprägt, ja allererst erzeugt sind (vgl. S, 857, 665). Auf diese Weise werden die psychodynamischen Strukturen (›sich ein Bild von sich selbst als einem anderen machen‹) der individuellen und kollektiven Identitätsbildung lesbar. Der Schwarm hat kein kulturelles, sondern ein genetisches Gedächtnis. Das macht ihn auf den ersten Blick so reizvoll für den Menschen, denn dieser kann individuelle Erfahrung nicht weitergeben und die Übertragungsmedien bergen im Gegensatz zur biologischen Duftübertragung eine größere Gefahr des Missverständnisses, der Manipulation und der Verzerrung. Die genetische Intelligenz des Schwarms unterläuft die Körper-Geist-Dichotomie, die von den Figuren des Romans emphatisch hervorgehoben wird. Geist und Körper sind beim Einzeller eins. Des Weiteren gilt für die Yrr ein anderer Zeitbegriff. Sie differenzieren nicht wie Menschen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Ihr Wissen ist immer vollkommen gegenwärtig und unmittelbar. Menschen stellen sich zwar einen unaufhörlichen Zeitstrom vor, haben jedoch auf vergangenes Wissen nur einen mittelbaren Zugriff – menschliches Wissen ist medialisiert. Schließlich suspendiert der Schwarm die Idee des Individuums zugunsten seiner Spezies. Während der Mensch das Individuelle hervorhebt, sind die Yrr am Überleben des Kollektivs interessiert. Sein Agieren ist immer auf ein übergeordnetes Ziel, das allen nützt, ausgerichtet. Der Körper ist der Geist, der Geist ist der Körper. Kein einzelnes Yrr wird je etwas tun, das den Interessen der Allgemeinheit zuwiderläuft. Überleben ist ein Interesse der Spezies, nicht des Individuums, und Handeln immer der Beschluss aller. Grandios! […] Keine Eitelkeiten, kein Informationsverlust. Wir Menschen sehen immer nur einen Teil des Ganzen, sie überblicken Zeit und Raum. (S, 858, 859)

Gegenübergestellt wird an dieser Stelle das zweckmäßige und eigennützige Handeln des Menschen, das dieser vor sich selbst und in moralisch-

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ethischer Hinsicht rechtfertigen muss, mit dem ›selbstvergessenen‹, evolutionären Interesse des Schwarms, das einer moralisch-ethischen Legitimation entbehrt. Andererseits beinhaltet das spezifische Rassegedächtnis des Schwarms und seine damit einhergehende egalitäre Struktur eine ethische Dimension: In einem Yrr-Kollektiv weiß jeder alles. Es gibt keine klugen Köpfe, keine Wissenschaftler, Generäle und Führer, die man aus dem Weg räumen könnte, um den anderen die Informationsgrundlage zu entziehen. Man kann so viele Yrr töten, wie man will – solange einige überleben, überlebt das Wissen aller. (S, 859)

Das Kollektiv-Lebewesen ist dem Menschen, der Einzelinteressen verfolgt und unter Umständen Kriege anzettelt, in moralischer Hinsicht überlegen. Eva Horn resümiert in ihren Ausführungen zum Schwarm, dass für Schätzing die »akkumulative, globale und vergessenslose SchwarmIntelligenz der Yrr ein Anderes des Menschen [ist], das diesen zugleich umfasst und übersteigt: eine Meta-Intelligenz. In diesem SchwarmSpiritualismus ist der Schwarm am Ende ein romantisches Modell der intelligenten Natur«25. Inwiefern der Schwarm als romantisches Modell im Text lesbar wird, d.h. welche Metaphern und Erzählverfahren der Text zur Anwendung bringt, führt sie jedoch nicht aus. Ich möchte in der folgenden Argumentation anhand bestimmter Textpassagen zeigen, wie das Andere der Menschheit, der Schwarm, entworfen wird, d.h. mit welchen Bildern er im Text aufgerufen wird. Horns Annahme vom Schwarm als einem Modell, das auf Konzepte der Romantik verweist, möchte ich um die These ergänzen, dass der Schwarm bei Schätzing – entgegen den Zuschreibungen in sozialwissenschaftlichen oder ökonomischen Redeweisen – das Subjekt apostrophiert, es in besonderer Weise heraushebt. Es ist dies ein Subjekt, das sich selbst als Teil eines Ganzen erfährt; das Subjekt ist ein gespaltenes, das sich im Angesicht eines Ganzen erkennt. »Blau. ›Die blaue Wolke‹, flüsterte Rubin. […] ›Ich glaub’s nicht‹, sagte Oliviera. Vor ihren Augen hing ein kugelförmiges Ding von der Größe eines Fußballs. Ein blau leuchtendes Etwas aus kompakter Materie. Pulsierende Gallerte. Sie hatten die Wesen wiedergefunden.« (S, 694) Nicht die

25 E. Horn: »Das Leben ein Schwarm«, 123.

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mutierten Zebramuscheln oder die Würmer, die Schiffe zum Kentern bringen, erregen hier die Aufmerksamkeit der Wissenschaftler, sondern der Schwarm als solcher zeigt sich, er emergiert vor den Augen des Krisenstabs. Allerdings zeigt sich hier keine diffuse Masse, sondern sie wird als Form erkannt: signifikanterweise als Fußball und blaue Wolke, die »in ihr eigenes Zentrum gesaugt« (S, 694) wird. Im Kontext weiterer Bezüge des Romans kann die ›blaue Wolke‹ als Referenz auf die blaue Blume der Romantik gelesen werden. Es wird mit diesen Bildern auf zwei kulturelle Manifestationen Bezug genommen, die in hohem Maße an der Stiftung kollektiver und nationaler Identität beteiligt sind, insofern sie wie die Religion oder der Mythos eine sozial verbindende Funktion haben: Fußball26 und das Bild der blauen Blume. Mit der Referenz auf die blaue Blume wird kein neues, sondern ein bekanntes Bild aus einer Zeit aufgerufen, die das emphatische Subjekt sowie die moderne Nation allererst hervorgebracht hat und die Einbildungskraft dafür als konstitutiv setzt.27 Die Engführung von Fußball und blauer Blume scheint auf den ersten Blick das romantische Motiv zu ironisieren. Berücksichtigt man die postmoderne Gesamtstruktur des Romans, ist ein solches Nebeneinander allerdings nicht auffällig. Der Fußball kommt nur an dieser Stelle vor; die Anspielungen auf die blaue Blume und weiter gefasst auf die romantische Naturphilosophie setzt der Text dagegen – so meine folgende Lektüre – gleichermaßen assoziativ und emphatisch ins Werk. Novalis’ Projekt Heinrich von Ofterdingen »bezeichnet das allgemeine romantische Modell einer ästhetischen Natur- und Welterkenntnis, in der der sympathetische Zusammenhalt aller Bereiche über einen ästhetischen

26 Vgl. zum Zusammenhang zwischen Fußball und nationaler Identität insbesondere nach der Fußballweltmeisterschaft 2006 in Deutschland Michael Groll: »Wir sind Fußball. Über den Zusammenhang zwischen Fußball, nationaler Identität und Politik«, in: Jürgen Mittag/Jörg-Uwe Nieland (Hg.): Das Spiel mit dem Fußball. Interessen, Projektionen und Vereinnahmungen, Essen 2007, 177-189. 27 Vgl. Jochen Schulte-Sasse: »Einbildungskraft/Imagination«, in: Karlheinz Barck (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 2: Dekadent – Grotesk, Stuttgart, Weimar 2001, 88-120, der die Zusammenhänge zwischen Subjekttheorien und Imagination aus historischer Perspektive aufzeigt.

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Sinn hergestellt wird«28. Bei Novalis unternimmt eine männliche Figur eine Reise in die eigene Innenwelt, deren Ziel die ästhetische Bildung zum Künstler ist. Auf dieser Reise hat die blaue Blume leitmotivische Funktion. Sie wird mit dem Bild der Geliebten überlagert »und als symbolische[r] Motor der Dichterbildung und einer ›Sehnsucht‹ ein[ge]setzt, die auf ein Jenseits«29 verweist. Dieses Jenseits, ein zukünftiges, goldenes Zeitalter, ist nach Detlef Kremer »ein im positiven Sinne vollendetes Chaos, in dem alle geschichtlichen Unterschiede und Begrenzungen in einem märchenhaften Einheitsbild aufgehoben erscheinen«30. Der fragmentarische Roman lässt sich als Musterbeispiel ›progressiver Universalpoesie‹ lesen. Ausgehend vom Mikrokosmos eines Traumes, den ein Einzelner träumt, werden Natur und Geschichte, Universum und Weltzeit wie in sich erweiternden, konzentrischen Kreisen in die Romanstruktur, die ihre Literarizität reflektiert, einbezogen.31 Die romantische Bildwelt ist in Schätzings Roman eingeschrieben. In Der Schwarm ist es eine weibliche Figur, Karen Weaver, die sich zusammen mit den anderen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern auf die suchende Reise nach ›den Wesen‹ begibt, von denen sie sich Erkenntnis über die Welt erhofft. Wie Heinrich von Ofterdingen dringt Weaver in die ›Tiefe‹ – anstelle des Erdgesteins ist es das unbekannte Universum der Tiefsee, das ergründet werden muss. Karen Weaver – die Weberin – ist schon aufgrund ihres sprechenden Namens als Textfigur konzipiert. Mit dem Nachnamen wird ihr eindeutig der Bereich von Schrift, Gewebe, Text und damit eine schöpferische Tätigkeit zugeordnet. Sie ist Wissenschaftsjournalistin, eine Figur, die nicht nur reflektiert mit Sprache umzugehen weiß, sondern auch die ›harten Fakten‹ der Naturwissenschaften einem fachfremden Publikum vermitteln kann. Sowohl ihr Name als auch ihre berufliche Tätigkeit weisen sie als Vermittlerin aus. Während sich Karen Weaver im Modus der erlebten Rede ihrer selbst als »müder, kleiner Partikel, traurig und einsam« (S, 966) gewahr wird, steht ihr die Ganzheit der Yrr gegenüber. »Ein Partikel in der Vielfalt. Keinem anderen Menschen

28 Detlef Kremer: Romantik, 3., aktualisierte Auflage, Stuttgart/Weimar 2007, 62. 29 D. Kremer: Romantik, 127. 30 Ebd. 129. 31 Vgl. auch Monika Schmitz-Emans: Einführung in die Literatur der Romantik, Darmstadt 2004, 99.

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gleichst du vollständig […]. Irgendetwas ist immer anders. […] Ist es nicht tröstlich, dich als Partikel begreifen zu dürfen, wenn dir dafür Einzigartigkeit zugestanden wird?« (S, 957) Die Einzigartigkeit des menschlichen Individuums, des Unteilbaren, steht, so kann diese Textstelle gelesen werden, im Kontrast zu den teilbaren Lebewesen des Schwarms. Denn deren Teilbarkeit ist gerade das Spezifische der Gallerte; sie kann sich durch Teilung unendlich vervielfältigen. In Schätzings Konzeption konstituiert sich der Schwarm nicht aus Individuen, also aus soziologischen Einheiten. Stattdessen wird ein biologisches Paradigma zur Anwendung gebracht, wenn der Schwarm als aus Zellen bestehend beschrieben wird. Diese geben ihr Wissen genetisch weiter und genau darin liegt für die Wissenschaftlerin Faszination und Bedrohung des Einzeller-Schwarms zugleich. Die Einzeller vermehren sich ungeschlechtlich; der Schwarm setzt sich demnach aus unzähligen mit sich selbst identischen Zellen zusammen und kommt dadurch einer Kolonie von Klonen gleich. Gleichheit und Ganzheit – da es auch keine Spaltung, keine Trennung mehr gibt – zeichnen die Schwarmfigur aus. Diese Figuration regt die Protagonisten im Text dazu an, sich die Selbst-Aufgabe im Kollektiv zu vorzustellen. Im Angesicht des Schwarms, d.h. in der Blickkonstellation, wird sich der Mensch, hier die Wissenschaftlerin Weaver, als Teil eines Ganzen bewusst. Während es in der romantischen Naturphilosophie, auf die das Bild der blauen Blume anspielt, um einen spekulativen Gesamtzusammenhang der einzelnen, voneinander getrennten, aber wechselseitig aufeinander bezogenen Bereiche (MaterieGeist, Natur-Geschichte) geht, ist die Denkfigur eines Gesamtzusammenhangs im Roman ins Biologisch-Evolutionäre gewendet. Hier ist es der genetisch ›denkende‹ Schwarm, der alles in sich vereint. Tausend Jahre, kleiner Partikel. Mehr als zehn Menschengenerationen, und du hast die Welt einmal umrundet. […] Eine Sekunde deiner Reise, kleiner Partikel, und einfachstes Leben entsteht und vergeht. Nanosekunden, und Elementarteilchen wechseln ihre Plätze. In noch kürzerer Zeit vollziehen sich chemische Reaktionen. Irgendwo dazwischen der Mensch. Über allem die Yrr. Der sich selbst bewusst gewordene Ozean. (S, 965)

Schließlich gelingt die Vereinigung von Mensch und Natur durch die Vermittler-Figur Weaver. Sie nähert sich dem Ozeangrund in einem Tauchboot und entlässt den toten, von der Gallerte durchdrungenen Körper des ver-

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storbenen Wissenschaftler-Kollegen Jack Rubin ins Meer. Die Yrr sollen anhand ihres Duftstoffes, der dem Toten zugefügt wurde, lernen, dass die Menschen Kontakt mit ihnen aufnehmen wollen, dass sie gewissermaßen Respekt vor dem Schwarm bekommen haben. Tatsächlich integriert der Schwarm den Leichnam, der durch den Yrr-Duftstoff nicht mehr als menschlich zu erkennen ist, sondern aus ›Schwarm-Materie‹ besteht. Das Entscheidende an dieser Textpassage ist, dass der Kontakt als eine Vermählung beschrieben wird; der Text setzt eine sakrale Bildsprache ins Werk. Rubins Körper wird von Tentakeln des Kollektivs abgetastet. Im Gegensatz zu allem, was sie [Weaver, J.B.] bisher von den Yrr gesehen hat, leuchten diese Fühler in changierendem Weiß. Das Ganze mutet choreographisch an, ein stummes Ballet, und plötzlich hört Weaver von fern die Musik ihrer Kindheit: Debussys La plus que lente, den mehr als langsamen Walzer, das Lieblingsstück ihres Vaters. (S, 969)

Ein langsamer Walzer, die Farbe Weiß und über Weaver »wölbt sich eine blau schimmernde Glocke von gigantischen Dimensionen, hoch wie eine Himmelskuppel« (S, 969) – der einzelne Mensch und der Schwarm vereinigen sich hier wie in einer Hochzeitszeremonie. Die sakrale Metaphorik wird jedoch gebrochen, indem das weiße Schimmern als chemische Reaktion erklärt wird. »Weiß ist es einzig darum, weil Biolumineszens oft weißes Licht erzeugt, ebenso wie blaues, grünes oder rotes. Kein Gott offenbart sich hier, sondern lediglich der angeregte Zustand leuchtfähiger Einzeller.« (S, 969) In diesem letzten Kapitel des Romans fungiert der Schwarm nicht mehr als Strukturmodell für Gemeinschaft, sondern als Reflexionsfigur für Subjektivität. Deutlich wird dies anhand des Erzählverfahrens und der Reaktion der weiblichen Figur. Die narrative Instanz ist eine heterodiegetische Erzählerin mit einer überwiegend internen Fokalisierung über die Figur Karen Weaver. Ereignisse und Gedanken werden in erlebter Rede wiedergegeben. Der Fokus liegt auf der Perspektive der Figur und ihrem inneren Erleben. Mit dem Erzählmodus, der von einem hohen Grad an Unmittelbarkeit geprägt ist, kommt ein weiterer Aspekt des Schwarms in den Blick, über den sich sein Verhältnis zum Subjekt denken lässt. Wie schon angesprochen, ist die fließende, nicht-lineare Dynamik eines der Merkmale, das den Schwarm ausmacht. Das Prinzip der Bewegung kann auch in einem rhetori-

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schen Sinne verstanden werden. Der Schwarm bewegt sich nicht nur in motorischer Hinsicht, sondern das movere bezieht sich auch auf die Affekte. Die Bewegung des Schwarms sei – so die kulturwissenschaftliche Forschungsperspektive des schon genannten Sammelbandes von Gabriele Brandstetter – nicht Mittel zum Zweck, sondern das movere sei der Effekt. Das Gebilde sei somit ein rein performatives Gebilde. Wird Bewegung als ein Relationsphänomen begriffen, käme es darauf an, sich der Bewegung in jenem Moment zuzuwenden, da sie sich als Effekt bzw. Affekt einer anderen Bewegung erweist und selbst ihren Sinn darin findet, eine andere Bewegung zu affizieren. Das führt nicht nur zu einer Bewegungslehre der Affekte – es geht umgekehrt um eine Affekttheorie der Bewegung, um eine ›Theorie der Praxis‹ von Bewegung, die den Affekt im Sinne des Affiziertwerdens und Affizierens als wesentlich für die Bewegung würdigt.32

Im Zusammenhang mit meiner Fragestellung ist weniger die Relation von Affekt und Bewegung von Interesse als der Zusammenhang von Affekt und Subjektbildung. Karen Weaver ist vom Anblick des Schwarms ergriffen. Bemerkenswert ist, dass es sich dabei um den Schwarm als Kollektiv handelt, nicht etwa um die von der Gallerte in Besitz genommenen Tiere. Diese hybriden Lebewesen haben den Menschen angegriffen, sie sind nur kontaminierte, sich selbst steuernde Teile und bedrohlich. Der alle Teile in sich vereinende Schwarm hingegen ist ›rein‹. Signifikanterweise wird die Figur gegendert und hierarchisch klassifiziert: Weaver »hat die Königin gefunden« (S, 970). Das Gebilde wird folgendermaßen beschrieben: Es ist von annähernd runder Form und groß wie ein Mond. Unter der weißen Oberfläche huschen graue Schatten dahin. Komplizierte Muster entstehen für Sekundenbruchteile, Nuancen von Weiß in Weiß, symmetrisches Aufflammen, blinkende Reihen von Punkten und Linien, kryptische Codes, ein Fest für jeden Semiotiker. Auf Weaver macht das Wesen den Eindruck eines lebenden Computers, in und auf dem sich Vorgänge von ungeheurer Komplexität vollziehen. (S, 970)

32 G. Brandstetter u.a.: »Übertragungen. Eine Einleitung«, 15.

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Das solchermaßen aufgerufene Bild der Schwarm-Königin zeichnet sich durch seine Vielschichtigkeit aus. Die Vielheit ist zwar zu einem Ganzen verwoben; es bleibt die Partikularität jener Einheit aber stets sichtbar. Vom Anblick dieses Schwarms ist Weaver affiziert33; das wird an der Vielzahl von Affekten deutlich, die Weaver während ihrer Kontaktaufnahme erfährt. Sie bebt vor Todesangst und hyperventiliert, sie ist traurig, wimmert und schreit, sie ist ergriffen angesichts der »Schönheit« (S, 969) der Königin. Der Schwarm ist keine Bedrohung mehr, sondern ein ästhetisches Objekt. Das letzte Romankapitel macht noch einmal besonders deutlich, dass Subjektivierung ein Prozess ist, der über die Relation von Bildern und von Blicken funktioniert. Das Anschauungsobjekt bzw. die Fläche für identifikatorische Projektionen ist der Schwarm, in dem bzw. auf der sich die Protagonistin selbst zu erkennen meint. Karen Weaver fragt wiederholt »Was siehst du?« (S, 956) und »Was bist du, Karen Weaver?« (S, 957). Sie spricht sich im Angesicht des Schwarms als sich selbst erkennendes Subjekt an. Der Text setzt das erzähltechnisch über den inneren Monolog um, der von den auktorial erzählten Sequenzen abgegrenzt wird. Weaver positioniert sich in dem reflektierenden Selbstgespräch als Objekt, sie schaut aus Distanz auf sich selbst. Das Setzen seiner selbst als Objekt ist die Voraussetzung für Subjektivität. Damit nimmt der Text wiederum Bezug auf ästhetische Theorien des 18. Jahrhunderts, die als Voraussetzung von Subjektivität die Gespaltenheit des Subjekts denken und diese Reflexion als anschauliche Erfahrung bestimmen.34 Das Einzellerkollektiv wird außerdem als Körper vorgestellt, wenn von der »Königin« (S, 970) die Rede ist. Schätzings Text findet für die unorthodoxe Figur des Schwarms ein traditionelles Bild, das des sozialen Körpers. Von einem neuen Paradigma, das das Subjekt ablöst, ist daher nicht zu sprechen. Im Gegenteil – Karen Weaver erfährt die Bewegungen des Kollektivs als choreografisch, sie meint Musik, Debussys La plus que lente,

33 Nach Kants transzendentaler Ästhetik ist Erkenntnis von Gegenständen nur durch Anschauung derselben möglich. »Diese findet aber nur statt, so fern uns der Gegenstand gegeben wird; dieses aber ist wiederum, uns Menschen wenigstens, nur dadurch möglich, daß er das Gemüt auf gewisse Weise affiziere.« Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Nach der ersten und zweiten Originalausgabe hg. v. Jens Timmermann, Hamburg 1998, 93. 34 Vgl. J. Schulte-Sasse: »Einbildungskraft/Imagination«, 111.

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zu hören: »Sie ist verblüfft und entzückt […], denn dieses erkundende Spiel ist von lähmender Schönheit, und nichts anderes kann sie in diesem Moment erkennen als…Schönheit.« (S, 969) Das Subjekt wird durch die ästhetische Erfahrung – im Moment der Anschauung des Schwarms als blaue Wolke oder weißer Mond – als Subjekt installiert, das Teil einer Gemeinschaft ist. Mit dem Anblick des Kollektivs stehen Karen Weaver plötzlich Tote vor Augen. Sie sieht ihre Eltern und den Wissenschaftlerstab, der zu einer Art ›Leichenschmaus‹ zusammenkommt und über die Evolution philosophiert. Abschließend lässt sich feststellen, dass der Schwarm in Schätzings Roman kein innovatives Modell für eine Gemeinschaft ohne Subjekt ist, sondern er wird als Figur eingeführt, die die imaginäre Struktur des SelbstVerhältnisses veranschaulicht und zwar sowohl in Bezug auf kollektive als auch auf subjektive Identität. Der Text schöpft die Ambivalenz des Schwarms dabei aus. Wird er als unkontrollierbare Formation ins Werk gesetzt, die die Menschheit zu vernichten droht, verhandelt der literarische Text politische Fragestellungen wie etwa das Verhältnis der US-amerikanischen Nation zu Europa und dem Nahen Osten. Das Faszinierende an der Schwarm-Figur gestaltet der Text, indem er ihn in Bezug zu einer romantischen Bildsprache setzt und solchermaßen das Verhältnis von Teil und Ganzem, Gespaltenheit und Einheit thematisiert. Entgegen den neueren Theorien des sozialen Schwarms, die davon ausgehen, dass er das Subjekt beseitige, bringt Schätzings Text den Schwarm als ästhetisches Objekt zur Anwendung, das das (poststrukturalistische) Subjekt gerade nicht suspendiert, sondern mit Nachdruck einsetzt. Die Lektüre hat gezeigt, dass sich der Schwarm vor allem als Bildspender eignet und in Form des Bildes Identifikationsprozesse anregt. In diesem Sinne ist er der Nation ähnlich und löst sie nicht etwa ab, wie es die kulturwissenschaftlichen Diskurse, die ihn als Übertragungsfigur einsetzen, zuweilen suggerieren.

Autorinnen und Autoren

Berghaus, Stephan, Studium der Germanistik und Philosophie in Marburg, Münster und Seattle. Teaching Assistant am German Department des Macalester College, St.Paul, MN. Seit 2009 wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand im DFG-Projekt »Topographien der Autobiographie« am Germanistischen Institut der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Forschungsschwerpunkte: Autobiographie, Raumtheorie, Goethe, Ästhetik/Imagination und Subjektbildung im 18. Jahrhundert, W.G. Sebald.

Bodenburg, Julia, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Germanistischen Institut, Neuere deutsche Literatur, der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Promotion 2009 in Münster mit einer Arbeit zum Verhältnis von Mensch und Tier in literarischen und philosophischen Texten der Gegenwart. (Tier und Mensch. Zur Disposition des Humanen und Animalischen in Literatur, Philosophie und Kultur um 2000, Rombach 2012.) Forschungsschwerpunkte und Publikationen im Bereich Literatur/Wissen, Transkulturalität, Gendertheorie und Gegenwartsliteratur.

Grabbe, Katharina, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Germanistischen Institut, Abteilung Neuere deutsche Literatur, der Westfälischen WilhelmsUniversität Münster. Promotion 2011 mit einer Dissertation zum Image und Imaginären Deutschlands in Gegenwartsliteratur und -film. Studium der Germanistik, Neueren und Neuesten Geschichte und Kulturwissenschaften in Münster, Berlin und Seattle. Forschungsschwerpunkte: Psychoanalyse,

352 | DAS IMAGINÄRE DER NATION

Theorien des Imaginären, Literatur um 1800 bis 1848, Gegenwartsliteratur, Gendertheorien.

Heuer, Caren, Studium der Deutschen Philologie, Politikwissenschaft und Soziologie, wissenschaftliches Volontariat bei der LWL-Literaturkommission für Westfalen, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Germanistischen Institut der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, wissenschaftliche Hilfskraft an der Deutschen Hochschule der Polizei, Münster. Derzeit Doktorandin an der Graduate School »Practices of Literature« und Arbeit am Dissertationsprojekt »Hermanns Nation. Diskurse des Nationalen im Zeichen der Hermannsschlacht«. Forschungsschwerpunkte: Gender Studies, Flucht- und Vertreibungsliteraturen, Literatur- als Kulturtheorie, Dramen des 18. Jahrhunderts.

Köhler, Sigrid G., seit 2011 Dilthey Fellow am Germanistischen Institut der Universität Münster. Studium der Germanistik, Romanistik und Ethnologie in Bochum, Brüssel und Münster. Promotion in Münster: Körper mit Gesicht. Rhetorische Performanz und postkoloniale Repräsentation in der Literatur am Ende des 20. Jahrhunderts, Böhlau 2006. 2002-2009 wissenschaftliche Assistentin am Germanistischen Institut der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. 2010-2011 Feodor Lynen Fellow an der Yale University. Forschungsschwerpunkte: Recht und Literatur, Materialitätsdiskurse, Diskurse des Nationalen und Postkolonialen, Literaturtheorie. Publikationen u.a. zur Literatur um 1800 (A. Müller, Kleist), der Moderne (Döblin, C. Goll) und zur Gegenwartsliteratur (Ransmayr, Tawada, Beyala).

Krippner, Friederike, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Sonderforschungsbereich 644 Transformationen der Antike (Humboldt-Universität zu Berlin), Dissertationsprojekt zu konkurrierenden ›Altertümern‹ auf der Dramenbühne des 19. Jahrhunderts. Studium der Fächer Germanistik, Theologie und Geschichte in Münster und Lund. Forschungsschwerpunkte: Literatur-, Kultur- und Wissenschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts, Theater- und Dramentheorie, Gendertheorie.

AUTORINNEN UND AUTOREN | 353

Riesenweber, Christina, Studium der Germanistik, Anglistik und Kommunikationswissenschaft in Münster 2000–2006, Teaching Assistant am Germanics Department der University of Washington, Seattle, 2006–2007, im Anschluss Aufnahme der Promotion zu Selbstbildern der Literaturwissenschaft an der Graduate School »Practices of Literature«, Westfälische Wilhelms-Universität Münster, und freie Mitarbeit im Museum für Westfälische Literatur, Oelde-Stromberg. Seit Mai 2009 Redakteurin des Journal of Literary Theory, Göttingen. Forschungsschwerpunkte: Wissenschaftsgeschichte und -theorie, Theorien der Literatur- und Kulturwissenschaft.

Schaffrick, Matthias, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Exzellenzcluster »Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und Moderne« an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, Dissertationsprojekt »In der Gesellschaft des Autors« über religiöse und politische Inszenierungen von Autorschaft in der Gegenwartsgesellschaft. Studium der Fächer Germanistik, Psychologie und Kultur, Kommunikation & Management. Forschungsschwerpunkte: Geschichte und Theorie der Autorschaft, Literaturund Medientheorie, Religion und Literatur. Mitherausgeber der Zeitschrift Textpraxis. Digitales Journal für Philologie (www.textpraxis.net).

Schmitt, Christian, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Exzellenzcluster ›Religion und Politik‹ an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Promotion 2008 in Münster. (Kinopathos. Große Gefühle im Gegenwartsfilm, Berlin 2009.) Studium der Germanistik, Niederlandistik und Geschichte in Münster, Leiden und Amsterdam. Forschungsschwerpunkte: Theorien des Pathetischen; Film- und Literatursemiotik; Gemeinschaftsund Nationaldiskurse; Literatur des 19. Jahrhunderts; Gender/Queer Studies.

Thiemann, Anna, Doktorandin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Amerikanistik an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Forschungsschwerpunkte: U.S.-amerikanische Literatur und Kultur, Literatur und Wissenschaft, visuelle Wissenskulturen sowie die Identitätskategorien Gender und Ethnizität. Das Dissertationsprojekt zum Thema

354 | DAS IMAGINÄRE DER NATION

»Re-Visioning Trauma: Neuroscience and the Ethics of Memory« untersucht die Funktion neurowissenschaftlicher Diskurse im zeitgenössischen Roman.

Wagner-Egelhaaf, Martina, Professorin für Neuere deutsche Literatur und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Westfälischen WilhelmsUniversität Münster, Principal Investigator am Exzellenzcluster »Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und der Moderne«. Forschungsschwerpunkte: Neuere deutsche Literatur unter besonderer Berücksichtigung der Moderne und der Gegenwartsliteratur, Literaturtheorie/ Allgemeine Literaturwissenschaft, Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft, Rhetorik, Autobiographie, Literatur – Religion – Politik.

Wilhelms, Kerstin, Studium der Germanistik, Politikwissenschaft und Philosophie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Wissenschaftliche Hilfskraft am Lehrstuhl für Neuere deutsche Literatur der WWU und im DFG-Projekt »Topographien der Autobiographie«. Zurzeit Arbeit am Dissertationsprojekt »Lebenswege – Zeit und Raum in der Autobiographie« im Rahmen der Graduate School »Practices of Literature«. Forschungsschwerpunkte: Geschichte und Theorie der Autobiographie, Raum- und Medientheorie. Mitherausgeberin der Zeitschrift Textpraxis. Digitales Journal für Philologie.

Kultur- und Medientheorie Erika Fischer-Lichte, Kristiane Hasselmann, Alma-Elisa Kittner (Hg.) Kampf der Künste! Kultur im Zeichen von Medienkonkurrenz und Eventstrategien August 2012, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-89942-873-5

Sandro Gaycken (Hg.) Jenseits von 1984 Datenschutz und Überwachung in der fortgeschrittenen Informationsgesellschaft. Eine Versachlichung Juni 2012, ca. 170 Seiten, kart., ca. 19,80 €, ISBN 978-3-8376-2003-0

Sven Grampp, Jens Ruchatz Die Fernsehserie Eine medienwissenschaftliche Einführung Juni 2012, ca. 200 Seiten, kart., ca. 16,80 €, ISBN 978-3-8376-1755-9

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Kultur- und Medientheorie Annette Jael Lehmann, Philip Ursprung (Hg.) Bild und Raum Klassische Texte zu Spatial Turn und Visual Culture Juni 2012, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1431-2

Markus Leibenath, Stefan Heiland, Heiderose Kilper, Sabine Tzschaschel (Hg.) Wie werden Landschaften gemacht? Sozialwissenschaftliche Perspektiven auf die Konstituierung von Kulturlandschaften September 2012, ca. 200 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1994-2

Claudia Mareis, Matthias Held, Gesche Joost (Hg.) Wer gestaltet die Gestaltung? Praxis, Theorie und Geschichte des partizipatorischen Designs Oktober 2012, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2038-2

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André Grzeszyk Unreine Bilder Zur medialen (Selbst-) Inszenierung von School Shootern Juli 2012, ca. 540 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1980-5

Dorit Müller, Sebastian Scholz (Hg.) Raum Wissen Medien Zur raumtheoretischen Reformulierung des Medienbegriffs Juni 2012, ca. 380 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1558-6

Christoph Neubert, Gabriele Schabacher (Hg.) Verkehrsgeschichte und Kulturwissenschaft Analysen an der Schnittstelle von Technik, Kultur und Medien Juni 2012, ca. 250 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1092-5

Marion Picker, Véronique Maleval, Florent Gabaude (Hg.) Die Zukunft der Kartographie Neue und nicht so neue epistemologische Krisen Juli 2012, ca. 330 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1795-5

Dorothee Kimmich, Schamma Schahadat (Hg.) Kulturen in Bewegung Beiträge zur Theorie und Praxis der Transkulturalität

Johanna Roering Krieg bloggen Soldatische Kriegsberichterstattung in digitalen Medien

Juli 2012, ca. 260 Seiten, kart., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1729-0

August 2012, ca. 340 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2004-7

Albert Kümmel-Schnur, Christian Kassung (Hg.) Bildtelegraphie Eine Mediengeschichte in Patenten (1840-1930)

Thomas H. Schmitz, Hannah Groninger (Hg.) Werkzeug – Denkzeug Manuelle Intelligenz und Transmedialität kreativer Prozesse

August 2012, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1225-7

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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Dorothee Kimmich, Schamma Schahadat (Hg.)

Essen Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2012

Mai 2012, 202 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-2023-8 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 11 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]

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