Manifestationen im Entwurf: Design - Architektur - Ingenieurwesen [1. Aufl.] 9783839431603

The artifacts developed in the drafting process, like the things in our designed world, are given far too little attenti

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German Pages 388 Year 2016

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Manifestationen im Entwurf: Design - Architektur - Ingenieurwesen [1. Aufl.]
 9783839431603

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Forschungsperspektiven und interdisziplinäre Positionen zu Manifestationen im Entwurf
Zur Rolle von Entwürfen, Zeichnungen und Modellen im Konstruktionsprozess von Ingenieuren. Eine theoretische Skizze
„Künstler“ oder Wissenschaftler oder beides: Was ist der Konstrukteur?
Design the Future – Mind the Past
Epistemische Praktiken in Gestaltungsund Herstellungsprozessen
„Die menschliche Arbeit, die in den Dingen steckt“: Peter Zumthors Werkzeichnungen Ende der 1980er Jahre
Architecture from nothing
Der Entwurf als Objekt. Methodenzirkulation zwischen Kunst und Design
Manifestationen des Instabilen. Interaktive Environments und die Agency des Materials
Forschungsstudien zur Wissensproduktion zwischen reproduzierbarer Rationalität und individueller Deutung
Grids. Projektdokumentationen als Denkinstrument
Gegenstand und Gebrauch
Gestenräume. Virtuelles Skizzieren, Modellieren und Verhandeln
Zur Perspektivität von Modellen
Modellbegriffe als Elemente der Modellierung
Die Erfahrung mit lebensgroßen Modellen im Entwurfsprozess
Wie man dem toten Hasen die Häuser erklärt
Epilog
Das Drama der Architektur in einer Welt der Daten
Autorinnen und Autoren

Citation preview

Thomas H. Schmitz, Roger Häußling, Claudia Mareis, Hannah Groninger (Hg.) Manifestationen im Entwurf

Design | Band 30

Thomas H. Schmitz, Roger Häussling, Claudia Mareis, Hannah Groninger (Hg.)

Manifestationen im Entwurf Design – Architektur – Ingenieurwesen

Das Buch wurde gedruckt mit freundlicher Unterstützung der RWTH Aachen und der Hochschule für Gestaltung und Kunst FHNW in Basel.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Tobias Becker, © BiG Lektorat: Gudrun Rohde Satz: Roman Krükel Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3160-9 PDF-ISBN 978-3-8394-3160-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

„Werte, Einstellungen und Normen werden überhaupt durch ihre Manifestationen in Artefakten wahrnehmbar und es ist daher eine lebensnotwendige Fähigkeit des Menschen, von den sichtbaren Dingen auf die unsichtbaren Einstellungen, Werthaltungen, Gedanken und Gefühle ihrer Hersteller, Besitzer oder Benutzer zu schließen.“ (Klaus Roth (1999), S. 318f.)

Inhalt Einleitung9 Forschungsperspektiven und interdisziplinäre Positionen zu Manifestationen im Entwurf Zur Rolle von Entwürfen, Zeichnungen und Modellen im Konstruktionsprozess von Ingenieuren. Eine theoretische Skizze

27

Roger Häußling „Künstler“ oder Wissenschaftler oder beides: Was ist der Konstrukteur?

65

Matthias Heymann Design the Future – Mind the Past

95

Claudia Mareis

Epistemische Praktiken in Gestaltungs- und Herstellungsprozessen „Die menschliche Arbeit, die in den Dingen steckt“ Peter Zumthors Werkzeichnungen Ende der 1980er Jahre

115

Philip Ursprung Architecture from nothing

129

Liudmila & Vladislav Kirpichev Der Entwurf als Objekt. Methodenzirkulation zwischen Kunst und Design

141

Susanne König Manifestationen des Instabilen. Interaktive Environments und die Agency des Materials Nathalie Bredella

163

Forschungsstudien zur Wissensproduktion zwischen reproduzierbarer Rationalität und individueller Deutung Grids.185 Projektdokumentationen als Denkinstrument Carolin Stapenhorst Gegenstand und Gebrauch

217

Katharina Bredies Gestenräume.239 Virtuelles Skizzieren, Modellieren und Verhandeln Hannah Groninger

Zur Perspektivität von Modellen Modellbegriffe als Elemente der Modellierung

271

Reinhard Wendler Die Erfahrung mit lebensgroßen Modellen im Entwurfsprozess

287

Fabio Colonnese Wie man dem toten Hasen die Häuser erklärt

317

Anne-Julchen Bernhardt

Epilog Das Drama der Architektur in einer Welt der Daten

345

Ludger Hovestadt

Autorinnen und Autoren

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Einleitung

Der von ArchitektInnen, DesignerInnen und IngenieurInnen gestalteten Welt ist der langwierige Planungs- und Produktionsprozess oft kaum mehr anzusehen. Er verschwindet hinter den meist perfekt erscheinenden Oberflächen der Dinge, die suggerieren, dass sie nur so sein können, wie sie sind. Dabei werden sie neben den funktionalen, technischen, ökonomischen oder ästhetischen Erfordernissen genauso durch die planenden Individuen geprägt, aber auch durch deren angewandte Methoden, die in den vergangenen 30 Jahren einen Paradigmenwechsel von der analogen zur digitalen Planung durchlaufen haben. Dieser Übergang, der nicht moderiert oder durch Regelwerke gelenkt wurde, vollzog sich vielmehr in unzähligen, individuellen Strategien, die in den jeweiligen Disziplinen allenfalls separat diskutiert wurden. Ziel der vorliegenden Buchpublikation ist es, die bisher getrennt laufenden Diskurse der einzelnen Fachrichtungen zu bündeln und eine interdisziplinäre Bestandsaufnahme anzustoßen. Der Fokus der wissenschaftlichen Auseinandersetzung liegt dabei auf den epistemischen Objekten, die während des Entwerfens in Form von Modellen, Skizzen, Diagrammen und Notationen jeder Art entstehen. Wir bezeichnen diese Artefakte als MANIFESTATIONEN im Entwurf. An ihnen werden Intentionen, Methoden, Techniken und kreative Prozesse in den verschiedenen Stadien des Entwurfsprozesses deutlich. Als reale Objekte bestimmen sie wegweisend die Deutung und Weiterbearbeitung des Entwurfsprozesses und operieren somit als Träger von Wissen.

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MANIFESTATIONEN IM ENTWURF

Der Prozess des Entwerfens – Entwickelns – Konstruierens wurde bisher überwiegend von den gestaltenden Disziplinen selbst thematisiert und ist als disziplinenübergreifende „Kulturtechnik“1 und wissenschaftlich zu bearbeitendes Thema zu wenig wahrgenommen. Der hier vorgeschlagene interdisziplinäre Austausch könnte neben den praktischen Fächern auch Disziplinen aus der Theorie wie die Design-, Architektur- und Produktionstheorie, die Technik- bzw. Wissenschaftsgeschichte, die Kulturwissenschaften sowie die Technik- und Innovationssoziologie beteiligen und aus einer übergreifenden Betrachtung neue Sichtweisen auf die vielfältigen Zusammenhänge eröffnen. Wie werden MANIFESTATIONEN im Entwurf in den Disziplinen Design, Architektur und Ingenieurwesen aus theoretischer wie praktischer Perspektive wahrgenommen? Welche Ähnlichkeiten und Unterschiede bei der Wissensgenerierung werden sichtbar? Gibt es wiederkehrende Methodenkategorien oder Regelwerke? Wie können die Disziplinen voneinander profitieren, welche Schnittstellen und hybriden Strategien lassen sich entwickeln? In welchem Umfang und unter welchen Bedingungen bilden sich individuelle und unkonventionelle Entwurfsmethoden aus und welche Rolle spielen diese zur Weiterentwicklung der einzelnen Wissenskulturen? Vermutlich grundlegende Unterschiede der Disziplinen wie beispielsweise die Größe des zu entwerfenden Objektes und die Frage nach Massen- oder Einzelproduktion wird zu jeweils anderen Vorab-Realisierungen, Prototypen und Simulationstechniken geführt haben. Mit einer unmittelbaren Gegenüberstellung sollen die bislang getrennt geführten Diskurse der Disziplinen Design, Architektur und verwandter Ingenieurwissenschaften verbunden werden. Das verstärkt aufkommende Interesse an den Methoden des Entwerfens und an einer reflexiven Haltung kann auch als eine Reaktion auf die Technisierung von Entwurfsprozessen gedeutet werden. Besteht in Zeiten digital programmierter Umgebungen ein Widerspruch zwischen instrumentellem Handeln und intuitivem Arbeiten? Inwiefern können zur Förderung der Ideenproduktion Kollateral-Effekte von körperlichem Agieren auf kreative Denkprozesse aktiviert werden? Welche Funktionen übernehmen gerade das taktile Wissen in Bezug auf die Entwicklung dinglicher und räumlicher Formen? Implizit wird damit im Sinne eines practice turn auch die Frage nach der Selbstbestimmung des Menschen als treibende, handelnde und inspirierende

1

10

Vgl. den Begriff „Kulturtechnik des Entwerfens“ in: Gethmann/Hauser (2005).

EINLEITUNG

Kraft im Entwurf neu gestellt. Wie werden kreative Prozesse initiiert, wie und in welcher Weise wirken dabei die Methoden und Werkzeuge auf die Generierung von Konzepten ein? Oder sind es vielmehr die Objekte selbst, die als tragende Kraft, unabhängig vom Medium den Entwurfsprozess entscheidend prägen? Der Band initiiert für die beteiligten Disziplinen eine Erweiterung der Design Thinking-Debatte unter expliziter Berücksichtigung materieller Entwurfsmanifestationen. Eine Annäherung und Reflexion auf wissenschaftlicher Ebene wird ermöglicht, wobei der Prozess des Entwerfens als Vorgang betrachtet wird, der Wissen produziert.2 So verstehen wir den Band MANIFESTATIONEN im Entwurf als eine vergleichende Bestandsaufnahme aktuell praktizierter Strategien zur Generierung von Wissen und Gestalt: Wie arbeiten wir wirklich – im Umgang mit Material, mit Werkzeugen, Programmen und Techniken? Der Band vereint AutorInnen aus der angewandten Forschung wie beispielsweise des Produktdesigns, der Architektur und des Ingenieurwesens, die durchaus auf die Optimierung der Produkte und ihrer Prozesse zielen, sowie Wissenschaftler einer reflexiven Entwurfsforschung, die ein tieferes Verständnis des Entwurfsvorgangs erreichen möchten und sie als genuin interdisziplinäre Angelegenheit ansehen.3 Für eine systematische methodenbezogene Untersuchung kreativer Prozesse soll die Anthologie Aufschlüsse über Wechselbeziehungen zwischen Erkenntnisprozessen, den verwendeten Werkzeugen, dem körperlichen Erfahrungswissen und den Artefakten zu ihrer Bearbeitung geben. Weil das Denken beim Entwerfen – Entwickeln – Konstruieren in angewandten kreativen Disziplinen regelmäßig an dinglichen Manifestationen begreifbar wird, erscheint es uns folgerichtig, die Untersuchung von Denkprozessen anhand dieser Objekte zu thematisieren, um deren Protagonisten an diesem Austausch zu beteiligen und sie in den Diskurs einzubeziehen. Teilweise werden diese Manifestationen im Band mit entsprechendem Bildmaterial visualisiert. Im Umgang mit Material und Medien sollen wichtige methodenorientierte Aufschlüsse gegeben werden. Gerade diese epistemischen Objekte des planenden Denkens, an denen Intentionen, Methoden und kreative Prozesse in den verschiedenen Stadien des Entwurfsprozesses deutlich werden, sind

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Vgl. Mareis (2010), S. 9.

3

Vgl. Ammon/Froschauer (2013), S. 16.

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MANIFESTATIONEN IM ENTWURF

sensible Informationen,4 die meist nicht veröffentlicht werden und deshalb der wissenschaftlichen Analyse normalerweise nicht zur Verfügung stehen. Die Beiträge beinhalten keine Werkberichte, sondern am Prozess orientierte Arbeitsberichte, aus denen sich die Interaktionen von Denken, Wollen und Handeln im Kollektiv der Projektbeteiligten und im Umgang mit Werkzeugen jeglicher Art erklären. Das erste Kapitel des Sammelbandes beleuchtet Forschungsperspektiven und interdisziplinäre Positionen, die sich mit MANIFESTATIONEN im Entwurf befassen. Es versammelt drei theoretische Beiträge zur Konstruktions- und Entwurfsforschung. Sie nähern sich diesem Thema aus unterschiedlichen disziplinären Perspektiven: einer soziologischen, einer geschichtswissenschaftlichen und einer designtheoretischen Perspektive. Im analytischen Fokus stehen die Konstruktions- und Entwurfspraxen der Ingenieure und Designer. MANIFESTATIONEN im Entwurf können nicht nur materielle Dinge – wie Skizzen, Zeichnungen oder Modelle – sein, sondern im Entwurf manifestieren sich auch die Spezifik des gestalterischen Tuns selbst sowie machtförmige Aspekte, die in der Welt der Gestaltung (diskursförmig) vorherrschen. Davon zeugen diese drei Beiträge, indem sie jeweils eine dieser Manifestationsformen in den Blick nehmen. Im Beitrag von Roger Häußling geht es um die Rolle von Entwürfen, Zeichnungen und Modellen im Konstruktionsprozess. Das erstarkende Interesse an derartigen Materialitäten wird zunächst als ein historisches Phänomen markiert. Unter Rückgriff auf Régis Debray werden anschließend Entwürfe, Zeichnungen und Modelle als „materialisierte Organisation“ und „organisierte Materie“ bezeichnet. Sie leisten damit Übertragungen von Ideen in materielle Manifestationen. Hierbei ist in Rechnung zu stellen, dass Kognitionen (Ideen) einer anderen Logik folgen als Mitteilungen/Kommunikationen, auf welche die Entwürfe, Zeichnungen und Modelle abzielen. Diese materiellen Manifestationen sind für Häußling vorübergehende Transitionsphänomene, die tentativ Beziehungen zwischen vordem Unverbundenem (was letztlich den Neuheitsgehalt des Entwurfs hervorbringt), zwischen der Innenwelt eines Gestalters und seiner Außenwelt (Kollegen, Anspruchsgruppen etc.), zwischen Phantasie und Realität sowie zwischen Irritation und Faszination bei den Adressaten des Entwurfs stiften. Unter Rückgriff auf den

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Vgl. Terstiege (2009), S. 7.

EINLEITUNG

Übersetzungs- und Passagenbegriff Walter Benjamins entwickelt er ein allgemeines Konzept zur Deutung von Konstruktions- und Entwurfsphänomenen. Dieses wendet Häußling auf die Konstruktionspraxis der Ingenieure an. Es ermöglicht eine weiterführende Perspektive auf die Konstruktionspraxis von Ingenieuren, indem nun deren flexiblen und anpassungsfähigen Strategien bei der Bewältigung von Konstruktionsaufgaben ebenso adäquat in den Blick genommen werden können, wie der erhebliche Einfluss der Manifestation selbst auf den jeweiligen Entwurfsprozess und dessen Ergebnis. Der Beitrag von Matthias Heymann „Künstler“ oder Wissenschaftler oder beides? beschäftigt sich mit der Genese des (Selbst)Verständnisses, was ein Konstrukteur ist. Dabei wird auch die Geschichte der Technikwissenschaften einbezogen. Heymann zeichnet nach, dass erst im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts eine Verwissenschaftlichung der technisch-konstruktiven Tätigkeiten einsetzte, die dann im 19.  Jahrhundert in einer Konsolidierung der Technikwissenschaften mündete. Diese äußert sich nicht zuletzt in der Entstehung polytechnischer Schulen und technischer Hochschulen, in denen ein auf Objektivität, Widerspruchsfreiheit und Vollständigkeit gegründeter Lehrkanon vermittelt wird. Dies deutet Heymann als gezielte Abgrenzung zu der Auffassung technisch-konstruktiver Tätigkeiten als „Kunst“, wie sie in den früheren Jahrhunderten vorherrschte. Hierbei greift er auf einen weiten Kunstterminus zurück, der im Begriff Handwerkskunst auch heute noch enthalten ist. Die szientistische Deutung des Konstrukteurs und seiner Tätigkeiten blieb – so Heymann – weit bis in das 20. Jahrhundert wirksam, was sich vor allem im Ignorieren der Bedeutung von implizitem Wissen, erfahrungsbasierter Praxis und Kreativität äußerte. Erst Ende des 20. Jahrhunderts wird diese Deutung brüchig – und zwar nicht nur seitens der sozialwissenschaftlichen Wissenschafts- und Technikforschung, sondern vor allem seitens der Technikwissenschaften selbst. Nun sei ein reflexives Verständnis technisch-konstruktiver Tätigkeit entstanden, das auf wissenschaftliche Expertise ebenso angewiesen ist wie auf Intuition und Könnerschaft. Im Entwurf manifestiert sich demgemäß – nach Heymann – diese „Doppelgesichtigkeit des technischen Schaffens“. Claudia Mareis knüpft in ihrem Beitrag Design the Future – Mind the Past an eine aktuelle Debatte in der Designtheorie an, welche die Frage nach dem Verhältnis von Design und Geschichte aufwirft. In Anlehnung an Clive Dilnot bemängelt Mareis an der Entwurfs- und Designforschung ihre einseitige Ausrichtung auf die Zukunft, dem Projektiven und dem Neuen. Die Geschichtlichkeit des Entwerfens bleibe dadurch ausgeblendet. Entsprechend

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MANIFESTATIONEN IM ENTWURF

fordert Mareis ein Umdenken innerhalb der Entwurfs- und Designforschung, ihren Praxis- und Zukunftsbezug auf eine kritisch-reflexive Auseinandersetzung mit historischen Wissenskonzepten, innerhalb derer sich Designpraxis vollzieht, zurückzubinden. Sie greift dabei auf die Diskursanalyse und -archäologie Michel Foucaults zurück. Diskurse sind demgemäß kollektive Phänomene, welche den Möglichkeitsraum des Sprechens, Handelns, Denkens und Gestaltens festlegen. Menschen wie Dinge, Reflexion wie Tun sind dann durch Diskurse bedeutungsvoll aufgeladen. Damit wird die sonst übliche Gegenüberstellung von Theorie und Praxis auf eine gemeinsame Wurzel zurückgeführt: die Macht des Diskurses. Entsprechend fordert Mareis, die Entwurfsund Designpraxis auf den sie ermöglichenden Diskurs zurückzubeziehen, der jeweils geschichtlich aufgeladen ist. Letztlich lässt sich dieser herrschende Diskurs auch in der Beschaffenheit der materiellen Manifestationen ablesen. Im Entwurf manifestiere sich mit anderen Worten die Vergangenheit (bzw. Gewordenheit) des Entwerfens, was allzu leicht übersehen werde, da er normalerweise ausschließlich als Gestaltung von Neuem – und damit auf Zukunft bezogen – wahrgenommen werde. Das zweite Kapitel des vorliegenden Bandes befasst sich mit Epistemischen Praktiken in Gestaltungs- und Herstellungsprozessen. Der Fokus der Beiträge dieses Kapitels liegt auf der Frage, inwiefern und auf welche Weise gestalterische und entwerferische Praktiken die Genese von neuem Wissen und produktiven Sinn- und Erkenntniszusammenhängen befördern und für das Entwerfen somit konstitutiv sind. Anhand der vier versammelten Beiträge lässt sich aufzeigen, dass sich mögliche Antworten auf diese Frage erst im Nachvollzug konkreter, das heißt individueller und historischer Praktiken, Verfahrensweisen und Diskurse sowie spezifischer Werkzeug- und Materialgebräuche herauskristallisieren lässt. Anders formuliert, sollte die Frage nach einem „Wissen im Entwurf“ nicht nur allgemein abstrahierend beantwortet werden, sondern insbesondere auch am konkreten Beispiel. Denn die Wahl der Werkzeuge und Materialien beeinflussen das in den Entwurfsprozessen generierte Wissen ebenso wie individuelle Präferenzen, historische und diskursive Rahmenbedingungen oder die partikulären Räume, in denen sich dieses Wissen manifestiert und verhandelt wird. Philip Ursprung zeichnet in seinem Text Die menschliche Arbeit, die in den Dingen steckt eine prädigitale Praxis des Ausstellens und Reflektierens von Entwurfsprozessen in den 1980er Jahren nach. Das Format der Architekturausstellung sowie die dort präsentierten Medien und Darstellungselemente

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EINLEITUNG

fungieren dabei als wechselwirksamer epistemischer Raum, innerhalb dessen der Architekt Zumthor weniger eine abstrakte künstlerische Reflexion über Architektur entfalten will, sondern vielmehr – so Ursprungs These – die spezifische Arbeit der Architekten aufzeigt. Mit dem Format der Architekturausstellung rückt eine Praxis des Entwerfens in den Blick, deren vorrangiges Interesse nicht den fertigen Gebäuden und der gebauten Architektur gilt, sondern den imaginativen und projektiven Potentialen des Entwerfens. Anders jedoch als so manche künstlerische Architekturskizze, die die vermeintliche Genialität ihrer Schöpfer bezeugen soll, die konkreten Herstellungsprozesse aber außer Acht lässt, verweisen die Planbilder und Werkzeichnungen Zumthors hingegen auf die arbeitsteilig relevante Rolle, die diesen Darstellungen als materiale Vermittler von Denk- und Arbeitsprozessen zwischen Entwurf und Realisierung zukommt. Werkzeichnungen und -pläne sind im Sinne Bruno Latours als „unveränderliche mobile“ (Papier-) Objekte zu verstehen,5 die entwerferisches Wissen einerseits visuell-materiell fixieren und damit andererseits – ähnlich wie es Partituren in der Musik tun – als Ausgangspunkt und verbindliche Vorlage für die Umsetzung der gebauten Architektur dienen. Darüber hinaus lassen sie die materielle Komplexität, die physischen Anstrengungen und Mühen erahnen, die mit technischen und handwerklichen Herstellungsprozessen stets einher gehen. Der bildreiche Essay Architecture from nothing der beiden Architekten und Architekturpädagogen Liudmila und Vladislav Kirpichev schildert demgegenüber, wie an ihrer Moskauer Architekturschule „Experimental Children‘s Architectural Studio“ (gegründet 1977) Entwurfsprozesse aus kindlicher Sicht entstehen. In ihrer Arbeit loten die Architekten gemeinsam mit Schulkindern auf spielerische und dialogische Weise die Potentiale des Entwerfens aus. Sie charakterisieren das Entwerfen dabei als ein komplexes Zusammenspiel von impliziten und expliziten Erkenntnisformen, als Wechselspiel von gestalterisch-künstlerischen Methoden und technologischem Wissen sowie als Ausdrucksform einer abduktiven Kreativität, die geltendes Wissen und Gewissheiten immer wieder aufs Neue in Frage zu stellen vermag. Ihr pädagogischer Zugang, der sich durch ein tiefes Vertrauen in die vermeintlich genuine, unverbrauchte kindliche Schöpfungskraft und die Potentiale eines experimentellen, erfahrungsbasierten „Learning by Doing“ auszeichnet, reiht

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Latour (2006).

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MANIFESTATIONEN IM ENTWURF

sich historisch betrachtet in die Tradition reformpädagogischer Konzepte um 1900 ein. Diese Konzepte waren für die künstlerisch-gestalterische Ausbildungspraxis im 20. Jahrhundert wegweisend, gerieten aber aufgrund ihres impliziten Naturalismus und Rousseauismus auch zunehmend in Kritik. Der Titel Architecture from nothing verweist in dieser ambivalenten Lesart sowohl auf den Mythos der Ursprungslosigkeit schöpferischer Prozesse als auch auf den Versuch, sich von historischen, institutionellen und materiellen Vorgaben und Einschränkungen zu befreien und im Prozess des Entwerfens neue unbekannte Pfade zu betreten. Susanne König untersucht in ihrem Text Der Entwurf als Objekt. Methodenzirkulation zwischen Kunst und Design, am Beispiel des italienischen Designers Martino Gamper, wie Designobjekte als Träger und Generator von Wissen sowohl im Prozess des Entwerfens als auch im Gebrauch verstanden werden können. In Anlehnung an den Wissenschaftsforscher Hans-Jörg Rheinberger vergleicht sie Designobjekte mit „epistemische Dingen“, die in Experimentalsystemen systematisch erzeugt werden.6 Zugleich macht sie aber auch auf die Unterschiede zu diesem wissenschaftstheoretisch geprägten Begriff aufmerksam und weist im Sinne eines erweiterten Designbegriffs auf die Schnittstelle von entwerferischen und künstlerischen Strategien hin. Die Designobjekte Gampers, die im Kontext von Re-Design, Recycling und Appropriation Art zu verorten sind, arbeiten laut König auf eine materiale, objekthafte Transparenz und Diskursfähigkeit hin, die sie für eine epistemologische Betrachtung besonders geeignet machen. So lassen sich an den Stühlen von Gamper nicht nur unterschiedliche Entwurfs-, Produktions- und Rezeptionsphasen „ablesen“ und diskutieren, sondern ebenso stellen sie tradierte Rollenbilder aus Handwerk, Design und Kunst in Frage. Schließlich zeigt König in ihrem Text auch auf, wie sehr die Frage nach der Art und Funktion eines durch Designobjekte erzeugten Wissens mit deren Gebrauch zusammenhängt und durch spezifische gesellschaftliche und ökonomische Handlungskontexte sowie durch soziale Interaktion beeinflusst wird. Die Dimension der Handlung nimmt auch im Text von Nathalie Bredella Manifestationen des Instabilen. Interaktive Environments und die Agency des Materials einen zentralen Stellenwert ein. Am Beispiel von Projekten des niederländischen Architekten Lars Spuybroek nimmt sie Entwurfsprozesse

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Rheinberger (2006).

EINLEITUNG

im Kontext von interaktiver Architektur und digitalen Medien in den Blick und fragt nach dem Wechselverhältnis von Medium und Architektur. Mit seinem Büro NOX entwirft Spuybroek seit Mitte der 1990er Jahre interaktive architektonische environments, in denen die Handlungen der Besucher und die Wahrnehmung des Raumes medientechnologisch vermittelt miteinander interagieren. Bredella beschreibt, wie Spuybroeks Entwurfspraxis und seine Projekte von sowohl architekturhistorischen als auch zeitgenössischen medientheoretischen Überlungen inspiriert und angeleitet werden. So etwa Frei Ottos prozessbezogene Entwurfsexperimente, in denen Formfindung und -gestaltung ineinander übergehen, oder Frederik Kieslers Begriff des Correalismus, der die dynamische Interaktion zwischen Mensch und Umgebung zu erfassen versucht. Mit Blick auf die Entwurfsprozesse selbst, impliziert das Entwerfen interaktiver Umgebungen, wie Bredella konstatiert, eine erhöhte Aufmerksamkeit für die Eigenschaften und Dynamiken von Materialen und für die Wirkung, die diese bereits im Entwurf räumlich entfalten. Das dritte Kapitel befasst sich mit Forschungsstudien zur Wissensproduk­ tion zwischen reproduzierbarer Rationalität und individueller Deutung in den Arbeitsprozessen gestaltender Disziplinen. Aufgrund der für diese Disziplinen typischen Hyperkomplexität und Widersprüchlichkeit der Probleme und einem daraus resultierenden notorischen „Mangel an hinreichender Begründung“ erfolgt Wissensproduktion hier in einem Spannungsfeld von Rationalität und individuellen Erfahrungen und Deutungen.7 Sie vollzieht sich zugleich an körperlichen Handlungen, an virtuellen und dinglichen Manifestationen und an sprachlich formulierter Argumentation. Damit stellen sich Fragen nach der wissenschaftlichen Replizierbarkeit von Entwurfshandlungen, nach der glaubwürdigen und nachvollziehbaren Offenlegung dessen, was bezüglich eines Entwurfs gedacht wurde und nach dem Zusammenhang und den Wechselwirkungen zwischen Körper und Geist beim Denken. Die Erscheinung des Wissens thematisiert also mehr als das Zeigen der Resultate eines Entwurfsprozesses das Moment des Entstehens von Wissen selbst: In welchen Handlungen, Denkvorgängen oder dinglichen Initiatoren ereignet

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Rittel (2012).

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MANIFESTATIONEN IM ENTWURF

sich das neu Gedachte, das sich als forma formans8 im Wechsel verschiedener medialer Verfasstheit prozesshaft entwickelt? Carolin Stapenhorst beschreibt in ihrem Beitrag Grids. Projektdokumentationen als Denkinstrument eine Strategie zur Dokumentation und sinnbringenden Ordnung der komplex verwickelten Abläufe architektonischer Wissensproduktion. Die grundsätzliche Problematik bei der Kommunikation entwurflicher Argumentationsketten identifiziert sie in dem Zusammenwirken von sprachlichen und visuellen Informationen in Texten, Bildern und Objekten jeglicher Art, die ein Zusammenwirken von objektivierbaren Daten mit entwerfenden, tentativen Bildmanifestationen bedeutet. Am Beispiel Le Corbusiers la grille (engl.: Grid) von 1948 reflektiert sie diagrammatische Strategien, um Planungsinhalte tabellarisch z.B. nach funktionalen und thematischen Kriterien zu ordnen und vergleichbar zu machen. Die nachträgliche Klassifizierung, Kategorisierung, Selektion, Gewichtung der Bilderketten in Gruppen erweist sich dabei selbst als ein wirksames, sinnstiftendes Instrument des Denkens, bei dem die Modifikation der Kriterien völlig neue Schwerpunktsetzungen für architektonische Projekte ermöglicht. Eine Weiterentwicklung der Grid-Idee als entwurfsdidaktisches Werkzeug am Politecnico di Torino verfolgt ab Mitte der 90er Jahre das Ziel, das entwerferische Denken im Vorfeld durch die Entwicklung von Grids in einem webbasierten, interaktiven e-learning-tool zu strukturieren. In einem Seminar an der Fakultät Architektur der RWTH Aachen verifiziert Stapenhorst die Grids als heute noch gültiges didaktisches Instrument zur Vergewisserung der eigenen Arbeitsweisen, das im begleitenden Diskurs Abhängigkeiten, Widersprüchlichkeiten und Lücken sichtbar werden lässt. Als Resümee hält sie fest, dass sich die Entscheidung für Werkzeuge und Methoden als richtungsweisend für den Prozessverlauf und damit auch für dessen Ergebnisse erweisen können, weil derartig sinnstiftende Ordnungen die Entwurfsprozesse nicht nur ordnen, sondern auch in hohem Maß konditionieren. Katharina Bredies konstituiert in ihrem Beitrag Gegenstand und Gebrauch einen Designprozess als Designforschungsprozess nach den Gesetzen wissenschaftlicher Wissensproduktion auf der Basis theoretisch hergeleiteter Ausgangsthesen. Es geht darum, Interaktionselemente für elektronische Umgebungen (z.B. Musik) zu entwickeln, um die Potentiale neuer Technologien

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Nancy (2011), S.35ff.

EINLEITUNG

zu verstehen, die in dem Gebrauchsprozess vermutet werden. Dazu unterscheidet sie professionelles Design, das die materielle Struktur durch eine zweckorientierte Gestaltung für den routinierten Gebrauch möglichst eindeutig auslegt und Design im Gebrauch, das durch wagemutig gestaltete Gegenstände absichtsvoll provoziert wird, weil Benutzer den Zweck nicht eindeutig bestimmen können und individuelle Nutzungsstrategien entwickeln. Diese Unterscheidung ermöglicht ihr die Beschreibung eines erweiterten Verständnisses von Design. Entwurfs-Manifestationen wie Skizzen und Modelle sieht sie als Denk- und Erfahrungsinstrumente für den kreativen Prozess als unersetzbar an, sie erfordern aber im Forschungskontext eine Einordnung in die anerkannten wissenschaftlichen Analyse- und Beschreibungsmethoden. Generell geht es dann darum, die unweigerlich entstehenden Unsicherheiten gegenüber den Gewissheiten zu verorten, nach dem theoretischen Erkenntnisinteresse auszuwählen und Forschungsfragen auch durch Gestaltungshandlungen zu interpretieren. Die während des Entwurfsprozesses selbst gebauten Gegenstände sieht sie konsequent als materielle und damit partikuläre Entsprechungen ihrer theoretischen, generellen Annahmen an. Umgekehrt stellt sie die Frage, wie sich die Erkenntnisse, die anhand der materiellen Gegenstände gewonnen werden, wieder in die etablierte sprachlich-symbolische Form wissenschaftlicher Veröffentlichung rückübersetzen lassen. Praktische und theoretische Arbeit sind dann so eng verzahnt, dass sich das eine nicht ohne das andere durchführen lässt: theoretische Annahmen in Gegenständen werden sogar in mancher Hinsicht als vergleichbar mit theoretischen Texten beschrieben. Bredies prognostiziert, dass DesignerInnen eigene Notationssysteme und Analysemethoden für nichtsprachliche gegenständliche Entwurfsmanufakte und prozesshafte Ausdrucksformen entwickeln werden, um eine wissenschaftliche Interpretation und Analyse solcher Daten aus Designsicht zu ermöglichen. Dazu gehört für sie auch, dass die Nutzungsprozesse selbst als Manifestation des professionellen Designs begriffen werden, um dem Design im Gebrauch gerecht zu werden. Hannah Groninger untersucht in ihrem Beitrag Gestenräume. Virtuelles Skizzieren, Modellieren und Verhandeln die ephemeren Körpertechniken Gesten und Gebärdensprache als entwerfende Handlungen und schlägt damit eine Brücke zur linguistischen Forschung. Entgegen der weitgehend digitalisierten Entwurfspraxis, bei der das Tun auf die Bedienung soziotechnischer Systeme reduziert ist, entwickelt sie Szenarien zur Förderung kognitiver Prozesse über das Agieren von Körper und Hand. Im einleitenden Abschnitt stellt sie ihr Plädoyer für eine körper- und raumorientierte Entwurfspraxis in die Tradition

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MANIFESTATIONEN IM ENTWURF

der docta manus. Das Begreifen des Raumes im Sinne von Raumvorstellung und -orientierung basiert auf körperlichen Erfahrungen und Interaktionen und begründet die elementaren wechselseitigen Verbindungen zwischen bewusstem intentionalem Denken und vorbewusstem körperlichem Agieren. Folgerichtig lautet ihre These im Umkehrschluss, dass Körpertechniken die Erzeugung von Raumvorstellung unterstützen. Damit stellt sie Gesten und Gebärdensprache in ein Kontinuum entwerfender Handlungen zwischen dem materiell-haptisch gebundenem Bauen, Modell und Skizze und den digitalen, nicht-körperlichen Entwurfsprogrammen. Die ephemeren Körpertechniken werden redebegleitend in Studien mit Studierenden der Architektur in Korrespondenz zu laufenden Entwurfsprojekten eingesetzt: in einer ersten Studie mit redebegleitenden Gesten, in einer zweiten mit Gebärdensprache, deren Grammatik über einen präzise kodierten visuell-räumlichen Ansatz verfügt und ausschließlich körperlich artikuliert wird. In einer dritten Studie Virtual Sketching wird VR-Technologie in einer Cave für freihändiges Skizzieren im Raum eingesetzt. Die beschriebenen Körpertechniken werden einzeln im Hinblick auf ihre Wirkung und operativen Potentiale beschrieben. Es zeigt sich in den Reflexionen der ProbandInnen, dass insbesondere die ephemeren, nicht medial protokollierten Techniken die introspektive Sicht, die Immersion und das Verstehen und Begreifen räumlicher Vorstellungen in hohem Maße fördern können. Langfristig untersucht werden soll, inwiefern Geste und Gebärde als universelle Körpertechnik eine sprachliche wie visuelle Schwellenfunktion im Entwerfen zukommt und ob diese in standardisierte Entwurfsverfahren integriert werden kann. In den entwerfenden Disziplinen spielen Modellierungspraktiken eine entscheidende Rolle, um die Vorstellung des Zukünftigen kommunizieren, erfahren und verstehen zu lernen. Im Kapitel Zur Perspektivität von Modellen werden deshalb drei unterschiedliche Positionen aus den Disziplinen der Modellgeschichte, Architektur und Denkmalpflege vorgestellt und die Rolle von Modellen anhand verschiedener Modellierungsformen im Übergang zum Architekturmodell vertieft. In der Gegenüberstellung von Modellforschung und -praxis wird deutlich, dass „gestalterische Aspekte von Forschungsprozessen“ und „forscherische Aspekte eines Gestaltungsprozesses“9 gar nicht so weit auseinander liegen. Die Arbeit mit und an Modellen wird in allen drei Beiträgen prozessorientiert

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Siehe Beitrag von Reinhard Wendler in vorliegendem Band.

EINLEITUNG

beschrieben, so dass die Perspektive auf das Modell immer wieder in Frage gestellt wird und sich kreativ zu verändern scheint. Allen drei Beiträgen ist gemein, dass sie sich mit dem sogenannten Verhandlungsort des Modells auseinandersetzen und die Handlungsakteure in ihre Reflexion über die haptischsinnliche Erfahrung mit Modellen einbeziehen. Die räumlich-perspektivische Sicht wird damit auch um soziopsychologische Aspekte ergänzt. Modellbegriffe als Elemente der Modellierung ist ein Beitrag von Reinhard Wendler. Ein für die Geschichte der Chemie bedeutsamer Vortrag aus dem Jahr 1865 des Chemikers Wilhelm August Hofmann10 dient als Ausgangsmaterial, die Verwandtschaft von Modellpraxis und -theorie aufzuzeigen und sich kritisch gegenüber einer Theorie des Modells zu äußern. Das Beispiel des Modellierungsprozesses Hofmanns, bei dem sich vor den Augen der Zuschauer neben einfachen physischen Handlungen lediglich durch Begriffszuweisungen das Molekülmodell in ein atomares Architekturmodell verwandelt und schließlich der Chemiker zum Gestalter von Zukunftswelten wird und sich als solcher inszeniert, verbildlicht auf der einen Seite die verschiedenen Perspektiven und darin angelegten teils widersprüchlichen Konzepte (didaktische, wissenschaftliche, entwerferische, politische, theatrale, usw.), auf der anderen Seite verdeutlicht es die Öffnung und Schaffung von kreativen Möglichkeitsräumen. Nach Wendler ist das Spiel mit Auffassungen ein produktiver Teil der Modellierung selbst und damit praktischer Natur. In Anlehnung an die Begrifflichkeiten Sprechakt und Bildakt11 rückt er mit dem Begriff des Auffassungsaktes Theorie und Praxis zueinander und bestätigt Modell- und Modellierungsbegriffe als Teile der Modellierungspraxis. Wendlers Betrachtung von Modellsituationen findet unter Berücksichtigung diskursiver und politischer Aspekte statt. Er verdeutlicht Be- und Zuschreibungen von Modellen sind „aktive Elemente der Modellierung“. Sein Beitrag untersucht die Rolle von Modellen während ihrer Handhabung, ihre dabei entstehende Wechselwirkung, Heterogenität und „innere Widersprüchlichkeit“. Fabio Colonnese bestätigt mit seinem Beitrag Die Erfahrung mit lebensgroßen Modellen die komplexe Beziehung zwischen Realität und Repräsentation. Je nach Zuschreibung, so seine Überzeugung, könnten auch Bauwerke und Elemente des realen Raums als Modell im Maßstab 1:1 wahrgenommen

10 nach einer Beschreibung des Wissenschaftshistorikers Christoph Meinel 11 Bredekamp (2010).

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MANIFESTATIONEN IM ENTWURF

werden und zu einem „außergewöhnlichen Katalysator“ im architektonischen Entwurfsprozess dienen. Als Architekt und Denkmalpfleger legt Colonnese sein Augenmerk auf Full-Size Models, Mock-ups, ephemere Prototypen historisch beschreibend auch im Übergang von Fassaden-Malerei, Skulptur und Architektur. Dabei unterstreicht und arbeitet er die Bedeutung der Maßstäblichkeit des Modells für dessen Erfahrung und Abstraktionsgrad im architektonischen Entwurfsprozess heraus und typologisiert lebensgroße Modelle in Bezug auf den Entwurfsprozess und den Gebäudezustand. Unter Einbeziehung nicht realisierter Bauvorhaben liefert er anhand von zahlreichen Beispielen einen umfangreichen Überblick ihrer Anwendung und Wirkungsweisen. Reale full-size Modelle erzeugen im Gegensatz zu virtuellen Modellierungen konkrete körperliche und physische Erfahrung von Raum, Ort, Material und den damit verbundenen Gefühlen, die sich bei der Erfahrung jedes im Realraum manifestierten Entwurfs einstellen würden. Colonnese spricht sich für den Einsatz von lebensgroßen Modellen zu Beginn eines Entwurfsprozesses aus und für den außergewöhnlichen Verhandlungsort, an dem sich gemeinsam mit allen Beteiligten unter Berücksichtigung körperlicher Reaktionen der Prozess konkretisieren kann. Damit schlägt er eine Brücke zur Visualisierungsmethode im Theater, bei der mit Hilfe der sogenannten „Bauprobe“ gemeinsam mit allen Beteiligten der Entwurf im Maßstab 1:1 reflektiert und erarbeitet wird. Der in Colonneses Text angelegte Vorschlag partizipativer Entwurfs- und Verständigungsprozesse am Ort des Baus selbst wird im Bildessay Wie man dem toten Hasen die Häuser erklärt von Anne-Julchen Bernhardt anhand dreier realisierter Wohnbau-Bauprojekte des eigenen Architekturbüros BeL Sozietät für Architektur (mit Jörg Leeser) vorgestellt. BeL erarbeitet den Neubau oder den Umbau eines Gebäudes dialogisch und bezieht die Bauherren ganz bewusst schon am Anfang der Entwurfsphase aktiv in den Entwicklungsprozess mit ein. Meetings vor Ort und gemeinsame Workshops schließen, so das Ziel, spätere Enttäuschungen aus. Der reale Umgang mit und die gemeinsame Entwicklung von Modellen, Zeichnungen, Entwurfscollagen, Diagrammen und Plänen werden im Beitrag aus erster Hand präsentiert. Als Kommunikationsmittel zwischen ArchitektIn und Baufrauen und -herren werden sie dabei zum Gegenstand einer verbindenden diskursiven Wirklichkeit. Bernhardt spricht in diesem Zusammenhang von Wirklichkeitsmodellen. Der Beitrag ist innerhalb des Bandes als ein Bericht aus der architektonischen Praxis zu verstehen und zeigt in Anlehnung des Titels an Josef Beuys’ Aktion aus dem Jahr 1965 „Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt“ einmal mehr

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EINLEITUNG

die Komplexität des Entwurfs- und Verständigungsvorgangs innerhalb eines Bauvorhabens. Die dialogische Praxis des Architekturbüros BeL verfolgt das Ziel, die Kommunikationsmittel in jedem Entwurfsprozess neu zu überdenken, diese gegebenenfalls zu modifizieren und das Lernen im Tun stets fortzusetzen. Mit Wendlers Begriff des „Aufführungsaktes“ gedeutet, entsteht bei der Zusammenkunft von ArchitektInnen und Baufrauen und -herren ein dynamischer, offener Prozess, bei dem Begriffe tatsächlich zu Elementen der Modellierung werden können und Projekte so prägen, dass diese den intensiven Diskurs individueller Nutzerperspektiven und der professionellen Planung in besonderer Weise widerspiegeln. Den Epilog bestreitet Ludger Hovestadt mit Das Drama der Architektur in einer Welt der Daten. Mithilfe der Fiktion positioniert er sich außerhalb der Wissenschaftslandschaft und behandelt doch systemtheoretisch relevante Fragen bzgl. der Zukunft der Architektur und des digitalen Bauens. Es ist ein Theatertext, bestückt mit Regieanweisungen und verschiedenen Handlungsebenen. Die Hauptfiguren heißen Manuel DeLanda und Bruno Latour. Der Technikphilosoph, der für seine Grundlagenforschung zur Morphogenesis bekannt ist, tritt auf der Bühne gegen den Mitbegründer der Akteur-Netzwerk Theorie an. Anhand von wörtlichen Zitaten werden grundlegende Dualismen von kulturellen bzw. menschlichen und natürlichen bzw. nichtmenschlichen Systemen bis hin zum System physisch-materieller Information im Gegensatz zur Struktur virtueller Gebilde offensichtlich. Ein Chor und ein Wir antworten und kommentieren. Den Spannungsbogen bildet die Frage, ob die wilde Welt der Daten zu zähmen ist. Autor und LeserIn befinden sich teils innerhalb, teils außerhalb des Geschehens. Es entsteht ein Spektakel, das Fragen der künstlichen Intelligenz, der Chaostheorie und Kybernetik behandelt. An Platons Höhlengleichnis erinnernd befinden sich auf der Bühne überwiegend aktive denkende und diskutierende Subjekte. Doch schließlich übernimmt ein Instrument das Handlungsgeschehen. Wird darauf die Neue Architektur geübt? Ein apparatisches Spiel der Maschinen entsteht, in dem die Dinge aktiviert sind und zu legalen Subjekten werden. Eine Welt wird abgebildet in der weder Proportionen, Eigenschaften noch Funktionen spezifisch sind. Was passiert außerhalb des geschützten Bühnenraums? Und was passiert tatsächlich, wenn die Produktionssysteme nicht mehr durch Personen und Orte abgesichert werden, sondern durch Maschinen und weltweite Infrastrukturen? Hovestadts dramatischer Text beginnt mit den Worten: „Nehmen Sie Platz! Lassen Sie uns über Architektur reden.“

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MANIFESTATIONEN IM ENTWURF

Der interdisziplinäre Workshop MANIFESTATIONEN IM ENTWURF am Lehrstuhl für Bildnerische Gestaltung der RWTH Aachen im April 2014 war der öffentliche Auftakt der Auseinandersetzung mit Wissensobjekten. Die Veranstaltung, gefördert durch die Fritz-Thyssen Stiftung, richtete sich an Disziplinen wie Ingenieurswissenschaft, Architektur, Design in Theorie und Praxis, an SoziologInnen, sowie KünstlerInnen. Dank gilt der Fakultät für Architektur, der Philosophischen Fakultät der RWTH Aachen und der Hochschule für Gestaltung und Kunst FHNW, Basel, die diesen Tagungsband finanziert haben. Die Herausgeber Thomas H. Schmitz, Roger Häußling, Claudia Mareis, Hannah Groninger

LITERATUR Ammon/Froschauer (2013): Sabine Ammon, Eva Maria Froschauer, Zur Einleitung: Wissenschaft Entwerfen. Perspektiven einer reflexiven Entwurfsforschung, in: Sabine Ammon, Eva Maria Froschauer (Hrsg.), Wissenschaft Entwerfen, München 2013, S. 15–47. Bredekamp (2010): Horst Bredekamp, Theorie des Bildaktes, Frankfurt a. M. 2010. Gethmann/Hauser (2005): Daniel Gethmann, Susanne Hauser (Hrsg.): Kulturtechnik entwerfen, Bielefeld 2005. Latour (2006): Bruno Latour, Drawing Things Together: Die Macht der unveränderlichen mobilen Elemente, in: Andréa Belliger, David J. Krieger (Hrsg.), ANThology: Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, Bielefeld 2006, S. 259–307. Mareis (2010): Claudia Mareis, Entwerfen – Wissen – Produzieren. Designforschung im Anwendungskontext, in: Claudia Mareis, Gesche Joost, Kora Kimpel (Hrsg.): Entwerfen – Wissen – Produzieren, Bielefeld 2010, S. 9–32. Nancy (2011): Jean-Luc Nancy, Die Lust an der Zeichnung, Wien 2011. Rheinberger (2006): Hans-Jörg Rheinberger, Epistemologie des Konkreten. Studien zur Geschichte der modernen Biologie, Frankfurt a.M. 2006. Rittel (2012): Die Denkweise von Designern; Hamburg 2012. Rittel (2013): Horst W.J. Rittel: Thinking Design. Transdisziplinäre Konzepte für Planer und Entwerfer (Neuauflage Reuter/Jonas Hrsg.), Basel 2013. Terstiege (2009): Gerrit Terstiege (Hrsg.): The Making Of Design. Vom Modell zum fertigen Produkt, Basel 2009, S. 6–7.

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Forschungsperspektiven und interdisziplinäre Positionen zu Manifestationen im Entwurf

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Zur Rolle von Entwürfen, Zeichnungen und Modellen im Konstruktionsprozess von Ingenieuren. Eine theoretische Skizze ROGER HÄUSSLING

„Es ist Nah- und Fernsinn zugleich, detailversessen und ins Weite strebend, es entwirft Mass, Quantum, Raum und Zeit, das heisst das Schema, das in alle konkreten Gestaltungen auf die eine oder andere Weise einfliesst. Tatsächlich entblössen viele Zeichnungen diese Substrate, sie legen die Mechanismen ihres Bildwerdens und indirekt diejenigen der produktiven Einbildungskraft offen.“1

Der vorliegende Beitrag befasst sich mit der Rolle, welche Entwürfe, Skizzen, Zeichnungen und Modelle im Konstruktionsprozess von Ingenieuren spielen. Er nähert sich diesem Thema von einer theoretischen Warte. In einem ersten Schritt wird die Fragestellung selbst in einen historischen Kontext eingerückt: Das forscherische Interesse an materiellen Manifestationen (wie Modelle, Entwürfe und Zeichnungen) und deren Bedeutung erstarken von westlicher Seite erst wieder mit dem Ende des Ostblocks, also erst, wenn es nicht mehr darum geht, eine starke Gegenposition zum historischen Materialismus zu beziehen. Ab diesem Moment kann den materiellen Dingen (wieder) eine Bedeutsamkeit und eine direkte Einflussnahme auf Handlungen und soziale Prozesse attestiert werden. Eine weiterführende Perspektive, dies zu tun, wird einerseits in Régis Debrays Mediologie gesehen (2. Abschnitt). Hier spielen seine Begriffe „materialisierte Organisation“, „organisierte Materie“ sowie

1

Boehm (2007), S. 158.

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MANIFESTATIONEN IM ENTWURF | Forschungsperspektiven

„Übertragung“ eine Schlüsselfunktion. Alles Bedeutsame benötigt nämlich einer Vergegenständlichung, um zu wirken. Übertragung im Sinne Debrays meint genau diesen Vorgang der Materialisierung von Ideen. Andererseits wird hier dafür plädiert, die Manifestationen im Entwurfsprozess als Schnittstellen zu begreifen, die Heterogenes füreinander anschlussfähig machen. Entsprechend werden im 3. Abschnitt Herbert A. Simons Überlegungen zur Schnittstelle erörtert: Die innere Umwelt bilden die Gedanken des Konstrukteurs und die äußere Welt die kommunikable Welt der Mitteilungen. Die Schnittstelle zwischen diesen zwei Welten bildet dann die je konkrete Manifestation. Der 4. Abschnitt bringt diese beiden theoretischen Stränge zusammen, indem er eine Übertragung, die darauf abzielt, eine Beziehung zwischen den beteiligten heterogenen Entitäten zu stiften, als Übersetzung bezeichnet. Hierzu wird der Benjaminsche Übersetzungsbegriff herangezogen. Mit diesem aus den Abschnitten 2 bis 4 gewonnenen, theoretischen Konzept werden im Folgenden die materiellen Manifestationen im Konstruktionsprozess von Ingenieuren näher beleuchtet. In Abschnitt 5 werden unter Rückgriff auf die design-thinking-Debatte Modelle, Zeichnungen, Skizzen und Entwürfe als materialisierte Organisation und organisierte Materie gedeutet. Ferner werden die theoretischen Konsequenzen für die Konstruktionsprozesse mittels Einsatz von CAD-Programmen gezogen: Sie besitzen einen grundsätzlich anderen Charakter. Um zu klären, inwieweit diese Überlegungen empirisch belegt werden können, werden im 6. Abschnitt die Erkenntnisse der empirischen Konstruktionsforschung diskutiert. Im darauffolgenden Abschnitt 7 werden die Schlussfolgerungen daraus gezogen. Der Beitrag endet mit einer (vorläufigen) Antwort, indem ein abermaliger Rekurs auf Walter Benjamin genommen wird: Entwürfe sind Passagen, die zwischen Innen und Außen, zwischen Traum und Erwachen vermitteln, indem sie (vorübergehende) Orte für unerwartete, kreative Querbezüge („Bisoziation“) sowie Orte der Fokussierung von Aufmerksamkeit sind.

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Roger Häussling | EINE THEORETISCHE SKIZZE

1. ZUR WIEDERENTDECKUNG VON MATERIALITÄT Derrida2 hat in den 1990er Jahren in „Marx Gespenster“ die Konsequenzen ausbuchstabiert, was es bedeutet, in einem Zeitalter zu leben, in dem es den real existierenden Sozialismus nicht mehr gibt. Die – wie auch immer zu bewertenden – Umsetzungsversuche der Marxschen Gesellschaftsvision waren gescheitert, und der Kapitalismus schien alternativlos. Die so genannte westliche Welt hatte ihre Identität bislang in Opposition zu den Staaten des real existierenden Sozialismus profiliert. Der Marxismus mit seinem historischen Materialismus hat den tätigen Umgang mit der materiellen Welt in Form von Arbeit in das Zentrum seiner Gesellschaftstheorie und insbesondere seiner Vorstellungen von historischem Wandel gerückt. Bei Marx ist nämlich das menschliche Leben als tätiger Umgang mit den materiellen Gegebenheiten der Natur Ausgangspunkt seiner Argumentation.3 Denn das Verhältnis des Menschen zur Natur sei dadurch geprägt, dass der Mensch den Naturstoff in eine für seine Zwecke brauchbare Form umwandelt und sich aneignet. Diesen ewigen Umwandlungs- und Aneignungsprozess nennt Marx Arbeit.4 Dass der Mensch einer Arbeit nachgehen muss, um zu leben, mache ihn zu einem sozialen und gesellschaftlichen Wesen.5 Drei Dimensionen bestimmen die Arbeit nach Marx: (1) Sie steht für den sinnlichen Umgang mit den natürlichen Gegebenheiten; (2) mittels ihrer befriedigt der Mensch seine elementaren Bedürfnisse wie zum Beispiel die Ernährung durch Jagd (als eine frühe Form der Arbeit) oder den Schutz vor Kälte mittels hergestellter Kleidung; (3) sie ist aber immer auch Produktion, d. h. die Hervorbringung bzw. Transformation von etwas mit Gebrauchswert. Dabei generiere die Produktion nicht nur das Material, sondern auch die Art und Weise seines Ge- bzw. Verbrauchs sowie damit einhergehende menschliche Bedürfnisse, die diesen produzierten Dingen gelten. Diese Bedürfnisse und die Form ihrer Befriedigung mittels der vorherrschenden Produktionsweise erzeugen für Marx einen materialistischen Zusammenhang zwischen den Menschen. Dieser Zusammenhang stehe dafür, wie die Arbeit und deren

2

Vgl. Derrida (1995), S. 17 ff.

3

Vgl. Marx (1969), S. 23 f.

4

Ebd., S. 185.

5

Vgl. ebd., S. 392.

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MANIFESTATIONEN IM ENTWURF | Forschungsperspektiven

Produkte in der je gegebenen Gesellschaft verteilt sind. Insofern lässt sich nach Marx die jeweils historisch gegebene Gesellschaft durch die Analyse der Produktionsweise bestimmen. Sie ist für ihn das bestimmende Moment der Geschichte. Auch die Tätigkeit des Architekten, des Designers und des Ingenieurs sind in diesem Sinn Arbeit, also tätiger Umgang mit den materiellen Gegebenheiten der Natur, selbst wenn sie mit CAD-Programmen arbeiten. Ja, selbst das CAD-Programm ist wiederum in Arbeit dekomponierbar. Die Technik denkt Marx nämlich strikt vom Arbeitsbegriff her: ein technischer Gegenstand ist das Produkt eines vorausgegangenen Arbeitsprozesses. Dies gilt aber ab dann auch in umgekehrter Richtung für Marx: Die Technik geht als Produktionsmittel konstitutiv in die mit ihr verknüpften Arbeitsprozesse ein. Insofern ist für die Produktion ein Technikbegriff ohne die Dimension der Arbeit ebenso sinnlos wie ein Arbeitsbegriff ohne die Dimension der Technik. Denn die Erschaffung und der anschließende Gebrauch von Arbeitsmitteln kennzeichnen den genuin menschlichen Arbeitsprozess. Und die Technik ist Verkörperung des materiellen Umgangs des Menschen mit der Welt. An diesen wenigen Ausführungen zu Marx wird deutlich, dass das menschliche Tun unentflechtbar mit der Materialität von Welt verknüpft ist. Nun kann man an den Theorien und Konzepten der westlichen Welt, die in der Zeit während des Bestehens der Sowjetunion vertreten wurden, deutlich einen anti-materialistischen Grundzug erkennen. Besonders augenfällig tritt er an systemtheoretischen Ansätzen zu Tage, die in verschiedenen disziplinären Kontexten anzutreffen sind. In der Soziologie waren es vor allem Talcott Parsons und Niklas Luhmann, die entsprechende Systemtheorien entwickelt haben. Bei Letzterem (wie übrigens bereits schon bei Max Weber, dessen berühmte Protestantismusstudie als gezieltes Gegenkonzept zu Karl Marx zu werten ist) wird das Soziale kategorial streng von allem Nicht-Sozialen getrennt. Für Luhmann (1984) bestehen soziale Systeme ausschließlich aus Kommunikationen, welche die Ermöglichungsbedingungen für weitere Kommunikationen schaffen. Der Mensch aus Fleisch und Blut, ja selbst seine kognitiven Fähigkeiten sind ebenso Umwelt sozialer Systeme wie materielle Dinge, insbesondere Techniken und Werkstoffe. Menschen können demgemäß nicht kommunizieren und Computer dienen allenfalls als Medium für Kommunikation. Eine Kommunikation mit ihnen wird daher strikt für unmöglich gehalten. Zwar hat Luhmann eingeräumt, dass soziale Systeme von Umweltphänomenen, wie zum Beispiel Kognitionsleistungen, Sinneswahrnehmungen des Menschen, oder der Energiebereitstellung durch technische

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Systeme abhängig sind. Allerdings können alle diese Umweltphänomene die Operationsweise von sozialen Systemen nicht konkret in eine Bahn lenken. Wie ein soziales System operiert, entscheidet das System jeweils autonom für sich – dies hat Luhmann mit dem Begriff der Autopoiese bzw. Selbstreferentialität bezeichnet. Damit ist eine radikale Absage an die Materialität impliziert: Alles Materielle wird nicht nur aus sozialen Systemen exkommuniziert. Auch wenn sich die Gegenwartsgesellschaft materiell präsentiert, in Form von Verkehrsinfrastruktursystemen, Gebäuden, öffentlichen Plätzen, Lifestyle-Produkten, sind diese materiellen Dinge sind völlig irrelevant für das Verständnis sozialer Prozesse. Der Sozialwissenschaftler kann sie getrost ignorieren, ohne damit auch nur in marginaler Weise ein beeinflussendes Element sozialer Prozesse außer Acht gelassen zu haben. Und wie Derrida prophezeit hat, geht ab dem Moment in West-Europa (und natürlich auch in den USA etc.) ein Gespenst wieder um, in dem der real existierende Sozialismus ausgedient hat. Es handelt sich allerdings weniger um den Kommunismus selbst, der da von neuem umgeht, als um die Aspekte, die er in Befolgung der Marxschen Theorie besonders in den Fokus gerückt hat. Insbesondere ist hier der Materialismus gemeint und damit die Betonung materieller Aspekte für das Verständnis von Gesellschaft und gesellschaftlichem Wandel. Nicht von ungefähr entsteht die Akteur-Netzwerk-Theorie von Bruno Latour, Michel Callon und John Law genau in dieser zeitlichen Umbruchsphase und gewinnt seither eine steigende Popularität. Schließlich wertet sie materielle Dinge maximal möglich auf: Sie werden zu gleichwertigen Aktanten neben menschlichen Akteuren.6 Es ist gleichsam so, als ob ein lang gehegtes Tabu aufgehoben wurde und nun sich ein Nachholbedarf breit macht, der das aus ideologischen Gründen Verschmähte in den rehabilitierenden Blick nimmt. Wenn an dieser ‚Erzählung‘ etwas dran ist, dann rücken Entwicklungen und Phänomene der letzten Jahrzehnte in ein anderes Licht. So kann etwa die vorangetriebene Digitalisierung aller menschlichen Lebensbereiche (Arbeitswelt, Freizeit, Kommunikation, smart home etc.) als ein Prozess der Entmaterialisierung verstanden werden, welcher einer westlichen Doktrin folgte. Besonders deutlich wird dies zum Beispiel an CAD-Programmen beim Entwurf, welche die klassischen Modell- und Prototypen-Anfertigung obsolet

6

Vgl. Belliger/Krieger (2006).

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erscheinen ließen – dazu später mehr! Erst in dem Moment, wo die Abwehr des historischen Materialismus nicht mehr im Zentrum stand, konnten Korrekturen an dem eigenen Weltbild vorgenommen werden. Nicht nur wurden materielle Rückbezüge selbst bei dem Prozess der Digitalisierung eingeräumt, sondern die Materialität wurde auch in der so genannten Dienstleistungsgesellschaft, der Informationsgesellschaft, der Wissensgesellschaft und der Netzwerkgesellschaft aufgewertet. Ja, selbst die menschliche Materialität hat ihren Ausdruck in neuen Formen des Körperkults gefunden (Stichwort: body modification). Dies sind alles Phänomene, die jetzt nicht als Aufbäumungsversuche gegen eine unerbittlich voranschreitende Digitalisierung von Welt gedeutet werden, sondern als Korrektiv gegenüber einem ideologischen Vereinnahmungsversuch: Die Digitalisierung besitzt ihre eigene Materialität. Und nicht nur diese, sondern auch jede Dienstleistung, jede Information, jede Wissenskultur und jede Vernetzung. Sehr abstrakt formuliert, geht es stets um Bedeutungen, die vermittelt werden. Und die Vermittlung ist immer eine Inskription, so dass sie für unsere Sinnesorgane wahrnehmbar werden. Bedeutungen müssen also visuell erfassbar, hörbar gemacht und/oder ertastbar sein, damit sie überhaupt erfasst und ausgetauscht werden können. Daran ändert der Computer nichts. Die Skizze mit Stift und Papier ist in gleicher Weise eine Inskription wie die Verwendung eines CAD-Programms, dessen Ergebnis auf dem Bildschirm erscheint. Das jeweils bedeutungshaft Niedergelegte muss wieder an die ‚Oberfläche‘ der menschlichen Wahrnehmungsmöglichkeiten treten, um erfasst und mitgeteilt werden zu können. In diesem Sinn gibt es keinen Unterschied zwischen analogen und digitalen Medien der Bedeutungsvermittlung. Der Unterschied liegt in der Eigenlogik der Vermittlung, die in Rechnung zu stellen ist. Medien arbeiten nicht geräuschfrei, sondern leisten „Vermittlungsarbeit“, welche Einfluss auf die Erfassung des Zu-Vermittelnden nimmt. D.h. ganz konkret: Wir Menschen sind anders in den Prozess der Bedeutungserfassung und vermittlung einbezogen, je nach dem, mit welchen Medien – ob mit Stift und Papier oder mittels Computer – wir arbeiten. Die Verkopplung zwischen Bedeutungshaftem und den ‚Rezipienten‘ bzw. Deutungsinstanzen ist eine andere. So sind wir körperlich, wahrnehmungssensitiv und kognitiv anders in den Gestaltungsprozess einbezogen, wenn wir statt des Computers zu Papier und Stift greifen. Und das hat – wie gesagt – nichts damit zu tun, dass im einen Fall keine Materie im Spiel wäre und im anderen Fall ganz explizit. Beides ist und bleibt materiell geerdet.

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Vielmehr müssen die verschiedenen Formen der Vermittlung von einer Medientheorie erfasst werden, welche einerseits die besagte Eigenlogik des jeweiligen Mediums in Rechnung stellt und andererseits die Verkopplung von Menschen, Bedeutungen und materiellen Gegebenheiten im Zeichen des Mediums in den Blick nimmt. Eine solche Medientheorie liegt mit der so genannten Mediologie von Régis Debray vor, die nun in den für diesen Beitrag relevanten Aspekten vorgestellt wird.

2. ORGANISIERTE MATERIE – MATERIALISIERTE ORGANISATION Debray (2003) hat einen in den Sozial- und Kulturwissenschaften sowie in der Designtheorie viel zu wenig beachteten, eigenständigen Beitrag zu einer Medientheorie geleistet. Sein Verdienst liegt vor allem darin, die Eigenlogik des Mediums herausgearbeitet zu haben. Damit Ideen überhaupt sozial relevant werden können, bedürfen sie nach Debray einer Vergegenständlichung. Durch diese Vergegenständlichung werden Ideen zu einem Übertragungsphänomen. Übertragung meint nun – gemäß Debray – nicht einfach nur Transport, sondern die Hervorbringung des Zu-Übertragenden. Letzteres geht also der Übertragung nicht voraus, sondern wird mit der Übertragung überhaupt erst erzeugt. Ein Autor muss eine literarische Idee zu Papier bringen bzw. durch ein Textverarbeitungsprogramm vergegenständlichen, damit sie sich anderen mitteilen kann. Ja, durch diese Vergegenständlichung löst sich die Idee vom Autor, sodass sie auch nach dessen Tod weiter wirken kann. Jede Übertragung ist in diesem Sinne eine Materialisierung, welche dann die Voraussetzung dafür schafft, das Zu-Übertragende für die menschliche Wahrnehmung zugänglich zu machen. Und jede Übertragung verkörperlicht Unkörperliches. Um dieses Unkörperliche an den menschlichen Körper mit seinen Wahrnehmungsorganen anschlussfähig zu machen, bedarf es zwingend dessen Materialisierung. Die Materialität dieser Spur fasst Debray7 als eine Interdependenz zwischen „organisierter Materie“ und „materialisierter Organisation“. Darin äußert sich ein dualer Charakter von Materialität; denn diese tritt immer in zwei Modalitäten auf: Sie ist

7

Ebd., S. 149 f.

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technologisch und soziologisch bestimmbar. Im erstgenannten Fall geht es darum, wie sich Symbolisches verfestigt, inkorporiert und wie es materielle Gestalt gewinnt; dann handelt es sich um organisierte Materie. Im zweitgenannten Fall wird in den Blick genommen, wie Technisch-Materielles im Sinne eines Trägers bzw. Fundaments Denkgebäude überträgt. Und – wie gesagt – die Übertragung ist umfassend zu denken: Sie sorgt für die Entstehung, die Fortdauer und das Verschwinden des Denkgebäudes. Die Relevanz dieser Überlegungen Debrays wird daran deutlich, dass er jedes kulturelle Phänomen als ein Ergebnis von Übertragungsverhältnissen fasst. Und die kulturelle Kreativität kann in der Verkörperung des Bedeutsamen gesehen werden. Stets nehmen kulturelle Phänomene auch eine materielle Gestalt an – zum Beispiel in Form von symbolischen Repräsentationen, die niedergeschrieben und mitgeteilt werden können. Selbst Gesten – zum Beispiel kulturelle Begrüßungsfloskeln – materialisieren sich im menschlichen Körper als das Medium ihrer kulturellen Repräsentation. Debray schlägt vor, diese Phänomene mittels einer Mediologie zu erforschen. Sie analysiert eben jene Übertragungen von Ideen, aber auch Übertragungen von Gütern und von Menschen. Ihr Gegenstand sind demgemäß Kommunikations-, Beförderungs- und Fortbewegungsmittel. Für diesen Beitrag sind die Kommunikationsmittel von besonderer Relevanz. Vier mediale Aspekte sind dabei stets beteiligt, die erst in ihrem Zusammenwirken das Medium ergeben:8 1. Symbolisierungsprozeduren wie Wort, Schrift oder Bild; 2. Kommunikationscodes wie zum Beispiel Sprache (Englisch, Deutsch etc.); 3. Einschreibungsmaterialien und Speicher wie Papyrus, Datenträger oder Bildschirme; 4. Aufzeichnungsdispositive wie Buchdruck, Fernsehkameras oder Infor­matik. Genau diese Aspekte sind auch am Werk, wenn ein Ingenieur konstruiert. Alle Manifestationen – ob in Form klassischer Modelle oder Zeichnungen oder ob in Form von Lösungen mittels CAD-Programmen – sind in diesem Sinn Übertragungen. Genau genommen, ist jeder Entwurf eine Ansammlung von Übertragungen unterschiedlicher Ideen. Doch mit der Übertragung endet

8

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Vgl. auch: Holas (2010), S. 46f.

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nicht ihre „Mission“. Sie sollen gleichsam eine Übereinkunft zwischen diesen unterschiedlichen Ideen stiften: Der Ingenieur muss die naturwissenschaftlichen Gesetze ebenso berücksichtigen wie die antizipierten Nutzungsweisen wie auch die ökonomische Umsetzungsperspektive. Der Entwurf soll für andere Kollegen nachvollziehbar sein, ggf. auch für Aufraggeber und/ oder Nutzer. Heterogene Sachverhalte – naturwissenschaftlich-technische Regeln, Handhabungsgesichtspunkte und Preis-Leistungs-Kalküle – sowie heterogene Akteure – Ingenieure, Auftraggeber und andere Anspruchsgruppen – versammeln sich im und am Entwurf. Mit anderen Worten lässt sich diese spezielle Übertragung – die Manifestation des Konstruktionsprozesses eines Ingenieurs – als eine Verkopplungsinstanz begreifen, die Heterogenes füreinander anschlussfähig macht: menschliche Wahrnehmungen, kulturelle Symbole, soziale Aushandlungsprozesse, natürliche Gegebenheiten etc. Insofern liegt es nahe, Debrays Begriffe der „organisierten Materie“ und „materialisierten Organisation“ mit den Theorien der Schnittstelle zu verknüpfen, um die hier verhandelte Frage nach der Rolle von Manifestationen im Konstruktionsprozess von Ingenieuren einer Antwort zuzuführen. Denn Schnittstellen leisten genau dies: Sie verkoppeln Heterogenes. Durch Debrays Begrifflichkeiten wird allerdings eine differenziertere Vorstellung von der Verkopplung und der Eigenlogik der Verkopplung – nun im Sinne einer Übertragung gedacht – gewonnen.

3. SCHNITTSTELLEN In „The Sciences of the Artificial“ (1969) präsentiert Herbert A. Simon als Ausgangspunkt seiner Argumentation die Überlegung, dass der Mensch in einer Welt lebt, die weitestgehend von ihm selbst gemacht ist. Simon spricht von „Künstlichkeit“.9 Sie sei keine Welt der Zwangsläufigkeit, wie es die Natur mit ihren Naturgesetzmäßigkeiten darstelle, sondern eine Welt der Möglichkeiten, die durch Kontingenz gekennzeichnet sei.10 D. h. die vom Menschen gemachten Dinge können so aber auch anders realisiert werden, es gibt keinen one best way. Vielmehr gehe es in der Welt des Künstlichen

9

Simon (1994), S. 4.

10 Vgl. ebd., S. 98.

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um Anpassungsfähigkeit und um die Formbarkeit durch umweltliche Gegebenheiten. Die Dinge erscheinen in dieser Welt nicht wie sie sind, sondern – so Simon (ebd.) – wie sie sein sollten. Es gehe darum, Bestehendes in Gewünschtes zu transformieren. Eine ganze Reihe von Berufen macht Simon aus, die vorübergehende Anpassungen für vorübergehende (umweltliche) Konstellationen realisieren: Dazu zählen nicht nur Designer, Ingenieure, Architekten und Produktgestalter, sondern auch Ärzte, Informatiker, Manager, Politiker, Lehrer und Anwälte. Unter Rückgriff auf den viel weiter gefassten Designbegriff in den USA bezeichnet Simon diese Berufsgruppen alle als „Designer“.11 Sie beschäftigten sich mit den komplexen Problemen der realen Welt und entwerfen dabei imaginierte Möglichkeiten der Bewältigung dieser Probleme. Ihre Arbeit zeichne sich durch eine zielgerichtete Produktivität aus, die einen Istzustand in einen Sollzustand transformiert. Sie griffen dabei auf die konkreten Denkprozesse des Entwerfens, Darstellens, Urteilens, Entscheidens und Auswählens zurück. Wie die Designer im engeren Sinn sich mit der Oberflächengestaltung von (technischen) Objekten befassen – seien es Kleidungsstücke, seien es Benutzeroberflächen von Softwareprogrammen, sei es die Gehäusegestaltung technischer Geräte –, so würden sich auch die oben aufgezählten Berufsgruppen eigentlich nur mit der Gestaltung eines „thin interface“12 befassen. Diese dünne Schnittstelle trennt – Simon zufolge – zwei Umwelten voneinander, eine innere und eine äußere. In Bezug auf Technik bzw. Computertechnik bilde die technische Struktur die innere Umwelt, während die Anwendungsgebiete samt der Nutzer zu der äußeren Umwelt zu rechnen seien. Simon geht davon aus, dass in beiden Umwelten jeweils eigene Gesetzmäßigkeiten vorherrschen, die aber für die Wissenschaften vom Künstlichen nicht maßgeblich sind. Vielmehr gebe es eigene Regeln, die bei der Schnittstellengestaltung von Relevanz sind. Demgemäß gehe es diesen Wissenschaften nicht um den technischen Gegenstand selbst als vielmehr um den Berührungspunkt, der zwei Umwelten miteinander koppelt. Die Schnittstelle hat die Gesetzmäßigkeiten der einen Umwelt mit derjenigen der anderen zu verkoppeln. Dies kann nur im Sinn einer Übersetzung erfolgen: Indem die jeweiligen Gesetzmäßigkeiten auf der Oberfläche

11 Ebd., S. 8 und S. 142 f. 12 Ebd., S. 97.

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verschwinden und vereinfachte Abbilder der Umwelten für die jeweils andere Umwelt auf der Weise angefertigt werden, so dass sie daran anknüpfend mit ihrer eigenen Gesetzmäßigkeit antworten kann. Zum Beispiel stellt ein An/ Aus-Knopf genau dieses thin interface dar. Er ist so konzipiert, dass er mit menschlichen Fingern bedient werden kann – also weder zu groß, noch zu klein, weder zu schwer-, noch zu leichtgängig, weder zu kantig, noch zu rutschig etc. In seine Konzeption und Gestaltung ist ein vereinfachtes Modell der menschlichen Hand und ihrer Anatomie eingegangen. Welche nervlichen und muskulären Vorgänge beteiligt sind, um eine Hand zu bewegen und beispielsweise den Zeigefinger zu einer Druckbewegung zu führen, sind irrelevant, solange man eine ungefähre erfahrungsbasierte Vorstellung davon hat, wie sich Hände zu einer Druckbewegung formieren und mit welcher Kraft ein Zeigefinger drücken kann, ohne dass es als beschwerlich oder zu leichtgängig wahrgenommen wird. Aber auch in umgekehrter Richtung findet eine Reduktion von Komplexität durch Zwischenschaltung eines vereinfachten Weltbilds als Schnittstelle statt: Wir Nutzer müssen nicht die mitunter komplexen Vorgänge verstehen, die durch das Betätigen des An/Aus-Knopfes technisch ausgelöst werden – beispielsweise das Hochfahren eines Computers. Durch den designten Knopf findet für den Nutzer eine strukturelle Entkopplung von der technischen Umwelt statt. Ja, das Design schiebt sich zwischen Mensch und Technik. Wie im Sinne eines Gehäuses schottet es die eine Seite von unnötiger Komplexität der anderen Seite ab. Der Impuls des Betätigens des An/ Aus-Schalters setzt sich im Gerät in elektrische Impulse fort und löst andere technische Prozeduren aus. Es ist damit auch ein technisches Zeichen für den Start einer technischen Operation. Dabei können wir Nutzer vollkommene technische Laien bleiben. Das Design versetzt uns in die Lage, trotzdem souverän die betreffende Technik zu nutzen, um in den Genuss ihrer Leistungserbringung zu kommen. Doch damit nicht genug! Der An/Aus-Knopf ist in der Regel mit einem Ikon versehen, das ihn mittlerweile weltweit als einen solchen An/Aus-Schalter markiert. Auch wenn dieses Ikon für uns heute zu einer absoluten Selbstverständlichkeit geworden ist, bleibt dessen eindeutige interpretative Zuordnung voraussetzungsreich. In einem Quer-Welt-Ein-Vergleich kann man sich unschwer Kulturen oder Zeitalter vorstellen, die rein gar nichts mit diesem Zeichen hätten etwas anfangen können. D.h. mittels kollektiv geteilter Deutungsschemata interpretieren wir Zeichen, um sie in die Welt des Bekannten zu transferieren. D.h. ohne Kognitionsleistungen – selbst wenn es sich um zur Selbstverständlichkeit abgesunkene Alltagsroutinen im Deuten von Zeichen

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handelt – kämen wir nicht zu jener Annehmlichkeit, die in der Nutzung eines designten Objekts angelegt ist. Aber der Schalter bildet auch einen Schutz vor zu viel menschlicher Kognition für die Technik. Denn er filtert nur die Deutungsleistung des Menschen, dass es sich um einen betätigbaren Schalter handelt, alle anderen Kognitionen bleiben außen vor. Insbesondere die Motive, warum das Gerät, zu dem der Schalter gehört, angeschaltet wird, bleibt für die Technik und ihr Funktionieren irrelevant. Das „thin interface“ (Simon) schützt die Technik vor der Komplexität des Menschen, wie es umgekehrt den Menschen vor der Komplexität der Technik schützt. Dies realisiert die Schnittstelle allerdings nicht „geräuschfrei“. Vielmehr bringt sie eine eigene Logik ins Spiel: die Logik der Schnittstelle. Und genau bei der Aufschlüsselung dieser Logik kann nun Debrays Begrifflichkeit weiterhelfen: Die Logik der Schnittstelle ist eine Logik der Übertragung. Übertragung bedeutet dann – ganz im Sinne Simons – eine Verkopplung zweier Umwelten, die füreinander undurchsichtig bleiben. Die Gesetzmäßigkeiten der einen Umwelt müssen übersetzt werden in die Gesetzmäßigkeiten der anderen Umwelt – vice versa. Das „Nadelöhr“, durch welches die Technik/Materie von der sozialen Welt des Menschen etwas mitbekommt, ist die „organisierte Materie“. Es ist die eine Seite des Mediums, das die Übersetzung der menschlichen Welt für die Technik leistet. Die Materie, weil sie von Menschen organisiert wurde, funktioniert in einer antizipierten Weise. Die algorithmischen Prozeduren eines Computers werden durch das Zusammenwirken der Hardware-Komponenten ‚Recheneinheit, Steuereinheit, Buseinheit, Speicher und Eingabe-Ausgabe-Schnittstelle‘ materialiter sichergestellt. Ohne diese materiellen Komponenten gäbe es kein einziges vermeintlich immaterielles Softwarephänomen. Aber das Gleiche gilt für low tech-Phänomene: Ein Baumstamm wurde so behauen, dass ein Sockel, eine Sitzfläche und eine Lehne in materielle Form gebracht wurde. Die Materie wurde zu einer Sitzgelegenheit organisiert. Die Gestaltung „weist“ die Materie in einer bestimmten Weise an, zu funktionieren. Auch hier ist es nicht von Belang, als Nutzer etwas über die spezifische Dichte von Holz zu wissen, solange die Sitzgelegenheit in Form ihres Designs einladend und stabil erscheint. Und der organisierten Materie kann es egal sein, aus welchem Grund ein Mensch sich auf ihr als Sitzgelegenheit niederlässt – ob aus Liebeskummer, ob aus dem Motiv, sich auszuruhen oder zu unterhalten. Die Materie folgt aufgrund ihrer Organisiertheit strikt dem durch die Materie gedeckten Programm.

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Jede Schnittstelle erzeugt eine wechselseitige Verkopplung mindestens zweier Umwelten. Insofern gibt es noch ein zweites „Nadelöhr“ zu berücksichtigen. Durch dieses wird die soziale Welt an die materielle/technische Welt angekoppelt. Gesellschaften lagern viele für sie relevante Prozesse in die materielle Umwelt aus. Das Waschen der Wäsche war bis zum 18. Jahrhundert eine mühevolle Handlung, die vollen Körpereinsatz erforderte. Zur Jahrhundertwende kamen die ersten Waschmaschinen auf. Nun hat der Vorgang des Wäschewaschens ein materielles Äquivalent gefunden. Der Ablauf des Waschens hat eine technische Materialisierung erhalten. Dies ist „materialisierte Organisation“. Das gestaltete Objekt zeigt an, dass es für bestimmte menschliche und soziale Belange eingesetzt werden kann. Die Verkopplungen können so weitreichend sein, dass sich ganze Gesellschaften von dem Funktionieren dieser Schnittstellen und den durch sie einbezogenen Umwelten essentiell abhängig gemacht haben. Man denke etwa an Infrastruktursysteme wie das Energiesystem, das Verkehrssystem, das Internet, das Handynetz etc. Ausschlaggebend ist, dass die dünne Schnittstelle eine Zwei-Seiten-Form ist, welche die Logik des Anderen in vereinfachter Form in die Logik des Eigenen überführt bzw. übersetzt. Doch warum ist dies möglich? Zur Beantwortung dieser Frage ist ein Rekurs auf Walter Benjamins Übersetzungsbegriff hilfreich. Übersetzung wird dabei als jene Form der Übertragung verstanden, bei der es zu einer Verkopplung von Heterogenem kommt. Es ist – mit anderen Worten – eine Übertragung, die darauf abzielt, eine Beziehung zwischen den beteiligten heterogenen Entitäten zu stiften.

4. DIE ÜBERTRAGUNG ALS VERKOPPLUNG VON HETEROGENEM: ÜBERSETZUNG Walter Benjamin (1991) hat an einer umfassenden Theorie der Reproduktion gearbeitet, die er als zentral für die Beschreibung der Gesellschaft seiner Zeit ansah. Die sich abzeichnende Massenkonsumgesellschaft entfaltet für ihn eine „Kultur der totalen Reproduktion“.13 Durch den Massenkonsum wird die Gesellschaft mit einer Fülle von Kopien – sprich: massengefertigten, also technisch-industriell hergestellten Waren – überhäuft. Diese Kopien weisen

13 Groys (2009), S. 126

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die Besonderheit auf, dass ihnen kein Original mehr zugrunde liegt. Mit dem ersten seriengefertigten Auto zum Beispiel wird ein Strom ausgelöst, der die Gesellschaft mit baugleichen Fortbewegungsmitteln überschwemmt – mit der Folge, dass den Menschen nun überall auf den Straßen das Gleiche begegnet. In den Sog der Reproduzierbarkeit geraten allerdings nicht nur die Gebrauchsgegenstände unseres alltäglichen Lebens, sondern auch außeralltägliche Phänomene, die also noch ein Original als Vorlage kennen, worunter die Kunst nur ein besonderes Beispiel darstellt.14 Die reproduktive Praxis ist für Benjamin eine des Übersetzens: Übersetzung wird damit seiner Nachrangigkeit entkleidet und als die wesentliche Form der Gestaltung verstanden. Alle massengefertigten Güter sind in diesem Sinn Übersetzungen. Nicht Produktion, sondern Reproduktion ist das Metier des Übersetzers – so Benjamin. Die babylonische Sprachenverwirrung rührt für ihn nicht daher, dass es plötzlich so viele Sprachen gibt, sondern dass dem Menschen die eine einheitsstiftende Sprache entzogen wurde. Die vielen Sprachen sind also arbiträre Kopien eines Originals, das fortan für den Menschen völlig unzugänglich ist.15 Eine dieser Sprachen ist die „Sprache der Technik, die nicht die Fachsprache der Techniker ist“.16 Der eigentliche Sündenfall des Menschen besteht – Benjamin zufolge – darin, die Sprache zu grammatikalisieren, zu semiotisieren und zu instrumentalisieren. Die Sprache dient fortan als ein pragmatisches Mittel für das Bezeichnen, Mitteilen und Erkennen. Indem Sprachen etwas mitteilen, wirken sie eben nicht mehr unmittelbar.

14 „Die Entschälung des Gegenstands aus seiner Hülle, die Zertrümmerung der Aura, ist die Signatur einer Wahrnehmung, deren ‚Sinn für das Gleichartige in der Welt‘ so gewachsen ist, dass sie es mittels der Reproduktion auch dem Einmaligen abgewinnt.“ Benjamin (1984), S. 413. 15 In diesem Sinn ist auch jedes seriengefertigte Auto eine arbiträre Kopie, das nicht mehr auf ein Original zurückbezogen werden kann. 16 Benjamin (1991a). Benjamin führt hierzu weiter aus: „Sprache bedeutet in solchem Zusammenhang das auf Mitteilung geistiger Inhalte gerichtet Prinzip in den betreffenden Gegenständen: in Technik […]. Mit einem Wort: jede Mitteilung geistiger Inhalte ist Sprache, wobei die Mitteilung durch das Wort nur ein besonderer Fall […] ist.“ (Ebd.). Man könnte auch mit Debray von „materialisierter Organisation“ sprechen. In der Technik drücken sich demgemäß eine Beherrschbarkeit und eine In-Dienst-Nahme natürlicher Zusammenhänge aus.

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Im Übersetzen reinigt der Übersetzer die Sprachen von ihrem Mittelcharakter und gibt ihnen eine Unmittelbarkeit zurück; denn bei jeder Übersetzung teilen sich die Sprachen in der Übersetzung selbst mit – ob man will, oder nicht: Würde man einen Satz zuerst ins Englische, danach ins Französische und dann wieder ins Deutsche übersetzen, würde höchstwahrscheinlich nicht der Ausgangssatz als Ergebnis erscheinen. Das hat nicht zuletzt etwas mit den divergierenden kulturellen Konnotationen von Worten zu tun. Benjamin unterscheidet dabei zwischen „Wort-Bedeutung“ und „Art des Meinens“.17 Das deutsche Wort Brot und das französische pain sind in der Wort-Bedeutung gleich, unterscheiden sich jedoch hinsichtlich der Art des Meinens deutlich: Beide bedeuten aufgrund ihrer je unterschiedlichen Eingebettetheit in Geschichte, Kultur und Alltagspraxen ganz Verschiedenartiges. Wie soll sich also ein Übersetzer dazu verhalten? Er kann entweder dem instrumentellen Gebrauch der Sprache folgen, muss dabei aber die kulturellen Spezifika unübersetzt lassen, oder er kann die Art des Meinens, also jedes Wort der Übersetzung fokussieren, allerdings zu Lasten der Verständlichkeit. Im erstgenannten Fall findet gleichsam eine „Kolonialisierung“ des Sinngehalts des Originals in die zu übersetzende Sprache statt. Im zweitgenannten Fall wird die Verschiedenartigkeit der Sprachen für den Leser unmittelbar. Die Sprache teilt sich in ihrer Beschränktheit, etwas zu übersetzen, selbst mit.18 Sie wird als Medium sichtbar. Benjamin präferiert den zweitgenannten Fall von Übersetzung: Der Übersetzer soll seine Aufmerksamkeit nicht der Sinneinheit „Satz“, sondern der Sinneinheit „Wort“ schenken. Benjamins Vorbild bildet die Sophokles-Übersetzung von Hölderlin als radikale Absage des Übersetzers an die Erhaltung des Satzsinnes eines Originals. Die Übersetzung überträgt dort keinen Satzsinn, sondern verpflanzt das Original unwiederbringlich an einen anderen Ort. Der Ort des Übersetzers befindet sich dann nicht in der Sprache, sondern zwischen den Sprachen. Die Besonderheit seiner Position ist also die Disposition, sich auf eine Sprache jenseits ihrer Mitteilungsperspektive beziehen zu können: Sprache tritt dann nicht als Instrument, sondern als Medium hervor. In dieser Medialität ist Sprache immer auch Namenssprache: daher ist die

17 Benjamin (1969), S. 3. 18 Man denke an die Sprache der Eskimos, die eine Fülle von Zuständen von Schnee mit Worten bezeichnen können, die kein Pedant in einer anderen Sprache besitzen.

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Wörtlichkeit der Übersetzung eine von instrumentellen Zwecken befreiten Sprache. Diese Unmittelbarkeit ist für Benjamin nur im Vorgang des Übersetzens greifbar. Der Übersetzer wird zum Mittler zwischen den Sprachen, indem er die jeweilige Unmittelbarkeit der am Übersetzungsvorgang beteiligten Sprachen vermittelt. Die Übersetzung kann hervorheben, dass sich die Verschiedenartigkeiten zueinander komplementär verhalten, also integrierbar sind. Denn ohne die Unterstellung einer gegebenen Ähnlichkeit der Sprachen würde kein Übersetzen Sinn machen. Der Übersetzer kann zeigen, dass die fremde Sprache ebenso wie die verfremdete Muttersprache einander komplementär sind. Das Ineinandergreifen von Medialität und Übersetzbarkeit der Sprachen besteht also darin, dass die Sprachen Medien werden, indem sie das Milieu für eine Zusammenfügung des Verschiedenartigen stiften. Damit leistet sie genau das, wonach hier gesucht wurde: die Verkopplung von Heterogenem. Die Übersetzung macht also das eigentlich Unzugängliche wahrnehmbar; z. B. weist die Tankfüllanzeige den Fahrer auf das Bedürfnis der Maschine nach Kraftstoff hin. Jeder Übersetzung ist ein Spannungsverhältnis eigen, „das darin besteht, im Nahraum des Wahrnehmbaren die Ferne und die Entzogenheit von etwas zu versinn(bild)lichen“.19 Im Benjaminschen Sinne handelt es sich um eine Passage, die der nicht zugänglichen Regel des Anderen dadurch auf der Spur ist, als dass die (mögliche) Bedeutung für einen Selbst in die eigene ankoppelbare Sprache übersetzt wird. Oder mit Sloterdijk (2007) gesprochen, handelt es sich hier um die „gekonnte Abwicklung des NichtGekonnten“. Die gewählte Form orientiert sich an der Rezeptionsfähigkeit der jeweiligen heterogenen Entität. Bei menschlichen Identitäten bedeutet Rezipierbarmachen, sich auf die menschlichen Sinne einlassen.20 Übernimmt man diesen Übersetzungsbegriff von Benjamin, so erschließt sich nun, wie es zu einer wirkungsvollen Verkopplung von Heterogenem

19 Krämer (2008), S. 268. 20 Hier hilft eine „Aisthesis“ (Platon, Aristoteles) als Lehre von der Sinneswahrnehmung weiter, die sich auf die phänomenale Individualität eines erscheinenden Objektes, auf das Spiel der Erscheinungen in der Simultanität dessen, was sich in der Präsenz des Objektes zeigt, richtet (vgl. Welsch (1987)). Beim Präsentierten wird aber zugleich die Abwesenheit des darin Vergegenwärtigten erfahren, ja es wird regelrecht die „Abwesenheit von etwas“ gezeigt.

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kommen kann. Benjamin greift hier implizit auf eine dreiwertige Logik zurück. Dadurch werden die Differenzen der heterogenen Elemente gewahrt und über eine dritte Instanz vermittelt. Auch der Gestaltungsprozess von Designern, Architekten und Ingenieuren ist ein Übersetzungsprozess. Modelle, Zeichnungen und Skizzen sind diese dritte Instanz oder – mit den bisher verwendeten Begrifflichkeiten gesagt – Zwei-Seiten-Formen, die sowohl als materialisierte Organisation als auch als organisierte Materie aufzufassen sind. In der Übertragung bzw. Übersetzung kommt es zu einer Vergegenständlichung von Ideen, indem man sich beispielsweise ein Bild von der anderen heterogenen Entität macht. Übertragung bzw. Übersetzung wird ja bei Debray als Materialisierung gefasst, insofern das für eine Entität Bedeutsame einer anderen Entität im Vollzug der Übertragung bzw. Übersetzung eine Verkörperung erfährt. Einerseits geht es darum, zu erfassen, wie sich Symbolisches verfestigt, verkörpert und Gestalt annimmt, und andererseits wie Technisch-Materielles als Träger und Fundament Denkgebäude transportiert und zu ihrer Entstehung, ihrer Fortdauer und ihrem Verschwinden bringt. Die andere Seite bildet das Umfeld, oder in Debrays Worten: das „Milieu“. Erst die Übertragung bzw. Übersetzung ermöglicht somit die Zirkulation zwischen Medium und Milieu, welche eine stabilisierende und ausdifferenzierende Dynamik freisetzt.

5. MODELLE, ZEICHNUNGEN, SKIZZEN ALS MATERIALISIERTE ORGANISATION UND ORGANISIERTE MATERIE Nun ist nicht nur die äußere Form gestalteter Objekte – einerlei ob es sich um Gebrauchsgegenstände, Häuser oder Maschinen handelt – eine solche ZweiSeiten-Form, welche die beteiligten Heterogenitäten füreinander überträgt bzw. übersetzt. Vielmehr ist der Vorgang des Gestaltens bereits schon von zahlreichen „Stufen“ des Übertragens bzw. Übersetzens durchzogen. Phänomene dieser materialisierten Organisation und organisierten Materialität stellen auch die vielfältigen Skizzen, Zeichnungen, Modelle und Prototypen dar. Sie sind Inskriptionen von Ideen in Material, allerdings ganz im Sinne Debrays in Form von Übertragungen. Der Architekt, der Ingenieur, der Designer – sie alle übersetzen ihre Ideen in materielle Formen während des Gestaltungsvorgangs. Und sei es „nur“ im Dialog mit einem CAD-Programm. Insbesondere die design-thinking-Debatte hat das Augenmerk darauf gelenkt, was Gestalter tun, wenn sie gestalten – und dabei auch die vielfältigen Hilfsmittel einer

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eingehenden Analyse unterzogen. Im Folgenden sollen einige Einsichten dieser Debatte erörtert und auf den Konstruktionsprozess von Ingenieure bezogen werden. Es werden im Laufe dieses Abschnitts drei Thesen dazu formuliert. Besonders prominent sind in der design-thinking-Debatte die Überlegungen von Nigel Cross (2006). Für ihn ist das Grundcharakteristikum der Arbeit eines Designers, dass er es mit „ill defined problems“ zu tun hat. Es handelt sich also nicht um einen wohl definierten Problemraum, in dem alle Einflussfaktoren und deren Wechselwirkungen untereinander bekannt sind. Vielmehr lässt sich weder das Problem in allen seinen Facetten klar umreißen, noch sind die Wechselwirkungen zwischen den Einflussfaktoren bekannt, welche das Problem im Fortgang der Lösungsfindung verändern (können). D.h. mit jedem Lösungsschritt ändert sich auch der Problemzuschnitt, der obendrein nicht komplett erfasst werden kann. Für Designer sind dies die technischen Herausforderungen des zu gestaltenden Objekts, die ökonomischen Herausforderungen in Bezug auf Produktion, Preis, Distribution und Marktsegment, die zu antizipierenden zukünftigen Nutzer- und Nutzungskonstellationen, die kulturellen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen etc. Cross vergleicht die Designarbeit mit derjenigen eines Schatzsuchers, der nur eine unvollständige Karte zur Verfügung hat, aus der nicht klar hervorgeht, wo sich der Schatz befindet. Entsprechend verfolgt der Designer heuristische Such- und Lösungswege mit Umkehrfunktion. Dabei kommt eine Logik der Vermutung und Konjektur zur Anwendung. Frühzeitig generiert er dabei tentative Lösungen, bei denen er eine Reihe von Optionen offenhält. Typisch für die Designarbeit ist für Cross ferner, dass an verschiedenen Abstraktionsstufen gleichzeitig gearbeitet wird. Die Auflösung der „ill-defined problems“ erfolgt also vor allem durch die Anwendung lösungsorientierter Strategien, die auf den Sachverhalt so zugeschnitten sind, dass sich die Probleme zusammen mit den Lösungen verändern. Vor allem abduktive Denkstrategien kommen dabei zur Anwendung, welche die Prozesse des Planens, Erfindens, Herstellens & Tuns leiten. Auf diese Weise werden abstrakte Anforderungen in konkrete Objekte übersetzt. Das wichtigste Werkzeug dabei ist das Modellieren. Insbesondere die Bedeutung von Skizzen hat Cross dabei herausgestellt. Sie ermöglichen die gekoppelte Erkundung des Problem- und Lösungsraumes. Denn mittels Skizzen identifizieren Designer nicht nur emergente Features & Eigenschaften, sie können durch sie auch kreative Shifts zu neuen Alternativen realisieren und unerwartete Konsequenzen entdecken – also, sich von ihren eigenen Ideen/Entwürfen überraschen lassen. Sie sind in diesem Sinn rückgekoppelte Übersetzungen.

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These 1: Mit jedem Lösungsschritt ändert sich für einen Ingenieur auch der Problemzuschnitt. Entsprechend verwendet er flexible und anpassungsfähige Strategien bei der Bewältigung von Konstruktionsaufgaben. Das Spannende am Gestaltungsprozess ist also, dass der Prozess von vagen Ideen und Vorstellungen über die Materialisierungen hin zu einer Präzisierung der Gedanken führt – und dies in mehreren Durchläufen. Im Sinne von Donald A. Schön (1987) könnte man von einem „situation talks back“ sprechen. Darunter wollte er eine reflexive Konversation mit der Gestaltungssituation verstanden wissen, welche von dem Gestalter selbst, den geschaffenen Materialien und anderen Personen geprägt ist. Materie wird in dem Vorgang der Anfertigung einer Skizze, einer Zeichnung, eines Modells oder eines Prototypen nicht nur schrittweise organisiert. Die Materialien „antworten“ auch und verändern damit die Gestaltungssituation einschließlich der Ideen und Perspektiven des Gestalters. Diese Konstellation ist damit nicht mehr völlig in der Hand des Gestalters, selbst wenn er der einzige ist, der an den weiteren Entwürfen Hand anlegen wird. Vielmehr bedeutet „situation talks back“, dass es sich um lokale Experimente mit unintendierten Folgen handelt. Mit anderen Worten: Die Interdependenz zwischen Medium und Milieu kann nicht vorweg genommen werden. Das Milieu des Gestaltungsprozesses ist von einem bestimmten Habitus des Gestalters geprägt, aber ebenso von einem Kanon an etablierten Gestaltungsregeln, von ästhetischen Leitlinien, von antizipierten Bedürfnissen potentieller Nutzer etc. Des Weiteren muss die Organisation der Materie mit deren Widerständigkeit und Spezifik rechnen. Nicht jede Idee kann auf eine bestimmte Materie übertragen werden. So wäre es verfehlt, Flugzeuge aus Stahlbeton zu konstruieren. Das Gleiche gilt für die Repräsentation von Ideen durch materielle Übertragungsmedien. Gestaltungen komplexer Räume lassen sich oftmals nur unzureichend mittels zweidimensionaler Darstellungen übertragen: Hier sind dann Modelle oder Computeranimationen geeignetere Medien, um die betreffende Raumkonstellationen sich und anderen zu vermitteln. Mit der Wahl eines bestimmten Übertragungsmediums fließt auch dessen Eigenlogik in die Übertragung mit ein. So ist die Arbeit am Modell auf die Widerständigkeit des Materials, die Geschicklichkeit der formenden Hände, die haptischen Komponenten der Wahrnehmung verwiesen. Demgegenüber besitzt das Arbeiten am Computer höhere Freiheitsgrade. Hier bestimmt die Software die Grenzen des Gestaltbaren, einerlei ob das zu Gestaltende in der angedachten Materialversion tatsächlich baubar ist oder nicht. Ja, man kann sich auch durch Algorithmen überraschen lassen: Indem die Software erlaubt, beliebige

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Kombinationen bestehender Bauelemente vorzunehmen – um sich vor dem Bildschirm davon beeindrucken zu lassen, welche Zusammenstellungen neue Sinnzusammenhänge oder ästhetische Effekte auslösen. Darin ist der Computer jeglicher analogen Methode überlegen. Er ist die Übersetzungsmaschine par excellence! These 2: Die spezifische Beschaffenheit des Konstruktionsmittels hat erheblichen Einfluss auf den Konstruktionsprozess und dessen Ergebnis. Durch moderne Simulations- und CAD-Programme werden Ingenieure und Techniker in die Lage versetzt, ohne großen Aufwand technische Konstruktionen auf ihre Wirkungsweise hin zu testen. Damit löst sich der Einsatz der Mittel von vorab definierten Zwecken und macht den Platz frei für ein uneingeschränktes Experimentieren. So kann es zu der Situation kommen, in der eine technische Lösung generiert wird, ohne das dafür passende Problem schon zu kennen. Weit vorausblickend hat Hans Freyer (1887–1969) genau hierin einen Grundzug moderner Technik gesehen:21 die systematische Ausschöpfung aller denkbaren Kombinationsmöglichkeiten von technischen Elementen, die zu ganz neuen Funktionalitäten und Leistungen führen. Technische Bauelemente und Einzeltechniken werden mehr und mehr zu Bestandteilen eines gigantischen technischen Baukastens, die in alle Richtungen wild kombiniert werden. Die Ergebnisse dieser planvollen Durchforstung aller Kombinationsmöglichkeiten der Einzeltechniken im Sinne von Baukastenteilen potenziert die Welt der Technik um ein Vielfaches. Die moderne Technik entwirft nicht bloß gezielt Mittel, die ausschließlich einem vorgegebenen Zweck dienen sollen, sie erzeugt vielmehr Potenzen und Verfahrensweisen, welche für vielfältige Anwendungsgebiete manipulierbar und einsetzbar sind. Demzufolge besteht die wesentliche Leistung der modernen Technik in der Schaffung eines „Könnens überhaupt“, das jeweils seine Zwecksetzungen in einer spezifischen technischen Konkretion generiert. Bei diesem Entdecken, Bündeln und Verfügbarmachen von Potenzen für (un)definierte Zwecke werde die technische Planungstätigkeit zu einem Selbstzweck: „Es wird nicht mehr vom Zweck auf die notwendigen Mittel, sondern von den Mitteln, d. h. von den verfügbar gewordenen Potenzen auf die möglichen Zwecke hin gedacht. Der Sinn der Technik ist nicht mehr der Nutzen (der immer ein Nutzen für etwas oder

21 Vgl. Freyer (1987).

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zu etwas ist), sondern ist die Macht [..]. Der technische Geist wird damit gleichsam absolut gesetzt, er wird aus der Führung vorgegebener Zielsetzungen entlassen.“22

Durch die Loslösung der Technik von ihrem Nimbus als reines zielgerichtetes Mittelsystem werden ihre Denkmodelle und ihre Methoden von ihrem vermeintlichen Gegenstand befreit: die auf je spezifische Zwecke ausgerichtete Produktion. So wird für die moderne Technik der Weg frei, zu der welterschließenden Denk- und Handlungskategorie schlechthin zu avancieren. Für den Konstruktionsprozess bedeutet dies, dass die für das Finden eines Lösungskorridors notwendigen Permutationen von Technik übernommen werden. Ja, selbst die Frage nach der Baubarkeit der technischen Lösung übernehmen technische Systeme. D.h.: Nicht nur die Rolle des Konstrukteurs bzw. Gestalters ändert sich grundlegend, sondern auch die soziotechnische „Interaktionsordnung“ beim Gestalten – es sind andere Übersetzungen zu beobachten, andere materialisierte Organisation kommt zum Einsatz, und schließlich führt diese „Ordnung“ zu einer anderen organisierten Materie. These 3: Der Einsatz von CAD-Programmen fördert eine permutative Herangehensweise bei der Problemlösung, bei der die tragfähigen Ideen immer mehr von den Programmen selbst generiert werden und der Ingenieur zum Bewerter und Auswähler der in Fülle vorliegenden Alternativen wird. Kann die empirische Konstruktionsforschung diese drei Thesen bestätigen?

6. ZUM KONSTRUKTIONSPROZESS IM INGENIEURWESEN Die empirische Konstruktionsforschung hat in den letzten drei Jahrzehnten eine Reihe von Erkenntnissen hervorgebracht, welche die Möglichkeiten und Reichweite einer allgemeinen Konstruktionswissenschaft und Konstruktionsmethodik stark ernüchterte. So wurde bereits in einer der ersten Studien von dem Psychologen Andreas Rutz (1985) festgestellt, dass die Ingenieur-Probanden bei der Bearbeitung einer Konstruktionsaufgabe sehr sprunghaft und wenig methodisch vorgegangen sind. Besonders am Arbeitsbeginn fanden

22 Freyer (1987), S. 124.

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schroffe Wechsel der Tätigkeit statt. Trial and Error dominierten bei der Lösungssuche fast durchgängig. Des Weiteren sprangen die Probanden recht abrupt zwischen verschiedenen Detailierungsstufen der Aufgabe. Sie wechselten von allgemeinen Aufgaben zu Detailfragestellungen hin und her. Erst gegen Ende der Aufgabenbearbeitung wurde das Vorgehen der Probanden zielstrebiger und ließ mehr Systematik und Struktur erkennen. Zu ähnlichen Erkenntnissen kam Norbert Dylla (1991) in einer ähnlich angelegten Studie, wobei die Probanden über unterschiedliche Expertisen in Bezug auf konstruktionswissenschaftliche Kenntnisse und praktische Konstruktionstätigkeiten verfügten. Ein überraschender Befund war, dass auch die konstruktionswissenschaftlich geschulten Probanden wild zwischen den in den Konstruktionswissenschaften als aufeinander aufbauend gelehrten Konstruktionsphasen hin und her sprangen. Entsprechend wechselten sie von der Anforderungsanalyse zur Suche probater Lösungen, in welche sich schon Überlegungen der Lösungsdarstellung ebenso einschlichen wie die Bewertung der kaum ausbuchstabierten Lösungsideen. Bei den Probanden unterschieden sich vor allem die Bearbeitungsdauer sowie die Art und Weise, wie die Konstruktion konkretere Formen annahm. Eine besondere Provokation für die Konstruktionswissenschaft stellte der Befund dar, dass die nicht konstruktionswissenschaftlich geschulten Probanden zu qualitativ gleichwertigen Ergebnissen kamen – und dies sogar schneller. Ja, die beste Lösung stammte ausgerechnet von einem solchen Probanden. Ausschlaggebend war die Konstruktionserfahrung. Diese Erkenntnisse bestätigt Heymann, der bei Studierenden der Ingenieurwissenschaften die gering ausgeprägten Problemlösekompetenzen und die mangelnde Praxis im Umgang mit technischen Zeichnungen dafür verantwortlich machte, warum diese Studierenden recht ziel- und planlos an ihre Konstruktionsaufgaben gingen.23 In Bezug auf technische Zeichnungen konstatiert Heymann: „Es gab Probleme, die wesentlichen Teile, Funktionen und Prinzipien zu erkennen, zu unterscheiden zwischen bewegten und unbewegten Teilen, Reibflächen zu identifizieren und den geschlossenen Kraftfluss nachzuvollziehen.“ (ebd.)

Mehr oder weniger zufällig gelangten sie zu Teillösungen, aber hatten dann wiederum Schwierigkeiten, die erlangten Teillösungen in einen

23 Vgl. Heymann (1987), S. 41 f.

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Zusammenhang zueinander zu bringen. Nur die so genannten „Bastlertypen“ schnitten bei den Konstruktionsaufgaben besser ab. Gerd Fricke (1993) griff das Forschungsdesign von Dylla (s.o.) auf und vergrößerte die Stichprobe. Da Dyllas Ergebnisse nahelegten, dass individuelle Faktoren für die recht heterogenen Lösungsstrategien verantwortlich waren, richtete Fricke sein Augenmerk stärker auf Persönlichkeitsmerkmale der Versuchspersonen. So konnte er einen starken positiven Zusammenhang zwischen der Lösungsgüte und heuristischen Fähigkeiten der Probanden identifizieren. Signifikant war auch, dass sich ein gutes räumliches Vorstellungsvermögen auf die Qualität der konstruktiven Lösung auswirkte. Demgegenüber hat die Motivation der Probanden kaum und ihr Intelligenzquotient keinen feststellbaren Einfluss auf die Lösungsgüte. Aufgrund der größeren Stichprobe kommt Fricke zu einer differenzierteren Beurteilung der Sprunghaftigkeit der Probanden bei ihrer Problemlösung als Dylla: Im direkten Vergleich konnte Fricke bei den konstruktionswissenschaftlich geschulten Probanden eine stärker phasenorientierte Problemlösungsstrategie identifizieren als bei den methodisch nicht geschulten Konstruktionspraktikern. Allerdings konstatiert er ebenfalls, „dass es auch bei methodischer Ausbildung der meisten Vpn [Versuchspersonen, R.H.] kein strikt sprungfreies, den konstruktionsmethodischen Ablaufplänen idealtypisch folgendes Vorgehen bei komplexen Konstruktionen gibt“.24

Durchschnittlich haben sie 38% mehr Zeit für die Bewältigung der gleichen Aufgabe benötigt als die konstruktionsmethodisch ungeschulten Probanden. Die Befolgung der Konstruktionsphasen sowie der Konstruktionsmethoden scheint einem anderen wichtigen Faktor für den erfolgreichen Abschluss einer Konstruktionsaufgabe gegenüberzustehen: der Flexibilität im Umgang mit auftauchenden Problemen und bei der Infragestellung gefundener Lösungsideen. Entsprechend plädiert Fricke für eine konstruktionswissenschaftliche Ausbildung von Ingenieuren, welche auf ein flexibles methodisches Vorgehen setzt. Ganz gezielt sollten das räumliche Vorstellungsvermögen der Studierenden sowie eine flexible Nutzung von Vorgehensplänen vermittelt werden. Im gewissen Sinn sind diese Erkenntnisse in dem „Karlsruher Modell für Produktentwicklung“ (KaLeP) durch Albert Albers umgesetzt worden. In diesem Ausbildungsmodell werden neben den klassischen Veranstaltungen zur

24 Fricke (1993), S. 98.

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Maschinenkonstruktionslehre Workshops angeboten, innerhalb derer gezielt Kreativität und Umsetzungsstärke, aber auch Teamfähigkeit und Organisation gefördert werden. Larry A. Stauffer, David G. Ullman und Thomas G. Dietterich (1987) konnten empirisch aufzeigen, dass mentale, visuelle und physische Repräsentationen von Lösungsideen und pfaden eine wichtige Rolle beim Konstruktionsprozess besitzen. Sie haben aber auch feststellen können, dass Ingenieure nicht nach optimalen Lösungen suchen, sondern sich mit hinreichenden Lösungen zufriedengeben. Eine Strategie, welche – nebenbei bemerkt – bereits schon Herbert Simon in den 1960er Jahren allen Gestaltern – ob Designern, Ingenieuren oder Architekten – attestierte. Dies bestätigen auch empirische Untersuchungen von Rüdiger von der Weth (1998), der den Konstrukteuren ein opportunistisches Verhalten bescheinigt. Dieses äußert sich darin, dass ihre Entscheidungen weder auf einer umfangreichen Suche nach relevanten Informationen, noch auf einer sorgfältigen Aufstellung und Bewertung einer Anforderungsliste, geschweige denn auf die konsequente Verfolgung einer übergeordneten Strategie fußen. Vielmehr konnte von der Weth beobachten, dass die Konstrukteure kaum Experimentierfreude in Bezug auf die Anwendung von Lösungsverfahren, die ihnen wenig oder bislang noch nicht vertraut sind, besitzen. Des Weiteren verfolgen sie sehr rasch nur noch eine einzige Lösungsidee unter Ausklammerung von Alternativen und Varianten dieser Idee. Dies gilt selbst dann, wenn Mängel in der gewählten Problemlösungsstrategie offensichtlich werden. Von der Weth führt dies auf den Faktor „Kontrollempfinden“ zurück: Ein Verwerfen des Lösungspfades und die Suche nach einer Alternative würde unmittelbar einen Kontrollverlust nach sich ziehen. Die Konstrukteure reagieren – ihm gemäß – mit einem „Kompetenzempfinden“ – ganz nach dem Motto: auftretende Probleme lassen sich ingenieurmäßig stets reparieren. Insgesamt ist der Konstruktionsprozess von einer „Aneinanderkettung von Anwendungen und Heurismen“25 geprägt. Für von der Weth ist das Agieren der Konstrukteure uneingestanden von einem Handeln geprägt, das sich von Emotionen leiten lässt. Er führt dies darauf zurück, dass auf Basis von Emotionen viel rascher Entscheidungen getroffen werden können als rationale Entscheidungen auf Basis mühseliger Informationsbeschaffungen, Analysen und Abwägungen. Auch seine Befunde

25 Von der Weth (1998), S. 164.

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führen zu einer ernüchternden Bilanz der Konstruktionswissenschaft. Es lassen sich kaum allgemeingültige Regeln für die Konstruktion ableiten. Was er bei konstruktionsmethodisch versierten Ingenieuren feststellen konnte, ist die stärker ausgeprägte, „sprachlich-abstrakte Durchdringung des Problems“26 sowie die kritischere Haltung gegenüber frühzeitig generierten bildhaften Lösungsideen. Johannes Müller (1990) hat in seinen Untersuchungen versucht, alle aktivitätsorientierten Phänomene zu erfassen und in einem Graphen darzustellen (s. Abb. 1). Was in dieser Darstellung sofort ins Auge springt, sind die vielen Wechsel zwischen den einzelnen Aktivitäten – und dies über die einzelnen Konstruktionsphasen hinweg. Der Konstruktionsprozess ist demgemäß geprägt von einem permanenten Hin- und Herspringen zwischen Aktivitätstypen und Phasen. Besonders relevant für die in diesem Beitrag verhandelte Frage ist die Darstellung der externen Repräsentationen in den unteren drei Zeilen sowie in den letzten drei Spalten des Graphen. Müller unterscheidet zwischen mathematischen, materialen und verbal-graphischen Repräsentationen. Die beiden Achsen seines Graphen stehen für den Eingangszustand (vertikal) sowie für den Ausgangszustand (horizontal), also welcher Aktivitätstyp zu welchem Aktivitätstyp führt. Auffällig ist die geringe Zuhilfenahme mathematischer Repräsentationen – nämlich nur in der Detailierungsphase, wenn es um den technischen und maßstäblichen Entwurf geht, sowie bei den experimentellen Befunden. Materiale Repräsentationen tauchen viermal auf: ebenfalls – trivialerweise – beim technischen und maßstäblichen Entwurf sowie dann, wenn es um die Bestimmung der Wirkpaarungen und um das technische Prinzip geht. Hier ist auch der Rückgriff auf verbale und/ oder graphische Repräsentationen besonders ausgeprägt. Diese sind die einzigen Repräsentationsformen, die sich in allen Phasen wiederfinden lassen. Wenn auch die empirische Konstruktionsforschung nicht die insbesondere von Ingenieursseite erhoffte Grundlagenforschung für die Gewinnung einer universellen Konstruktionstheorie geliefert hat, so sind ihre Erkenntnisse schon aus dem Grund besonders bedeutsam, als dass sie lineare Vorstellungen vom Konstruktionsprozess und Hoffnungen seiner kochrezeptartigen Steuerbarkeit ad acta gelegt haben. Insofern kann sie die in Abschnitt 5 aufgestellte 1. These bestätigen: Aufgrund ihrer stark psychologischen Ausrichtung

26 Ebd., S. 309.

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Abb. 1: „Aktivitätsorientierter Graph“ eines Entwurfsprozesses

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haben die Forschungserkenntnisse vor allem die individuellen Einflüsse auf den Konstruktionsprozess akzentuiert. Nach Ehrlenspiel fallen unter diese individuellen Einflüsse Fähigkeiten, Denk- und Handlungsstile, Emotionen, Operations- und Faktenwissen sowie Motivation und Leistungsfähigkeit.27 Daneben müssen allerdings auch äußere Einflüsse angesetzt werden, die in zukünftigen Forschungen stärker betont werden sollten. Zu diesen äußeren Einflüssen sind nach Ehrlenspiel die Aufgabenstellung, externe Entscheidungen, einbezogene Informationen, zur Verfügung stehende Zeit, soziale und organisationale Einbindung sowie die Arbeitsumgebung und nicht zuletzt die verwendeten Arbeitsmittel zu rechnen. Zu letzteren gehören auch die materiellen Arbeitsmittel, die ein Arbeiten an Modellen, an Zeichenbrettern etc. ermöglichen. Auch deren Einfluss auf den Konstruktionsprozess muss noch ausgiebiger untersucht werden. Insofern können die bisherigen Erkenntnisse der empirischen Konstruktionsforschung weder die These 2 noch die These 3 aus Abschnitt 5 näher beleuchten. Insbesondere im Hinblick auf die Rolle von CAD-Programmen in Konstruktionsprozessen ist dies ein empfindliches Forschungsdesiderat. Ferner fehlt der empirischen Konstruktionsforschung offensichtlich der Austausch mit der Designtheorie und Designforschung, die gerade in den letzten Jahrzehnten wichtige Erkenntnisse für Gestaltungsprozesse aufweisen können. Ob am Ende dann eine allgemeine Theorie der Gestaltung heraus kommt – wie es beispielsweise Eckart Frankenberger, Petra Badke-Schaub und Herbert Birkhofer (1997) postulieren28 –, bleibt äußerst fraglich, zu unterschiedlich sind die jeweiligen Gestaltungskonstellationen und die Wechselwirkungen zwischen den jeweils relevanten Faktoren der Beeinflussung.

27 Ehrlenspiel (2003), S. 47. 28 „Knowing that designing is a complex and heterogeneous process, it is important to formulate a general theory about designing in practice that includes the aspects of thinking, remembering and imaging in the course of the design work, as well as individual parameters that concern personality, and parameters that encompass the complex social interactions […] From such a general theory we could derive methods, as well as educational principles and rules that should enable us to face the various social and engineering requirements for different working conditions, branches and products.” Frankenberger et al. (1997), S. 318 f.

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7. SCHLUSSFOLGERUNGEN Es existiert also eine empfindliche Forschungslücke in Bezug auf die Konstruktionstätigkeiten von Ingenieuren, insbesondere was den Einfluss von CAD-Programmen anbelangt (These 3, Abschnitt 5). Anhand der Ergebnisse der empirischen Konstruktionsforschung kann man gegenwärtig allenfalls konstatieren, dass der Vorgang des Konstruierens keiner allgemeinen Logik folgt, sondern vielfältige Schleifen und Loops aufweist (These 1), und dass verbale und graphische Repräsentationen eine kontinuierlich wichtige Rolle im Konstruktionsprozess einnehmen. In Bezug auf die graphischen Repräsentationen handelt es sich nicht nur um elaborierte Entwürfe, sondern auch um Skizzen und visuelle Erinnerungsstützen von Ideen. Wie sie jedoch konkret wirken (These 2), ist allerdings noch weitgehend unerforscht. Bereits das bisherige Ergebnis der empirischen Konstruktionsforschung mag so gar nicht zum Selbstverständnis des Ingenieurs passen. Denn dieses ist dadurch geprägt, dass Probleme analytisch in Teilprobleme zerlegt werden. Und jedes Teilproblem soll in Anforderungen für eine zu suchende technische Lösung übersetzt werden, die dann idealtypisch einzeln bearbeitet werden (können). Dass sich dabei so unabwägbare Konstellationen einschleichen, wie sie bei den Ausführungen zu Benjamins Übersetzungsbegriff beschrieben wurden, wird in der Regel nicht einkalkuliert. Vielmehr begreifen Ingenieure diese Übergänge in der Regel dahingehend deterministisch, dass Anforderungen nur die positiv-konstruktive Umformulierung der jeweils korrespondierenden Teilprobleme bilden. In Wahrheit besitzen diese Übergänge ein viel größeres „Eigenleben“ (dazu im abschließenden Absatz dieses Beitrags mehr). Dies führt dann gerade zu der von der empirischen Konstruktionsforschung erfassten durchgängigen Abweichung der Konstruktionspraxis von einem allgemeinen Vorgehensplan, in dem Konstruktionsaufgaben unterschiedlichen Typs zu verschiedenen Phasen zugeteilt werden. Statt also mit Flexibilität und Variabilität der eingesetzten Methoden auf dieses Eigenleben zu reagieren, wird dementgegen der Versuch unternommen, es dadurch zu ignorieren, indem man an einem mehr oder weniger deterministischen Vorgehensplan29 festhält.

29 Ein solcher Vorgehensplan liegt zum Beispiel in der VDI-Richtlinie 2221 vor.

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Dahinter offenbart sich ein tiefer liegendes Problem in der Konstruktionspraxis der Ingenieurwissenschaften, das man in den Blick bekommt, wenn man sie mit anderen Entwurfsdisziplinen vergleicht. Denn alle Entwurfsprozesse sind durch ein Wechselspiel zwischen Gestaltungen und Konstruktionen geprägt. Sie besitzen also stets eine kreativ-unplanbare Komponente sowie eine methodisch-deterministische. Während erstere eine neue Idee bzw. eine neue Form generiert, steht letztgenannte für die Frage der praktikablen Umsetzung. Betrachtet man jeweils die Entwurfspraxis sowie die Selbstbeschreibungen und Selbstwahrnehmungen, so wird offensichtlich, dass sich die drei Entwurfsdisziplinen – Ingenieurwissenschaften, Architektur und Design – in unterschiedlichem Maße von diesen Komponenten geprägt sehen. So finden beispielsweise im Design immer wieder Abgrenzungsversuche zur Kunst statt, da das Design einen starken Akzent auf das Kreativ-Unplanbare legt – wie eben die Kunst. Demgegenüber akzentuieren Ingenieure, wie gerade beschrieben, die methodisch-deterministischen Komponenten ihres Entwurfsprozesses. Sie unterbelichten damit die kreative Seite ihres Tuns, was sich nicht zuletzt am Habitus des Ingenieurs bemerkbar macht. Jedenfalls kollidieren sie regelmäßig mit den unplanbaren, Ideen und Kreativität einfordernden Phasen ihres Tuns. Denn klar ist, dass jede Entwurfsdisziplin sowohl mit dem Neuen-Unbekannten umzugehen hat, als auch von ihr erwartet wird, dass sie eine tragfähige und praxistaugliche Lösung durch Anwendung spezifischer Entwurfsmethoden zu generieren im Stande ist.

8. ZURÜCK ZU WALTER BENJAMIN: ENTWÜRFE ALS PASSAGEN, IN DENEN ÜBERSETZUNGEN FLOTIEREN Bleibt noch abschließend zu klären, welche Rolle nun Entwürfe, Skizzen, Zeichnungen und Modelle im Konstruktionsprozess von Ingenieuren (aber auch von Architekten und Designern) einnehmen. Ein abermaliger Rekurs auf Walter Benjamin führt dabei die Gedanken zusammen. Nun steht nicht sein Übersetzungsbegriff im Fokus, sondern seine Befassung mit der Passage.30

30 Benjamin (1982).

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Sie ist eine „transitorische Form“31 im mehrfachen Sinn: Sie ist (1) vermittelnde Instanz zwischen Innen und Außen: Eine Passage ist Übergang, verbindet Häuserschluchten und Straßen, ist ein Innenraum, der durch die Glasdächer (getragen von Stahlkonstruktionen32) mit dem ge-dachten Außen vermittelt. Sie ist „das Angebot öffentlichen Raumes auf privatem Gelände und bietet Verkehrserleichterung, Abkürzung, Schutz vor der Witterung und nur den Fußgängern zugängliche Flächen“.33 (2) Ausdruck von Vorgängen der „Bisoziation“:34 Städtebaulich kommt den Ladenpassagen eine transitorische Funktion in dem Sinn zu, dass sie zu den Straßenverläufen quer liegende Durchgänge schaffen. Es sind also short cuts, Abkürzungen, Wurmlöcher, durch die Dinge miteinander verknüpft werden, die sich vorher unabhängig (parallel) zueinander befanden. Koestler (1966) hat den Vorgang, in dem überraschende Querbezüge zwischen vormals Unzusammenhängendes gezogen werden, als „Bisoziation“ bezeichnet. Er liegt stets kreativen Prozessen zugrunde. (3) Ort der um Aufmerksamkeit buhlenden Gestaltungen: Die Passage – weder Straße noch Haus, sondern etwas Drittes, beides „Aufhebendes“ (Hegel) – ist reine Oberfläche der unterschiedlichsten Gestaltungen. Sie buhlen um das knappe Gut der Aufmerksamkeit ihrer Passanten, den Flaneurs, deren „Lebensform die kommende trostlose des Großstadtmenschen noch mit einem versöhnenden Schimmer umspielt“.35 Sie steht mit ihren Reklamen, Dekorationen, Werbeschildern etc. für den Ort, an dem Gestaltungen in Reinform anzutreffen sind. „Die Augen werden Einem wie gewaltsam entführt, man muss hinaufsehen und stehen bleiben, bis der Blick zurückkehrt.“36 (4) Erwachen aus einem Traum: Transitorisch sind die Passagen auch in dem Sinn, dass sie die Vorläufer der modernen Kaufhäuser und damit erste

31 Geist (1979), S. 11. 32 In den Passagen kommt der (erste) künstliche Baustoff Stahl zum Einsatz – der aufgrund mangelnder Akzeptanz für Privatgebäude zunächst nicht zum Einsatz kommt, sondern „nur“ bei Gebäuden mit transitorischem Charakter – wie Bahnhöfe, Fabrikhallen, Ausstellungshallen und eben Passagen – verbaut wird. 33 Ebd., S. 12. 34 Vgl. Koestler (1966). 35 Benjamin (1982), S. 54. 36 Ludwig Börne: Schilderungen aus Paris, zitiert nach: Benjamin (1982), S. 108.

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Anzeichen einer Vergnügungsindustrie und des Massenkonsums darstellen. Gleichzeitig bewahren sie noch das Vormoderne in den architektonischen Anspielungen und der Kunstförmigkeit des Dargebotenen. Damit haftet den Ladenpassagen etwas Traumhaftes an: Für Benjamin sind die Passagen „Denkmäler eines nicht mehr seins“.37 In diesem nunmehr wahrnehmbaren Anachronismus sind sie für ihn ein Sinnbild für den Vorgang des Erwachens aus diesem Traum.38 Doch was hat das mit dem Dargelegten zu tun? Die vier transitorischen Funktionen der Passage beschreiben in metaphorischer Weise recht präzise, was die materiellen Manifestationen der Ingenieure, Designer und Architekten im Gestaltungsprozess zu erfüllen haben. In Bezug auf jede Funktion soll dies abschließend nun näher erläutert werden:

37 Benjamin (1982), S. 1001. 38 Der eigentliche (Alb)Traum ist jedoch der Kapitalismus, aus dem es zu erwachen gilt. Für Benjamin künden die ersten Ladenpassagen, ab 1822 errichtet, von dem beginnenden Industriezeitalter. Denn die Passagen sind die bevorzugten Orte, an denen industriell gefertigte Produkte verkauft werden. „Handel und Verkehr sind die beiden Komponenten der Straße. Nun ist in den Passagen deren zweite abgestorben; ihr Verkehr ist rudimentär. Sie ist nur geile Straße des Handels, nur angetan, die Begierden zu wecken […] Weil nun in dieser Straße alle Säfte stocken, wuchert die Ware an den Häuserfronten und geht neue und phantastische Verbindungen, wie die Gewebe im Geschwüre ein.“ Benjamin (1982), S. 93. Um diese Waren rankt sich eine Fülle von Inszenierungsstrategien, die deren Fetischcharakter unterstreichen. Der Gebrauchswert der feil gebotenen Dinge verschwindet hinter dem inszenierten Warenwert, einer modisch aufbereiteten Welt des schönen Scheins. „Die Mode schreibt das Ritual vor, nach dem der Fetisch Ware verehrt sein will.“ Ebd., S. 1228. Das Modisch-werden der Dinge und der sie umgebenden Einkaufspassagen perpetuieren die Produktion des Neuen. Und gerade dieser Zwang zur Schaffung von marktförmigen Neuerungen, die auf Absatz harren, lässt die Zeit auf der Stelle treten: Die Zeit wird für den Flaneur zum Rauschgift, um sich im Spiel und Konsum zu berauschen an den stets neuen Dingen, die doch dem immer gleichen Prinzip folgen. Gerade in der Neuheitsproduktion sieht Benjamin also den Stillstand und die Wiederkehr des Gleichen.

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(1) Vermittelnde Instanz zwischen Innen und Außen Eine Idee materialisiert sich und wird damit mitteilbar und damit wahrnehmbar für andere. Es handelt sich dabei um einen Übertragungs- bzw. Übersetzungsprozess, da etwas zunächst Unkörperliches (Gedanken, Ideen) eine Verkörperung (Skizzen, Zeichnungen, Modelle, Pläne) erfährt – ganz im Sinne Debrays. Etwas Inneres, Gedanklich-Assoziatives wird zu etwas Äußerem, Rezipierbarem-Kommunikativem. Die materielle Manifestation als Passage verknüpft damit zwei Umwelten: die innere mit der äußeren (Simon). Die Manifestation selbst lässt sich dabei aber weder auf die eine noch auf die andere zurückführen. Vielmehr bringt sie etwas Eigenes ein: die Regeln der Übersetzung bzw. Übertragung. Gemäß Simon können wir die Logiken der beiden Umwelten getrost außer Acht lassen und uns auf die Regeln der Übersetzung/Übertragung konzentrieren. Sie erzeugen eine „dünne“ Schnittstelle, welche die beiden Umwelten miteinander verkoppelt, indem sie jeder der beiden Umwelten das Unzugängliche der jeweils anderen Umwelt in ein ankoppelbares Sinnbild übersetzt. Entsprechend lässt sich das Phänomen, „the situation talks back“ (Cross), als ein Vorgang reformulieren, in dem abstrakte Ideen in Entwürfen konkretisiert werden, die dann diese Ideen für andere verständlich machen sollen. Was gedanklich Sinn macht, muss noch lange nicht kommunikativ Sinn machen. Vielmehr wird in der auf Mitteilung angelegten Konkretion sichtbar, was noch nicht vermittelt bzw. vermittelbar ist. Dies kann dann Anlass für weitere Überlegungen sein, die ihrerseits wieder in den Entwurf übertragen werden müssen. Mit anderen Worten ist der Entwurf als Passage ein ständiges Pendeln zwischen Innen und Außen. Aber auch in die „andere Richtung“ leistet die Passage des Entwurfs Vermittlungsarbeit. Der Entwurf trifft auf Deutungs- und Kommunikationsstile bei den Entwurfsdisziplinen, auf kulturelle und ästhetische Gepflogenheiten gesellschaftlicher Zielgruppen, auf Normen und Werte der Gesellschaft. Der Entwurf bzw. das Modell bildet dann die Folie der Auseinandersetzung für diese äußere Umwelt. Es sind aber deren Deutungen und Schlussfolgerungen die dann zur Akzeptanz oder Ablehnung der Idee führen. Hier lassen sich unterschiedliche Akzeptanzgruppen ausmachen: Fachkollegen, Geld-/Aufraggeber, Umsetzer der Ideen, Zielgruppen etc. (2) Ausdruck von Vorgängen der „Bisoziation“ Entwürfe enthalten Überraschungsmomente für den Gestalter im Sinne der „situation talks back“. Da der Entwurf materialiter Eigenes einbringt, kann der Entwerfer durch seine Manifestationen, die ja nichts anderes sind als

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Produkte seiner Vorstellungswelt, überrascht werden. Die Übersetzung bzw. Übertragung von Gedanken in Form ist nun mal ein radikaler Transfer von einer Logik in eine andere. Und die Logik der objektivierenden Form birgt neue Zusammenhänge, welche in der Logik der Vorstellungen des Hervorbringers nicht angesiedelt waren. Neue Assoziationsketten kommen damit in Gang, die den Entwurfsprozess weiter voranbringen können. Dabei zeigt die empirische Designforschung, dass oftmals ganz bewusst der Entwurf mit Vagheiten versehen wird, um die Spielräume für überraschende Querbezüge – den Bisoziationen im Sinne Köstlers (1966) – zu erhöhen. Der Entwurf ist damit auch eine Passage zwischen Konkretion und Vagheit. In noch umfassenderen Sinn wird die Rolle des Entwurfs als Ideengeber bei Gestaltungsprozessen im Team. Denn nun wird der Entwurf zur Drehscheibe für die Übertragung von Ideen und Überlegungen verschiedener Gestalter. Die verobjektivierte Form der Einbringungen eines Gestalters kann ganz unintendierte Assoziationsketten bei einem anderen Gestalter auslösen, der dann diese Überlegungen einbringt. So bekommt der Gestaltungsprozess den Charakter einer eigendynamischen entwurfsbasierten Interaktion, bei der die eingebrachten Ideen und Gedanken unvorhersehbare Wege nehmen können, gerade weil sie – die Ideen und Gedanken – in der konkreten Manifestation intentional untercodiert und assoziativ überkodiert sind. Generell lässt sich in Anlehnung an Debray also sagen, dass der Entwurf bei der Hervorbringung des Zu-Übertragenden in essentieller Weise mitwirkt.39 (3) Ort der um Aufmerksamkeit buhlenden Gestaltungen Entwürfe sind die Attraktoren, an denen sich die weitere Arbeit orientiert. Sie dienen der Selbst- und Fremdverständigung, um in mehreren Schleifen aus ersten abstrakten Ideen konkrete baubare und auch unter anderen (z.B. ästhetischen) Wertungsgesichtspunkten belastbare Modelle und Konzepte hervorzubringen. Entwürfe sind damit Passagen des Übergangs vom Abstrakten zum

39 Streng genommen müsste man nun noch die Kette der Akteure durchgehen; denn auch beim Auftraggeber, bei den Umsetzern und bei den Zielgruppen bildet der Entwurf den ersten Berührungspunkt mit der neuen Gestaltung und weckt bei diesen Akteuren jeweils eigene Assoziationen – je nach dem, mit welchen kulturellen Werte- und Normensystemen, ästhetischen Vorstellungen, eigenen Zielen, Bedürfnissen und persönlicher Aufgeschlossenheit dem Entwurf begegnet wird.

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Konkreten. Dies gelingt ihnen, weil sie genügend Aufmerksamkeit auf sich versammeln können, um den krisenanfälligen Gestaltungsprozess am Laufen zu halten. Denn sie liefern erste Inaugurationen von Neuem, das als Abweichung des Gewohnten und Etablierten ohnehin irritiert. Wie Dirk Baecker betont, geht es aber nicht nur um Irritation, sondern auch um Faszination, um die Aufmerksamkeit dauerhaft zu sichern.40 Dabei wird ein schmaler Grat zwischen der Zumutung von zu viel Devianz und der Ernüchterung vor zu wenig Originellem beschritten. Die Faszination zieht also ihre Kraft aus der Originalität, der Ästhetik, der Assoziationsmöglichkeit, welche der Entwurf bietet. Da der Entwurf am Anfang sehr viele vage Stellen birgt, kann sich die Faszination durch Konkretisierung bzw. Neukonzeption dieser Stellen verschieben oder verlagern. Im einen Fall geht es eher um ein Springen zwischen Gesamtentwurf und Detail, im anderen Fall um ein Changieren zwischen Elementen des Entwurfs, das ihn zu etwas anderem macht. Und auch in diesem „work in progress“-Stadium kann der Entwurf als Schnittstelle für Irritation und Faszination fungieren. So weiß die Kreativitätsforschung zu berichten, dass die in einem kreativen Prozess Involvierten in ein regelrechtes „FlowErlebnis“41 geraten können. Sie sind dann von der Dynamik des kreativen Prozesses regelrecht berauscht und erleben stauend, wie ihr Tun die ursprüngliche Idee in vorher nicht antizipierte Bahnen entführt. Der Entwurf markiert das Zwischenstadium: Er sammelt und präsentiert das bislang Erreichte, er invisibilisiert das Verworfene und er schafft vor allem den Gestaltungsraum für alles Folgende, indem er das noch nicht Schlüssige präsentiert und neue Ideen anregt. Er ist damit die Leiter, die man braucht, um eine Etappe weiter nach oben (zum Ziel) zu kommen, die aber notwendigerweise weggezogen werden muss, um weiter zu kommen. Indem eben der Entwurf auch gerade das noch nicht Schlüssige zeigt, wirkt er an seinem eigenen Verwerfen mit – Entwurf und Verwurf in einem. Seine Vorläufigkeit hält mit anderen Worten die Beteiligten am Ball. Im Idealfall liefert also der Entwurf beides: die Visibilisierung einer tragfähigen und irritierend-faszinierenden Idee sowie die Präsentation seiner Vorläufigkeit. Um die Idee zu retten, muss dann der Entwurf durch einen neuen überwunden werden.

40 Vgl. Baecker (2005), S. 269 f. 41 Csikszentmihalyi (1997), S. 158 ff.

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(4) Erwachen aus einem Traum Insbesondere das Modell bzw. der Prototyp stellt eine Überprüfung der Idee am Material dar. Aber auch der zeichnerische Entwurf lässt zum Beispiel räumliche und proportionale Konzepte erfahrbar machen. Ideen erfahren dadurch eine Erdung, was oftmals mit Ernüchterung einhergeht. Denn die Vorstellungen sind in der Regel – trotz oder gerade aufgrund ihrer Vagheit – viel reicher als ihre Konkretionen. Viele Konnotationen, aber insbesondere viele Empfindungen des Gestalters können nicht mit übersetzt bzw. in den Entwurf überführt werden. Manches erweist sich als nicht praktikabel. Wieder anderes enttäuscht in seiner Wirkung. Wenn Gestalter ihrer Fantasie freien Lauf lassen, befinden sie sich in einer Traumwelt. Die Kreativitätsforschung hat gezeigt, dass in dieser Phase Kritik ebenso wie ungute Gefühle nichts zu suchen haben.42 Das würde den kreativen Prozess gefährden. Insofern ist der Entwurf die Übertragung dieser kritiklosen Ideen und Vorstellungen in ein Format, das nun der Kritik und der Wertung ausgesetzt ist. Insofern ist der Entwurf schließlich auch noch die Passage zwischen kritikfreiem Schaffen und dessen Bewertung. Insbesondere die Überprüfung der Ideen am Material liefert für die Gestalter wichtige Einsichten in die Realisierbarkeit des Vorhabens. Entscheidend ist jedoch, dass der Prozess nicht in der Kritik stecken bleibt, sondern dass sich durch mehrere Durchläufe des kreativen Entwerfens und Kritisierens des Entworfenen ein gangbarer Weg abzeichnet, der eine realisierbare Lösung liefert. Ein Verfahren, das auch in so genannten Zukunftswerkstätten systematisch eingesetzt wird! So hat Robert Jungk in Anlehnung an Walt Disney einen Gruppenprozess zur Generierung belastbarer Ideen entworfen, der die Phase der Träumer, der Kritiker und zu guter Letzt der Realisten vorsieht.43 In diesem Sinn kann man den Entwurf als ein Vehikel begreifen, mittels dessen die Gestalter schrittweise aus ihrem Ideentraum erwachen und die Rolle des realistischen Ideenlieferanten für konkrete, baubare und markttaugliche Umsetzungen einnehmen – ganz so, wie dereinst die Passagen als Symbol einer untergegangenen Epoche die dort herrschenden Hoffnungen und Ideale sichtbar machten; dies aber vor allem einschließlich des Bruchs, den die Gesellschaft in der Ausbuchstabierung der Konsequenzen seitdem erfahren hat: Der Entwurf zwischen Traum und Wirklichkeit.

42 Vgl. Jungk/Müllert (1993). 43 Ebd.

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Roger Häussling | EINE THEORETISCHE SKIZZE

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Von der Weth (1998): Rüdiger von der Weth, Komplexität und Arbeit. Wie Konstrukteure und Manager komplexe Probleme bewältigen und wie man sie dabei unterstützen kann, Habilitationsschrift TU Dresden 1998. Welsch (1987): Wolfgang Welsch, Aisthesis. Grundzüge und Perspektiven der Aristotelischen Sinneslehre, Stuttgart 1987.

ABBILDUNGEN Abb. 1: „Aktivitätsorientierter Graph“ eines Entwurfsprozesses. Entnommen aus Müller (1990), S. 105.

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„Künstler“ oder Wissenschaftler oder beides: Was ist der Konstrukteur?1 MATTHIAS HEYMANN

„... das schöpferische Gestalten des Konstrukteurs ist keineswegs eine rein wissenschaftliche Arbeit ... Zu einem wesentlichen Teil, wenn nicht gar zum ausschlaggebenden ist der Maschinenentwurf vielmehr ein künstlerisches Gestalten.“2 „Konstruieren ist eine anspruchsvolle schöpferische Arbeit, darf aber nicht als Kunst betrachtet werden, sondern ist eine wissenschaftliche Arbeit.“3 „Konstruktion ist keine Wissenschaft.“4

Eine bedeutende Aufgabe der Industrie ist das Hervorbringen neuer technischer Produkte. Dieser Vorgang wird im Maschinenbau gewöhnlich als „Konstruktion“, neuerdings auch als Produktentwicklung bezeichnet. Die Konstruktion hat für unsere Gesellschaft und ihre Entwicklung eine fundamentale Bedeutung. Unsere technisch geprägte Lebenswelt ist konstruiert worden. Sie ist mithin Produkt dieses Teilgebiets des Maschinenbaus, der Konstruktion.

1 Dieser Beitrag ist eine leicht gekürzte und bearbeitete Fassung der Einleitung aus Heymann (2005). 2

Rauh (1951), S. 5.

3

Hubka (1976), S. 8.

4

Franke (1999), S. 21.

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MANIFESTATIONEN IM ENTWURF | Forschungsperspektiven

Im Fach Maschinenbau repräsentiert die Konstruktion eine Kerndisziplin. Ihre Aufgabe ist die Synthese. Sie führt in der Entwicklung neuer oder verbesserter technischer Produkte das Wissen und die Erfahrungen aller Gebiete des Maschinenbaus sowie die Bedingungen, Anforderungen und Ansprüche zusammen, die von Seiten der Gesellschaft auf die Technikentwicklung wirken. Das erfolgreiche Konstruieren stellt eine Integrationsleistung dar, die vielfältige Wissensinhalte, Wissensformen und Kompetenzen erfordert. Es beinhaltet sowohl systematische und analytische Arbeitsschritte als auch intuitive und gefühlsgeleitete Denkprozesse.5 Im 19. Jahrhundert war das Konstruieren noch weitgehend von handwerklichen Fertigkeiten und praktischen Erfahrungen geprägt. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts setzte ein Prozess ein, der als Verwissenschaftlichung der Konstruktion bezeichnet werden kann. Eine wichtige Voraussetzung für diesen Prozess waren die Umwälzungen von Technik und Gesellschaft im Verlauf der Industriellen Revolution und die Entstehung und Institutionalisierung der Technikwissenschaften. Beiträge zur Verwissenschaftlichung der Konstruktion leisteten sowohl die technischen Schulen und Hochschulen als auch die Industrie.6 Im Maschinenbau, dessen Herausbildung als wissenschaftliche Disziplin bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts erfolgte, wurde die Verwissenschaftlichung der Konstruktion als eine der zentralen Herausforderungen angesehen.7 Als „Haupt-Entwicklungslinien“ der Verwissenschaftlichung von Technik unterscheidet Gerhard Zweckbronner einerseits „die systematische Darstellung von Instrumenten, Maschinen, Verfahren und von handwerklich–technische(m) Erfahrungswissen“ und andererseits „die mathematisch– naturwissenschaftliche Fundierung technischer Sachverhalte“.8 Im Fall der Konstruktion stießen diese Aufgaben auf große Hürden. Beim Konstruieren in der handwerklichen und industriellen Praxis handelte es sich um einen auf Erfahrungswissen gegründeten, intuitiv geprägten Vorgang, dessen rationale Durchdringung, systematische Darstellung und mathematisch-naturwissenschaftliche Fundierung erhebliche Schwierigkeiten bereitete. Ferdinand

5

Pahl/Beitz (2003); Ehrlenspiel (2003).

6

König (1995, 1999); Dienel (1995); Buchheim, Sonnemann (1990).

7

Mauersberger (1980); Buchheim, Sonnemann (1990), S. 180–203.

8

Zweckbronner (1991), S. 401f.

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Matthias Heymann | WAS IST DER KONSTRUKTEUR?

Redtenbacher (1809–1863), der seit 1841 als Professor für Maschinenbau an der Polytechnischen Schule in Karlsruhe lehrte und als einer der Begründer des wissenschaftlichen Maschinenbaus angesehen wird, nahm sich als einer der ersten im deutschsprachigen Raum dieser Aufgabe an und verfolgte das Ziel, „die beim Konstruieren ‚intuitiv‘ verfolgte Praxis rational zu rekonstruieren und damit lehrbar zu machen.“9 Die rationale Rekonstruktion des Konstruktionsprozesses versprach Einsichten in die Gesetzmäßigkeiten dieses Prozesses, die Wege zur Optimierung des Konstruktionsvorgangs und zur Vermittlung von Konstruktionsfertigkeiten an den Hochschulen weisen sollten. In den Worten des Münchner Konstruktionswissenschaftlers Hugo Wögerbauer bestand das Ziel darin, „zu einem planvollen, überlegten, lückenlosen Konstruieren zu gelangen“, einem Konstruieren also, das in klar definierten, sicheren Schritten zu einem Ziel führt und nicht durch unerwartete Probleme aufgehalten oder zu Umwegen gezwungen wird.10 Mit diesem Anliegen war eine der zentralen Aufgaben definiert, die die Konstruktionswissenschaft im 19. und 20. Jahrhundert beschäftigte. Für die Lösung einer konstruktiven Aufgabe gibt es im Allgemeinen keinen offensichtlichen und eindeutigen Weg, sondern verschiedene Mittel und Wege, die erst zu finden sind.11 Zu den grundlegenden Problemen der Konstruktionswissenschaft zählte deshalb die Frage, wie der Konstrukteur zu einer Lösung für eine konstruktive Aufgabe gelangte oder gelangen sollte und ob es möglich war, die Konstruktion „auf sicheren Regeln“ oder gar Gesetzen zu gründen.12 Auseinandersetzungen und heftige Debatten in der Konstruktionswissenschaft gehen auf dieses Problem zurück und haben die Entwicklung der Konstruktionswissenschaft bis zur Gegenwart geprägt. Der Kern des Problems der Konstruktionswissenschaft liegt in der Doppelgesichtigkeit des technischen Schaffens, das auf der einen Seite wissenschaftliche Erkenntnisse, Methoden und Verfahren einschließt und auf der anderen Seite „ein irreduzibles künstlerisches Moment der Intuition“ enthält.13 Bereits Johann Beckmann, Professor der Ökonomie an der Universität

9

König (1999), S. 96.

10 Wögerbauer (1942), S. 24. 11 Banse (2000), S. 25. 12 Mauersberger (1980), S. 21. 13 König (1999), S. 100f.

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MANIFESTATIONEN IM ENTWURF | Forschungsperspektiven

Göttingen und Autor der „Anleitung zur Technologie“ (1777), betonte das unvermeidliche Nebeneinander von „wahren Grundsätzen“ und „zuverlässigen Erfahrungen“ in den technischen Gewerben. Der Philosoph und Technikwissenschaftler Gerhard Banse beschrieb „das Ineinandergreifen von wissenschaftlichen Kenntnissen und praktischem Können“ als ein Problem, „das sich durch die ganze Entwicklung des technischen Wissens hindurchzieht und das die Besonderheit der Arbeit des Technikers und Ingenieurs ausmacht.“14 Trotz aller Bemühungen um die Verwissenschaftlichung der Konstruktion entfalte sich das Konstruieren „nach wie vor als Konstruktionskunst und Konstruktionswissenschaft“.15 Inwieweit ist die Konstruktion vorwiegend als eine „Kunst“ oder vorwiegend als eine „Wissenschaft“, der Konstrukteur eher als „Künstler“ oder als „Wissenschaftler“ angesehen worden? Die Mehrzahl der Konstruktionswissenschaftler sah die Tätigkeit des Konstrukteurs als eine Tätigkeit an, die sowohl „künstlerische“ als auch wissenschaftliche Elemente beinhaltet. Doch viele Streitfragen und Debatten resultierten aus dem Problem, in welchem Maße das Konstruieren als Wissenschaft oder als „Kunst“ aufzufassen sei oder – wichtiger noch – in welchem Maße es zu einer Wissenschaft gemacht oder weiterhin als eine „Kunst“ gepflegt werden müsse. Fachliche Entwicklungen, methodische Innovationen und die Gestaltung der Ausbildung hingen unmittelbar mit diesem Problem zusammen, für das es bis zum Ende des 20. Jahrhunderts keine abschließende und dauerhafte Lösung gab.

1. ZUM STAND DER HISTORIOGRAFIE DER TECHNIKWISSENSCHAFTEN Die Geschichte der Technikwissenschaften ist in den vergangenen Jahrzehnten auf ein stark wachsendes Interesse gestoßen. Im Vordergrund des historiografischen Interesses standen einerseits die Verwissenschaftlichung von Technik, die im 19. und 20. Jahrhundert maßgebliche Impulse von den Technikwissenschaften erhielt, und andererseits die Herausbildung der Technikwissenschaften und ihre Institutionalisierung als wissenschaftliche

14 Banse (1984), S. 10. 15 Banse (1994), S. 329.

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Matthias Heymann | WAS IST DER KONSTRUKTEUR?

Disziplinen an technischen Schulen und Hochschulen im Verlauf des 19. Jahrhunderts. Ein wichtiges Motiv der historischen Forschung zur Geschichte der Technikwissenschaften ist in dem Anliegen zu suchen, das Verhältnis von Naturwissenschaften und Technikwissenschaften zu klären und die Eigenständigkeit der Technikwissenschaften als wissenschaftliche Disziplinen herauszustellen.16 Danach sind die Technikwissenschaften nicht als „angewandte Naturwissenschaften“ zu verstehen, sondern durch eine eigenständige Theorie– und Methodenbildung charakterisiert, die zwar naturwissenschaftliche und mathematische Erkenntnisse einbezieht und auf diesen gründet, aber in ihrem wissenschaftlichen Gehalt über diese hinausgeht. Der amerikanische Technikhistoriker Edwin Layton plädierte dafür, das Ingenieurwesen als eine eigenständige Form von Wissenschaft, als „engineering science“ zu beschreiben, da es eigene wissenschaftliche Methoden ausgebildet und eigenständige Formen der Theoriebildung entwickelt habe.17 Ein ähnliches Anliegen verfolgte im deutschsprachigen Raum das Dresdener „Zentrum für Geschichte der Technikwissenschaften“, das den Begriff der „Technikwissenschaften“ geprägt und in Technikgeschichte und Technikforschung populär gemacht hat.18 In zahlreichen Arbeiten des Dresdener Zentrums, die zum großen Teil in den seit 1980 erschienenen Dresdner Beiträgen zur Geschichte der Technikwissenschaften erschienen und in einer umfassenden, von Gisela Buchheim und Rolf Sonnemann herausgegebenen Darstellung zusammengefasst worden sind, wird die Genese technikwissenschaftlicher Disziplinen untersucht und die disziplinäre Eigenständigkeit der Technikwissenschaften herausgestellt.19 Der Begriff der Technikwissenschaften impliziert eine Abgrenzung gleichermaßen zur Technik wie zu den Naturwissenschaften. Der Dresdener Interpretation nach lässt sich die Geschichte der Technikwissenschaften nicht als eine „Wirkungsgeschichte von Wissenschaft auf Technik“ beschreiben. Sie sei „keineswegs identisch mit der Geschichte der Verwissenschaftlichung

16 Mayr (1976); Buchheim (1980); Staudenmaier (1989), S. 86–120. 17 Layton (1971, 1974, 1976, 1988); Burrichter et al. (1986), S. 7; Jobst (1995), S. 23f. 18 Vgl. Buchheim/Sonnemann (1990); Müller (1990); Gilson (1994); König (1995); Jobst (1995); Ropohl (1998); Feuchte (2000). 19 Buchheim/Sonnemann (1990).

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von Technik“.20 Hänseroth und Mauersberger haben die Technikwissenschaften vielmehr mit dem Bild eines „Reaktionsraums“ beschrieben, in dem die Naturwissenschaften in direkte und fruchtbare Beziehungen zu Bereichen technischer Praxis treten. In diesem Reaktionsraum findet danach eine zweiseitige Transformation statt, einerseits „die Transformation naturwissenschaftlicher Erkenntnisse und Methoden in eine für die technische Praxis applikable Form“ und andererseits „die Vermittlung von Anforderungen aus der technischen Praxis an die naturwissenschaftliche Forschung“. Die Technikwissenschaften repräsentieren somit einen Raum, in dem die Besonderheiten der Denkstile in den Naturwissenschaften und in der technischen Praxis „verschmelzen“ und für das technische Schaffen nutzbar werden konnten.21 Den historischen Arbeiten des Dresdener Zentrums liegt ein grobes Periodisierungsschema der Technikwissenschaften zugrunde, das einen „flexiblen Rahmen zur Strukturierung von Wissenschaftsentwicklung“ bietet.22 Danach lassen sich drei Phasen in der Entstehung der Technikwissenschaften unterscheiden: 1. Eine Vorperiode von der Mitte des 15. bis zum zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts, in der eine Sammlung, Systematisierung und Anreicherung technischen Wissens erfolgte. 2. Eine Periode der Herausbildung der Technikwissenschaften vom letzten Drittel des 18. bis etwa zur Mitte des 19. Jahrhunderts, in der die Entstehung erster technikwissenschaftlicher Disziplinen und ihre Institutionalisierung erfolgten. 3. Eine Periode der Konsolidierung der Technikwissenschaften von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zu den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts, in der sich die Schaffung und Festigung eines theoretischen Unterbaus vollzog und sich die Technikwissenschaften als wissenschaftlich eigenständige Disziplinen etablierten.23 Eine Voraussetzung für die Dresdener Interpretation ist die Unterscheidung von wissenschaftlichem Wissen und empirisch geprägtem Erfahrungswissen. Danach waren Wissenschaft und technische Praxis seit der Antike voneinander geschieden und sind in verschiedenen Entwicklungsschüben bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts einander angenähert und in den Technikwissenschaften zusammengeführt worden. Wesentliche Entwicklungsschübe

20 Hänseroth/Mauersberger (1996), 25f. 21 Ebd., S. 24f. 22 Hänseroth/Mauersberger (1998), S. 218. 23 Ebd.; Blumtritt (1988), S. 78f.

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erfolgten in der Renaissance, durch die wissenschaftliche Revolution des 17. Jahrhunderts und infolge der Industriellen Revolution im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert. Die Annäherung von technischer Praxis und wissenschaftlichem Wissen scheiterte diesem Modell nach zunächst einerseits am unzureichenden Stand der Wissenschaft, die weit davon entfernt war, die Komplexität praktischer technischer Probleme angemessen zu erfassen, und andererseits an der empirisch-praktischen Tradition in den Gewerben, die mit einem geringen theoretischen und mathematischen Bildungsgrad der Handwerker verbunden war. Erst die Vervollkommnung der Wissenschaft und der Ausbau der technischen Bildung ermöglichten eine Vereinigung von Wissenschaft und Praxis.24 Die Bildung technikwissenschaftlichen Wissens erfolgte in verschiedenen Stufen, zu denen die Systematisierung und literarische Fixierung technischen Wissens, die Einführung und Verarbeitung quantitativer Bemessungen in den technischen Gewerben, die theoretische technische Modellbildung durch Abstraktionen und die mathematische Theoriebildung und „Durchdringung“ technischer Prozesse zu rechnen sind. Praktisch-technische Aufgaben, die jahrhundertelang auf der Basis von Erfahrungswissen bearbeitet worden waren, wurden erst infolge dieser Entwicklungsschritte systematischer quantitativer Analyse und Vorausberechnung zugänglich.25 Die große historische Zäsur, die nicht nur die Bedingungen für die Entstehung der Technikwissenschaften geschaffen, sondern die Herausbildung erster Technikwissenschaften zu einer Notwendigkeit gemacht hat, ist dem Dresdener Modell nach in der Industriellen Revolution zu sehen. Erst die Industrielle Revolution machte danach eine neue Entwicklungsstufe der technischen Entwicklung mit Hilfe der Wissenschaft erforderlich. „Maschinen, neue Transport- und Kommunikationsmittel ebenso wie chemische Verfahren ließen sich nicht mehr empirisch beherrschen. (...). Die Technikwissenschaften mußten mit Notwendigkeit entstehen.“26 Gefördert wurde das Zusammenwachsen von Wissenschaft und Praxis durch gezielte staatliche Maßnahmen wie die Einrichtung und den Ausbau von Ausbildungs- und

24 Buchheim (1980), S. 19; Buchheim/Sonnemann (1990). 25 Ebd., z.B. S. 165, 246, 274. 26 Ebd., S. 18.

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Forschungskapazitäten, die den Zugriff der Unternehmen auf wissenschaftliche Potentiale vereinfachten. Auf der einen Seite wurde die Wissenschaft an der Praxis orientiert (industrienahe Forschung), auf der anderen Seite wurde die Praxis der Wissenschaft angenähert (durch den Einsatz wissenschaftlich ausgebildeter Ingenieure). Für die Vorstellung einer Vereinigung von wissenschaftlichem Wissens und technischer Praxis, die der Dresdener Interpretation zugrunde liegt, wird an verschiedenen Stellen der Darstellung der Begriff der „Einheit“ des Wissens zitiert, die erst erlangt werden musste. „Viele Rückschläge, Hindernisse und Irrtümer galt es zu überwinden, ehe sich der Gedanke der Einheit von Mechanik, Physik und Technik Bahn brechen konnte.“27 Die Vorstellung einer Einheit des Wissens führte gleichfalls auf die Idee einer „Einheitswissenschaft“, die Natur, „Kunst“ und Technik zusammenführte, wie z.B. im Werk Leonardo da Vincis. Bereits im 17. Jahrhundert – also weit vor der Herausbildung der Technikwissenschaften – sei die Idee einer „Einheit der Technikwissenschaften“ entstanden.28 Doch eine Realisierung dieser Einheit sei auf beträchtliche Hürden gestoßen. So existierte im Fall des Maschinenbaus eine „Kluft zwischen theoretischer Mechanik und praktischem Maschinenbau“, die im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert offenbar geworden war. Diese konnte im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts „nur durch intensive Erforschung der Einzelphänomene schrittweise überwunden werden“.29 Erst die Ausweitung des wissenschaftlichen Wissens, die – wie es an vielen Stellen heißt – „wissenschaftliche Durchdringung“ technischer Phänomene machte eine Zusammenführung von Wissenschaft und technischer Praxis möglich. In den Technikwissenschaften, vor allem in den traditionellen Disziplinen des Maschinenwesens, wurden im späten 19. Jahrhundert harte Auseinandersetzungen um das Verhältnis empirischer und theoretischer Forschung ausgetragen, die in der Literatur als „Methodenprobleme“ und „Methodenstreits“ beschrieben worden sind.30 Im Verlauf dieser Methodenstreits gelang es nach Buchheim und Sonnemann, den an den Naturwissenschaften gemessenen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit mit den Forderungen nach Praxiswirksamkeit

27 Ebd., S. 111. 28 Ebd., S. 111, 123. 29 Ebd., S. 200. 30 Vgl. Braun (1977); Richter (1984).

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„durch spezifizierte theoretische Arbeiten und einen umfassenden Ausbau der experimentellen Grundlagen zunehmend in Übereinstimmung zu bringen.“31 Die Klärung der Methodenstreits repräsentierte danach einen weiteren Durchbruch für die Zusammenführung von Wissenschaft und Praxis. Die Methodenstreits waren „in summa der Ausdruck jener notwendigen Phase der theoretischen Konsolidierung, die beinahe jede technikwissenschaftliche Disziplin durchlaufen sollte.“32 Im frühen 20. Jahrhundert konnte das technische Schaffen somit auf „methodisch und strukturell voll entfalteten Technikwissenschaften“ gründen.33 Der Dresdener Schule sind die umfassendsten Beiträge zur Geschichte der Technikwissenschaften aus dem deutschsprachigen Raum zuzuschreiben. Ihre besondere Leistung stellt die Bemühung um eine geschlossene Gesamtdarstellung der Herausbildung der Technikwissenschaften dar. Stärken des Dresdener Ansatzes bestehen in der Berücksichtigung kognitiver, sozialer und institutioneller Faktoren der Entwicklung der Technikwissenschaften, in der klaren Unterscheidung zwischen wissenschaftlichem Wissen und Erfahrungswissen, in der Gründung der Interpretation auf der gleichgewichtigen Analyse von Entwicklungen in der gewerblichen bzw. industriellen Praxis und in den Wissenschaften sowie in der grenzüberschreitenden, international vergleichenden Perspektive. Eine starke Betonung liegt auf der Herausarbeitung der Leistungen einer auf wissenschaftliche Erkenntnisse und Methoden gegründeten Technikwissenschaft. Der Darstellung von Buchheim und Sonnemann liegt nicht nur eine Vorstellung wissenschaftlichen Fortschritts zugrunde. Die Interpretation enthält darüber hinaus teleologische Elemente, indem die historische Entwicklung als Entwicklungsprozess zu einer zunehmenden Einheit von Wissenschaft und Praxis beschrieben wird. Vorsichtiger sind in diesem Punkt die späteren Darstellungen von Hänseroth und Mauersberger, die im Gegensatz dazu das bis zur Gegenwart anhaltende Spannungsverhältnis von Theorie und Praxis betonen.34

31 Buchheim/Sonnemann (1990), S. 231. 32 Hänseroth/Mauersberger (1996), S. 29. 33 Buchheim/Sonnemann (1990), S. 331. 34 Hänseroth/Mauersberger (1996, 1998).

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Wie die Mehrzahl der Beiträge der Dresdener Schule konzentriert sich auch insgesamt gesehen die Literatur zur Geschichte der Technikwissenschaften stark auf die Verwissenschaftlichung der Technik und die Herausbildung und Institutionalisierung der Technikwissenschaften im 18. und 19. Jahrhundert. Weitgehende Einigkeit besteht darüber, dass das Ingenieurwesen im Allgemeinen, der Maschinenbau im Besonderen und als ein Teilbereich des Maschinenbaus die Konstruktion einem Prozess zunehmender Verwissenschaftlichung unterlagen, wenngleich verschiedene Autoren unterschiedliche Vorstellungen mit dem Begriff der Verwissenschaftlichung verbinden. Einen eng gefassten Begriff der Verwissenschaftlichung hat König vorgeschlagen. Von Verwissenschaftlichung der Technik ist nach König nur dann zu sprechen, „wenn antizipative Theorie im Erfindungs- und Entwicklungsprozess dominiert“ und „auf der Basis technikwissenschaftlicher Modelle vorausberechnete Produkte sich in der Praxis besser bewähren als aus technischem Wissen und Können erwachsene“. In diesem Fall findet ein „technikwissenschaftliches Gesetzeswissen“ Anwendung, das mathematisch gefasst ist und die Vorausberechnung technischer Zusammenhänge erlaubt.35 Andere Autoren haben einen weiteren Begriff von Verwissenschaftlichung bevorzugt. Danach schloss die Verwissenschaftlichung der Technik zwei unabhängige und zunächst nicht miteinander zusammenhängende Traditionslinien ein: die Zusammenfassung und Systematisierung technischer Kenntnisse, wie sie durch die beschreibende Maschinenkunde geleistet wurde, und die Mathematisierung der Technik, wie sie zunächst vor allem von den französischen Polytechnikern vorangetrieben worden war.36 Beide Entwicklungslinien prägten die Entstehung technischer Wissenschaften im 19. Jahrhundert, wobei in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Deutschland die mathematisch orientierte Theoriebildung als Inbegriff der Verwissenschaftlichung in den Vordergrund rückte. Der Prozess der Verwissenschaftlichung war mit tief greifenden Veränderungen verbunden. Er führte zum einen zu einer sehr raschen Vermehrung und Differenzierung des Wissens, das dem technischen Schaffen zur Verfügung stand bzw. im technischen Schaffen zu berücksichtigen und zu nutzen war. Zum anderen erlebte die technische Ausbildung eine enorme Ausweitung und

35 König (1995), S. 301f. 36 Zweckbronner (1991); Troitzsch (1991); Richter (1982); Mauersberger (1980).

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Differenzierung. Technische Schulen und Hochschulen wurden gegründet, in denen technische Wissenschaften eine institutionelle Basis fanden und zunehmend differenzierte Curricula und Forschungskapazitäten entstanden.37 Großes Interesse in der Historiografie der Technikwissenschaften galt den Methodenstreits im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, die im Kern Auseinandersetzungen zwischen den Fraktionen der „Theoretiker“ und der „Praktiker“ an den Technischen Hochschulen über die starke Tendenz zur Mathematisierung und Theoretisierung in der Hochschulausbildung waren, aber gleichzeitig mit dem Ringen der so genannten Technikerbewegung um gesellschaftliche Anerkennung in Zusammenhang standen. Wichtige Ergebnisse dieser Methodenstreits waren die Zurückdrängung abstrakter Mathematisierung und die Einführung von Versuchslaboratorien in den Technischen Hochschulen.38 Gründe für diesen Interessenschwerpunkt der historischen Forschung dürften zum einen in dem Ausmaß und der Heftigkeit dieser Streitigkeiten und zum anderen in ihrer Bedeutung für die Durchsetzung eines technikwissenschaftlichen Methodenideals liegen, dass gleichermaßen mathematisch-naturwissenschaftliche Theorienbildung und experimentelle Zugänge umfasste und als ein Abschluss der Herausbildung des wissenschaftlichen Maschinenbaus interpretiert worden ist.39 Ein weiterer Grund für diesen Interessensschwerpunkt mag in der guten Quellenlage infolge der ausführlichen Dokumentation der Streitigkeiten zu vermuten sein. Nach König haben sich die Gegensätze zwischen „Theoretikern“ und „Praktikern“ im Maschinenbau noch vor dem Ersten Weltkrieg durch die fortschreitende Spezialisierung weitgehend aufgelöst. Fachvertreter für Dampfmaschinen, Dampfturbinen, Verbrennungskraftmaschinen, Werkzeugmaschinen oder Hebezeuge behandelten nun in ihrem Zuständigkeitsbereich sowohl die Theorie als auch die praktischen Fragen. Die 20 Jahre zuvor deutlich gewordene generelle Frontstellung zwischen den Fraktionen hatte somit

37 Lundgreen (1994). 38 Wichtige Beiträge dazu stammen von Manegold (1970); Braun (1975, 1977); Mauersberger (1980, 1984); Richter (1984); Purkert/Hensel (1987); Hensel (1989); Zweckbronner (1991); Dienel (1993), König (1998); Hashagen (1998); Remberger (1999), Feuchte (2000). 39 Vgl. Mauersberger (1980); König (1999).

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im Zuge der Ausdifferenzierung von Spezialdisziplinen und der Neuordnung der institutionellen Strukturen an Gewicht verloren.40 Eine entscheidende Voraussetzung für das Ende der Methodenstreits sehen viele Autoren in der Stabilisierung eines allgemein anerkannten Selbstverständnisses der Technikwissenschaften als experimentell ausgerichtete Erfahrungswissenschaft. Nach König ruhte die technikwissenschaftliche Methode seit dem Ende der Methodenstreits auf folgenden vier Säulen: 1. Die Rezeption naturwissenschaftlicher Ergebnisse und deren Umsetzung in technische Regeln; 2. Die Entwicklung von mathematischen Berechnungsweisen, die den technischen Problemen angemessenen waren; 3. Die Durchführung systematischer Experimente unter praxisnahen Bedingungen; 4. Das Sammeln und Sichten von Erfahrungen aus der industriellen Praxis und deren Umsetzung in technische Regeln.41 Erheblich weniger umfangreich ist die Literatur zur Entwicklung der Technikwissenschaften nach dem Ersten Weltkrieg. Noch stärker vernachlässigt worden ist die Geschichte der Technikwissenschaften nach 1945. Den meisten historischen Interpretationen zufolge wurden im 19. Jahrhundert die methodischen Grundlagen und die institutionellen Strukturen der Technikwissenschaften geschaffen, während im 20. Jahrhundert ein Prozess des Ausbaus und der Differenzierung der Technikwissenschaften erfolgte. Technikwissenschaftliche Forschungsaktivitäten, Erkenntnisse und Nutzungspotentiale wurden im Verlauf des 20. Jahrhunderts stark ausgeweitet.42 An den Hochschulen erfolgte ein Ausbau der technischen Fächer, der die Institutionalisierung neuer Spezialdisziplinen einschloss.43 In der Industrie wurde die technische Grundlagenforschung ausgebaut, die bis zur Jahrhundertwende weitgehend eine Domäne der Hochschulen geblieben war.44 Schließlich erfolgte ein „verstärktes Eindringen der Wissenschaft“ in die industrielle Produktion und Fertigung.45

40 Ebd., S. 91. 41 Ebd., S. 76f. 42 Buchheim/Sonnemann (1990), 331–436; Hughes (1989); Braun, Kaiser (1992). 43 Vgl. Gilson (1994); Dienel (1995). 44 Vgl. Reich (1985); Hounshell, Smith (1988); König (1990), S. 409–413. 45 Buchheim/Sonnemann (1990), S. 353; König (1989).

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Für den Zeitraum nach 1945 haben Technikhistoriker eine neue Dimension der Komplexität technikwissenschaftlicher Forschung und Entwicklung konstatiert, die in großen, vielfach staatlich finanzierten Institutionen und Projekten organisiert war.46 Als beispielhaft dafür wird die Entstehung und Ausweitung neuer wissenschaftlicher und technikwissenschaftlicher Felder wie Atomtechnik, Raumfahrt und Mikroelektronik angeführt. Buchheim und Sonnemann beschrieben für den Zeitraum nach 1950 – entsprechend der sozialistischen Wissenschaftsideologie – einen „Umbruch im System der Produktivkräfte“, der als „wissenschaftlich-technische Revolution“ bezeichnet wurde.47 Die außerordentliche Dynamik in Wissenschaft und Produktion habe „die Herausbildungsetappe der Schlüsseldisziplinen auf wenige Jahre“ zusammengedrängt und „die wissenschaftliche Ausprägung von Konstruktion und Technologie zu einem einheitlichen Prozeß“ komprimiert.48 In den Maschinenwissenschaften seien durch eine Symbiose von Maschinenbau und Informatik „die inneren Bindungen zwischen den Disziplinen des Maschinenbaus enger geworden“ und diese „zu einem System zusammengewachsen.“49 Die Interpretationen von Hughes bzw. von Buchheim und Sonnemann sind stark wissenschaftsorientiert und wirken in ihrer Konstruktion einer Fortschrittsgeschichte des 20. Jahrhunderts recht holzschnittartig. Andere Autoren heben die Probleme und Vielgestaltigkeit des Transfers zwischen Wissenschaft und Praxis im 20. Jahrhundert stärker hervor.50 In der jüngeren Technikgeschichte und Technikforschung wird eine differenziertere Sicht auf Wissenschaft und Verwissenschaftlichung in der Technik erkennbar, indem vermehrt auch die nicht-wissenschaftlichen Anteile im technischen Schaffen in den Blick genommen werden.51

46 Hughes (1989). 47 Buchheim/Sonnemann (1990), S. 417. 48 Ebd., S. 418f. 49 Ebd., S. 436. 50 Vgl. Kaiser (1992). 51 Vgl. Petroski (1986); Ferguson (1993); Jobst (1995); Ropohl (1998); Wengenroth (1998); Banse (2000); Mauersberger (2000).

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2. ZUR BEDEUTUNG DER KONZEPTE „KUNST“ UND WISSENSCHAFT FÜR DIE ANALYSE DER GESCHICHTE DER TECHNIKWISSENSCHAFTEN Die Begriffe „Kunst“ und Wissenschaft beschreiben gegensätzliche Pole von Wissen, Kompetenzen und Problemlösungsstrategien, die im technischen Schaffen eine Rolle spielen. Sie repräsentieren keine für alle Zeiten feststehenden Bedeutungen, sondern haben im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts historische Wandlungen durchlaufen.52 Der hier verwendete Begriff der „Kunst“ orientiert sich an einem vormodernen Verständnis von Kunst, das von dem modernen Kunstbegriff abzugrenzen ist und deshalb in Anführungszeichen gesetzt wird. Der Begriff der Kunst ist abgeleitet vom Begriff des Könnens. Der vormoderne Kunstbegriff kommt z.B. in dem Begriff „Handwerkskunst“ zum Ausdruck. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein war das Konstruieren weitgehend von handwerklichen Fertigkeiten und praktischen Erfahrungen geprägt. Handwerker und Techniker verfügten nicht über das erforderliche theoretische Wissen, um Maschinen und Apparaturen wie Mühlen, Pumpen oder Wägen auf theoretischem Wege zu entwerfen. Ihre Fertigkeiten hatten sie im praktischen Berufsleben erworben, vermittelt durch Meister und Berufskollegen, durch die praktische Anschauung und den Nachbau von Geräten sowie durch die guten und schlechten Erfahrungen, die sie mit ihren Konstruktionen machten. Den guten Handwerker zeichnete ein Wissen und Gespür dafür aus, welche Form seine Geräte und Maschinen haben sollten und wie stark Wellen, Räder und andere Maschinenteile auszuführen waren, um den Belastungen im praktischen Betrieb standzuhalten. Da diese Fähigkeiten und Fertigkeiten nicht ohne weiteres anderen zugänglich und zu vermitteln waren, sondern durch langjährige Praxis erworben werden mussten, wurden sie als eine „Kunst“, der Handwerker selbst als „Künstler“ bezeichnet. Dieser vormoderne Kunstbegriff ist abzugrenzen von dem im Verlauf des 19. Jahrhunderts entstandenen modernen Kunstbegriff, der in der deutschen Romantik seine Prägung erfahren hat. Gadamer beschrieb diese Prägung als eine „innere Aufladung“, indem dem Kunstbegriff ein genialisches Schöpfertum und artistisches (nicht nur handwerkliches) Können zugeschrieben wurde,

52 Daston (2001); Gadamer (1994).

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das auf die besondere Bedeutung von Kreativität und Inspiration verweist.53 Die Verschiebung der Bedeutung des Kunstbegriffes spiegelt sich auch in den Publikationen von Konstruktionswissenschaftlern seit dem späten 19. Jahrhundert wider, die dem Schaffen des Ingenieurs nicht nur „Handwerkskunst“, sondern zunehmend auch ein genialisches Schöpfertum zuschreiben.54 Das entscheidende Merkmal der „Kunst“ des Konstrukteurs ist die Personengebundenheit der damit verbundenen Wissensformen und Kompetenzen. Kriterien für ein „kunstorientiertes“ Verständnis der Konstruktion sind daher Umschreibungen der Konstruktion, die praktische Erfahrung, Intuition, Gespür und Fingerspitzengefühl in den Vordergrund stellen, Faktoren also, die personengebunden sind und nicht über Worte, Texte oder andere Formen der Vermittlung auf andere Menschen übertragen werden können. Dieses personengebundene Wissen, das nur durch langjährige praktische Tätigkeit nach und nach zu erwerben ist, beschrieb der Biochemiker und Philosoph Michael Polanyi als „tacit knowledge“ (stilles Wissen). Nach Polanyi ist das stille Wissen nicht formalisierbar und eine von formalem wissenschaftlichem Wissen zu unterscheidende, insbesondere nicht in wissenschaftliches Wissen übersetzbare Wissensform. Es repräsentiert einen grundsätzlich anderen Typus von Wissen, das nicht in Worten oder in Form von Lehrbüchern oder Vorlesungen mitteilbar, sondern nur durch praktische Lernprozesse und die Akkumulation von Erfahrung zu erwerben ist.55 Ein Beispiel für das von Polanyi beschriebene stille Wissen ist die Fähigkeit, Fahrrad zu fahren. Der Fahrradfahrer weiß, was er zu tun hat, um sein Gleichgewicht zu halten. Er erwirbt dieses Wissen durch praktisches Tun und die Erfahrungen, die er dabei sammelt. Eine vollständige Formalisierung dieses Wissens ist nicht zu leisten. Es ist nicht vollständig in Worte zu fassen und die Fähigkeit des Radfahrens durch Worte allein nicht ausreichend zu vermitteln. Stilles Wissen spielt bei allen praktischen Tätigkeiten eine Rolle.56 Für die Tätigkeit des Handwerkers hat es im Vergleich zu formalen Wissensformen und wissenschaftlichem Wissen stets eine große Bedeutung gehabt. Zwar hat auch der Handwerker zu allen Zeiten über formales Wissen

53 Ebd., S. 11. 54 Vgl. Franke (1943), Kesselring (1954); Leyer (1963). 55 Polanyi (1958, 1967); Sanders (1988); Gill (2000); Dua (2003). 56 Polanyi (1958, 1967); Ferguson (1993).

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verfügt, z.B. in Form von überlieferten Regeln, Verfahren und tabellarisch zusammengefassten quantitativen Richtgrößen. Aber ein bedeutender Teil seiner Kompetenz bestand (und besteht) in dem nach und nach erworbenen, stillen Erfahrungswissen, das ihm ein Gespür für die Gestaltung und für das Verhalten seiner Produkte oder Maschinen gab.57 Der erfahrene Handwerker vermag das stille Wissen im Problemlösungsprozess einzusetzen, ohne sich dieses Wissens bewusst oder in der Lage zu sein, es in Worte zu fassen. Mit dem systematischen Eindringen von wissenschaftlichem Wissen in das technische Schaffen seit Mitte des 19. Jahrhunderts veränderte sich die Wissensbasis von Handwerkern und Ingenieuren. Das Gewicht formalen Wissens wuchs rasch an. Eine gute Kenntnis des Standes der Wissenschaft und die Beherrschung und Anwendung wissenschaftlicher Methoden wurde zu einer selbstverständlichen Forderung an Techniker und Ingenieure. Ingenieure begannen zunehmend mit wissenschaftlichen Mitteln und Methoden zu arbeiten, entwickelten eigene wissenschaftliche Theorien und Verfahren und akkumulierten ein Wissen, das als wissenschaftlich verstanden wurde. Dieses Wissen ist im Allgemeinen durch eine systematische und logische Struktur charakterisiert. Es wird als zusammenhängend, widerspruchsfrei und trotz aller Wissensgrenzen als beliebig erweiterbar angesehen. Ein entscheidendes Kennzeichen wissenschaftlichen Wissens ist die Objektivität, die diesem Wissen zugeschrieben wird. Wissenschaftliches Wissen gilt als überpersönlich und interpersonal. Es ist nicht subjektiv und personengebunden, sondern in Form von Beobachtungsaussagen, naturwissenschaftlichen Gesetzen oder mathematischen Formeln beschreibbar und vermittelbar.58 Es sind die Konstruktionswissenschaftler selbst, die Begriffe wie „Kunst“ und Wissenschaft gewählt haben, oder Abwandlungen und verwandte Bezeichnungen wie Erfahrung, Gefühl, Intuition, Praxis anstelle des Begriffs „Kunst“ bzw. Methodik, Systematik, Gesetz, Logik, Theorie anstelle des Begriffs Wissenschaft. Trotz der unvermeidlichen Unschärfe solcher Begriffe erlauben sie im Allgemeinen eine klare Zuordnung zum Begriff der „Kunst“ oder zum Begriff der Wissenschaft im Sinne der von Polanyi beschriebenen Unterscheidung personengebundener, subjektiver, informeller,

57 Heymann (1996). 58 Jobst (1995).

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nicht vermittelbarer Wissensformen und überpersönlicher, objektiver, formaler und vermittelbarer Wissensformen. Der Gegensatz zwischen „Kunst“ und Wissenschaft steht in engem Zusammenhang mit dem in der Literatur oft verwendeten Gegensatz zwischen Wissenschaft und Praxis. Das Begriffspaar Wissenschaft und Praxis verweist auf die institutionellen und kognitiven Differenzen, die zwischen dem Handeln des Wissenschaftlers in wissenschaftlichen Kontexten oder Institutionen und dem praktischem Handeln des Handwerker und des Ingenieurs in den Gewerben und der Industrie bestehen. Mit diesem Begriffspaar wird meist die institutionelle Trennung zwischen Wissenschaft und Praxis hervorgehoben und Wissenschaft mit wissenschaftlichen Wissensformen bzw. Praxis mit praktischen Wissensformen in Verbindung gebracht, die in Wissenschaft bzw. Praxis jeweils vorherrschen. Da in der gewerblichen und industriellen Praxis personale Wissensformen meist eine sehr große Rolle spielen, während in der Wissenschaft formale Wissensformen in den Vordergrund gestellt werden, weist das Begriffspaar Wissenschaft und Praxis große Ähnlichkeiten mit dem Begriffspaar „Kunst“ und Wissenschaft auf, ohne deckungsgleich zu sein.59 Während das personale Erfahrungswissen im technischen Schaffen immer gegenwärtig und von großer Bedeutung war, trat es neueren Interpretationen zufolge in der wissenschaftszentrierten Selbstbeschreibung der modernen Gesellschaft in den Hintergrund.60 Bereits Max Weber beschrieb ein an wissenschaftlich-technischer Rationalität orientiertes Naturverständnis, das die Vorstellung einschloss, alle Dinge seien prinzipiell durch Berechnung zu erfassen und zu beherrschen, als grundlegendes Merkmal der modernen Gesellschaft.61 Wissenschaft schien dieser Auffassung nach nicht nur ein zunehmendes Verständnis und wachsende Beherrschbarkeit der natürlichen und technischen Umwelt zu garantieren. Sie stellte technischen und gesellschaftlichen Fortschritt in Aussicht, dem keine prinzipiellen Grenzen gesetzt zu sein schienen.

59 Vgl. Buchheim/Sonnemann (1990). 60 Picon (2004); Lefèvre (2000); Ropohl (1998); Wengenroth (1998); Vincenti (1990); Ferguson (1993); Jobst (1995); Petroski (1986). 61 Weber (1968), S. 593.

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Auch Techniker und Ingenieure selbst maßen den Naturwissenschaften und der Verwissenschaftlichung der Technik eine herausragende Rolle bei, während sie die Bedeutung personaler Wissensformen gering einschätzten. Nach Eugene Ferguson sah sich der Ingenieur des 20. Jahrhunderts eher als Wissenschaftler denn als „Künstler“. „Kunst“ galt laut Ferguson als „überholt, eine Randerscheinung und vielleicht nutzlos“. Sie wurde für „zu weich“ gehalten, denn ihr fehle „die Härte und Strenge der Naturwissenschaften und die mutmaßliche Objektivität der Technik“.62 Das „nichtsprachliche, unausgesprochene und intuitive Erfassen, das für Ingenieure so wichtig ist“, sei demgegenüber in Vergessenheit geraten und wenig gewürdigt worden. Dies galt nach Ferguson auch für den Prozess des Konstruierens. „In dieser neuen Zeit mit einem von der Naturwissenschaft bestimmten Ingenieurwesen sollte der Vorgang des Entwerfens von vertrackten nichtwissenschaftlichen Entscheidungen, subtilen Urteilen und natürlich menschlichem Versagen befreit sein.“63 Nach Wengenroth erfuhr das wissenschaftliche Theorie- und Überprüfungswissen eine Aufwertung, die mit einer Abwertung des alltäglichen und beruflichen Erfahrungswissens einherging. Merkmal dieses szientistischen Weltbildes sei die Vorstellung einer statischen Welt gewesen, in der die Menge des Nichtwissens durch zunehmende Verwissenschaftlichung kontinuierlich abnahm, während das wissenschaftliche Wissen sich durch seine Vermehrung der Eindeutigkeit und Vollständigkeit der Beschreibung der Welt annäherte.64 Der Technikphilosoph Günter Ropohl beschrieb mit ähnlicher Stoßrichtung das Selbstverständnis der Technikwissenschaften im 20. Jahrhundert als einen Szientismus, der durch „ideologische Vorstellungsgebilde“ wie die folgenden gekennzeichnet war: 1) einem „technologischen Szientismus“, d. h. der Vorstellung von der reinen Wissenschaftlichkeit der Technik und dem Ideal der einen und eindeutigen Wahrheit, das sich übersetzte in das Ideal der einen besten Technik; 2) einem „technologischen Determinismus“, der die Vorstellung „vom einen besten Weg“ bei der Schaffung und Gestaltung technischer Artefakte beinhaltete; und 3) einem „technologischen Internalismus“, der

62 Ferguson (1993), S. 33. 63 Ebd., S. 169. 64 Wengenroth (1999); Heymann/Wengenroth (2001).

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Auffassung einer Eigenständigkeit der Technik, deren Schaffung „nichts als sachtechnisches Wissen“ erfordere und „ausschließlich an sachtechnischen Gesichtspunkten orientiert“ sei.65 Dieses szientistische Weltbild habe in den vergangenen Jahrzehnten in den Technikwissenschaften selbst an Überzeugungskraft und Glaubwürdigkeit verloren. Nicht-intendierte Nebenfolgen der Technisierung und eine gewachsene Sensibilisierung für die Risiken des technischen Wandels haben das vordem weitgehend selbstverständliche Vertrauen in Wissenschaft und Technik erschüttert und auch in den Technikwissenschaften eine Wiederentdeckung und Aufwertung nicht-wissenschaftlicher Wissensformen zur Folge gehabt.66 Ropohl spricht von einer „Grundlagenkrise“, in die die Technikwissenschaften geraten seien, und sieht Indizien für einen „Paradigmenwechsel“. Wengenroth spricht in Anlehnung an Ulrich Beck von einer „reflexiven Modernisierung“ in den Technikwissenschaften. In allerjüngster Zeit beginne „die Einsicht zu keimen, dass die Technik der Zukunft eine pluralistische Technik sein wird, eine Technik, in der eine Vielzahl verschiedenartiger Lösungsformen fruchtbar miteinander konkurrieren und nebeneinander bestehen können.“67 Die von Autoren wie Ropohl und Wengenroth beschriebene Krise des Szientismus ging einher mit einer Wende in der sozialwissenschaftlichen Beschreibung von Wissenschaft und Technik und der diesen zugrunde liegenden Formen des Wissens und Könnens. Während in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine positivistische Wissenschaftstheorie dominierte, die allein den wissenschaftlichen Rationalismus und das naturwissenschaftlich-mathematische Methodenideal als Mittel der Erkenntnis anerkannte, erfolgte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine historische und soziologische Wende in der Wissenschaftsforschung, die die Einsicht hervorbrachte, dass Wissenschaft nicht als logischer und rationaler Prozess zu beschreiben ist, sondern als ein gesellschaftliches Unternehmen, das von historischen Kontexten und gesellschaftlichen Konstruktionen abhängig ist.68

65 Ropohl (1998), S. 12–15. 66 Beck (1986); Jobst (1995); Ropohl (1998). 67 Ropohl (1998), S. 18; siehe auch Wengenroth (1998). 68 Kuhn (1962); Habermas (1968).

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Empirische Untersuchungen wissenschaftlicher und technischer Tätigkeiten, deren Zahl seit den 1970er Jahren stark angewachsen ist, trugen maßgeblich zu einem neuen Bild von Wissenschaft und Technik bei.69 Das wissenschaftliche und technische Schaffen erwies sich nicht als rationaler und systematischer Prozess, sondern als „messy, crafty, artful, and essentially social“.70 Auch die Wiederentdeckung der Philosophie von Polanyi förderte ein verändertes Verständnis von Wissenschaft und Technik. Der britische Soziologe Harry Collins betonte als ein Ergebnis seiner empirischen Untersuchungen die Bedeutung des stillen Wissens und beschrieb dieses Wissen als das Resultat einer Sozialisierung. „The general rule is that we know more than we can say, and that we come to know more than we can say because we learn by being socialized, not by being instructed.“71 Collins beschrieb wie Polanyi die Unvereinbarkeit formalen und stillen Wissens. Zwischen diesen Formen des Wissens bestehe eine Barriere („knowledge barrier“), die z.B. für intelligente Maschinen unüberwindbar ist. Ein Computer könne niemals so arbeiten wie der Mensch, weil der Computer nicht lebt und nicht eingebunden ist in einen sozialen Zusammenhang. Die Abbildung von menschlichem Wissen z.B. in Büchern oder Computerprogrammen sei nicht lediglich ein Problem der Komplexität, sondern ein Problem unterschiedlicher Wissenstypen. „It is not as though a much more complex book will do the trick that a simple book cannot manage, and it is not as though a book mimics the content of the brain.“72 Ein Buch, ein Computerprogramm oder eine wissenschaftliche Formel enthalten eine andere Form von Wissen, die auch durch mehr Aufwand und Akkuratesse nie dem personengebundenen, menschlichen Wissen gleichkommen kann.73 Technikhistorische Untersuchungen haben gezeigt, dass personale Wissensformen in der Technik eine große Rolle spielten. Henry Petroski hat an vielen Beispielen gezeigt, wie groß im 19. und 20. Jahrhundert das Vertrauen in wissenschaftliche Methoden war, wie unzureichend auf der anderen Seite wissenschaftliche Verfahren allein die Funktionstüchtigkeit technischer

69 Vgl. Collins (1981, 1985); Barnes/Edge (1982); Bucciarelli (1994); Henderson (1999). 70 Collins (1990), S. 4; Henderson (1999), S. vii. 71 Collins (1990), S. 7f. 72 Ebd., S. 13. 73 Ebd., S. 216; vgl. Dreyfus (1979); Dreyfus/Dreyfus (1986).

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Entwicklungen sicherzustellen vermochten. Zahllose technische Unfälle haben sowohl die Grenzen wissenschaftlicher Beherrschbarkeit der Technik gezeigt als auch die Bedeutung personengebundenen Erfahrungswissens deutlich gemacht.74 Walter Vincentis detaillierte Studien über Entwicklungsprozesse in der Flugzeugindustrie haben gezeigt, dass nicht-wissenschaftliche, personale Wissensformen auch in hochgradig verwissenschaftlichten und wissenschaftsbasierten Industriesektoren eine entscheidende Rolle spielen.75 Zahlreiche neuere Arbeiten haben die Bedeutung des stillen Wissens für das technische Schaffen und die technische Ausbildung beschrieben.76 Auch in der Soziologie, der Philosophie, der Psychologie und der Ökonomie ist die Aufmerksamkeit für nicht-wissenschaftliche und nicht-formale Wissensformen deutlich gewachsen.77 Diesen Wissensformen, die auch als „implicit knowledge“, „personal knowledge“, „working knowledge“ oder „knowledge in the body“ bezeichnet worden sind, wird heute eine grundlegende Bedeutung für Erkennen, Handeln und Problemlösen beigemessen.78 Der Technikphilosoph Eberhard Jobst fasst die Ergebnisse der interdisziplinären Technikforschung dahingehend zusammen, dass „das unscharfe, episodale, spontan gewachsene und ganzheitliche Erfahrungswissen eine erhebliche Rolle“ für die Hervorbringung, Vervollkommnung, Wartung und Betreibung von Technik spielt.79 Dieses Wissen ist gleichermaßen sinnlich und kognitiv und die sinnliche Qualität von der kognitiven nicht zu trennen. Der amerikanische Soziologe Douglas Harper bezeichnet das technische Alltags- und Erfahrungswissen, das er am Beispiel eines Automechanikers beschreibt, deshalb als „the marriage of the hand and the mind, in solving practical problems“.80

74 Petroski (1986). 75 Vincenti (1990). 76 Vgl. Broelmann (2002); Heymann (1998, 1996); MacKenzie/Spinardi (1995); Olesko (1993). 77 Harper (1987); Joas (1992); Jobst (1995); Sanders (1988); Turner (1994); Moss (1995); Tirosh (1994); Underwood (1996); Stadler (1998); Nonaka/Takeuchi (1995); Senker (1995); Mintzberg (1999); Ambrosini (2003); Miller/Jones (2005). 78 Harper (1987); Jobst (1995); Sternberg (1999). 79 Jobst (1995), S. 33. 80 Harper (1987), S. 118.

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Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass sozialwissenschaftliche Beschreibungen der Technikentwicklung im 20. Jahrhundert das Bild einer szientistischen Phase vermitteln, der am Ende des 20. Jahrhunderts eine Krise des Szientismus folgte. Diese Krise des Szientismus spiegelte sich danach nicht nur in der neuartigen Beschreibung von Wissenschaft und Technik durch die Wissenschafts- und Techniksoziologie und -philosophie, sondern – wichtiger noch – in den Selbstverständnissen und Selbstbeschreibungen von Technikwissenschaftlern selbst. Mit Hilfe der Kategorien „Kunst“ und Wissenschaft ausgedrückt, scheint einer Phase der einseitigen Orientierung der Technikwissenschaftler an Wissenschaft und am mathematisch-naturwissenschaftlichen Methodenideal eine Phase der Verunsicherung und Krise gefolgt zu sein, die zur Wiederentdeckung und Anerkennung von „Kunst“ geführt hat.81 Nach Wengenroth lassen sich die veränderten Verständnisse und Selbstverständnisse in der Technik durch die Formel „(f)rom science versus art to science and art“ charakterisieren und als ein Weg von der klassischen zur „reflexiven Moderne in der Technik“ deuten.82 Es bleibt durch historische Längsschnittstudien zu zeigen, inwieweit diese Deutung das sich wandelnde Selbstverständnis der Ingenieure zutreffend beschreibt. Konstrukteure verstanden sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts mit wechselnden Konjunkturen als „Künstler“ wie als Wissenschaftler. Sie waren und bleiben beides. Was aber heute als Konsensus gelten mag, bleibt gleichwohl ein Spannungsfeld. Denn es bleibt offen, wie weit er „Künstler“ und wie weit er Wissenschaftler sein sollte.83

81 Hänseroth/Mauersberger (1998), S. 220. 82 Wengenroth (1998, 1999). 83 Heymann (2005).

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Design the Future – Mind the Past CLAUDIA MAREIS

„By ‚history‘ is meant here therefore not only what is past but also what is to come.“ (Clive Dilnot (2015), S. 133.)

In welche Richtung soll sich die Entwurfsforschung zukünftig weiter entwickeln? Welche Perspektiven, Konzepte und Methoden sind von Bedeutung? Ist sie bereits eine wissenschaftliche Disziplin, soll sie überhaupt eine solche werden? Diese und ähnliche Fragen werden im Kontext von Design, Architektur und Ingenieurwesen derzeit intensiv diskutiert. Auffallend daran ist nur, dass und wie sich diese Diskussion aus einer oppositionellen Begriffsökonomie speist, die selbst kaum eine Hinterfragung erfährt. Zu den offensichtlichsten diskursiven Markern gehören (vermeintliche) Gegensätze wie „Design versus Forschung“‘, „Praxis versus Theorie“, „Disziplin versus Undisziplin“ oder „Texte versus Objekte.“1 In den letzten Jahren haben sich zahlreiche Konferenzen, Aufsätze und Bücher diesen Gegensatzpaaren gewidmet und sich dabei vornehmlich am angeblichen „epistemologischen Sonderfall“ der Entwurfsforschung abgearbeitet. Beinahe scheint es, als ob diese ihr eigenes Profil nur unter Zuhilfenahme solcher schablonenhafter

1

Siehe als Übersicht zu diesen Diskussionen bspw. Joost et al. (2015) oder Durling et al. (2009).

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MANIFESTATIONEN IM ENTWURF | Forschungsperspektiven

Gegenüberstellungen, Kontrastierungen, Ein- und Ausschlusskonzepten herausarbeiten und schärfen kann. Kaum diskutiert wird indes der Umstand, dass die genannten Gegensätze nicht per se gegeben, sondern ein momentanes Resultat kontingenter historischer Entwicklungen und Diskurse sind. Als Konsequenz aus dieser Beobachtung scheint es angebracht, auch nach solchen Perspektiven, Konzepten und Methoden zu fragen, die von dem oppositionellen Aus- und Einschlussdiskurs der Entwurfsforschung derzeit marginalisiert und ausgeklammert werden. Dazu gehört meines Erachtens besonders der vernachlässigte Umgang mit der eigenen (Diskurs-)Geschichte sowie die damit zusammenhängende Frage nach dem Stellenwert und dem Einbezug historisch-kritischer Perspektiven gerade in die praxisorientierte Entwurfsforschung. Pointiert gesagt, beschäftigt sich die Entwurfsforschung derzeit so intensiv mit ihren eigenen Praktiken des Entwurfes, der Planung und Projektion, dass sie darüber den Umgang mit der Geschichte, besonders mit der Geschichte dieser Praktiken selbst aus den Augen verloren hat. Diese These möchte ich im folgenden Text vertiefter behandeln und anhand ausgewählter Beispiele und methodischer Vorschläge spezifizieren. Vorwegzunehmen ist die Bemerkung, dass es natürlich unzutreffend wäre, zu behaupten, es gäbe keine historischen Perspektiven oder kein historisches Bewusstsein im Umgang mit Entwurfs- und Designthemen. Das Fach Designgeschichte widmet sich auf ernstzunehmende Weise der historischen Aufarbeitung und Darstellung von Akteuren, Artefakten, Praktiken, Räumen und Diskursen des Designs.2 Allerdings agieren die Designgeschichte und die vornehmlich praxisorientierte Entwurfsforschung bis heute meist getrennt voneinander. Nur selten finden sich gegenseitige Bezüge und ein Austausch der jeweiligen Erkenntnisse, Sichtweisen und Methoden. Auch stellt sich die Frage, ob die Designgeschichte sich auf angemessene Weise ihrem Gegenstand – dem Design – widmet, der nicht nur qua Umfang, sondern auch in Hinblick auf seine Zielsetzungen und Methoden eine Herausforderung darstellt. Sowohl für die praxisgeleitete Entwurfsforschung als auch die Designgeschichte stellt sich die Frage, wie sich historische, gegenwärtige und zukünftige

2 Ein gutes Beispiel ist Gert Selles mehrfach aufgelegtes und überarbeitetes Buch „Geschichte des Design in Deutschland“, das als Standardwerk der Designgeschichte gelten muss und bis heute einen veritablen „Steinbruch“ für unbearbeitete Forschungsthemen im Design darstellt. Siehe Selle (2007).

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Claudia Mareis | DESIGN THE FUTURE – MIND THE PAST

Praktiken und Diskurse wechselseitig bedingen. Es ist dies eine Bedingtheit und Abhängigkeit, die als zentrales Moment kritischer Reflexion im Kontext von Kultur und Gesellschaft gesehen werden kann.

DIE ZUKUNFT ALS RAUM DES ENTWURFES Das Interesse der Entwurfsforschung gilt gemeinhin nicht der Vergangenheit, sondern der Gegenwart und vielmehr noch der Zukunft. So wird in diesem Forschungsdiskurs oft mit Nachdruck die zukunftsorientierte Rolle von Design- und Entwurfspraktiken betont. Das Entwerfen wird als ein vorbereitendes, projektförmiges Handeln aufgefasst, das auf die Zukunft ausgerichtet sei und die Vergangenheit hinter sich lassen solle. Bezeichnend für diese Position ist etwa eine Aussage des Designtheoretikers Gui Bonsiepe: „Die Zukunft ist der Raum des Design. Die Vergangenheit ist bereits geschehen und die Entwurfsakten somit verschlossen.“3 Auf ähnliche Weise äußert sich Klaus Krippendorff in einem grundlegenden Aufsatz zur Entwurfsforschung: „Probably the most important task of designers is to create possibilities that nobody has thought of.“4 Lucy Kimbell geht in dieser Hinsicht einen Konkretisierungsschritt weiter, indem sie als zentrale Aufgabe des Entwerfens die Erschaffung zukünftiger Praktiken benennt.5 Schließlich führt Wolfgang Schäffner die für die Entwurfstheorie so relevante Unterscheidung zwischen „Objekt“ und „Projekt“ ein: „Ganz im Unterschied zum Gegen-Stand, dem ‚objicere‘, dem Objekt als etwas Gegenwärtigem und Widerständigem“ sei das ‚„projicere‘, projizieren, Projektil, Projekt […] auf die Zukunft orientiert.“6

In dieser Lesart des Entwurfs als Projekts entfaltet sich eine ganze Reihe epistemologischer und forschungsprogrammatischer Aspekte, die für die Entwurfsforschung wegweisend sind. Dies betrifft vor allem die Art des Wissens, das in Entwurfsprozessen erzeugt wird sowie die damit verbundenen

3

Bonsiepe (1996), S. 26.

4

Krippendorff (2007), S. 71.

5

Kimbell (2011), S. 3.

6

Schäffner (2013), S. 56.

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Methoden und Heuristiken. Den Entwurf als Projekt zu verstehen, bringt es mit sich, Wissenspraktiken zu erproben und zu reflektieren, die spekulativer, impliziter oder abduktiver Art sind und sich deswegen nicht selbstredend in gängige wissenschaftliche Objektivitäts- und Methodendiskurse einfügen lassen. Darüber hinaus sprechen Entwurfsforschende den visuell-materiellen Manifestationen des Entwurfes, wie Skizzen, Diagramme, Modelle oder Pläne, in der Regel ein besonderes Potential als Wissensobjekte zu, mit denen sich der Umgang mit zukünftigen Phänomenen, mit Risiken, Unsicherheit oder Ambiguität besser bewältigen lässt. Zweifellos eröffnet ein solcher zukunftsgerichteter Blick auf das Entwerfen interessante und wichtige Perspektiven für die Entwurfsforschung, in denen das immense Potential von Entwurfspraktiken sowie die weitreichenden Konsequenzen von Designentscheidungen sichtbar werden. Nur selten aber wird auch die Ambivalenz und Problematik aufgegriffen, die dem Leitmotiv des Projektiven, Zukünftigen und Neuen innewohnen. Mit der Hinwendung zur Zukunft als Raum des Entwerfens geht gerade in der praxisorientierten Entwurfsforschung – die für sich beansprucht, ein Projekt vom „tätigen Leben des zeitgenössischen Menschen“7 zu sein – oft eine Abkehr von historischen Überlegungen und Zusammenhängen einher. Der Fokus auf den Entwurf im Kontext zeitgenössischer Problem- und Fragestellungen scheint fast zwangsläufig auch eine starke zeitliche Fokussierung auf die Gegenwart und Zukunft mit sich zu bringen. In dem kürzlich erschienen Buch Design and the Question of History (2015) problematisiert Clive Dilnot, dass zeitgleich mit dem Aufkommen der praxisbasierten Entwurfsforschung und dem Hype um Design Thinking auch das Verschwinden eines Geschichtsbewusstseins zu beobachten sei. Er schreibt: „History has all but disappeared from thinking design, and certainly from ‚design research‘ – which today acts as if it is in an permanent state of forgetfulness about what actually constitutes and forms ‚design‘ historically as we receive it [the forces, powers and relations determining it].”8

7

Findeli (2004), S. 46.

8

Dilnot (2015), S. 150f.

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Eine zentrale Ursache für das fehlende Geschichtsbewusstsein sieht Dilnot im Bestreben, die Entwurfsforschung einer „Quasi-Objektivierung“ nach natur- und technikwissenschaftlichem Vorbild zu unterziehen.9 Diese orientiere sich, so kritisiert Dilnot, im Kontext ihrer Verwissenschaftlichung und akademischen Disziplinierung zunehmend an naturwissenschaftlichen und technischen Forschungsmodellen und bemühe sich vor allem um die Definition und (oberflächliche „Lösung“) von „Designproblemen“ – ohne diese Probleme jedoch selbst in einen größeren historischen Zusammenhang zu stellen.10 Er räumt in diesem Zusammenhang jedoch auch ein, dass viele Entwurfsforschende, selbst die Betreuer von Designpromotionen, Fragen nach der Geschichtlichkeit von Wissenskonzepten, Methoden und Designproblemen meiden, da diese so komplex und ausufernd erscheinen.11 Die Vermeidung und Ausklammerung historischer Reflexionen und Fragestellungen in der Entwurfsforschung zugunsten einer pragmatischen Wissensproduktion mag verständliche Gründe haben. Dennoch führt sie zu einem teils simplifizierenden, teils mystifizierenden Verständnis von Geschichte und, damit zusammenhängend, auch zu einem reduktionistischen Bild gegenwärtiger Frage- und Problemstellungen. Zu klären gilt es vor diesem Hintergrund das Verhältnis von Entwurfsforschung und historischer Reflexion: Wie können in der Entwurfsforschung neuartige, gesellschaftsrelevante Dinge entworfen und innovative Fragestellungen entwickelt werden, die sich weder einer pragmatischen Ausblendung von Geschichte noch einem trivialisierenden teleologischen Fortschrittsdenken verdanken, sondern aus der bewussten Auseinandersetzung mit historischen Wissenskonzepten, Methoden und Designproblemen resultieren? Und wie sollte sich eine kritisch-reflexive Entwurfsforschung nicht trotz, sondern gerade wegen ihres virulenten Praxisund Zukunftsbezugs verhalten gegenüber ihrer eigenen Geschichte sowie der Geschichte ihrer Diskurse und Praktiken?

9

Ebd., S. 151.

10 Ebd., S. 151. 11 Ebd., S. 151.

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WECHSELWIRKUNGEN ZWISCHEN DISKURSEN, PRAKTIKEN UND GESCHICHTE Diese Fragen, die letztlich das wechselwirksame Verhältnis von zeitgenössischen Praktiken und historischen Diskursen betreffen, beschäftigen mich in meiner eigenen Forschung zur Geschichte der Entwurfsforschung und -methodologie bereits seit längerem. In meinem Buch Design als Wissenskultur (2011) bin ich der Frage nachgegangen, wie sich die praxisorientierte Profession des Designs in der Nachkriegszeit zu einer eigenständigen Wissenskultur entwickeln konnte und welche interdisziplinären Konzepte und „Grenzdiskurse“ für diese Entwicklung bedeutsam waren.12 Aus einer diskursanalytischen Perspektive hat mich dabei vor allem die Frage beschäftigt, welche Rolle Design- und Entwurfspraktiken nicht nur bei der Schaffung und Etablierung zukünftiger Werte, Normen und Handlungsanweisungen zukommt, sondern wie diese Praktiken selbst durch historische Diskurse geprägt werden bzw. diese als Bestandteile diskursiver Praxis wechselwirksam miterzeugen und stabilisieren. Es ging mir also weniger um eine chronologische Darstellung oder eine historische Situierung der Entwurfsforschung, vielmehr berühren die genannten Fragen die Ebene des methodischen Vorgehens und Handelns im Design und in der Entwurfsforschung auf grundlegende Weise. Als ein besonders produktiver Ansatz, um die komplexen Verflechtungen zwischen Praktiken, Diskursen und Geschichte in den Blick zu bekommen, hat sich für meine Arbeit die Diskursanalyse und -archäologie erwiesen, die der französische Philosoph und Wissenschaftshistoriker Michel Foucault in den 1960er-Jahren entwickelte. Seit ihrer Einführung sind zwar etliche Jahrzehnte vergangen, in denen sie auch kritisiert und revidiert wurde, dennoch hat sich die Diskursanalyse heute als wichtiger methodischer Ansatz in den Sozial-, Kultur- und Geschichtswissenschaften etabliert. Ihre zentralen Einsichten und Kritik an tradierten Idealen, Normen und Verfahren der Geschichtsschreibung sind bis heute für das Geschichtsverständnis dieser Wissenschaften prägend und sind meines Erachtens auch als ergänzendes theoretisch-methodisches Rüstzeug für die Entwurfsforschung geeignet.13

12 Siehe Mareis (2011). 13 Allerdings unterscheiden sich die genannten Fächer mitunter stark in ihrer Definition was „Diskurse“ sind und wie eine Diskursanalyse methodisch „korrekt“ durchgeführt werden sollte. Für eine Übersicht siehe Jäger (2004).

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Im Folgenden werde ich erörtern, wie Diskursanalyse und -archäologie in der Tradition von Michel Foucault zu verstehen sind und weswegen diskurstheoretische Überlegungen heute für eine praxis- und zukunftsorientierte Entwurfsforschung womöglich relevanter sind als jemals zuvor.

HETEROGENE ENSEMBLES UND ORDNUNG VON DINGEN In den 1960er und -70er Jahren beschäftigte sich Michel Foucault intensiv mit dem Problem einer disziplin- und epochenübergreifenden Geschichtsschreibung der (westlichen) Ideen- und Wissensgeschichte. Daraus resultierte 1966 das wegweisende Buch Les mots et les choses (dt. Die Ordnung der Dinge).14 Es handelte sich um eine epochenübergreifende Untersuchung diskursiver Ordnungen und Strukturen in so unterschiedlichen Bereichen wie der Grammatik und Philologie, der Naturgeschichte und Biologie sowie der politischen Ökonomie.15 Foucault versuchte mithilfe einer fachübergreifenden Analyse die historischen Bedingungen zu verstehen, unter denen sich disziplinäre Ansichten, Wissen und „Wahrheiten“ in einem weiteren gesellschaftlichen Kontext etablieren, aber ebenso gut auch wieder auflösen und verschwinden konnten. Die Ordnung der Dinge ist in diesem Sinne als die Suche nach den historischen Möglichkeiten und Grenzen der Wissens- und Erkenntnisproduktion zu verstehen. Foucault interessierte sich dafür, „von wo aus Erkenntnisse und Theorien möglich gewesen sind, nach welchem Ordnungsraum das Wissen sich konstituiert hat, auf welchem historischen Apriori und im Element welcher Positivität Ideen haben erscheinen, Wissenschaften sich bilden, Erfahrungen sich in Philosophien reflektieren, Rationalitäten sich bilden können, um vielleicht sich bald wieder aufzulösen und zu vergehen.“16 In dem 1969 erschienen Buch L‘Archéologie du savoir (dt. Archäologie des Wissens) präzisierte Foucault seine Überlegungen sowohl in methodischer als auch theoretischer Hinsicht.17 Dabei trieb ihn die Frage um, wie eine Geschichtsschreibung von Wissen und Wissensordnungen zu denken

14 Foucault (1966). 15 Foucault (1971), S. 24. 16 Ebd., S. 24. 17 Foucault (1969).

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sei, die jenseits tradierter Erklärungsmuster von Kontinuität, Kausalität und Teleologie operieren und sich „ebenso weit von den ‚Worten‘ wie von den Dingen entfernt“ situiert wissen will.18 Foucault benutzt in diesem Zusammenhang den Begriff der „archäologischen Analyse“, die er der klassischphilosophischen Ideengeschichte gegenüberstellt und sie als „systematische Beschreibung eines Diskurses als Objekt“ definiert.19 Der Verweis auf die Archäologie legt nicht nur nahe, dass die „Freilegung“ historischer Diskurse als Formen der „Grabungsarbeit“ und „Tiefensondierung“ in aufgehäuften Geschichten zu sehen ist, sondern sie macht auch darauf aufmerksam, dass die zu erwartenden Funde bruchstückhaft, unzusammenhängend und interpretationsbedürftig sind. Geprägt sind Foucaults Überlegungen zur Geschichte des Wissens, ihrer Diskurse und Dispositive offenkundig von zeichen- und sprachtheoretischen Strömungen wie dem Strukturalismus, der Semiologie und der Dekonstruktion, welche die französischen Geisteswissenschaften in der Nachkriegszeit dominierten. Dennoch sind Diskurse im Sinne Foucaults nicht bloß als „Gesamtheit von Zeichen“, als bloßes Sprechen über die Dinge oder gar nur als „Textanalyse“ zu verstehen.20 Vielmehr sind Diskurse dezidiert „als Praktiken zu behandeln, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen“.21 Der Historiker Philipp Sarasin hält in diesem Zusammenhang fest, dass Foucault sich nicht für das „endlose ‚Spiel‘“ zwischen den Signifikanten und der Mehrdeutigkeit der Sprache interessierte, sondern vielmehr für „die historische Begrenztheit, die faktische ‚Knappheit‘ einzelner existierender Aussagen und Aussageserien“.22 Diskurse bewegen sich laut Sarasin „in einem ‚Zwischenbereich‘ zwischen den Worten und den Dingen, wo diese eine kompakte Materialität mit eigenen, beschreibbaren Regeln darstellen, um auf diese Weise die gesellschaftliche Konstruktion der Dinge ebenso zu steuern wie dem sprechenden Subjekt einen Ort zuzuweisen, an dem sich sein Sprechen und seine Sprache erst entfalten können“.23 Anders formuliert, sind

18 Sarasin (2003), S. 33f. 19 Foucault (1981), S. 200. 20 Ebd., S. 74. 21 Ebd., S. 74. 22 Sarasin (2003), S. 34. 23 Ebd., S. 34.

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Sprechen und Handeln, Worte und Dinge gleichermaßen Bestandteil diskursiver Praxis. Diese Einsicht kontrastiert die in der praxisorientierten Entwurfsforschung geläufige (meist aber nicht explizit ausformulierte) Annahme, dass Texte und Objekte, aber auch Theorie und Praxis sich als Gegensätze gegenüberstünden. Mit Foucault gedacht ist vielmehr das Gegenteil der Fall: Diese Dimensionen sind in und durch die Diskurse und Dispositive aufs engste miteinander verwoben, sie beeinflussen und begrenzen sich wechselseitig, gehen aber doch nie vollends ineinander auf. In seinen späteren Arbeiten erweiterte und ergänzte Michel Foucault den Begriff des Diskurses um jenen des Dispositivs, um damit die räumlichen, institutionellen und objekthaften Elemente, die jede diskursive Praxis mitkonstituieren, noch stärker zu betonen. Dispositive sind laut Foucault als ein „entschieden heterogenes Ensemble“ zu verstehen, „das Diskurse, Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebenso wohl wie Ungesagtes umfasst“.24 Das Dispositiv ist dabei als „das Netz“ zu verstehen, „das zwischen diesen Elementen geknüpft werden kann.“25 Der wohl wichtigste Effekt von Dispositiven besteht darin, strategische Macht-Wissenskomplexe auszubilden, die Menschen dazu bringt auf eine bestimmte, für sie selbst aber nur schwer nachvollziehbare Weise zu denken, zu handeln und zu wissen. Mit dem Begriff des Dispositivs weist Foucault nicht nur auf das genannte heterogene Ensemble von Dingen hin, sondern ebenso auf die wechselhaften materiellen und symbolischen Erscheinungsformen, durch die Diskurse sich manifestieren und ihre Effekte zeitigen können: „bald als Programm einer Institution“, „bald im Gegenteil als ein Element, das es erlaubt eine Praktik zu rechtfertigen und zu maskieren, die ihrerseits stumm bleibt“.26 Überträgt man diese Sichtweise auf die Entwurfsforschung, dann eröffnen sich neu- und andersartige Sichtweisen und Einsichten auf die Konstruiertheit, Artifizialität und das „Design“ soziokultureller Strukturen und Phänomene. Auf Themen also, welche die Entwurfsforschung bereits seit der

24 Foucault (1978), S. 119f. 25 Ebd., S. 120. 26 Ebd., S. 119.

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Nachkriegszeit umtreiben,27 die heute aber vielleicht virulenter und erklärungsbedürftiger denn je erscheinen, wie dies etwa Arbeiten wie Design as Politics von Tony Fry oder Emergency Design von Yana Milev aufzeigen.28 Deutlich wird in einer solchen diskurstheoretischen Lesart vor allem, dass die Praxis des Entwerfens nicht als „vortheoretisches“ oder „außersprachliches“ Phänomen zu verstehen ist und sich auch die vermeintlichen Grenzen zwischen Sprechen und Tun, Texten und Objekten, Theorie und Praxis nicht halten lassen. Entwerfen ist, wie Klaus Krippendorff in seinem Buch Die Semantische Wende mit Nachdruck betont, als eine praktische Tätigkeit zu verstehen, die nicht außerhalb sprachlicher Interpretation und Vermittlung gedacht werden kann. Denn im Prozess des Entwerfens werde, so führt Krippendorff aus, die Rolle der Sprache allzu leicht übersehen:29  „Es ist unzweifelbar: Das Schicksal der Artefakte entscheidet sich in der Sprache. Eine Theorie der Bedeutung von Artefakten in der Sprache befasst sich unter anderem mit der Frage, wie Artefakte in Gesprächen überleben oder aus ihnen entstehen – aus Geschichten [Narrativen], die sich ihre Stakeholder, einschließlich der Designer, gegenseitig erzählen und in die Tat umsetzen. Sprache macht Artefakte möglich, verleiht ihnen Bedeutungen oder verhindert den Zugang zu ihnen.“30

Umgekehrt gilt aber auch: Ebenso wie die Sprache und das Sprechen eine Ordnung der Dinge konstituiert und bestimmt, so nehmen auch die Dinge selbst, das heißt der Umgang mit ihnen in Entwurf und Gebrauch, Einfluss auf menschliches Denken, Handeln und Sprechen.

27 Zu denken ist in diesem Zusammenhang etwa an die Arbeiten von Horst Rittel, Lucius Burckhardt oder Herbert Simon. 28 Siehe Fry (2011) und Milev (2011). 29 Krippendorff (2013), S. 190. 30 Ebd., S. 191. (Kursivsetzung im Original).

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GRENZEN DES DENK- UND SAGBAREN Mit Blick auf das Gesagte steht die Diskursanalyse und -archäologie auch für eine Problematisierung von geschichtswissenschaftlichen Kategorien und Konzepten, die eine vermeintliche Kontinuität und Kausalität im Erscheinen von historischen Aussagen und Ereignissen oder ein teleologisches Modell des Geschichtsverlaufs suggerieren. Foucault erörtert dies am Beispiel des Traditionsbegriffs wie folgt: „Zunächst ist eine negative Arbeit zu leisten: sich von einem ganzen Komplex von Begriffen zu lösen, von denen jeder auf seine Weise in das Thema der Kontinuität Abwechslung bringt. […] So der Begriff der Tradition: er zielt darauf ab, einer Menge gleichzeitig sukzessiver und identischer [oder zumindest analoger] Phänomene ein besonderes zeitliches Statut zu geben; er gestattet, die Streuung der Geschichte in der Form des Gleichen erneut zu denken […]; dank seiner kann man die Neuigkeiten auf einem Hintergrund der Permanenz isolieren und das Verdienst auf die Ursprünglichkeit, auf das Genie, auf die den Individuen eigenen Entscheidungen übertragen.“31

Entgegen dieser Lesart von Tradition ging es Foucault darum, vermeintlich sinnstiftende Kategorien der Geschichtsschreibung, wie eben Tradition, Kontinuität, Kausalität oder Ursprung, selbst einer Problematisierung und Historisierung zu unterziehen. Dasselbe forderte er auch für die Rolle des vermeintlich allwissenden, geschichtserklärenden Subjekts selbst ein. Foucault ging davon aus, dass die Analyse der historischen Aprioris eines Diskurses letztlich nur bedingt möglich ist, da Menschen in bestimmte Diskurse hineingeboren werden und die Möglichkeiten und Grenzen ihres Handelns und Wahrnehmens damit bereits maßgeblich beschränkt sind. Diskurse im Sinne von Foucault sind demnach nicht Gegenstand „einer Theorie des wissenden Subjekts“, sondern vielmehr als „Theorie diskursiver Praxis“ zu sehen.32 Diskursive Praxis basiert nicht nur auf bestimmten Machtzusammenhängen, sondern bildet und perpetuiert diese auch fortwährend aus. Denn „als ‚Träger‘ von (jeweils gültigem) ‚Wissen‘“ üben Diskurse selbst Macht aus, wie Siegfried Jäger konstatiert, „indem sie geeignet sind, Verhalten und (andere) Diskurse zu induzieren“; sie tragen somit „zur Strukturierung von

31 Foucault (1981), S. 33. 32 Ebd., S. 15.

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Machtverhältnissen in einer Gesellschaft bei“.33 Folgt man dieser Lesart, dann erschaffen und gestalten nicht einzelne Individuen die Diskurse, sondern sie sind vielmehr „überindividuell“, mit limitierten Handlungsmöglichkeiten und Spielräumen für den Einzelnen: „Was dabei herauskommt, ist etwas, das so keiner gewollt hat, an dem aber alle in den verschiedensten Formen und Lebensbereichen (mit unterschiedlichem Gewicht) mitgestrickt haben“, resümiert Jäger.34 Subjekte und Diskurse sind in dieser Lesart unhintergehbar aneinander gekettet, da es weder einen völlig neutralen Beobachterstandpunkt, noch eine Außenperspektive auf Geschichte gibt – und damit auch keine Möglichkeit, die konstituierenden Bedingungen von historischen Diskursen und Dispositiven vollends zu erfassen. Ungeachtet dieser Aporie steht die Diskursanalyse dennoch für das Bestreben, ein tieferes, wenn auch zwangsläufig begrenztes und bruchstückhaftes Verständnis für das Apriori und die menschgemachten Vorbedingungen von Wissen, Gesellschaft und Macht zu gewinnen, also besser zu verstehen, „wie wir wissen, was wir wissen“.35 Diskursanalyse lässt sich mithin „als Bemühen verstehen, die formellen Bedingungen zu untersuchen, die die Produktion von Sinn steuern“ – gepaart mit der Einsicht, dass Diskurse selbst eine „unmögliche Stabilität des Sinns“ darstellen oder suggerieren.36 Ein wichtiges Anliegen der Diskursanalyse ist es denn auch, auf die Möglichkeiten und Grenzen des historischen, aber auch gegenwärtigen Aussagens und Sprechens hinzuweisen. Dabei zeigt sich, dass die Grenzen des Sagbaren von den Individuen selbst nur schwer als solche identifiziert werden können, da sich die Regeln und Regulationsmechanismen eines Diskurses meist unausgesprochen und als solche unerkannt vollziehen. Gemäß Foucault werden Diskurse nicht nur durch die positiven Möglichkeiten des Sagbaren, sondern ebenso sehr durch Tabus und Sprechverbote reguliert. Diese sind daran zu erkennen, dass nicht jeder „das Recht hat, alles zu sagen“, „nicht bei jeder Gelegenheit von allem sprechen kann“ und „nicht jeder beliebige über alles beliebige reden kann“.37 Solche Tabus und Sprechverbote finden sich in allen Diskursen und somit

33 Jäger (2004), S. 149. 34 Ebd., S. 148, Kursivsetzung im Original. 35 Knorr Cetina (2002), S. 11. 36 Sarasin (2003), S. 33. 37 Foucault (2003), S. 11.

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selbstredend auch in der Entwurfsforschung, wie ich dies in meinem Aufsatz The Epistemology of the Unspoken am Beispiel der Diskussion um das implizite Wissen im Design aufgezeigt und diskutiert habe.38 Ein weiteres, bislang wenig problematisiertes Tabu stellt meines Erachtens die auffällige Fixierung der Entwurfsforschung auf die Designpraxis und die damit einhergehende Ablehnung von Theoriebildung dar – die laut Clive Dilnot daher rührt, dass „Design“ auch in der Forschung lediglich als das verstanden werden soll, was Designer ohnehin schon tun.39

ENTWURFSFORSCHUNG ALS ZUKUNFTSORIENTIERTE DESIGNGESCHICHTE Geschichte im Licht der Diskursanalyse und -archäologie zeigt sich, wie ich dargelegt habe, als ein schwer zu durchdringendes, ereignishaftes Geschehen; als Schichtung von unterschiedlichen Diskursen und Verstrickung von heterogenen „Akteuren“ wie Lebewesen, Artefakte, Praktiken, Räume, Routinen, Regeln, Inskriptionen, Tabus, Institutionen, Wissensformationen und vieles mehr. Wieso und auf welche Weise sollte sich gerade die Entwurfsforschung mit diesen schier unauflösbaren Verstrickungen auseinandersetzen? Ist es nicht zu viel verlangt, von Designforschenden zu erwarten, dass sie sich über ihre „eigentlichen“ praxisorientierten Zielsetzungen und designtheoretischen Interessen hinaus mit einem derart komplexen Geschichtsmodell „herumschlagen“ sollten? Und welchen Sinn kann es für eine aktionsorientierte Disziplin wie das Design haben, sich mit Diskursen und Dispositiven auseinanderzusetzen, die letztlich weder erfassbar noch gestaltbar erscheinen? Ich möchte im Folgenden darlegen und argumentieren, weswegen die Diskursanalyse und mit ihr verwandte Geschichtsmodelle dennoch und gerade heute für eine praxis- und zukunftsorientierte Entwurfsforschung in hohem Maß relevant sind. Zunächst gewinnt eine Geschichtsschreibung aus diskursanalytischer Perspektive gerade durch die Einsicht in ihre methodischtheoretische Begrenztheit ein selbstreflexives, kritisches Moment. Diskursanalyse macht zwar darauf aufmerksam, dass individuelles Handeln a priori

38 Siehe Mareis (2012). 39 Dilnot (1989), S. 233.

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vorstrukturiert und von den Subjekten nur beschränkt erfassbar und veränderbar ist. Diese Einsicht hindert uns aber nicht daran, sondern fordert uns vielmehr dazu auf immer wieder aufs Neue nach solchen Strukturen und Grenzen zu suchen, ihre Verläufe und Mechanismen in Frage zu stellen und sie mit alternativen Handlungs- und Gestaltungsoptionen zu kontrastieren. Der Soziologe Pierre Bourdieu, der zeitgleich wie Foucault die Determiniertheit individuellen Handelns erforschte, äußerte in diesem Zusammenhang die Hoffnung, dass Menschen sich paradoxerweise erst durch die Befreiung von der Illusion der Freiheit selbst befreien können.40 In diesem Sinne kann auch die Aussage von Gui Bonsiepe verstanden werden, dass Design nur möglich sei „in einer Gestimmtheit von Zuversicht und Hoffnung“: „Wo Resignation, das heißt keine Aussicht auf Zukunft herrscht, gibt es kein Design“, so sein Fazit.41 Entgegen seiner eingangs zitierten Ansicht aber, dass die Vergangenheit „bereits geschehen und die Entwurfsakten geschlossen“ seien,42 ist Vergangenheit aus diskursanalytischer Sicht nicht bloß als ein abgeschlossenes Geschehen zu betrachten, sondern auch als dynamischer Hintergrund und wechselwirksame Performation unseres gegenwärtigen Denkens, Handelns und Wissens. Diese Einsicht scheint mir besonders für solche Entwurfsbereiche relevant zu sein, die sich mit der Gestaltbarkeit und Transformation sozialer Modelle, technischer Gefüge oder zukünftiger gesellschaftlicher Szenarios beschäftigen, wie dies etwa Social Design, partizipatorisches Design oder Speculative Design tun.43 Die Definition von gegenwärtigen Entwurfsfragen – wie etwa der nachhaltige Umgang mit ökologischen oder sozialen Ressourcen – ist aus diskursanalytischer Sicht zwangsläufig mit einer kritischen (Selbst-)Reflexion über diejenigen Diskurse und Dispositive verbunden, welche die geläufigen Auffassungen davon, was Designprobleme und -lösungen sind, erst hervorgebracht haben. Im Kontext von partizipatorischen Entwurfsprozessen stellt sich dabei besonders die Frage, inwiefern sich vorherrschende Macht-Wissenskomplexe durch gestalterische Teilhabeprozesse (die ja ihrerseits vorstrukturiert sind) überhaupt neu konstruieren lassen, oder ob sich nicht im Gegenteil hegemoniale

40 Siehe Bourdieu/Wacquant (1992). 41 Bonsiepe (1996), S. 26. 42 Wie Fußnote 3. 43 Siehe Mareis (2015), Kapitel 6.2, Sozio-Design und Partizipation.

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Machtgefüge und soziale Strukturen durch eine unkritische Teilhabe erst recht aktualisieren und verfestigen.44 Produktive Vorschläge, wie eine zeitgemäße, sprich historisch-kritische und selbstreflexive Aktualisierung von Entwurfsforschung aussehen könnte, liegen bereits vor. Ich möchte im Folgenden zwei davon exemplarisch aufgreifen. So haben beispielsweise Sophia Prinz und Stephan Moebius vorgeschlagen, dass eine umfassende Kultursoziologie des Designs verschiedenartige Fragekomplexe zusammenführen müsse: erstens Fragen zu rezeptiven Praktiken, die an ein gestaltetes Artefakt gekoppelt sind, zweitens Fragen zu den Praktiken, Wissensformen und Artefaktkomplexen, die an Entwurfs- und Produktionsprozesse gebunden sind und drittens Fragen zu der Art und Weise, wie „Dinge, Diskurse und Praktiken in andere historische und kulturelle Kontexte transferiert werden können und sich dort mit den bestehenden Artefakt- und Praktikenformationen vernetzen“.45 Erst durch die Bündelung dieser unterschiedlichen Fragekomplexe lässt sich das Feld des Designs aus ihrer Sicht, und ich schließe mich dieser an, als soziokulturelles Phänomen in seiner ganzen Komplexität verstehen und adressieren. Ein weiterer jüngst von Clive Dilnot lancierter Ansatz beschäftigt sich mit der Frage, wie Designgeschichte und Entwurfsforschung gegenwärtig auf neue Weise zusammengedacht werden können. Seines Erachtens leidet die Entwurfsforschung seit der Nachkriegszeit daran, dass sie zu sehr auf das „Hier und Jetzt“ konzentriert sei und dadurch sowohl den Blick für zeitliche Entwicklungen als auch die Chance auf Weiterentwicklung und Erneuerung verloren habe.46 Dilnot kritisiert in diesem Zusammenhang ebenso die Designgeschichte, der es bis anhin nicht gelungen sei, die historische Bedeutung von Design – also von menschgemachten artifiziellen Dingen, Strukturen und Systemen – angemessen zu erfassen und deren Auswirkungen für die Zukunft zu erkennen.47 Vor dem Hintergrund dieser Kritik fordert Dilnot ein revidiertes Verständnis von Geschichte, das diese nicht länger nur als Ursache und Grund unserer heutigen Probleme versteht, sondern ebenso als Mittel, um Zukunft als Konzept überhaupt wieder neu zu denken: „We stand at the

44 Siehe Mareis (2013). 45 Prinz/Moebius (2011), S. 16ff. 46 Dilnot (2015), S. 154. 47 Fry et al. (2015), S. viii.

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edge not of ‚futuring‘ but of defuturing. In fact, to large extend the future is already that which has gone from us, slipped beyond our capacity to grasp it.“48 Anders formuliert, wird unsere Zukunft nicht nur durch vergangene Ereignisse und Entwicklungen vorbestimmt, sondern unsere Vorstellung davon, was ‚Zukunft‘ sei, ob wir überhaupt eine Zukunft haben, wie diese gestaltet werden könnte, ist ebenso ein historisches Konstrukt. Mit Geschichte sei immer auch Zukunft gemeint, führt Dilnot weiter aus, eine Zukunft die heute so stark durch die Vergangenheit determiniert sei, dass sie selbst auf dem Spiel stehe.49 In Frage gestellt sind damit zugleich auch modernistische und rationalistische Gesellschafts- und Technikutopien, welche die Designprofession seit Beginn des 20. Jahrhunderts prägten und die bis heute in der Entwurfsforschung nachklingen. Folgt man Dilnot, so bedeutet über Zukunft nachzudenken im Wesentlichen auch, traditionelle, sprich modernistische und technizistische Modelle und Rollenbilder von Design zu revidieren, da diese mit ihrem ungezügelten Innovations-, Konsum- und Fortschrittsdenken zur Entstehung heutiger gesellschaftlicher Probleme und Krisen maßgeblich beigetragen haben. Mit Blick auf das Gesagte scheint eine kritisch-reflexive Neubestimmung von Design und Entwurfsforschung als zeitgenössische Praxis unter Berücksichtigung diskursiver Prozesse der Vermittlung und Re-stabilisierung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unabdingbar. Denn „Gegenwart“ wird von Dilnot als Kreuzungspunkt definiert, an dem die Beziehung zwischen dem Tatsächlichen und dem Möglichen neu ausgelotet, getestet und antizipiert werden kann. Die Problem- und Fragestellungen, die Methoden und Lösungsverfahren, die in der Entwurfsforschung heute verwendet und diskutiert werden, sind in diesem Sinne nicht nur als Spuren und Symptome vergangener Ereignisse und Diskurse zu lesen. Sie verweisen vielmehr über die Gegenwart hinaus auch in eine historisch vorgeformte Zukunft. Die Art und Weise, wie sich Designerinnen und Designer, Entwurfsforscherinnen und -forscher auf diese geschichtlichen Zusammenhänge beziehen, welches Bewusstsein sie daraus für die Probleme, Aporien und Komplexitäten des Designs ableiten, ist entscheidend für ihre gegenwärtige Praxis: „the designer is reactive to historical circumstance and addressing them in a particular way,

48 Dilnot (2015), S. 134. 49 Ebd., S. 133f.

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seeing in them both a problem and a possibility” 50 Ein multiperspektivisches, selbstreflexives Verständnis von Geschichte, wie ich es am Beispiel der Diskursanalyse in der Tradition von Michel Foucault in diesem Text vorgestellt habe, könnte ein möglicher Schlüssel sein, um die dringend benötigte Neubestimmung des Entwerfens in der Verzahnung von praxisorientierter Entwurfsforschung und kritisch-reflexiver Designgeschichte in Angriff zu nehmen.

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50 Ebd., S. 242.

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MANIFESTATIONEN IM ENTWURF | Forschungsperspektiven

Fry et al. (2015): Tony Fry, Clive Dilnot, Susan C. Stewart, Preface, Pre-face, Essential reading, in: Tony Fry, Clive Dilnot, Susan C. Stewart (Hrsg.), Design and the Question of History, London et al. 2015, S. vii–viii. Jäger (2004): Siegfried Jäger, Kritische Diskursanalyse. Eine Einführung, Münster 2004. Joost et al. (2015): Gesche Jost et al. (Hrsg.), Are we there yet? Perspectives on Design Research, Basel 2015 (im Erscheinen). Kimbell (2011): Lucy Kimbell, Designing future practices. Notes for talk at MakingCraftingDesigning Symposium, Akademie Schloss Solitude, Februar 2011. PDF zu beziehen auf: http://www.lucykimbell.com/stuff/Kimbell_MakingCrafting_Feb2011_public. pdf (Stand 8. Juli 2015). Knorr Cetina (2002): Karin Knorr Cetina, Wissenskulturen. Ein Vergleich naturwissenschaftlicher Wissensformen, Frankfurt a. M. 2002. Krippendorff (2007): Klaus Krippendorff, Design Research, an Oxymoron?, in: Ralf Michel (Hrsg.), Design Research Now. Essays and selected projects, Basel 2007, S. 67-80. Krippendorff (2013): Klaus Krippendorff, Die semantische Wende. Eine neue Grundlage für das Design, hg. von Ralf Michel, Basel 2013. Mareis (2011): Claudia Mareis, Design als Wissenskultur. Interferenzen zwischen Designund Wissensdiskursen seit 1960, Bielefeld 2011. Mareis (2011): Claudia Mareis, The Epistemology of the Unspoken. On the concept of tacit knowledge within contemporary design research. In: Design Issues 28 (2012), Nr. 2, S. 61–71. Mareis (2013): Claudia Mareis, Wer gestaltet die Gestaltung? Zur ambivalenten Verfassung von partizipatorischem Design, in: Claudia Mareis, Mattias Held, Gesche Joost (Hrsg.), Wer gestaltet die Gestaltung? Praxis, Theorie und Geschichte des partizipatorischen Designs, Bielefeld 2013, S. 9–20. Mareis (2015): Claudia Mareis, Theorien des Designs zur Einführung, Hamburg 2015. Milev (2011): Yana Milev, Emergency Design, Berlin 2011. Prinz/Moebius (2011): Sophia Prinz, Stephan Moebius, Zur Kultursoziologie des Designs, in: Sophia Prinz, Stephan Moebius (Hrsg.), Das Design der Gesellschaft. Zur Kultursoziologie des Designs, Bielefeld 2011, S. 9–25. Sarasin (2003): Philipp Sarasin, Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, Frankfurt a. M. 2003. Schäffner (2013): Wolfgang Schäffner, Vom Wissen zum Entwurf. Das Projekt der Forschung, in: Jürgen Weidinger (Hrsg.), Entwurfsbasiert Forschen, Berlin 2013, S. 55–64. Selle (2007): Gert Selle, Geschichte des Design in Deutschland. Aktualisierte und erweiterte Neuausgabe, Frankfurt a. M. 2007.

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Epistemische Praktiken in Gestaltungsund Herstellungsprozessen

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„Die menschliche Arbeit, die in den Dingen steckt“: Peter Zumthors Werkzeichnungen Ende der 1980er Jahre PHILIP URSPRUNG

Der zur Ausstellung Partituren und Bilder: Architektonische Arbeiten aus dem Atelier Peter Zumthor publizierte Katalog, der zuerst 1989 und dann in einer zweiten Auflage 1994 erschien, ermöglicht es, die Intentionen des Architekten bei der Darstellung früher Werke, wie das Wohn- und Atelierhauses in Haldenstein, den Schutzbauten für Ausgrabungen mit römischen Funden in Chur und der Caplutta Sogn Benedetg (St. Benedikts-Kapelle) in Sumvitg zwischen 1985 und 1988, zu verfolgen.1 Die Bauten befinden sich im Kanton Graubünden, abseits der Zentren. Zumthor war sich bewusst, dass die Darstellung der Bauten mittels Ausstellungen und Publikationen für die Rezeption unumgänglich war. Der Katalog enthält neben einem Text des Architekturtheoretikers Martin Steinmann und einem Text von Peter Zumthor selber eine Reihe von Werkzeichnungen und die Schwarzweiss-Fotografien des Zürcher Künstlers Hans Danuser. Der Katalog ist nicht nur deshalb von Interesse, weil hier zum ersten Mal jene Fotografien veröffentlicht wurden, welche die Rezeption des Oeuvres von Zumthor stark prägten.2 (Abb. 1) Er ist auch wegen der minutiösen Werkzeichnungen von Belang, welche es erlauben, dem Architekten gleichsam bei der Arbeit über die Schulter zu Blicken. Der Katalog markiert jenen kurzen Moment am Ende der 1980er Jahre als die Karten der Architekturdarstellung neu gemischt wurden.

1

Der vorliegende Text wurde zuerst publiziert in Bildwelten des Wissens: Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik, Bd. 11, „Planbilder: Medien der Architekturgestaltung“, hg. von Sarah Hillnhütter, Berlin, De Gruyter, 2015, S. 15–23. Vgl. Häfliger et al. (1989).

2

Vgl. Ursprung (2009), S. 61–78.

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MANIFESTATIONEN IM ENTWURF | Epistemische Praktiken

Abb. 1: Hans Danuser, Caplutta Sogn Benedetg Sumvitg, Bild I

Zumthor, geboren 1943, war zur Zeit der Ausstellung Mitte vierzig. Er hatte in den 1970er Jahren als Bauberater und Siedlungsinventarisator für die Kantonale Denkmalpflege Graubünden gearbeitet und nebenher einige kleine Umbauten, wie den Wohnturm Casti in Lumbrein (1970) geschaffen. Seit 1978 führte er ein eigenes Büro. Zur Zeit der Ausstellung konnte er bereits auf diverse realisierte Bauten zurückblicken, darunter die Ustria Caffe de Mont in Vella (1971), das Haus Dierauer, Haldenstein (1976), das Haus Räth, Haldenstein (1983), die Kreisschule Churwalden (1983), die Arztpraxis Trepp/Bisaz in Chur (1984) und das Haus Fontana in Fidaz (1986).3 Er hatte publiziert,

3

Vgl. Petersen (2013), ETH Zürich (Referent: Akos Moravanszky), 22.10.2013, Manuskript.

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Philip Ursprung | „DIE MENSCHLICHE ARBEIT, DIE IN DEN DINGEN STECKT“

gelehrt (an der Universität Zürich und dem Southern California Institute of Architecture), gebaut, sich kulturpolitisch engagiert und sich einen Ruf als Architekt geschaffen, der behutsam mit historischer Bausubstanz umgehen kann. In seinem Werkkatalog von 2014 verschweigt er die in den 1970er und frühen 1980er Jahren entstandenen Gebäude zwar nicht. Aber er dokumentiert sie auch nicht und geht nicht weiter auf sie ein, weil sie, wie er schreibt, aus einer Zeit stammen, in der er „anfänglich eher spielerisch und unbekümmert, später mehr und mehr unter dem Einfluss von Vorbildern arbeitete.“4 Zumthors Karriere, gekennzeichnet durch eine Phase, in der nur bescheidene Bauten, namentlich auch Um- und Einbauten, realisiert werden, ist charakteristisch für die ganze Generation der damals jüngeren Architekten. Tatsächlich fällt es aus heutiger Perspektive schwer, sich vorzustellen, dass während der 1970er und 1980er Jahre der Rang der Architekten weniger dadurch bestimmt war, was sie bauten, als durch das, was sie nicht bauten. Mangels großen Aufträgen richteten viele Architekten ihre Energie auf die Produktion von Skizzen, Aquarellen, Grafiken, Collagen, Modellen und Texten. Man kann diese Medien unter der Kategorie „Planbilder“ subsumieren, wenn darunter die Darstellung des Nichtgebauten verstanden wird. Eine Spezifik der 1980er Jahre ist allerdings, dass der Ort, wo diese Darstellungselemente präsentiert wurden, die Hauptrolle spielte, nämlich die Architekturausstellung. Architektur fand, wenn man so will, erst im Rahmen einer Ausstellung tatsächlich statt – unabhängig davon, ob sie bereits gebaut war oder vielleicht auch gar nie realisiert werden würde, ob sie als Planbild existierte oder als Bau. Die Tatsache, dass Architektur von einer dafür legitimierten Institution – also nicht dem Architekturbüro selber – vermittelt wurde, galt erst als Nachweis ihrer Relevanz. Die Ausstellung übertraf somit nicht nur Gebaute, sondern auch das Gedruckte an Wirkung. Und der Ausstellungskatalog wurde, gerade weil er sich nicht bloß auf das Gebäude bezog, sondern auf eine Ausstellung, zu einer kostbaren Währung. Im Unterschied zur Kunst rückte in der Architektur der Wert des Originals quasi hinter denjenigen der Repräsentation. Eine Konsequenz davon ist, dass für manche Architekturfotografien hohe Preise bezahlt werden, während es keine Sammlungen von bedeutenden Gebäuden gibt.5

4

Zumthor (2014), S. 9.

5

Vgl. Ursprung (2010).

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MANIFESTATIONEN IM ENTWURF | Epistemische Praktiken

Im Zentrum dieser neuen Bedeutungsökonomie stand die Architekturbiennale Venedig. Sie war 1980 ins Leben gerufen worden, löste sich aus der Kunstbiennale heraus und wurde fortan neben der Triennale in Mailand zur wichtigsten Plattform für diesen Austausch. Im Unterschied zur Kunstbiennale war sie nie identisch mit dem Markt für Architekturdarstellungen. Dieser entstand zwar zur selben Zeit, angeführt von der seit 1978 auf Architekturzeichnungen spezialisierten Galerie von Max Protetch in New York und rückte die Architekturzeichnung ins Licht des prosperierenden Kunstmarktes. Aber bis heute hat sich kein nennenswerter Markt für Planbilder etablieren können. Weil die Architektur träge reagiert, konnte sie nur mit Verzögerung vom weltweiten ökonomischen Boom profitieren, der in den 1980er Jahren auf der Rezession der 1970er Jahre gefolgt war. Erst ab den frühen 1990er Jahren wurden die avancierten Architekten der mittleren Generation mit einer zunehmenden Anzahl von Aufträgen konfrontiert. Zumthors Ausstellung, die Anfang Oktober 1988 in Luzern eröffnet wurde – übrigens nur einen Tag nach der Ausstellung Architektur Denkform von Herzog & de Meuron im Architekturmuseum Basel – steht am Schnittpunkt dieser Veränderung und zeugt davon, wie brisant damals die Frage nach der Darstellung von Architektur war.6 Die zeitliche Nähe der beiden Ausstellungen ist interessant, aber es gab damals, wie es scheint, keinen Austausch zwischen Zumthor und Herzog & de Meuron.7 Es ist aufschlussreich zu sehen, dass Zumthor sich in seinem Text vehement gegen die Fixierung (und Reduzierung) auf die Architekturzeichnung als künstlerisches Objekt richtet. Im Moment, wo die Architektur und die bildende Kunst so nah wie seit den 1920er Jahren nicht mehr zusammengerückt zu sein scheinen, insistiert er auf deren Unterschied. Sein Plädoyer für die „Wirklichkeit“ der Architektur ist in dieser Hinsicht sehr dezidiert:

6

Vgl. Herzog & de Meuron, Architektur Denkform, Eine Ausstellung im Architekturmuseum vom 1. Oktober bis 20. November 1988, Basel, 1988.

7

Peter Zumthor erinnert sich, die Ausstellung in Basel gesehen zu haben. Peter Zumthor, Gespräch mit dem Autor, Zürich, Mai 2012; Jacques Herzog kann sich nicht erinnern, die Ausstellung von Zumthor gesehen zu haben. Jacques Herzog, Gespräch mit dem Autor, Basel, Januar 2012.

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„Wenn Realismus und Künstlichkeit in einer Architekturdarstellung zu gross werden, wenn die Darstellung keine ‚offenen Stellen’ mehr enthält, in die wir mit unserer Imagination eindringen könnten und die die Neugier nach der Wirklichkeit des dargestellten Objektes aufkommen lassen, dann wird die Darstellung selber zum Objekt der Begierde. Das Verlangen nach dem wirklichen Objekt verblasst. Wenig oder nichts mehr verweist auf das gemeinte Reale, das ausserhalb der Darstellung Liegende. Die Darstellung enthält kein Versprechen mehr. Sie meint sich selber. Darstellungen dieser Art – Architekturzeichnungen als eigenständige Kunstprodukte – haben in meiner Arbeit keine Bedeutung.“8

Zumthor grenzte sich damit, ohne Namen zu nennen, von Berufskollegen wie Daniel Liebeskind, Zaha Hadid, Stephen Holl, Aldo Rossi und anderen ab, welche in jener Zeit im Bereich der Architekturdarstellung tonangebend waren und deren Werke in Ausstellungen zu sehen waren und teilweise auch im Handel zirkulierten. Es ging Zumthor allerdings nicht darum, spezifische Positionen zu kritisieren, also beispielsweise um das, was Martin Steinmann im selben Katalog mit dem Verweis auf die „postmodernen Bauten“ tut.9 Es ging ihm, so zumindest meine These, vielmehr darum, für die Ausstellung ganz explizit ein Medium auszuwählen und andere, derer er sich durchaus selber auch gerne bediente, aus konzeptuellen Gründen wegzulassen. Im etwas früher erschienen Katalog zur Ausstellung von Herzog & de Meuron in Basel beispielsweise wird für die Projekte meistens die ganze Bandbreite von Medien aktiviert, von der Modellfotografie über die dokumentarische Fotografie, die Werkzeichnung bis hin zu bereinigten Darstellungen von Schnitt- und Aufriss, sowie kurzen Steckbriefen mit technischen Daten. Auch Herzog & de Meuron relativieren die Bedeutung des Gebauten, wenn Sie auf der Rückseite ihres Ausstellungskatalogs von 1988 schreiben: „Die Wirklichkeit der Architektur ist nicht die gebaute Architektur. Eine Architektur bildet außerhalb dieser Zustandsform von gebaut/nicht gebaut eine eigene Wirklichkeit, vergleichbar der autonomen Wirklichkeit eines Bildes oder einer Skulptur.“10

8

Zumthor (1989), S. 9.

9

Steinmann (1989), S. 8.

10 Herzog & de Meuron (1988), Umschlagrückseite.

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Abb. 2: Atelier Zumthor, Haldenstein, Rückfassade Nord, Montageplan Elemente

Zumthors methodische Stringenz wird aus dem nächsten Abschnitt seines Textes deutlich, in welchem er betont, dass es in der Ausstellung auch nicht um die Präsentation von Entwurfszeichnungen geht. Denn diese „Zeichnungen und Skizzen, die beim Entwerfen entstehen“, und die als „Spuren der architektonischen Erfindung“ Zeugnis abgaben von der „Erfolgen und Irrungen“ gehörten zu seinen eigenen Instrumenten des Entwerfens und hätten den Besuchern der Ausstellung zweifellos gefallen.11 Ebenso wenig sollen in der Ausstellung „Projektzeichnungen“ gezeigt werden, im Sinne einer „umfassenden, aber vorläufigen Darstellung einer Idee“, die sich an „Bauherren, Behörden oder Preisrichter“ richtet.12 Zumthor setzte auf die „Werkzeichnungen“ oder „Werkpläne“.13 (Abb. 2) Diese wollte er in der Ausstellung präsentieren, denn sie haben, wie er schreibt, „Charakter von anatomischen Zeichnungen.“ Sie zeigen, wie er meint, „etwas vom Geheimnis und der inneren Spannung, die der fertig gefügte architektonische Körper nicht mehr preisgibt: Die Kunst des Fügens, verborgene Geometrien, die Reibung der Materialien, die inneren Kräfte des Tragens und Haltens, die menschliche Arbeit, die in den Dingen steckt.“

11 Zumthor (1989), S. 9. 12 Ebd. 13 Ebd., S. 10.

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So gibt beispielsweise die Werkzeichnung „Caplutta Sogn Benedetg, Sumvitg, Schnittdetail Wand/Fenster/Traufe“ millimetergenau, fast wie auf einem Röntgenbild, Einblick in die Konstruktion der Kapelle und demonstriert, wie der Architekt die unterschiedlichen Flächen, also Schindeln, Fenster, Blechdach, etc., aneinanderfügt, ohne sie mit einander zu verschmelzen. (Abb. 3) Der Schnittzeichnung gegenübergestellt ist eine Aufnahme von Hans Danuser, welche den Betrachtern den Vergleich zur fertig gebauten Kapelle ermöglicht. (Abb. 4) Noch einprägsamer als die Metapher der anatomischen Zeichnung ist der Vergleich mit der Partitur. Er betrachtet sie als „verbindliche Grundlage“ für die „Aufführung“ und betont, dass nur das, was nicht in ihnen enthalten ist, „der Aufführungspraxis und der Interpretation durch die Ausführenden“ überlassen sei.

Abb. 3: Caplutta Sogn Benedetg, Sumvitg, Schnittdetail Wand/Fenster/Traufe (Ausschnitt)

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„Diese Ausstellung zeigt architektonische Partituren. Und sie zeigt Bilder von Werken, die nach diesen Partituren aufgeführt wurden. Die Sprache der Bilder ist die künstlerische Sprache des Fotografen Hans Danuser. Er spricht in dieser Sprache über unsere Aufführungen.“14

Der letzte Abschnitt des Textes zeugt davon, wie weit sich die Architektur in jener Zeit in die Hände von anderen Medien begibt und wie offen die Schranken der Gattungen für einen Moment waren. Einerseits lehnte sich die Architektur an die aus der Praxis der Bildenden Kunst stammende Konvention an, mittels Ausstellungen an die Öffentlichkeit zu treten. Andrerseits suchte sie die Nähe zur Fotografie. Und schließlich gebärdete sie sich, zumindest wenn wir Zumthor folgen, auch stellenweise wie die Musik. Ein Grund dafür, dass Architektinnen und Architekten die Grenzen der Gattung infrage stellten, war zweifellos, dass sie sich bemühten, aus der Isolation herauszukommen, in welche die Architektur in der Nachkriegszeit geraten war. Denn die Bautätigkeit zur Zeit des Wirtschaftswunders hatte dazu geführt, dass die Architektur im Vergleich zur Kunst oder auch der Musik ihre einstige kulturelle Autonomie eingebüsst hatte. In den Augen einer am kritischen Diskurs interessierten Öffentlichkeit war sie zum Diener der Bauindustrie herabgesunken. Für die 1968er Generation verkörperte sie gleichsam das „Establishment.“ Danusers Fotografien haben die Rezeption von Zumthors Bauten in den 1990er Jahren entscheidend geprägt. Die Werkzeichnungen waren hingegen, wie der Architekt selber anmerkt, in erster Linie für Spezialisten gedacht. Und dennoch ist ihre Präsenz in der Ausstellung und im Katalog bedenkenswert ebenso wie ihre Charakterisierung durch den Architekten als „Partituren“. Denn seit langem hatte kein anderer Architekt so klar die Hypothese geäussert, dass nicht das Gebäude selber als abgeschlossenes, fertiges Produkt (beziehungsweise die Verweise auf dieses Produkt) im Zentrum einer Ausstellung stehen sollte, sondern das, was zwischen der Intention und der Wirklichkeit steht, das, was den Prozess der Realisierung erst in Gang setzen kann, nämlich der Werkplan. Wenn Zumthor, wie oben zitiert, auf die „menschliche Arbeit, die in den Dingen steckt“ verweist, dann deutet er auf ein Thema hin welches die Architektur im 19. und 20. Jahrhundert weitgehend verdrängt hatte, nämlich die von Karl Marx diagnostizierte Entfremdung der Menschen von den Produkten ihrer Arbeit.

14 Dieses und die folgenden Zitate ebd., S. 10.

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Abb. 4: Hans Danuser, Caplutta Sogn Benedetg Sumvitg, Bild III

Die für die visuelle Kultur des 19. und 20. Jahrhunderts charakteristische Operation der Repräsentation, also der Übersetzung einer Realität in ein anderes Medium, entspricht der kapitalistischen Ökonomie, weil sie diese Entfremdung ausblendet. In einer Darstellungsökonomie, die sich um die SelbstReferenzialität von Kunst drehte, die also durch das dominiert war, was seit dem mittleren 19. Jahrhundert mit l’art pour l’art bezeichnet wurde, gab es für das arbeitende Subjekt keinen Platz. Zumthor bringt in seiner Ausstellung somit auch die in der Architekturdiskussion meistens verdrängte Figur des arbeitenden Menschen wieder ins Spiel. Dies erklärt seine Skepsis gegenüber jeglicher Form von Abstraktion und sein fortwährendes Insistieren auf dem Singulären, dem Konkreten und Wirklichen. Dies erklärt auch die Ablehnung der Skizze, in welcher der

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MANIFESTATIONEN IM ENTWURF | Epistemische Praktiken

Entwurfsprozess gleichsam verkürzt – und als künstlerischer, beziehungsweise „genialer“ Akt heroisiert ist. Es geht ihm darum, den Plan nicht als Fetisch, das heisst als Ersatz für das Ganze, zu inszenieren und zu instrumentalisieren, sondern als Manifestation eines komplizierten, lang dauernden Arbeitsprozesses, ohne den Architektur nicht möglich ist und ohne den

Abb. 5: Atelier Zumthor, Haldenstein, Fassadenstudie.

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es auch keine gebaute Architektur geben kann. Gerade dies legitimierte es, den Plan in Ausstellungen oder Publikationen abzubilden und zwar möglichst als Objekt, als Zeugnis, und nicht grafisch bereinigt wie in so manchen Architekturpublikationen. In Gestalt der Werkpläne ist, so meine These, die spezifische Arbeit der Architekten präsent. Es ist deshalb konsequent, dass er die Werkzeichnungen nicht – wie in Architekturpublikationen üblich, und wie er selber es später auch zu tun pflegte – für die Katalog überarbeitete und „bereinigte“. Zumthor druckte die Werkpläne vielmehr in Form von dokumentarischen Fotos ab – so, dass sich die vielen einzelnen Striche der aus Latten konstruierten Fassaden verfolgen lassen, dass die Massangaben und Hinweise ebenso wie die Planköpfe lesbar sind und man den Bau aufgrund der vorliegenden Daten nachbauen könnte. „Atelier Zumthor, Haldenstein, Fassadenstudie“ befindet sich an der Grenze zwischen Skizze und Werkzeichnung. (Abb. 5) Jede einzelne Latte ist gezeichnet, die Konstruktionsart hingegen wird nicht deutlich gemacht. Die Zeichnung demonstriert einerseits die formale Wirkung, die vom Bau ausgehen sollte und die an die Wandzeichnungen eines Sol LeWitt oder die Gemälde einer Agnes Martin erinnert. Es zeugt aber auch von der Herausforderung und gleichzeitig vom Genuss, den es bereitet, eine schier endlose Reihe von Linien von Hand zu Papier zu bringen. Beim Betrachten des Planes meint man fast, die Geräusche des Aufsetzens des Stiftes, des Ziehens der Linie, des Verschiebens des Maßstabes zu hören und kann sich hineinversetzen in die Mischung aus Aufmerksamkeit und Tagträumerei, die der Zeichner damals verspürt haben mag. Mit „Schutzbauten über römischen Funden, Chur. Details Eingang und Passerelle, Grundriss und Schnitt“15 dokumentiert Zumthor seine eigenen Werkzeichnungen so, wie ein Denkmalpfleger Archivmaterial darstellen würde, um auch ihre Materialität zu betonen. (Abb. 6) Er verbirgt dabei nicht den repetitiven, zuweilen in der Herstellung sicherlich auch eintönigen Charakter der Plandarstellungen, also die säuberlich nebeneinander aufgezeichneten Latten, die minutiös umrissenen Steine, die Details der Konstruktion. Den schieren Strichen – damals, fast ein Jahrzehnt vor der Einführung von Computern in den Schweizer Architekturbüros noch von Hand gezogen - ist gleichzeitig die Mühe wie der Genuss der Arbeit anzusehen.

15 Ebd., S. 50.

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Abb. 6: Schutzbauten über römischen Funden, Chur. Details Eingang und Passerelle, Grundriss und Schnitt.

Die Betrachter können die Zeitdauer der Herstellung nachvollziehen und sich vorübergehend mit dem Architekten, den Bauzeichnern, den Handwerkern identifizieren. Vergleichbar der Musik ist die Architektur im Moment, in dem die Leser den Katalog aufschlagen, für einen Augenblick anwesend, präsent und zugleich, in ihrer gebauten Form, unfassbar. Diese Konstellation ließ sich allerdings nicht wiederholen. Zumthor arbeitete in der Folge nicht mehr mit dem Künstler und Fotografen Hans Danuser zusammen und auch Werkzeichnungen finden sich in den Ausstellungen nicht mehr. Mit dem – unter anderem auch durch die Ausstellung und die damit einhergehende Katalogpublikation geförderten – Erfolg in der Welt der Architektur rückte die Frage der Repräsentation an den Rand. Der Rang der Architekten sollte sich ab den frühen 1990er Jahren wieder an dem messen, was sie bauten und nicht daran, was sie nicht bauten. Die Thematik der Darstellung

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Philip Ursprung | „DIE MENSCHLICHE ARBEIT, DIE IN DEN DINGEN STECKT“

ihrer Arbeit wurde absorbiert von der Figur des Stararchitekten, der scheinbar mühelos über jeden Widerstand triumphiert. Die Architekturfotografie wiederum trat in die zweite Reihe zurück und begnügte sich, von wenigen Ausnahmen abgesehen, mit der Rolle der Dokumentation und Propaganda von Bauten. Eine kurze und außergewöhnlich fruchtbare Phase in der langen Geschichte der Planbilder war zu Ende.

LITERATUR Häfliger/Hüsler (1989): Toni Häflinger, Heinz Hüsler (Hrsg): Partituren und Bilder, Architektonische Arbeiten aus dem Atelier Peter Zumthor 1985–1988, Ausstellungskatalog (mit Fotografienn von Hans Danuser), Architekturgalerie Luzern, 2.–23. Oktober 1988, Haus der Architektur, Graz, 27. Juli – 18. August 1989, Muttenz 1989. Herzog/de Meuron: Jacques Herzog, Pierre de Meuron: Architektur Denkform, Eine Ausstellung im Architekturmuseum vom 1. Oktober bis 20. November 1988, Basel 1988. Petersen (2013): Palle Petersen, Zumthor vor Zumthor: Soziale und kulturpolitische Tätigkeit 1968–1990 und frühe Bautätigkeit (1970–1986), Wahlfacharbeit, ETH Zürich, 22.10.2013, Manuskript. Steinmann (1989): Martin Steinmann, Techne: Zur Arbeit von Peter Zumthor, Ebd., S. 6–8. Ursprung (2009): Philip Ursprung, Die Visualisierung der Unsichtbaren: Hans Danuser und Peter Zumthor, eine Revision, in: Hans Danuser, Köbi Gantenbein, Philip Ursprung (Hrsg.), Zumthor Sehen, Zürich 2009, S. 61–78. Ursprung (2010): Philip Ursprung, The Indispensable Catalogue, in: Log 20 (2010), S. 99–103. Zumthor (1989): Peter Zumthor, Partituren und Bilder, in: Toni Häfliger, Heinz Hüsler, Roman Lüscher, Heinz Wirz (Hrsg.), Partituren und Bilder, S. 9. Zumthor (2014): Peter Zumthor: Von innen nach außen, bis alles stimmt, in: Thomas Durisch (Hrsg.), Peter Zumthor, 1985–1989, Bauten und Projekte, Zürich 2014, Bd. 1.

ABBILDUNGEN Abb. 1. Hans Danuser, CAPLUTTA SOGN BENEDETG SUMVITG, Bild I Fotografien auf Barytpapier, 6–teilig, I, II 1 – II 2, III, IV 1 – IV 2, je auf Papierformat 50 x 40 cm, 1988. Abb. 2. Atelier Zumthor, Haldenstein, Rückfassade Nord, Montageplan Elemente.

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Abb. 3. Caplutta Sogn Benedetg, Sumvitg, Schnittdetail Wand/Fenster/Traufe. Abb. 4. Hans Danuser, CAPLUTTA SOGN BENEDETG SUMVITG, Bild III Fotografien auf Barytpapier, 6–teilig, I, II 1 – II 2, III, IV 1 – IV 2, je auf Papierformat 50 x 40 cm, 1988 Abb. 5. Atelier Zumthor, Haldenstein, Fassadenstudie. Abb. 6. Schutzbauten über römischen Funden, Chur. Details Eingang und Passerelle, Grundriss und Schnitt.

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Architecture from nothing LIUDMILA & VLADISLAV KIRPICHEV

Als ein freies, von politischen Bewegungen unabhängiges Projekt betreiben Liudmila und Vladislav Kirpichev seit 1977 ihre in Moskau ansässige Architektur-Schule, „Experimental Children‘s Architectural Studio“ (EDAS). Ihre Lernmethoden fokussieren dynamische Entstehungsprozesse, die im Dialog mit den Schülern Fragenstellungen von Form, Rhythmus, Textur und Farbe verhandeln. Der folgenden Beitrag „Architecture from Nothing“ (Übersetzung und Bild-/Textarrangement Carolin Lange, alle Abbildungen: EDAS) beschreibt programmatisch einen Weg, den Kinder im Verlauf der Kurse beschreiten. Beginnend mit dem unbefangenen spielerischen Experiment mit Wahrnehmungen, im Umgang mit wenig konnotierten, alltäglichen Materialien entwickeln sich sukzessive Ideen für ein Projekt. Unbewusste und bewusste Handlungen am Material wechseln sich ab und werden im Dialog vermittelt und reflektiert. Neben den explizit gestalterischen Fragestellungen spielen auch Tugenden (soft skills), die als entscheidend (nicht nur für Architekten) angesehen werden eine Rolle: eine Disziplin des Machens, die sich im geschickten Umgang mit dem Material entwickelt, ist Routine und Geduld.

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MANIFESTATIONEN IM ENTWURF | Epistemische Praktiken

#1

„Unsere Arbeit ist begleitet von einer vielschichtigen Debatte, denn wir verhandeln ein sensibles Thema: Erziehung. Und so haben wir uns stets bemüht, unabhängig von den uns umgebenden politischen Situationen zu operieren. Unser pädagogisches Bestreben zielt auf eine Provokation des Denkens. Wir fördern eigenständiges Nachdenken und fordern dabei ausdrücklich lediglich eigene Ideen umzusetzen. Diesem Anspruch folgend, konzipieren wir unsere Kurse, die mehr vermitteln als das reine Erlernen von Techniken. Ausgebildet als Architekt, kann man leicht zwischen einem Werk von Le Corbusier oder dem eines anderen Architekten unterscheiden. Die Reaktion eines naiven Kindes, auf eine Aufgabe, die man ihm stellt, kann man nie vorhersagen. Bei Kindern weiß man nie, was sie dich fragen werden.“

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„Ein Projekt beginnt spielerisch und entwickelt sich im Dialog mit jedem einzelnen Kind. So sitzen in unserem Studio in Moskau Kinder allen Alters zusammen, in einem großen Raum, an einem Tisch. Materialien und Medien sind vor Ort, bereit erkundet zu werden. Während des Schneidens des Papiers wird die Linie geformt und durch die Bewegung der Hand gestaltet. Was tut ein Kind? Nimmt es einen Pinsel, den Finger, ein Lineal? Wir erleben verschiedenste unvorhersehbare Reaktionen. Für uns ist es wichtig, dass sie im Experiment einen persönlichen Zugang zum Medium und dessen Möglichkeiten bekommen. Später lernen unsere Schüler Technologien (technologies).“

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#2

MANIFESTATIONEN IM ENTWURF | Epistemische Praktiken

#3

„Technologien verstehen wir als eine Ansammlung von Techniken. Dies verhält sich wie ein Puzzle. Das Lernen findet hierbei nicht stufenweise, wie im regulären Schulunterricht statt. Unsere Schüler lernen gleichzeitig verschiedene Techniken, die Sie für die Umsetzung ihres Projekts benötigen. So entwickelt jedes Kind sein eigenes Set an Strategien und erarbeitet eigene Techniken. Im Erforschen des Mediums dürfen sie zunächst frei verfahren. Sind nach einiger Zeit eine Reihe an Werken entstanden, setzen wir uns zusammen und besprechen uns. Im Dialog fordern wir sieauf, ihre Arbeiten zu analysieren und eine Entscheidung zu treffen, was sie aus diesen ersten Schritten entwickeln wollen. Das eigene Interesse formt hierbei das Projekt.“

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„Wir verbringen viel Zeit mit ihnen, um zu spielen. Dabei folgen wir der Idee, einfache Bausteine so zu manipulieren, dass in ihrer Addition komplexe Formen entstehen. In der Förderung von Eigeninitiative verfolgen wir auch eine Disziplin des Machens. Dies ist ein wesentlicher Bestandteil des Prozesses. Von klein auf vermitteln wir unseren Schülern eine Routine im Arbeiten. Nehmen wir beispielsweise das Zusammenfügen kleinster Elemente: Diese Technik erfordert und gibt Zeit. Zeit, um zu lernen Bewegungen und Handlungen zu steuern, einen Prozess zu kontrollieren und die Form des Objektes selbst zu bestimmen. Wir sind davon überzeugt, dass die Vermittlung dieser Eigenschaften überaus wichtig ist, auch in Hinblick auf ihre berufliche Zukunft.“

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#4

„Wir haben eine wichtige Regel: Wenn sich ein Kind für ein Projekt entschieden hat, muss es dieses fertigstellen. Dabei können Wochen oder Monate vergehen, doch das Vorhaben wird abgeschlossen. Ist ein Kind seiner Arbeit überdrüssig und braucht Abstand davon, kann es etwas anderes tun. Das Projekt wird dann für einige Zeit beiseite gelegt. Anschließend liegt es an uns, auf spielerische Art dafür zu sorgen, dass es nicht in Vergessenheit gerät, denn es ist wichtig ein Vorhaben zum Abschluss zu bringen. Stößt es dabei auf ein Problem, kann es die Mitarbeit eines Schülers in Anspruch nehmen. Die übertragene Aufgabe, muss hierbei jedoch klar und direkt artikuliert werden, denn Architekten müssen in der Lage sein, Mitarbeiter in ihre Aufgaben einzuweisen. Der russische Maler Pavel Filinov beschreibt seine Praxis als analytische Malerei und bearbeitete großformatige Leinwände mit Hilfe eines sehr dünnen Pinsels. Er verfolgte das Prinzip, einen Gegenstand nicht durch die Darstellung seiner äußeren, sichtbaren Form, sondern mittels der Vergegenwärtigung seiner inneren Funktionen und Prozesse zu zeigen.“

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„Diese Strategie kann man hinsichtlich der Frage, wann ein Projekt eines Schülers fertig ist, anweden. An was auch immer ein Kind arbeitet, es ist sein Eigenes. Im Dialog bringen wie unsere Erfahrung als Lehrkräfte mit ein. Dabei darf man nicht vergessen, es sind Kinder. Ein Kind ist auch mal faul, natürlich ist es das. Deswegen versuchen wir, ihnen die einzelnen Schritte, die ein Projekt durchläuft, von der Planung bis zur Umsetzung, spielerisch nahezubringen. Wir provozieren, über den Prozess einer Arbeit nachzudenken. So verstehen sie besser, wann ein Projekt wirklich ready (abgeschlossen) ist. In unserer Schule haben wir einen Jungen, der sich zur Aufgabe gestellt hat, aus kleinen Blöcken einen Turm zu bauen. Für ihn ist sein Projekt fertig, wenn der Turm zwei Meter hoch ist. Seit vier Jahren baut Igor nun seinen Turm. Der Junge wächst und mit ihm Stück für Stück sein Werk. Das ist readiness (Bereitschaft).“

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#5

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#6

„Wir sind omnivor, alles fressend. Obwohl unsere Bibliothek in Moskau mittlerweile um die zehntausend Bücher umfasst, lehren wir Theorie nicht aus Büchern. Stattdessen unternehmen wir Exkursionen in kleinen Gruppen, betrachten Bauwerke vor Ort oder besuchen Museen. Unsere jüngeren Schüler sind bei diesen Ausflügen eher damit beschäftigt umher zu rennen oder auf dem Fußboden zu liegen. Doch selbst dann ist es uns wichtig, mit ihnen vor Ort zu sein. Wir bemühen wir uns, den Durst nach Wissen zu kultivieren. Die Kinder verstehen im Erleben. Non-verbale Kommunikation, automatisch nachvollzogen.

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Liudmila & Vladislav Kirpichev | ARCHITECTURE FROM NOTHING

Nach achtunddreißig Jahren blicken wir auf viele Architekten unter unseren ehemaligen Schülern, aber es sind auch eine Anzahl anderer Berufsgruppen vertreten: Wir haben einen berühmten Chefkoch in Moskau, einen Schriftsteller, Anwälte und Berufe in der Wirtschaft. Gemeinsam ist ihnen, dass sie sehr sicher und kompetent in ihrer Arbeit sind.“

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MANIFESTATIONEN IM ENTWURF | Epistemische Praktiken

#7

„Wir lernen viel von den Kindern. Doch heute ist das, was wir von ihnen lernen, nicht mehr so einfach in Worte zu fassen. Wer ist naiv in diesem Dialog? Wir oder sie? Kinder sind die Gesprächspartner, mit denen wir am weitesten gelangt sind, da sie nie die „richtige“ Antwort auf unsere Frage wissen. Gegenwärtig verfahren wir experimenteller und unsere Dialoge sind hauptsächlich von einer instinktiven Dialektik geleitet. So schafft jede Antwort unmittelbar eine neue Alternative und ruft eine neue Forderung hervor.“

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Liudmila & Vladislav Kirpichev | ARCHITECTURE FROM NOTHING

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Der Entwurf als Objekt. Methodenzirkulation zwischen Kunst und Design SUSANNE KÖNIG

Die jüngste Designforschung bündelt Fragen zur Wissensproduktion angrenzender Disziplinen wie beispielsweise der Wissenschaftsforschung, der Technikgeschichte oder auch der Kulturwissenschaften, um angewendete Designpraktiken und Designforschung zusammenzuführen.1 Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass nicht nur Theoriebildung Erkenntnisse über Designobjekte liefert, sondern auch Designpraktiken. Gestaltung wird als Wissenspraktik und Designobjekte werden als „epistemische Dinge“ betrachtet. Die Designforschung entlehnt hier den von Hans-Jörg Rheinberger in der Wissenschaftsforschung systematisierten Begriff des „epistemischen Dings“, nach dem ein Objekt „einerseits die Verkörperung erworbenen Wissens“2 ist und andererseits ein „verdinglichtes Theorem“3 darstellt, in dem Wissen gespeichert ist. Rheinberger begründet diesen Begriff durch naturwissenschaftliche Experimente. „Epistemische Dinge“ – so der Wissenschaftshistoriker Herbert Mehrtens an den Überlegungen Rheinbergers anknüpfend – seien für den Forscher etwas, „das zu einem praktischen Zweck einigermaßen wiederholbar, kontrollierbar und effizient funktionieren soll.“4

1

Vgl. Mareis (2012), S. 10f.

2

Rheinberger (2006), S. 45.

3

Rheinberger (2006), S. 50.

4

Mehrtens (2008), S. 37.

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Ob das Wissen zwischen den Disziplinen immer gleichförmig zirkuliert, sei dahingestellt, festzuhalten ist jedoch, dass Objekte Träger von Wissen sind und Wissen auch bei ihrer Entwurfsentstehung generiert wird. Da jedoch die Planungs- und Produktionsprozesse oftmals hinter der Oberfläche der Dinge verschwinden, bietet sich für die Beobachtung oder Analyse des in ein Ding eingeschlossenen Wissens, der Entwurf in Form von Modellen und Skizzen als „epistemisches Ding“ an. Fragen des soziokulturellen Kontextes sowie der ökonomischen Distribution schließen daran an. An diese Überlegung anknüpfend, sollen die Objekte von Martino Gamper betrachtet werden. Gampers Objekte begünstigen diese Perspektive, da an seinen Objekten die einzelnen Entwurfsschritte noch sichtbar sind und seine Gestaltung keine einheitliche Oberflächen- und Materialbeschaffenheit erzeugt. Die Materialisierung des Entwurfs basiert bei Gamper auf einem erweiterten Designbegriff, anhand dessen er die unterschiedlichen Entwurfs-, Produktions- und Rezeptionsphasen analysiert, dekonstruiert und rekombiniert. Er wendet demnach für die Gestaltung keine konventionellen Planungsund Produktionsstrategien an, sondern agiert als Handwerker, Designer oder auch als Künstler. Die Aneignung unterschiedlicher Rollenmuster ist in der Kunst eine gängige Praxis, die Gamper sich zunutze macht. Die unterschiedlichen Planungs-, Produktions- und Rezeptionskonzepte, auf die er bei seiner Arbeit zurückgreift und die im Folgenden analysiert werden, erlernte Gamper im Rahmen seiner verschiedenen Ausbildungen: Er machte eine Tischlerlehre in seinem Heimatort Meran in Südtirol, studierte Bildhauerei in der Klasse von Michelangelo Pistoletto an der Akademie der bildenden Künste in Wien und studierte danach Produktdesign in der Klasse von Ron Arad am Royal College of Art in London.5 Vor diesem Hintergrund kombiniert er den Produktionsprozess des Handwerkers mit dem Planungsentwurf des Designers und macht anschließend wie ein Künstler den Entwurfsprozess zum Teil des Objekts. Gampers Entwurfsprozess soll im Folgenden in zwei verschiedenen Projekten nachvollzogen werden: Einerseits an Projekten, die den Entwurfsprozess wie in einer Aktion oder einem Happening integrieren und andererseits an einzelne Objekte, an denen der Entwurfsprozess noch sichtbar ist.

5

142

Vgl. Coles (2012), S. 289ff.

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Abb. 1: Martino Gamper, 100 Chairs in 100 Days, Triennale Design Museum, Mailand, Italien, 2009

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Für sein zweijähriges Projekt 100 Chairs in 100 Days and its 100 Ways (2006/2007) (Abb. 1) sammelte Gamper in London 100 weggeworfene Stühle, darunter Designikonen sowie vollkommen unbekannte Massenprodukte, und zerlegte sie in ihre Einzelteile. Es entstand so eine Materialsammlung, die den Ausgangspunkt von Gampers Entwurf bildete. Innerhalb einer festgeschriebenen Zeit verarbeitete er die Einzelteile dieser Materialsammlung zu 100 neuen Stühlen. Jeder neue Stuhl erhielt einen Namen bzw. einen Titel sowie einen Vermerk über seinen Entstehungstag. Diese ungewöhnliche Entwurfsmethode soll im Folgenden näher betrachtet werden. Schon die Materialsammlung an sich stellt ein „epistemisches Ding“ dar: Aus Material, Preis, Design und Zustand eines jeden weggeworfenen Objekts kann eine demografische Aussage über den jeweiligen Londoner Stadtteil abgeleitet werden. Die Objekte stehen am Ende einer Verwertungskette und spiegeln das soziale Milieu am Konsumverhalten der jeweiligen Bewohner. Gamper beschreibt dies wie folgt: „Wichtig ist mir die Tatsache, dass es sich bei den von mir verwendeten Stühlen um weggeworfene Möbel handelte, also aus dem Konsumkreislauf ausgeschiedene Dinge. Diese Objekte hatten das Ende der Konsumkette erreicht: der herrschenden Logik entsprechend waren sie am Ende angekommen und durch neue Objekte zu ersetzen.“6 Gampers Objekte aus weggeworfenen Objekten widersetzen sich somit einer traditionellen ökonomischen Konsumlogik und reihen sich stattdessen in die Recycling-Logik ein. Weitere Erkenntnisse über das Design bietet dann die Materialsammlung, indem die Stühle durch das Zerlegen, Zerschneiden, Zerstören oder Demontieren einen Einblick in ihre Beschaffenheit vermitteln.7 So lässt sich beispielsweise über die verwendeten Schrauben etwas zur Qualität des Designs sowie über die Vorstellungen des Designers sagen. Der dekonstruktive Ansatz Gampers erlaubt einen Blick hinter die Objekte und somit auf ihren Entwurf. Durch seine Materialsammlung lassen sich demnach soziokulturelle sowie gestalterische Erkenntnisse erschließen. Die Materialsammlung restringiert das Entwurfsergebnis, da sie eine limitierte Ansammlung von Elementen zur Verfügung stellt. Sie ist jedoch auch Teil des Entwurfsprozesses, wie Gamper beschreibt: „At that moment

6

Gamper (2014), S. 67.

7

Vgl. ebd.

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I was starting to design on the street.“8 Der Entwurf beginnt somit schon mit der Auswahl der Objekte. Form, Farbe und Material sind dabei ebenso Auswahlkriterien wie die Funktion und der Wert der Objekte. Gamper verzichtet auf eine Entwurfszeichnung und verlegt den Entwurf in die Produktion. Dies beschreibt er als ein „three-dimensional sketchbook, a collection of possibilities.“9 Für den Entwurf legte er dann eine Zeit fest, innerhalb derer er fertiggestellt sein musste: „Der Produktionsprozess für die hundert Stühle war zeitlich klar limitiert. Ich musste dadurch ziemlich spontan arbeiten, ungefähr wie ein Künstler, der kein Briefing hat, keine Vorgabe und keinen Auftraggeber. Meist denkt man: man braucht viel Freiheit, viel Platz, viel Zeit, viel Material und vielleicht noch viel Geld. Zeitdruck kann aber sehr produktiv sein.“10

Zeit ist im Design ein Produktionsfaktor, der die Produktionskosten festlegt. Der Designentwurf wird jedoch nach ästhetischen, funktionalen, ökologischen oder auch ökonomischen Faktoren bewertet und nicht nach der Dauer seiner Fertigstellung. Auch für das gesamte Projekt spielte Zeit, wie der Titel 100 Chairs in 100 Days and its 100 Ways deutlich macht, eine Rolle. Doch entgegen der Ankündigung im Titel erstreckte sich sein Projekt nicht über 100 zusammenhängende Tage, sondern über einen Zeitraum von zwei Jahren. Francesca Picchi sieht in diesem Entwurfsprozess „[…] the situationist idea that […] the entire human body thinks and speaks with gestures.“11 Dabei scheint der Prozess ergebnisoffen zu sein, da Gamper sich vom Material und den situationsbedingten Assoziationen und Emotionen leiten lässt.12 Gamper sucht nicht nach dem perfekten Stuhl: „The motivation was the methodology: the process of making, of producing and absolutely not striving for the perfect one.“13

8

Brändle (2008), S. 202.

9

Gamper (2007), S. 73.

10 Gamper (2014), S. 67. 11 Picchi (2008), S. 153. 12 Vgl. Brändle (2008), S. 202. 13 Gamper (2007), S. 73.

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Entgegen der gängigen Designpraxis entstehen durch die Hybridtechnik unterschiedliche individuelle Objekte, die zugleich aufzeigen, dass es ein objektiv „gutes” Objekt nicht gibt: „I wanted to question the idea of there being an innate superiority in the one-off and used this hybrid technique to demonstrate the difficulty of any one design being objectively judged The Best.“14

Gamper spricht hier über ein Designklischee, das vor allem im Produktmarketing immer wieder zu beobachten ist: wenn die Werbung mit Blick auf einen möglichst großen Absatz ein Produkt als das beste vermarktet, und zwar als das beste für alle. Indem Gamper nun nicht den einen perfekten Stuhl designt, der dann massenhaft von der Industrie produziert wird, sondern eine Vielzahl von Einzelstücken herstellt, scheint er diesen Mythos zu unterlaufen: Es gibt weder den perfekten Stuhl noch das perfekte Design. Bei Gampers Projekt stehen nicht die Objekte, sondern die an den Produkten sichtbar werdenden Prozesse im Mittelpunkt. Ein Stuhl ist ein Objekt, an dem kulturelle, soziale und ökonomische Prozesse und Beziehungen sichtbar werden, die weit in die Alltagspraktiken hineinwirken. Gamper beschreibt dies wie folgt: „I also hope my chairs illustrate – and celebrate – the geographical, historical and human resonance of design: what can they tell us about their place of origin or their previous sociological context and even their previous owners? For me, the stories behind the chairs are as important as their style or even their function.“15

Gampers Hybridtechnik ist eine Methode, um solche Prozesse und Beziehungen sichtbar zu machen. Meist setzt er seine Stühle irritierenderweise aus verschiedenen Objekten und unterschiedlichen Kontexten zusammen, was im Folgenden an einzelnen Objekten aufgezeigt wird. Gamper entwirft Stühle, indem er Teile verschiedener Stühle neu zusammensetzt. Damit ist er jedoch nicht der Erste: Alessandro Mendini begann beispielsweise ab 1978 seine sogenannte Re-Design-Serie, in der er einige Klassiker der Designgeschichte in ihrer Form und Dekoration neu gestaltete.16

14 Ebd., S. 73. 15 Ebd., S. 73f. 16 Vgl. Weiß (2011), S. 45.

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Mendini arbeitete dabei an der Schnittstelle zu anderen Disziplinen wie beispielsweise der Kunst. Für seinen Poltrona-di-Proust-Sessel (1979) bemalte er einen im französischen Stil des 18. Jahrhunderts gestalteten neobarocken Stuhl im pointilistischen Stil eines Paul Signac. Während er bei seinem Proust-Sessel die Holzkonstruktion und den Stoffbezug mit unzähligen kleinen Farbflecken überzog, stattete er seinen Marcel-Breuers-Wassily-Sessel im Jahr 1983 mit Lederflecken aus und ergänzte einen Thonet-Stuhl 214 im Jahr 1973 mit einer Stuhllehne, die aussah, als wäre sie aus Farbklecksen zusammengesetzt.17 Mendini spielt hier auf Prousts große Leidenschaft für den Impressionismus an und zitiert zudem den Illusionismus des Barocks. Während Mendini in seiner Re-Design-Serie Designobjekte mit künstlerischen Mitteln und Strategien bearbeitete und durch die Titel literarische Assoziationen herstellte, bleibt Gamper jedoch im Bereich des Designs. Lediglich bei der Herstellung und der Rezeption bedient er sich anliegender Disziplinen. Dies zeigt sich beispielsweise bei dem Stuhl Mono-Jacobsen 2 (1. April 2005) (Abb. 2).18 Hier kombiniert Gamper einen Monobloc-Stuhl mit der Sitzschale des berühmten Ameisen-Stuhls von Arne Jacobsen. Der SeleneStuhl des italienischen Industriedesigners Vico Magistretti aus dem Jahr 1967 war der erste Monobloc, der in unterschiedlichen Kopien weite Verbreitung fand.19 Er ist ein aus leichtem Kunststoff hergestelltes Massenprodukt, der in einem Stück hergestellt wird und dessen Material eine schnelle Reinigung ermöglicht. Seine Form ist so konzipiert, dass sich mehrere Exemplare des Stuhls praktisch stapeln lassen. Das regenbeständige Material macht ihn auch im Außenbereich einsetzbar und durch das kostengünstige Produktionsverfahren ist er billig im Verkauf. Durch die Eigenschaften seines Materials und seiner Form ist er zwar vielfach einsetzbar und besitzt eine Multifunktionalität, doch haftet ihm dadurch auch die Vorstellung eines billigen Massenprodukts an. Der Wert dieses Objekts entspricht demnach nicht seiner Funktionalität. Dieser Widerspruch in Funktion und Wert zeigt sich vor allem im Vergleich mit Arne Jacobsens Stuhl Nr. 3100, dem sogenannten Ameisen-Stuhl.20 Mit diesem Stuhl führte Jacobsen Anfang der 1950er Jahre

17 Vgl. Menzi (2008), S. 63. 18 Vgl. Gamper (2007), S. 73. 19 Vgl. Friedrichs/Eickhoff (2010). 20 Vgl. Thau, Vindum (2001), S. 167f.

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ein neues Fertigungsverfahren in Dänemark ein, indem er anstelle von Massivholz Stahl und Sperrholz verwendete. Der Stuhl, der lediglich aus einer Sperrholz-Sitzschale und drei Stahlbeinen bestand, war durch seine ökonomische Produktion preisgünstig, durch sein Material leicht tragbar und durch seine Form gut stapelbar. Variationen dieses Stuhls, vor allem das Modell Nr. 3107, das vier Beine hatte und in unterschiedlichen Farben erhältlich war, wurden zu absoluten Verkaufsschlagern. Trotzdem zählt dieser Stuhl heute zu den Klassikern der Designgeschichte. Die beiden Stühle, aus denen sich Gampers Mono-Jacobsen 2 (1. April 2005) zusammensetzt, repräsentieren die Vorstellung von einem High- und einem Low-Produkt, und dies, obwohl beide Produkte ursprünglich mit Blick auf eine preisgünstige Massenproduktion entworfen wurden. Dieser Widerspruch verdeutlicht, wie sehr Wertvorstellungen zeitgegebene gesellschaftliche Normen sind. Weder das massentaugliche und preisgünstige Material (Kunststoff, Sperrholz und Stahl) noch das produktionsgünstige Verfahren erklären den

links Abb. 2: Martino Gamper, Mono-Jacobsen 2 (1. April 2005) rechts Abb. 3: Martino Gamper, Mono Suede (3. März 2005)

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Wert der Stühle. Beide sind durch ihre Leichtigkeit und Stapelbarkeit funktional. Beide sind in unzähligen Varianten kopiert worden. Doch während der eine Stuhl als namenloses Massenprodukt wahrgenommen wird, entwickelte sich der andere zu einem Designklassiker, und selbst seine unzähligen Kopien werden noch mit dem Namen Jacobsen verbunden. Pierre Bourdieu erklärt diese unterschiedlichen Wertvorstellungen in seiner „Geschmackstheorie“ mit dem herrschenden Geschmack.21 Nicht das Individuum, sondern die Gesellschaft prägt den Geschmack, wobei die soziale Herkunft und das soziale Umfeld definieren, was guter Geschmack ist. Der Geschmack bestimmt dann auch die Zugehörigkeit zu einem bestimmten sozialen Feld. Ernesto Laclau und Chantal Mouffe erläutern diese unterschiedlichen Wertvorstellungen mit dem hegemonialen Diskurs, in dem gewisse gesellschaftliche Schichten ihre Vormachtstellung dadurch zum Ausdruck bringen, dass sie beispielsweise über den Preis andere Akteure vom Besitz bestimmter Güter ausschließen.22 Wichtig ist dabei, dass Gamper, indem er die beiden Stühle zu einem Stuhl kombiniert und somit die unterschiedlichen Vorstellungen von einem Massenprodukt und einer Designikone thematisiert, auch die Frage aufwirft, wie solche gesellschaftlichen Vorstellungen entstehen. Durch dieses Vorgehen stellt er auch die Normierung von Design infrage und führt die Vorstellung von einem objektiv als gut bewertbaren Designobjekt ad absurdum. Gamper verarbeitete den Monobloc in mehreren Arbeiten, so auch bei einem der ersten Stühle der 100 Chairs, dem Mono Suede (3. März 2005) (Abb. 3).23 Hierbei überzog er den Kunststoffstuhl, der aufgrund seiner Regentauglichkeit oft als Garten- oder Terrassenstuhl anzutreffen ist, mit einem hochwertigen Lederbezug und nahm ihm damit seine ursprüngliche Gebrauchsfunktion. Der Billigstuhl wird also durch das Material Leder veredelt und gleichzeitig seiner Funktionalität beraubt, was wiederrum Widersprüche produziert und gesellschaftliche Konventionen und Wertvorstellungen von Materialien sichtbar werden lässt. Wie kann ein Stuhl in unserer Vorstellung durch ein hinzugefügtes Material an Wert gewinnen, wenn er dadurch gleichzeitig in seiner Funktionalität eingeschränkt wird?

21 Vgl. Bourdieu (1982). 22 Vgl. Laclau/Mouffe (2000). 23 Vgl. Gamper (2007), S. 64.

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links Abb. 4: Martino Gamper, Olympia (2. August 2006) rechts Abb. 5: Martino Gamper, Multiple Choice (17. September 2007)

Ein vermeintliches High- und ein Low-Produkt fügte Gamper auch in dem Stuhl Olympia (2. August 2006) (Abb. 4) zusammen.24 Hier vereint er eine grüne Kunststoffsitzschale aus einem Sportstadion mit den Rundungen des Thonet-Stuhls Stuhl Nr. 14 (1859).25 Der Stuhl Nr. 14 wurde zu einem der weltweit erfolgreichsten industriell hergestellten Massenprodukte, da die Firma bei diesem Modell ihre Bugholztechnik (gebogenes Massivholz statt schichtverleimtes Holz und Schrauben statt verleimten Zapfenverbindungen) modifizierte, wodurch der Stuhl preiswert verkauft und auch versandt werden konnte, da er sich in wenige Einzelteile zerlegen und dadurch platzsparend verschicken ließ. Doch auch dieses preisgünstige Massenprodukt ist heute ein

24 Vgl. Gamper (2007), S. 39. 25 Vgl. Lahr (1996), S. 90f.

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teurer Designklassiker, während die robuste und regenresistente Kunststoffsitzschale aus einem Sportstadion trotz ihrer vielseitigen Einsatzmöglichkeiten nur als ein Billigprodukt wahrgenommen wird. Die von Gampers Olympia (2. August 2006) aufgegriffenen Rundungen des Thonet-Stuhls ergeben ein Bild von fünf Kreisen, das auf die fünf Ringe des Olympialogos verweist. Damit ist der Stuhl mehr als nur ein Stuhl. Er wird zu einem Index-Zeichen. Der Stuhl heißt mithin nicht nur Olympia, sondern durch seine gestalterischen Elemente verweist er auch auf die Olympischen Spiele. Doch auch diese Erkenntnis irritiert, denn die Sitzschale des Olympia-Stuhls gehört zwar ins Stadion, der Thonet-Stuhl wird jedoch nicht in diesem Kontext verortet. Dies zeigt, dass Gamper mit seiner Hybridmethode nicht nur gesellschaftliche Konventionen dekonstruiert, sondern auch vorführt, wie gesellschaftliche Normen konstruiert werden. Plötzlich kann ein Klassiker der Designgeschichte zu einem Zeichen eines Massenphänomens wie der Olympischen Spiele werden. Bei dem Stuhl Multiple Choice (17. September 2007) (Abb. 5) setzt Gamper mehrere identische, wie Schulstühle aussehende Stühle zusammen, die aus einer Stahlkonstruktion mit mehreren Holzbrettern für Sitz und Lehne bestehen.26 Der Titel scheint buchstäblich Konzept des Stuhls zu sein, da der Stuhl mit seinen sieben Stuhlbeinpaaren mehrere Sitzmöglichkeiten bietet. Während die Anfangsposition eine aufrechte Sitzhaltung mit kurzer Sitzfläche und hoher Lehne ermöglicht, bietet die Endposition eine Liegehaltung. Die ineinander gesteckten Schulstühle Gampers lassen einen Bewegungsablauf zu, der an einen Schaukelstuhl erinnert. Während ein Schaukelstuhl jedoch einen geschwungenen Boden hat, sodass der Stuhl in einen kontinuierlichen Bewegungsablauf versetzt werden kann, lässt sich Gampers Stuhl nur in einen stockenden, diskontinuierlichen Bewegungsablauf versetzen, bei dem nacheinander die unterschiedlichen Positionen durchlaufen werden. Doch gerade diese von dem Stuhl evozierte Assoziation des unterschiedlichen Gebrauchs verlagert das Objekt in den Bereich der Handlung. Gamper stellt keine Objekte um ihrer selbst willen her, sondern ihn interessieren die Prozesse, Handlungen und Beziehungen, die mit den Objekten verbunden sind, wie bereits das gesamte Projekt 100 Chairs gezeigt hat. Er verlagert damit die Designdefinition vom Objekt zur Handlung und gelangt damit zu

26 Vgl. Gamper (2007), S. 40.

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einem Ansatz, der in der Gegenwartskunst unter der Bezeichnung erweiterter Kunstbegriff firmiert. Dieser Ansatz Gampers wird weiter unten am Beispiel Total Trattoria erörtert. Der Stuhl Multiple Choice (17. September 2007) verbindet und ironisiert gleichzeitig über seinen Titel das „Multiple“ in der Kunst. Angespielt wird damit auch auf Ansätze von Künstlern der 1960er und 1970er Jahre, die, indem sie nun Kunst in Serien produzierten, versuchten, Kunst einer breiten Masse zum Erwerb zugänglich zu machen. Die Künstler erhofften sich dadurch, die Kunst zu demokratisieren. Mit dem Titel zeigt Gamper wieder gesellschaftliche Kriterien auf, nach welchen Kunst und Design eingeordnet und bewertet werden. Der Preis eines Kunstwerks basiert auf seinem Einmaligkeitsversprechen, während Design industriellen Vervielfältigungsmechanismen unterliegt. Mit seinem Titel macht der Designer nicht nur auf diese gängigen Zuschreibungsmodi aufmerksam, sondern unterläuft sie auch: All seine 100 Chairs sind Unikate. Gamper nimmt damit eine Haltung ein, mit der im Design der Postmoderne, etwa bei Des-in, Ron Arad oder Tom Sachs, vielfach experimentiert wurde. In Handarbeit und als Einzelstück hergestellt, könnte jeder dieser Stühle durch die Einzigartigkeit und Originalität durchaus als Kunstwerk angesehen werden. Ob es als solches anerkannt wird, ist hingegen eine andere Frage. Gampers Stühle sind ein Beispiel dafür, wie Designer künstlerische Strategien aufgreifen und damit gängige Klischees vorführen. Gampers Stühle zeigen, dass das Zitieren von Formen und Details sowie deren Kombination eine übliche Entwurfsmethode ist: Aus der Synthese entsteht in der Regel eine neue Form, die in einem Material als Einheit präsentiert wird. Dem damit einhergehenden Verschwinden des Entwurfs widersetzt sich Gamper jedoch, indem er den Entwurf selbst zum Objekt macht. Damit transponiert er auch die Kontexte seiner Gebrauchsobjekte in seine neuen Objekte und kann durch die Zusammenfügung unterschiedlicher Kontexte neue Fragen formulieren, die durch eine einheitliche materielle Form nicht aufgeworfen werden würden. Der daraus resultierende sozialkritische Ansatz im Design ist in vielerlei Hinsicht aus dem Kunstkontext bekannt, wenn dort unterschiedliche Objets trouvés oder Ready-mades zusammengesetzt oder Objekte in einen neuen Kontext integriert werden. Dieser Prozess vereint den Entwurf, die Produktion (die als Video im Internet angesehen werden kann), das Produkt (sowohl als einen einzelnen Gegenstand als auch als Teil eines Ganzen), dessen Benutzung sowie dessen Rezeption. Dass Gamper die Rezeption seiner Stühle als Teil seiner Arbeit

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mitberücksichtigt, zeigen die Stühle, indem sie Fragen nach ihrer Herkunft, ihrer Nutzung, ihren Besitzern und ihrem kulturellen und kommerziellen Stellenwert in der Gesellschaft aufwerfen. Dies macht erneut deutlich, dass sich Gamper künstlerischer Methoden bedient; denn in der Kunst ist die Rezeption ein fester Bestandteil eines Kunstwerks. Gampers Stühle sind ein gutes Beispiel, um aufzuzeigen, wie im Entwurf Wissen generiert wird. Schon die Materialsammlung der Stühle ermöglichte soziokulturelle und gestalterische Erkenntnisse, die den einzelnen Objekten anhaften. Vor allem durch die Kombination von Objekten aus verschiedenen Kontexten und mit unterschiedlichen Konnotationen wurde dies sichtbar. Als fertiges Objekt generiert der Stuhl dann wiederum potentiell unterschiedliche Formen von kulturellem, sozialem und teilweise auch politischem Wissen. Da Gamper den Entwurf in die Produktion verschob, kann die Entstehung der Stühle von der Materialsammlung über die Kombination der einzelnen Objekte bzw. ihrer Bestandteile bis zum fertigen Produkt als Entwurf bezeichnet werden. Bei seinem zweiten Projekt, Total Trattoria, das vom 7. März bis zum 26. April 2008 in der „The Aram Gallery“ in London stattfand, entwarf Gamper eine funktionsfähige Küche und einen Essbereich mit Tischen, Stühlen, Geschirr und Besteck. Zur Eröffnung gab es ein großes Essen, das Gamper zusammen mit seinen Mitarbeitern kochte. Bei diesem Projekt modifizierte Gamper seine Entwurfsmethode: Er begann mit einer Materialsammlung aus unterschiedlichen Holzbrettern. Die Sammlung seines Combo chairs (2008) (Abb. 6) bestand beispielsweise aus zwölf Holzbrettformen in jeweils drei Holzarten. Durch ihre asymmetrische Form sahen die Bretter mehr wie Fundstücke als wie zugeschnittene Stuhlelemente aus. Den Entwurf überführte Gamper wieder ohne Zeichnung in die Produktion und limitierte die Herstellungszeit. Durch die entsprechende Materialsammlung und Methode ähnelten sich die Stühle, sie waren jedoch nicht gleich, was Gamper mit den unterschiedlichen Bedürfnissen von Menschen erklärt.27 Nicht jeder Stuhl sei für jeden gleich bequem – eine Erklärung, die ebenso banal wie bekannt ist. Dies ist schon in der unterschiedlichen Physiognomie der Menschen begründet. Und auch dass auf ein und demselben Stuhl unterschiedliche Handlungen nicht

27 Vgl. Gamper (2014), S. 68.

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Abb. 6: Martino Gamper, Combo chairs, Total Trattoria, 7. März – 26. April 2008, The Aram Gallery, London

gleich gut verrichtet werden können, erstaunt nichtweiter, da es auf die Funktion abgestimmte Stühle wie Esszimmer-, Büro- oder Lesestühle schon lange gibt.28 Auch die individuelle Einstellung der Sitzhöhe und des Winkels der Lehnen beruht auf ebensolchen Erkenntnissen. Den individuellen Geschmack berücksichtigte dann etwa schon Peter Behrens in seinen Serien, bei denen er den elektrischen Tee- und Wasserkocher (1909) der Firma AEG in unterschiedlichen Formen, Farben, Materialien und Oberflächenstrukturen anbot.29 Trotzdem betont Gamper immer wieder, dass all dies die Gründe für seine verschiedenen Unikate seien. Seine Entwurfsmethode vergleicht Gamper dann weiter mit dem Kochen:

28 Vgl. Gamper (2014), S. 68. 29 Vgl. Buddensieg (1978), S. 48ff.

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„The Combo chairs are an experiment in making furniture in a way similar to making food. The ingredients were prepared in advance and the variety is a result of different ways of putting the ingredients together. There are twelve different components in three different types of timber. The design and making processes were intertwined and the results were not pre-drawn but methodically improvised during the making. The evolution of the ideas can be seen in the different versions. One of them is more likely to be better than the rest or may suit a specific person more than the others.“30

Die gleichen Zutaten ergeben unterschiedliche Ergebnisse, so die These von Gamper, die er gleich mit weiteren Beispielen in seinem Katalog erklärt: Parallelen sieht er in Charles Darwins Evolutionstheorie, in der die Größen-, Form- und Farbveränderung der Finkenschnäbel auf den Galapagosinseln durch Umwelteinflüsse und Nahrung erklärt werden. Auch im Film erkennt er Entsprechungen, wenn sich Film und Remake zwar auf das gleiche Buch beziehen, sich jedoch im Ergebnis unterscheiden.31 In einer dritten Erklärung verweist er dann auf die Entwurfs- und Produktionsmethode des Krat-Stuhls (1934) von Gerrit Rietveld. Rietveld designte den Krat-Stuhl aus Anlass der Wirtschaftskrise preisgünstig aus Holzresten und Verpackungsmaterial und lieferte ihn als Bausatz zur Selbstmontage. Der Stuhl war günstig und stellte eine Wiederverwertung von Materialien dar, was ihn zu einem Vorläufer des Recycling-Designs macht. Die Zweitverwertung entspricht Gampers Methode von 100 Chairs und die verschiedenen Holzbrettformen und -materialien erinnern an die Objekte von Total Trattoria. Mit seinem Verweis auf den Krat-Stuhl spielt Gamper jedoch auch auf eine zeitgenössische künstlerische Arbeit von Ryan Gander aus dem Jahr 2006 an, bei der Kinder aus dem Modellsatz des Krat-Stuhls Objekte herstellen sollten. Gampers Äußerungen und Katalogkommentare geben einen Einblick in die sehr individuelle Entwurfsmethode des Designers und verdeutlichen, wie assoziativ er bei seinem

30 Gamper (2008), S. 18. 31 Gamper bezieht sich dabei insbesondere auf den Film Invasion of the Body Snatchers (Die Dämonischen) (1956) von Regisseur Don Siegel, der auf dem Roman The Body Snatchers (1955) (Unsichtbare Parasiten (1962)/ Die Körperfresser kommen (1979)) von Jack Finney beruht. Von diesem Klassiker des Science-Fiction-Films wurden zwei Remakes gedreht: Invasion of the Body Snatchers (Die Körperfresser kommen) (1978) von Philip Kaufman und The Invasion (Invasion) (2007) von Oliver Hirschbiegel.

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Entwurf vorgeht. Doch wodurch zeigt sich bei diesem Beispiel nun, dass Objekte Träger von Wissen sind und Wissen auch bei ihrer Entstehung generiert wird? In diesem Fall lohnt sich ein Blick auf die Eröffnung. Es ist ungewöhnlich, dass ein Designer seine Objekte für ein Galerieessen herstellt und dann für seine Gäste kocht. Bei dieser Aktion steht demnach nicht das Objekt im Mittelpunkt, sondern in den Fokus rücken die Handlungen, die vom Objekt angeregt werden. Im erweiterten Designbegriff, der vom erweiterten Kunstbegriff abgeleitet ist, wird das Objekt in die Handlung überführt. Mit dem erweiterten Kunstbegriff lassen sich beispielsweise die Kochaktionen des thailändischen Künstlers Rirkrit Tiravanija fassen, die sich als interessantes Vergleichsobjekt anbieten. Tiravanija ist damit bekannt geworden, dass er in Museen und Ausstellungshäusern thailändisches Essen für oder mit seinen Besuchern herstellte.32 Tiravanija gehörte Anfang der 1990er Jahre zu einer Gruppe von Künstlern, die unter dem Begriff „Ambient Art“ zusammengefasst werden.33 Stefan Römer erklärte die Gemeinsamkeit dieser heterogenen Gruppe wie folgt: „Für diese Ausstellungsformen gilt, dass die Gestaltung eines Umraums, einer bestimmten Atmosphäre oder eines Milieus die Präsentation eines singulären Kunstobjekts ersetzt.“34 Ambient Art entwickelt demnach Situationen, in denen der Betrachter zu interaktiven und kommunikativen Handlungen anstatt zu passiven Rezeptionsprozessen angehalten wird. Der Betrachter soll in soziale Prozesse involviert werden und sich als Teil eines Kollektivs begreifen. Christian Kravagna vergleicht die kommunikationspraktische Antwort der Ambient Art auf den Individualitätskult des Künstlersubjekts der 1980er Jahre mit der „verspätete[n] Anverwandlung des ‚Auswegs aus der Subjektphilosophie‘ durch eine Theorie des kommunikativen Handelns, wie ihn der Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas in seinem gleichnamigen Buch 1981 vorgeschlagen hat.“35

32 Vgl. Strange (2012). 33 Vgl. Kravagna (2002). 34 Römer (1999), S 48. 35 Kravagna (2002), S. 8.

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Die zentrale These von Habermas ist in diesem Zusammenhang, dass sich der Mensch seine Lebenswelt nicht über eine phänomenologische Wesensschau, sondern über die Teilnahme an sozialen Interaktionen erschließt: „Sinnverstehen ist […] eine solipsistisch undurchführbare, weil kommunikative Erfahrung. Das Verstehen einer symbolischen Äußerung erfordert grundsätzlich die Teilnahme an einem Prozeß der Verständigung. Bedeutungen, ob sie nun in Handlungen, Institutionen, Arbeitsprodukten, Worten, Kooperationszusammenhängen oder Dokumenten verkörpert sind, können nur von innen erschlossen werden. Die symbolisch vorstrukturierte Wirklichkeit bildet ein Universum, das gegenüber den Blicken eines kommunikationsunfähigen Beobachters hermetisch verschlossen, eben unverständlich bleiben müsste. Die Lebenswelt öffnet sich nur einem Subjekt, das von seiner Sprachund Handlungskompetenz Gebrauch macht. Es verschafft sich dadurch Zugang, dass es an den Kommunikationen der Angehörigen mindestens virtuell teilnimmt und so selber zu einem mindestens potentiellen Angehörigen wird.“36

Nach Habermas erlangt der Betrachter demnach Erkenntnis nur durch den Gebrauch seiner Sprach- und Handlungskompetenz, die er mit anderen Betrachtern teilt. In Tiravanijas Kochaktionen vermittelt demnach weniger das Essen mit seinen Utensilien eine Form von Erkenntnis, sondern es sind vielmehr die entwickelten Situationen, die es ermöglichen, dass Sprechakte und Handlungen stattfinden können. Diese künstlerische Methode, die teilweise auch stark umstritten ist, scheint Gamper für sein Eröffnungsessen zu adaptieren. Auch Total Trattoria stellt eine Plattform für Situationen dar, im Rahmen derer Handlungen ausgeführt und die Objekte rezipiert werden. Besonders sichtbar ist das beispielsweise an seinem Besteckdesign. Gamper hatte das Besteck am oberen Ende durchbohrt und dann, wie bei einem Schlüsselbund, an einen großen Ring gehängt. Bei dem Essen wurde das Besteck dann nicht neben den Teller gelegt, sondern der Besteckring wurde von einem zum anderen weitergereicht, wobei nicht nur Handlungen, sondern auch Kommunikationssituationen entstanden. Designobjekte sind sicherlich generell stärker mit Handlungen verbunden als traditionelle Kunstwerke wie Gemälde und Skulpturen, die lediglich für die Betrachtung entstanden sind. Doch solche Handlungen erfolgen oftmals erst nach dem Erwerb der Objekte. Gamper verknüpft diese Handlungsakte

36 Habermas (1981), S. 165.

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nun mit seinem Projekt Total Trattoria, wobei er die Entwurfs-, Produktionsund Rezeptionsphase zusammenführt, wodurch auch das Eröffnungsessen als Teil des Entwurfs betrachtet werden kann. Das Projekt Total Trattoria zeigt demnach, dass Wissen nicht nur durch das Objekt generiert wird, sondern auch über die Handlungen, die damit ausgeführt werden. Wortführer der Ambient Art ist Nicolas Bourriaud, Leiter des Pariser Museums für zeitgenössische Kunst „Palais de Tokyo“, der diese Bewegung unter dem philosophischen Begriff „Esthétique relationnelle“ subsumierte. Für Bourriaud entwickelten die Künstler der Ambient Art mit ihren Objekten nicht nur Situationen, an denen Sprechakte und Handlungen ausgeführt werden können. Unter „relationaler Ästhetik“ versteht er Kunstprojekte wie „Meetings, encounters, events, various types of collaboration between people, games, festivals, and places of conviviality, in a word all manner of encounter and relational invention,“37 die temporäre Mikro-Utopien herstellen, um die sozialen Ungleichheiten der Gesellschaft wie die Herrschaft des Spektakels, die Macht der Medien und die Kräfte des Marktes aufzuzeigen. Die Künstler würden mit ihren Projekten Relationen und damit auch neue Beziehungen zwischen Menschen erzeugen. Diese Beziehungen decken, so Bourriaud weiter, die „communication zones“ des Alltags auf und zeigen, wie die grundlegenden gesellschaftlichen Funktionen von automatischen ökonomischen Maschinen oder von den Interessen der Wirtschaft beherrscht werden.38 Diese Kunstprojekte seien eine politische Form des kollektiven Handelns, da sie durch „Subversionen des Systems“ dieses sichtbar machen: „The possibility of a relational art [an art taking as its theoretical horizon the realm of human interactions and its social context, rather than the assertion of an independent and private symbolic space], points to a radical upheaval of the aesthetic, cultural and political goals introduced by modem art.“39

Diese „Subversionen des Systems“ sind besonders gut an Tiravanijas Kochaktionen ablesbar, da er seine Aktionen in Museen und Ausstellungshäusern initiiert. Gesellschaftliche Normen und die sozialen Praktiken des Museums werden durch diese Aktionen sichtbar. Das Museum ist ein Ort, der seinem

37 Bourriaud (2002), S. 28. 38 Vgl. Ebd., S. 16f. 39 Ebd., S. 14.

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Besucher vorschreibt, wie er sich zu verhalten hat, angefangen von Sprechakten bis hin zu Handlungen: Laut zu reden und zu lachen, zu essen, zu trinken und zu rauchen entspricht eben nicht diesen Normen. Tiravanijas Kochaktionen im Museum irritieren die traditionelle Erwartungshaltung des Besuchers und stimulieren dadurch Reflexionen über die Bedingungen und Möglichkeiten des Ortes. Gampers Total Trattoria fand in einer Galerie für Design statt, wo Eröffnungsfeiern gängig sind. Doch Total Trattoria unterscheidet sich von den üblichen Eröffnungsfeiern, wo Getränke und kleine Finger-Food-Häppchen gereicht werden, da das gemeinsame Essen an Tischen und vor allem auch der Akt des Kochens keine gängige Praxis darstellt. Auch diese von der Norm abweichende Aktion reflektiert den Ort und seine Handlungspraktiken. Sie jedoch als „Subversion des Systems“ zu bezeichnen, fällt schwer, da der Handlungsspielraum in einem Galerieraum größer als in einem Museum ist und somit auch nicht so stark reglementiert ist. Und dass der Galeriealltag von wirtschaftlichen Interessen beherrscht wird, verwundert nicht, da die Galerie der klassische Ort der Vermarktung von Kunst und Design ist – und daran ändert auch ein Galerieessen nichts. Am Schluss sollen Gampers Objekte und Entwurfspraktiken in die aktuellen Entwicklungen und Erfordernisse der Designpraxis eingeordnet werden. Seine Methode, Alltagsgegenstände aus weggeworfenem Material herzustellen, wenden Menschen schon seit Jahrhunderten an, wenn auch meist aus wirtschaftlicher Not. Diese Praxis fand dann vor allem seit der Umweltkrise in den 1970er Jahren auch im professionellen Bereich Anwendung, wie beispielsweise im Recycling und Do it yourself Design. Gampers Objekte jedoch liegen an der Schnittstelle zwischen Design, Kunsthandwerk und Kunst und lassen sich in den Kontext des erweiterten Designs einordnen. Durch die Vereinigung von Entwurf, Produktion, Produkt, Benutzung und Rezeption nimmt er eine Einzelposition ein. Nicht das Arbeitsergebnis, sondern der Prozess steht im Mittelpunkt seines Interesses. Die Konzentration auf den Prozess macht deutlich, wie wenig seine Designvorstellung mit kommerziellem, industriellem Design von Massenwaren übereinstimmt. Im Design von Massenwaren sind die Arbeitsprozesse auf ein klares Ziel ausgerichtet: das Produkt. Martino Gamper dreht diesen Vorgang um. Er produziert kein evaluierbares Produkt, das den industriellen Verkaufsvorgaben entspricht, sondern bleibt in einem hohen Maße dem Moment verhaftet. Er lässt Kontrollverluste zu, wenn er rationalisierte Entwicklungsprozesse durch Spontaneität ersetzt. Sein Rückgriff auf Spontaneität sowie den Zufall als Entwurfsmethode

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– schöpferische Elemente, die seit der Avantgarde gängig in der Kunst sind – zeigt erneut, wie stark er sich künstlerischer Methoden bedient. Spontaneität sowie der Zufall scheinen dabei jedoch auch Praktiken zu sein, die dem „epistemischen Ding“ der naturwissenschaftlichen Forschung zuwiderlaufen, insoweit es „zu einem praktischen Zweck einigermaßen wiederholbar, kontrollierbar und effizient funktionieren soll.“40 Epistemische Objekte im Design sollen Entwurfsansätze und kanonisierte Methoden und Regeln produzieren, damit sie wiederholbare Erkenntnisse liefern. Doch genau das bieten die Objekte von Gamper gerade nicht. Seine Objekte sollen Unikate sein. Trotzdem vermitteln sie weit mehr von den Vorstellungen, Normen, Beziehungsnetzwerken der Gesellschaft und des Designs als manch anderes Designobjekt. Gamper stellt demnach keine Prototypen für die industrielle Massenproduktion her, sondern hinterfragt mit seinen Objekten, was Design ist und welche Faktoren gutes Design bestimmen, und kommt damit zu neuen und dem Designdiskurs zuwiderlaufenden Ergebnissen. Er befragt dabei sowohl die eigene als auch angrenzende Disziplinen. Doch genau diese Erkenntnisse zeigen, dass seine Objekte Wissensträger sind, auch wenn die Vorstellungen, Bedeutungen und Begrifflichkeiten eines „epistemischen Dings“ angrenzender Disziplinen nicht exakt übernommen werden können.

40 Mehrtens 2008, S. 37.

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ABBILDUNGEN Abb. 1: Martino Gamper, 100 Chairs in 100 Days, Triennale Design Museum, Mailand, Italien, 2009, Foto aus: http://martinogamper.com/project/a-100-chairs-in-a-100-days (4.8.2015), Photo by Martino Gamper/Åbäke; Courtesy Martino Gamper, Galleria Nilufar. Abb. 2: Martino Gamper „Mono-Jacobsen 2 (1. April 2005)“, 2005, Foto aus: Martino Gamper: 100 Chairs in 100 Days and its 100 Ways, London 2007, S. 73, Photo by Martino Gamper/Åbäke; Courtesy Martino Gamper, Galleria Nilufar. Abb. 3: Martino Gamper „Mono Suede (3. März 2005)“, 2005, Foto aus: Martino Gamper: 100 Chairs in 100 Days and its 100 Ways, London 2007, S. 64, Photo by Martino Gamper/Åbäke; Courtesy Martino Gamper, Galleria Nilufar. Abb. 4: Martino Gamper „Olympia (2. August 2006)“, 2006, Foto aus: Martino Gamper: 100 Chairs in 100 Days and its 100 Ways, London 2007, S. 39, Photo by Martino Gamper/ Åbäke; Courtesy Martino Gamper/ Galleria Nilufar. Abb. 5: Martino Gamper „Multiple Choice (17. September 2007)“, 2007, Foto aus: Martino Gamper: 100 Chairs in 100 Days and its 100 Ways, London 2007, S. 40, Photo by Martino Gamper/Åbäke; Courtesy Martino Gamper, Galleria Nilufar. Abb. 6: Martino Gamper „Com bo chairs“ (2008), aus der Serie Total Trattoria, 7. März – 26. April 2008, The Aram Gallery, London, Foto aus: http://martinogamper.com/project/total-trattoria (4.8.2015), Photo: Shira Klasmer; Courtesy Martino Gamper, Aram Gallery.

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Manifestationen des Instabilen. Interaktive Environments und die Agency des Materials NATHALIE BREDELLA

In den 1990er Jahren fanden an dem 1981 in Rotterdam gegründeten V2_ Institute for the Unstable Media eine Reihe von Manifestationen – Ausstellungen, Symposien, Installationen – statt, die die Aufmerksamkeit für die Veränderungen, die den Übergang zum digitalen Zeitalter kennzeichneten, schärften.1 Im Kontext eines politischen, sozialen und wahrnehmungstheoretischen Wandels forderte V2_ in einem 1987 verfassten Manifesto for the Unstable Media eine Neuorientierung bestehender Ausstellungspraktiken in der Kunst.2 Die publizierten Ausführungen zur Medienkunst im Besonderen

1 Überlegungen zu diesem Text sind im Rahmen des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Projekts Architektur und neue Medien entstanden. V2_ wurde 1981 in der Vughterstraat 234 als Kollektiv gegründet. Zu seinen Gründungsmitgliedern gehörten Alex Adriaansens und Joke Brouwer, die vor dem Hintergrund einer sich verändernden Medien- und Kunstlandschaft die Ausrichtung von V2_ als Zentrum für Multimedia wesentlich prägten. Mit der Eröffnung des V2_Labs 1998 wurden weitere Möglichkeiten für Künstlerinnen und Künstler geschaffen, sich mit den Technologien der elektronischen Bilderzeugung auseinanderzusetzen. Die Arbeiten von V2_ und seine Entstehungsgeschichte sind dokumentiert unter: V2_. URL: http://v2.nl [Stand: 02.07.2015]. 2

Über die Aktivitäten von V2_ siehe Brouwer/Mulder/Nigten (2005) und Brouwer/Mulder (1998).

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und der Kunst im Allgemeinen waren von Polarisierungen bestimmt, die Erstere durch Dynamik und Letztere durch Stasis kennzeichneten. Dabei richtete sich die Kritik von V2_ insbesondere gegen die Praktiken des Kulturbetriebs und suchte den Blick für die Kommunikationsmedien zu öffnen, die zum integralen Bestandteil alltagspraktischer Entwicklungen geworden waren. Und so heißt es in dem oben genannten Manifest: „Unstable media are characterized by dynamic motion and changeability, this in contrast to the world of art which reaches us through the publicity media. This has come to a standstill and has become a budget for collectors, officials, historians and critics.“3

V2_ forderte daher ein geschärftes Bewusstsein für die technologischen Veränderungen und entwickelte neue Präsentationformen für die medialen Künste. Zugleich eröffnete V2_ die Möglichkeit, an der Zukunft der Medienkunst zu forschen. Das Potential der digitalen Medien wurde mitunter darin gesehen, bestehende Ordnungen in Frage zu stellen und Formen der kulturellen und sozialen Vernetzung explorieren zu können. Tendenzen, wie die zunehmende Aufhebung von Grenzen zwischen den Künsten, ebenso wie die Ästhetisierung der Lebenswelt und die Verschränkung von Kunst, Politik und Ökonomie wurden in den Diskursen aufgegriffen, an denen neben den Künsten, Positionen aus den Natur-, Sozial-, und Geisteswissenschaften beteiligt waren. V2_ beförderte den Austausch zwischen Kunst und Wissenschaft und war dabei zugleich auch für jene Architekturschaffenden von Relevanz, die sich mit der Rolle der digitalen Medien im Architekturentwurf und mit Fragen der Raumwahrnehmung auseinandersetzten. Im Rahmen der Manifestation for Unstable Media 4 (1992) widmeten sich Ausstellungen wie „Interactive Art Works“ und „Scale Models. Architectural Ballistic: Fire and Forget“, sowie Symposien den Themen Geschwindigkeit, Beschleunigung, Zeit und Raum.4 Die hier ausgestellten Architekturprojekte zeigten Räumlichkeiten,

3

Adriaansens et al. (1992), S. 19.

4 Zu den Ausstellungen, an denen Architekten partizipierten siehe: The fourth Manifestation for the Unstable Media (1992). URL: http://v2.nl/archive/events/ manifestation-for-the-unstable-media-4 [Stand: 02.07.2015]. Im Rahmen seines Vortrags The Secret of the White Box thematisierte der Architekt Lebbeus Woods das Verhältnis zwischen sichtbaren und unsichtbaren Netzen der Stadt, in denen Gebäude als Träger von Informationen fungierten.

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die sich ebenso auf der informationstechnischen, wie auf der wahrnehmungstheoretischen Ebene artikulierten. Ausstellungen wie „Prosthetics. From Extensions to Exstasy“ (1993) fokussierten die technische Hervorbringung von Räumen und Körperkonzeptionen, die sich in der Architektur manifestierten.5 In den Publikationen von V2_ reflektierten Medientheoretiker über die architektonischen Implikationen ihrer Theorien und deuteten Prozesse der Entstehung und Konzeption von Architektur im Kontext medienhistorischer Entwicklungen.6 Fragen nach der Medialität der Architektur und dem Verhältnis von Medien und Architektur spielten insbesondere für die Arbeiten des Architekten Lars Spuybroek eine entscheidende Rolle. Spuybroek war in den 1990er Jahren maßgeblich an den Diskussionen am V2_ beteiligt und erforschte mit seinem Büro NOX die Architektur in ihren Möglichkeiten, die Raumwahrnehmung und Handlungen der Bewohner zu lenken. Dabei lag den Projekten stets auch die Frage nach den intermedialen Verhältnissen des Entwurfsprozesses zugrunde. Das Interesse an der „Instabilität“ der Architektur gewann sowohl für jene Projekte von NOX an Bedeutung, die die Wirkung von elektronisch durchdrungenen environments als auch die operativen Fähigkeiten von Materialien adressierten. Im Folgenden wird es mir darum gehen, die thematischen Verlagerungen im Architekturdiskurs der 1990er Jahre nachzuzeichnen, die sich mit den Entwürfen H2O Pavillon (1993–1997) und dem Ausstellungsdesign wetGRID (1999–2000) verbinden und an denen sich eine Auseinandersetzung mit den instabilen Momenten im Entwurf artikulierte.

Siehe: Manifestation 4 – Symposium. URL: http://v2.nl/events/manifestation-4symposium/?searchterm=lebbeus%20woods [Stand: 02.07.2015]. 5

In der Ausstellung Prosthetics. From Extensions to Exstasy (1993) wurden Projekte von Diller & Scofidio (USA), NOX (NL) und Gerald van der Kaap (NL) gezeigt. Vgl. URL: http://v2.nl/events/prosthetics/?searchterm=Diller [Stand: 02.07.2015].

6 V2_ publizierte unter anderem Texte von Paul Virilio, Marshall McLuhan und anderen. Vgl. URL: http://v2.nl/archive/people/paul-virilio [Stand: 02.07.2015]; URL: http://v2.nl/search?SearchableText=McLuhan [Stand: 02.07.2015].

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INTERAKTIVE ENVIRONMENTS UND DER H 2O PAVILLON (1993–1997) Anfang der 1990er Jahre hatte Spuybroek zusammen mit Maurice Nico bereits eine Reihe von Zeitschriften herausgegeben, die einen Architekturdiskurs im Kontext eines Medien- und Technikdiskurses vorantrieben, als NOX einen Auftrag für die Realisierung eines Wasserpavillons im Freizeitpark „WaterLand Neeltje Jans“ erhielt.7 Als Arbeitsinsel war Neeltje Jans für den Bau des Oosterschelde-Sturmflutwehrs genutzt worden. Ein einzigartiges Bauprojekt, das den Austausch zwischen Süß- und Salzwasser ermöglichte, um so das Salzwassermilieu und die Fischpopulation in der Oosterschelde aufrecht zu erhalten.8 Die Aufgabe zwei aneinander grenzender Pavillons, die jeweils dem Süßwasser (NOX) und dem Salzwasser (Kas Oosterhuis) gewidmet waren, lag nun darin, den Besuchern der Insel die Bedeutung des Wasser näher zu bringen. Damit bot sich für NOX die Möglichkeit, die Verschränkung von Architektur und elektronischen Medien an einem konkreten Bauprojekt zu erproben. Die technische Durchdringung des Gebäudes sollte es den Besuchern ermöglichen, mit verschiedenen Erscheinungsformen des Wassers in Kontakt zu treten und die taktilen und sonorischen Qualitäten des Wassers zu erfahren. NOXs Interesse an fließenden, die Wahrnehmung erweiternden Räumlichkeiten gewann sowohl für den Entwurf der Gebäudegeometrie des H2O Pavillons als auch für die Installation EDITSP(L)INE, die einen wesentlichen Bestandteil der Architektur bildete, an Bedeutung.9 Die Gebäudeform des Pavillons war aus einer Abfolge von 13 Ellipsen unterschiedlicher Ausrichtung abgeleitet und besaß eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Korridor, der in Höhe und Breite variierte. Es waren Parameter wie Windrichtung, Lage und Form der Dünen, welche die Verformungen des Pavillons und seine Platzierung in die Landschaft mitbegründeten. Den Eingang markierte eine vertikal ausgerichtete Ellipse, der weitere, verformte Ellipsen folgten, bis nach circa 70 Metern eine horizontal ausgerichtete Ellipse in den

7 In den 1990er Jahren hatte NOX die Zeitschriften Actions in Distans (1991), Bitotech (1992), Chloroform (1993) und Djihad (1995) herausgegeben, vgl. Spuybroek (2004), S. 384. 8

Vgl. URL: http://www.deltawerken.com/557 [Stand: 02.07.2015]

9

Für eine detaillierte Projektbeschreibung des H20 Pavillons siehe Ebd., S. 18–39.

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angrenzenden Salzwasserpavillon führte. Im Inneren des Pavillons kamen die Besucher mit verschiedenen Aggregatzuständen des Wassers in Berührung: Gefrorenes Wasser befand sich bereits am Eingangsbereich, Schmelzwasser floss in weiteren Bereichen des Pavillons über den Boden, und Nebel stieg aus Quellen auf, während Wasserdampf versprüht wurde. Zu den weiteren Elementen des Pavillons gehörten ein Regenbecken, in das künstlich produzierter Regen fiel und ein Brunnen mit 120.000 Litern Wasser, der das Zentrum des Wasserkreislaufs markierte. Zusammen mit den ansteigenden Bodenflächen, die fließende Übergänge zwischen Dach-, Wand- und Boden entstehen ließen, wurden die Besucher dazu angeregt, sich mit der Gebäudegeometrie und dem Wasser zu bewegen. Wenn schließlich Gebäudegeometrie und Wasser die Besucher kinästhetisch involviere, stelle sich, so Spuybroek, der Effekt ein, dass Laufen dem Fallen gleiche.10 Ferner sind, wie Spuybroek schreibt, Ereignisse „nun nicht mehr Funktionen oder mechanische Handlungen: sie entstehen jetzt aus der Interaktion zwischen einer variablen Architektur und dem Körper.“11

Das Bestreben, Bewegungen als Grundlage von Ereignissen zu begreifen, charakterisierte auch die mit Sensoren operierende Installation EDITSP(L) INE.12 Sie beruhte auf einer interaktiven Computerinstallation, in der die Handlungen der Besucher räumliche Veränderungen auslösten. Diese Ereignisse waren Bereichen des Pavillons und diese wiederum Raster-, Lichtund Soundprojektionen zugeordnet. Über eine Linie aus Mikroprozessoren, die ähnlich eines Rückgrats durch den Pavillon verlief, wurden sowohl die Ereignisse als auch die Licht- und Tonprojektionen zusammengeführt. Die einzelnen Ereignisse, die die Besucher durch ihre Bewegungen aktivierten,

10 Spuybroek (2008), S. 41f. 11 Spuybroek (2004), S. 38. 12 Der Titel der Ausstellung spielt auf den Einsatz von Splines, die für das Herstellen von Kurven im CAD eingesetzt werden, an. Ursprünglich stammt der Begriff aus dem Schiffsbau. In Analogie zu einer dünnen Latte, die an einzelnen Punkten durch Molche fixiert wird und so eine minimale Spannungslinie erzeugt, wird in den Computerprogrammen auch mit der Spannung einer virtuellen Linie operiert, deren Verformungen einzelne auf der Linie platzierte Kontrollpunkte bestimmen. Da die Krümmungen der Kurven über die Randbedingungen festgelegt werden, kann Spuybroek sagen: „The line becomes an action, and not the trace of an action“. Vgl. Spuybroek (1998), S. 50.

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gestalteten sich wie folgt: Das Durchschreiten eines nicht sichtbaren Lichtsensors löste das Ereignis Wave – die Transformation eines projizierten Rasters in eine wellenförmige Bewegung – aus. Das Berühren von Tastsensoren erzeugte Verzerrungen von Projektionen, die als Ripples bezeichnet wurden, und das Ziehen an Sensoren aktivierte das Ereignis Blob, das die Verformung einer sphärischen Wasserkugel zur Folge hatte. Die den jeweiligen Projektionen zugrunde liegende Interaktivität wurde, wie bereits erwähnt, auf die Licht- und Tonprojektionen ausgeweitet. Auf einer CD-ROM gespeicherte Tonmuster waren mit den Bewegungssensoren verbunden, so dass die Töne in Relation zu den räumlichen Veränderungen verzerrt und gedehnt werden konnten. Das führte mitunter dazu, dass der Sound, der den einzelnen Ereignissen zugeordnet war, sich auf die Besucher zu oder von ihnen weg bewegte.13 Das System, das Licht- und Tonprojektionen zusammenführte, war in einem Kabelträger integriert, der sich entlang der Decke und über die gesamte Länge des Pavillons erstreckte. Die an dieser Linie befestigten 190 blauen Lampen wurden ebenfalls durch Lichtsensoren aktiviert und erzeugten eine pulsierende Lichtwelle, die entlang des Pavillons verlief. Indem die einzelnen Ereignisse mit ihren zeiträumlichen Veränderungen die Aufmerksamkeit der Besucher auf sich zogen und sie gleichsam aufforderten, weitere Ereignisse auszulösen, veränderte sich auch die von der Gebäudegeometrie des Pavillons vorgegebene lineare Bewegungsrichtung. Mit dem Amplifizieren von visuellen und auditiven Effekten konnte die Gebäudegeometrie modelliert und die Erfahrung eines „tönenden Gebäudes“ geschaffen werden.14 Dementsprechend lag die Besonderheit des H2O Pavillons auch darin, mithilfe von Informationstechnologien räumliche Erlebnisse und Nutzungsmöglichkeiten des Raums zu gestalten. Dabei traten die medialen Technologien zugleich in ihren Möglichkeiten hervor, die Bewegungen und Handlungen der Besucher regulieren zu können.

13 Ebd., S. 20. 14 Vgl. Fowler (2015), S. 63. In seinem Aufsatz „Sounds in space or space in sounds? Architecture as an auditory construct“ geht Michael Fowler auf die Räumlichkeit von Sound und ihre Bedeutung für die Architektur im Allgemeinen und den H2O Pavillon im Besonderen ein.

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Während EDITSP(L)INE die Aufmerksamkeit auf die operativen Qualitäten und die ästhetischen Erfahrungen der Licht- und Soundprojektionen lenkte, gewannen die Eigenschaften der Baumaterialien für die konstruktive Umsetzung der gekrümmten Formen an Bedeutung. Für die Konstruktion der Gebäudegeometrie wurde eine Stahlkonstruktion mit flexibler Metallmembran entworfen. Sie beruhte auf einer Primärkonstruktion, die eine Abfolge von Ellipsen bildete und auf einer Sekundärkonstruktion aus Stahlträgern, die die einzelnen Ellipsen miteinander verband. Mit der im Zeichenprozess eingesetzten Software AutoCAD 11 konnten die einzelnen Ellipsen durch Kreissegmente bestimmt werden. Das daraus resultierende Zerlegen der Ellipsen in einzelne Segmente, bestimmte schließlich auch die Fertigung der Ellipsen aus gewalzten Stahlprofilen. Die Konstruktion der doppelt gekrümmten Flächen, die Verbindungen zwischen den Ellipsen herstellten, bestand aus Doppel-TTrägern, die so flexibel waren, dass sie vor Ort an die Ellipsen angepasst werden konnten.15 Mit einer Metallmembran wurde die Konstruktion umhüllt und im Inneren mit schrägen Flächen ausgebaut. Ausblicke auf die Umgebung gab es keine und so hält Spuybroek über die Möglichkeiten, sich im Inneren des Pavillons zu orientieren, fest: „Der Besucher muss sich auf seinen Gleichgewichtssinn verlassen: es gibt keine Fenster, durch die er den Horizont als waagerechten Bezugspunkt für das Körpergefühl sehen könnte: Er muss sich wie Wasser verhalten, um das Gebäude zu durchlaufen.“16

Der H2O Pavillon lässt sich als Versuch begreifen, den Blick auf die Effekte einer von Technologien durchdrungenen Umgebung zu lenken. In dem Bestreben, die Wahrnehmung der Besucher zu erweitern, wurden in der Installation EDITSP(L)INE verschiedene Medien synchronisiert, so dass die Aufnahme, Übertragung und Verarbeitung von Informationen körperlich erfahren werden konnte. Anders als die gängige Auffassung, technologisch durchdrungene „intelligente“ Umgebungen dienten der Herstellung eines größeren Komforts, thematisiert Spuybroek, inwieweit mit der digitalen Informationsverarbeitung eine Einschränkung unserer körperlichen Handlungen einhergeht, wenn er schreibt:

15 Spuybroek (1998), S. 22f. 16 Ebd., S. 18.

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„Such a smart technology of desire in intelligent environments can only result in the body becoming a remnant, in the most radical reversal between master and slave imaginable.“17

Vor dem Hintergrund einer von Technologien gesteuerten und kontrollierten Gesellschaft, schlägt Spuybroek daher vor, die technologischen Entwicklungen nicht so sehr unter dem Aspekt der Befriedigung, sondern vielmehr unter dem der Stimulierung von Bedürfnissen zu betrachten.18 Für Spuybroeks Arbeitsweise sind daher Fragen nach den epistemischen und ästhetischen Prozessen einer computer-basierten Architektur von Interesse. Die ästhetische Erfahrung künstlerisch hergestellter räumlicher Situationen gewinnt insbesondere im Rahmen von Weltausstellungen an Bedeutung. Hier eröffnet das Genre des Pavillons die Möglichkeit, die vielfältigen Effekte der Medientechnologien räumlich erfahrbar werden zu lassen. Als Beispiel sei hier der von der Gruppe „Experiments in Art and Technology“ (E. A. T.) entworfene und programmierte Pepsi Pavillon für die Weltausstellung in Osaka (1970) erwähnt. Die New Yorker Gruppe, in der Künstler, Ingenieure und Industrie miteinander kooperierten, integrierte eine elektronische Installation in die Konstruktion des Pavillons, die es den Besuchern erlaubte, in die sich verändernden Bild- und Soundwelten einzutauchen.19 Die Aufgabe der Architektur war es, Informationen zu koordinieren und eine technische Infrastruktur für die wechselnden Atmosphären und Ereignisse bereitzustellen. Als „living responsive environment“20, das auf der Überschneidung der Künste beruhte, begründete der Pepsi Pavillon eine Form der Ausstellungspraxis, die sich wesentlich von jener der Museen und Galerien unterschied.21 Denn anders als die neutralen Ausstellungsräume der Museen basierten die multimedialen environments auf Interaktionen zwischen den Besuchern und der Architektur, die räumliche Veränderungen auslösten. Der H2O Pavillon rückt somit in die Nähe jener Architekturen, die das technisch vermittelte

17 Spuybroek (2008), S. 38. 18 Ebd., S. 39. 19 Für eine detaillierte Beschreibung des Pepsi Pavillons siehe Klüver et al. (1972). 20 Klüver (1972), S. x. 21 Vgl. Rose (1972), S. 60.

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Verhältnis von gebauter Struktur und Besucher erprobten. 22 Für den Architekturdiskurs der 1990er Jahre ist entscheidend, dass der Pavillon nicht allein die Frage nach dem Vermögen der Technologien, Räume zu strukturieren und Bewegungen zu kontrollieren, stellte, sondern mit seiner multi-sensorischen Umgebung konkret physisch-räumliche Konfigurationen mit imaginären Vorstellungswelten verschränkte.

DIE AGENCY DES MATERIALS UND „OPTIMIERTE WEGESYSTEME“ IM WETGRID Der H2O Pavillon war bereits realisiert, als Spuybroek begann, sich mit den Arbeiten von Frei Otto zu beschäftigen. Otto erforschte an dem – von ihm 1964 gegründeten Institut für leichte Flächentragwerke – Gesetzmäßigkeiten des natürlichen Bauens und entwickelte Konstruktionstechniken, die von einem nachhaltigen Umgang mit Ressourcen bestimmt waren.23 Spuybroeks Interesse galt insbesondere Ottos prozessbezogenen Experimenten, in denen er aus der Interaktion von Materialien die Geometrie von Formen entwickelte und die Grenzen zwischen Formfindung und Formgestaltung fließend gestaltete. Seine Aufmerksamkeit richtete Spuybroek unter anderem auf jene Versuche des Instituts, die sich mit optimierten Wegenetzen und verzweigten Konstruktionen beschäftigten. Mit dem Ziel, Baukosten und Flächenverbrauch für Verkehrswege zu reduzieren, hatte Otto ein Minimalweggerät entwickelt, mit dem der geringste Aufwand für die Herstellung und Unterhaltung von Wegenetzen ermittelt werden konnte. Der Versuchsaufbau der „optimierten Wegesysteme“ gestaltete sich wie folgt: Fäden wurden zwischen den Verkehrsanfangs- und den Verkehrsendpunkten aufgespannt und anschließend so gelockert, dass sie eine Überlänge von circa 8% der ursprünglichen Länge besaßen. Durch das Eintauchen der Fäden ins Wasser bündelten sich, bedingt

22 Zur Rolle der Atmosphäre in multimedialen Entwürfen, in denen das Verhältnis von Bewohnern und Umgebung thematisch wird, siehe die Ausgabe von Daidalos Zur Konstruktion von Atmosphären, sowie den dortigen Beitrag zum H2O Pavillon von Bart Lootsma (1998). Über die Bedeutung einer „Ästhetik der Atmosphäre“ (Gernot Böhme) für die Architekturen der Weltausstellung siehe Bredella (2013). 23 Für eine Dokumentation der Experimente des Instituts für leichte Flächentragwerke siehe Gass et al. (1990).

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durch die Oberflächenspannung des Wassers, die Fäden. In den so entstandenen Konfigurationen waren die Wege zwar länger als die Direktwege, jedoch verringerte sich der Flächenverbrauch der Verkehrswege und deren Gesamtlänge um circa 30–50% des Direktwegnetzes.24 Otto und Rasch halten fest: „Das Netz der ¸minimalen Umwege‘ strebt einem Minimum zu und zwar in Bezug auf die für Bau und Unterhaltung der Wege und für den Verkehr insgesamt aufgebrachte Energie.“25

In seinem Aufsatz „Die Struktur der Vagheit“ geht Spuybroek auf das hier beschriebene experimentelle System Ottos genauer ein. Besonders fasziniert ihn der Aufbau des Materialexperiments, das dem Erforschen der Formgeometrie diente. Kennzeichnend für die Experimente Ottos sei, dass verschiedene Elemente innerhalb eines Systems für einen gewissen Zeitraum miteinander interagieren und schließlich zu einer neuen Struktur führen.26 Den Materialien komme in diesem Zusammenhang ein gewisses Maß an Handlungsfreiheit zu, dessen Spielraum das System begrenze. Über die Materialien von Ottos Experimenten hält Spuybroek fest, dass sie aus einer Mischung von flüssigen und festen Stoffen bestehen, oder dass sie im Verlauf des Experiments von einem festen in einen flüssigen Zustand übergehen. Ein weiteres typisches Merkmal der Materialien sei, dass sie unter der Einwirkung von Kräften Transformationen durchlaufen. Eine entscheidende Eigenschaft der Interaktion ist somit, dass die Materialen Informationen prozessieren, wenn sie innerhalb eines festgelegten Systems geometrische Konfigurationen ausbilden. So können Ottos Modelle die Funktion von Formfindungsinstrumenten übernehmen, innerhalb derer, so Spuybroek, die Form „das Ergebnis materieller Interaktion“ sei.27 Dabei ging es Otto weniger darum, allgemeine Prinzipien als einen Spielraum zu entwickeln, innerhalb dessen die Materialien ihre eigene Form finden konnten. Die Herausforderung der Experimente bestand darin,

24 Die Modellbaumethode wurde von Frei Otto 1958 entwickelt, in Studienarbeiten an der Yale-University in den 1960er Jahren verfeinert und im Atelier Warmbronn auf einen ausgereiften Stand gebracht. Für eine detaillierte Beschreibung siehe Otto/Rasch (1995), S. 68ff. 25 Ebd., S. 68. 26 Vgl. Spuybroek (2004), S. 352–359. 27 Ebd., S. 353.

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sich mit rechnerischen Verfahren dem Verhalten der Materialien anzunähern. Otto entwickelte Instrumente mit denen die Formen durch Fotografien, Filme und Zeichnungen festgehalten, analysiert und anschließend in Berechnungen übertragen wurden. Mit den flexiblen Oberflächen, die aus den Experimenten hervorgingen, wird nach Detlef Mertens, nicht nur die klassische Unterscheidung in Oberfläche und tragender Konstruktion (Stütze) unscharf, sondern vielmehr lassen sie die „Konstruktion und Struktur auch zu einer Funktion von Bewegung“ werden.28 Das Besondere an Ottos Modell liegt demnach für Spuybroek auch darin, dass Flexibilität buchstäblich und materiell verstanden wird. Das Material wird somit nicht länger als passiv verstanden, sondern wird mit seinen Strukturen und Eigenschaften zu einem Akteur innerhalb des Entwurfsprozesses. Der hier beschriebene prozessuale Aspekt der Formfindung führe somit von der Bewegung hin zu einer Sprache des Biegens, Spaltens und Krümmens.29 Für Spuybroek markiert die Handhabung von Kurven und gekrümmten Formen – in denen sich Bewegungen nicht nur manifestieren, sondern auch gestalten lassen – einen entscheidenden Punkt des computerbasierten Entwerfens. Wie er schreibt, wird eine Kurve durch eine Linie definiert, die Dinge aufnehmen und integrieren kann und er führt weiter aus: „a line never curves by itself, only in relation to others. We don’t design with curves, we just lay out relationships. And relating them makes things take on curvature, because that which relates creates the thing.“30

Damit rücken die an der Gestaltung von Objekten beteiligten Akteure und ihre Relationen in den Blick. Mit der Bestimmung von relationalen Gefügen werden parametrische Systeme entworfen, die Entwurfsprozesse organisieren. Dabei bleiben, wie Mertens schreibt, die Organisationsprozesse nicht auf den Computer beschränkt, sondern weisen über ihn hinaus: „One of the most powerful agents of continuity for Spuybroek is the paradigm of organization, for it underpins not only computing but all phenomena in nature – of life as well as matter, including human life, its societies and their material cultures.“31

28 Mertens (2004), S. 360. 29 Spuybroek (2004), S. 355. 30 Spuybroek (2008), S. 165. 31 Ebd., S. 8.

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In seinem Text „The Lines and the Weather“ widmet sich Timothy Ingold aus einer anthropologischen Perspektive jenen aus Linien gebildeten relationalen Gefügen, an denen sich Beziehungen zwischen den Menschen und ihrer Umwelt (environment) entfalten. Die Linien bilden, so Ingold, ein Meshwork, das er vom Network unterscheidet. Während die Linien des Netzwerks Verbindungen darstellen, so sind die Linien des Meshworks von einer Flexibilität gekennzeichnet, deren Verhalten sich dadurch auszeichnet, das sie, so Infgold “may loop or twist around one another or weave in and out.” 32 Ingolds Konzeption des Meshworks widmet sich der Bewegung jener von Linien gebildeten Gefüge. Mit dem System der Verflechtungen rücken die Erfahrungen und dynamischen Perspektiven, die sich entlang der offenen Weglinien entfalten, in den Blick und heben somit jene Momente hervor, die durch die Organisationsstrukturen von Netzwerken nicht erfasst werden können. Im Folgenden werde ich auf die Bedeutung der Linien, die die Struktur des Entwurfs wetGRID (1999–2000) wesentlich bestimmten, eingehen. Das Projekt, an dem sich die Medialität der Linien auf verschiedenen Ebenen entfaltete, hatte NOX für eine Ausstellung, die Arielle Pélenc in dem Musée des Beaux-Arts in Nantes kuratierte, entworfen. Die Ausstellung umfasste 250 Gemälde, Zeichnungen und Installationen verschiedener Künstler – darunter Pollock, Kupka, das Atelier von Lieshout und Archigram. Die stark variierenden Größen der Arbeiten hatten Pélenc dazu angeregt, sie in verschiedene Themenbereiche zu gruppieren: Vision Machine, Emergent Worlds, Connected Worlds und Invisible Worlds. Die Gruppierung, die mitunter auf dem für die Betrachtung der Exponate nötigen Blickabstand beruhte, gewann auch für den Entwurfsprozess der Ausstellungsarchitektur an Bedeutung. Geleitet von der Frage „Wie können wir Handlungen in die Wahrnehmung einbeziehen“ legte NOX die räumlichen Kategorien Helm, Kapsel und Kuppel fest, die jeweils die Reichweite zu den Exponaten zum Ausdruck brachten.33 Auf den Distanzen zwischen Betrachter und ausgestellten Objekten beruhte auch das Wegesystem des Entwurfs, dessen lineare Struktur der Ausrichtung des Gebäudes folgte. Im Verlauf des Entwurfsprozesses wurde das Netz der Linien durch verschiedenste Modellierungstechniken verformt, bis es – ähnlich der Versuchsanordnungen Ottos – in einem festen Zustand verharrte.

32 Ingold (2012) , S. 15. 33 Spuybroek (2004), S. 138.

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Kennzeichnend für den Entwurfs- und Konstruktionsprozess war ein Wechsel zwischen computerbasierten Visualisierungen und Papiermodellen, der es erlaubte, eine Vielzahl an Modellierungstechniken miteinander zu verknüpfen. Zunächst kam die Animationssoftware Maya zum Einsatz – eine Software, die vor allem von der Filmindustrie im Bereich der dreidimensionalen Visualisierungen und Animationen Anwendung findet und es ermöglicht, Formen zu animieren und ihre Geometrie in der Bewegung zu explorieren. Für den Entwurf wetGRID wurde die oben erwähnte Linienstruktur zunächst unterschiedlich starken Rotationskräften (Wirbelkräften) ausgesetzt, was dazu führte, dass die Linien im Prozess des Dehnens und Streckens räumliche Strukturen ausbildeten. An einigen Stellen näherten sich die Linien einander an und führten zu Verschmelzungen, während sie sich an anderen Stellen zu Flächen aufspalteten.34 Die in den Animationen entstanden Wölbungen und Aufspaltungen wurden im weiteren Verlauf des Entwurfs in Modelle aus Papierstreifen übertragen. Die Übertragung vom Computer- ins Papiermodell erfolgte mittels Schnittzeichnungen, die als Anleitung für die Herstellung der Papiermodelle dienten. Die Papiermodelle ermöglichten wiederum ein weiteres Explorieren der Räumlichkeiten, wenn die Wölbungen, Öffnungen und Größen der Räume durch Büroklammern, die die Papierstreifen zusammenhielten, reguliert wurden. Die Fixierungen ließen Arabesken entstehen, die Übergänge zwischen Linien und Flächen, sowie zwischen Boden-, Wand- und Deckenflächen herstellten. Für eine weitere Ausdifferenzierung der Übergänge von Innen und Außen, von Wand und Boden wurden die Papiermodelle digitalisiert. Im Computermodell konnten Raumabschlüsse modelliert und Flächen geschlossen werden. Der Wechsel zwischen Papiermodell und digitalem Modell ermöglichte es hier, die haptisch erfahrbare Spannung der Linien in die digitalen Modelle zurückzuführen. Dass mit den Techniken der Übertragung die Informationen der Linien jeweils anders operativ werden, spielt eine Rolle im Entwurfsprozess, aber maßgeblich ist auch, dass mittels der im Übertragungsprozess erzeugten Artefakte – Computermodell, Schnittzeichnung, Papiermodell – das Wissen über die materialen Eigenschaften des Entwurfs sicht- und handhabbar wurde.

34 Spuybroek (2004), S. 139.

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Das Verknüpfen von Techniken kennzeichnete auch den Bauprozess, in dem eine konstruktive Umsetzung der aus Linien erzeugten Volumen erfolgte. Mittels eines Computermodells konnte ein Diagonalnetz gekrümmter Rippen erstellt werden, das in einzelne Schnitte zerlegt, ein Skelett für die Konstruktion des Entwurfs bildete. Der Einsatz von CAD/CAM Technologien erlaubte es, die im Computermodell gespeicherten Informationen über die Umrisse der Volumen für den Laser gesteuerten Zuschnitt der Skelettkonstruktion zu nutzen. Für den Entwurfs- und Realisierungsprozess von wetGIRD kann zunächst festgehalten werden, dass der von Transformationen bestimmte Entwurfsprozess in ein Entwurfsmodell mündete, das die Bewegung und Materialisierung von Linien explorierte.35 Die Offenheit des Entwurfsprozesses, die auf dem Wechsel von Papier- und Softwaremodell, sowie dem Zusammenwirken von Techniken und Material beruhte, forderte gleichsam dazu auf, den Entwurf in einer Folge von Schritten immer weiter zu bestimmen. Von Beginn an war wetGrid als Ausstellungsarchitektur konzipiert, innerhalb derer die Einbindung des Betrachters in eine multimediale Konstellation eine zentrale Rolle spielte. In seinen Überlegungen zur Gestaltung einer interaktiven Umgebung bezog sich Spuybroek unter anderem auf Frederik Kieslers Begriff des Correalismus, den Kiesler wie folgt beschreibt: „The term ‚correalisim‘ expresses the dynamics of continual interaction between man and his natural and technological environments.“36 Kiesler, der 1937 das Laboratory of Design Correlation an der Architekturfakultät der Columbia University gegründet hatte, führte dort Forschungsexperimente zur dialektischen Beziehung zwischen Architektur/Design und Wahrnehmungsprozessen durch.37 Geleitet von dem Interesse, eine ganzheitliche, wissenschaftlich begründete Designkonzeption zu entwickeln, wurde das Zusammenspiel von physischen und psychischen, sowie sozialen und technologischen Aspekten des Designs in Laborexperimenten erprobt. Seminare, die sich mit den Formen, Funktionen, und Strukturen in der Natur und ihre Bedeutung für das

35 Über das Potential der Vagheit im Entwurf siehe Spuybroek (2004), S. 357. 36 Kiesler (1939), S. 61. 37 Kiesler war seit 1936 visiting professor an der Columbia University und leitete von 1937 bis 1943 das Laboratory of Design Correlation. Vgl. URL: http://www.kiesler. org/cms/index.php?lang=3&idcat=16 [Stand: 02.07.2015].

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Design auseinander setzten, begleiteten die Experimente.38 Zu den auf Korrelationen beruhenden Entwürfen Kieslers gehörten unter anderem das Space House (1933), eine Mobile-Home-Library (1938) und das am Laboratory for Design Correlation entwickelte Projekt Vision Machine (1937–1941).39 Spuybroeks Interesse richtete sich im Kontext seines Entwurfs wetGrid insbesondere auf Kieslers Entwurf für die Ausstellung Bloodflames (1947). Die Ausstellung in der New Yorker Hugo Gallery zeigte Arbeiten der Surrealisten und war für einen einfachen rechtwinkeligen Raum konzipiert. Detailliert beschreibt Spuybroek Kieslers Entwurfsprozess, der mit dem Zeichnen eines roten Bandes durch den Raum der Galerie begann: Eine Linie, die über Böden, Decken und Wände führte, spannte ein Gefüge von Relationen in einem einzelnen Raum auf. Die Befestigung der Exponate an der den Raum durchlaufenden Linie ließ wiederum unterschiedlichste Verbindungen zwischen den Kunstwerken entstehen. Über die Platzierung der Exponate schreibt Spuybroek: „The paintings follow the band as it swirls through the space: paintings lie on the ground, jump between wall and ceiling, hang at an angle again, and some are actually upside down on the ceiling.“ 40 Spuybroeks Beobachtungen über Kieslers Experimente, die ästhetische Erfahrung von Architektur und Kunst zusammenführen, bedingen wesentlich die Ausstellungsarchitektur von wetGRID. Ihre Architektur beruht auf choreographierten Bewegungen, deren Räumlichkeiten als Seh- und Wahrnehmungsapparat konzipiert, die Interaktion zwischen den Ausstellungsbesuchern und ihrer Umgebung lenken.

INTERAKTIVITÄT UND ARCHITEKTUR In seinem Aufsatz „Der Gegenstand der Interaktivität“, den Arjen Mulder in der Publikation NOX. Machining Architecture veröffentlichte, geht er zunächst auf die Bedeutung der Architektur als stabiles Medium ein. Kennzeichnend für die Architektur sei zunächst, dass sie materielle räumliche Konfigurationen exploriere. Während die elektronischen Medien in der Kunst zu

38 Zu Kieslers Konzeption einer transdisziplinär ausgerichteten Entwurfsforschung und seiner Arbeit an der Architekturfakultät der Columbia University siehe Philips (2010), S. 90–120. 39 Ebd. 40 Spuybroek (2008), S. 102.

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der Entwicklung von hybriden Kunstformen, wie beispielsweise der Videokunst, geführt haben, so habe sich mit den technologischen Entwicklungen das Verständnis der Architektur weg von einem statischen und hin zu einem beweglichen Projekt verändert. Mulder spricht von der Entstehung einer „interaktiven Architektur“, die dadurch gekennzeichnet ist, dass „das Gebäude seine Benutzer aktiviert oder die Benutzer das Gebäude aktiv werden lassen, um zu dem einen oder anderen Ereignis Zugang zu erlangen.“41 Für die Architektur bedeutet dies, sie als ein flexibles System zu verstehen, das seine Ausprägung erst im Moment des Gebrauchs erfährt. Mit diesem Ansatz geht ein Architekturverständnis einher, das die Perspektive auf die dynamischen Veränderungen des architektonischen Raums und die mit ihnen verbundenen Handlungen richtet.42 Im Zuge des Explorierens neuer Entwurfsmethoden geht Mertens auf Architekturdiskurse zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein und hält fest, dass eine Kritik an allgemein anerkannten Stilen in der Kunst und der Architektur wesentlich die Entwicklung neuer Verfahren und Techniken vorantrieb. Mertens sieht daher Spuybroeks Entwurfsansatz in der Tradition jener Architektur, die sich gegen die Verwendung vorherbestimmter Normen wendete und mittels der Entwicklung von Techniken, einen neuen modus operandi des konstruktiven Handelns entwickelte.43 Für die Frage nach der „interaktiven Architektur“ ist von Bedeutung, dass die Projekte von NOX das Verhältnis von Technologie und Räumlichkeit auf verschiedenen Ebenen explorierten und die mit Technologien durchdrungenen environments zu einer Schärfung der Verwendungsmöglichkeiten computerbasierter Informationsübertragung führten.

41 Mulder (2004), S. 333. 42 Mit Bezug auf die Operationsweisen technischer Medien hatte sich bereits in den 1950er Jahren ein Architektur- und Mediendiskurs herauskristallisiert, der den Blick auf die Durchdringung der gebauten Umwelt mit elektronischen Netzwerken und deren Bedeutung für Kommunikations- und Entwurfsprozesse richtete. Im Kontext der Entwicklung urbaner Visionen und medientheoretischer Debatten spielte die Stadtplanerin Jaqueline Tyrwhitt eine zentrale Rolle, die mit Marshall McLuhan, Sigfried Giedion und anderen die „Explorations Group“ in Toronto gegründet und mit dem Architekten und Stadtplaner Konstantinos Doxiadis die Delos Symposien organisiert hatte. Vgl. Darroch (2008), Darroch (2014) und Wigley (2001). 43 Vgl. Mertens (2004), S. 369.

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Die Modellierungen des geometrischen Raums mittels interaktiven Licht-, Farb- und Soundeffekten, die Erfahrungen evozieren, tragen dazu bei, Architektur als ästhetisches Medium zu begreifen, das Handlungen eröffnen und Bewegungen steuern kann. Die technische Hervorbringung von Räumen wird hier zum einen in der Verschränkung von Nutzer und Gebäude erfahrbar und stellt zum anderen die Frage nach der Kontrolle des technologisch durchdrungenen environments. Wenn im Verlauf des Entwerfens Prozesse der Interaktion an Bedeutung gewinnen, richtet sich die Aufmerksamkeit auf die Eigenschaften und Dynamiken von Materialen, die ihre Wirkungen im Entwurf räumlich entfalten. In diesem Zusammenhang rückt das gesamte Setting des Entwurfs in den Blick, zu dem sowohl die Materialien, Techniken und Werkzeuge, als auch die architektur- und medientheoretischen Auseinandersetzungen gehören. Sie bilden gleichsam die Voraussetzungen eines Entwurfsansatzes, der von einem Medienwechsel geleitet, zur Entwicklung von spezifischen Entwurfstechniken anregt. Die digitalen Technologien treten hier in ihren Möglichkeiten hervor, Infrastrukturen zu schaffen, die das Erforschen von Konstruktion, Material und Raum disziplinübergreifend handhabbar machen. Fragen nach den Techniken der Gestaltung gewinnen somit ebenso an Bedeutung wie die nach den ästhetischen Erfahrungen. In diesem Sinn leisten die Projekte einem Architekturverständnis Vorschub, das die Aufmerksamkeit auf die technische Spezifität medialer Systeme lenkt und dazu auffordert, sich mit ihren Gestaltungsmöglichkeiten auseinanderzusetzen.

LITERATUR Adriaansens et al. (1992): Alexis Adriaansens et al. (Hrsg.), Boek voor de instabiele Media, Rotterdam 1992. Bredella (2014): Nathalie Bredella, Tuning the Body. On World Exhibitions and Atmosphere, in: Jiří Kylián, Friederike Lampert, Désirée Staverman (Hrsg.), One Of A Kind – The Kylián Research Project, Rotterdam 2014, S. 187–190. Brouwer/Mulder (1998): Joke Brouwer, Arjen Mulder (Hrsg.), The Art of the Accident, Rotterdam 1998. Brouwer et al. (2005): Joke Brouwer, Arjen Mulder, Anne Nigten (Hrsg.), aRT&D. Research and Development in Art, Rotterdam 2005. Brouwer et al. (2012): Joke Brouwer, Arjen Mulder, Lars Spuybroek (Hrsg.), Vital Beauty. Reclaiming Aesthetics in the Tangle of Technology and Nature, Rotterdam 2012.

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Spuybroek (2004): Lars Spuybroek (Hrsg.), NOX. Machining Architecture. Bauten und Projekte, Rotterdam, München 2004. Spuybroek (2004a): Lars Spuybroek, Die Struktur der Vagheit, in: ders. (Hrsg.) NOX. Machining Architecture. Bauten und Projekte, Rotterdam, München 2004, S. 352–359. Spuybroek (2008): Lars Spuybroek, The Architecture of Continuity. Essays and Conversations, Rotterdam 2008. Wigley (2001): Mark Wigley, Network Fever, in: Grey Room 4 (2001), S. 82–122.

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Forschungsstudien zur Wissensproduktion zwischen reproduzierbarer Rationalität und individueller Deutung

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Grids. Projektdokumentationen als Denkinstrument CAROLIN STAPENHORST

1. EINLEITUNG: ÜBER DIE ZWISCHENPRODUKTE ENTWERFERISCHER PROZESSE 1.1. Vom Produkt zum Prozess. Die Analyse kreativer Prozesse anhand ihrer Materialproduktion

Das architektonische Entwerfen projektiert, es ist „auf etwas gerichtet, das während des Vorgangs (noch) nicht existiert.“1 Personen, die als Studierende, Lehrende, Kritiker, Fachplaner oder Ausführende im disziplinären Bereich der Architektur agieren, sind deshalb damit vertraut, die Ergebnisse der Entwurfstätigkeit anhand einer Reihe darstellender Erzeugnisse zu verstehen und zu bewerten. Unter anderem werden auf dieser Basis Architekturwettbewerbe entschieden, Entwurfskolloquien benotet und Verbindlichkeiten für die Projektausführung auf der Baustelle gesetzt. Obwohl es das eigentliche Produkt, das gebaute Objekt, noch nicht gibt, verstehen sich die darstellenden Erzeugnisse in den hier genannten Prozeduren als Resultat eines Entwurfsprozesses. Sie liefern Ergebnisse zu den im Entwurfsprozess gestellten und bearbeiteten Problemen. Diese Ergebnisse weichen im Maßstab und im Grad der Verbindlichkeit stark voneinander ab, aber ihnen ist gemeinsam, dass sie einen bestimmten Planungsstand abbilden und festlegen.

1

Ammon (2013), S. 345.

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Dieses gezielte Abbilden zum Festlegen setzt voraus, dass die darstellenden Erzeugnisse jeweils spezifisch festgelegten Kriterien und Konventionen entsprechen – so werden sie zum Beispiel im Fall von Architekturwettbewerben durch die Wettbewerbsausschreibung genau definiert und Abgabeleistungen genannt. Manchmal kann beobachtet werden, dass zu den vorgeschriebenen Abgabeleistungen von Projekten in einer frühen Planungsphase auch einzelne Darstellungen gezeigt werden, die den Entwurfsprozess selbst dokumentieren sollen. Zum Teil werden diese Darstellungen auch explizit in Ausschreibungen eingefordert und gehören unter dem Titel Konzept/Konzeptskizze mit zum Katalog der abzugebenden Leistungen. Ob von der Ausschreibung eingefordert oder von den Entwurfsautoren gewollt hinzugefügt, dienen diese Darstellungen dazu, den vorgeschlagenen Entwurf zu bewerben oder ihn durch die Offenlegung seiner Konzeption glaubwürdig zu machen. Es handelt sich also um einzelne, gezielt aus der Masse der im Entwurfsprozess erzeugten Materialien ausgewählte Darstellungen, von denen erhofft wird, dass sie das Wesentliche des Prozesses möglichst unmittelbar kommunizieren. In gewissen Fällen bilden sie einen Schlüsselmoment des Entwurfsprozesses ab, einen Meilenstein in der Entwurfskonzeption, niemals könnten sie tatsächlich den Entstehungsprozess eines Entwurfs abbilden; dazu ist dieser zu komplex.2 Nach der allgemeinen Distanzierung des Architekturdiskurses von den Überzeugungen des Design Methods Movements3 hat sich die Aufmerksamkeit für das Entwerfen als besonderer Form der Wissenserhebung und als Kulturtechnik wieder konstituiert. Neu ist dabei, dass auch Disziplinen an den Methoden und Verfahren des Entwerfens interessiert sind, die selbst nicht dieser besonderen Tätigkeit nachgehen, sie aber als Sonderform des Erkenntnisgewinns begreifen möchten. Methoden, Verfahren und Werkzeuge sind innerhalb des Entwurfsprozesses analysierbar, während die Resultate des Entwerfens, wie bereits erwähnt, nur bedingt Auskunft geben können. Damit verschiebt sich der Fokus der von Ammon und Froschauer

2

Einige dieser Darstellungen kommunizieren sehr effizient eine Grundidee des Entwurfs, ohne aber als Dokument seiner Entstehungsgeschichte fungieren zu können.

3

Nachdem das vor allem im angelsächsischen Raum publizierende Design Methods Movement in den 60er und 70er Jahren eine möglichst umfassende Verwissenschaftlichung des Entwerfens diskutiert hatte, wurde mit der Postmoderne Abstand von dieser Position genommen.

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beschriebenen Reflexiven Entwurfsforschung4 vom Produkt auf den Prozess. Weil das Entwerfen eine hochkomplexe und nicht in allen Teilen zugängliche Handlungsweise ist, ist die Analyse schwierig; eine Form der Untersuchung, die mit qualitativ recht belastbaren Daten arbeitet, ist die Betrachtung aller Erzeugnisse oder Materialien, die während des Entwurfsprozesses konsultiert, modifiziert und neu generiert werden. Auf dieser Annahme basiert auch ein Seminar,5 in dem Studierende der Architektur dazu aufgefordert waren, ihren individuellen, zeitgleich zum Seminar stattfindenden Entwurfsprozess anhand seiner Materialproduktion strukturiert abzubilden. Es war nicht das Ziel des Seminars, den Prozess völlig lückenlos abzubilden – Leerstellen waren vorhersehbar, wurden akzeptiert oder gerade als solche für aussagekräftig erachtet – vielmehr ging es darum, einer Reihe von Fragestellungen zum Prozess nachzugehen: • Welche Probleme werden während des Entwurfsprozesses als solche definiert und spezifiziert gelöst? • Wie bedingen sich die problematisierten Themenbereiche untereinander? • Welche Referenzen werden vom Entwerfer abgerufen und wie werden sie verarbeitet? • Welche textlichen Quellen werden konsultiert, wie werden sie analysiert, welche Texte werden neu geschrieben? • Wo entstehen Bilderketten; wo ergeben sich nachvollziehbare Entwicklungslinien und an welchen Stellen kommen diese gegebenenfalls zum Stillstand? • Welche Darstellungstechniken kommen in der Verifizierung spezifischer Entwurfsentscheidungen zur Anwendung? Die Zwischenprodukte, die Erzeugnisse der mannigfaltigen Arbeitsschritte und Verfahrensweisen, die sich während des Entwurfsprozesses materialisieren, sind im Zusammenhang dieser Fragestellungen äußerst relevant, weil sie durch ihre Kollokation an einer bestimmten Stelle des Prozesses – weit mehr

4

Ammon/Froschauer (2013), S. 16–17.

5 Das Seminar mit dem Titel „Mindmaps, Sourcebooks, Grids. Projektdokumentationen als Denkwerkzeug“ wurde zum ersten Mal im Wintersemester 2014/2015 von Carolin Stapenhorst, Juniorprofessur für Werkzeugkulturen, an der Fakultät für Architektur an der RWTH Aachen durchgeführt.

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als die finalen Ausarbeitungen zur Präsentation des Projekts – Auskunft über strukturelle Zusammenhänge geben können.6 Die Aufgabe, Formate zu entwickeln, die den Prozess strukturiert visualisieren, wird durch die Vielfalt und Vielzahl an Materialien, die während des Entwurfsvorgangs verarbeitet oder erzeugt werden, wie auch durch die unstetige, von Fortschritten und Rückschlägen geprägte Entwicklung des Entwurfs, erschwert. Im Folgenden wird eine Auswahl von bildorientierten Materialspeichern aus der Architektur, der Kunst und der Kunstwissenschaft kurz vorgestellt, die Anhaltspunkte zur Erstellung dieser Formate geben. Keiner dieser Materialspeicher wurde zum Zweck der Abbildung von Entwurfsprozessen konzipiert, jedoch können sie in einer Tradition von Prozessdokumentationen gesehen werden und wurden innerhalb des Seminars als solche konsultiert und diskutiert. 1.2. „Just Waste“. Herzog & De Meurons ausgestellte Projektarchive

1995 kuratiert Remy Zaugg eine Ausstellung über die Arbeiten des Büros Herzog & de Meuron im Centre Pompidou. Die Ausstellungkonzeption sieht vor, dass neben den realisierten Architekturen Teile des Arbeitsvorgangs, der zu ihrer Entstehung führt, sichtbar gemacht werden. Zu diesem Zweck sind in einem großen Raum auf einer Vielzahl von parallelen Reihen von Arbeitstischen Materialien ausgelegt, die „die verschiedenen Arbeitsformen des Architekten und die unterschiedlichen Phasen, die ein Projekt durchläuft,“7 illustrieren, während auf den umgebenden Wänden die gebauten Projekte auf großformatigen Fotografien gezeigt werden. Zaugg sagt, dass die Materialien auf den Tischen „unterschiedslos“8 behandelt werden, und Jaques Herzog selbst betont Anfang der 90er Jahre, dass die Ausstellungen des Büros nicht beabsichtigen, den Entwurfsprozess hinter den Projekten nachvollziehbar zu machen. Herzog definiert diese Art von Absicht hinter einer Ausstellung als zu didaktisch und langweilig, weil sie eine „trügerische Auskunft über unsere Architektur vermitteln würde.“9

6

Die ersten Ergebnisse dieses Seminars werden abschließend noch erläutert.

7

Mack (2000), S. 125.

8

Zaugg (1996), S. 65.

9

Herzog (1990), S. 14.

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Wenn es auch nicht die erklärte Absicht ist, die Konzeption und Entwicklung der Gebäude lückenlos darzustellen, so werden die Ausstellungen Herzog & de Meurons doch durch eine Faszination und besondere Wertschätzung für die Zwischenprodukte, die im Verlauf der entwerferischen Arbeitsprozesse betrachtet oder erzeugt werden, charakterisiert. Diese Wertschätzung liegt darin begründet, dass sie diese Erzeugnisse als eigenständige Objekte begreifen, die einerseits Entwicklungsschritte eines entstehenden Projektes darstellen und dessen „konzeptionelle Idee“10 beinhalten, aber auch für sich alleine stehend „eine eigene Realität aufbauen.“11 Während die Zwischenprodukte im Centre Pompidou noch als „unterschiedslos“ angeordnete Materialien gezeigt werden, deren Wirkung auf den Betrachter nicht durch eine didaktische Linie gelenkt wird, gibt es in der Ausstellung Archaeology of the Mind, die 2002 von Philip Ursprung für das Canadian Centre for Architecture kuratiert wird, ganz bestimmte Kriterien nach denen die im Entwurfsprozess angefallenen Objekte angeordnet werden. Den größten Anteil dieser Objekte machen die Konzeptmodelle aus, die seit Ende der 1990er Jahre immer stärkere Verwendung in der Entwurfstätigkeit des Büros finden.12 Die grundsätzliche Konzeption sieht vor, das Arbeitsarchiv des Büros auszustellen, das in umfangreicher Form und mit großer Präzision in der Benennung und Aufbewahrung der Arbeitsmaterialien geführt wird. Diese Materialien unter einer besonderen Annahme sortiert, und zwar wie von: „Archäologen aus der Zukunft […], die im Archiv Herzog & de Meuron auf Hunderte von Modellen stoßen, ohne zu wissen, was sie bedeuten. Wir arrangieren die Modelle nach formalen und morphologischen Kriterien, ordnen sie an, um Zusammenhänge zu suggerieren, setzten sie in Beziehung zu Kunstwerken, Objekten des Kunsthandwerks, der Ethnologie, zu Büchern, Fotografien, Spielzeugen etc. Wir organisieren sie zu sechs Entwicklungslinien, die eine Kohärenz suggerieren und zugleich die Kontingenz jeden Ordnungsprinzips deutlich machen.“13

10 Herzog (1988), S. 46, hier zitiert aus: Ursprung (2013), S. 299. 11 Herzog & de Meuron (1991), S. 23, hier zitiert aus: Ebd., S. 296. 12 Ursprung (2013), S. 293 13 Ursprung (2002), S. 36–37.

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Das in dieser Art ausgestellte Archiv beinhaltet also nicht nur die tatsächlich im Entwurf er- und verarbeiteten Materialien, sondern auch Objekte und Dokumente, die mit diesen strukturell, formal oder morphologisch assoziiert werden könnten.14 Gleichzeitig gibt es eine genaue Zuordnung zu den durchnummerierten Projekten des Büros und ein präzises System von Kategorisierungen und Etikettierungen. Die Architekten selbst beschreiben die Ausstellung der Materialien ihres Arbeitsarchivs auf der Rückseite des Ausstellungskatalogs gekonnt provokant als „gesammelten Abfall“15 und – anders als zu den Ausstellungen der 90er erklärt – soll hier bis zu einem gewissen Grad Einsicht in die Denkprozesse vermittelt werden, die die Entstehung von Projekten begleiten: „Es ist also eine Archivausstellung, das heißt eine physische Ansammlung von Dokumenten, die wir herstellten, um gedankliche Prozesse in Gang zu bringen […], zu beschleunigen […], zu stoppen […], zu lenken. Es sind stumme und leblose Zeugnisse intellektueller und gruppendynamischer Prozesse.“16

Die Ausstellung „Nr. 250“, die 2004 im Schaulager Basel stattfand, setzte das Konzept der Archivausstellung fort und erstellte ein weiteres dokumentierendes Format zu den Arbeitsprozessen des Büros: die auf raumhohe Wände gedruckten Sourcebooks, die Tausende von Bildern zu einem spezifischen Projekt zeigen. Die Bilder sind durch die Projektnummer gekennzeichnet, ihre Sortierung und Anordnung auf den Wänden erfolgt durch die Dateibenennung mit einem chronologischen Verweis. Die Bilder sind zum einen in projektbezogenen Internetrecherchen gesammelt worden, zum anderen bestehen sie aus fotografischem Material, das in verschiedenen Projektphasen erstellt wurde: von der Abbildung des Bauplatzes, über Fotografien von Materialproben und Mock-ups zu den Bilddokumentationen der Baustelle. Herzog & de Meuron betonen bezüglich der Sourcebooks sowohl deren operativen Aspekt als kollaboratives Instrument zur Kommunikation und Archivierung von Informationen, als auch ihre persönliche Faszination mit den Bilderströmen

14 Diese Zuordnungen können in Beziehung gesetzt werden zu Aby Warburgs Bildatlas Mnemosyne und die Bilderketten, die O.M. Ungers in den 60er Jahren zum „Baukasten“ entwickelt. Auf beide wird später noch eingegangen. 15 Herzog & de Meuron (2002), Rückseite des Buchumschlags. 16 Ebd., S. 78.

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digitaler Datenbanken. So beschreibt das Vademecum zur Ausstellung die Sourcebooks als „einen Strom von Bildern, der undifferenziert den Verlauf des Projekts widerspiegelt, unseren Blick von Schritt zu Schritt lenkt und in bestimmten thematischen Bereichen pausieren lässt, ohne diese in einer bestimmten Weise hervorzuheben.”17

Neben den auf Tischen angeordneten Modellen und Materialproben, die Arbeits- und Denkprozesse illustrieren, vermittelt der Bilderfluss der Sourcebooks den Effizienzgedanken einer wohlsortierten und immer wieder neu abrufbaren Datenbank.18 Doch so sehr die Materialien der Ausstellung als beinahe automatische und ungefilterte Abbildung von Entwurfsprozessen zu fungieren scheinen, so muss doch beachtet werden, dass die Ausstellungen des Büros erklärtermaßen selbst Entwürfe und die ausgestellten Materialien dementsprechend sorgfältig konzertierte Sammlungen sind. Es handelt sich also um eine sehr selektive Einsicht in Arbeitsprozesse und ihre Aussagekraft ist vielleicht nicht beschränkt, aber doch sicherlich gelenkt. Obwohl man diesen Aspekt bei der Betrachtung der Materialien bedenken sollte, so ist die Wertschätzung für die Zwischenprodukte des entwerfenden Handelns ebenso beeindruckend wie die Abbildung des Arbeitsaufwands, der in die Projekte fließt. Und das ist wohl auch der große Unterschied in der Selbstdarstellung Herzog & de Meurons im Vergleich zu vielen anderen bekannten Architekten und Architekturfirmen: statt den Entwurfsprozess auf einzelne Momente von Eingebung und Genialität, womöglich sich in einzelnen Skizzen materialisierend, zu reduzieren, wird hier mit großer Bewusstheit gezeigt, dass das Entwerfen ein langer und intensiver Arbeitsvorgang ist. 1.3. Bilder der Annäherung. Gerhard Richters Atlas

Zahlreich sind die Bezüge Herzog de Meurons auf die Arbeiten Gerhard Richters. Auch ihr Interesse und ihre Wertzuschreibung für die Zwischenprodukte kreativer Prozesse erinnert an eine Besonderheit in Richters Werk: den Atlas. Catherine Hürzeler verweist in ihrem Essay zum Archaeology of the

17 Eigene Übersetzung, Vischer (2004), S. 23. 18 Sie werden im Vademecum auch als „mögliches Inventar für die zukünftige Nutzung“ beschrieben, ebd., S. 25.

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Mind-Ausstellungkatalog auf die Gemeinsamkeiten zwischen den systematischen Materialsammlungen Richters und dem Arbeitsarchiv des Büros.19 Es soll an dieser Stelle aber nicht um die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den Sammlungen des Schweizer Büros und der Bildsammlung Gerhard Richters gehen, sondern um den Atlas als eigenständiges Archiv. Denn der Atlas ist nicht als dokumentierendes Format eines Schaffensprozesses konzipiert, sondern als tagebuchähnliches Materiallager. Eher unbeabsichtigt und indirekt werden in diesem Materiallager Entwicklungslinien und Serialitäten ablesbar. Richter konzipiert den Atlas als Tafelwerk; kleine Abbildungen sind systematisch auf weißen Kartons mit standardisierten Maßen angeordnet und inhaltlich sortiert. Die Bildmaterialien sind heterogen: es gibt Fotografien, Zeitungsausschnitte, Farbmustertafeln, Collagen, Skizzen, Bildmontagen, sowie Abbildungen aus Büchern. Ab 1972 stellt Gerhard Richter die Materialsammlung immer wieder aus. Seine Beschäftigung mit der Anordnung der Tafeln innerhalb der Ausstellungen führt zur Formierung von thematischen Blöcken. Die Einordnung in thematische Blöcke ist allerdings nicht rigide und kann wiederholt variiert werden; überhaupt ist der Atlas als wachsendes, sich wandelndes Werk angelegt. In einer ersten Buchausgabe 1997 werden die Bildtafeln zum ersten Mal systematisch mit Richters Werkverzeichnis verknüpft; es gibt eine in beide Richtungen lesbare Verbindung zwischen Werk und vorbereitendem Bildmaterial. Die Verbindung zwischen Atlas und Werken ist seitdem beibehalten worden und prägt auch den Internetauftritt Richters. In seiner Einführung zum 2009 in Buchform veröffentlichten Atlas beschreibt Helmut Friedel dieses Kartenwerk als Ausdruck einer künstlerischen Strategie Richters – die des „Sammelns, Aufbewahrens und Zeigens des Materials, aus dem die Ideen bezogen wurden.“20 So zahlreich die gesammelten Abbildungen aber auch sind, haben sie gleichzeitig die sehr wichtige Funktion eines selektiven Filters, die Gerhard Richter auch im Hinblick auf seine Fotografien erklärt:

19 Hürzeler (2002), S. 205. 20 Friedel (2009), S. 6.

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„Ich sehe unzählige Landschaften, fotografiere kaum eine von 100 000, male kaum eine von 100 fotografierten, – ich suche also etwas ganz Bestimmtes; ich kann daraus schließen, dass ich weiß, was ich will.“21

Da der Atlas eine zusätzliche aussortierende Ebene darstellt – nicht alle gemachten Fotografien werden auf den Tafeln festgehalten – liegt nahe, dass Richter zwar „weiß, was er will“ und ganz bestimmte Entwicklungslinien verfolgt, ihm der Atlas aber ein nützliches und womöglich notwendiges Instrument ist, um diese Entwicklungslinien in ein Werk zu überführen. Eine Überführung „aus der Fülle des ‚Bildmöglichen‘ zum notwendig ‚richtigen Bild‘,“ wie Friedel es formuliert.22 Diesen operativen und prozessualen Wert des Atlasses und der Zwischenprodukte, die er enthält, beschreibt Richter selbst wie folgt: „Ich glaube nicht an das absolute Bild, es kann nur Annäherungen geben, immer und immer wieder Versuche und Ansätze. Das wollte ich ja auch in diesem Katalog zeigen, nicht die besten Bilder, sondern alles, die ganze Arbeit der Annäherung, mit allen Irrtümern.“23

Diese „Arbeit der Annäherung“ wird hier von Richter als eine intellektuelle Arbeit beschrieben.24 In diesem Sinne ist sein Bildatlas zwar auch ein Art von Materiallager, aber vor allem ein Zeugnis von Denkprozessen und dieses Denken findet – nicht überraschend bei einem gestaltenden Künstler – in Bildern statt. Auch in der heterogenen Materialproduktion von Entwurfsprozessen dominieren die bildlichen Erzeugnisse, wobei die Besonderheit des Entwerfens wohl ist, dass nicht nur das Denken, sondern auch das Erinnern in großen Teilen bildbasiert stattfindet.

21 Richter (1964/1993), S. 17, hier zitiert aus: Friedel (2009), S. 5. 22 Friedel (2009), S. 6. 23 Richter (1986), S. 33, hier zitiert aus: Hürzeler (2002), S. 216. 24 Ebd.

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2. BILDER IN ENTWURFSPROZESSEN 2.1. In Bildern denken

Die Materialien, die während des Entwurfsprozesses konsultiert, bearbeitet oder produziert werden, lassen sich stark vereinfachend in drei Materialtypen einteilen – in Texte, Bilder (auch animierte) und Objekte – wobei es dazu wiederum möglich ist, zwei übergeordnete Kategorien zu bilden: die textlichen und die visuellen Informationen. Besonders intensiv, vielfältig und charakteristisch für die Tätigkeit des Entwerfens ist die Bildproduktion, der man bis zu einem gewissen Grad auch die Produktion von Objekten zuordnen kann, weil auch diese in den Verifizierungsphasen von Entwurfsentscheidungen oft durch einzelne Standbilder überprüft und katalogisiert werden. Unzweifelhaft haben analoge Architekturmodelle besondere haptische und materielle Qualitäten, die es ermöglichen, sehr unmittelbar bestimmte Aspekte des Entwurfs räumlich zu analysieren.25 Es fällt allerdings auf, dass gerade die Sequenzen räumlicher Erfahrungen, die an Modellen gesammelt werden, häufig durch die fotografische Dokumentation bestimmter Modellsituationen verfestigt und der weiteren Bearbeitung im Entwurfsprozess zugänglich gemacht werden. In den Versuchen die komplexe Tätigkeit des Entwerfens zu beschreiben, wird gerade in Schriften des angelsächsischen Raums26 der Entwurfsprozess als besondere Form eines Problemlösungsprozesses definiert. Das Entwerfen wird unter dieser Prämisse vor allem als intellektuelle Aktivität untersucht und mit dem Begriff des Design Thinking, des entwerferischen Denkens, verknüpft.27

25 Zur besonderen Effizienz des analogen Modells und der Unmittelbarkeit, mit der es Auskunft über Raum, Licht, Atmosphäre und Tragverhalten gibt, äußert sich zum Beispiel Sabine Ammon, Ammon (2013), S. 345–350. 26 Christopher Alexander beschreibt in seiner Doktorarbeit „Notes on the Synthesis of Form“ das Entwerfen als Prozess, der über die Lösung von Einzelproblemen zur Lösung des komplexen Gesamtentwurfs führt. Diese Arbeit, die er in Auszügen bereits 1962 auf der „Conference on Design Methods“ vorstellt, hat großen Einfluss auf das gesamte Design Methods Movement. Alexander (1964) 27 Bryan Lawson und Kees Dorst haben vertiefte Überlegungen zu diesen Definitionen dargelegt: Lawson (1980); Dorst (2003); Lawson/Dorst ( 2009).

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Betrachtet man nun die stetige und umfangreiche Konsultation und Produktion von Bildern, die den Entwurfsprozess kennzeichnen, ist leicht nachvollziehbar, wie sehr das entwerferische Denken in Bildern stattfindet. Dass dies ganz besonders, aber nicht ausschließlich für das Nachdenken im Entwurf gilt, beschreibt Rudolf Arnheim in seinem Buch Visual Thinking, in dem er den Begriff des produktiven Denkens definiert und erläutert, dass „es viele Hinweise darauf gibt, dass wahrhaft produktives Denken in jedem Bereich der Erkenntnis im Reich der Bilder stattfindet.“28 Schon in seiner Veröffentlichung Art and Visual Perception erklärt Arnheim die Aktivität des Sehens zur einer intellektuellen Tätigkeit und die verschiedenen Formen bildlicher Produktion in den Künsten zu einer Form des Nachdenkens. Er detailliert die Zusammenhänge zwischen den mentalen Vorgängen des Sehens und Erkennens wie folgt: „Jedes Wahrnehmen ist auch Nachdenken, jedes Schlussfolgern ist auch Intuition und jede Beobachtung ist auch Invention.“29 Diese Vorgänge des Wahrnehmens, Schlussfolgerns und Beobachtens können auch im Entwurfsprozess erfasst werden und sind vergleichbar mit den sich kontinuierlich abwechselnden und ständig neu durchlaufenden Momenten des Analysierens, Synthetisierens und Evaluierens, die das Entwerfen ausmachen. Arnheim illustriert den engen Zusammenhang zwischen Wahrnehmung und Erkenntnis, die seiner Definition folgend zu großen Teilen durch das Erkennen auf visueller Basis ermöglicht wird, mittels der Operationen, die er als besonders erkenntnisbringend begreift: „Aktive Exploration, Auswahl, Erfassung des Essentiellen, Vereinfachung, Abstraktion, Analyse und Synthese, Komplettierung, Korrektion, Vergleich, […], Kombinieren, Trennen, in Zusammenhang bringen.“30

Alle diese Operationen sind deutlich in der Bildkonsultation, Bildbearbeitung und Bildproduktion, die Entwerfer zum Erwerb, zur Verwahrung und zur Verarbeitung von Informationen anwenden, identifizierbar. Diverse dieser Operationen, insbesondere die des Selektierens, Abstrahierens, Kombinierens und Trennens, entsprechen zudem den Manipulationen, die bestimmte Darstellungstechniken im architektonischen Entwerfen prägen. Entwerfende,

28 Eigene Übersetzung, Arnheim (1969), S. V. 29 Eigene Übersetzung, Arnheim (1954), S. 5. 30 Eigene Übersetzung, Arnheim (1969), S. 13.

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die ihre Darstellungstechniken beherrschen, haben in diesem Sinne eine ganz besondere Expertise in der Verbildlichung von Informationen. Tatsächlich zeigen viele der im Entwurfsprozess erzeugten Bilder eine – manchmal abstrakte, oft räumliche – Organisation von Wissen. So gehört es zu den ganz grundsätzlichen Prozeduren des Entwerfens, dass textliche in bildliche Informationen übertragen werden. Dieses findet wiederholt und in verschiedenen Maßstäben und Detaillierungsgraden statt und drückt sich in abstrakten Skizzen und datengefütterten Diagrammen ebenso sehr aus wie in Grundrissplänen und konstruktiven Detailschnitten. 2.2. Sich in Bildern erinnern

Ein Teil des Bilderflusses, der innerhalb von Entwurfsprozessen beobachtet werden kann, wird von Bildern ausgemacht, die auf verschiedene Arten von den Entwerfenden erzeugt werden, um Überlegungen nicht nur abzubilden, sondern – wie wiederum Arnheim verdeutlicht – um das Nachdenken überhaupt möglich zu machen.31 Ein anderer großer Teil dieses Bilderflusses wird durch die Bilder ausgemacht, die von den Entwerfenden gesucht, betrachtet und konsultiert werden. Entwerfende nutzen dabei verschiedene Möglichkeiten. Sie können gezielt nach ganz spezifischen Materialien suchen, wie zum Beispiel nach baulichen Referenzen, die sie in Handbüchern und anderer Fachliteratur recherchieren und unter typologischen, legislativen, funktionalen oder konstruktiven Gesichtspunkten analysieren. Neben spezifischen und fachinternen Bildrecherchen gibt es die Möglichkeit, unspezifisch oder fachübergreifend zu suchen und eine unbegrenzte Vielfalt von Bilddokumenten zu konsultieren und auf ihre potentiell entwurfsrelevanten Eigenschaften hin zu untersuchen. Neben diesen aktiv gesuchten oder auch zufällig gefundenen Bildern gibt es aber auch die Bilder, an die sich die Entwerfenden erinnern. Und so wie hier von der Annahme ausgegangen wird, dass Entwerfer in Bildern denken, soll ebenso die Annahme gelten, dass Entwerfer sich in Bildern erinnern. Es ist möglich, sich in Bildern zu erinnern, weil Entwerfende über ein persönliches Archiv von Referenzen verfügen, eine Art Materiallager von „Dingen zum Denken“32, das einen wichtigen Teil ihrer spezifischen Expertise aus-

31 Eigene Übersetzung, Arnheim (1969), S. 134. 32 things to think with, Schön (1988), S. 112.

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macht.33 Es gibt verschiedene Ansätze, um zu beschreiben, wie bestimmte Bilder in das Langzeitgedächtnis gelangen und auf welche Art und Weise sie während des Entwurfsprozesses projektspezifisch wieder abgerufen werden. Ein überzeugender Ansatz dazu kommt von Donald Schön, der sich wiederum auf Rudolf Arnheims Überlegungen zur Produktivität von Abstraktionsmechanismen beruft und den Begriff des Prototypen prägt. Prototypen sind demnach die Objekte oder Bilder, die vor allem über ihre strukturellen Eigenschaften verstanden werden und in der Lage sind, ganze Gruppen von weiteren Objekten oder Bildern in Erinnerung zu rufen.34 Da sie vor allem über ihre strukturelle Identität wahrgenommen werden, haben sie eine größere Universalität und können auf vielfältigere Situationen bezogen werden; ein Mechanismus, der unter anderem davon bestätigt wird, dass sich Entwerfende oft in einem ersten Moment auf Typologien und erst darauffolgend innerhalb einer typologischen Kategorie auf einzelne Projekte beziehen, wenn sie Referenzen suchen und verarbeiten. Oder umgekehrt erinnert der Entwerfende sich erst an ein einzelnes Projekt, das es als Prototyp einer Typologie ermöglicht, eine größere Gruppe weiterer Referenzen abzurufen. Dem Thema der Bildergruppen, Bilderketten und dem Vorhandensein durchgängiger Strukturen, die das individuelle und kollektive Gedächtnis beeinflussen, geht auch Aby Warburgs Bilderatlas Mnemosyne nach. Die formale und konzeptionelle Beeinflussung von Gerhard Richters Atlas, wie auch der Ausstellungskonzeption von Herzog & de Meurons Archaeology of the Mind durch Warburgs Mnemosyne ist in vielerlei Hinsicht identifizierbar. Insbesondere die Idee Warburgs, eine Art von Behälter zu schaffen, in dem heterogene Materialien gruppiert und so in einen Zusammenhang gesetzt werden können, prägt das Format Richters und die Ausstellungskonzeption Herzog & de Meurons. Allerdings fungieren diese Behälter – bei Richter sind es die weißen Kartons und ihre thematischen Gruppierungen, bei Herzog & de Meuron sind es die Anordnungen auf den Tischen der Ausstellung – als Materiallager für abgeschlossene oder zukünftige Bilder und Projekte. Bei Warburg hingegen dienen die schwarzen Tafeln des Atlasses vor allem als ein

33 Über ein persönliches Archiv von Referenzen zu verfügen, wird unter anderem von Hermann Hertzberger, Bryan Lawson und Donald Schön als essentieller Bestandteil von Entwurfsexpertise verstanden: Hertzberger, (1991); Lawson (2004); Schön (1988). 34 Schön (1988), S. 13.

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analytisches Instrument, das vermittelt, wie bestimmte Bildmotive und Symbole sich über materielle, epochale und kulturräumliche Grenzen hinweg verstetigt haben und somit ein kollektives Bildgedächtnis darstellen. Wichtig ist in dieser Hinsicht, dass Warburgs Tafeln bestimmte Kontinuitäten abbilden, ohne sie komplett fixieren zu wollen. Die Bilder im Atlas Mnemosyne sind in Gruppen geordnet, werden aber nur temporär auf den schwarzen Tafeln angeordnet. Ihre Anordnung ist nicht fixiert und kann verändert werden; manchmal ergeben sich in den Anordnungen lineare Ablesbarkeiten, in anderen Momenten können sie netzartige Überschneidungen abbilden. Die Bilder sind in Bewegung, sie wirken wie die Materialien eines Netzes, das sich verändern und wiederum neue Gruppierungen und neue Bilder produzieren kann.35 Die Annahme, dass es sich bei Warburgs Atlas um ein offenes, sich veränderndes und produktives Bildarchiv handelt, kann in gewissem Sinne auf die Konsultation und Verarbeitung von Referenzobjekten im Entwurfsprozess übertragen werden.36 Warburg sammelt und gruppiert die Materialien, mit denen in den bildenden Künsten gedacht wird, so wie auch im architektonischen Entwerfen mit den Bildern von bereits gebauten Architekturen gearbeitet wird. Ein wichtiger Teil des Entwurfsdenkens wird also durch Erinnerung an oder die aktive Suche nach Bildern zu Gebäuden aus der Vergangenheit katalysiert. Eine sehr eindrückliche Zusammenstellung von Bildern zu Architekturen der Vergangenheit, die vor allem durch ihre strukturellen Zuordnungen charakterisiert wird, ist die Bilderreihe zum „Baukasten, die O.M. Ungers anlässlich seiner Berufungsvorlesung an der TU Berlin gemacht hat.37 Als Behälter bzw. Kategorisierungssystem dient in diesem Fall das Modell eines Würfels, der sich aus Stäben, Flächen und Kuben zusammensetzt, die als Einzelelemente wieder zu anderen räumlichen Konfigurationen umgebaut werden können. Ungers ordnet diesen geometrischen Elementen Linie, Fläche

35 Motta (2012), S. 8. 36 Graffione (2012). In dieser Studie, die auf ihrer Doktorarbeit basiert, definiert Marcella Graffione den Atlas Mnemosyne als eine „macchina di memoria“, eine „Erinnerungsmaschine”, die in ihrer Konzeption als Bildernetzwerk auch für das architektonische Entwerfen genutzt werden könnte. 37 Berufungsvortrag zu den Prinzipien der Raumgestaltung gehalten an der TU Berlin 1963; 2006 veröffentlicht in archplus 181/182.

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und Volumen verschiedene bauliche Elemente zu (Stütze, Pfeiler, Spannseil, Wand, Decke, Platte, Steine, Quader usw.38) und nutzt sie, um raumbildende Prinzipien einfach nachzubauen. Innerhalb der Kategorien Gliederbau, Flächenbau und Massenbau ordnet er sie nach verschiedenen additiven Prinzipien an und fügt ihnen Referenzen aus verschiedenen Epochen der Architekturgeschichte zu. Unter diesen Referenzen sind zum Teil sehr bekannte Gebäude, zum Teil handelt es sich um anonyme Architekturen, und Ungers betont: „Ich lasse die Bilder kinematografisch hintereinander ablaufen, wobei es mir – wie gesagt – nicht auf irgendeine kulturelle oder zeitgeschichtliche Bedeutung ankommt, sondern lediglich auf das Prinzip, das in gleicher Weise allen gezeigten Beispielen zugrunde liegt.“39

Und tatsächlich fühlt man sich bei der Betrachtung der vertikal angeordneten Bilderketten aus Ungers‘ Baukasten zum einen an die Gruppierungstechniken von Warburgs Mnemosyne erinnert, zum anderen bebildern die Reihen sehr klar die von Schön definierte Rolle der Prototypen für die Konsultation von Referenzen innerhalb des Entwurfsprozesses.

3. GRIDS 3.1. Le Corbusier’s Konzeption eines outil à penser

Nach dem 6.Congrès International d’Architecture Moderne 1947 in Bridgwater, an dem sich Le Corbusier mit „Haufen von Hunderten von Vorschlägen“ und „Bergen von Papier“40 konfrontiert sieht, beauftragt er die zum CIAM gehörende Arbeitsgruppe ASCORAL mit der Konzeption eines neuen Instruments der Darstellung. Dieses Instrument soll es möglich machen, die Vielzahl von Materialien, die zu den Kongressen eingeschickt werden, zu ordnen und schneller lesbar zu machen. Diese Ordnung erfolgt durch „ein besonderes poetisches Genre, das poetische Genre der Klassifizierung!“41 Die

38 Ungers (1963/2006), S. 39. 39 Ebd., S. 40. 40 Dieses erklärt Le Corbusier in seiner Rede zur Vorstellung der grille am 7, CIAM in Bergamo 1949; Veröffenlicht in: Sert et al. (1952), S. 171. 41 Ebd.

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Gruppe ASCORAL entwickelt eine Tabelle, die grille, – hier im folgenden Grid genannt – die zum ersten Mal 1948 in Wien vorgestellt wird, und die dort laut Corbusier sofort ihr Potential als „strategische Waffe der Stadtplanung“42 enthüllt, weil sie wichtige Beiträge zur Diskussion klar abbildet und verständlich macht. Nach der Vorstellung in Wien beschließt man, die Grid weiterzuentwickeln und als verbindliches Format für die Darstellungen der Projekte für den folgenden 7. CIAM 1949 in Bergamo herauszugeben, der das Thema „The Athens Charter in Practice“ hat. Das Format ist grundsätzlich wie eine Tabelle angelegt, die horizontal in die vier in der Charta von Athen festgelegten funktionalen Zonierungen der Stadt aufgeteilt ist: Dwelling, Working, Cultivating the body and the mind, Circulation. Zusätzlich enthält sie noch eine fünfte horizontale Zeile für „Diverses“ und ist vertikal in zwölf Spalten eingeteilt. Die vertikalen Spalten enthalten die folgenden Themen: Environment, (Ground) Occupation, Built Volume, Facilities, Ethic and Aesthetic, Economic and social impact, Legislation, Financing, Stages of construction, Various, Reactions (rational order, spiritual order). Vertikal können zudem zusätzliche Themenfelder hinzugefügt werden; die Struktur ist diesbezüglich offen. Die Zellen in den Zeilen haben ein festes Format von 21 x 33 cm und sind selbst wiederum unterteilt in einen Dokumentteil und ein vertikales Erläuterungsfeld, das auch die Zuordnung zum übergeordneten Farbschema der Grid enthält.

Abb. 1: Struktur der von Le Corbusier mit ASCORAL entwickelten Grid (Ausschnitt)

42 Ebd.

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Das Ziel des 7.CIAM ist es, die Anwendbarkeit der Charta von Athen anhand der eingereichten Projekte zu verifizieren. Die horizontale Gliederung der Grid in die funktionalen Streifen soll es ermöglichen, einen unmittelbaren Bezug zwischen den dargestellten Projekten und der Charta herzustellen. Die vertikale Aufteilung in zwölf thematische Bereiche ergibt die Möglichkeit, innerhalb jedes funktionalen Streifens detaillierte Aussagen zu Fragen der Maßstäblichkeit, aber auch zu allen weiteren Wirkungsebenen des Projektes zu machen und Le Corbusier ist überzeugt, dass durch die Vollständigkeit, aber vor allem durch die klare Zuordnung aller Informationen zum Projekt, alle Stärken und Schwächen des Entwurfs sichtbar werden. Die Grid ist in diesem Sinne nicht nur ein Mittel der effizienten Kommunikation dessen, was bezüglich eines Entwurfs gedacht wurde, sondern vor allem „selbst ein Instrument des Denkens.“43 Innerhalb der Grid sind die verschiedenen Informationen zum Projekt nicht nur präzise angeordnet, sondern einander in bestimmter Weise zugeordnet. So ergibt sich auf einer einzigen großen Tafel eine gleichzeitige Sichtbarkeit, die in doppelter Hinsicht wirkt. Zum einen werden verschiedene Projekte schnell miteinander vergleichbar. Zum anderen ergeben sich durch die simultane Sichtbarkeit der Informationen neue Zusammenhänge. Und genau diesen Aspekt betont Le Corbusier in seiner Vorstellung der Grid am CIAM von Bergamo: „Nun schaut auf die Grid! Eure stummen Probleme erscheinen sofort offenkundig vor Euren Augen…“44 3.2. CIAM und Team 10. Grids als Instrument der inhaltlichen Auseinandersetzung

Bei der Einführung der Grid beim 7. CIAM werden 28 Projekte im normierten Format abgegeben; und auch wenn Le Corbusier anmerkt, dass „ein paar übliche Rebellen für sich selbst Werbung machen wollen, indem sie sich anders als die anderen zeigen“45, wird das Format für die folgenden Kongresse fest eingeführt. Während des nächsten Kongresses, dem 8. CIAM 1951 in Hoddesdon, beginnt sich ein Gruppe jüngerer Teilnehmer zu formieren, die eine kritische Revision der Ideologien und Projektinhalte der Teilnehmer46 vor-

43 Ebd., S. 174 44 Ebd., S. 172. 45 Ebd. 46 Die bisher umfassendste Veröffentlichung zum Team 10 (Team 10. In search of a utopia

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nimmt, die der konsolidierten, der „klassischen“, Moderne zuzuordnen sind, darunter auch Le Corbusier selbst. Diese kritische Revision führt so weit, dass diese Gruppe, die sich ab 1955 „Team 10“47 nennt, den CIAM 1959 in Otterlo sprichwörtlich „zu Grabe“ trägt. Auffallend in Bezug auf die Rolle von Projektdokumentationen ist dabei, dass die vom Team 10 initiierte inhaltliche Auseinandersetzung deutlich innerhalb der Grids, die sie selbst zu den CIAM-Kongressen erstellen, abzulesen ist. Das Instrument der Grid beeinflusst die Diskussion und scheint diese bis zu einem gewissen Grad sogar überhaupt erst herbeizuführen. Damit bestätigt sich die Annahme Le Corbusiers, dass es sich beim Grid nicht um eine bloße Darstellungskonvention, sondern tatsächlich um ein Denkinstrument mit seiner eigenen Wirkungsmacht handelt. Die Verwendung der Grids als Instrumente der inhaltlichen Auseinandersetzung erscheint zum ersten Mal offensichtlich in den Beiträgen des Team 10 zum 9. CIAM-Treffen in Aix-en-Provence, dessen erklärtes Ziel es ist, die Charta von Athen weiterzuentwickeln und das Thema des Habitat zu diskutieren. Alison und Peter Smithson präsentieren das Urban Re-IdentificationGrid, das sich stark von der Strukturierung der früheren CIAM-Grids löst und exemplarisch für weitere 1953 präsentierte Grids48 steht, die die vorher geltenden formalen Konventionen der CIAM-Präsentationen revolutionieren. Dabei fällt vor allem auf, dass sie die Kategorien der funktional zonierten Stadt mit den Kategorien ersetzen, die sie im zuvor innerhalb der britischen MARS-Gruppierung entwickelten Diagramm der Hierarchy of Human Associations darstellen. Die neuen Kategorien sind dem Diagramm entsprechend: House, Street, District, City; außerdem gibt es die Kategorie Relationship. Diese Begriffe betiteln die vertikalen Spalten, die jeweils drei Felder enthalten, wobei diese nicht strukturell differenziert sind, sondern zum Teil ähnliche, zum Teil maßstäblich unterschiedliche Darstellungen enthalten.

for the present) identifiziert in Bakema, Candilis, De Carlo, van Eyck, den Smithsons und Woods die Kernmitglieder der Gruppe; in: van den Heuvel, Risselada (2005), S. 11. 47 Die Gruppe formiert sich ab dem 9. CIAM in Aix-en-Provence 1953 fester und erhält den Namen „Team 10“, als sie sich mit der Organisation des 10. CIAM in Dubrovnic 1956 befasst. 48 So zum Beispiel das Bidonville Mahieddine Grid von CIAM-Alger und das Habitat du plus grand nombre Grid von GAMMA.

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Diese Grid überschreibt nicht nur die bisher vorgegebenen Kategorien komplett, auch die Art der Materialien, die sie enthält, sind andersartig: es gibt nur wenige konventionelle technische Zeichnungen und fast die Hälfte der Felder enthält von Nigel Henderson gemachte Fotografien von spielenden Kindern. Einige Felder sind mit Collagen und skizzierten Diagrammen gefüllt.

Abb. 2: Urban Re-Identification-Grid von Alison und Peter Smithson

Die Materialien wirken eher poetisch als analytisch und dokumentieren doch sehr klar die Entwurfskriterien der Smithsons: Die Studie des Orts und die Wertschätzung des Alltäglichen und somit das Prinzip des as found, die Suche nach soziologischen und kontextuellen Faktoren, die besondere Aufmerksamkeit für die Planung und Gestaltung der öffentlichen Räume, die Mischung der Funktionen. Was also auf der einen Seite eine Auseinandersetzung mit der Über-Bürokratisierung der CIAM-Bewegung zu sein scheint, wird durch die komplett neue Auslegung der Grid-Konzeption zu einer intensiven inhaltlichen Auseinandersetzung. Die Grid als Ausdruck einer sich differenzierenden Entwurfshaltung wird dadurch charakterisiert, dass kaum noch „fertige“ Präsentationszeichungen gezeigt werden, sondern diverse Materialien, die wiederum wie Zwischenprodukte des Entwurfsprozesses wirken; so zum Beispiel Skizzen und Fotografien. Anders im Vergleich zur älteren Generation der Moderne erscheint hier das Bedürfnis, die Konzeptionsphase des Entwurfs zumindest in Teilen zugänglich und verständlich zu machen. Die inhaltliche Auseinandersetzung mittels des Grids-Formats wird beim 10. CIAM 1956 in Dubrovnik fortgesetzt. So stellt das Lost Identity Grid von van Eyck dessen Spielplatzprojekte in Amsterdam ausschließlich durch suggestive Fotografien und eine Narration dar. Wie schon bei den Smithsons wird hier die Grid zu einem stark strukturierenden Behälter, der die heterogenen Materialien in einen sinnbringenden Zusammenhang bringt. Die Materialien in van Eycks Grid würden für sich allein gestellt nicht die Konzeption des Projekts darstellen können; dies ist nur durch ihre Zusammenführung in der

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Grid-Struktur möglich. Während in den ersten CIAM-Grids das eingefügte Material noch ausdruckkräftiger als die Grid selbst ist, verstärkt hier die Grid als Behälter die Aussagekraft der Materialien. 3.3. La nuova griglia politecnica. Ein Grid für die Entwurfslehre

Schon bei der ersten Vorstellung der Grid 1949 in Bergamo betont Le Corbusier die diversen Potentiale dieses Instruments, erkennt aber auch die Notwendigkeit die Grid zukünftig weiterzuentwickeln und zu verändern: „Verbessert die Grid auf jede Art und Weise, aber zerstört sie nicht!“49 Tatsächlich aber wird dieses Instrument 1956 in Dubrovnik zum letzten Mal intensiv genutzt. Eine italienische Forschungsgruppe, geleitet von Giancarlo Motta, beschäftigt sich ab den frühen 90er mit dem Einsatz tabellenartiger Formate in der Entwurfsdidaktik50 und stellt anlässlich des fünfzigjährigen Jahrestages des CIAM von Bergamo 1999 einen Forschungsantrag über die Weiterentwicklung der Grid-Idee für eine Anwendung in der Didaktik, den sie auf einem manifestartigen Plakat präsentieren. Das Zitat Le Corbusiers, „La grille est un outil à penser“, das die dargestellte Struktur betitelt, kennzeichnet die konzeptionelle Ausrichtung des zu entwickelnden Instruments, das zwar auch als Präsentationsformat funktionieren soll, aber dessen grundsätzlicheres Ziel es ist, das entwerferische Denken zu strukturieren. Zwei wichtige Aspekte der CIAM-Grid werden übernommen und betont. Zum einen ist das die Möglichkeit einer simultanen Übersicht möglichst vieler Aspekte des Entwurfs. Zum anderen ist es die Idee, dass die Tabelle aus einer Struktur von sich überschneidenden vertikalen und horizontalen Streifen besteht, von der Corbusier bei der ersten Vorstellung des Grid sagt, dass „die Überschneidung der vertikalen und horizontalen Linien im Gewebe eines Rasters einer Menge nützlicher Elemente für die Diskussion zutage treten lässt.“51

49 Sert, et al. (1952), S. 175. 50 Giancarlo Motta, Antonia Pizzigoni und ihre Mitarbeitern setzen die sogenannte „große Tabelle“ – „il Tabellone“ – in den Entwurfskursen des 1. Studienjahres am Politecnico von Mailand ein. 51 Sert, et al. (1952), S. 171.

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Abb. 3: „La griglia cinquantenaria“, gezeichnet anlässlich des 50. Jahrestages des CIAM Bergamo.

Ein sehr großer Unterschied zur ursprünglichen Grid liegt allerdings in ihrer geplanten Anwendung als Instrument der Didaktik in Entwurfskursen. Sie soll nicht mehr nur dazu dienen, einen bestimmten, als mehr oder weniger abgeschlossen erachteten, Planungsstand des Projekts abzubilden, sondern sie soll von Studierenden während des Entwurfsprozesses als Archiv für alle entstehenden Materialien genutzt werden und gleichzeitig die Materialien konsultierbar machen, die den Studierenden als Grundlage für ihren Entwurf zur Verfügung gestellt werden. Die Grid fungiert so als Projektdatenbank, die kontinuierlich abgefragt und gefüllt wird und sich somit im Laufe des Entwurfs ständig verändert. Sie fungiert nicht mehr als abbildendes Instrument, das am Ende des Entwurfsprozesses steht, sondern als Entwurfsbegleitendes Werkzeug.52 Dieser grundsätzliche Unterschied in der Konzeption bedingt

52 Die Entwicklung dieser didaktischen Grid, die theoretischen Hintergründe, ihre operative Strukturierung und detaillierte Definitionen zu den spezifischen Prozeduren, die sie vorsieht, können hier nur kurz umrissen werden. 2012 ist eine umfangreiche Veröffentlichung zur Grid entstanden: Motta (2012).

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auch, dass die Grid nicht mehr nur gezielt spezifische Informationen zum Projekt abfragt, sondern dass ihre Struktur den Studierenden bestimmte Arbeitsschritte und Prozeduren vorgibt, um diese spezifischen Informationen zu erzeugen und darzustellen – die Grid wird so zu einer detailliert strukturierten Entwurfsmethode. Die genaue Definition dieser Entwurfsmethode erfolgt durch die Zuordnungen entlang beider Gridachsen, wobei wie im CIAM-Grid die Festlegungen der horizontalen Zeilen die dominierenden sind, während die vertikale Abfolge von Festlegungen bestimmte Sequenzen innerhalb der Horizontalstreifen beschreibt. Die Netzstruktur der Grid startet links mit einem Textblock, der das Programm des Entwurfs enthält. Rechts davon ist ein größerer Bereich dem Ort zugeordnet, der auf kartografischen Darstellungen in unterschiedlichen Maßstäben analysiert wird. Basierend auf dem programmatischen Text werden sechs Einzelprobleme formuliert, die die horizontalen Streifen betiteln: die Typologie, die Funktion, die Erschließung,53 die Struktur, der technische Ausbau, die Materialien/Fassaden. Zu diesen Einzelproblemen werden von den Entwerfenden spezifische Lösungen erarbeitet, die im rechten Bereich der Grid zu einer integrierten Projektlösung verarbeitet werden. Zur Bearbeitung der Einzelprobleme werden die Nutzer der Grid dazu angeleitet, zu jedem der Probleme ein spezifisches Referenzprojekt auszuwählen. Dieses Referenzprojekt wird im folgenden Schritt mit einer vom Entwerfenden zu wählenden, der dem Problem am besten entsprechenden Darstellungstechnik – im Grundriss, als Diagramm, im Schnitt, in der Axonometrie oder in der Ansicht - neu gezeichnet. Im nächsten Abschnitt der Grid werden die neu gezeichneten Referenzen manipuliert, verfremdet und angepasst und so vom Entwerfer zu persönlichen Antworten auf die Einzelprobleme des Entwurfs umgewandelt. Der vorletzte Abschnitt der Grid enthält die zeichnerischen Operationen, die zur Integration der spezifischen Ergebnisse in einen Gesamtentwurf dienen. Der letzte Teil der Grid, ganz rechts angeordnet, enthält die abschließenden Darstellungen des Entwurfs.

53 Das Problem Erschließung ist auf dem Manifest der griglia cinquantenaria noch nicht enthalten – sie setzt sich aus nur fünf horizontalen Zeilen zusammen. Der tatsächlich in der Didaktik angewandten webbasierten Grid ist diese Kategorie hinzugefügt worden; sie setzt sich aus sechs Zeilen zusammen.

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Die in der Entwurfsdidaktik angewandte Nuova Griglia Politecnica54 basiert auf dieser im Manifest der griglia cinquantenaria vorgeschlagenen Struktur und funktioniert als ein digitales, interaktives Format, das es den Studierenden ermöglicht, über ein webgestütztes System in individuellen Grids zu arbeiten. In den Entwurfskursen, die mit dem Grid arbeiten, arbeitet jeder Studierende über ein persönliches Login in einer eigenen Grid, in die sie die Materialien, die sie produzieren, kontinuierlich hochladen und ständig modifizieren können. Gleichzeitig finden sie innerhalb der Grid alle Materialien, die von den Dozenten als Grundlage des Entwurfs erarbeitet werden, zum Herunterladen vor, so zum Beispiel das Programm und die kartographischen Materialien zum Ort, in bestimmten Fällen auch eine Auswahl von Referenzprojekten. Die webbasierte Grid funktioniert als e-learning tool, das es ermöglicht, die Entwurfstätigkeit des Studenten aus der Distanz zu verfolgen und die Entwürfe über die Webplattform zu betreuen.55 Die Grid fungiert gleichzeitig als methodisch anleitendes Instrument und als Format, das den individuellen Entwurfsprozess der Studierenden dokumentiert. Sie funktioniert als Archiv, das die Produktion von Zeichnungen und Texten,56 die während des Entwurfs entstehen, enthält. Die starke methodische Festlegung in der Entwurfsbearbeitung konditioniert allerdings in so hohem Maß die Entwurfsprozesse und damit auch die Materialproduktion des Entwerfenden, dass die Betrachtung der Materialien im Grid nur Aussagen über diese besondere Entwurfsmethodik zulässt.

54 Nuova Griglia Politecnica ist der Name der sich aktuell am Politecnico di Torino in Benutzung befindenden Grid. Das webbasierte Grid-Instrument wurde im europäischen Forschungsprojekts Winds Grid (Web based INtelligent Design tutoring System) entwickelt; 5th Framework, Information Society Technologies Programme, Flexible University key actions; Zeitraum 2000–2003; übergeordneter Projekt-Koordinator Mario de Grassi, Università di Ancona; Leitung des Grids-Projekts: Giancarlo Motta, Politecnico di Torino. 55 Das Grid als Werkzeug in der Didaktik wird am Politecnico di Torino kontinuierlich weiterbearbeitet und in Entwurfskursen eingesetzt. Die Grids, die bis 2014 entstanden sind, sind unter folgender Adresse zu sehen: http://frigo.polito.it/grid/. 56 Die prozedurale Festlegung der Grid schreibt die Produktion von Texten und Zeichnungen, aber nicht von Modellen vor.

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Ein weiterer Faktor, der die Aussagekraft der gesammelten Materialien einschränkt, ist dadurch gegeben, das die Struktur der Grid eine kontinuierliche Linearität suggeriert, die in Entwurfsprozessen nicht in dieser Form stattfinden kann. Tatsächlich ist die Sequentialität, die die Grid vorzugeben scheint, in ihrer individuellen Nutzung nicht verbindlich. Motta beschreibt, dass die Nutzer der Grid, die Abfolge der verschiedenen Schritte frei entscheiden können. „In der Anwendung der Grid kann man verschiedene Durchwegungen der Struktur wählen, man kann bei Zwischenschritten einsteigen und sogar die Prozeduren umgekehrt durchlaufen.“57

Allerdings kann man bei der Betrachtung einer vom Entwerfer bearbeiteten und gefüllten Grid nicht erkennen, in welcher Reihenfolge die Materialien eingefügt wurden. Auch lassen sich die Operationen des Korrigierens, Löschens und Austauschens nur dadurch indirekt erkennen, dass man die Grid in verschiedenen Arbeitsstadien „einfriert“ und im Nachhinein diese Zwischenzustände miteinander vergleicht. Die Betrachtung eines isolierten Zustandes der Grid gibt keine Hinweise auf die Chronologie der Ereignisse, die aber durch unsere Lesegewohnheiten von links nach rechts in einer bestimmten Sequentialität suggeriert wird und somit einen verfälschten Eindruck des tatsächlich abgelaufenen Entwurfsprozesses geben kann.

4. PROZESSDOKUMENTATIONEN. ERSTE ANHALTSPUNKTE AUS EINEM SEMINAR 4.1. Kriterien für die Entwicklung von individuellen ProzessBehältern

Bei den hier umrissenen Formaten – Richters Atlas, die Sourcebooks von Herzog & de Meuron, die Grids-Formate von Le Corbusier mit ASCORAL oder dem Team 10, das Grid als digitale Benutzeroberfläche und Entwurfsmethode am Politecnico di Torino, der Mnemosyne-Atlas von Warburg mit seiner analytischen Funktion – handelt es sich im weitesten Sinne um Behälter, die die

57 Motta (2012), S. 22.

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im Gestaltungsprozess verarbeiteten Materialien verwahren.58 Wie eingangs erwähnt, wurde keines dieser Formate explizit zum Zweck der Projektdokumentation konzipiert, aber die jeweilige Strukturierung der Materialien kann Hinweise auf bestimmte Mechanismen geben, die innerhalb von Gestaltungsprozessen wirksam sind. Aus diesem Grund können sie als Modelle für die Erstellung individueller Projektdokumentationen konsultiert werden.59 So ist der Atlas von Gerhard Richter über die Gruppierungen von Bildern organisiert und gibt zusätzlich Auskunft über die schrittweise Auswahl und Fokussierung auf bestimmte Motive. Auch in Entwurfsprozessen werden Bilder gesammelt und oft ist die Suche von Entwerfenden nach diesen Bildern thematisiert oder von problemorientierten Kriterien bestimmt. Auf diese Art und Weise entstehen Bildergruppen, innerhalb derer einzelne Bilder wichtiger werden als andere. Übertragbar auf die Abbildung von Entwurfsprozessen ist eine mögliche Strukturierung anhand der Prozeduren des Sammelns, des Kategorisierens und des Gewichtens und Aussortierens, die die Bilderproduktion des Entwerfens prägen. Der Bildatlas von Aby Warburg gibt in Bezug auf den Entwurfsprozess und seine Bildproduktion Anhaltspunkte auf die Entstehung von Bilderketten. Zum einen kann auch hier das Prinzip der Gewichtung übertragen werden, weil identifizierbare Motive innerhalb des Prozesses besonders entwurfsrelevant werden und deren weitere Bearbeitung durch Variationen und Manipulationen Bilderketten erzeugt. Zum anderen ist das Modell Warburgs besonders gut dazu geeignet, darstellend zu überprüfen, wie Auswahl, Konsultation und Weiterverarbeitung von architektonischen Referenzen in den Entwurfsprozess eingehen. Die Modelle der verschiedenen Grids zeichnen sich hinsichtlich ihre Übertragbarkeit auf die Konzeption von Prozessdokumentationen vor allem durch die präzise Zuordnung der verschiedenen Materialien des Entwurfs zu bestimmten Funktionen und Themen – im Falle der CIAM Grids – oder

58 Im Falle des Mnemosyne-Atlasses von Warburg werden die Materialien bzw. Motive aufgezeigt, die gemeinsame ikonographische Strukturen aufweisen und in der Konzeption einzelner Werke Einfluss genommen haben könnten. 59 Neben den hier erläuterten Modellen wurden im Seminar auch Abbildungen aus dem Bereich des Information Design, die Mapping-Ansätze Gerhard Dirmosers, die Schichtungen aus Carlo Scarpas Architekturzeichnungen und die Montagetechniken von JeanLuc Godards Histoire(s) du cinéma diskutiert.

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– im Falle des didaktischen Grids des Politecnico – zu einzelnen, spezifisch benannten Entwurfsproblemen. Ein weiterer sehr relevanter Aspekt dieser Formate ist die gleichzeitige Sichtbarkeit möglichst vieler Materialien zum Entwurf. Die Ausstellungskonzeptionen von Herzog & de Meuron können, wie auch die Bildatlanten Richters und Warburgs, Orientierungshilfe bezüglich der Gruppierung und Systematisierung von Entwurfsmaterialien geben. Der Bilderfluss der Sourcebooks hingegen wird durch das leicht übertragbare Prinzip des chronologischen Ablaufs strukturiert. Keiner der im Seminar entwickelten Behälter hat eines der konsultierten Modelle repliziert; viel eher wurden in fast allen Ausarbeitungen die Prinzipien des morphologischen, thematisierten oder problematisierten Gruppierens angewandt, die in einigen Fällen zusätzlich einem chronologischen Ablauf zugeordnet wurden. Zusätzlich verwendete Strukturierungskriterien waren die Gewichtung in unterschiedlich stark entscheidungsbestimmende Materialien, die Kategorisierung nach Darstellungstechniken oder Materialtypen und Vermerke zur persönlichen Wahrnehmung der positiven oder negativen Entwurfsentwicklung in verschiedenen Phasen des Prozesses.60 4.2. Aufbau des Seminars

Die Entwürfe, deren Entstehungsprozess innerhalb des Seminars dokumentiert und abgebildet werden sollte, wurden von den Studierenden bei anderen Lehreinheiten bearbeitet, so dass für die seminaristische Arbeit gewährleistet werden konnte, dass sich die Betreuung der Prozessdokumentationen nicht mit inhaltlichen Betreuungen zu den Entwürfen selbst vermischen würde. So konnte eine gewisse Neutralität bezüglich der vorgelegten Materialien gewährleistet werden, obwohl der Blick der Betreuenden ein innerdisziplinärer war. Es gab keine verbindlichen Festsetzungen über die zu entwickelnden Formate; es wurde weder eine vorangestellte Projektion über die Zeitabschnitte des Entwurfs vorgenommen, noch wurde ein gemeinsames Notationssystem für die Prozessdokumentationen entwickelt.61

60 In den individuellen Betreuungen mit den Studierenden wurde häufig die Kollokation wie auch die Produktivität von Entwurfskrisen diskutiert und in einigen Ausarbeitungen auch innerhalb der Prozessdarstellungen vermerkt. 61 Ein von Manuel Scholl entwickeltes Seminar mit einer ganz ähnlichen Zielsetzung hat die zeitliche Projektion der Entwurfsabschnitte festgelegt und ein allgemein gültiges

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Abb. 4: Sichtung der Entwurfsmaterialien

Ziel war es in dieser ersten Durchführung des Seminars, die Individualität der verschiedenen Entwurfsprozesse sichtbar zu machen und in der Konsequenz eine große Bandbreite an Formaten zur Prozessdokumentation zu erhalten. Neben der Verschiedenartigkeit der persönlichen Verfahrensweisen führten auch die unterschiedlichen Entwurfsthemen, an denen die Teilnehmer arbeiteten, zu einer starken Differenzierung der Ergebnisse. Eine Vergleichbarkeit der erarbeiteten Formate war dadurch jedoch nur bedingt gegeben. Neben der Präsentation und Diskussion von möglichen Referenzen zu Materialspeichern und Prozessabbildungen, gab es mehrere Sichtungstermine (s. Abb. 4). Bei diesen wurden die von den Studierenden im Entwurf konsultierten und erzeugten Materialien gemeinsam besprochen und sortiert, um Informationen zu den anfangs genannten Fragestellungen über entwerferische Prozesse zu erhalten.62 Die analoge Betrachtung und Kategorisierung der Materialien ergab einige erste Anhaltspunkte zur Dokumentierbarkeit kreativer Prozesse. Es zeigte sich, dass viele Studierende die von ihnen selbst erzeugten Materialien nicht

Notationssystem für die Dokumentationen entwickelt. Die Ergebnisse des Seminars sind gerade wegen ihrer Vergleichbarkeit sehr interessant; veröffentlicht in: Scholl (2013), Prozessgestalt, S. 133. 62 Siehe 1.1.

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nach dem Grad von Produktivität für den eigenen gedanklichen Prozess, sondern nach ästhetischen oder normativen Kriterien beurteilen. So wurden von Teilnehmern bestimmte Materialien, die unfertig oder unpräzise wirken konnten, von der Sortierung ausgeschlossen, obwohl sich in der Diskussion ergab, dass sie durchaus wichtige Überlegungen abbildeten oder katalysierten. Es ist nicht auszuschließen, dass diese zum Teil innerhalb des Studiums vermittelten ästhetischen Kriterien dazu führen, dass bezüglich des Entwurfsprozesses das Vorzeigbare mit dem Produktiven verwechselt wird. Die im Seminar getätigten Versuche, einen Entwurfsprozess anhand seiner Materialproduktion abzubilden, ergaben Unklarheiten, Lücken und Brüche. Gerade durch diese Fehlstellen ließen sich Widersprüchlichkeiten und besondere Problematiken erkennen. In diesem Sinne war es für die Entwerfenden sinnvoll, diese Fehlstellen während des Entwurfsprozesses zu identifizieren, um gegebenenfalls bereits getroffene Entscheidungen zu ändern oder anzupassen. Das Risiko, mit der Prozessdokumentation eine möglichst stringente Narration der Entscheidungskette erstellen zu wollen, war immer spürbar und hat wahrscheinlich zur Verfremdung einiger Ergebnisse geführt. 4.3. Prozessbehälter und erste Rückschlüsse aus ihrer Erarbeitung

Die von den Studierenden am Ende des Seminars entwickelten Prozessdokumentationen waren sehr unterschiedlich. Die ausgearbeiteten Formate waren zum Teil analog, zum Teil digital; es wurden Bücher, Möbelstücke (s. Abb. 5), Webseiten, Leporellos, Digitale Landkarten (s. Abb. 6), Kartenwerke und analoge wie auch digitale Concept Maps erstellt. Dabei waren die individuellen Arbeitsweisen im Entwurfsprozess bestimmend für die Auswahl und Entwicklung des Formats, mit dem dieser dokumentiert und abgebildet wurde. Zugleich hat die gemeinsame Arbeit an den Prozessdokumentationen bestätigt, wie unmittelbar die individuellen Verfahrensweisen mit der Konsultation und Produktion von Materialien und damit auch mit den errungenen Ergebnissen auf verschiedenen Entwurfsebenen verbunden sind. Auf der Grundlage des Seminars kann also festgehalten werden, dass sich die Entscheidung für bestimmte Werkzeuge und Methoden als richtungsweisend für den Prozessverlauf und damit auch für dessen Ergebnisse erweist.63

63 Form follows Tool…

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Abb. 5: Studentische Arbeit von Kerstin Meerbach und Dena Rajabi: Entwurfsbox

Welche individuellen Faktoren64 die Verfahrensweisen beeinflussen, wurde innerhalb des Seminars nicht untersucht. Es wurde lediglich beobachtet, wie stark die persönlichen Arbeitsweisen voneinander abweichen. Zusätzlich verstärkt wurde die Verschiedenartigkeit der Verfahrensweisen durch die unterschiedlichen Formen und Grade von entwurfsorientierter Wissenserhebung, die von den Entwerfenden praktiziert wurden. So gab es Entwerfende, die mehr als die Hälfte ihrer Entwurfstätigkeit mit Lesen, Schreiben und Recherchieren verbracht und nur in der letzten Phase zeichnerische Dokumente angefertigt haben. Es gab Entwerfende, die vom ersten bis zum letzten Moment des Entwurfsprozesses ihre Ideen in allen Maßstäben über den Bau von Modellen überprüft haben. Es gab Entwerfende, die sich als teilnehmende Beobachter in bestimmte Nutzergruppen begeben haben. Es gab Entwerfende, die ihren Entwurf nicht gezeichnet, sondern über das Drehen von Filmen entwickelt haben. Es gab Entwerfende, die fast kein einziges analoges Dokument erzeugten, sondern alle Entwurfsaspekte auf allen Maßstabsebenen digital bearbeitet haben.

64 Zu diesen zählen persönliche Eigenschaften der Entwerfer wie die Begabung für bestimmte Darstellungstechniken, Abneigungen, Spezialinteressen.

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Abb. 6: Mareike Kapitzka: Startseite der Digitalen Landkarte

Nicht so sehr die letztlich erarbeiteten Formate, sondern vor allem die gemeinsamen Diskussionen innerhalb des Seminars haben außerdem gezeigt, wie sehr die Fähigkeit, die eigenen Entwurfsschritte zu reflektieren, die Qualität der Ergebnisse des Entwurfsprozesses beeinflusst. Die Qualität der Entwürfe, die die Studierenden zeitgleich bearbeiteten, wurde im Seminar weder betreut noch bewertet; allerdings zeigte sich, dass ein höherer Grad an Reflektiertheit der Studierenden dazu führte, dass sie ihre Entscheidungsketten innerhalb des Entwurfs klarer bewerten und damit die Ergebnisse besser kontrollieren konnten. Sie waren offensichtlich in der Lage, eine entwurfsinhärente Logik zu entwickeln und diese zu beschreiben. Auch die intuitiven, irrationalen Teile des Entwurfsprozesses wurden von diesen Studierenden als solche erkannt und in den Gesamtablauf eingeordnet. In diesem Zusammenhang wurde von den Studierenden umgekehrt auch erkannt, wie sehr Abbildungen des Prozesses zu entwurfsverbessernden Denkinstrumenten werden können, weil sie Abhängigkeiten, Widersprüchlichkeiten und Lücken sichtbar werden lassen – Prozessdokumentationen können die von Le Corbusier beschworenen stummen Probleme aufzeigen und lösbar machen. Eine operativ wirksame Kontrollebene für die Entscheidungsfindung des Entwerfens verbindet sich hier mit einer intensiven Selbstbefragung zum Thema Wie arbeite ich wirklich? – Prozessdokumentationen können somit im Idealfall sowohl als angewandtes Entwurfswerkzeug, als auch als Instrument einer Reflexiven Entwurfsforschung wirksam werden.

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LITERATUR Ammon (2013): Sabine Ammon, Wie Architektur entsteht. Entwerfen als epistemische Praxis, in: Sabine Ammon, Eva Maria Froschauer (Hrsg.), Wissenschaft Entwerfen. Vom forschenden Entwerfen zur Entwurfsforschung der Architektur, München 2013, S. 337–363. Ammon/Froschauer (2013): Sabine Ammon, Eva Maria Froschauer (Hrsg.), Zur Einleitung: Wissenschaft Entwerfen. Perspektiven einer reflexiven Entwurfsforschung, München 2013, S. 15–47. Arnheim (1954): Rudolf Arnheim, Art and Visual Perception. A psychology of the creative eye, Los Angeles 1954. Arnheim (1969): Rudolf Arnheim, Visual ThinkingLos Anglese 1969. Friedel (2009): Helmut Friedel (Hrsg.), Gerhard Richter Atlas, Köln 2006, 2. A.2011. Richter (1986): Gerhard Richter, Bilder 1962–1985, herausgegeben von Jürgen Harten, Köln 1986. Herzog (1990): H & de M, Architektur von Herzog & de Meuron, Kunstverein München 1991, Ausstellungskatalog. Hürzeler (2002): Catherine Hürzeler, Herzog & de Meuron und Gerhard Richters Atlas, in: Philip Ursprung, Herzog & de Meuron. Naturgeschichte, Montreal 2002, S. 205–220. Le Corbusier (1949): Charles-Édouard Jeanneret-Gris, Rede zur Vorstellung der grille am 7. CIAM in Bergamo, veröffentlicht in: Jose Luis Sert, Ernesto Nathan Rogers, Jacqueline Tyrwhitt (Hrsg.), CIAM 8. The Heart of the City: Towards the Humanisation of Urban Life, New York 152, S. 171–175. Mack (2000): Gerhard Mack, Herzog & de Meuron: Das Gesamtwerk. Band 3, Basel 2000. Motta (2012): Giancarlo Motta, Prefazione, in: Marcella Graffione, Nell’officina di Warburg. Le immagini della memoria nel progetto di architettura, Mailand 2012, S. 7–13. Motta, Pizzigoni (1998): Giancarlo Motta, Antonia Pizzigoni, L‘ orologio di Vitruvio. Introduzione a uno studio della macchina di progetto, Mailand 1998. Motta/Pizzigoni (2011): Giancarlo Motta, Antonia Pizzigoni, La Nuova Griglia Politecnica. Architettura e macchina di progetto, Mailand 2012. Schön (1988): Donald A. Schön, Designing. Rules, Types and Worlds, Design Studies Nr. 9, Milton Keynes 1988. Scholl (2013): Manuel Scholl, Prozessgestalt, in: Margitta Buchert (Hrsg.), Reflexives Entwerfen, Berlin 2013. Ungers (1963/2006): Oswald Mathias Ungers, Berufungsvortrag zu den Prinzipien der Raumgestaltung, archplus 181/182, Berlin 2006, S. 30–45.

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Ursprung (2002): Philip Ursprung, Herzog & de Meuron ausstellen in: Herzog & de Meuron. Naturgeschichte, deutsche Übersetzung des Katalogs zur Ausstellung „Archaeology of the Mind“ im „Canadian Centre for Architecture“ Montreal, Zürich 2002. Ursprung (2013): Exponierte Experimente. Herzog & de Meurons Modelle, in: Sabine Ammon, Eva Maria Froschauer (Hrsg.), Wissenschaft Entwerfen. Vom forschenden Entwerfen zur Entwurfsforschung der Architektur, München 2013, S. 289–307. van den Heuvel/Risselada (2005): Dirk van den Heuvel, Max Risselada (Hrsg.),Team 10. In search of a utopia of the present, Rotterdam 2005. Vischer (2004): Theodora Vischer (Hrsg.), Vademecum. Herzog & de Meuron: No. 250. An Exhibition, Basel 2004. Zaugg (1996): Remy Zaugg, Herzog & de Meuron – Eine Ausstellung, Ostfildern 1996.

ABBILDUNGEN Abb. 1: Abzeichnung der von Le Corbusier mit ASCORAL präsentierten CIAM Grid, aus: Giancarlo Motta und Antonia Pizzigoni, La Nuova Griglia Politecnica. Architettura e macchina di progetto, Mailand 2011, S. 130–131. Abb. 2: Urban Re-Identification Grid, 9. CIAM, Aix-en-Provence, Alison und Peter Smithson, aus: Dirk van den Heuvel, Max Risselada (Hrsg.),Team 10. In search of a utopia of the present, Rotterdam 2005, S. 30–31. Abb. 3: La griglia del cinquantenario, gezeichnet unter der Leitung von Giancarlo Motta, aus: Giancarlo Motta und Antonia Pizzigoni, La Nuova Griglia Politecnica. Architettura e macchina di progetto, Mailand 2011, S. 129. Abb. 4: Fotos von den Sichtungsterminen des Seminars „Mindmaps, Sourcebooks, Grids, Projektdokumentationen als Denkwerkzeug“, Wintersemester 2014/15, Carolin Stapenhorst, Juniorprofessur Werkzeugkulturen, Fakultät für Architektur, RWTH; Fotografien: Carolin Stapenhorst. Abb. 5: Studentische Arbeit von Kerstin Meerbach und Dena Rajabi, Seminar „Mindmaps, Sourcebooks, Grids, Projektdokumentationen als Denkwerkzeug“, Wintersemester 2014/15, Carolin Stapenhorst, Juniorprofessur Werkzeugkulturen, Fakultät für Architektur, RWTH Aachen, Fotografie: StudioLab, Fakultät für Architektur, RWTH Aachen. Abb. 6: Studentische Arbeit von Mareike Kapitzka, Seminar „Mindmaps, Sourcebooks, Grids, Projektdokumentationen als Denkwerkzeug“, Fotografie: StudioLab, Fakultät für Architektur, RWTH Aachen.

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Gegenstand und Gebrauch KATHARINA BREDIES

DESIGNPROZESSE, WO MAN SIE NICHT ERWARTET Mit „Design“ ist in der Regel die Arbeit professionell ausgebildeter Gestalterinnen gemeint. In professionellen Designprozessen entstehen auf dem Weg zu einem finalen Entwurf häufig eine Vielzahl an dokumentierten Zwischenschritten, an denen sich die Designentscheidungen nachvollziehen lassen. Designforscher nutzen diese Konzepte, Skizzen und Modelle als wissenschaftliche Werkzeuge und Beweismaterial für ihre Forschungsleistung. Im Kontrast dazu hinterlässt Design im Gebrauch viel weniger Spuren. Design findet im Gebrauch statt, wenn Benutzerinnen Gegenstände umnutzen, damit improvisieren und sie sich so auf persönliche Weise aneignen. Besonders deutlich – aber nicht darauf beschränkt – war und ist ein derartiges Design im Gebrauch von innovativen Produkten. Beim Umgang mit neuen Dingen können wir nicht einfach routinierten Handlungsmustern folgen, sondern müssen den Gebrauch neu erlernen und etablieren und die Möglichkeiten im Gebrauch erforschen. Das kann Jahrzehnte dauern. Inzwischen wird Design im Gebrauch auch als eine Art von Design ernst genommen. Forscher in der Technik- und Innovationssoziologie vergleichen es mit technischer Innovation1, und auch Designforscherinnen diskutieren seine Bedeutung für

1

So beschreibt z.B. Schubert die Unterscheidung der sozialen gegenüber der technischen Innovation, die bei Ogburn anhand des Materials gemacht wird. Soziale Innovation bezeichnet damit vor allem immaterielle Innovationen, z.B. in Organisationen, Services oder Lebensstil (Schubert 2014).

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MANIFESTATIONEN IM ENTWURF | Forschungsstudien zur Wissensproduktion

das professionelle Design2, unter anderem als Inspirationsquelle für eigene Entwürfe, oder als Anforderung für z.B. Computersoftware, die sich unterschiedlichsten Anwendungssituationen anpassen muss, etwa in Form von konfigurierbaren Toolkits. Design im Gebrauch hinterlässt weniger materielle Spuren als professionelles Design. Die Neuerung entsteht dadurch, dass ein Gegenstand in einer ungewöhnlichen Anwendungssituation zur Geltung kommt. Solche spannenden Kombinationen von Gegenstand und Kontext lassen sich häufig einfach wieder auflösen, ohne dass die Dinge selbst sich dadurch verändern. Gleichzeitig ist Design im Gebrauch grundlegend, wenn wir das Potenzial neuer Technologien verstehen wollen. In meinem Beitrag beschäftige ich mich deswegen mit zwei Fragen: Wie kann Design aussehen, das Design im Gebrauch ermutigt? Und mit welchen Ausdrucksformen haben wir es in beiden Formen des Designs zu tun? Beide Fragen diskutiere ich anhand meines praxisgeleiteten Promotionsprojekts, an dem sich die Form und Rolle der Manifestationen in einem Entwurfsprozess betrachten lässt, der erstens zur Entwicklung theoretischer Konzepte angelegt ist, zweitens nicht auf zweckgerichtete Gestaltung abzielt, und drittens in die (imaginäre) Gebrauchssituation verlängert wird. Ich beginne mit einer kurzen Vorstellung der zwei Formen der Ergebnisse, die am Ende meines Entwurfsprozesses stehen und sich in materiellen Gegenständen und theoretischen Modellen ausdrücken. Dann beschreibe ich den Entwurfsprozess selbst, den ich nach zwei Phasen gliedere, der Konstruktion im Material und der Konstruktion im Gebrauch. Ich diskutiere die Rolle der verschiedenen Ausdrucksmedien aus dem Gestaltungsprozess in der Übersetzung der Eingangsannahmen in materielle Gegenstände und zurück in theoretische Schlussfolgerungen. Zuletzt thematisiere ich die Schwierigkeiten im Umgang mit nichtverbalen Ausdrucksformen in der Wissenschaft, für die ich als möglichen Erklärungsansatz den Gegensatz von generell und partikulär

2

Im partizipativen Design lässt sich dies am Interesse am Design von „Infrastrukturen“ ablesen (Ehn 2008). In der Mensch-Maschine-Kommunikation wird kreatives Benutzerverhalten z.B. unter dem Begriff der Aneignung („appropriation“) thematisiert und adressiert (Dix 2007; Stevens, Pipek, and Wulf 2009), unter anderem beeinflusst vom kritischen oder „reflektiven“ Design, das auf die Bedeutungskonstruktion durch Benutzer setzt (Sengers/Gaver 2006; Sengers et al. 2005).

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Katharina Bredies | GEGENSTAND UND GEBRAUCH

heranziehe. Ich schließe mit einer kurzen Aussicht darauf, wie in der Designforschung angemessene Übersetzungsmethoden entwickelt werden könnten, um diesen Gegensatz zu überbrücken.

VARIATION VON GEGENSTÄNDEN UND GEBRÄUCHEN Die Gestaltung eines Gegenstands und sein Gebrauch sind in modernen Industriegesellschaften weit voneinander entfernt. Das bedeutet jedoch nicht, dass beide sich nicht strukturell ähneln könnten. Wenn wir einen großzügigen Designbegriff zugrunde legen, dann können wir auch die originelle Improvisation im Gebrauch als eine Art von Design verstehen – als Variation im Bereich des Künstlichen nämlich, die eine Neuerung darstellt, ob nun vom Gestalter beabsichtigt oder nicht3. Professionelles Design und kreative Umnutzung sind dann zwei Enden eines Spektrums, nicht zwei völlig unterschiedliche Tätigkeiten4. Nicht jeder Gebrauch ist allerdings auch Design. Es braucht einen Anlass, um von den zuverlässig funktionierenden Routinen des Alltags abzuweichen. Benutzer improvisieren aus Not – weil die Routine nicht möglich ist – aber auch aus Interesse und Neugier – einfach, weil es geht5. Ungewöhnliche Gestaltung sollte also dabei helfen, für Überraschungen bei der Wahrnehmung zu sorgen6: Abweichende Dinge provozieren auch abweichenden Gebrauch. In meinem Beispiel besteht die Abweichung in einer ungewöhnlichen

3

Diese Sichtweise macht z.B. Wolfgang Jonas stark, der sich dabei auf John Deweys evolutionäre Erkenntnistheorie und Niklas Luhmanns Theorie von sozio-kultureller Evolution bezieht (Jonas 2004). Dass auch Gestaltungsideen einer Evolution nach darwinschen Muster unterliegen, argumentiert John Langrish (Langrish 2004).

4

Im Vergleich von Design im Gebrauch etwa mit benutzerorientierten, partizipativen oder kritischem Design unterscheidet sich vor allem die Rollenverteilung von Designern und Benutzern, und die Teilnahme beider am Gebrauchsprozess. Siehe Bredies et al. (2010).

5

Solche Vorstellungen, dass neue Erfahrungen durch Abweichungen vom Bekannten entstehen, finden sich im philosophischen Pragmatismus (Dewey 1980) und in ähnlicher Form auch in der Phänomenologie (Waldenfels 2002).

6

Für eine weiter reichende Beschreibung der theoretischen Grundlagen, die mich zu dieser Behauptung veranlassen, siehe (Bredies 2014), S. 9–66.

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MANIFESTATIONEN IM ENTWURF | Forschungsstudien zur Wissensproduktion

Materialwahl, nämlich Textilien als Ein- und Ausgabematerial für digitale Geräte. Die Gestaltung solcher ungewöhnlichen Interfaces war ein wichtiger Bestandteil meiner eigenen Untersuchung und ist ein zentraler Teil der Forschungsergebnisse. Dem gegenüber steht eine theoretische Begriffsklärung, die auf den Erfahrungen aus der Gestaltung und der Deutung der konstruierten Gegenstände beruht. Materielle Gegenstände: Wavecap, Shuffle Sleeve, Undercover

Die drei Gegenstände stehen stellvertretend für drei unterschiedliche Ansätze, um einen Gegenstand für Design im Gebrauch zu öffnen. Das erste, die „Wavecap“, beinhaltet einen Radioempfänger und übersetzt die Eingabemöglichkeiten eines einfachen Radiogeräts in gestrickte Form (Abb. 1). Konventionelle Bedienelemente wie Schalter und Drehknöpfe sind durch gestrickte Bedienelemente wie einen Schal zum Knoten, eine Glocke an einer Schnur und ein Zugband ersetzt. Die einzelnen Bedienelemente strukturieren in diesem Gegenstand die Interaktion; jede Funktion wird durch ein bestimmtes Element zugänglich gemacht. Der zweite Gegenstand „Undercover“ ist eine Quiltdecke, die durch das Zusammenfalten des Stoffs bedient wird (Abb. 2). Bestimmte Faltungen erlauben das Aufnehmen und Abspielen von Tonstücken auf einem Smartphone. Die Faltungen selbst sind in der Struktur des Gegenstands nur indirekt zugänglich, nämlich über die Gestaltung des Patchwork-Musters der Decke. Die Form der Decke selbst ermöglicht viele unterschiedliche Nutzungen. Der dritte Gegenstand, der „Shuffle Sleeve“ ist ein geschlossener hohler Schlauch mit Kleingeld im Inneren, der zum Steuern eines Musikprogramms auf einem Smartphone benutzt werden kann (Abb. 3 und 4). Die Münzen leiten Strom und dienen als Schalter, wenn sie bestimmte Stellen des Strickschlauchs berühren. Die Münzen sind Teil des digitalen Interface und zugleich vertraute Alltagsgegenstände, die auf ungewöhnliche Weise in diesem Gegenstand eingesetzt werden.

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Katharina Bredies | GEGENSTAND UND GEBRAUCH

Abb. 1: Die „Wavecap“ und ihre unterschiedlichen Bedienelemente: Die Schal­ enden zum Einschalten, die Glocke für die Sendersuche und das Zugband für die Lautstärke.

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MANIFESTATIONEN IM ENTWURF | Forschungsstudien zur Wissensproduktion

Abb. 2: Das „Undercover“ gibt in seinem Muster Hinweise auf Faltungen, die die Aufnah­ me- und Abspielfunktion aktivieren.

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Katharina Bredies | GEGENSTAND UND GEBRAUCH

Abb. 3: Der „Shuffle Sleeve“ beinhaltet Münzen, die sich durch das Innere des Strickschlauchs bewegen lassen oder mithilfe von Zugbändern eingeschlossen werden können, um ein Musikprogramm zu steuern.

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MANIFESTATIONEN IM ENTWURF | Forschungsstudien zur Wissensproduktion

Abb. 4: Details aus der Konstruktion des Shuffle Sleeve

Abb. 5: Zusammenhang der theoretischen Begriffe bei Gebrauch als Design

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Katharina Bredies | GEGENSTAND UND GEBRAUCH

Theoretisches Modell: Form, Gegenstand und Gebrauch

Das theoretische Modell soll dabei helfen, routinierten Gebrauch von Gebrauch als Design zu unterscheiden und die Interpretation der materiellen Gegenstände konzeptionell einordnen. Ich benutze dafür die Unterscheidung von Form, Gegenstand und Gebrauch (Abb. 5). Die Form bezeichnet hierbei eine Unterscheidung, die wir als Benutzer (und Beobachter) eines materiellen Gegenstands treffen, indem wir ihn mit einen bestimmten Zweck in Verbindung bringen. Die Form ist eine ganz konkrete Kombination aus einem materiellen Gegenstand – der Struktur –, und Gebrauch – dem Prozess. Die Grenze zwischen Form und Kontext verläuft nicht zwischen Gegenstand und Umgebung, sondern zwischen den Eigenschaften, die für einen bestimmten Zweck notwendig sind, und denen, die austauschbar oder kontingent sind. Für einen anderen Zweck sind andere Eigenschaften notwendig. Bei einem ungewöhnlich gestalteten Gegenstand kann die Benutzerin den Zweck nicht eindeutig bestimmen und notwendige nicht von kontingenten Eigenschaften unterscheiden. Dann kommt es zu Design im Gebrauch.

KONSTRUKTION IM MATERIAL UND IM GEBRAUCH Professionelles Design und Design im Gebrauch arbeiten mit ganz verschiedenen Mitteln: Das eine mit der materiellen Struktur und das andere mit dem Gebrauchsprozess. Bei der Gestaltung neuer Technologien greift beides ineinander, und mir ging es darum zu verstehen, wie sich das Design eines Gegenstands auf Design im Gebrauch auswirkt. Konstruktion im Material

Als Teil einer Forschungsarbeit war mein Designprozess von theoretisch hergeleiteten Auswahlkriterien bestimmt, damit die materiellen Gegenstände meinen theoretischen Annahmen möglichst akkurat entsprachen. Diese Kriterien haben die Designentscheidungen zusätzlich beeinflusst. Andere Beschränkungen haben sich daraus ergeben, dass ich Textil als Material für die Umsetzung festgelegt habe und dadurch an die Ausdrucksformen und Produktionstechniken des Materials gebunden war. Die Funktion habe ich frei gewählt und den Zweck mehr oder weniger unbestimmt gelassen dadurch, dass ich den Anwendungskontext nicht ausdrücklich festgelegt habe. Auch wenn es mir wichtig war, dass die späteren

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Funktionsmodelle7 tatsächlich funktionierten, war diese Funktion von mir als Auswahlmechanismus für die Ausdrucksgestalt konzipiert, und nicht normativ als Anwendungszweck gesetzt. Das Ziel des Entwurfs bestand für mich darin, textile Interaktionselemente zu entwickeln, die wie elektrische Komponenten funktionieren – also Schalter, Knöpfe und Sensoren in textiler Form. Zu Beginn habe ich eine Quellensammlung vorgenommen, die einer strukturierten Methode von Chow und Jonas zur Analogiebildung für anwendungsoffene Gestaltungsprobleme folgt8. Ich habe dabei gezielt jene textilen Eigenschaften ausgewählt, die das textile Material am deutlichsten von konventioneller Elektronik unterscheiden, also z.B. Weichheit oder Saugfähigkeit. In der Ideenentwicklungsphase habe ich mit Handskizzen und schriftlichen Kommentaren gearbeitet, die eine minimale Beschreibung der Interaktion oder des Anwendungszusammenhanges liefern. Diese Skizzen dokumentieren mehrere Entwurfsiterationen, in denen sie jeweils daraufhin kategorisiert und bewertet wurden, inwiefern sie den Kriterien aus den theoretischen Annahmen entsprechen. Der nächste Schritt bestand im Testen der Funktionstüchtigkeit einzelner skizzierter Interaktionselemente, die bei elektronischen Textilien in der Regel von Grund auf konstruiert werden müssen. Funktionierende Elemente wurden anschließend zu einem kompletten Funktionsmodell kombiniert und schließlich in einem finalen Gegenstand implementiert. Als Nebenprodukt der Arbeit an den eigentlichen Gegenständen entstand eine Dokumentation, die technische Schaltpläne, Strick- und Schnittmuster und Programmiercode enthält.

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Im Arbeitsalltag werden solche Funktionsmodelle häufig auch als Prototypen bezeichnet. Ich verzichte hier auf diesen Begriff, weil er sich strenggenommen auf die Vorstufe zu einem industriellen Massenprodukt bezieht und dadurch in diesem Zusammenhang missverständlich ist.

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Siehe Chow/Jonas (2010). Diese Methode sieht eine systematische Auswahl an ähnlichen, aber nicht gleichen Quellen vor, durch die man in der Entwurfsphase eine große Bandbreite an Verweisen zur Verfügung hat. Sie gibt zudem Konzepte an die Hand, wie aus diesen Quellen Analogien auf unterschiedlichen Ebenen gebildet werden können.

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Konstruktion im Gebrauch

Design im Gebrauch ist in seiner natürlichen Umgebung häufig nur anhand seiner materiellen Erscheinungen9 und im Nachhinein zu beobachten, weil er sich über lange Zeiträume hinziehen kann.10 Als eine Art von Design wollte ich die abweichende Interpretation im Gebrauch aber absichtsvoll herbeiführen, um den Deutungsprozess selbst untersuchen zu können. Bei der Konstruktion im Gebrauch habe ich mich an der methodischen Vorgehensweise der Sequenzanalyse in der objektiven Hermeneutik orientiert. Diese sieht vor, dass anhand einer sogenannten „Ausdrucksgestalt“ alle möglichen – und nicht nur naheliegende – Deutungen Schritt für Schritt explizit gemacht und über den Weitergang der Analyse bestätigt oder verworfen werden11. Auch weniger offensichtliche und naheliegende Deutungsmuster werden so zugänglich. Das Verfahren eignet sich für nichtverbale Ausdrucksformen grundsätzlich genau so wie für sprachliche Äußerungen.12 Ich habe die Methode der Sequenzanalyse zum Vorbild für gemeinsame Interpretationssitzungen mit Probanden genommen, die in diesen Sitzungen die Rolle der Interpreten innehatten. Dazu habe ich die Probanden gebeten, die von mir angefertigten Gegenstände ausführlich zu beschreiben und in allen Details auf ihre möglichen Anwendungen hin zu deuten. Die Interpreten haben hierbei zu Beginn keine Informationen darüber erhalten, wofür der jeweilige Gegenstand ursprünglich konstruiert wurde. Die elektronische Funktion habe ich erst im letzten Teil der Sitzung erklärt, damit die Probanden

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(Fulton Suri and IDEO 2005) stellt eine solche Sammlung willkürlicher Alltagsumnutzungen dar, und (Brandes et al. 2009) legen ihrer Analyse von Design im Gebrauch ebenfalls eine empirische Übersicht solcher Umnutzungsakte zugrunde.

10 z.B. mit Blick auf die frühe Entwicklung von Automobilen im ländlichen Nordamerika (Kline/Pinch 1996), auf die unerwartete Popularität von SMS (Taylor/Vincent 2005), oder die Beteiligung interessierter Laien an der Entwicklung von Computern zu Massenprodukten (Punt 1998). 11 Auf diese Weise soll der implizit ablaufende Entscheidungsprozess, der gerade zu diesem bestimmten Ausdruck geführt hat, rekonstruiert werden. Siehe Oevermann (1981). 12 Dies zeigt Jung anhand von archäologischen Artefakten (Jung 2003) und Peez in der Bildanalyse (Peez 2006). Stevens verwendet Oevermanns Ansatz als Grundlage zur Beobachtung von Softwareaneignung (Stevens, Pipek, and Wulf 2009).

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weitere mögliche Anwendungssituationen damit assoziierten. Deren Deutung sollte sich dabei ähnlich wie bei der objektiv-hermeneutischen Sequenzanalyse am Gegenstand orientieren und anhand der Eigenschaften des Gegenstands erklärt werden. Anders als bei Benutzertests mit technischen Systemen ging es mir nicht um eine Evaluation der Gegenstände, sondern um eine Rekon­ struk­tion ihrer möglichen Bedeutungen. Die Sitzungen habe ich durch schriftliche Protokolle, Video- und Audiomitschnitte aufgezeichnet. Anschließend habe ich diese Deutungen mit den Einflüssen verglichen, die mir in der Designphase zugänglich waren, und mit meinen eigenen Interpretationen der fertigen Gegenstände, die ich vor den Interviews festgehalten habe. Meine eigenen Deutungen sind dabei offensichtlich dadurch beeinflusst, dass ich meine eigene Intention und die elektronische Funktionalität der Gegenstände schon kannte. Aus dem Vergleich meiner eigenen Gebrauchs- und Gedankenexperimente mit denen der Interpreten habe ich abgeleitet, welche Eigenschaften der gezeigten Gegenstände als Hinweise auf den von mir beabsichtigten Gebrauch gelesen werden, und welche zu abweichenden Interpretationen führen13.

DESIGNPRAXIS ALS FORSCHUNGSPRAXIS Im Rahmen eines Forschungsprojekts unterliegt die Designpraxis anderen Beschränkungen und Möglichkeiten als beispielsweise in der kommerziellen Produktentwicklung. Diese Unterschiede sind eher graduell als grundsätzlich, daher ähneln sich auch die Methoden und Mittel. Wenn ich hier den Gestaltungsprozess und die Rolle der Skizzen, Gegenstände und Benennungen diskutiere, dann vor allem im Hinblick darauf, welche Rolle sie bei der Erkenntnisgenerierung haben. Der Ausgangspunkt eines Designforschungsprozesses ist mehr als ein Designproblem, und sein Ergebnis ist mehr als der bloße materielle Gegenstand. Der Entwurfsprozess muss deswegen die Mittel und Möglichkeiten beinhalten, um die theoretischen Annahmen daran weiterzuentwickeln. Die Entwicklung theoretischer Konzepte und das Erschaffen materieller Gegenstände sind dabei nicht getrennt voneinander zu denken, sondern sind unterschiedliche Ausdrucksformen desselben Erkenntnisinteresses. Als theoretische Annahmen – in der Unterscheidung zu praktischen

13 Siehe Bredies (2014), S. 137–158.

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Handlungen – stelle ich mir hierbei eine bestimmte Beobachtungsweise vor, die eher historisch und traditionell etabliert als durch eine erkenntnistheoretische Unterscheidung begründet ist. Diese zeichnet sich z.B. dadurch aus, dass sie symbolische (und damit über die konkrete Handlungssituation hinausweisende) Erklärungsangebote für erlebte Phänomene bereitstellt, die in erster Linie sprachlich vermittelt werden und die Komplexität des Erlebten bedeutend reduzieren. Im folgenden Abschnitt diskutiere ich die veränderten Vorzeichen, unter denen ein Designprozess zum Forschungsprozess wird. Ich beschreibe darin die Rolle und Ausprägung der unterschiedlichen Ausdrucksformen, die ich verwendet habe, im Hinblick darauf, wo sie dem Prozess Gewissheit oder Unschärfe hinzufügen, und in welcher Form sie dies tun. Der Entwurfsprozess als Experiment

In meinem Entwurfsprozess ging es mir darum, wie sich der Deutungsspielraum eines neuen Gegenstands so vergrößern lässt, dass es zu abweichenden Deutungen im Gebrauch kommt. Die alltäglichen Benutzungsroutinen werden sowohl durch eingeschliffene Verhaltensmuster als auch durch Gegenstände ermöglicht, die wohlbekannten Gestaltungskonventionen folgen. Um diesen Zusammenhang von Gegenstand und Gebrauch zu lockern, habe ich nicht den Zweck und Anwendungskontext der Gegenstände zu Beginn festgesetzt, sondern ihr Material und ihre Funktionalität. Zweck und Kontext wurden erst im letzten Teil des Entwurfsprozesses bestimmt, der in der Deutung der Gegenstände bestand. Zumindest im Interfacedesign ist dies keine übliche Vorgehensweise. Hier ist es im Gegenteil zentral, den Anwendungskontext möglichst gut zu kennen, um potenzielle Probleme im Gebrauch vermeiden zu können.14 Der Entwurfsprozess war dadurch ein Entwurfsexperiment, nicht nur weil er ungewöhnliche Ergebnisse hervorbringen sollte, sondern auch als Selbstversuch mit einem ungewohnten methodischen Ansatz. Meine Zielsetzung, die zweckoffene Gestaltung, stand im Widerspruch zur etablierten Arbeitsweise im Interfacedesign, die stark vom Problemlösen bestimmt

14 Entsprechende Vorschläge für Designprozesse, die das Verständnis des Anwendungszwecks und Gebrauchskontext als Grundlage der Interfacegestaltung voraussetzen, finden sich u.a. bei Cooper, Reimann, and Cronin (2007), S. 13–26, und Shneiderman and Plaisant (2005), S. 118–125.

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ist. Dadurch war der Zweck, der gewöhnlicherweise das Hauptauswahlkriterium für die Entwürfe darstellt, kein passendes Kriterium für meinen Designprozess. Stattdessen wurden die Ideen danach ausgewählt, inwiefern sie der theoretischen Zielsetzung entsprechen. Die Verteilung von Gewissheit und Unsicherheit in einem Designforschungsprozess kann demnach deutlich von der in kommerziell verankerten Entwurfsprozessen abweichen, weil sich die Entwürfe nicht zwingend in Produktion und Praxis bewähren müssen. Die bewusst hergestellte Unsicherheit hat in der Designforschung genau wie in anderen Forschungsbereichen auch die Rolle, interessante Überraschungen zu produzieren. Damit ein Designprozess auch ein Designforschungsprozess sein kann, ist es wichtig, die Räume für Gewissheit und Unsicherheit sehr bewusst nach dem theoretischen Erkenntnisinteresse auszuwählen. Visuelle Referenzen und Notizen

Die Recherche von Referenzmaterial für den Entwurf und die ersten Ideenskizzen markieren den Übergang von rein sprachlichen zu visuellen Darstellungs- und Ausdrucksformen. Als Mittel zur Reflektion verbinden Skizzen die abstrakten Begriffe, die einen Designforschungsprozess anleiten, mit spezifischen Ausprägungen und Anwendungsszenarien.15 In der praxisgeleiteten Designforschung sind Designexperimente mit visuellen Referenzen und Skizzen eine Möglichkeit, um die eigenen konzeptionellen Unterscheidungen auf ihre Anwendbarkeit hin zu prüfen. Die Unschärfe, die sprachliche Begriffe durch ihre Abstraktion und als Symbole haben, wird durch die Darstellung als Bild oder Skizze auf konkrete Beispiele reduziert: Das Bild von einem Stuhl ist eben ein bestimmter Stuhl und kein beliebiger. Skizzen sind ein effizientes Mittel, um in kurzer Zeit viele verschiedene Variationen zu einem Thema darzustellen und zu vergleichen (s. Abb. 6). Sie sind konkret genug, um Entwurfsideen wirksam zu externalisieren, sie dadurch der eigenen und der Kritik durch andere zugänglich zu machen. Gleichzeitig sind Designer beim Anfertigen von Skizzen noch nicht gezwungen, alle

15 Gabriela Goldschmidt beschreibt die kognitive Rolle von Skizzen im Designprozess als relativ kontinuierliche Bewegung zwischen figurativen und konzeptionellen Darstellungen, die eine Evaluation der eigenen Vorstellung ermöglichen. Siehe Goldschmidt (1997).

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Katharina Bredies | GEGENSTAND UND GEBRAUCH

Abb. 6: Beispiele für Skizzen zu textiler Interaktion mit Elektronik

Details des Entwurfs gleichermaßen zu konkretisieren. Skizzen können eine Idee oder einen Handlungsverlauf selektiv darstellen und müssen in keiner Weise realistisch sein. Dadurch bleiben sie unscharf in Bezug auf die vollständige spezifische Umsetzung eines Konzepts als Gegenstand. Gegenstände als Erfahrungsinstrumente

Der Modellbau markiert den nächsten Übergang von der Darstellung zum Material. Die materielle Ausdrucksform zwingt zur Konkretisierung aller Details des Entwurfs, selbst dann, wenn Konstruktionsmaterialien, Farben und Formen willkürlich gewählt oder durch andere Faktoren beeinflusst werden. Die Komplexität eines materiellen Gegenstands übersteigt dabei schnell das Ausmaß dessen, was anhand visueller Darstellungen repräsentiert werden kann. Die direkte Erfahrung im Umgang mit einem materiellen Objekt lässt sich dabei nicht durch andere Mittel ersetzen. Die Konstruktion findet mit spezifischen Werkzeugen und Materialien in einem beschränkten zeitlichen Rahmen statt und ist abhängig von der Expertise derer, die ihn durchführen.

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Das Funktionieren eines Gegenstands ist von diesen spezifischen Umständen abhängig. Die Konstruktion dient demnach als Auswahlmechanismus, der im Konflikt zu den theoretischen Auswahlkriterien stehen kann. Anders als beim Skizzieren – bei dem ja alles Denkbare aufgezeichnet werden kann – sind die Beschränkungen des Möglichen im Modellbau real und verbindlich: Nicht alles, was sich vorstellen lässt, lässt sich auch bauen. Erst anhand der konkreten Gegenstände konnte ich auch die Handlungserwartungen nachzeichnen, die sie hervorrufen und die in meiner Untersuchung als Grundlage für den Vergleich mit den Deutungen der Interpreten dienen. Zugleich beschreiben die Gegenstände auch ihren eigenen konkreten Handlungsspielraum, indem nur das funktioniert, was eben funktioniert. Das, was in der Umsetzung im Material an Unschärfe durch die Konkretisierung verloren geht, wird durch ihre Komplexität wieder hinzugewonnen. Kein materielles Objekt allein kann seinen eigenen Gebrauch so stark einschränken und aus sich heraus vermitteln, als dass es nicht auch für etwas anderes gedeutet und benutzt werden könnte. Auch diese Kontingenz ist eine Eigenheit der materiellen Gegenstände gegenüber anderen Ausdrucksformen, wie z.B. einer schriftlichen Beschreibung. Benennungen und Benutzung

Die sprachliche Benennung der Gegenstände in den Interpretationssitzungen stellt einen Schritt in der Rückübersetzung der materiellen Ausprägung in eine sprachlich-symbolische Form dar. Die Benennung erschien mir ein angemessenes Mittel, um die individuellen Deutungen der Interpreten miteinander und mit meiner eigenen Interpretation zu vergleichen. Der Vergleich von sprachlichen Ausdrücken ist naheliegender als der Vergleich von Gesten und Verhalten, der mehr Erklärung erfordert. Sprachliche Konzepte verweisen auf normativ geprägte und prototypische Umgangsweisen und Anwendungskontexte, auch wenn diese wiederum nicht vollkommen uniform und eindeutig sind. Die Benennung dient hier als indikativer Hinweis auf ein mögliches, nicht auf ein tatsächliches Verhalten. Es bleibt eine Lücke zwischen der sprachlichen Benennung und dem Umgang mit einem Gegenstand, die sich durch eine sprachliche Interpretation des Gebrauchs nicht schließen lässt. Durch den Begriff wird die komplexe Bedeutung eines Gegenstands auf bestimmte Aspekte reduziert, auf die der Begriff verweist. Dadurch wird auch die Unsicherheit reduziert, die dem mehrdeutigen Material innewohnt. Gleichzeitig kommen durch die Benennung andere Konnotationen ins Spiel, z.B. im Zusammenhang mit einer vorgestellten Anwendungssituation. Die

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Benennung eines Gegenstands beeinflusst das Verständnis des Benutzers dahingehend, was mit dem Gegenstand möglich und erlaubt ist. Als Ausdrucksmittel im Designforschungsprozess ist es in einer sprachlichen Interpretation einfacher, die Ergebnisse aus dem Designprozess zurückzuübersetzen in eine Form theoretischer Schlussfolgerungen, die innerhalb des Wissenschaftssystems anschlussfähig sind.

UNSCHARFE UND FLÜCHTIGE AUSDRUCKSFORMEN Bis hierhin habe ich anhand meines eigenen Promotionsprojekts die Rolle unterschiedlicher Ausdrucksformen im Designprozess vorgestellt und ihre Eigenheiten dahingehend diskutiert, inwiefern sie bei der Übersetzung theoretischer Annahmen in materielle Gegenstände und zurück in einen theoretischen Beitrag helfen. Zum Schluss möchte ich nun eine Deutung dieses Prozesses anbieten, bei der es um die Schwierigkeiten geht, materielle und prozesshafte Artefakte als wissenschaftlichen Beitrag anzuerkennen. Der Designprozess als Forschungsprozess dient dazu, die Forschungsfrage durch Gestaltungshandlungen zu interpretieren und die Unsicherheiten gegenüber den Gewissheiten zu verorten. Theoretisch motivierte Qualitätskriterien ersetzen darin andere etablierte Auswahlkriterien wie etwa die Setzung des Zwecks und Anwendungskontexts. Die Arbeitsmittel wie Skizzen und Vormodelle, die auch in anderen Designprozessen eingesetzt werden, helfen im Forschungskontext bei der schrittweisen Übersetzung abstrakter theoretischer Konzepte in konkrete materielle Gegenstände und zurück in sprachliche Begriffe. Mit jeder Übersetzungsbewegung geht ein Gewinn und gleichzeitiger Verlust an Unschärfe einher, der je nach Medium unterschiedlich ausfällt. Die Übersetzungsbewegung in dem von mir geschilderten Designforschungsprozess kann mit den Begriffen von Nelson und Stolterman als Übergang vom Generellen zum Partikulären und zurück zum Generellen beschrieben werden16.

16 Nelson und Stolterman stellen Design als Tätigkeit im Bereich des „Realen“ vor, während traditionelle Wissenschaft sich mit dem Bereich des „Wahren“ und damit universell Gültigen beschäftige. Siehe Nelson/Stolterman (2012), S. 27–40.

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Designforschung kann durch seine Methoden einen Übergang zwischen dem Realen und dem Wahren, sowie vom Generellen zum Partikulären schaffen. Mit dem von Latour geprägten Begriff der „Übersetzung“17 kann man die von mir gebauten Gegenstände als materielle und damit partikuläre Entsprechungen meiner theoretischen – generellen – Annahmen ansehen. Gleichzeitig ist es wichtig zu verstehen, wie sich diese Annahmen mit jeder Übersetzung verändern und was ihnen durch die materielle Form hinzugefügt wird. Andersherum ist es eine grundlegende Frage, ob und wie sich die Erkenntnisse, die anhand der materiellen Gegenstände gewonnen werden, wieder in die etablierte sprachlich-symbolische Form wissenschaftlicher Veröffentlichung rückübersetzen lassen. Die unterschiedlichen Materialien und Gegenstände, die ein Designforschungsprozess hervorbringt, sind nicht nur Werkzeuge, um ein bestimmtes Ergebnis zu produzieren, sondern stellen mehr oder weniger bewusste alternative Ausdrucksweisen für theoretische Annahmen dar, die dem Prozess zugrunde liegen. Die praktische und theoretische Arbeit sind in der praxisgeleiteten Designforschung so eng verzahnt, dass sich das eine nicht ohne das andere durchführen lässt. Dementsprechend benötigt es beide Arten von Ausdrucksformen – schriftliche und dingliche – um das Ergebnis nachvollziehen zu können. Diese Unersetzbarkeit des materiellen Gegenstands, und damit auch die Verknüpfung der Erkenntnis im Partikulären oder Realen, macht es Design­ forschern im Moment noch so schwer, Anerkennung für die materiellen Ausdrucksformen ihrer Forschungsarbeit zu bekommen. Gegenstände sind vergleichsweise träger in der Verbreitung als Texte, selbst dann, wenn sie industriell produziert werden. Theoretische Annahmen in Gegenständen sind dabei in mancher Hinsicht vergleichbar mit theoretischen Texten – man kann beide lesen, ohne den Inhalt zu verstehen, und beide Ausdrucksformen erlauben es, verallgemeinerte Annahmen nachzuvollziehen. Und doch scheint es, als ob Theorie, wenn sie ausschließlich auf nichtverbale Weise kommuniziert wird, eine schwer zu akzeptierende andersartige Mehrdeutigkeit aufweist, die erst durch eine sprachliche Erklärung aufgehoben werden kann. Theoretische

17 Latour verwendet den Begriff allerdings, um menschliche und dingliche Akteure aus soziologischer Sicht symmetrisch betrachten zu können. Dabei geht es um ihre Ähnlichkeit, nicht um die Unterschiedlichkeiten. Siehe Latour (1987), S. 248–252.

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Annahmen als symbolische Kommunikation stützen sich zum Teil deutlich auf materielle Gegenstände, in Form von Instrumenten, Demonstrationen, Modellen, und nicht zuletzt auf ihre eigenen Verbreitungsmedien wie Bücher oder Zeitschriften. Aber diese Instrumente sind selbst komplexer als die symbolische Kommunikation, zu der sie beitragen. Als Ausdrucksmittel für theoretische Reflektionen tritt bei Gegenständen die eigene Komplexität dominant in den Vordergrund, anders als bei Texten, deren materielle Form kaum erwähnenswert erscheint. Gegenstände als Vermittler von theoretischen Annahmen haben zwar in den Wissenschaften eine lange praktische Tradition, widersetzen sich aber der verbalen Beschreibung und bleiben damit dem Partikulären verhaftet, statt selbst Eingang in das Generelle zu finden. Noch deutlicher wird dies, wenn wir Design im Gebrauch betrachten, also den Teil des Designprozesses, der sich auf die Konstruktion von Handlungsmöglichkeiten bezieht. Im Extremfall besteht das Design-Artefakt bei Design im Gebrauch nur aus einer Handlung, die keinerlei Spuren hinterlässt, wenn sie einmal vorbei ist. Diese Interpretationsebene habe ich in meiner Forschungsarbeit aus dem Grund nicht einbezogen, weil ich keine Möglichkeit gefunden habe, wie sich Handlungen mit unterschiedlichen Gegenständen nachvollziehbar nichtsprachlich vergleichen lassen. Obwohl ich die Interpretationssitzung auch per Video mitgeschnitten habe, spielt die nonverbale Deutung der Funktionsmodelle in meiner Untersuchung eine nachgeordnete Rolle. Sie dient vor allem als Rückversicherung, wenn es um indexikalische Verweise auf die Gegenstände geht (also z.B. wenn ein Proband „dies hier“ sagt). Dadurch fehlt in dem von mir dargestellten Prozess ein Schritt, der dem Skizzieren im Entwurf entspricht und eine Mittelstellung zwischen dem Gegenstand und der sprachlichen Benennung einnimmt. Spontane Handlungsprozesse sind weder in den festen materiellen Strukturen der Dinge selbst, noch sind sie schon so generalisiert wie eine sprachliche Interpretation. Design im Gebrauch besteht darin, einen ungewöhnlichen Kontext für einen Gegenstand zu etablieren. Diese Kombination von Gegenstand und Gebrauch in einem neuen Kontext ist weniger mobil als der Gegenstand allein. Die Gestaltungsleistung ist so stark an die Situation gebunden, dass sie ohne diese nicht existiert. Sie ist demnach höchst partikulär. Design im Gebrauch stabilisiert sich nicht in der materiellen Struktur des Gegenstands. Es wird als Handlung ausagiert, falls erfolgreich, als Gewohnheit verstetigt, und, falls überzeugend, von anderen nachgeahmt und so zu einem kulturellen Verhaltensmuster. Solche Handlungsroutinen haben dann einen ähnlichen symbolischen Stellenwert wie sprachliche Begriffe.

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Hier geraten Designforscher tief in soziologische und ethnografische Untersuchungsgebiete, und die Aneignung neuer Gegenstände im Gebrauch überschneidet sich mit der soziologischen Technik- und Innovationsforschung. Deswegen wäre es falsch zu behaupten, dass es nicht auch etablierte Methoden gäbe, um prozesshafte Ausdrucksformen festzuhalten, wie z.B. durch Videoanalyse oder unterschiedliche ethnografische Beobachtungsmethoden. Die Tatsache, dass der Fokus in der Interpretation dieser Daten auf dem sprachlichen Ausdruck liegt, ist häufig die große Hürde bei der Aneignung sozialwissenschaftlicher Methoden für die Designwissenschaft, auch dann, wenn sie sich in der Aufzeichnung nichtsprachlicher Medien bedienen. Obwohl es sicher möglich ist, existierende Notationssysteme für nichtsprachlichen Ausdruck anzupassen, um den Gebrauch von Gegenständen zu beschreiben, bleibt dann die Frage nach einer angemessenen, ebenfalls nichtsprachlichen Interpretation und dem Vergleich solcher Daten aus Designsicht. Wie kann man zum Beispiel das Öffnen einer Schublade oder das Einwickeln eines Kartons in Geschenkpapier vergleichend in Beziehung zu anderen Handlungen setzen, und zwar nicht mit Blick auf ihre soziale Bedeutung, sondern mit Blick auf die Interaktion? In der Designforschung ist es meines Erachtens zumindest im Moment noch naheliegender, die dinglichen Konsequenzen und Symptome von Nutzungsprozessen als Manifestationen zu begreifen, als den (Um-)Nutzungsprozess selbst. Diese Vorliebe kann man zum einen als Anzeichen werten, dass Designer erst noch ihre eigenen Analysemethoden für nichtsprachliche Ausdrucksweisen entwickeln müssen. Es kann aber auch ein Hinweis darauf sein, dass wir den Begriff der gestalterischen Ausdrucksform, genau wie die Auffassung von Design als Tätigkeit, erweitern müssen, um Design im Gebrauch gerecht zu werden.

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ABBILDUNGEN Abb. 1: Das Modell „Wavecap“ und ihre unterschiedlichen Bedienelemente Abb. 2: Das Modell „Undercover“ Abb. 3: Das Modell „Shuffle Sleeve“ Abb. 4: Details aus der Konstruktion des Shuffle Sleeve Abb. 5: Modell zum Zusammenhang der theoretischen Begriffe bei Gebrauch als Design Abb. 6: Beispiele für Skizzen zu textiler Interaktion mit Elektronik

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Gestenräume. Virtuelles Skizzieren, Modellieren und Verhandeln HANNAH GRONINGER

„Die Hand wurde zur Schöpferin von Bildern, von Symbolen, die nicht unmittelbar vom Fluss der gesprochenen Sprache abhängen, sondern eine echte Parallele dazu darstellen […] Die Hand hat ihre Sprache.“1

Sprache, Denken und Handeln sind in der körperlichen Wahrnehmung und Interaktion mit der gegenständlichen, räumlichen und sozialen Welt verankert. Davon ausgehend, dass eine Korrelation zwischen der Vorstellung, Wahrnehmung und Darstellung besteht, reflektiert der vorliegende Beitrag2 im Kontext des architektonischen Entwerfens, inwiefern ephemere körperliche Handlungen in Form von Gesten, Gebärden und Raumzeichnungen einen räumlichvisuellen Entwurf unterstützen können. Kann der eigene Körper als Modell dienen, um von ihm ausgehend Raum zu gestalten?

1

Leroi-Gourhan (1980), S. 261 f., zitiert nach: Hildebrandt (2011), vgl. zudem Tomasello (2003), der besagt, dass die sprachliche Kommunikation aus der gestischen hervorgegangen sei.

2

Nur durch die konstruktive interdisziplinäre Zusammenarbeit konnte dieser Beitrag ermöglicht werden. Besonderer Dank gilt der Sprachwissenschaftlerin und Leiterin des Natural Media Labs Prof. Irene Mittelberg, Human Technology Centre, dem Lehrstuhlinhaber der Bildnerischen Gestaltung, Fakultät für Architektur, Univ.-Prof. Thomas H. Schmidt, der Virtual Realtiy Group, dem Kompetenzzentrum für Gebärdensprache und Gestik, SignGes, den teilnehmenden Studierenden der RWTH Aachen und reiff+.

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Sowie die Hand in ständigem Kontakt mit sich selbst und ihrer Außenwelt ist, sie Objekte aus ihrem Kontext lösen und verändern kann, kann sie durch ihr doppeltes Vorhandensein ohne Zuhilfenahme von Außen Raumkonstellationen, Zwischenräume und Raumdynamiken entwickeln.3 Raum ist nicht statisch, er ist dynamisch. Indem der Mensch mit einzelnen Fingern zählt, wird die Hand als Instrument des Raums auch zu einem Instrument der Zeit.4 Mit dem Beispiel der Hand, die propriozeptiv agiert, d.h. auch sich selbst wahrnehmen kann, soll die enge Beziehung zwischen dem menschlichen Körper und seiner Umwelt exemplifiziert und verdeutlicht werden. Auf der Basis von Entwurfsprojekten5 werden im folgenden Beitrag erweiterte Gestaltungs- und Handlungsmöglichkeiten des Körpers – im Speziellen der Hand – eruiert, die kein standardisiertes Verfahren der Architekturdarstellung und Gestaltungslehre beinhalten. Es geht dabei nicht um das Denken der Architektur mit Hilfe der Begriffe und mit Bildern des Körpers6 – einer Anthropologie der Architektur – vielmehr untersucht der Beitrag anhand dieser mit Studierenden der Architektur umgesetzten Projekte das Potential der dreidimensional (zeichnenden) sich im Raum bewegenden Hand.7 Bisherige Untersuchungen fließen ein, um aus Sicht von Architektur, Gestaltung, Gesten- und Gebärdensprachforschung dem visuell-räumlichen Bezug dieser Techniken nachzugehen. Anhand der im Hauptteil vorgestellten Studien, die dialogische Situationen beinhalten, in denen Studierende der Architektur ihre Bild- und Raumentwürfe kommunizieren, wird der Zusammenhang zwischen gleichzeitig Sprechendem und Zeichnendem und einem vor sich räumlich entwickeltem Modell erörtert. Ziel ist es, die Rückbindung der Darstellungen an das Begreifen im Sinne von Raumvorstellung und -orientierung in der sensomotorischen Interaktion zu artikulieren.8 Entwerfen wird dabei als ein Akt der Kommunikation verstanden, als eine visuelle Methode der Verständigung von Formen und Dingen, mit sich selbst und für andere.

3

Gebauer (2011), S. 15f.

4 Ebd. 5

im Masterstudium der Fakultät für Architektur, RWTH Aachen.

6

Wagner (2015), S. 74f.

7

Erste Studien werden in Zusammenarbeit mit Irene Mittelberg und Thomas H. Schmitz in: Mittelberg et al. (Im Erscheinen) veröffentlicht.

8

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Vgl. Mittelberg et al. (Im Erscheinen).

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FÜR EINE KÖRPER- UND RAUMORIENTIERTE ENTWURFSPRAXIS Wie können im architektonischen Entwerfen existenziell sinnliche Erfahrungen, die mit Raum und Umwelt gemacht werden, die erinnert und im mentalen Raum konzeptualisiert werden müssen, abrufbar gemacht werden? Der Mensch, sui generis ein räumliches Wesen9, verarbeitet auch im Mentalen sprachliche Relationen räumlich. Der Mensch kann demnach nicht nichträumlich denken.10 Schon in der Antike wurde die Disziplin der räumlichen Erinnerung – die Gedächtniskunst – gelehrt.11 Die Imagination des Raums, seiner Objekte und Ereignisse ist dem Menschen von Natur aus gegeben: es sind konzeptualisierte Räume12 in denen er denkt und arbeitet, stets im Abgleich mit realen körperlich-erinnerten Erfahrungen. Interessant ist, dass gerade diese kognitive Kompetenz der Vorstellung, Technologien hervorbrachte, die Raum mehr und mehr virtuell,13 im Sinne von digital, verhandeln und verstehen ließ. Sicherlich erweitert sich Raumerfahrung und -wahrnehmung gerade und auch durch virtuelle und digitale (Kommunikations-) Welten; körperliche Handlungen und die Auseinandersetzung mit der realen Umwelt reduzieren sich dabei jedoch, dient der Körper und die Hand in vielen Situationen lediglich nur noch der Bedienung soziotechnischer Systeme. Die Förderung kognitiver Prozesse über die Hand, der eigentlich interessante Nebenaspekt dieser körperlichen Handlungen, bleibt infolgedessen aus und die Sprache der Hand verliert an Bedeutung. Eine Diskrepanz zwischen Wahrnehmungsprozessen und Vorstellungstätigkeit entsteht, so dass die Balance zwischen

9 Vgl. Arbeiten zu „Embodied Cognition“ (Gibbs 2006). Die Verkörperungstheorie der Kognitionswissenschaftler besagt, dass es keine entkörperten Denk- und Kommunikationsvorgänge gibt. 10 Keller (1998), S. 4. 11 Der sogenannte Gedächtnispalast ist ein sich vorgestelltes, im Kopf existierendes Gebilde, das dazu dient, Wissen langfristig abzuspeichern. Durch die sich vorgestellte Verortung wird eine Logik des Wissens generiert, die Dinge gut erinnerbar macht. 12 Mittelberg (2012). 13 Digitale Systeme geben uns mehr und mehr Orientierung, sagen wo wir herkamen und wohin wir gehen, vgl. Buschauer/Willis (2013).

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haptisch-realer und virtuell-digitaler Wirklichkeit auf dem Prüfstand steht. Muss die Relation von Vorstellung, Wahrnehmung und Darstellung also neu ausgelotet werden?14 Auch die gegenwärtige Architekturpraxis deutet darauf hin, dass der architektonische Entwurf zunehmend von der körperlichen Erfahrung entkoppelt wird und der Körper immer weniger in den Prozess integriert wird. Entwerfen findet mit Hilfe von 3D-Programmen statt, händische Methoden und die tatsächliche Bearbeitung von Baumaterialien wie bspw. Stein oder Holz oder gar 1:1 Modelle vor Ort werden selbst an den Lehrinstitutionen der Universitäten immer weniger praktiziert. Damit haben die im Entwurf eingesetzten körperlichen Handlungen sehr wenig mit dem tatsächlichem Material, Maß und Raumgefühl des späteren Bauwerks zu tun.15 Besteht die Gefahr, dass dabei elementare haptische Erfahrungen16 in den Disziplinen des Entwerfens in den Hintergrund geraten und sich infolgedessen die Notwendigkeit der Abstraktionsleistung im Entwurf und damit verbunden die räumliche Vorstellungstätigkeit erhöht? Die Vorstellungskompetenz und Schulung der Imagination sollte mit Hilfe von erfahrungsbasierten körperlichen Methoden vorangetrieben werden. Der Architekt Juhani Pallasmaa schreibt über den wissenden Körper während des Entwerfens und der Wahrnehmung von Architektur: „Auf ähnliche Weise verinnerlicht auch der Architekt [...] den Gebäudeentwurf selbst: Bewegung, Gleichgewicht und Maßstab werden unbewusst über Muskelsystem und Skelett als Körperspannungen erlebt, die sich bis in die inneren Organe hinein fortsetzen können. Da das Werk mit dem Körper des Betrachters interagiert, reflektiert dessen Erfahrung auch die körperlichen Empfindungen seines Schöpfers.“17

14 Vgl. Sowa et al. (2014). 15 Häußling formuliert in seinem Beitrag in vorliegendem Band, die These: „der Einsatz von CAD-Programmen fördert eine permutative Herangehensweise bei der Problemlösung, bei der die tragfähigen Ideen immer mehr von den Programmen selbst generiert werden und der Ingenieur zum Bewerter und Auswähler der in Fülle vorliegenden Alternativen wird.“ 16 Zum unterschätzten Sinn der Haptik, siehe Grunwald (2012). 17 Pallasmaa (2013), S. 87f., damit steht Pallasmaa in einer phänomenologischen Tradition zu Merlau-Ponty (1984). Vgl. auch Meisenheimer (2004) und Wölfflins Prolegomena

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Im Zusammenhang mit Verfahren der Plandarstellung spricht Monika Melters vom „Dogma der Ratio und Geometrie“18, von „Verfahren, die von Dispositiven“19 gekennzeichnet seien und durch „tradierte Muster über lange Sicht geprägt und generiert wurden.“20 Der Prozess des Entwurfs würde in einer körper- und raumorientierten Architekturpraxis dabei entgegen der von Ernst Neufert postulierten Entwurfslehre gerade nicht aus dem Grundriss, aus der Geometrie der Fläche, aus dem Maß der Geometrie übertragen werden.21 Damit begründet und kritisiert sie den historisch intellektuellen bis heute andauernden „hohen“ Stellenwert des Planes und den lediglich materiellen, „niederen“ Wert einer körper- und raumorientierten Entwurfspraxis.22 Die Architektur, als visuell orientierte Disziplin, die aufgrund ihres Maßstabes im Prozess des Entwerfens auf Simulation angewiesen ist – mehr noch als das Design – ist zudem der Wirkmacht der Bilder besonders ausgeliefert. Zu beobachten ist im Gegensatz zur körper- und raumorientierten Entwurfs­ praxis das Anwachsen der ikonografischen Bedeutung von Architektur und des Entwurfs, weg vom Raum hin zum Bild.23 Doch durch Körperbewegung und mit allen Sinnen wird das szenische Element von Architektur erlebt und gedacht24 und zwar gerade auch in seiner negativen, umgekehrten Richtung:

von 1886. Sie gehen vom wahrnehmenden Subjekt aus, Grundlage der Theorien bildet die sinnliche und leibliche Erfahrung. 18 Melters (2013), S. 71. 19 in Anlehnung der Begrifflichkeit Foucaults, vgl. dazu auch den Beitrag von Claudia Mareis in vorliegendem Band. 20 Melters (2013), S. 71. 21 Ebd. 22 Auch Ernst Cassirer kritisierte die scharfe Trennung zwischen dem Gebiet des Sinnlichen und dem Gebiet des Intellektuellen. (1923) „Die Materie der Empfindung ist niemals rein an sich und ‚Vor‘ aller Formung gegeben, sondern sie schließt schon in ihrer ersten Setzung eine Beziehung auf die Raum-Zeit-Form ein.“ Zitiert nach Hauser et al. (2011), S. 202. 23 Melters verweist auf die sogenannten „media constructions“: das Urteil über Architektur sei von ihr weg, in die Bildmedien verlagert worden. Melters (2013) S. 74. Vgl. Beyer et al. (2011) und den Begriff des „iconic buildings“. 24 Jäkel (2013) thematisiert die leibliche Kommunikation zwischen Benutzer und Raum in der Architektur.

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in der Raumbildenden Konstellation architektonischer Körper. Das Mittel des Körpers wird auch im Plastischen Gestalten, im Modellbau und in Freihandzeichnungen eingesetzt und zählt somit zu Körpertechniken des Entwurfs.25 Die Körpersprache hat historisch, vor allem die der Architektur nahen Disziplinen, das Theater und den Tanz, geprägt. Das Spiel, die Mimik und die Mittel der Hände wurden dort in sehr unterschiedlichen Formen in verschiedensten Kulturen erprobt, praktiziert und aufgeführt. Dieses dynamische Spiel kann, das ist der Vorteil, jederzeit und flexibel annulliert, korrigiert und diskutiert werden. Das Geschehen auf der Bühne ist, so kann man sagen, sichtbar werdendes körperliches Denken.26 Bisher wurde die Körpertechnik der Geste im Design wenig berücksichtigt, obwohl sie entwicklungsgeschichtlich als bildliche Dimension sprachlichen Denkens gedeutet wird.27 Vereinzelt wurden Masterarbeiten der Architektur getanzt28 oder Gesten als Medium des Entwurfs bezeichnet.29 Die Nutzung dieser Körpersprache ist in der Architektur, des Designs oder Ingenieurwesens – in den entwerfenden Disziplinen – kaum bekannt oder theoretisch reflektiert worden.30 Obwohl diese jahrelange körperliche Erfahrung Teil des Körperwissens31 ist, das von erfahrenen Architekten unmittelbar

25 Zu Körpertechniken und kreativen Prozessen des Entwurfs, vgl. Schmitz (2015). 26 Der Choreograf und Tänzer William Forsythe äußert sich über sogenannte choreographische Objekte: „Fortunately, choreographic thinking being what it is, proves useful in mobilization language to dismantle the contraints of this degraded station (hier bezieht er sich auf den in der Tradition niederen Stellenwert des Körpers) by imagining other physical models of thought that circumvent this misconception. What else, besides the body, could physical thinking look like?“, Forsythe (2013). 27 Vgl. McNeil (2007), Vgl. Rudolf Arnheim, er sieht Gesten als Vorläufer von Zeichnungen an und verweist auf die Abstraktionsleistung beider Techniken. S. 117. 28 Betreut durch den Lehrstuhl für Bildnerische Gestaltung und Wohnbau, Vgl. www.Viktorgatys.com 29 Gänshirt (2007), zitiert den Gestalter Peter Jenny: „Wir greifen förmlich in einen Skizzenblock, der voller visueller Funde ist.“ S. 110. 30 Vermutlich da es sich um vorerst immaterielle Resultate handelt und digitale Aufnahmeverfahren in der langen Tradition von Gestaltung und Entwurf relativ jung sind. Zur Auseinandersetzung der zeichnerischen Geste, siehe: Renner (2014), Schmitz (2015). 31 Vgl. den Begriff der Körpertechnik bei Mauss (1934), den Begriff des impliziten

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eingesetzt wird. Gerade da es traditionsgemäß als nachgeordnet zählt, sollte es somit auch in Forschung und Lehre besonders beachtet werden. Die Frage für den Vorgang des Entwerfens lautet: Wie kann die nicht im Geiste gefundene Idee, sondern das was der Körper im Raum über Erfahrung jahrelang geübt und gelernt hat, für die Architektur operativ und sichtbar32 gemacht werden? Wie kann die Kunst der Wahrnehmung des Raumes übertragen werden auf den Entwurf, wie Pallasmaa dies, siehe Zitat oben, beschreibt? Der Architekt Wim van den Bergh schlägt vor: die „Vorstellungskraft mit der realen Wahrnehmung zu synchronisieren.“33 Es wird im folgenden die Suche nach körperlichen Darstellungstechniken und einer Körpertechnik des Entwerfens beschrieben, die neben den materiellen und formalen Aspekten der Architektur auch offen ist für die Beschreibung von Atmosphären34, relationalen-sozialen35 und vor allem haptischen Gesichtspunkten des Raumes. Ziel ist es, mit Hilfe emotionaler Ausdrucksweisen, die Artikulation von Darstellungen rückzubinden an das Begreifen im Sinne von Raumvorstellung und Raumorientierung in der sensomotorischen Interaktion. Die These lautet, dass Körpertechniken unterschiedliche operative und immersive36 Qualitäten für den architektonischen Entwurf bergen.37 Wie können sie sinnvoll eingesetzt werden und vor allem nicht wie aus sozio-technischen Systemen bekannt – lediglich instrumentalisiert – als Input für gestenbasierte Schnittstellen? Vom Raum her gedacht, definiert Peter Sloterdijk die Architektur als Immersionskunst. Das Haus als verwirklichte

Wissens bei Polanyi (1985) und Sennett (2008). Zum Motiv des „impliziten Wissens“ in der Designpraxis und -forschung, vgl. Mareis (2011), S. 247–284. 32 Vgl. Begrifflichkeit der Operativen Bildlichkeit, Krämer (2009). 33 van den Bergh (2012), S. 55. Bemerkenswert erscheint an dieser Aussage die Bedeutung der zeitlichen Dimension. 34 Vgl. den Begriff der Atmosphäre bei Böhme (2006). 35 Vgl. Martina Löws Soziologie des Raums, Löw (2001). 36 Wiesing (2005) definiert Immersion als ein vollständiges Eintauchen des Bewusstseins in den räumlich vorgestellten oder dargestellten Kontext. 37 Vgl. das von Irene Mittelberg, Thomas H. Schmitz und Hannah Groninger entwickelte Kontinuum von Gesten als Körpertechniken und Grade der Immersion, Mittelberg et al. (Im Erscheinen).

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Raumliebe in das man immersiv eintauchen kann.38 Was heißt das für das Entwerfen? Welche immersiven Techniken des Entwerfens gibt es oder sollte es in Zukunft geben? Ziel ist es, Methoden zu finden, um während des Entwurfsprozesses die Distanz zum Entwurfsgegenstand (meist im Computer simuliert und noch lange nicht durch einen 1:1 gebauten Raum erfahrbar) durch Immersionstechniken aufzulösen, die lebendigen, leiblichen Erfahrungen für Gestaltungsprozesse zu integrieren und die Vorstellung mit der realen Wahrnehmung zu synchronisieren. Der Blick richtet sich dabei auch auf andere Disziplinen, die hier eine Vorreiterrolle einnehmen und für Studien und wissenschaftliche Ansätze passende Theorien und Infrastrukturen bieten. Es wird reflektiert welche Verfahren es gibt, um anhand von Diagrammen, Zeichnungen und Modellen, diese räumlichen Erfahrungen und ephemeren Handlungen für sich und andere sichtbar zu machen.

GESTISCHE 3D-RAUMSKIZZEN: 3 STUDIEN Untersuchungen zum Sprechen mit verbundenen Händen also Sprechenohne-Gesten haben gezeigt, dass redebegleitete Gesten – also der synchron zur Lautsprache stattfindende körperliche Einsatz – das Artikulieren und Entwickeln von Gedanken befördern.39 Gesten werden von Seiten der Gestenforschung als sprichwörtlich in den Raum geworfene ephemere Bilder und Modelle40 angesehen, neben gestischen Darstellungen würden mit ihrer Hilfe Konzepte im Sinne von „thinking by hand“ entwickelt.41 Irene Mittelberg spricht von einem Medium an der Schwelle von „Innen und Außen“42, ein Medium zwischen Vorstellung, Wahrnehmung und Darstellung. Es trage unmittelbar Spuren der Erinnerung und der körperlichen Verortung im Raum in sich.43 Außerdem seien Gesten aufgrund ihrer räumlich-visuellen Medialität im Besonderen geeignet, Proportionen, Volumen und Relationen

38 Sloterdijk (2006). 39 Kita (2000). 40 Müller (1998). 41 Streeck (2009) S. 151. 42 Mittelberg (2013). 43 Vgl. gemeinsame Studie in: Mittelberg et al (im Druck).

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der materiellen Welt zu kommunizieren.44 Und können Rückschlüsse auf die räumliche Kognition und Orientierung von Menschen geben.45 Was heißt das im Kontext der Architektur, in der es gerade darum geht Räume zu entwerfen, zu gestalten und zu konstruieren? Kann man Bewegungen der Hand als Körpertechnik, die bildliche Formen und somit Visualisierungen von qualitativen (Raum-) Vorstellungen in bildlicher Form manuell erzeugt, modelliert und im wörtlichen Sinn begreift, nutzbar machen? Untersuchen Gestenforscher in der Beobachtung und Analyse der Gesten ihren Zusammenhang mit der materiellen und sozialen Welt, ihre sichtbar werdende kognitiven Prozesse und erkennbaren Interaktionen, versucht dieser Ansatz im Kontext der Architektur und des Entwerfens dieses Körperwissen als eine immersive Methode zu verstehen und weiterzuentwickeln. Der Methode redebegleiteter gestischer 3D-Raumskizzen wird dabei das Potential zugesprochen als vermittelnde Brücke zwischen materiellem und virtuellem Entwurf agieren zu können (Abb. 1).

Abb. 1: Zusammenhänge der Vorstellungstätigkeit beim Entwerfen.

44 McNeill 2005, Mittelberg 2010. 45 Murphy 2005.

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Gesten und Gebärden spielen sich a priori räumlich vor unserem Auge ab: eine Kommunikationsform des eigenen Körpers in der realen wahrnehmbaren Welt. Nach dem sogenannten Kendon-Kontinuum46 sind Gesten spontane, weniger bewusst eingesetzte Hand- und Körperbewegungen, die redebegleitet, also synchron zur Lautsprache stattfinden und kein eigenständiges Zeichensystem konstituieren; Gebärden (bspw. innerhalb der Gebärdensprache) sind konventionalisiert, bewusst erzeugt und die Bewegung mit Bedeutung versehen. Sie sind im Gegensatz zu Gesten nicht an eine Lautsprache gekoppelt. Der jeweilige Gesten- und Gebärdenraum ist der für die Augen sichtbare Ort vor dem Körper, in dessen Raum die Hände räumlich dynamisch agieren und ihre (ikonischen) Zeichen und Modellierungen setzen. Damit ist der den Sprechenden umgebende Gestenraum – der Raum der Vorstellung – stets im realen Raum eingebettet. Dabei handelt es sich um eine zielgerichtete Auge-Hand Koordination, einem Zusammenspiel der Fähigkeiten Sehen und (Be-) greifen oder aktiver formuliert einem zeichnendem Handeln. Es sind ephemere Handlungen – Vorgänge – die vorerst keine greifbaren Resultate und materiellen Endprodukte im Gestenraum hinterlassen. Ob es sich dabei um brauchbare und visualisierbare Denk- und Zeichenvorgänge handelt – um Manifestationen im Entwurf – wird im Folgenden diskutiert. Welche Methoden der Sichtbarmachung47 müssen dabei reflektiert werden? Alle im Folgenden beschriebenen Studien erfolgten in einer Dialogsituation. Die ProbandInnen sind Studierende des Masterstudiengangs Architektur.48 Ihr körperliches Erahnen und Kontrollieren von Raumkonzepten fand redebegleitet in sich überlagernden Denk- und Handlungsräumen in Anlehnung an die sogenannte Thinking Aloud - Methode49 statt.

46 McNeill 1992, S. 37. 47 Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung zu dem Forschungsgebiet der Sichtbarkeit und Sichtbarmachung findet bspw. aktuell im DFG-Graduiertenkolleg Potsdam zu hybriden Formen des Bildwissens statt. 48 der RWTH Aachen University. 49 eingesetzt vor allem in den empirischen Sozialwissenschaften, Vgl. die künstlerischen Arbeiten Nikolaus Gansterer, Vgl. Kleist, Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken.

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Studie 1: Architekturen der Vorstellung – redebegleitete beschreibende Gesten

Im Folgenden wird anhand von Diagrammen die visuell-räumliche Medialität redebegleiteter Gesten aufgezeigt und mit dem architektonischen Entwurf verglichen. Diese protokollierten Gesten sind Darstellungen der Bewegung der Hände im Gestenraum: der zeichnenden, modellierenden und im Raum agierenden Hand,50 die im Nature Media Lab51 im Projekthaus HumTec der RWTH Aachen gemacht wurden. Das Labor ist ausgestattet mit einem aus der Filmproduktion bekannten und verwendeten Aufnahmesystem: Ein optisches Ganzkörper-Motion-Capture-System das mit Infrarotkameras und Highspeedkameras Bewegungsabläufe der Hände erfassen und über Trajektorien sichtbar machen kann. Interessant für die Architekten ist es, dass die entstehenden 3D-Modelle anschließend aus allen Perspektiven analysiert werden und mit Hilfe von 3D-Programmen weiterbearbeitet werden können.52

Abb. 2 Proband im Natural Media Lab, 2013, Studie 1, Session 1

50 Vgl. Müller (1998). 51 Director, Prof. Irene Mittelberg. 52 Vgl. Mittelberg et al. (Im Erscheinen) und die darin vorgestellte Studie: Räumliche Erinnerung wird semiotisches Material (mithilfe des 3D-Plottverfahrens wird eine gestisch dargestellte Erinnerung zu einem Objekt).

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Als ikonische Zeichen in Form von Linien und Flächen werden im Gestenraum Objekte repräsentiert, lokalisiert und dimensioniert. In den drei stattfindenden Sitzungen in denen es um den Entwurf eines Archivgebäudes für die Documenta in Kassel ging53 wird immer wieder die Lage der beiden Volumen – des Festen und des Temporären – zueinander analysiert sowie ihre Lage auf dem Baugrund. „Während aller drei Sitzungen habe ich mir immer die Frage gestellt, wie die Konstrukte, die ich – hauptsächlich mit meinen Händen – in den Raum gezeichnet habe, wohl aussehen, und ob sie in etwa an das tatsächliche Aussehen meiner Entwürfe heran kommen [bzw. an die Bilder meiner Vorstellung].“54

Auf dem linken Videostill (Abb. 2) zeichnen die Hände mit Hilfe des Daumen-Zeigefinger-Griffes approximativ Tiefe und Breite des Baukörpers. Mit den Innenflächen der Hand (Abb. 2, rechtes Bild) wird die Höhe definiert. Zu beobachten ist hierbei, dass die untere Hand – rundere Handform als die obere – das Volumen an dem Ort repräsentiert an dem es vorher (siehe Bild links) modelliert und in den Gestenraum positioniert wurde. Der Sprecher, verortet in der Vogelperspektive, schaut dabei (links) auf die mit Hilfe der Bewegung seiner Hände entwickelnden Modells. Zu beachten ist, dass sich dieser Proband meist an der Vogelperspektive orientiert hat. Es gab andere Probanden, die sich in die räumliche Situation hineinversetzt haben und zwischen Innen- und Außenperspektive wechselten. Rechts wird der Blick weder zum vorhandenen Gesprächspartner noch auf das „Modell“ gerichtet. Dies verdeutlicht die introspektive Sicht des Probanden: die immersive Technik des Vorgangs des Abgleichs mit dem sich vorgestellten und im Gestenraum entstehenden verkörperten noch immateriellen Modells. Mit Hilfe der im Natural Media Lab entstandenen virtuellen 3D-Modelle wurden Rekonstruktionen von Handformen, -flächen und Bewegungen ermöglicht. (Abb. 3–6)

53 Die Aufgabe (Lehrstuhl Baukonstruktion, Fakultät Architektur der RWTH Aachen) beinhaltete einen Entwurf des Archivgebäudes für die Documenta in Kassel Nahe des Friedrichsplatzes. Der Baugrund, durch zwei aufgerissene Blockstrukturen definiert, wurde im Verlauf der drei Sitzungen im Natural Media Lab teils geschlossen teils offen gelassen. 54 Stolz, Erfahrungsbericht, Architekturen der Vorstellung, 2014.

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Abb. 3: Lagebestimmung, „Fridericanum und der Platz daran, anschließend das Rathaus.“ Aus Motion Capture Daten generierte Diagramme, 2014

Anhand der Diagramme (Abb. 3) wird deutlich erkennbar, wie räumlich die Hände agieren und im Gestenraum Flächen und Volumen positionieren und dimensionieren. Im direkten Handeln wird das Bild in die dritte Dimension erweitert, anders als beim Skizzieren auf Papier, das auf die ikonische Vortäuschung von Räumlichkeit z.B. durch perspektivische Darstellung angewiesen ist. Die Grundidee des Entwurfs des Probanden bestand darin, ein Archivgebäude zu entwerfen, das architektonisch eine direkte Verbindung zur Documenta herstellt und die Zeitlichkeit (fünfjährige Pause und 100 Tage Dauer) sichtbar macht. Es wurden Elemente entwickelt, die immer wieder ausgetauscht werden können: wie z.B. einzelne hier durch Kreise visualisierte Archivpunkte (Abb. 4). Dieses Beispiel verdeutlicht, wie einfach diese Punkte unmittelbar in den Raum gesetzt werden können – vorerst als reine Ideen und Gedanken, die später konkretisiert werden können. Mit den Worten von JeanLuc Nancy kann man vergleichend zur Zeichnung sagen, es ist im doppelten Sinne ein „Sich-Entdecken“, „Sich-Erfahren“, dem „Objekt eine Form geben,

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Abb. 4: Kreise visualisieren „Archivpunkte“, 2014.

Abb. 5: Endergebnis der 1. Session, alle Bewegungsspuren übereinandergelegt, 2014.

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die gleichzeitig entdeckt wie geschehen lässt.“55 So werden in der ersten Session Geschosse, filigrane Konstruktionen, Verwaltungsstrukturen, Sanitäranlagen, feste und lose Dinge geradewegs in den Raum gesetzt. Zu beobachten ist, dass sich für dynamische Aspekte „Und oben gibt es etwas Leichtes ... was irgendwann [...] wieder weg ist.“56 diese Methode im Besonderen eignet. So ist dieser unvermittelte, unmittelbare, visuelle Sprechakt der Hand gerade am Anfang eines Entwurfsprozesses von Nutzen und kann als unverbindliches Modellierungswerkzeug erste räumliche Ideen in den Raum stellen. Das Endergebnis dieser Session (Abb. 5) zeigt ein Bild, mit Elementen, die – so lose sie erscheinen – doch immer den Bezug zum zu Beginn gezeichneten Baugrundstück herstellen. Die Gesten der ersten Session sind (auch durch die Möglichkeit der Analyse des Videomaterials) für den Probanden einfach erinnerbar. So ephemer diese Handlungen auf den ersten Blick erscheinen, so können sie durch die körperliche Erfahrung doch stets vom Individuum im Nachhinein wieder abgerufen werden.57 Das Endergebnis der 2. Session (Abb. 6) unterscheidet sich von der ersten dadurch, dass es einen noch klareren Ausgangspunkt, von dem aus alle Gesten gemacht wurden, gibt. Die Aussage des Probanden: „es ist wie ein Arbeiten an einem Modell“ bestätigt sein Arbeiten aus der Vogelperspektive. Zu sehen sind im Diagramm überzeichnete Stellen, die durch das mehrfache gestische Zeichnen hervorgehoben wurden. Auch die Videoaufnahmen dieser Session zeigen, dass die Gesten gezielter gemacht wurden.

55 Nancy (2003), S. 54. 56 Vgl. Stolz (2014), gemeint sind damit die Archivpunkte. 57 Ergänzend zur Thematik erinnerter körperlicher Erfahrungen Allegra Fuller Snyder: „In der dritten Klasse beschäftigten wir uns eingehend mit den Ursprüngen des Menschen. Wir kamen zum Zeitalter der Dinosaurier, und ich führte einen Tanz vor, genauer: Ich vollzog durch Bewegungen nach und teilte durch sie mit, wie es war, als es Dinosaurier gab und einige von ihnen in den Teergruben von La Brea kleben blieben. Durch den eigenen Tanz erkundete ich, wie es gewesen sein musste, immer mehr in einer klebrigen schwarzen Masse kleben zu bleiben, aus der es kein Entrinnen mehr gab. Dieser Moment der Geschichte, und alles was er umfasste und enthielt, ist heute so lebendig in meinem Körper und meinem Geist wie damals, als ich dazu kam, etwas davon zu begreifen. Als ich sieben oder acht war.“ Fuller Snyder (2001), S. 323.

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Abb. 6: Endergebnis Session 2, die Form eines liegendes „L“ wird sichtbar, 2014.

Abb. 7: Fertige Entwurfspräsentation, L auf den Kopf gestellt, 2014.

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Das Endergebnis (in diesem Fall das L) weist eine erstaunliche Ähnlichkeit in den Proportionen zu dem tatsächlichen Entwurf (Abb. 7) auf.58 Die L-Struktur wurde beibehalten, allerdings am Ende interessanterweise auf den Kopf gestellt. In der letzten Session 3 (hier nicht abgebildet) geht der Proband auch auf die Funktionsweise des Gebäudes ein. Im Nachhinein hebt der Proband hervor, dass eine Geste eine Bewegung beinhalten würde und diese auf „starren“ Entwurfsbildern nicht zum Ausdruck kommen würde. Damit wird die zeitliche und dynamische Dimension der Geste durch den Probanden erkannt und positiv hervorgehoben. In der sprachlichen und gestischen Auseinandersetzung arbeitet der Proband in der räumlichen Vorstellung und repräsentiert sie gleichzeitig körperlich. Auch die Reflexion und Rezeption findet zeitgleich statt, schaut er doch seinen Händen zu und bestätigt oder korrigiert dessen Bewegungen innerhalb des Modellierungsvorgangs: Ein Vorgang deutbar als Synchronisation der Vorstellung mit der realen Wahrnehmung. Das gestische Modell liegt dabei immer an der gleichen Stelle. Es ist an seinen Körper gebunden und wird körpernah im Gestenraum verortet. Zu beobachten ist, dass auch dynamische atmosphärische Elemente und Raum-Zeitliche Aspekte transportiert werden können. Die intensive gestische Auseinandersetzung mit der räumlichen Situation des Entwurfs ermöglicht es auch mit Hilfe der Innenperspektive, im Labor Formen und Atmosphären darin quasi zu erspüren und darüber hinaus über die Geste als Bewegung des Ausdrucks tatsächlich imaginär weiterzuentwickeln.59 Gesten sind dabei sichtbare Bewegungen dieser begreifenden Prozesse im kognitiven Sinne. Die Vorstellungstätigkeit wird dabei über die körperliche Handlung befördert. Sind die hier dargestellten sichtbar machenden Diagramme für den eigentlichen Entwurfsprozess notwendig? Schließlich hat der Entwerfer seine Ideen verinnerlicht und könnte sie auch mit Hilfe eines anderen Entwurfsmediums

58 Das links im Bild (Abb. 7) liegende Gebäude ist der Verwaltungstrakt, zur rechten Seite hin erstreckt sich die Konstruktion für die sogenannten Archivpunkte, die in die dafür vorgesehene Konstruktion platziert werden. 59 Vgl. Mittelberg et al. und weitere darin vorgestellte Studien: Redebegleitete Gesten beim Sprechen über einen eigenen Entwurf und Mittels Gesten spontan generierte Räume (2015).

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weiterentwickeln.60 Für die wissenschaftliche Analyse sind die bildlichen Fixierungen vor allem in Verbindung mit den Videodaten und der dazu transkribierten gesprochenen Sprache essentiell. Studie 2: Gebärdensprachtraining 61

Auch die über den Sehsinn wahrnehmbare und vor allem mit der Hand produzierte Gebärdensprache hat im Gegensatz zur Lautsprache einen visuellräumlichen Ansatz. Wenn Gehörlose sich verständigen, positionieren sie ihre Vorstellungen unmittelbar in den realen Raum: sie bauen und zeichnen 3DModelle in die Luft, um Bedeutungsebenen wie Personen (Singular oder Plural), Verortungen (links, rechts, nahe oder fern), Handlungen, Objekte (und deren Größe und Menge) usw. zu kommunizieren. Diese Form der Kommunikation verwendet stets eine Kombination aus Elementen der Gestik, der Mimik, des Mundbildes und der Körperhaltung. Die für das architektonische Entwerfen interessante Untersuchung der Raumnutzung ist auch bei der Gebärdensprachforschung essentiell und wird als ein Randbereich der linguistischen Forschung dort zu einem zentralen Untersuchungsgegenstand.62 Ohne die Charakterisierung der Raumnutzung ist es unmöglich, die Grammatik einer Gebärdensprache zu beschreiben.63

60 Auch der Proband des hier dargestellten Entwurfsprozesses hat selbstverständlich parallel zur gestischen Auseinandersetzung im Labor standardisierte Entwurfsverfahren genutzt. 61 Die Studie erfolgte auf Grundlage der deutschen Gebärdensprache und wurde mit Hilfe des Mediums Video dokumentiert. Videoaufnahmesysteme sind im Falle der Gebärdensprache deshalb wichtig, da sie die Mimik des Gesichtes und die Körperhaltung wiederzugeben vermögen. Eine im Folgenden erwähnte essentielle visuelle Komponente, die für die Bestimmung der Qualität und des Charakters der zu beschreibenden Dinge in dieser visuell-räumlichen Sprache notwendig ist. 62 Keller (1998), S. 3. 63 Ebd. Vergleich an dieser Stelle zur Beschreibung räumlicher Beziehungen bei Naturvölkern. Cassirer betont: „die Sprachen der Naturvölker sind überall durch die Genauigkeit ausgezeichnet, mit der sie alle räumlichen Bestimmungen und Unterschiede von Vorgängen und Tätigkeiten gleichsam unmittelbar malend und mimisch zum Ausdruck bringen. [...] und ebenso wird im Ausdruck der Ruhelage das Stehen unter- und

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Den Gehörlosen zu Gute kommen nicht-linguistische Faktoren bei der sprachlichen Verarbeitung von Raum, so bspw. perzeptuelle Verarbeitungsprozesse neuropsychologischer Art.64 Hörende, geprägt durch das System und die Grammatik der Lautsprache, bekommen im Prozess des Lernens der Gebärdensprache erstmalig und ansatzweise ein Gespür für diese erweiternden Sinne und beginnen Raum anders zu kommunizieren. Während der Studie des Gebärdensprachtrainings65 erfuhren die Probanden anhand von Übungen zur Beschreibung von Bildern, Räumen und Gegenständen mit welcher Genauigkeit die Gebärdensprache visuell-räumliche Aspekte beschreiben kann. Im Folgenden werden die Ergebnisse anhand ausgewerteter Fragebögen reflektiert und vorgestellt: Gebärdensprache lehrt, die Formen, die beschrieben werden müssen, zu verstehen und zwar im körperlichen Sinne. Erst im tatsächlichen Wissen um was es geht, quasi mit Hilfe einer Empathie für die zu beschreibenden Dinge, ist körperlicher Ausdruck möglich. Zusammenfassend lautet die Antwort der Studierenden auf die Frage, ob es auch für Hörende sinnvoll wäre die Gebärdensprache zu lernen: Das räumliche Denken wird geschult und die Sicht auf Räume und Gegenstände verändert sich. Um visuell-räumlich ohne Lautsprache bspw. Bilder, Räume und Objekte und ihre Wesensart beschreiben zu können, mussten die Probanden sich in die zu erklärende Szenerie hineindenken, als ob sie Teil dessen sind. Dies ist vergleichbar mit einem Schauspieler, der voll und ganz an das glauben muss, was er auf der Bühne denkt und sagt.66 Da die Gebärdensprache gänzlich auf Lautspra-

oberhalb, innerhalb und außerhalb eines bestimmten Bezirks, das Stehen um etwas herum, das Stehen im Wasser, im Wald usf. genau unterschieden und gesondert bezeichnet. Architekturwissen, Ernst Cassirer, Der Ausdruck des Raumes und der räumlichen Beziehungen. S. 203. 64 Keller (1998), S. 2. Vgl. auch die von Claudia Grote (2013) aufgestellte „Mediale Relativitätshypothese“ (die Modalität einer Sprache könne konzeptuelle Strukturen substantiell verändern) und ihre dazu durchgeführten vergleichenden empirischen Studien und Forschungsergebnisse. 65 Kooperation zwischen dem Lehrstuhl für Bildnerische Gestaltung und SignGes Kompetenzzentrum für Gebärdensprache und Gestik, das Gebärdensprachtraining wurde von Horst Sieprath geleitet. 66 Vgl. die Schauspielmethode „Method Acting“, Lee Strasberg, Der Schauspieler und er selbst (1965).

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che verzichtet, wird der körperliche Ausdruck mit Hilfe dieser Sprache noch wichtiger. Zur Bewegung der Hände kommt die Mimik und der körperliche Ausdruck und damit die tatsächliche Verkörperung der Dinge hinzu. Dieses Hineintauchen ist wieder mit dem Begriff der Immersion beschreibbar. Ähnlich wie mit redebegleiteten Gesten findet auch hier ein Abgleich der Vorstellung und eine Veräußerung des Vorgestellten statt. So wird die Annahme bestätigt, dass es sich bei der Gebärdensprache um eine Körpertechnik handelt, die operative und immersive Qualitäten birgt. Auf die Frage, ob Gebärdensprache im Kontext des Architekturstudiums sinnvoll ist, wurde von Seiten der Probanden ganz klar herausgestellt, dass es die visuelle Wahrnehmung und das räumliche Denken trainieren würden und dass Räume bewusster erlebt, ja damit sogar in mehr Details wahrgenommen würden. Des Weiteren deuten Antworten darauf hin, dass sich die Relation von Vorstellung, Wahrnehmung und Darstellung verändert und neu ausrichtet. Die Beziehung zwischen Raum und Mensch würde untersucht und neu entdeckt werden. Gerade auch in Bezug auf die Möglichkeiten der räumlichen Darstellung wurde die Gebärdensprache von Seiten der Teilnehmer als förderlich hervorgehoben. Sicherlich auch deshalb, da Fragen des Perspektivwechsels – wie und aus welcher Position sieht mein Gegenüber das was ich beschreibe? – d.h. die Verortung von Subjekt und Objekt in dieser mit der Hand produzierten Kommunikationsform integriert werden. Ähnlich wie die Bildsprache und Repräsentationsmechanismen des Films, kann die Gebärdensprache Schnitte, Überblendungen und Einschübe vornehmen, um gleichzeitig verschiedene Bedeutungsebenen zu vermitteln. Damit besteht auch eine Ähnlichkeit zur Darstellungsmöglichkeit im 3D-Modell. Die Vermutung, dass neben dem visuellen Denken vor allem die räumliche Vorstellungskraft gefördert wurde, konnte durch die Studie bestätigt werden. Auf die Frage: „Schult die Gebärdensprache das räumliche Vorstellungsvermögen?“ wurde von Seiten der Probanden bspw. genannt: dass sie das Erzeugen und Erinnern von räumlichen Zusammenhängen erfordere und man die Vorstellung vom Raum mit dieser Sprache überdenken würde. Man würde noch mehr „im Kopf räumliches Sehen und Denken trainieren“, da man die räumlichen Zusammenhänge im Gestenraum darstellen müsse. Damit wird bestätigt, dass es sich hierbei um einen Vorgang des Begreifens im kognitiven Sinne, um ein virtuelles Modellieren und Skizzieren handelt und zwar mit Hilfe des Körpers. Gehörlose machen dies automatisch, sind sie doch auf den Ausdruck ihres Körpers angewiesen. Der Lautsprache mächtig scheinen uns angelegte Fähigkeiten verloren zu gehen.

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Wir gehen davon aus, dass die Gehörlosenkultur eine große Bandbreite an Kommunikationstechniken für den Vorgang des Entwerfens eröffnet und die Qualität der Dinge und materiellen Welt wieder verstärkt in den Vordergrund rücken kann. Langfristig untersucht werden soll, inwiefern der Gebärde als universelle Körpertechnik eine sprachliche wie visuelle Schwellenfunktion im Entwerfen zukommt und inwiefern sie durch die Notwendigkeit des Ausführens von Bewegungen und des körperlichen Ausdrucks bestimmte Empfindungen und räumliche Vorstellungen auslösen kann. Wie können diese bspw. alternierend in standardisierte Entwurfsverfahren integriert werden? Wissenschaftliche Untersuchungen zu Auswirkungen der Gebärdensprache auf das räumliche Vorstellungsvermögen gewinnen aus dieser Perspektive betrachtet einen neuen Sinn, weil die Gebärdensprache als eine Kulturtechnik untersucht wird, die neben ihrer Sprachfunktion spezifische Fähigkeiten entwickelt und befördert, die von hoher Relevanz für die entwerfenden Disziplinen sein können. Studie 3: Virtual Sketching

Aufbauend auf die eigenen Vorarbeiten der Geste als entwurfsbegleitende Körpertechnik wird die Skizziertätigkeit auch bei der Studie Virtual Sketching in den realen, den Körper umgebenden Raum verlagert. Während Arbeiten in der Virtuellen Realität (VR) allgemein anstreben, geplante Umgebungen so realistisch wie möglich zu simulieren, wird die VR in dieser Studie für freihändiges Skizzieren im dreidimensionalen Raum eingesetzt. Die aixCAVE am Rechenzentrum der RWTH Aachen ist eines der größten immersiven Virtual Reality Displays, die für interdisziplinäre Forschungen und verschiedenste Anwendungen67 zum Einsatz kommt. Der Raum mit seiner Möglichkeit der 360° Simulation und seiner Rückprojektionstechnik beträgt 5x5x3.3m. Über eine Virtual Reality Brille findet eine Bewegungserfassung des Kopfes statt, und die Anzeige der berechneten Grafik kann an die Bewegungen des Nutzers angepasst werden. Der Körper nimmt immersiv den Raum der Simulation an und bewegt, fühlt und handelt darin.

67 Wie z.B. Hirnsimulation, Erforschung und Entwicklung von Tools zur Durchführung von Regional Anästhesien, Interaktive Physikalisch-basierte Sound-Synthese, Forschung im Bereich Computational Engineering Science, u.a., Direktor: Torsten Kuhlen.

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Abb. 8: Nachbau in 1:1 von Küche und Bad in der aix-CAVE, Virtual Reality Group. Zeichentool einmal mit Linien und einmal mit Flächen angewandt, 2014.

Das Virtual Sketching Tool68 der VR in der CAVE kann frei gestisch – als reines Aufnahmemedium stattfindender Bewegungen – aber auch als gezieltes 3D-Zeichengerät verwendet werden. Es kann beidhändig genutzt werden, kann unbegradigte bzw. begradigte Flächen, Linien, Objekte zeichnen, diese können wiederum skaliert und in unterschiedlichen Maßstäben verwendet werden. Vorteil der CAVE gegenüber dem Motion Capture Labor ist die Möglichkeit der optischen Kontrolle und des Ganzkörpereinsatzes, da das Tool nicht auf den Gestenraum beschränkt ist. Das entstehende simulierte Modell kann nicht nur virtuell gedreht werden, sondern man kann es umschreiten. Die Zeichnung wird in der Immersion zum begreifenden Modell. Die Probanden zeichnen mit einem Joystick, d.h. die einzelne Bewegung der Finger verliert an Bedeutung. Im Vergleich zum Gestenlabor kann hier lediglich das beidhändige Verfahren weiter verfolgt werden. Ähnelt das

68 Das Virtual Sketching Tool wurde von Dominik Rausch in Kooperation mit dem Lehrstuhl für Bildnerische Gestaltung innerhalb der Veranstaltung Virtual Sketching weiterentwickelt. Das Forschungsmodul Virtual Sketching war eine Veranstaltung des WS 2014/15 im Architektur Masterstudiengang der RWTH Aachen, durch Lehre+ Gelder gefördert.

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einhändige Zeichnen in der CAVE dem Zeichnen auf Papier, entspricht das beidhändige Zeichnen eher dem plastischen Formen einer Skulptur allerdings ohne jegliche Materialität. Ermöglicht dieses Loslassen der materiellen Welt ein sich Einlassen auf seine Vorstellungswelt und die eigenen inneren Bilder? Kann hier der Begriff des Virtuellen etymologisch im Sinne des Gefühlten verwendet werden? Die Analyse der gestisch zeichnenden Hand, da visuell kontrollierbar, kann direkt stattfinden und in den weiteren Skizzierverlauf eingebunden werden. Das bedeutet, dass mit Hilfe des Head-Mounted-Systems der Zeichner immersiv an seinen räumlich-plastischen Ideen arbeiten kann. Eine körperlich erfahrbare Entsprechung zwischen Inhalt und Prozess seiner Erzeugung kann gewährleistet werden, muss aber nicht: Es ist möglich in verschiedenen Maßstäben seine Ideen räumlich in Form von Modellen abzulegen, sie zu erfahren und durch sie hindurchzugehen. Erste Konzepte, Volumen und Relationen können durch Bewegung im Raum erfahr- und kontrollierbar werden. Das Ergebnis kann von allen Seiten betrachtet, ergänzt und verfeinert, sowie skaliert und exportiert69 werden. Man kann sagen beim Virtual Sketching wird der Arbeitsraum zum Entwurfsraum: ein Raum in dem visuelle Modellierungen stattfinden. Arbeitet die Geste oder die Gebärde mit den Schnitt- und Kameraperspektiven des Films (siehe Kapitel oben) geht man in der CAVE während des immersiven Erlebnisses woanders hin, um daneben, drüber, drunter, dahinter oder davor weiter zu zeichnen und zu entwerfen. Man legt seine Ideen in Echtzeit räumlich ab. Ein Übermodellieren (Vgl. Studie 1) kann stattfinden, muss aber nicht. Im direkten Vergleich zum Motion Capture Labor und als Kommentar des direkten visuellen Outputs meinte ein Proband in seinem Erfahrungsbericht: „Von allen Seiten konnte man das Ergebnis begutachten und teilweise mit weiteren Gesten verfeinern. Dadurch erhielt das Gespräch eine neue Bildlichkeit und Verständlichkeit.“70 Hervorzuheben ist an dieser Aussage, dass der Proband explizit den Begriff des Gesprächs nutzt. Das deutet darauf hin, dass sicherlich auch die genutzte Dialogsituation, die Thinking Aloud - Methode, für die Entwicklung seiner Ideen förderlich war, um dieses diagrammatische Verfahren voranzutreiben.

69 bspw. auch für den 3D-Druck. 70 Stolz (2014), S. 110.

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Abb. 9: links: Gedanken werden visuell-räumlich abgelegt, rechts: Detailansicht, 2014.

Diese hier vorgestellten Studien und ihre Aufnahmesysteme machen deutlich, dass die technischen Möglichkeiten für die Sichtbarmachung von Zeichenhandlungen im realen Raum durchaus gegeben sind und für eine Medialität zwischen Bild und Text genutzt werden können.71 Die Studie Virtual Sketching zeigt, dass VR-Technologie auf innovative Weise eingesetzt werden kann, um diesen sensiblen Momenten kreativer Prozesse der Interaktionen von Hand, innerer Vorstellung und entstehendem Produkt gerecht zu werden. Nun geht es darum, einerseits die Grenzen dieser vorgestellten visuellen Argumentation und Bildgebenden Verfahren zu reflektieren, andererseits gestenbasierte Denk- und Entwurfshandlungen sinnvoll in bewährte Verfahren des Entwurfs zu verorten, ihre Medialität zu erforschen und sie als Ergänzung zu tradierten Gestaltungsprozessen auszuloten.

FAZIT Erscheinen Gesten und Gebärden flüchtig, immateriell und vorzeitlich, ohne Trennung von Körper und Geist, so lohnen diese durch Erfahrung abgelegte aber auch in die Zukunft gerichteten entwerfenden Handlungen der Hände einer Betrachtung als Manifestationen im Entwurf: Manifestationen im

71 Vgl. Jachmann (2004), er hebt den operativen Wert diagrammatischer Darstellungen hervor, S.14.

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doppelten und kognitiven Sinne des Begreifens. Bedienen die Gesten vorerst nicht die visuell perfekt erscheinenden und bekannten Verfahren des Architektonischen Entwurfs und stellen sie nur ansatzweise den geplanten Raum in seiner metrischen Form dar, so verkörpern sie geradezu seine angestrebte Wirkung. Die im Beitrag vorgestellten Studien machen deutlich, dass es unterschiedliche Ansätze gibt, anhand von Gesten und Raumzeichnungen den Körper wieder stärker in den kreativen Prozess des Entwerfens einzubeziehen. Ob anhand der Analyse redebegleiteter Gesten, der Einbeziehung der Gebärdensprache oder Formen des Virtual Sketchings, langfristig, so das Ziel, können diese Ergebnisse körperbasierter-redebegleiteter Methoden zu hybriden Formen des Zusammenwirkens von digitalen und materiell-haptischen Techniken führen. In der bewussten Nutzung und ihrer Weiterentwicklung könnte damit auf lange Sicht die Diskrepanz zwischen analogem und virtuelldigitalem Entwerfen aufgehoben und eine Balance von Vorstellung und visuellem Output des Entwurfs hergestellt werden. Neben formalen Aspekten der Architektur würden vermehrt atmosphärische, relational-soziale und vor allem haptische Gesichtspunkte des Raumes, sowie der sensomotorischen Wahrnehmung im Entwurf thematisiert und in der Entwurfsdidaktik Einzug erhalten. Der Beitrag dient als Angebot die „affirmative Kraft“ des „Sichzeigens“, des „In-Erscheinung-tretens“72 der Gesten für den Entwurf als ein erfahrungsbasiertes Wissen und Lernen zu reflektieren und aufzugreifen. Dies richtet sich neben der Architektur auch an andere entwerfende Disziplinen wie das Design und das Ingenieurwesen und hätte damit Potential für eine interdisziplinäre Betrachtungsweise. Gerade durch die Nutzung der von vornherein raumorientierten visuellen Sprache der Hand rückt der Vorgang des Entwerfens und seiner verkörperten Manifestationen wieder verstärkt in den dynamischen Bereich des Machens und damit auch des Handelns und Verhandelns. Den Raum des Verhandelns lokalisiert Hannah Arendt zwischen mindestens zwei Personen und definiert ihn als einen Zwischenraum: Beim Handeln im Gegensatz zum Herstellen, würde es darum gehen, dass über etwas miteinander gesprochen wird, über das was „interessiert.“73 Gerade Bauwerke, Objek-

72 Mersch (2014), S.23. 73 Sie leitet dies etymologisch ab: „Diese Interessen sind im ursprünglichen Wortsinne das, was inter-est, was dazwischen liegt und die Bezüge herstellt.“ Zitiert nach Hauser

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te und Produkte sind in diesem Sinne neben Produktions- und Bauprozessen auch das Ergebnis konkreter (Entwurfs-) Handlungen und (Entwurfs-) Verhandlungen. Indem sich der Entwerfer sein sowohl gedanklich, räumlich wie zeitlich in der Ferne liegendes Objekt in seinen Gestenraum holt und es dort virtuell-real für sein Auge sichtbar skizziert, modelliert und verhandelt, wird durch diesen Akt der körperlichen Rückbindung und der damit verbundenen introspektiven Sichtweise auf das Objekt von ihm unausweichlich schon im Stadium des Entwurfs eine körperliche und damit verbunden verantwortungsvolle Haltung abverlangt. Ein weiterer Nebeneffekt dieses gestischen Sprechund Bildaktes74, den es zu verfolgen gilt.

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MANIFESTATIONEN IM ENTWURF | Forschungsstudien zur Wissensproduktion

ABBILDUNGEN Abb. 1 Schaubild Zusammenhänge der Vorstellungstätigkeit beim Entwerfen, Lehrstuhl für Bildnerische Gestaltung, RWTH Aachen University. Abb. 2 Proband Studie 1, Session 1, Videostill 2013, Natural Media Lab, Lehrstuhl für Bildnerische Gestaltung, RWTH Aachen University. Abb. 3 Beschreibung: Lagebestimmung, Fridericanum und der Platz daran, anschließend das Rathaus. Darstellung von Fabian Stolz generiert aus Motion Capture Daten 2013, Natural Media Lab, Lehrstuhl für Bildnerische Gestaltung, RWTH Aachen University. Abb. 4 Kreise visualisieren „Archivpunkte“. Darstellung von Fabian Stolz generiert aus Motion Capture Daten 2013, Natural Media Lab, Lehrstuhl für Bildnerische Gestaltung, RWTH Aachen University. Abb. 5 Endergebnis der 1. Session, Darstellung von Fabian Stolz generiert aus Motion Capture Daten 2013, Natural Media Lab, Lehrstuhl für Bildnerische Gestaltung, RWTH Aachen University. Abb. 6 Endergebnis Session 2 hier die Form eines liegendes L, Darstellung von Fabian Stolz generiert aus Motion Capture Daten 2013, Natural Media Lab, Lehrstuhl für Bildnerische Gestaltung, RWTH Aachen University. Abb. 7 Fertige Entwurfspräsentation, L auf den Kopf gestellt. Von Fabian Stolz 2014, Entwurfsbetreuung Baukonstruktion, RWTH Aachen University. Abb. 8 Nachbau in 1:1 von Küche und Bad, das Zeichentool einmal mit Linien und einmal Flächen angewandt. Von Jan Linck, Virtual Reality Group, Lehrstuhl für Bildnerische Gestaltung, RWTH Aachen University. Abb. 9 Gedanken werden visuell-räumlich abgelegt. Von Jan-Philip Alfes, Virtual Reality Group, Lehrstuhl für Bildnerische Gestaltung, RWTH Aachen University. Abb. 10 Durchschreiten, Detail. Von Jan-Philip Alfes, Virtual Reality Group, Lehrstuhl für Bildnerische Gestaltung, RWTH Aachen University.

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Zur Perspektivität von Modellen

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Modellbegriffe als Elemente der Modellierung REINHARD WENDLER

Am 7. April des Jahres 1865 präsentierte der Chemiker Wilhelm August Hofmann in London einem prominent besetzen Publikum ein neues Werkzeug zur Darstellung chemischer Strukturen.1 Seine sogenannten „glyptic formulae“ bestanden aus den gefärbten Kugeln eines Tischcroquet-Spiels. Diese hatte er mit Metallstiften zu dreidimensionalen Gebilden zusammengesteckt, die er nun vor den Augen des Prince of Wales und anderer Persönlichkeiten auf- und umbaute. Der Wissenschaftshistoriker Christoph Meinel hat diesen für die Geschichte der Chemie wichtigen Abend in seinem Aufsatz Molecules and Croquet Balls beschrieben. Er ist in dem von de Chadarevian und Nick Hopwood 2004 herausgegebenen Buch Models. The Third Dimension of Science erschienen.2 Das dort rekonstruierte Ereignis wird hier nochmals aufgerufen, um am Exemplar zu zeigen, dass ein Modellierungsprozess sehr viel reicher an Elementen, Vorgängen und Auffassungen ist, als die gängigen Modellierungsbegriffe dies postulieren. Von dort ausgehend wird die Behauptung aufgestellt, dass die üblichen Modell- und Modellierungsbegriffe letztlich Teile der Modellierungspraxis und nicht der Modellierungstheorie sind. Anschließend an die Frage, was unter diesen Bedingungen eine Theorie der Modelle und der Modellierung überhaupt sein könnte, wird schließlich

1

Hofmann (1865), S. 401 f.

2

Meinel (2004).

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MANIFESTATIONEN IM ENTWURF | Zur Perspektivität von Modellen

Werbung für die Haltung des Nicht-Verstehens der Modellierung machen. Mit diesem Ausdruck beziehe ich mich auf einen Tagungsband des Instituts für Theorie der Zürcher Hochschule der Künste, konkret auf einen Aufsatz von Jörg Huber darin, in dem er die Produktivität des Nicht-Verstehens insbesondere von Gestaltungsprozessen thematisiert.3

DREI PERSPEKTIVEN AUF CROQUETBÄLLE Wilhelm August Hofmann hatte seine Modelle zuerst in seinen Seminaren vor Studierenden verwendet und dort offenbar so gute Erfahrungen gemacht, dass er sie auch am genannten Abendvortrag beim Weekly Evening Discourse benutzte (Abb. 1). Es liegt nahe, Hofmanns glyptic formulae daher zunächst einmal als didaktische Modelle anzusehen.

Abb. 1: „Hydride of ethyl in this manner becomes hydride of propyl.“

3

272

Huber (2005). S. 193 f.

Reinhard Wendler | MODELLBEGRIFFE ALS ELEMENTE DER MODELLIERUNG

Wenn man dies tut, dann unterstellt man ihnen zum einen eine spezifische und selektive Bezugnahme auf jene Theorien, die Hofmann vermitteln wollte, und zum anderen eine didaktische Eignung zur visuellen Demonstration. Für diesen kommunikativen Zweck wurden die Kugeln eingefärbt: weiß für Wasserstoff, grün für Chlor, rot für Sauerstoff, blau für Stickstoff und schwarz für Kohlenstoff. Diese Farben waren so gewählt, dass sie aus der Entfernung eines Zuschauers vom Präsentationstisch klar voneinander unterscheidbar waren. Schaut man in ähnlicher Weise Hofmanns manuelle Veränderung der Gebilde während seines Vortrags als didaktische Modellierung an, so geben auch sie sich auf eine spezifische Weise zu erkennen. So stehen sie nun in einem doppelten Bezug, einerseits auf die konkret zu vermittelnde Theorie und andererseits auf das unterstellte Verständnisvermögen des Publikums. Sieht man Hofmanns Modelle und Modellierung als didaktische an, so zeigen sie sich auf eine bestimmte Weise, sie offenbaren sozusagen eine bestimmte Facette, während andere Aspekte ausgeblendet bleiben. Schaut man Hofmanns Strukturen hingegen als wissenschaftliche Modelle an, dann unterstellt man ihnen in erster Linie, die chemischen Theorien der Zeit im Allgemeinen und Hofmanns Theorien im Besonderen zu repräsentieren. Tatsächlich lässt sich zeigen, dass der Zusammenhang zwischen den Theorien und den Modellen durchaus erkennbar wird, und dass dieser jeweils nur Ausschnitthaft vorhanden ist: Nicht das gesamte Theoriegebäude wird vom Modell erfasst und nicht alles am Modell bezieht sich auf einen theoretischen Hintergrund. Dasselbe gilt in dieser Perspektive für Hofmanns Modellierung: Schaut man sie aus wissenschaftstheoretischer Sicht an, dann zeigt sie sich als eine Art Simulation der Theorien chemischer Vorgänge, und zwar wiederum nur in einigen wenigen Aspekten. Als wissenschaftliche Modellierung betrachtet, zeigen sich Hofmanns Handgriffe auf eine andere Weise, in einer anderen Facette als wenn man sie als didaktische anschaut. Schaut man Hofmanns Strukturen aber, drittens, als Modelle zukünftiger Handlungen an, dann bringt man einen Modellbegriff ins Spiel, der in erster Linie aus entwerfenden Disziplinen, aber auch aus wissenschaftlichen Disziplinen bekannt ist. In dieser Perspektive sieht man in den Strukturen Möglichkeitsräume manifestiert und in Hofmanns Umformungen der Modelle vorbereitende Handlungen, eine Art Vorübung eines Skalensprungs ins Kleine, vermittels dessen Hofmann irgendwann in der Lage sein würde, die Welt der Atome zu verändern. Hofmann zeigt in dieser Perspektive, was er und andere werden tun können, wenn die chemische Forschung und die erforderlichen Technologien hinreichend entwickelt sein werden. Seine Handlungen sind

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MANIFESTATIONEN IM ENTWURF | Zur Perspektivität von Modellen

Vorübungen und zugleich Versprechen neuer Gestaltungsspielräume. Auch aus dieser Perspektive zeigen sich also wiederum andere Facetten desselben Vorgangs, so als würde man einen facettierten Stein vor den Augen langsam drehen und jeweils eine andere Konstellation von Spiegelbildern betrachten. Das Spiel mit den Perspektiven soll hier nicht weitergespielt werden, auch wenn dies problemlos möglich wäre. Für das hier Darzustellende reichen die drei Konzepte der didaktischen, der wissenschaftlichen und der entwerfenden Modellierung aus, nicht zuletzt, weil sie zu den gängigsten Modell- und auch Modellierungsbegriffen gehören. Nimmt man alle drei Perspektiven nacheinander ein, so wie das hier gerade beschrieben wurde, und umwandert sozusagen auf diese Weise Hofmanns Vorführung im Geist, so können die Gemeinsamkeiten und Unterschiede der drei „Denkokulare“ in eine Beziehung zueinander gesetzt werden. Eine umfassende Perspektivierung, durch welche ein gleichsam dreidimensionales Bild der Sache entstehen könnte, ist damit jedoch noch nicht erfolgt. Die in Anschlag gebrachten Perspektiven sind zu restriktiv und können deshalb selbst in einer Zusammenschau wesentliche Aspekte des Weekly Evening Discourse nicht erfassen. So berichtet Christoph Meinel von einem theatralen oder wissenschaftspolitischen Kernaspekt von Hofmanns Modellierung, mit dem die drei genannten Modellierungskonzepte nicht rechnen, der aber für das Verständnis der Objekte und der Schaumodellierung zentral sind. Meinel beschreibt den entscheidenden Unterschied wie folgt: „The croquet balls translated a flat arrangement into a three-dimensional and visually more attractive device. Yet its spacial properties were clearly not a consequence of theoretical consideration, but a mere side effect of using croquet balls to turn lines on paper or blackboard into a mechanical device to be put on the table of the lecture theatre.“4

Man könnte diesen Schritt von flächigen Formeln und Diagrammen in die Höhe der mit Stiften verbundenen Croquetbälle als eine Konzession an die didaktische Eignung der Modelle auffassen. So würde man sie auf die gleiche Weise taxieren wie die bunte Bemalung der Kugeln. Doch Meinel unterstreicht:

4

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Meinel (2004), S. 252.

Reinhard Wendler | MODELLBEGRIFFE ALS ELEMENTE DER MODELLIERUNG

„[…] the chemical theory did not really matter in this Friday Evening Discourse. What Hofmann delivered in front of the powerful and leisured was not meant as an introduction to organic chemistry. Instead it was a most carefully composed performance primarily meant to convey the idea of the chemist as someone who knows how to manipulate matter according to his will, and who will eventually be able to build a new world out of chemical building materials that could be assembled and disassembled ad libitum.“5

An diesem Abend ging es also nicht in erster Linie um eine Einführung in die zeitgenössischen chemischen Theorien, also um Didaktik, Repräsentation und Planung, sondern um eine revolutionäre Neuformulierung des Berufs des Chemikers. „The chemist as the architect of a new world: this was the core of Hofmann’s message.“6 Indem Hofmann seine Modelle vor den Augen der Prominenz umformte und also modellierte, präsentierte er sich als ein Gestalter, ein Architekt, der die kleine und gerade deshalb auch die große Welt neu zu gestalten vermag. Hier werden die didaktischen, wissenschaftlichen und entwerferischen Aspekte seiner Modellierung sozusagen überprägt durch eine theatrale Sinnschicht, durch die sowohl Hofmanns Handgriffe als auch seine Modelle eine neue Performanz gewinnen. Hofmann präsentiert sich mit seinen Modellen als ein Forscher, der den Schlüssel zur atomaren Welt buchstäblich in den Händen hält. Mit seinen Manipulationen erhebt er sichtbar den Anspruch, diesen Schlüssel auch verwenden zu können. Hofmanns Croquetballkonstrukte werden durch die Art und Weise, wie sie genannt und behandelt werden, in gewissermaßen konnotativer Weise als Architekturmodelle vorgestellt und damit still metaphorisiert. Hier kommt die historische Verwandtschaft der chemischen mit der architektonischen Modellierung ins Spiel, aber nicht als ein allmählicher Diffusionsprozess aus der architektonischen Praxis in die chemische, sondern in einer Aufführung, mittels derer Hofmann dem Chemiker das Ansehen eines Architekten zu verleihen versucht. Diese Rhetorik verfolgt Hofmann bis in die einzelnen Ausdrücke hinein, etwa wenn er die Modellstrukturen mit architektonischen Metaphern beschreibt und sie „mechano-chemical edifices“7 nennt.

5

Meinel (2004), S. 252.

6

Meinel (2004), S. 252.

7

Hofmann 1862–1866 (1865), S. 424.

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MANIFESTATIONEN IM ENTWURF | Zur Perspektivität von Modellen

Die Abbildungen, die sich in der Publikation von Hofmanns Vortrag in den Proceedings of the Royal Society finden, erwecken mitunter einen ähnlich architektonischen Eindruck (Abb. 2).

Abb. 2: „Hydride of propyl, by the accession of a fourth carbon atom, is converted into hydride of butyl.“

Abb. 3: Hofmanns molekulare „Bausteine“

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Sie schreiten von einfachen zu komplexen Formen fort und evozieren so die Vorstellung vom Bau eines molekularen Gebäudes. Es dürften diese Bilder sein, die Meinel zu dem Vergleich anregten, die Modelle auf Hofmanns Präsentationstisch glichen einer „skyline of a world within the reach of man’s constructive power.“8 Hofmann selbst spricht seine Modelle einerseits als Illustrationen, Repräsentationen, Korrespondenzen und Imitationen von Molekülen an, andererseits beschreibt er die Atome als Bausteine, „building stones“9 oder „building materials“,10 (Abb. 3) die Modelle als „edifices“11 oder „buildings“, etwa im folgenden Satz: „The closed water molecule is a finished building.“12 Mit diesen Worte beschreibt Hofmann aber nicht seine Modelle oder die Beziehungen zwischen ihnen und den Molekülen oder Theorien, sondern er heißt sie etwas, das bedeutet er gibt ihnen einen ganz bestimmten Namen und ruft sich selbst und die Zuschauenden dazu auf, sie auf eine bestimmte Weise anzuschauen: „Let the croquet balls represent our atoms.“13 Damit verwandelt er zuerst eine Struktur aus Croquetbällen und Metallstiften in ein Modell eines Moleküls und dieses dann gleich weiter in ein atomares Architekturmodell. Im selben Zug verwandelt er den Vorgang der Umformung der Modelle vor dem Publikum zuerst in die Simulation eines chemischen Umwandlungsprozesses und dann in die Vorboten einer Zukunft, in der die Chemiker die Gestalter unserer Welt sein werden. Durch seine Worte und Handlungen erzeugt Hofmann eine Konstellation aus Konzepten, die allesamt zur überzeugenden Vermittlung der Botschaft notwendig sind, die Chemie sei die Architektur der Zukunft.

8

Meinel (2004), S. 252.

9

Hofmann 1862–1866 (1865), S. 424.

10 Ebd., S. 415. 11 Ebd., S. 416. 12 Ebd., S. 417. 13 Ebd., S. 416.

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PRAKTISCHE BEGRIFFE Keines der hier genannten Konzepte, weder die des didaktischen, wissenschaftlichen, entwerferischen, noch der des wissenschaftspolitisch-theatralen Modellierens, vermag alleine zu erfassen, was hier vor sich ging. Der Grund für das Scheitern all dieser Erklärungsansätze ist nicht allein ihre je eigene Begrenztheit, sondern vielmehr, dass es sich bei ihnen kurzerhand nicht um theoretische Begriffe handelt, sondern um praktische. Die genannten Auffassungen sind keine Be- sondern Zuschreibungen und darin aktive Elemente von Hofmanns Modellierung. Sie verändern die Modelle vergleichbar folgenreich wie ein physischer Handgriff von Hofmann. In Anlehnung an den Sprechakt und den Bildakt könnte man hier von einem Auffassungsakt reden.14 Die aufgerufenen Auffassungen verändern die Performanz der Modelle und den Verlauf der Modellierung. Sie stehen daher nicht außerhalb des Modellierungsprozesses, sondern sind dessen Bestandteile.15 Hofmanns Handgriffe als didaktische, wissenschaftliche, entwerferische und wissenschaftspolitische Modellierung aufzufassen heißt, ihnen nicht nur einen jeweils anderen Sinn beizulegen, sondern auch, ihnen in der Modellierung eine jeweils andere Wirkung zu verleihen. Der Weekly Evening Discourse vom 7. April 1865 lässt sich mit den genannten Begriffen nicht umfassend verstehen, weil sie nicht außerhalb des Geschehens liegen, sondern aktive Teile desselben sind. Diese Beobachtung hat in zweierlei Hinsicht einen exemplarischen Charakter für andere Modelle und Modellierungen: Erstens lassen sich neben den erwarteten und behaupteten Aufgaben eines Modells oftmals auch unerwartete oder verschwiegene Aufgaben ausmachen. Viele Architekturmodelle, auch solche, die in einer sehr frühen Entwurfsphase entstanden sind, tragen bereits auch gleichsam repräsentative Aufgaben. Sie dienen zwar der Konkretisierung und Überarbeitung von Entwurfsideen, zugleich aber auch der teaminternen Darstellung des Architekten, seines Einfallsreichtums, seiner Ernsthaftigkeit, seiner Hingabe oder anderer positiver Eigenschaften. Ähnliches gilt für Modelle in den Wissenschaften. Alle Konkretisierungen auf dem Weg spielen zumindest untergeordnet auch repräsentative Rollen, nicht erst der finale Entwurf und

14 Zum Begriff der Auffassung vgl. Mahr (2012), S. 301–352, hier S. 323–338. 15 vgl. Wendler (2015), S. 91–93.

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die endgültige Formulierung einer Erkenntnis. Umgekehrt gilt, dass die Präsentationsmodelle in untergeordneter Weise noch entwerferische und epistemische Rollen spielen. Zweitens verleihen die Begriffe jeder Begegnung mit Modellen ihre Impulse, ziehen Grenzen, schaffen Spannungen und imaginäre Sicherheiten. Sie beeinflussen also nicht nur die Modelle und die Modellierung Hofmanns, sondern auch die anderer chemischer Modelle, und nicht nur diese, sondern Modelle in entwerferischen ebenso wie in epistemischen Kontexten. Der Weg eines Entwurfs- oder Erkenntnisprozesses wird nicht nur durch die Materialität und Medialität der Modelle beeinflusst, sondern auch durch die Modellbegriffe, die dabei aufgeboten werden. Hofmanns wissenschaftspolitische Modellierung wird im Vorliegenden als ein Exemplar verwendet, an dem sich die Bedeutung der Auffassungsakte mit einiger Klarheit zeigen und erschließen lässt: So, wie die geläufigen Modell- und Modellierungsbegriffe an der Beschreibung von Hofmanns Modellierung scheitern, so scheitern sie auch an der Beschreibung der meisten anderen. Ebenso wie die genannten Modell- und Modellierungsbegriffe aktive Elemente von Hofmanns Modellierungspraxis sind, sind sie dies auch bei den meisten anderen Modellierungen. Die Frage ist nicht, ob dieses oder jenes Modell ein Entwurfs- oder Präsentationsmodell ist, sondern vom wem und mit welchen Auswirkungen es diese Rollen zugewiesen bekommt. Verschiedene beteiligte Personen haben unterschiedliche Ansichten von einem Modell, sodass die Wechselwirkungen der verschiedenen Auffassungen ebenfalls eine wichtige Rolle spielen. Durch Umwidmungen, Missverständnisse, Meinungsverschiedenheiten und andere sozusagen auffassungsbezogene Einflüsse bleiben die Verhältnisse zumeist im Fluss. Auf stabile Kategorisierungen ist nicht zu hoffen, nicht zuletzt deshalb, weil das Spiel mit Begriffen und Auffassungen ein produktiver Teil der Modellierung selbst ist.

POLITIK MIT MODELLEN Die Vorstellung einer Verwandtschaft von Hofmanns Molekülmodellen mit Architekturmodellen wurde bereits erwähnt. Sie lässt sich mühelos an Beispielen aus der Architektur weiter anreichern, etwa an einem Foto von Eero Saarinen und seinen Mitarbeitern, die eines der vielen Modelle für das TWA Terminals am John F. Kennedy Flughafen in New York aus der Fußgängerperspektive prüfen (Abb. 4). Das Bild ruft die Frage nach der Perspektive auf Modelle auf, indem es vier der fünf gezeigten Personen in einer hockenden Haltung zeigt. Die Architekten versuchen, sich auf diese Weise ein Bild der

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vermutlichen zukünftigen Erscheinung des Gebäudes zu verschaffen. Diese Perspektive erlaubt es, die visuellen Daten in zwei Richtungen umzuinterpretieren. Die Betrachtenden werden als sehr viel kleiner imaginiert und das Modell als sehr viel größer. Durch die visuell-imaginäre Skalenverschiebung kann in gewissem Maße ein Blick in die Zukunft gelingen.

Abb. 4: Eero Saarinen, Cesar Pelli, Kevin Roche und zwei weitere Mitarbeiter bei der Betrachtung eines Modells des TWA Terminals, aufgenommen um 1958 von Balthazar Korab.

Zugleich lässt Korabs Foto Einblicke in den Umstand zu, dass mehrere gleichzeitig anwesende Personen zwangsläufig aus unterschiedlichen räumlichen Blickwinkeln auf ein materielles Modell schauen. Die Betrachtenden des Bildes werden in diese Konstellation einbezogen, weil auch das Foto einen bestimmten Blickwinkel auf das Modell einnimmt. Karen Moon sieht eine Parallele zwischen dieser räumlich-perspektivischen und der sozusagen soziopsychologischen Anordnung. Jede der anwesenden Personen schaut nicht nur aus einer anderen Richtung auf das Modell, sondern hat auch andere Ansichten. Moon folgert aus dieser Parallele, die Modelle seien „sympathetic

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to the psychology of a group meeting.“16 Die Ansichten über ein Modell lassen sich dabei ebenso bewegen wie die räumlichen Blickwinkel. Eines der Werkzeuge hierfür sind Begriffe und Konzepte. Sie wirken in die Auffassung in substantieller Weise hinein und können so die Ansichten über ein Modell lenken und begrenzen, aber auch aus anderen Denkschemata befreien und in eine kreative Bewegung versetzen. Wie Saarinens Modell kann auch Korabs Bild auf verschiedene Weise und mit unterschiedlichen Resultaten angeschaut werden. So kann man es als einen Schnappschuss von der Studioarbeit betrachten und so dem Bild eine Art passiver Treue gegenüber dem Geschehen beilegen. Ebenso gut kann man es aber auch als Foto eines mehr oder weniger gestellten Szenarios betrachten und so auf die Fähigkeit von Bildern fokussieren, Einfluss auf die Ansichten einer Sache zu nehmen. Im einen Fall sehen wir engagiert diskutierende, um ein präzises Bild der von ihnen zu gestaltenden Zukunft ringende Architekten, im anderen Fall sehen wir die Gestaltung unserer Ansichten über die architektonische Entwurfstätigkeit und den Beruf des Architekten. Für diesen Formungsakt ist unter anderem die bildliche Konstellation der geduckten Personen und der geschwungenen Dächer von Bedeutung. Fast scheint es, als müssten die Architekten vor der Kraft des Modells in Deckung gehen. Die Bildwirkung wird zudem durch den Umstand beeinflusst, dass alle Blicke auf denselben Punkt am Modell gerichtet zu sein scheinen. Diese Konzentration erzeugt gemeinsam mit der genannten Dynamik eine idealtypische Vorstellung kreativer Anspannung und Hingabe. Eine in den Grundzügen vergleichbare Konstellation aus zwei Perspektiven lässt sich bei Hofmanns Schaumodellierung erkennen. Im einen Fall sieht man einen Chemiker, der chemische Vorgänge anhand von Modellen erklärt. Im anderen Fall sieht man denselben Vorgang als Teil des Versuchs an, die Chemie in den Rang einer neuen Architektur zu heben. Hofmanns didaktisches Geschick beschränkt sich nicht auf die verständliche Vermittlung komplexer Vorgänge für Laien, sondern erstreckt sich auch auf die Konturierung des Faches Chemie in den Köpfen seines illustren Publikums. Will man die Rolle von Modellen von Hofmann, Saarinen oder zahllosen anderen verstehen, ist es entscheidend, diskursive oder politische Aspekte wie die hier genannten zu berücksichtigen. Auf den Einbezug solcher Blickwinkel

16 Moon (2005), S. 111, vgl. Wendler (im Erscheinen).

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zu verzichten, käme einem ähnlich grundlegenden Einschnitt gleich wie er durch den Verzicht auf die Kombination unterschiedlicher Entwurfstechniken und -materialien verursacht werden würde. Wie durch den Wechsel zwischen Zeichnung, Pappmodell, CAD-Werkzeugen, 3D-Scanner, 3D-Drucker usw. werden auch durch den Wechsel der Perspektiven auf ein Entwurfsmodell Aspekte sichtbar, die andernfalls verborgen bleiben würden. Die eingenommenen Perspektiven spielen im Entwurf eine grundsätzlich praktische Rolle, sie sind keine Beschreibung oder Kategorisierung um ihrer selbst willen, sondern sie dienen dazu, die Modelle aus immer neuen Perspektiven zu sehen, zu prüfen und so neue Einsichten zu provozieren. In der entwurfsforscherischen Betrachtung von Modellsituationen sind die verschiedenen Perspektiven und ihre je spezifischen Wechselwirkungen Teile eines größeren Ganzen. Dieses muss in seiner Heterogenität und inneren Widersprüchlichkeit erfasst werden, um die herrschenden Kräfteverhältnisse, gleichsam die Tendenzen und Vektoren der Situation, zu erfassen.

MODELLE NICHT VERSTEHEN Wegen der grundsätzlich praktischen Rolle der Modell- und Modellierungsbegriffe und der mit ihnen verbundenen Konzepte entstehen ebenso grundsätzliche Missverständnisse, wenn man eines von ihnen herausgreift und in ihm einen bloß beschreibenden oder kategorisierenden Begriff zu sehen versucht oder vermeint. Nicht die Konzepte des Modells als didaktisches, wissenschaftliches, entwerferisches, theatrales usw. sind unangemessen, sondern ihre Verwendung als theoretische Begriffe. Wenn man sich einen Überblick über den modelltheoretischen Diskurs des 20. Jahrhunderts zu verschaffen versucht, dann stößt man immer wieder auf solche und vergleichbare Missverständnisse.17 Das Modell wird in der Wissenschaftstheorie beispielsweise fast durchgängig als Repräsentation eines Originals, von Daten oder Theorien aufgefasst. In den weitaus meisten Fällen ist dies jedoch weder die einzige involvierte Modellbeziehung noch überhaupt der Kernaspekt des betreffenden Modells. In einer nicht vergleichbar strikten, aber dennoch ebenso dominanten Art und Weise, werden Modelle in den entwerfenden Disziplinen als Planungswerkzeuge und Vorbilder zukünftiger Handlungen und Realisierungen

17 Ein Überblick findet sich bei Müller (2009).

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verstanden. Auch hier finden sich zahllose Beispiele dafür, dass damit höchstens ein kleiner Ausschnitt einer stark differenzierten Modellierungskultur benannt ist, die mit einer langen Reihe weiterer Modell- und Modellierungskonzepte arbeitet. Mit beiden ebenso wie mit weiteren Bestimmungen wird ein weites und heterogenes Feld auf einen der vielen beteiligten Faktoren beschränkt. Dies geschieht, wie gesagt, oftmals in der pragmatischen Absicht, das Modell auf eine bestimmte, für den Fortgang der Modellierung für wichtig oder hilfreich erachtete Weise zu betrachten und zu befragen. In der praktischen Modellarbeit ist dies vielfach sinnvoll. In der Modelltheorie führt dieselbe Verengung des Blicks dazu, dass ein wesentlich dynamischer multifaktorieller Gegenstand als ein stabiler und einfacher erscheint und damit verkannt wird. Wenn die genannten Modellierungsbegriffe sich nicht als theoretische Begriffe verwenden lassen, können wir dann wirklich auf über hundert Jahre Modelltheorie zurückblicken? Anders gefragt: Können Modelle konzeptuell erfasst werden, wenn man sie nicht in der Heterogenität beobachtet, in der sie sich in Entwurfs- und Erkenntnisprozessen befinden? Eine Theorie der Modellierung hätte aus meiner Sicht die Rolle der verschiedenen beteiligten Elemente und Akteure zu bestimmen, also auch die der praktischen Begriffe und hidden agendas. Sie muss damit aufhören, praktische Begriffe mit theoretischen zu verwechseln umso zunächst einmal zu verstehen, wie wenig die Modellierung überhaupt verstanden ist. Modellierung nicht verstehen heißt angesichts dieses Szenarios zunächst einmal nur, den praktischen Begriffen keinen theoretischen Anspruch aufzuerlegen und in der Folge zu verstehen, dass jede Modellierung eine große Zahl verschiedener Ebenen, Aspekte und Perspektiven umfasst. So gesehen gibt es nicht die didaktische, wissenschaftliche oder entwerferische Modellierung, sondern es kommen in jeder Modellierung alle diese Aspekte in unterschiedlichen, von der jeweiligen Situation abhängigen Konstellationen und Intensitäten zum Tragen. Ein entwerferischer Modellierungsprozess lässt sich auf dieser Grundlage im Hinblick auf seine epistemischen Aspekte untersuchen, ein wissenschaftlicher aber genauso gut auf seine entwerferischen. Im Blick auf die Modellierung können so die gestalterischen Aspekte von Forschungsprozessen beschrieben werden, oder die forscherischen Aspekte eines Gestaltungsprozesses. Verschiedene Perspektiven, Ansichten und Sichtweisen nacheinander während der Modellierung zur Anwendung bringen heißt erstens, das eigene Tun zu umwandern und von vielen Seiten zu betrachten, zweitens, ihm immer neue potentielle und aktuelle Fortschreitungen zu eröffnen und drittens,

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aktive Impulse einzubringen, die der gestaltenden Arbeit der Hände in nichts nachstehen. Was im Modellierungsprozess manifest wird, hängt nicht nur von der Hand im Material, am Zeichenstift oder auf dem Touchpad ab, sondern auch, wie dieses Tun im konkreten Augenblick aufgefasst wird. Verschiedene Perspektiven, Ansichten und Sichtweisen nacheinander zur Anwendung zu bringen, sind für die theoretische Reflexion der Modelle und der Modellierung von unmittelbar vergleichbarer Bedeutung, nicht nur weil auch das Theoretisieren eine praktische Arbeit ist. Um die Rolle von Modellen zu verstehen gilt es, die Blickwinkel und Sichtweisen zu sammeln, so widersprüchlich sie auch sein mögen, und in ihren Wechselwirkungen zu taxieren. In diesem Gesichtspunkt liegt eine Strukturähnlichkeit von Praxis und Theorie vor. In Abwandlung des oben angeführten Zitats von Karen Moon könnte man resümieren, in dieser Hinsicht stehe die Modelltheorie zur Modellpraxis in einer sympathetischen Beziehung.

LITERATUR Hofmann (1865): August Wilhelm Hofmann, On the combining power of atoms, in: Notices of the Proceedings at the Meetings of the Members of the Royal Institution of Great Britain, with Abstracts of the Discourses Delivered at the Evening Meetings, Jhg. IV., 1862–1866 (1865), Bd. 4, S. 401-430. Huber (2005): Jörg Huber, Gestaltung nicht verstehen. Anmerkungen zur Designtheorie, in: Juerg Albrecht, Jörg Huber, Kornelia Imesch, Karl Jost, Philipp Stoellger (Hrsg.), Kultur Nicht Verstehen. Produktives Nichtverstehen und Verstehen als Gestaltung, Zürich, et al. 2005, S. 193–210. Mahr (2012): Bernd Mahr, On the epistemology of models, in: Günter Abel, James Conant (Hrsg.), Rethinking Epistemology, Bd. 1, Berlin, Boston 2012, S. 301–352, hier S. 323–338. Meinel (2004): Christoph Meinel, Molecules and Croquet Balls, in: Soraya de Chadarevian, Nick Hopwood (Hrsg.), Models. The Third Dimension of Science, Stanford 2004, S. 242–275. Moon (2005): Karen Moon, Modelling Messages. The Architect and the Model, New York 2005, S. 111. Müller (2009): Roland Müller, The Notion of a Model. A Historical Overview, in: Anthonie Meijers (Hrsg.), Philosophy of Technology and Engineering Sciences, Bd. 9, Amsterdam et al. 2009, 637–664.

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Wendler (2015): Reinhard Wendler, Modelltheorien als Akteure, in: Erwägen Wissen Ethik, Heft 2/15, S. 91–93. Wendler, (im Erscheinen): Reinhard Wendler, On the Perspectivity of Model Situations, in: Günter Abel, Bernd Mahr, Martina Plümacher, The Power of Distributed Perspectives, Berlin, Boston

ABBILDUNGEN Abb. 1: Hydride of ethyl in this manner becomes hydride of propyl., aus: Hofmann, August Wilhelm, On the combining power of atoms, in: Notices of the Proceedings at the Meetings of the Members of the Royal Institution of Great Britain, with Abstracts of the Discourses Delivered at the Evening Meetings, Vol. IV., 1862–1866 (1865), 4, S. 401–430, hier Fig. 16, S. 423. Abb. 2: Hydride of propyl, by the accession of a fourth carbon atom, is converted into hydride of butyl., aus: Hofmann, August Wilhelm, On the combining power of atoms, in: Notices of the Proceedings at the Meetings of the Members of the Royal Institution of Great Britain, with Abstracts of the Discourses Delivered at the Evening Meetings, Vol. IV., 1862–1866 (1865), 4, S. 401–430, hier Fig. 17, S. 424. Abb. 3: Hofmanns molekulare „Bausteine“, aus: Hofmann, August Wilhelm, On the combining power of atoms, in: Notices of the Proceedings at the Meetings of the Members of the Royal Institution of Great Britain, with Abstracts of the Discourses Delivered at the Evening Meetings, Vol. IV., 1862–1866 (1865), 4, S. 401–430, hier Fig. 6, S. 416. Abb. 4: Eero Saarinen, Cesar Pelli, Kevin Roche und zwei weitere Mitarbeiter bei der Betrachtung eines Modells des TWA Terminals, aufgenommen um 1958 von Balthazar Korab, aus: Karen Moon, Modelling Messages. The Architect and the Model, New York 2005, S. 82.

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Die Erfahrung mit lebensgroßen Modellen im Entwurfsprozess1 FABIO COLONNESE

DAS MODELL ALS VISUALISIERUNGSINSTRUMENT IN DER ARCHITEKTUR Die Geschichte der menschlichen Baukunst könnte als unaufhörliche Suche nach dem aussagekräftigsten und überzeugendsten Visualisierungsinstrument beschrieben werden, das in der Lage ist, die Vorstellung des Planers auf einen externen Träger zu transferieren, um ihm die imaginierten räumlichen Konditionen bewusst zu machen.1 Zugleich soll sie dem Auftraggeber eine ermutigende Vorschau auf das Ergebnis seines finanziellen Engagements geben und schließlich dem Baustellenleiter ein strukturiertes System garantieren können, das in jeder Bauphase konsultiert werden kann. Andererseits kann das gesamte Feld der Visualisierungsinstrumente, von der einfachsten Materialbeschaffungsliste bis hin zum poetischsten Kunstwerk als ein integriertes und integrierbares System von Modellen für die Repräsentation sowohl der physischen Realität als auch der mentalen Projektion angesehen werden, jedes einzelne mit spezifischen Eigenschaften zur Hervorhebung besonderer Aspekte.

1

Die Übersetzung dieses Textes vom Italienischen ins Deutsche erfolgte durch Mechtild Gerharz.

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Jedes Architekturmodell dient dank seiner hohen Ikonizität oder Ähnlichkeit sowohl dem kreativen als auch dem kommunikativen Prozess. Diese Doppelfunktion des Modells hatte schon Leon Battista Alberti erkannt, der die Verwendung des Modells als dreidimensionales einfarbiges Simulacrum einführte, um vor allem die Rolle der einzelnen Elemente und die Harmonie zwischen ihnen zu demonstrieren. Zweifellos haben die naturgegebenen Schwierigkeiten bei der Planung von Form und Bauprozess monumentaler Gebäude zur Anfertigung von immer größeren Modellen geführt, die in der Lage sind, Detaillösungen darzustellen und Wahrnehmungseffekte des fertigen Gebäudes vorwegzunehmen. Gelegentlich haben Architekten Modelle in einer Größe angefertigt, die den Betrachter oder zumindest seinen Kopf in ihrem Inneren aufnehmen können. Das berühmte Holzmodell für den Petersdom aus der Hand der Sangallo war so konzipiert, dass sowohl Außen- als auch Innenseite gezeigt werden konnten. Ohne Fußboden und in geeigneter Höhe aufgestellt gestattete es auch dem Papst, seinen Kopf im Inneren zu bewegen, das dank seines außergewöhnlichen Detailreichtums die eindrucksvollste Vor-Besichtigung des fertigen Bauwerks möglich machte.2 Auch moderne Architekten wie Eero Saarinen, Jørn Utzon oder Peter Zumthor haben große Modelle ihrer Projekte anfertigen lassen, nicht nur für Kundenpräsentationen, sondern auch für den Definitionsprozess der Projekte. Modelle im Maßstab 1:10 oder 1:5 sind in der Regel groß genug, um den Kopf des Betrachters aufzunehmen3 und ihm den Blickpunkt eines Besuchers vorzutäuschen: sie erlauben das optische Eintauchen in den Projektraum und unterbinden mögliche Ablenkungen, indem sie das gesamte vom sogenannten peripheren Sehen gesteuerte Gesichtsfeld in Beschlag nehmen, welches am empfindlichsten auf Hintergrundgeräusche reagiert;4 ansonsten können sie

2 3

Millon (1994), S. 47. Selbstverständlich hängt das auch von der Größe der Projekträume ab. Obwohl im Maßstab 1:30 dargestellt, reproduzierte das Modell der Sangallo monumentale Räume, die den Betrachter zum Teil aufnehmen konnten. Saarinen verwendete hingegen oft Teil­ modelle im Maßstab 1:20 oder 1:13, um Büroräume in konventionelleren Ausmaßen zu repräsentieren.

4

288

Colonnese (2012b), S. 119–123.

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mit Hilfe von Periskopen „erkundet“ werden, wie es im Studio von Saarinen5 geschah und auch heute noch mit dem modelscope im Studio von OMA erfolgt.6 Diese Art Modelle bezieht jedoch nur den Sehsinn mit ein, nicht den Körper des Betrachters, was hingegen bei jenen Modellen geschieht, die sich der Originalgröße annähern und in der Lage sind, den Betrachter in ihrem Inneren aufzunehmen. Dies ist der Fall z.B. bei den Modellen im Maßstab 1:2, die von Steven Holl für das Kunstmuseum Kiasma in Helsinki, die Kapelle von St. Ignatius und die Eingangshalle des Cranbook Institute angefertigt wurden und die sehr hilfreich sind für die Konkretisierung nicht nur der geometrisch-bautechnischen Aspekte der Gebäudehüllenflächen,7 sondern auch für die Untersuchung der Tageslichteffekte.8 Es gibt einen Aspekt der Menge, der über den Maßstab zu regeln ist, und einen Aspekt der Qualität, welcher über die Detailgenauigkeit gesteuert werden kann.

Abb. 1: Wahrnehmung der Modelle in verschiedenen Maßstäben

5

Knight (2008), S. 155.

6

Yaneva (2005), S. 874–877.

7

„Wir haben Entwurfs- und Perspektivzeichnungen in Aquarelltechnik angefertigt, danach haben wir die Tektonik des gebogenen Stahlträgers ermittelt und anschließend Fotomontagen mit dem Computer ausgearbeitet, da es sich um einen sensiblen urbanen Standort handelt; dann haben wir größere Modelle und schließlich ein physisches Mock-up gebaut, um die doppelte Krümmung im Curtain-wall zu testen.“ Holl/Zaera Polo (1996), S. 23.

8

„Die Kapelle wurde auch mittels eines Mock-up im Maßstab 1:2 der ‚Lichtflasche‘ des Chores entwickelt, um die Wirkung des Tageslichts in verschiedenen Momenten zu testen.“ Ebd., S. 32.

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Rappresentare [dt. repräsentieren, darstellen] bedeutet wörtlich erneut-präsentieren (it. ri-presentare, engl. to represent), „eine zweite Präsenz mit Hilfe von materiell andersartigen Mitteln und Zeichen produzieren“ d.h. „dasselbe mit anderem re-produzieren“9 und somit zwangsläufig interpretieren, auswählen und verzichten. Zwischen der konstruierten Form und dem zugrunde liegenden Konzept entsteht eine Verbindung durch die Ähnlichkeit, jene Eigenschaft, welche es ermöglicht, die Repräsentation als Mimesis bzw. Imitation der Realität zu erkennen. Der Bau eines Modells folgt einer ersten Phase der Synthese, in der die Realität ideell durch ein geometrisches Modell aus annähernden geometrischen Formen ersetzt wird, und einer zweiten Phase der Reduktion in Abhängigkeit vom Trägermaterial und vom Zweck des Simulacrum.10 Bei einem Modell in Originalgröße kann die Genauigkeit der Detailreproduktion von Faktoren wie Kosten, Zeit, bauliche Unkompliziertheit, Reproduzierbarkeit, Ausdruckskraft oder Poesie abhängen. Während der Synthese kann man sich für eine nicht proportionale Reproduktion entscheiden, was bei vielen Modellen geschieht. Ein Modell in Originalgröße „kann unterschiedliche Intensitätsstufen einer – gewissen – Modellierung aufweisen, d.h. es kann dem zu realisierenden Produkt mehr oder weniger ähnlich sein. In bestimmten Fällen betrifft der Prototyp nur einige Elemente, während andere fiktiv repräsentiert sind: hier handelt es sich um nicht-funktionierende Prototypen. Man bezeichnet sie als halb-funktionierend, wenn gewisse Teile mit Hilfe von mechanischen Vorrichtungen, welche nicht die definitiven sind, ad hoc funktionieren.“11

Dies ist der Fall bei den von Giovanni Sacchi hergestellten Holzmodellen für die bedeutendsten Designer in Mailand oder bei den Modellen für Karosseriestudien in Automobilfabriken wie General Motors, die den Modus Operandi von Saarinen stark beeinflusst haben.

9

Di Napoli (2004), S. 321.

10 Migliari (2003), S. 15–16. 11 Maldonado (1987), S. 59–60.

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MODELLTYPEN Aus diesem Grund halte ich es für opportun, von einem Modell in Originalgröße oder im Maßstab 1:1 (Full-Scale) zu sprechen, wenn es eine in allen Details perfekte formale Reproduktion des Originals ist, auch wenn es nicht oder nur teilweise funktioniert; ein Modell, das eine allgemeine Konformität aufweist und dessen Ausmaße denen des Originals entsprechen, wäre als lebensgroß (Full-Size) zu definieren. Der Begriff Mock-up12 könnte daher als angemessene Bezeichnung für jene Modelle in Originalgröße gelten, bei denen besondere Aufmerksamkeit auf die Gebäudehülle, also die äußere Erscheinung, gelegt wird, ohne die innere Anlage speziell zu berücksichtigen. Hier wäre der Begriff Prototyp jenen halb- oder voll-funktionierenden Modellen bzw. auch Teilmodellen vorbehalten, die eine kontinuierliche Anpassung zwischen Entwurf und Repräsentation erlauben und besonders geeignet sind für propädeutische Entscheidungen hinsichtlich einer Serienproduktion des Objekts13 oder für eine Personalisierung durch den Auftraggeber. Wenn hingegen das Modell im Maßstab 1:1 unter Verwendung derselben Bautechniken und Materialien wie das Original angefertigt wird, stößt das Verfahren an die Grenzen der Repräsentation und ist mit dem Begriff Kopie oder Replikat zu definieren. In der aktuellen Praxis ist schließlich darauf hinzuweisen, dass eine computergestützte CAD-Zeichnung (computer-aided rafting) mit allen vorstellbaren Problemen der Definition und des Maßstabs in jeder Hinsicht eine Zeichnung im Maßstab 1:1 ist und dass die sogenannte schnelle Prototypherstellung mittels CNC- (computer-numerically controlled) und CAM- (Computer-aided manufacturing) Technik die Anfertigung von physischen Teilmodellen im Maßstab 1:1 bereits in sehr frühen Projektphasen erlaubt. Es ist klar, dass die Möglichkeit, jene Stücke wahrzunehmen, anzufassen und zu verändern, den weiteren Entwurfsprozess beeinflusst und Maßstabssprünge zulässt, so dass die kritischsten Details des Projekts untersucht werden können.

12 Der Begriff Mock-up, „Modell, Simulation“ sowie „Bucheinband“ ist erstmals nach dem ersten Jahrzehnt des 20. Jh. nachgewiesen; das Verb to mock „maskieren, verbergen“ wurde im 15. Jh. vom altfranzösischen mocquer „auslachen“ abgeleitet und verlor im 18. Jh. die Konnotation des Verhöhnens zugunsten von „imitieren“ und schließlich von „lebensgroßes Modell.“ 13 Maldonado (1992), S. 103.

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Abb. 2: Typologie lebensgroßer Modelle in Bezug auf den Entwurfsprozess und den Zustand des Gebäudes

Während das maßstäbliche Modell normalerweise verwendet wird, um die dreidimensionalen Konsequenzen der Projektzeichnung zu untersuchen, um Zustimmung von den Auftraggebern zu erhalten, um einen Wettbewerb zu gewinnen oder um einen visuellen Leitfaden für die Bauphase zur Verfügung zu stellen,14 scheint das Modell im Maßstab 1:1 das effektivste – vielleicht das einzige – Instrument zu sein, um das wahrnehmbare Resultat des zu bauenden Objekts in natura vorwegzunehmen und kontrollieren zu können. Während das Rätselhafte die Modellierung bevorzugt, fordert der gnadenlose Zweifel den Bau eines lebensgroßen Modells: von den griechischen Paradéigmata über die vom Marquis de Girardin vorgeschlagenen Simulationen aus Holz und Stoff bis hin zu den in der Weißenhof-Siedlung in Stuttgart verewigten bewohnbaren Prototypen zeigt die Geschichte der lebensgroßen Modelle15 eine kontinuierliche Oszillation zwischen Baupraxis und Special Event, zwischen illusionistischen, bis ins kleinste Detail definierten Modellen einerseits und evokativen Modellen andererseits; damit bewegt sie sich auf genau den beiden Schienen, die schon Leon Battista Alberti erkannt hatte.16

14 Millon (1994), S. 53. 15 Colonnese (2013), S. 732–736. 16 „Aber hier möchte ich eine wichtige Empfehlung hinzufügen: die Präsentation von farbigen oder durch Bemalung verschönerten Modellen zeigt, dass der Architekt nicht einfach sein Projekt präsentieren möchte, sondern ehrgeizig versucht, das Auge des Betrachters mit Äußerlichkeiten anzulocken und dabei den Geist durch eine genaue Inaugenscheinnahme der verschiedenen Modellteile ablenkt, um ihn in Erstaunen zu versetzen. Also sollten besser Modelle gebaut werden, die nicht perfekt ausgearbeitet,

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DIE ERFAHRUNG MIT DEM LEBENSGROSSEN MODELL ODER DIE SCHWELLE DER REPRÄSENTATION Die Erbauer der Felsenkirchen in Kappadokien replizierten die spätantike Architektur in Negativform: sie brachen Tuffstein ab und reproduzierten durch Abtragung nicht nur Säulen, Apsiden und Gewölbe, sondern zeichneten am Ende auf die rauen Oberflächen schematisch mit roter Farbe Rahmen, Kapitelle und Dekorationen, vielleicht im Vorgriff auf eine vollständigere und polychrome Dekoration, die jedoch nicht immer realisiert wurde. Wer heute diese wunderbaren Räume betritt, hat leicht den Eindruck, sich in einem Modell für etwas ganz anderes zu befinden, sowohl wegen der approximativen Behandlung der Details, was sie den Full-Size-Modellen annähert, als auch wegen ihrer hypertextuellen Bedeutung.17 Die Repräsentation und folglich die Hypertextualität sind intrinsische und fast unumgängliche Eigenschaften der westlichen Architektur. Jedes Gebäude hat in Gebäuden aus der Vergangenheit ein Vorbild und wird seinerseits Modell für zukünftige Gebäude sein.18 Die Beziehung zwischen Realität und Repräsentation ist also eine komplizierte Verbindung, die es sorgfältig zu vertiefen und zu unterscheiden gilt; und bei der Erforschung von Modellen im Maßstab 1:1 und ihrer Rolle können auch Bauwerke, die mit völlig anderer Zielsetzung errichtet wurden, als Modell wahrgenommen werden. Infolgedessen ist die Erfahrung mit dem Modell ein Vorgang, der über das begrenzte Gebiet der in einem spezifischen architektonischen Prozess angefertigten Modelle hinaus geht und vielfältige Zusammenhänge und Situationen anbelangt. Das Foto des Modells für das Agriculture Building in Washington, D.C. von Rankin, Kellogg und Crane (1905) zeigt, wie Mock-ups bis Ende des 20. Jh. üblicherweise gebaut und verwendet wurden (Abb. 3).

ausgefeilt und glänzend, sondern rein und schlicht sind, so dass die Qualität des architektonischen Entwurfs und nicht die Präzision der Modellausführung ins Licht gerückt wird.“ Alberti (1966), S. 96–98. 17 Carpiceci et al. (2015). 18 „Die Bücher über Architekturgeschichte sind voll von Gebäuden, die andere Gebäude repräsentieren […] Die lange Reihe von Repräsentationen – Kopien von Kopien von Kopien, jede einzelne legt ihr Modell neu aus […] wird als klassische Tradition bezeichnet.“ Davies (2011), S. 19; siehe auch: Carpiceci/Colonnese (2012).

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Abb. 3: Rankin, Kellogg and Crane, Department of Agriculture Building, Washington D.C., 1905, Mock-up aus Holz und Gips

Es wurde nach dem Prinzip des Pars pro Toto konzipiert, d.h. als ein von einem Gerüst gestützter vertikaler Fassadenabschnitt, der längs der Gerüstlöcher abgeschnitten wurde, und damit alle für die mentale Rekonstruktion der Gesamtansicht des Gebäudes erforderlichen Elemente zur Verfügung stellt. Das Foto gibt Anlass zu einigen Reflexionen über Modelle und die von ihnen ausgehenden räumlichen Erfahrungen. Zunächst bestätigt es, wie tief das Modell in der langen Tradition der ephemeren Architektur verwurzelt ist, die besonders in Rom bei den Feiern der wichtigsten Lebensereignisse eine große Rolle gespielt hat. Geburten, Hochzeiten, Todesfälle, Papstwahlen, „Besitznahme“ durch Kaiser und zahlreiche religiöse Veranstaltungen waren eine Gelegenheit, die größten Künstler zu involvieren und zu Werken zu inspirieren, welche den öffentlichen Raum durch Kulissen und kurzlebige Monumente neu definierten; sie transformierten die Stadt in ein großes Theater unter Verwendung von Maschinen und Vorrichtungen, welche die vergangene Stadt evozierten, die aktuelle kritisierten und die zukünftige imaginierten. Es kam auch vor, dass der Erfolg einiger Simulacra aus Holz und Stoff zu ihrer Umsetzung in Stein führte, wie bei dem Elefanten von Bernini vor Santa Maria sopra Minerva, inspiriert durch einen von Bernini entworfenen Feuerwerksapparat; es kam ebenso vor, dass eine temporäre Fassade für den Petersdom errichtet und zwei Jahre später die definitive völlig anders gebaut

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wurde.19 Die Malerei trug häufig dazu bei, dort eine dreidimensionale Illusion zu schaffen, wo die Realisierung einer vollständig dreidimensionalen Version des Projekts nicht möglich war. So können „teilweise“ künstliche Räume, wie der große Altan, den Baldassare Peruzzi für das erste Geschoss der Villa Farnesina Chigi entworfen hatte, als lebensgroße Modelle einer perfekt konzipierten Architektur angesehen werden. Sie wurde hier mit Hilfe einer raffinierten perspektivischen Anlage auf die vier Wände des Salons gemalt, hebt dessen physische Grenzen auf und dehnt die Aussicht auf die – von den vier echten Fenstern aus sichtbar – Dächer Roms auf 360° aus. Im Grunde haben solche Werke vieles gemeinsam mit den von der Avantgarde im 20. Jh. ins Leben gerufenen Totalkunst-Experimenten: „der Proun-Raum von El Lissitzky und die Studie von Piet Mondrian könnten als Modelle im Maßstab 1:1 angesehen werden […]. Sie kündigen eine neue Verbindung zwischen Malerei, Skulptur und Architektur an, bei der die Werke nicht mehr nur im Ausstellungsraum aufgenommen sind, sondern mit ihm in Kontinuität stehen.“20

Das Washingtoner Modell weist auch eine Verbindung zu der neu entstehenden Filmindustrie auf. In jenen Jahren begann man in den Studios Hollywoods oder Cinecittàs mit spektakulären Rekonstruktionen fiktiver oder historischer Orte, welche die Filmindustrie reich machten. Mit viel Schaffensgeist und kompetenten Handwerkern rekonstruierten ehrgeizige Archäologen Ruinen aus der Vergangenheit für die Kulissen, vielleicht um Mussolini zu beeindrucken, während nostalgische Planer an den Gebäuden des Dritten Roms den littorisch-kaiserlichen Stil in allen Varianten durchspielten; das Ergebnis hat noch heute den Anschein einer vorläufigen und metaphysischen Stadt, unfähig, sich mit ihren Bewohnern zu messen, aber perfekt als Drehort für Kinofilme.21

19 Im Jahr 1608 schrieb Papst Paul V Borghese einen Wettbewerb für die neue Fassade des Petersdoms aus, den Maderno gewann. Zwei Jahre später stattete Girolamo Rainaldi anlässlich der Heiligsprechung Carlo Borromeos eine monumentale temporäre Fassade für die Kirche mit zahlreichen Michelangelo-Zitaten aus, was eindeutig ein Gegenprojekt darstellte. Selbstverständlich wurde dies von Maderno ignoriert, als er Jahre später die definitive Fassade erbaute. Fagiolo (1997), S. 75. 20 Hubert (1981), S. 20, 22. 21 Delli Colli (2008).

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Ephemere Architektur Strada Novissima, Venedig Ästhetik des Modells Koolhaas, Villa Dall‘ Ava

Dislokation Loos Haus, Wien Imitation Institute of Aborogenal Studies, Canberra Baustelle als Modell Modell als Prozess Laboratoire d‘Experimentation Architecturale

Kriegssimulation Maruc Maru in Nevda Replik Navarro Baldweg, Altamira Caves Rekonstruktion Le Corbusiers Pavillion, Bologna Rekonstruktives Mock-Up Schinkels Bauakademie, Berlin Entwurfs-Mock-Up Fehn/Opera House in Kopenhagen Nachträgliche Errichtung Heiduks Wall House II Prototyp Ideal House 1910 Statische Simulation Nervi, Palazzo del Lavoro

Abb. 4: Phänomenologie der Erfahrung mit dem Modell im Maßstab 1:1

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In Museen und Ausstellungen haben Modelle im Maßstab 1:1 immer eine wichtige Rolle gespielt, sowohl für wissenschaftliche Zwecke als auch zur Unterhaltung. Auf der Biennale in Venedig 1981 standen sich auf dem Gelände der ehemaligen Seilerei an der eigens dafür angelegten Straße zwei Reihen von Fassaden gegenüber, mit deren Bau Architekten aus der ganzen Welt beauftragt worden waren. Mehrdeutig und schwankend zwischen Repräsentation und Realität, zwischen Modellen und ephemeren Architekturwerken „schuf die Via Novissima keine Gebäude, sondern Repräsentationen oder farbige Hüllen. Statt eines Bühnenbildes oder eines Simulacrum handelte es sich hier um ein Manifest der Projektion […] ein Manifest der Kommunikationsarchitektur.“22

Das Kopieren von Monumenten und Architekturen hatte sich oft als einziger Weg herausgestellt, um die Erfahrung mit ihnen auch für eine breite Öffentlichkeit zu erhalten, oder um sie auch nach ihrem Verlust erneut anzubieten. Vielleicht ist es überflüssig, daran zu erinnern, dass Generationen von Künstlern am lebenden Objekt studiert haben und auch weiterhin studieren werden. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an lebensgroße Kopien von Architekturelementen, die in Akademien und Museen wie der Galerie des Moulages vom Palais Chaillot in Paris oder in den Cast Courts im Victoria & Albert Museum in London aufbewahrt werden. Auch wenn die Höhle von Altamira heute für die Öffentlichkeit geschlossen ist, wird die Erfahrung der Höhle und ihrer unschätzbar wertvollen Malereien teilweise reproduzierbar, dank einer präzisen Nachbildung der Höhle, die im nahe gelegenen, von Navarro Baldweg entworfenen Museum mit angegliedertem Forschungszentrum problemlos von Touristengruppen besichtigt werden kann.23

22 Szacka (2012), S. 20. Ein interessanter Aspekt der Aktion ist die Einbeziehung der Werkstätten aus Cinecittà für den Bau der Fassaden. „Cinecittà baut die Filmkulissen wegen der Charakteristiken der Filmkamera-Objektive normalerweise in etwas kleinerem Maßstab (zum Beispiel 4/5). Auch die Fassaden der Strada Novissima wurden wie die Kulissen in Cinecittà verkleinert gebaut, was sie als eine Art Miniatur oder Phantasiewelt erscheinen lässt […]“, Ebd., S. 20. 23 Lasheras Corruchaga/Fatás Monforte (2006). Auf der anderen Seite wird ihre Natur als Replik klar herausgestellt: „von der Bibliothek aus kann man die Rückseite der Höhle und die Halterungsstruktur betrachten, an welcher sie aufgehängt ist, was den theatralischen Aspekt der Neocave entlarvt. Die Anfertigung der Replik lädt ein zur

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Sehr viel dissoziativer kann die Besichtigung von Architekturteilen sein, die vor der Zerstörung bewahrt und in Museen geschafft wurden,24 wie Teile der Wohnung von Adolf Loos, heute im ersten Geschoss des MAK in Wien, oder als Teil einer Wanderausstellung, das winzige Studio von Robert van’t Hoff, das kürzlich im Kröller-Müller Museum in Otterlo ausgestellt wurde.25 Der in Bologna rekonstruierte Pavillon des Esprit Nouveau26 oder der Innenraum des kleinen Cabanon, der in Mailand in den Gärten der Triennale27 aufgebaut wurde, sind zwei Beispiele für Initiativen, welche die Erfahrung verlorener bzw. praktisch unzugänglicher Bauten von Le Corbusier anbieten sollen, allerdings an anderen als den ursprünglichen Standorten. Während der Pavillon des Schweizers immerhin ein bewohnbarer Prototyp für die Serienanfertigung war, war der in Barcelona am selben Ort wie das Original 1929 und auf fast dieselbe Art rekonstruierte berühmte Pavillon Mies van der Rohes nur für die Dauer von wenigen Monaten geplant worden. So warf sein „wieder auferstandener“ Körper auf der einen Seite nicht wenige epistemologische Fragen nach dem Sinn einer solchen Aktion auf, die ein temporäres Objekt als permanentes rekonstruieren sollte;28 auf der anderen Seite bietet er Ansätze für erhellende zeitgenössische Interpretationen der Architektur des Meisters aus Aachen.29

Interpretation ihrer Einbettung in die Landschaft als ein ‚Spiegelbild‘ oder als reflektiertes Bild, entsprechend der Modalitäten, die eine virtuelle Umgebung impliziert“. Navarro Baldweg (2004), S. 114. 24 Ein Museum ist häufig der schlechteste Ort, um ein originales Architekturteil im Maßstab 1:1 auszustellen, da die Umgebung in gewissem Sinne das Original zum Modell seiner selbst macht. In der Regel handelt es sich um ein Problem der räumlichen Hierarchie: „Es ist egal, wie groß etwas ist; wenn es in einen größeren Raum gestellt wird, erscheint es als Modell. Modelle scheinen inhärent an einen Innenraum gebunden zu sein.“ Demand (2011), S. 60. 25 All or nothing. Robert van ‘t Hoff, architect of a new society. Kröller-Müller Museum, 2. April – 29. August 2010. 26 Gresleri (1979); Gelsomino (2000). 27 Milano, Giardini della Triennale, 5 Aprile – 23 Luglio 2006. Siehe: Allison (2006). 28 Cirici et al. (1986). 29 Evans (1990).

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Lebensgroße Modelle von verlorenen oder transformierten Gebäuden können auf deren ursprüngliche Rolle im urbanen Kontext hinweisen und eine Rekonstruktion nahelegen, wie im Fall der Bauakademie von Schinkel in Berlin, deren Baukörper 2001 unter Verwendung von Gerüsten und Gerüstplanen mit dem Abbild der Fassadenzeichnung rekonstruiert wurde.30 Es können aber auch Modelle von Entwürfen erstellt werden, die zwar nie gebaut wurden, aber aufgrund ihres sozialen und architektonischen Potentials hoch signifikant waren. Manchmal reicht ein flüchtiger und symbolischer Umriss, wie bei der Stadtbibliothek in Latina, die vor einigen Jahren im Rahmen einer öffentlichen Veranstaltung mit einem Band auf dem Boden evoziert wurde, welches ihren Grundriss direkt am Standort anzeigte; in anderen Fällen kann ein komplett funktionierendes Modell gebaut werden, wie der von Mies van der Rohe 1930 entworfene Golfclub, der kürzlich bei Krefeld aus Holz gebaut wurde.31 Es kommt sogar vor, dass „verlorene“, da nie realisierte Projekte weit entfernt in Zeit und Ort wieder aufgenommen und realisiert werden. Dies ist der Fall bei dem sogenannten Wall House 2 von John Hejduk, im Jahr 1973 für den Landschaftsarchitekten A.E. Bye entworfen und 28 Jahre später für andere Auftraggeber bei Groningen gebaut, mit irreführendem Resultat, das aufgrund der abstrakten Formen und der kräftigen Farben wie ein großes versteinertes Modell erscheint.32 Auch Orte aus Literatur oder Film werden zum Anlass für nachträgliche Konstruktionen, die irgendwo zwischen Modell und Architektur schweben: an dieser Stelle wäre es ein Leichtes, die Orte von Disney anzuführen, deren Rekonstruktionen sich in vielen Varianten in den großen Vergnügungsparks finden; wesentlich interessanter ist aber die Rekonstruktion des Landhauses, das Hayao Miyazaki für den Film Mein Nachbar Totoro (1988) entworfen hatte und das viele Jahre später auf dem Land in der Nähe von Nagoya tatsächlich gebaut wurde.33

30 de Ruyter (2004). 31 MIES 1:1 Das Golfclub Projekt, Krefeld, 26. Mai – 27. Oktober 2013. 32 Gorlin (2001). 33 Das im Rahmen der Weltausstellung in Aichi im Jahr 2005 in der Nähe von Nagoya gebaute Haus hat keinerlei Unterhaltungswert, ist aber dennoch Ziel für Tausende von Besuchern, die so den Ort eines Zeichentrickfilms persönlich betreten können. Der interessanteste Aspekt ist, dass es sich, obwohl funktionsfrei, in jeder Hinsicht um eine Architektur handelt, die am Ende des Produktionsprozesses steht und die nicht nur die

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Andererseits bieten schon allein die intermedialen Transkriptionen ein sehr weites und metamorphisches Forschungsgebiet.

DAS FOTO DES MODELLS Weiter erinnert das Foto des Mock-up auch an eine völlig andere Art von lebensgroßen Modellen, jene für die Simulation von Katastrophen und besonderen dynamischen Belastungen, wie die im Zweiten Weltkrieg für militärische Zwecke angefertigten Mock-ups: die Maruc Maru, ein künstliches japanisches Kriegsschiff, das auf einem kalifornischen See aufgestellt wurde, um Bomberpiloten auszubilden, oder die zu trauriger Berühmtheit gelangten Dörfer am Rande der Wüste von Nevada, die vollständig aufgebaut, eingerichtet und noch dazu mit menschlichen Figuren ausgestattet wurden, um die Auswirkungen einer Atomexplosion erforschen zu können. In denselben Zusammenhang sind auch jene Modelle einzuordnen, die zur Erforschung der statischen, akustischen und thermischen Eigenschaften experimenteller architektonischer Lösungen entwickelt wurden.34 Ingenieure wie Pierluigi Nervi oder Frei Otto haben in großem Stil lebensgroße bzw. annähernd lebensgroße Modelle verwendet, um die Abschnitte mit dem höchsten Wirkungsgrad35 oder bei Tensostrukturen die Form der Flächen mit kleinstmöglicher Ausdehnung empirisch festzulegen.36 Schließlich unterstreicht das Foto des Modells aufgrund seiner Bauweise nach dem balloon-frame-Prinzip die Idee des Mock-up als Fassaden-Maske, die von einer dahinter stehenden empirischen Struktur gestützt wird, wie es für Modelle typisch ist. Es demonstriert Charakteristiken wie Abstraktion, Prekarität, Reversibilität, Primat des Äußeren, strukturale Empirie, die sowohl dem Bild von Architekturmodellen als auch den dekompositorischen und dekonstruktivistischen Forschungen von Autoren wie Behnisch und Coop Himmelblau oder Rem Koolhaas angehörig scheinen. Seit den ersten Fotografien sei seine „ungefähre“ Villa Dall’Ava sogar für ein Modell

außergewöhnliche Kohärenz der Filmautoren gezeigt hat, sondern deren grafische Arbeit in Form eines echten Architekturprojekts praktisch neu konfiguriert hat. 34 Guillerme (1987). 35 Ebd. (1987). 36 Neri (2014).

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im Maßstab 1:1 gehalten worden.37 Und wer könnte die Wirkung der ersten Fotografien von der Baustelle des Guggenheim-Museums von Frank Gehry in Bilbao vergessen: den Eindruck, man stünde vor einem riesigen Modell im Studio, bei dem die gekrümmten Stahlträger empirisch als Stütze für die äußere Hülle angebracht sind?38 Genauso wie es eine Modellästhetik hinsichtlich der hierarchischen und bautechnischen Aspekte der Struktur gibt, existiert ein Spiel mit dem Ab­ straktionsgrad, das vom Autor bewusst eingesetzt wird, um die Ambiguität zu verstärken und den Betrachter aktiv mit einzubeziehen. Dies ist der Fall bei Architekturwerken, die von den Prinzipien der Dekomposition und der neoplastizistischen Farbgebung sowie von den Houses of Cards von Peter Eisenman und seinen gelegentlichen Weggefährten Five Architects inspiriert sind, aber auch von dem interessanten Haus des Benjamin Franklin, das Venturi und Scott-Brown in Philadelphia in Erinnerung riefen, mit an den Ecken entlang laufenden Metallrahmen, wie ein riesiger Comic, dessen unsichtbare Flächen sich jeder vorstellen kann. Diesem Phänomen schließt sich die progressive Virtualisierung der Raumerfahrung an, die durch die Verbreitung der digitalen Technologien weiter zugenommen hat. Es reicht ein Blick auf das Ausmaß, in dem die Architektenausbildung heutzutage über Fotografien erfolgt, anstelle der grafischen Darstellungen wie vor einigen Jahrzehnten oder statt der Beschreibungen wie vor einigen Jahrhunderten. Und die fotorealistischen Renderings, direkte Extension der Spezialeffekte im Film, stiften kontinuierlich Verwirrung über die Schwelle zwischen Repräsentation und Realität, so dass die Architekturwerke selbst sich an eine Ästhetik der elementaren und abstrakten Volumen ohne jeglichen taktilen Wert anzupassen scheinen. Die Erfahrung mit dem Modell vermischt also etwas Objektives – das Modell, entwickelt, um etwas anderes darzustellen – mit etwas Subjektivem – dem Manufakt, das zum Modell wurde, weil es an etwas anderes erinnert oder weil es in einem bestimmten Kontext als etwas anderes erscheint. Zwischen Modellen, die Architekturen kopieren und umgekehrt Architekturen, die Modelle kopieren, unterstreichen die phänomenologische Bandbreite der Erfahrung mit dem Modell und die Instabilität seiner Grenzen das Konzept einer Fiktion, die von den Betrachtern eine bewusste und aktive Teilnahme einfordert.

37 Helmcke/Otto (1975), S. 227–245. 38 Pedretti (1992).

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DAS MODELL, DER AUFTRAGGEBER UND DER ARCHITEKT Im Rahmen der Arbeiten für den Durchbruch der neuen Via della Conciliazione in Rom, ließ der Architekt Marcello Piacentini ein Modell der „edlen Unterbrechung“ bauen: eine Reihe von Pfeilern vor dem Petersplatz, wodurch eine historisch korrektere visuelle Erfahrung der Domfassade garantiert werden sollte. Es handelte sich um ein bewegliches Modell auf Rollwagen, die mittels elektrischer Steuerung unterschiedlich angeordnet werden konnten. Das Ganze wurde für eine spektakuläre öffentliche Vorführung entwickelt, so dass „nichts gemacht wird, das nicht gründlich durchdacht worden wäre und ohne dass das gegenüber jeder Ausdrucksform, also auch der Kunst, außerordentlich sensible Publikum sein Urteil gefällt hätte. Wer sich an jenem Tag äußern soll, wird das entscheidende Wort sprechen.“39

Nicht nur das letzte Wort war negativ, sondern „das Modell wurde auf Befehl von oben zerstört, ohne dass die Wirkung überprüft werden konnte, auch nicht von Seiten der Autoren,“40 wie der Architekt selbst einige Jahre später bitter konstatierte. Eine Erfahrung wie die Piacentinis, das negative Resultat des lebensgroßen Modells der „noblen Unterbrechung“, scheint in der Architekturgeschichte nicht selten zu sein. Die Übersetzung eines grafischen in ein lebensgroßes Modell kann unvorhersehbare Auswirkungen haben auf denjenigen, der die Arbeit des Architekten beurteilen und über die Weiterführung des Projekts entscheiden soll, sei es ein finanzkräftiger Kunde oder eine neugierige Menschenmenge. Eero Saarinen, der selbst in jeder Planungsprozessphase viele Modelle verwendete,41 war sich bewusst, dass es bezüglich der Kommunikation besser

39 Piacentini/Spaccarelli (1937). 40 Piacentini/Spaccarelli (1944). 41 Für das Projekt der Hauptniederlassung von Deere & Company in der Nähe von Moline, Illinois ließ Saarinen ein Teilmodell im Maßstab 1:1 am Standort aufstellen, um den Cortenstahl zu testen; dasselbe geschah für die Niederlassung von General Motors, von der ein dreistöckiges Modul angefertigt wurde. Als es darum ging, der Verwaltung von Saint Louis die Effizienz der Treppe mit variabler Neigung für die Innenseite des

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funktioniert, wenn Fotografien der Modelle statt der Modelle selbst präsentiert werden. „Jedes Mal, wenn Modelle zur Verfügung standen, hatten die Auftraggeber Schwierigkeiten, sich in das Projekt hineinzuversetzen. Ihnen fehlte die Fähigkeit der Alice, durch den Spiegel zu springen.“42

Als hingegen der Führungsstab von Bell die Dias des hyperrealistischen Modells im Maßstab 1:12,5 ihres Hauptquartiers samt Einrichtung, Ausstattung, Büchern sowie fotografierten und auf Karton aufgezogenen menschlichen Figuren sahen, dachten sie an ein Modell im Maßstab 1:1. Als sie erfuhren, dass die Aufnahmen von dem vor ihnen stehenden Modell stammten, baten sie um weitere personalisierte Bilder mit ihren eigenen auf die Figuren übertragenen Fotos.43 Während ein maßstäbliches Modell dem Nutzer ein Gefühl der Kontrolle am Rande des Voyeurismus gibt, vermittelt ein lebensgroßes Modell völlig andere, wenn nicht gegensätzliche Empfindungen. „Ein Mock-up wird vom ganzen Körper erfahren, während ein maßstäbliches Modell auf Handhöhe funktioniert und existiert; das Mock-up zeigt, wie das Individuum in einem Teil des Gebäudes aufgenommen würde und welche Beziehung dieses zur Umgebung hätte […]. Die Beziehung, die das Mock-up herstellt, ist der Eindruck ‚einer unter vielen zu sein‘, und der Blick des Betrachters ist bruchstückhaft vom Inneren nach außen gerichtet; die von einem maßstäblichen Modell hergestellte Beziehung basiert auf dem Prinzip des ‚ganz oben stehen‘ und gibt dem Betrachter das Gefühl, sich mental außerhalb und über der Welt zu befinden.“44

Vielleicht ist die Unmöglichkeit, irgendein Gefühl der Kontrolle über den Raum zu vermitteln der Grund, weshalb ein Mock-up den Auftraggeber nur

monumentalen Bogens zu präsentieren, ließ Saarinen ein lebensgroßes, 8 Fuß breites Modell mit einem Stahlrohrgerüst aufbauen. Es gibt Fotografien, die Saarinen auf dem Modell zeigen, aber „als der Bürgermeister von Saint Louis Raymond Tucker im Jahr 1961 eingeladen wurde, das Modell zu testen, lehnte er ab mit dem Hinweis, er müsse vorher seinen Kardiologen konsultieren.“ Knight (2008), S. 40. 42 Knight (2008), S. 27. 43 Ivi, S. 45. 44 Van Gerrewey (2011), S. 33.

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enttäuschen kann. Das von Lutyens in Auftrag gegebene Holzmodell des Castle Drogo wurde von den Auftraggebern nur in Teilen akzeptiert und übernommen; das Modell aus Holz und Stoff des großen geflügelten Pfeilers von Sverre Fehn für die Erweiterung des Königlichen Theaters in Kopenhagen brachte die Bürger zur Ablehnung des Entwurfs und die Administratoren zur Planung eines neuen Gebäudes an der Uferpromenade.45 Als Rem Koolhaas und Jacques Herzog von ihrem Auftraggeber um die Präsentation ihres Entwurfs für das Astor Palace Hotel in New York City gebeten wurden, ließen sie ein Mock-up des Hotelzimmers aufstellen. Der Beauftragte der Immobiliengesellschaft, Ian Schrager, musste sich auf ein hartes Holzbrett setzen und durch ein Fenster hinausschauen, das auf ein mit Baumaterial vollgestopftes Lager führte, und dabei so tun, als wäre er an einem völlig anderen Ort. „Vielleicht hätten wir ihm besser eine Matratze gegeben,“46 soll Koolhaas gegenüber De Meuron kommentiert haben. Es war wohl tatsächlich eine nicht besonders glückliche Erfahrung, denn das Projekt wurde nicht fortgeführt. Um die Gründe für das oft verhängnisvolle Resultat der Erfahrung mit dem Modell auf Seiten des Auftraggebers zu verstehen, ist zu berücksichtigen, dass er es mit einem lebensgroßen Modell zu tun hat, das vor allem unter optischen Gesichtspunkten hohe und unerfüllbare Erwartungen evoziert. Die räumliche Erfahrung besteht nicht aus einer Reihe von Bildern auf der Netzhaut, ansonsten würde es reichen, Fotografien des Gebäudes anzuschauen oder die Modelle mit einem Periskop zu erforschen. Es handelt sich vielmehr um „die Reifung einer Idee“,47 die hauptsächlich von dem ausgeht und geleitet wird, was die mögliche Erfüllung der Bedürfnisse des Menschen verspricht, und die den ganzen Körper miteinbezieht, im muskulären Gedächtnis abgespeichert wird und dann umgewandelt und in Form von Raumorientierung angewendet wird.48 Dies bedeutet, dass die praktische Erforschung eines Modells niemals der Begehung eines realen Gebäudes im Alltag entspricht: auch ein noch so großes Modell bietet keine reale Stimulation an, sondern nur deren Bilder und deren visuelles und taktiles Echo. Auch eine perfekte Kopie gebietet, sobald wir wissen, dass es sich um eine Fiktion handelt, jene

45 Fehn (1997), S. 41–45. 46 Van Gerrewey (2011), S. 34. 47 Merleau-Ponty (1989), S. 18. 48 Colonnese (2012b), S. 123–141.

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von Coleridge definierte „freiwillige Suspendierung der Ungläubigkeit“49 und fordert einen engen Pakt zwischen Autor und Leser. Dieser Pakt müsste stillschweigend und natürlich erfolgen und nicht künstlich herbeigeführt werden, etwa dann, wenn ein lebensgroßes Modell einen gewissen Abstraktionsgrad aufweist und die optische Erforschung den Betrachter zunächst nicht zufriedenstellt. Diese Unzufriedenheit wird noch kompliziert durch die zunehmende Virtualisierung der Raumerfahrung, die unseren Alltag tückischer Weise mit fiktiven Komponenten durchsetzt, sowie durch den extremen visuellen Realismus der Simulationen, welcher den Nutzer passiv macht gegenüber etwas, das auch ohne ihn vollendet erscheint.

DER VERHANDLUNGSRAUM Dieser Aspekt ist für den Architekten völlig anders. Er ist gewohnt, den Projektraum mit der eigenen Vorstellungskraft zu erforschen und hat seit langem einen solchen Pakt mit seinen Repräsentationen geschlossen. Und da ein Full-Size-Modell auf ehrliche Art „dasselbe“ durch „das andere“ repräsentiert, erhält es ein Erforschungspotential mit heuristischen Konsequenzen für den Entscheidungsprozess, bis hin zu unkalkulierbaren Auswirkungen auf die Gewissheiten des Architekten. In diesem Zusammenhang hat Rem Koolhaas ein Erlebnis interpretiert, das er über die Großmutter eines Freundes seiner Mutter gehört hatte, bei der es sich um die wohlhabende und berühmte Frau Kröller-Müller handelte. Die Dame hatte im Jahre 1912 Peter Behrens gebeten, eine große Villa zu entwerfen, aber den Entwurf angesichts des von dem deutschen Architekten präsentierten Mock-up abgelehnt. Der 26-jährige Mies van der Rohe, damals Zeichner im Studio von Behrens, nutzte die Gelegenheit, machte sich selbständig und schlug Frau Kröller-Müller seine Version des Projekts vor. Auch er fertigte am Standort ein Modell aus Holz und Stoff in Originalgröße an, sein Entwurf wurde ebenfalls abgelehnt. Der Katalog von Phillip Johnson für die Ausstellung über Rationalistische Architektur im MOMA im Jahr 1947 zeigt ein Foto des Modells inmitten der Landschaft in Wessenaar: unter dem klassizistischen Portikus ist eine kleine dunkle Figur zu erkennen. War es Mies selbst, der den Bau betrachtete, und wie veränderte die physische Erfahrung jenes Modells seine Art zu denken?

49 Coleridge (1817), S. 174.

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„Vielleicht waren seine Schlichtheit und seine Leichtigkeit eine Vorwegnahme all dessen, woran er noch nicht glaubte? Eine Offenbarung der Antimaterie? War diese Kathedrale aus Stoff vielleicht ein brillantes flash-forward auf eine andere Architektur? Führte das Haus aus Stoff zum curtain-wall?“50

Jenseits der schillernden Mutmaßungen über The House that made Mies und die ätherischen Entwicklungen in der Architektur des Meisters aus Aachen, die auch durch gewisse temporäre Bauten für Theater und Film51 beeinflusst sein könnte, ist evident, dass ein Modell wie jenes aus Holz und Stoff, mit wenigen Details und gegenüber Lichtveränderungen hochsensiblen Flächen, zu unterschiedlichsten Interpretationen inspirieren kann. In gewissem Sinne verhält es sich wie eine traditionelle Ansicht in Orthogonalprojektion mit durchgezogener Linie:52 seine Lücken und die Abstraktion seines Codes führen zu Zweifeln, Fragen, dem Wunsch, es haptisch zu erfahren, und verlangen das, was Eco als „interpretative Kooperation“53 definiert hat. Diese ist gekennzeichnet durch semantische Disponibilität gegenüber einer facettenreichen Interpretation und einer Personalisierung durch den Betrachter. Ein solches Modell wird zum außergewöhnlichen Verhandlungsort, an dem sich auch die Erwartungen und die unter Tics verborgenen unbewussten Erinnerungen sowie die nur dem Körper bewussten Angewohnheiten kohärent zum Entwurfsprozess und gemeinsam mit allen Beteiligten konkretisieren können. Auf diese Weise nähert sich die Erfahrung mit dem lebensgroßen Modell dem an, was für die Reisenden der Grand Tour die Erfahrung mit den Ruinen war: das Unsichtbare und das Verlorene wurden letztlich interessanter als das Sichtbare und beeinflussten unverhältnismäßig und irrational die mentale und literarische Rekonstruktion jener Orte. Aufgrund genau dieser Eigenschaften könnten jene Modelle nicht nur in der Endphase der Entwurfsprozesse eine wichtige Rolle spielen, sondern bei entsprechender Vorbereitung schon von Beginn an. Die Erfahrung mit dem Simulator der Ecole Polytechnique Federale in Lausanne, der von Mitgliedern einer Wohnungsbaukooperative in den 80er Jahren für den Entwurf ihrer Wohnungen verwendet wurde, demonstrierte die Fähigkeit

50 Koolhaas/Mau (1995), S. 63. 51 Robbers (2011). 52 Colonnese (2012a). 53 Eco (1979).

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der aus groben Blöcken bestehenden Modelle, Personen zu involvieren und einen partizipativen Entwurfsprozess zu fördern54 und dabei dem Bauprozess sowohl die spielerische Komponente als auch die Gemeinschaftsarbeit zurückzugeben, welche nach wie vor die soziale und identitätsstiftende Bedeutung der Architektur garantieren.

ALLES IST MODELL! Architekten leiden normalerweise unter dem abrupten Übergang vom Entwurfsprozess zum Baubeginn: für sie bedeutet das, aus dem Schutzraum der eigenen mentalen und zeichnerischen Rituale, in dem sie von weiträumiger Toleranz und Visionen reiner Schönheit geleitet sind, in die Arena der Baustelle hinüber zu wechseln, wo es kalt, staubig und chaotisch ist und wo jeglicher Zweifel und jede kleine Schwäche eine korrekte Koordinierung der Arbeiten und den gelungenen Bauabschluss (und ganz nebenbei auch ihr Ego) kompromittieren können. Vor allem leiden sie unter dem Übergang von einem umkehrbaren und perfektionierbaren Prozess zu einem solchen, der in der Regel nicht rückgängig gemacht und selten perfektioniert werden kann. So kann die Idee eines Modells im Maßstab 1:1, das wie eine „Generalprobe“ funktioniert, bei der alles vor seiner definitiven Formannahme zum letzten Mal überprüft und verändert werden kann, für den Planer sehr tröstlich sein. Christophe Van Gerrewey schreibt: „in einer idealen Welt würde der Architekt während des Entwurfsprozesses als Zwischenphase ein Dutzend unterschiedlicher Gebäude errichten, und anschließend würden in Abstimmung mit dem Auftraggeber alle Gebäude bis auf das beste oder am besten geeignete abgerissen werden. Während des Bauprozesses ist es unmöglich [bzw. äußerst schwierig], noch einmal von vorne anzufangen, deshalb existieren Architekturmodelle.“55

Die Provokation Van Gerreweys demonstriert einen Ansatz als Designer, der dem Ort, an dem das Architekturwerk seinen Platz finden soll, wenig Bedeutung beimisst. Der italienische Architekt Umberto Riva rät hingegen zu etwas anderem, das eher dem Konzept des Genius Loci näher steht. Er hat

54 Lawrence (1983). 55 Van Gerrewey (2011), S. 31.

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gelegentlich den geheimen Wunsch geäußert, ein Projekt zu bauen, seine Wirkung zu erfahren und es dann abzureißen, um anschließend das Ganze mit tieferem Bewusstsein noch einmal ganz neu zu bauen. „Eigentlich müsste man bauen, abreißen und anschließend dasselbe noch einmal wieder aufbauen können. Dann hätte man wirklich Möglichkeiten, und es geht nicht um Perfektion, sondern um die Intensität der Erfahrung. Ich finde die Idee sehr schön, etwas zu entwerfen und wieder zu verwerfen, sich von allem frei zu machen,“56

fährt Riva fort. Tatsächlich ist die Wiederholung der wichtigste anthropologische Schlüssel auf dem Weg zur Perfektion, so wie es beim orthodoxen Hesychasmus geschieht, wo der Mensch zu einer Art Maschine wird und sich durch die mechanische Wiederholung des Gebets von Gedanken und Vorurteilen befreit. Im Grunde geschieht das auch im traditionellen Entwurfsprozess: das kontinuierliche Neuzeichnen und Kopieren der Entwürfe und Zeichnungen ist für den Architekten der wichtigste psychologische Schlüssel, um sich den Projektraum anzueignen und die eigene Sicherheit innerlich zu stärken. Rivas Worte drücken vor allem die Notwendigkeit der physischen Erfahrung des Raums und des Bauvorgangs vor der definitiven Konstruktion aus, und er weist damit implizit auf die Möglichkeit einer wenn auch flüchtigen Identität zwischen Modell und Konstruktion hin. Wie der australische Architekt Blacket Smith bemerkt: „zufällig wird das Gebäude zum Modell, ein Werk im Maßstab 1:1. Genau hier treffen das Modell im Maßstab 1:1, das Mock-up und die Baupraxis aufeinander.“57 Dies ist der Fall bei Architekten, die mit der Restaurierung ihrer Jahre vorher fertig gestellten Werke beauftragt wurden, wie Le Corbusier mit der Maison La Roche58 und der Villa Stein de Monzie,59 welche er als Labor interpretierte, in dem neue Lösungsansätze für die Innenarchitektur experimentiert werden sollten; oder bei Autoren, die gewohnt sind, das Architekturprojekt als eine Art Skizze für die Planung der Arbeiten anzusehen und dabei Freiraum für Lösungen offen zu lassen, die direkt auf der Baustelle getestet werden, wie etwa Adolf Loos. Andererseits fühlen sich auch die Auftraggeber

56 Riva (1989), S. 77. 57 Taylor (2006). 58 Rüegg (2004). 59 Colonnese (2011).

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inmitten des unvermeidlichen Spiels mit den Zuständigkeiten manchmal als Chef der Baustelle und betrachten den Bau als echtes Modell, das sie beliebig verändern können. Wenn die Baustelle selbst als Modell zum Testen von Lösungen herangezogen wird, kann dies zu unerwarteten Varianten inspirieren und jenen direct forming genannten Prozess in Gang setzen, mit dem George Bauer die bildhauerische Vorgehensweise Berninis beschrieben hatte: Bernini veränderte die lebensgroßen Modelle Schritt für Schritt bis zu ihrer endgültigen Form.60 Einige Arbeitsfelder scheinen solche Konditionen anzubieten. Die Baustelle für das Red Wall Gebäude des 3Gatti Architecture Studio in Shanghai hatte „die unmenschlichen Rhythmen des kapitalistischen Chinas, ein Modell im Maßstab 1:1, wo die Beteiligten – Bauunternehmen, Auftraggeber und Architekt – Tag für Tag über die Details entscheiden, ohne der rationalen Organisation einer ‚traditionellen‘ Baustelle zu folgen. Die Arbeitskräfte sind dermaßen billig, dass es möglich ist, zu probieren, zu erschaffen und wieder aufzulösen, komplette Teile aufzubauen und wieder abzureißen, als wäre das echte und im Aufbau befindliche Bauwerk ein Modell im Studio.“61

Mathias Klotz hatte in Argentinien die Gelegenheit, das Verwalterhaus als Prototyp für das Herrenhaus zu bauen, so dass die baulichen Lösungen anhand eines Modell im Maßstab 1:1 erarbeitet und anschließend beim Hauptgebäude des Techos House übernommen wurden (2006). Eine berühmte Provokation von Hans Hollein – Alles ist Architektur! – könnte also umgewandelt werden in: Alles ist Modell. Die Fähigkeit, jeglichen Raum als Modell aufzufassen, ist in der Tat eine spezifische Eigenschaft des Architekten – bzw. sollte sie es sein –, dank derer er die anderen Beteiligten mit einbezieht und aktiviert; aber darüber scheinen sich die Künstler mehr bewusst zu sein. „Die Prozesse der Wahrnehmung von Objekten als Simulationen im gleichzeitigen Bewusstsein ihrer Realität steht absolut im Zentrum meiner Arbeit,“ 62 unterstreicht Julian Opie. Wie Olafur Eliasson anregt, sollten wir nicht mehr ausschließlich den Übergang vom

60 Bauer (1981). 61 Sanguigni (2013). 62 Julian Opie, zitiert in: Cooke/Loock (1994), S. 71.

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Modell zur Realität im traditionellen und exklusiven Prozess der Formperfektionierung in Betracht ziehen, sondern jenen vom Modell zum Modell, und das auf inkludierende und offene Art. „Die Vorstellung, dass die Welt aus einem Konglomerat von Modellen bestehe, impliziert ein befreiendes Potential, weil es erlaubt, unsere Umgebung neu zu definieren. […] Die Auffassung von Raum als statisch und klar definierbar ist dann nicht mehr haltbar und nicht wünschenswert. Als Urheber der unaufhörlichen Modellierung und Neumodellierung unserer Umgebung und unserer Art der Interaktion können wir die Vorstellung von Vielfältigkeit und Ko-Konstruktion des Raums unterstützen.“63

SCHLUSS Jede Architektur als komplexes Werk, das auf der Akkumulation vorausgehender Erfahrungen basiert, ist medialer und hypertextueller Natur, was sie nicht nur für die Übernahme als Modell für zukünftige Bauwerke prädestiniert, sondern sie auch mit ihren eigenen Konstruktionsinstrumenten, vor allem mit jenen der Präfiguration, wie die physischen Modelle, fast unauflöslich verbindet. Die Erfahrung mit dem Modell beschränkt sich also weder auf den architektonischen Produktionsprozess noch auf jene Manufakte, die speziell entwickelt werden, um etwas anderes zu repräsentieren oder um die Bauphase zu begleiten. Ephemere Architektur und Bühnenbilder, zunächst für das Theater und später für den Film, die häufig in Material, Technik und Haltbarkeit den Modellen sehr ähnlich sind, unterstreichen die Wichtigkeit der Errichtung und der Wahrnehmung von funktionsfreien Strukturen, zumindest im traditionellen Sinn, damit eine neue Raumsensibilität reifen kann. So waren wichtige linguistische Entwicklungen im 19. Jahrhundert die Konsequenz einer Akzentuierung der repräsentativen Komponente zu Lasten der tektonischen und funktionalen, bis hin zur Entwicklung einer ausgeprägten Modellästhetik in den letzten Jahrzehnten, nicht ohne ironischerweise kritische Absichten gegenüber der Industrialisierung der Architektur zum Ausdruck zu bringen. Dank seiner replikativen Eigenschaften, die das Verhalten des realen Objekts mit hohem Annäherungsgrad simulieren können, und seiner räumlichen Charakteristiken, die den Betrachter kinästhetisch involvieren

63 Eliasson (2007), S. 25.

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und somit den Zuschauer zum Akteur machen können, wird das Modell im Maßstab 1:1 für wissenschaftliche, didaktische und unterhaltungsbezogene Zwecke verwendet, ebenso für Promotion, Entwicklung, für die bautechnische und, wie im Fall der Prototypen, für die industrielle Produktion. Die schnelle Prototypherstellung, die notwendigerweise auf einer Zeichnung im Maßstab 1:1 basiert, ist vor allem in diesem Zusammenhang von Nutzen, am Ende des Entwurfsprozesses, oder bei gezielten Maßstabssprüngen für die Erforschung von Teilen oder Details. Demgegenüber ist das Modell im Maßstab 1:1 dank des moderaten Kosten- und Zeitaufwands und seiner geringen semantischen Definition geeignet, den Entwurfsprozess zu begleiten; dies jedoch, wie bereits erwähnt, mit widersprüchlichen Ergebnissen: positiv für den Reifungsprozess auf Seiten des Autors und des Entwurfs, aber häufig negativ für einen gelungenen Prozessabschluss. Der Auftraggeber ist genauso wie ein Publikum nicht in der Lage, ein Manufakt zu beurteilen, das häufig Fehler der entworfenen Form hervorhebt und Unsicherheiten, um nicht zu sagen, Unfähigkeit des Planers aufzeigen kann; deshalb sind Mittel und Zeit zu investieren, um ihn auf eine solche Erfahrung vorzubereiten, die auf diese Weise den Definitionsprozess partizipativ begleiten kann, statt am Projektende angesiedelt zu sein. Diese Überlegungen betreffen auch die Architektenausbildung und die Universitätsdidaktik. Wenn die Informatikinstrumente dazu zwingen, im Maßstab 1:1 zu denken und zu zeichnen, müssen zusätzliche Instrumente wie die traditionelle Skizze oder dreidimensionale Modelle ihre Rolle bei der formalen Definition der Entwürfe beibehalten; sie sollten jedoch von zeichnerischer Erarbeitung und Messungen vor Ort begleitet werden, welche den Körper daran gewöhnen, Raum zu fühlen und zu messen und den per Monitor und Zeitschriften erworbenen visuellen Schatz um Sinneserinnerungen und Imaginationsübungen zu ergänzen. In diesem Zusammenhang kann die Idee „Alles ist Modell“ zu einem außergewöhnlichen Katalysator werden, um offene Fragen in unserer Umgebung auszumachen und Lösungen zu imaginieren: es reicht, den Raum als ein Modell im Maßstab 1:1 zu interpretieren und ihn anzuerkennen als „eine Art der Existenz, die mehr ist als das, was der Idealist eine Vorstellung nennt, aber weniger als das, was der Realist ein Ding nennt – eine Existenz, die halbwegs zwischen ‚Ding‘ und ‚Vorstellung‘ liegt.“64

64 Bergson (1911), S. 143–144.

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ABBILDUNGEN Abb. 1: Wahrnehmung der Modelle in verschiedenen Maßstäben, Darstellung des Verfassers Abb. 2: Typologie lebensgroßer Modelle in Bezug auf den Entwurfsprozess und den Gebäudezustand, Darstellung des Verfassers. Abb. 3: Rankin, Kellogg and Crane, Department of Agriculture Building, Washington D.C., 1905, Mock-up aus Holz und Gips, Foto: Anonym, Sammlung Dana G. Dalrymple, USA. Abb. 4: Phänomenologie der Erfahrung mit dem Modell.

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Wie man dem toten Hasen die Häuser erklärt1 ANNE-JULCHEN BERNHARDT

Der nachfolgende Bildessay zeigt Entwurfsprozesse mit Bauplanenden exemplarisch anhand von drei realisierten Projekten des von der Autorin zusammen mit Jörg Leeser geführten Architekturbüros BeL.1Reflektiert wird hierbei im Besonderen die Rolle von Modellen und Zeichnungen für die Kommunikation, dargestellt mit Bildern jeden Projektes.2 Entwerfen für den Prozess bedarf anderer Strategien als das Entwerfen für den Konsens, für Magazine, für den Kritiker oder für die Baustelle. Der Prozess stellt nicht das Gelingen zur Disposition, aber immerhin den geplanten Ausgang. Sind am Entwurf nicht nur Architekten beteiligt – was eigentlich nie der Fall ist – muss es Mittel geben, die den anderen Projektbeteiligten die Möglichkeit geben mit zu entscheiden. Bei Fachleuten ist es einfacher; sie sprechen die Fachsprache, sie können Pläne lesen und haben meist vorhersehbare Ziele. Bei Nutzern ist dies nicht so, ihre Ziele sind diffus (es soll schön sein, und ordentlich, Kinder sollen im Wohnzimmer spielen oder nur in ihren Zimmern, das Haus soll beeindruckend oder zurückhaltend oder alles gleichzeitig sein) Alternativen überfordern sie, Schnitte sind schwierig

1 In Anlehnung an Josef Beuys Aktion „Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt“ vom 26. November 1965, Galerie Schmella Düsseldorf. 2

Alle Abbildungen: BeL.

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zu verstehen, der Planungsprozess ist ein unerklärlicher Abgrund von Komplikationen. Architektur hat zu viele Informationen auf einmal. Prozessorientiertes Entwerfen ist die Ertüchtigung zur Entscheidung, ist ein Prozess der Bildung. Im klassischen Sinne handelt es sich um Aufklärung. Nutzer müssen mündig sein oder mündig infolge des Prozesses werden. Im prozessorientierten Entwerfen entscheiden viele Beteiligte, sie müssen sich alle eine eigene Meinung bilden können. Dazu braucht es Erkenntnis. Über den Verlauf unserer Tätigkeit als Architekten haben wir uns immer weiter von dem Anspruch entfernt, den Bauherren alles das, was eine eigene Haltung in der Architektur ausmacht, zu vermitteln. In unserem ersten – in intensiver Auseinandersetzung mit Nutzern geführten Projekt – haben wir noch versucht, diesen die gesamte Vielschichtigkeit der Architektur zu vermitteln (Rationator, Einfamilienhaus für Beata und Jan Ruppert, Overath, 2002–2004). In den nachfolgenden Projekten (Gärtnerhof Overmeyer, für Kerstin und Uli Overmeyer, Seevetal 2010–2012 und Grundbau und Siedler, IBA Hamburg, 2010–2013) haben wir zunehmend darauf verzichtet, unsere pädagogischen Ansprüche zurückgenommen und die Mittel der Kommunikation optimiert. Alle Bauherren sind mit dem jeweiligen Ergebnis des Prozesses, dem gebauten Haus, sehr glücklich. Prozessorientiertes Entwerfen macht den Architekten zum Teil der Wirklichkeit. Architektur bleibt nicht die reine, unbefleckte Kunst, die in einer besseren Welt das richtige Leben umschließen würde. Sie mischt sich ein, macht sich die Hände schmutzig und wirkt in Zusammenhängen, die jenseits idealtypischer Lösungen liegen. Architektur kann ein abstraktes Gedankengebilde sein, das ausschließlich in hochkulturelle Zusammenhänge eingreift. Oder sie kann am Leben teilnehmen, mittendrin zwischen allem, von Anfang an.

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Abb. 1

Rationator, Overath, 2003 – 2004 BeL Sozietät für Architektur BDA, Köln Team: Anne-Julchen Bernhardt, Jörg Leeser, Sascha Glasl, Eveline Jürgens Bauherren: Beata und Jan Ruppert Statik: Ingenieurbüro Jürgen Bernhardt, Köln Es beginnt mit einer synthetischen Zeichnung. Die Isometrie (Abb. 1) ist das Ergebnis einer Verknüpfung der disparaten Zeichnungen der Firma Klosterbau Massivhaus GmbH aus Hadmersleben, eines von Dipl. Ing. Andreas Försterling stammenden Entwurfes. Die Zeichnungen sind Bestandteil des sechsseitigen Angebotes für Familie Ruppert über den Bau eines Einfamilienhauses für 250.000 €. Die vierköpfige Familie Ruppert fragt BeL im Frühjahr 2002 um einen Alternativentwurf an. Die Zusammenfassung des Massivhausentwurfes legt die Arbeitsweise des Anbieters offen. Die Zeichnungen sind unabhängig von einander entwickelt, sie stammen aus unterschiedlichen Vorplanungen: Frontansicht und Seitenansicht passen nicht zusammen. Das im Hochwassergebiet liegende Haus reagiert in der Seitenfassade auf diesen Umstand und hebt das Erdgeschossniveau um 1,50 m über das Gartenniveau.

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Abb. 2: Vergleich der Grundrisse

In der Frontfassade liegt das Erdgeschoss auf Gartenniveau. Der Garten wird räumlich als Rampe gedeutet, die diesen Konflikt zeigt. Die im Keller liegenden Nutzräume leiden unter diesem Konflikt, da sie unbelichtet bleiben. Die überzeugende Argumentation für einen Kellerverzicht führt zur Beauftragung von BeL. BeL beginnt den Entwurf mit der Erstellung eines umfangreichen Fragebogens an die Bauherren. Die Familie soll Auskunft über ihre Gewohnheiten, ihre Wünsche und Vorstellungen geben. Die Fragen behandeln die Definition von Räumen, das Verhältnis der Räume untereinander, sie versuchen die Benutzungsfrequenz einzelner Räume, ihren Charakter und das Verhältnis zum Außenraum zu klären. Die Antworten des Fragebogens ergeben sehr widersprüchliche Aussagen zu der Beschaffenheit einzelner Räume. So ist der Ort der Gemeinschaft das Wohnzimmer, dieses soll allerdings eine Tür zu den Räumen der Kinder besitzen. Die Konflikte können argumentativ nicht aufgelöst werden. Es muss andere Wege zu einem Raumprogramm und einem Entwurf geben. Drei Einfamilienhäuser werden in Grundrissen (Abb. 2) und im Modell verglichen. Als Referenzprojekt dient ein Einfamilienhaus von 1963 vom Architekten Ludwig Leeser in Heiligenhaus. Die anderen beiden Einfamilienhäuser sind der Entwurf von Andreas Försterling und der Entwurf von BeL für

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Abb. 3: Grundriss Rationator

Familie Ruppert. Das Referenzprojekt in Heiligenhaus wird zusätzlich durch eine Besichtigung verdeutlicht. Die beiden Bewohner, die ursprünglichen Bauherren, erläutern ihr Leben im Haus, zeigen die Vorzüge des vom Architekten vorrausschauend geplanten Gebrauchs und sprechen über ihr immer noch anhaltendes Glück mit der Architektur. Als Mittel des Vergleichs der drei Projekte dienen schematische Schnitte und Grundrisse und eine Analyse der Umgebungsfaktoren (Besonnung, Wind, Blick, Verhältnis zur Öffentlichkeit) und der internen Faktoren (Teilbarkeit nach Auszug der Kinder, Barrierefreiheit). Der Grundriss des Entwurfes (Abb. 3) ist schematisch dargestellt. Räume sind nicht als Räume dargestellt, sondern als Orte mit einer Widmung. Die unterschiedlichen Widmungen sind farbkodiert (rot = Ort der Gemeinschaft, blau = Ort des Individuums, gelb = Serviceorte, grün = Erschließung). Räumliche Beziehungen der Orte werden über Verbindungen dargestellt. Der Entwurf erhält den Namen Rationator, auch die Bauherren verwenden ihn. Das Scheitern der Befragung mittels des Fragenbogens der Bauherren erzeugt eine Änderung der Strategie. Das Raumprogramm, die Raumbeziehungen und der Grad der Öffnung zum Außenraum werden durch Testentwürfe weiterentwickelt (Abb. 4). Die Bauherren reagieren mit Ablehnung

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Abb. 4: Entwurf durch Ausschluss

auf einzelne Vorschläge, so bildet sich mit Hilfe des Ausschlussprinzips sehr langsam ein von allen getragener Entwurf heraus. Die abgelehnten Entwurfsbestandteile führen im nächsten, verbesserten Schritt zur Befürwortung. Innerhalb des Prozesses bilden sich Themen heraus, die den Entwurf stark bestimmen. Dies sind: die Verbindung der Räume untereinander, die Länge des Hauses, die Lage und Gestalt des Gästezimmers. Es handelt sich um einen für Architekten sehr aufwändigen Prozess. Dass es sich hierbei um das Prinzip „Entwurf durch Ausschluss“ handelt, haben die Architekten erst nach dem dritten Entwurf erkannt. Im Entwurfsprozess hat sich das Mittel der Provokation bewährt. Bauherren treffen Entscheidungen auch durch Ablehnung. Eine nutzungsneutrale Raummatrix (Rationator 04 in Abb. 4) nach dem Vorbild von Schinkels Pavillon am Schloss Charlottenburg (Abb. 5) setzt die acht Räume des Erdgeschosses (Vorhalle, Halle, Küche, Garage, Werkstatt, Esszimmer, Wohnzimmer, Gästezimmer, Bad) in Beziehung zueinander. Die nach musischen Proportionen ausgeführten Räume sind über Flügeltüren miteinander verbunden. Dies führte zur Ablehnung. Der vorangegangene Entwurf (Rationator 03 in Abb. 4) besitzt neben einer Raumzuweisung mit eindeutigen Nutzungen fließende Übergänge zwischen bestimmten Nutzungen. Dies hatten die

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Abb. 5: Grundriss Karl Friedrich Schinkel, Neuer Pavillon, 1824-25

Bauherren ebenfalls abgelehnt. Dieser Widerspruch führte nach einer Diskussion zu einer differenzierten Aussage der Bauherren zur Verbindung der Räume untereinander. Der nachfolgende realisierte Entwurf (Rationator 05 in Abb. 4) besitzt sowohl offene, stark miteinander kommunizierende, als auch geschlossene Räume. Diese Entscheidung wäre ohne die Provokation eines radikalen Entwurfes nicht möglich gewesen. Ablehnung lässt sich also in die Annahme einer Alternative umlenken. Entscheidungen fallen über eine Auswahl, die Wahlmöglichkeiten sind dabei beschränkt. Um nicht zu verwirren, sollten die Fragen nicht zu allgemein sein, sondern ein Thema präzise umkreisen (also geschlossener Raum versus offener Raum). Ein großmaßstäbliches Modell dient nach einem Jahr des Beginns des Entwurfsprozesses der Konkretisierung von Material und Detail. Eine Diskussion darüber, wie das Haus aussieht, haben die Architekten bis zu diesem Zeitpunkt bewusst verhindert. Ein einfaches Styrodurmodell im Maßstab 1:25 wird mit eigenen Texturen auf Papier beklebt (Abb. 6). Diese Oberflächen sind an Beispielobjekten fotografiert, mit Photoshop werden diese Ausschnitte zu einer flächigen Textur zusammengesetzt. Diese werden auf einem Tintenstrahldrucker auf DIN A3 ausgedruckt, das Styrodurmodell wird in allen Oberflächen damit beklebt. Die Nähe zur Realität ist das Ziel

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Abb. 6: Photoshoppapierrendermodell

der Untersuchung. Das Modell dient als Arbeitsmodell, die Oberflächen werden in Alternativen getestet, durch die einzelnen Materialien entstehen verschiedene Zusammenstellungen. Das Modell wird fotografiert. Die Methode bekommt den Arbeitstitel Photoshoppapierrendering. Das endgültige Modell und die Modellfotos werden den Bauherren präsentiert. In Weiterführung des Photoshoppapierrenderings wird ein Computermodell im Programm form-Z erstellt, im eingebauten Renderprogramm werden drei Renderings – vom wichtigsten Raum des Hauses – der Halle errechnet. Die Bilder werden nicht nachbearbeitet (Abb. 7). Die Bilder dienen der Diskussion über die Beschaffenheit der Materialien, die gerenderten Materialien liegen zusätzlich als 1:1 Muster bei der Besprechung vor. Es handelt sich um Asphaltplatten für den Boden, geschlämmte Wände aus Bimssteinen, kesseldruckimprägniertes Holz für die Decke, Außentüren und Fenster, Streckmetall für die Treppe. Der unter der Decke hängende Regenwassertank soll eine Diskussion über die Nutzung von regenerativen Energien provozieren. In der Zusammenstellung dieser, für ein herkömmliches Einfamilienhaus ungewöhnlichen und rohen Materialien, entsteht eine fruchtbare Diskussion über das Wesen des Hauses. Während den Bauherren Wassertank, Streckmetall und kesseldruckimprägniertes Holz zu rau und unbehandelt erscheinen, können

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Abb. 7: Rendering der Halle

sie sich geschlämmte Wände, gestrichenes Holz und einen feineren, glatten Boden vorstellen. Mit dem fertiggestellten Rohbau dient der Bau selbst als aktives 1:1 Modell. Der Bauherr Jan Ruppert stellt einen großen Teil des Innenausbaus und weitere Außenarbeiten mit Freunden und Verwandten selbst her. Der Rohbau wird dabei zum Subjekt, das seine eigene Macht und seinen Willen entfaltet: Der Bauherr arbeitet am Haus, setzt sich mit dem Haus auseinander, erkennt Qualitäten des Baus und bemüht sich, diesen durch seine eigene Arbeit gerecht zu werden. Das Haus übernimmt in dieser Auseinandersetzung die Rolle eines Akteurs, der mit dem Bauherrn kommuniziert. Dabei spielt sowohl das zum Subjekt gewordene Haus eine große Rolle, als auch die Freude an der Steigerung der eigenen Fähigkeiten. So konnten handwerklich feine Details realisiert werden, für die es entweder keine Handwerker gab oder die Ausführung mit Handwerkern zu teuer gewesen wäre. Die Decke zwischen Erd- und Obergeschoss ist als Ortbetondecke ausgeführt. Das Schalungsbild wurde gezeichnet, die Architekten haben selbst die Rödeldrähte entfernt, der Bauherr hat die Decke nach dem Ausschalen hell lasiert. Schien eine Sichtbetondecke zu Beginn der Diskussion über Materialien noch unmöglich, hat die physische Präsenz der fein ausgeführten Decke mit angemessenem Aufwand die Entscheidung zum Unverkleideten ermöglicht.

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Abb. 8: Schock durch Möbel

Die beim Einzug eingeräumten Möbel und eingebauten Lampen (Abb. 8) versetzen die Architekten in einen schockartigen Zustand. Die Art und Qualität der Möbel widersprechen der einvernehmlichen Ausbauphase, sie kommen aus einem anderen, kulturfernen Kontext. In einem langen Prozess des vervollkommnenden Weiterbauens wird das Mobiliar der Küche, des Esszimmers und die Beleuchtung des Hauses liebevoll dem Haus entsprechend ersetzt. Zehn Jahre nach Fertigstellung führt der Bauherr als Handwerker den von den Architekten geplanten Ladebaum zum Dachgeschoss aus. Er schickt den Architekten eine Mail mit ausführliche Fotodokumentation der feinmechanischen Detaillierung.

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Abb. 9

Gärtnerhof Overmeyer, Seveetal, 2010 – 2012, Fertigstellung 2014 BeL Sozietät für Architektur BDA, Köln Team: Anne-Julchen Bernhardt, Jörg Leeser, Maike Basista, Matthias Hoffmann, Christiane Schmidt, Wolfgang Zeh Städtebauliches Konzept, Freiraumplanung: Urban Catalyst Studio, Berlin, Klaus Overmeyer, Philip Schläger, Robert Schelle, Martin Bürkner Bauherren: Kerstin und Klaus Overmeyer Statik: Ingenieurbüro Jürgen Bernhardt, Köln Strategieberatung: Günther van Ravenzwaay, Hamburg Architekt ab Leistungsphase 5 ½: Skaven Hütz, Hamburg In der Mitte der bestehenden Hofanlage aus einem Niederdeutschen Hallenhaus, Scheune, Stall und Wagenhalle bauen die Planer und Bauherren am Morgen des 29.9.2010 ein Modell des Hofes auf. Mit dem Prinzip der Matroschkapuppe soll das Modell den Maßstab des sehr großen Hofes und des Vorplatzes anschaulich im Raum des Hofes vergegenwärtigen. Das Modell hat den Maßstab 1:10, Modellbaumaterial sind die in großen Mengen vorhandenen faltbaren Obstkisten aus Kunststoff und vorgefertigte, zugreisefähige Accessoires wie Menschen, Tiere und Fahrzeuge aus Pappe.

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Abb. 10: Modell des neuen Hofes

Die Größe des Modells ist so berechnet, dass auf dem Boden liegend der Eindruck der richtigen Größe entstehen kann, da die Augenhöhe im Kopf der Augenhöhe eines stehenden Menschen in Realität entspricht. Bauherr, Bauherrin und die sieben Kinder sind begeistert. Auf dem Bauplatz auf dem Feld bauen wir am Nachmittag des 29.9.2010 ein Modell der geplanten Hofanlage im Maßstab 1:10 (Abb. 10). Die dafür erforderlichen großen Mengen Obstkisten werden mit Traktor und Hänger vor Ort transportiert. Die vier Baukörper Hofladen, Scheune, Wohnhaus und Stall werden gegeneinander verschoben. Im Modell wird die Ecke des Hofladens in Alternativen gemeinsam auf- und abgebaut. Der gemeinsame Modellbau am Nachmittag – mit dem Wissen um den Maßstab des vorhandenen Hofes am Morgen – ermöglicht eine Verkleinerung des von den Bauherren groß gewünschten Raumes. Die Einzelbaukörper werden stückweise zueinander gerückt. In Referenz zu einem Schweizer Spanngerüst werden am 7.10.2010 auf dem Bauplatz Dachlatten in der Dimension 1:1 für die einzelnen Baukörper aufgebaut. Der Bauherr kommt in der Woche mehrfach am Grundstück vorbei und betrachtet seinen neuen Hof. Er parkt mit seinem Traktor und Anhänger probeweise in die Scheune ein. Die Verkleinerung des Hofes besteht den Test.

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Abb. 11: Landschaftsmodell

Am 5.11.2010 wird ein weiterer Workshop, diesmal zur Landschaftsplanung, durchgeführt. Arbeitsmaterial sind hierbei mitgebrachte gemusterte Baumwollstoffe. Die Topografie der Landschaft wird mit Wolldecken und Kissen simuliert. Autos und Menschen werden mit Spielzeug dargestellt (Abb. 11). Im Modell im Maßstab 1:100 werden in Alternativen Belagsdifferenzierungen und deren Übergänge erprobt. Die Reduzierung der versiegelten Oberflächen wird diskutiert. Mit Rheinkieseln werden am 5.11.2010 verschiedene Konfigurationen des Ladens im Maßstab 1:100 in die Masse der Steine gezeichnet und in einem späteren Schritt gelegt. Die Kieselsteine sollen durch ihre NichtOrthogonalität helfen, in weniger festgelegten räumlichen Zusammenhängen zu denken. Sie lassen sich leicht als Masse bewegen, in Gruppen oder nach Größen sortieren. Das Modellbaumaterial ist unbegrenzt vorhanden und lässt sich leicht im Zug transportieren. Es gibt verschiedene Arbeitsstände, die fotografiert werden. Das Ergebnis des Tages ist die Organisation der einzelnen Warengruppen im Raum (Abb. 12). Auf einer eintägigen Referenz Tour am 19.9.2011 durch die Umgebung des neuen Hofes zeigen die Bauherren den Architekten Gebäude, die ihnen gefallen. Dabei geht es im Besonderen um Materialien und Details. Auf dieser Reise sprechen wir über das Verhältnis der Gebäude zu ihrer Umgebung

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Abb. 12: Organisationsmodell Laden

und die Möglichkeit verschiedener Materialien zu altern. Die Bauherren und die Architekten haben die Rundreise jeweils vorbereitet und exemplarische Objekte und Ensembles ausgewählt. Die Bauherren zeigen, neben den historischen Dorfkernen, vorbildlicher Umbauprojekte und einer Landkommune im Selbstbau, auch ein abschreckendes Beispiel einer zum Eventcenter ausgebauten Baumschule. Dies dient im Weiteren als Negativreferenz, es wird beim wiederholten Wunsch nach der Verwendung praktische, pflegeleichte Materialien von den Architekten zitiert. Am 21.10.2011 präsentieren die Architekten den Bauherren in Seevetal alle zum Hof gewandten Fassaden als Modell im Maßstab 1:50. Die Modelle zeigen stark gegliederte Fassaden, die in unterschiedlichen Bauweisen und unterschiedlichen Materialien dreidimensional gebaut sind. Die Modelle dienen dem Verständnis von massiven und verkleideten Leichtbauwänden, und den unterschiedlichen Verkleidungsmaterialien. Die überdeutliche Materialsprache – die gemauerten Wände sind im Modell gemauert und geschlämmt – soll die Vorstellungskraft der Bauherren unterstützen. Die Modelle sind bewusst erzählerisch (Abb. 9). Die Narration gelingt nicht, die Bauherren finden die Modelle zu laut, sie können sich trotz Gegenständlichkeit die unterschiedlichen Materialien nicht vorstellen. Der am 19.1.2012 in Köln durchgeführte

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Abb. 13: Fassadenworkshop

Fassadenworkshop beginnt mit einem Kurzreferat der Architekten über die Qualitäten von Fassaden. Die Bibliothek hängt umlaufend in Augenhöhe voller ausgedruckter Referenzen (Häuser von Sigurd Leverenz, Heinrich Tessenow, Josef Frank, Rudolf Olgiati, Illustrationen aus Kinderbüchern, Filmausschnitten, Fotos von der Referenz Tour). Die Architekten erläutern, warum sie die Referenzen ausgewählt haben und sprechen über die Qualitäten der jeweiligen Fassaden. Der Vormittag ist relativ akademisch. Am Nachmittag des 19.1.2012 werden beim Fassadenworkshop in Köln zusammen mit den Bauherren Fenster entworfen, es geht um handfeste gemeinsame Entscheidungen. Als Material gibt es alle Fassaden als Schablone im Maßstab 1:33 auf Pappe und einen Fensterbausatz in unterschiedlichsten Varianten auf Pappe. Auf den Fassadenschablonen sind wichtige Bedingungen im Inneren angelegt, zur Kontrolle gibt es auch die Grundrisse im Maßstab 1:33. Für einen zweiten Detaillierungsschritt gibt es – ähnlich dem Photoshoppapierrendering des Rationators (s. Abb. 6) – selbsthergestellte Texturen für Ziegel, geschlämmtes Mauerwerk, geteerte Stülpschalung, verwitterte Stülpschalung, Schalung in unterschiedlichen Anstrichen usw. In mehreren Arbeitsschritten werden die Fassaden gemeinsam gelegt, verschiedene Sortierungen werden auf allen Fassaden aufeinander abgestimmt (Abb. 14).

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Abb. 14: Visualisierungen

Die von allen Beteiligten für gut befundenen Varianten werden festgeklebt, fotografiert, von den Planenden unterschrieben. Die Bauherren haben von den Architekten von Beginn an erwartet, dass sie ihre Wünsche visualisieren. Über den langen Entwurfsprozess von eineinhalb Jahren haben die Architekten in klassischer Weise – wie beim Rationator erfolgreich – versucht, den Grad der Abstraktion der Darstelllungen zu senken (Abb. 17). Das Ziel der Detailplanung ist Detailreichtum, die Möglichkeit der Materialien zu altern und den Bauherren Aneignungsräume und Oberflächen zu geben. Alle Darstellungen sind gescheitert, da sich die Bauherren sowohl die Abstraktion, als auch das Fotorealistische nicht vorstellen können. Hier hätten über den gesamten Prozess einfache Skizzen (links unten) geholfen. Dieses Unverständnis hat zur Auflösung des Architektenvertrages geführt. Das realisierte Projekt besitzt in Teilen Materialien, die auch das Negativbeispiel der Referenz Tour besessen hat. Die Bauherren sind allerdings in ihrem Neubau sehr glücklich, das Projekt ist überaus erfolgreich.

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Abb. 15 Grundbau und Siedler, IBA Hamburg, 2010 – 2013

BeL Sozietät für Architektur BDA, Köln Team: A.-J. Bernhardt, Jörg Leeser, Christiane Schmidt, Wolfgang Zeh Statik: Ingenieurbüro Jürgen Bernhardt, Köln Das Projekt beginnt mit einem strategischen Bild (Abb. 15). Es ist für das Preisgericht des Wettbewerbes Smart-Price Houses entworfen. Der unscharfe Hintergrund des Bildes betont die Lage im Nirgendwo: ein Sumpf mit Hochhäusern und Infrastruktur auf einer Insel vor Hamburg. Im Vordergrund steht ein Paar, das die Sachpreisrichter als stolze Migranten deuten sollen. Den Fachpreisrichtern soll die Bezugnahme zu den dargestellten Architekten Alison und Peter Smithson helfen, das Projekt inhaltlich einzuordnen. Das Gebäude im Mittelgrund ist ein Rohbau, der scheinbar schon viele Jahre steht. Der Stolz der Protagonisten ist unverständlich, diesem Zweifel soll der Betrachter nachhängen. Über das Projekt wird gestritten, die Sachpreisrichter fühlen sich provoziert, die Fachpreisrichter erfreuen sich gerade an der Provokation.

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B

A

A

B

Abb. 16: Grundriss leer

Der leere Grundriss (Abb. 19) schreibt das Prinzip des Dom-ino Hauses von Le Corbusier aus dem Jahr 1914 weiter (Le Corbusier, 1995). Dieses hat sich in den wärmeren Klimazonen weltweit als erfolgreiches Bausystem informeller Siedlungen bewährt: Polykatoikia in Athen, Gececondu in Istanbul und Favela in Sao Paulo belegen die Überlegenheit des Dom-ino Bauprinzips nicht nur unter ökonomischen Betrachtungen. Als Regal bietet es ideale Voraussetzungen für eine Funktionsmischung, Reserveflächen schaffen eine aneignungsoffene Grundlage für Weiter-, Um- und Ausbau. Die offene Grundstruktur ermöglicht eine flexible Nutzung über einen langen Zeitraum. Grundbau und Siedler überträgt das Prinzip Dom-ino auf den deutschen Energiestandard und bietet in fünf Geschossen zehn gestapelte Parzellen in Eigentum und Miete zum Selbstausbau. Preisgünstiger, zentral gelegener Wohnraum ist rar in deutschen Metropolen. Die deutsche Gesellschaft zerfällt räumlich wie ökonomisch. Die weniger Wohlhabenden werden immer weiter an die Ränder gedrängt. Der leere Grundriss soll selbstbestimmtes Handeln ermöglichen. Er soll Projektionsfläche für die Wünsche bisher marginalisierter Gruppen werden.

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Abb. 17: Einrichtungsmodell mit Baukasten

Das Modell (Abb. 17) ist nicht als Präsentationsmodell gedacht, sondern als Werkzeug zur Planung. Der als Raumsystem entworfene Grundriss legt keine Raumnutzungen fest. Jeder Raum besitzt Verbindungen zu den benachbarten Räumen, es wird nicht in Erschließungsräume und Nutzräume unterschieden. Flexibilität entsteht durch Benutzung und nicht durch Umbau. Nutzungsoffene Räume innerhalb einer flurlosen Grundrissstruktur verlangen vom Siedler, den eigenen Raum interpretierend selbst zu erobern. Das Modell ermöglicht ein spielerisches Austesten von Grundrissfüllungen. Im Konfigurationsmodell im Maßstab 1:50 erproben die Siedler, welche Nutzungsvarianten sinnvoll für sie sind. Dazu dienen ihnen Möbel, die Raumnutzungen symbolisieren. Trennungen zwischen den Räumen werden durch Gipskartonelemente in den Türöffnungen hergestellt. Der Entwurf der eigenen Wohnung soll Spaß machen. Das Problem partizipatorischer Projekte (das Beispiel Ottokar Uhl: Wohnen mit Kindern, Wien, 1980–1984 16 Wohnungen, 11 unterschiedliche Raumhöhen zwischen 2,50 und 3,40 m, 123 Gruppensitzungen, 20 Baustellensprechstunden und 131 Einzelberatungen ist den Architekten aus der Literatur bekannt, Architekturzentrum Wien, 2005) liegt in dem für den Planer schwer abschätzbaren Aufwand von konsensualen Entscheidungen in einer großen Gruppe von Nichtfachkundigen. Der Abstimmungsprozess mit den

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Abb. 18: Grundriss voll

Bauplanenden im Projekt Grundbau und Siedler ist sehr einfach, es gibt einen mehrstündigen Workshop pro Siedler in Hamburg, an dem das Projekt erläutert und erste Grundrissentscheidungen getroffen werden, die weitere Kommunikation erfolgt über das Telefon und per E-Mail. Jede Einheit ist für ihre baurechtliche Dämmung verantwortlich. Dies ermöglicht eine lange Bauphase und die Unabhängigkeit aller Einheiten voneinander. Die Außenwand und Freibereiche können in ihrer Form und Lage frei bestimmt werden. Es muss keine Abstimmung der Parteien untereinander erfolgen, dies beschleunigt den Abstimmungsprozess. Nicht der leere Grundriss ist eine Manifestation im Entwurf, sondern der volle. Das Projekt Grundbau und Siedler zeigt, dass Bauplanende viel von Vorbildern lernen. Ein von einem anderen Siedler gewählter und schon in Ausführung befindlicher Grundriss hat größeren Vorbildcharakter, als die in Wahlmöglichkeiten aufgezeigten Grundrissalternativen der Architekten. Der Freiheit der eigenen Entscheidung ist schwieriger nachzukommen als der Nachahmung. So sind mehrere Wohnungen nach dem Vorbild des ersten Siedlers (hierarchisierter Grundriss mit repräsentativen Wohnesszimmer und offener Küche und kleinen Schlafzimmern) ausgeführt (Abb. 18). Das offene Raumsystem der Architekten wurde nur bei zwei Wohnungen gewünscht.

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Abb. 19: Handbuch

Vergleichbar mit dem 1:1 Modell Rationator wird auch der Grundbau zu einem Objekt des Sichtbarmachens. Der Grundbau enthält alles, was man zum Bau und Betrieb einer Einheit braucht. Die Siedler können vom ersten Tag an ihre Werkstatträume benutzen und von dort aus die eigene Baustelle betreiben. Der Grundbau ist mit einem Geländer versehen, alle Anschlüsse liegen auf den jeweiligen Parzellen, das Treppenhaus und der Aufzug stehen bereit. Ein Gerüst ist nicht notwendig, alle Arbeiten der Siedlers können auf dem 70cm breiten Balkonstreifen ausgeführt werden. Die Siedler erwerben einen kompletten Bausatz zur Herstellung einer typischen Siedlerwohnung. Im Bausatz ist das gesamte Baumaterial enthalten. Die Details des Hauses sind so gewählt, dass sie eine gewisse Fehlertoleranz besitzen. Die Decken sind wasserdicht, macht man etwas falsch, regnet es beim Nachbarn nicht hinein. Wer möchte, kann die Empfehlungen und die Ausstattung des Bausatzes ignorieren und improvisieren. Das beim Kauf der Wohnung miterworbene Handbuch (Abb. 19) umfasst 200 Seiten. Neben grundsätzlichen Erläuterungen (Bautagebuch, Schlauchwaage, rechter Winkel) erklärt das Handbuch kapitelweise den Bau der eigenen Wohnung.

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Abb. 20: Fassadenvarianten

Die Kapitel des Handbuches sind chronologisch nach dem Bauablauf geordnet, es beginnt mit der Außenwand, geht über Innenwände, Sanitärinstallation zu den Oberflächenbearbeitungen. Jedes Kapitel gibt eine Übersicht über die benötigten Werkzeuge und erklärt schrittweise pro Seite sinnvoll die wichtigsten Arbeitsschritte. In der Fußzeile sind weitere Hilfen wie youtube-Filme oder Hilfsvideos der Hersteller oder Lieferanten angegeben. Das letzte Kapitel beschreibt eingebaute Umbauoptionen wie die Montage von einer Wintergartenverglasung oder die Montage von Spaliergittern für den umlaufenden Arbeitsraum, der zum Balkon wird. Im Entwurfsprozess des Hauses spielt die Fassade eine wichtige Rolle. War es im Wettbewerb die unfertige raue Außenhaut, die provoziert hat; wandelt sich das Verständnis der Fassade im Verlauf des Projektes ins Gegenteil. Am 13. Oktober 2011 zeigen die Architekten Hamburgs Oberbaudirektor Jörn Walter verschiedene Außenperspektiven als Varianten auf Karton (Abb. 20). Die Internationale Bauausstellung steht zu diesem Zeitpunkt in der Kritik, Gentrifizierung in Wilhelmsburg voranzutreiben. Das Projekt Grundbau und Siedler wird zum Anti-Gentrifizierungsprojekt, das die öffentliche Meinung beeinflussen soll. Dafür sollen die Fassaden, so Jörn Walter wörtlich, „wild“ sein. Die vorher von den IBAVerantwortlichen präferierte Variante oben rechts, wird nun ausgeschlossen.

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Abb. 21: BeL, Fassade, 2012

Die Verhandlungen mit den Siedlern zeigen, dass niemand eine individualisierte Fassade möchte. Der Wunsch nach einer gemeinsamen Hülle des Hauses ist stärker als der Wunsch nach eigenem Ausdruck. Die Siedler sehen sich als Teil einer Gemeinschaft, die Architekten sollen die Fassade für alle entwerfen. Die Architekten kommen dem Wunsch nach Gemeinsinn nach. Das Haus erhält eine Fassade aus massivem Mauerwerk, mit Besenstrichputz und Fenstertüren, die in einem gleichmäßigen Raster sitzen. Das Rendering (Abb. 21) zeigt den Siedlern, was sie mit dem Bewegungsraum machen können. Sie dürfen Sonnenschutz oder Balkonverglasungen montieren, die Außenwand mit Spalier versehen oder die Montagebohrungen der Fangnetze zur Bepflanzung nutzen. Zwei Jahre nach dem Erstbezug entwickelt das Gebäude langsam ein auch von außen sichtbares Eigenleben (Abb. 22).

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Abb. 22: Fassade nach zwei Jahren.

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WIRKLICHKEITSMODELLE Josef Beuys Arbeit „Wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt“ aus dem Jahr 1965 dient uns in unserer Arbeit als Architekten als Referenz. Am 26. November 1965 verschließt Josef Beuys die Türen der Galerie Schmella in Düsseldorf von innen. Mit vergoldeten Gesicht und Honig bestrichenem Schädel, einer Filzsohle am rechten und einer Stahlsohle am linken Schuh erläutert er einem toten Feldhasen drei Stunden lang die Ausstellung. Er hält den Hasen liebevoll im Arm, legt ihn über die Schulter, bewegt Ohren und Läufe und spricht mit ihm. Nach drei Stunden werden die vor der Tür wartenden und durch die Fenster zuschauenden Ausstellungsbesucher eingelassen. Beuys setzt sich mit dem Hasen in Pieta-Haltung auf einen Hocker. An dieser Aktion erscheint die große Empathie gerade angesichts der unmöglichen Verständigung (sowohl tot, als auch mit einem scheinbar nichtvernunftbegabten Wesen) bemerkenswert. Beuys Aktion fordert sowohl die eigene Verzweiflung angesichts eines Nichtverstehens des Anderen, als auch eine Weiterführung des zehrenden Verständigungsprozesses heraus. Der Abbruch der Verständigung zwischen Architekten und Bauherren und die Möglichkeit zynischer Überheblichkeit droht allgegenwärtig, denn als Architekt weiß man es natürlich besser. Der Prozess erfordert immer wieder das Korrektiv eines mitfühlenden und -denkenden Miteinanders. Eine Beuys Aktion stellt die These auf, dass das eigene empathische Handeln einem größeren Ziel dient. Im Ringen um die gegenseitige Mitteilung aller Entwurfsprozessbeteiligten entstehen durch die gewählten Kommunikationsmittel Wirklichkeitsmodelle, die zu einer geteilten Wirklichkeit führen sollen. Erst in der größtmöglichen Kongruenz der Vorstellungen der Beteiligten können Inhalte sinnvoll beschlossen und spätere Enttäuschungen vermieden werden. Im Laufe der 15-jährigen Praxis des Architekturbüros BeL ist ein Repertoire an Kommunikationsformen entstanden, das keinesfalls vollständig ist, sondern in jedem neuen Entwurfsprozess erweitert, reduziert oder modifiziert wird. Vielleicht ist das Erkennen wichtiger Entscheidungsmomente schneller geworden, vielleicht ist die eine oder andere Strategie mit fremdem Zutun verfeinert worden; das Lernen im Tun wird fortgesetzt.

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Epilog

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Das Drama der Architektur in einer Welt der Daten LUDGER HOVESTADT

PRELUDE Nehmen Sie Platz! Lassen Sie uns über Architektur reden. Eine neue Architektur in der Welt der Daten. Wir: berauscht von den Möglichkeiten der Daten. Trunken vom Internet, den Medien, peer-to-peer, social-media, object oriented ontology, der NSA oder Snowden. Die Liste endlos lang. Schauen wir uns um: Viele Protagonisten bieten sich für unser Spiel an. Wer könnte den dionysischen Part spielen? Die Rolle der Ökonomie der Daten vertreten? Kim Dotcom, das korpulente, wilde, opake Tier? Wäre nicht schlecht. Viel Aktion und Geschäft, aber zu wenig Text. Lieber wollen wir jemanden suchen, der substantiell schreibt. Lassen wir Manuel De Landa sprechen und stellen seine „Philosophy and Simulation – The Emergence of Synthetic Reason“ auf die Bühne: De Landa: „…philosophy can be the mechanism through which these insights

can be synthesized into an emergent materialist world view that finally does justice to the creative powers of matter and energy.“1

1

De Landa (2011), S. 6.

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MANIFESTATIONEN IM ENTWURF | Epilog

Stark, kräftig, unbeirrt, fruchtbar. Er stürmt mit großem Ethos auf offener Ebene los und will uns sofort mitnehmen. So wie wir es mögen für diese Rolle. Und wer kann als Gegenspieler in appolinischer Rolle die Politik der Daten vertreten? Julian Assange, das scheue, empfindsame, transparente Subjekt? Aber zu De Landa passt besser die „Active Network Theory“, präsentiert von Bruno Latour. Latour:

„At every corner, science, religion, politics, law, economics, organizations, etc. offer phenomena that we have to find puzzling again if we want to understand the types of entities collectives may be composed of in the future.“2

Er ist von der richtigen Vorsicht. Aber es riecht nach Aufstand. Mit Latour können wir Abenteuer im Dschungel erleben und er stimmt uns auf eine Moral der Geschichte ein. In ihm vermuten wir eine gute Gegenfigur zu De Landa. Jetzt hören wir große Wortgefechte. Es geht ums Ganze: Gerechtigkeit gegen Aufklärung. Kreativität von Materie und Energie gegen die Komposition des Kollektivs. Wir erwarten ein schönes Spektakel. Michael Serres wird auftreten und eine schlichtende Position einnehmen können. Serres:

„All living beings and all inert objects, in short, all of Nature have in turn become legal subjects.”3

Und auch wir stellen uns kurz vor: Natürlich teilen wir das Interesse an den Versprechen unserer Protagonisten. Natürlich schauen wir von unseren bequemen Sitzen aus der Distanz und lassen die Protagonisten auf der Bühne spielen. Und natürlich sind wir betroffen, denn wir schwimmen in Daten, wie auch unsere Protagonisten. Und natürlich haben wir unsere Zweifel, denn sonst wären wir nicht hier. Werden wir etwas hören können, mit dem wir lernen können, wie die wilde Welt der Daten zu zähmen ist? Dem Materialismus – würden wir z.B. De Landa entgegenhalten – geht es, wenn wir uns nicht sehr täuschen, um Emanzipation, nicht um Gerechtigkeit. Denn der Materialismus ist bereits gerecht. Wir würden sogar sagen, der Materialismus ist gerecht

2

Latour (2005), S. 248.

3

Serres (1995), S. 95.

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und auf dem Weg zur Erlösung. Wovon? Von der Gerechtigkeit! Anders als so präzise und hart wollen wir nicht argumentieren, wenn es ums Selbst und das Ganze geht. „Materialismus oder Gerechtigkeit“ ist daher unser Ausruf. De Landas „Materialismus und Gerechtigkeit“ lässt uns dagegen im mechanischen Widerspruch heiß laufen. All das haben wir in den letzten 100 Jahren schmerzhaft erleben müssen. Ja, darüber kann man trefflich streiten. Oder: Phänomene – wir wollen argwöhnen, dass dieser Begriff im Sinne von Edmund Husserl gebraucht wird –, würden wir Latour entgegnen, sind freigestellt und emanzipiert und sie widersetzen sich daher einem angemessenen Verständnis und einer gerechten Typisierung. Wir können lernen mit Phänomenen umzugehen, mit ihnen zu jonglieren zum Beispiel. Aber wir können mit ihnen keine Kollektive bilden, weil sie von jedwedem Kollektiv emanzipiert sind. Deswegen bedeutet ein Kollektiv aus Phänomenen ein bedeutungsvolles Zerstäuben der Welt ins entropische Nichts. Also unser Ruf „Phänomen oder Kollektiv“ gegen Latours Gleichung „Phänomen und Kollektiv“. Nach diesen kurzen Vorstellungen fühlen wir uns komfortabel mit unserer Besetzung De Landa und Latour. Ein guter Kontrast in klassischen Rollen. Ja, ihr wollen wir vertrauen und Vorschuss geben. Lassen wir also unsere Helden auftreten und schauen wir zu, wie sie die Drachen der unbändigen Fruchtbarkeiten und Virilitäten in einer Welt der Daten auf unserer Bühne reiten werden.

DIONYSOS UND DIE SCHÖPFUNG Von De Landa hören wir das verführerische Lied der Kybernetik. De Landa: „Ich möchte der ‚creative powers of matter and energy‘ zu ihrem

Recht verhelfen. Ich möchte, dass ‚life‘, ‚mind‘ und ‚diety (not ‚god‘)‘ in die ‚materialistische Weltsicht‘ ‚synthetisiert‘ werden können. Ich verlasse dafür den einen ‚continuous space‘ der klassischen Physik und spreche von einem ‚space of possibilities‘ und sehe, dass diese neuen Räume verschiedene ‚structures‘ haben. Deswegen sehe ich auf der einen Seite die ‚well-definied spatial structures‘ des ‚continuous space‘ der ‚classical physics‘, die ‚investigated mathematically‘ werden können und die ich als ‚regime of flows‘ bezeichnen möchte. Und ich grenze ihn klar ab von dem ‚discrete space‘, der ‚possessing no inherent spatial order

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MANIFESTATIONEN IM ENTWURF | Epilog

but nevertheless capable of being studied through the imposition of a certain arrangement.‘ In ihm können ‚discontinuities‘ ‚emergieren‘, wie z.B. im ‚space of possibilities‘ der Gene.“4 Ein starkes Plädoyer für das Leben! Gerne stimmen wir zu. Ja, wir wollen das Leben und den Intellekt besser verstehen lernen. Ja, auch wir sind fasziniert von den Diskontinuitäten, die das Leben und das Denken heute einzig interessant machen. Ja, wir wollen reichhaltige Identitäten. Richtig würden wir auf den ersten Blick sagen. Jedoch: Warum hören wir den Begriff „space of possibilities“, der uns aus dem Spiel der Thermodynamik des 19. Jahrhunderts bekannt ist, also 100 Jahre bevor der Begriff der Daten aufkam. Und warum wird nicht der Begriff der „probabilities“ in Szene gesetzt, um in das Konzert der Quantenphysiker5 im 20. Jahrhundert im Einklang mit dem Begriff der Daten einzusteigen? Oder: warum wird der Raum der klassischen Physik als kontinuierlich charakterisiert, wo doch der Begriff der Kontinuität gerade die Mannigfaltigkeiten des Riemann’schen Raumes6 beschreibt. Kontinuität ist das mathematische Konzept für die diskreten Räume und das Unvorhergesehene. Warum also spricht De Landa der Mathematik ab, Diskontinuitäten beschreiben zu können, indem er sie zusammen mit der klassischen Physik als kontinuierlich und vorhersehbar einordnet? Einen verwegenen Charakter haben wir da auf der Bühne. Wir hören interessiert weiter zu. De Landa: „Besonders diesem neuen Raum gilt mein Interesse. Deswegen

kann ich statt von einfachen physikalischen, mathematischen ‚parts‘ von ‚whole of identities’ sprechen und arbeite mit den Begriffen ‚possibilities‘, ‚capacities‘ und ‚tendencies‘. ‚Armed with a richer concept of mechanism [richer as a ‚linear clockwork‘, ‚human technologies‘ as ‚steam engines‘ thermostats, transistors] the emergent properties of a whole can now be explained as an effect of causal interactions between its component parts.“7

4

Zusammenf , freie Übersetzung des Autors aus dem Englischen. De Landa (2011) S. 5f.

5

Feynman (1985).

6

Riemann (1854/1873).

7 Zusammenf., freie Übersetzung des Autors aus dem Englischen. De Landa (2011), S. 2–6.

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Auch hier möchten wir bei aller Sympathie für die Bedeutung dieser Denkfiguren bemerken, dass die mathematischen Konzepte des Infinitesimalen und der Konvergenz mühelos De Landas „Raum der Möglichkeiten“ aufspannen und seine Begriffe von „possibilities“, „capacities“ und „tendencies” unmittelbar abdecken. Und wir hören überrascht zu, wenn De Landa versucht, mit Möglichkeiten Rechte der Identitäten gegenüber den Kontinuitäten einzufordern. Denn wir denken, dass in der Mathematik genau anders herum gedacht wird: Die Kontinuitäten (in der Mathematik seit etwa 1872 8) sind der Ausweg aus den entropischen Nivellierungen des Raumes der Möglichkeiten (in der Mathematik seit etwa 1780 9). Und wir resümieren etwas amüsiert, dass De Landa uns recht akrobatisch das Neue für Alt und das Alte für Neu vorführt. Und hier das Finale von De Landas Auftritt: De Landa: „Dabei stellt sich als wertvoll heraus, dass neither tendencies nor

capacities must be actual to be real.10 Und deswegen stelle ich die Frage: How we could specify mechanisms of emergence for life or mind in general?“11 Ja, das ist ein schöner Gedanke, dass etwas nicht faktisch sein muss, um real zu sein. Aber wir finden uns mit diesem Gedanken schon wieder im 18. Jahrhundert, denn dieses Denken über Rationalität und Realität würden wir an den Beginn der Aufklärung setzen.12 Auch stolpern wir über das „Leben und Denken im Generellen.“ Mit dem Generellen wird das ideale entropische sympathetische Ausnivellieren aller Unterschiede bezeichnet und damit der Tod alles Lebens. Was interessanterweise Ende des 19. Jahrhunderts zum Begriff der Diskontinuität und damit zu De Landas Anliegen geführt hat.13Wir finden

8

Dedekind (1872); Dedekind (1963). Der Unterscheidung in Ganze Zahlen, in Brüche, in Rationale und Reele Zahlen folgt Weyl (1918/1987).

9

Z.B. Lavoisier (1783). Le texte de 1783 ne sera publié dans les Mémoires de l’Académie royale des sciences qu’en 1786. Z.B. Fourier (1808/1822).

10 De Landa (2011), S. 186. 11 Ebd., S. 3. 12 Leibniz (1951); Leibniz (1961); Leibniz (2001). 13 Der Begriff der Generalisierung wird sogar direkt in objektorientierten Programmier­-

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MANIFESTATIONEN IM ENTWURF | Epilog

uns also mit De Landa etwas orientierungslos und verstrickt in Begriffen und alten Zeiten. Gerne wollen wir sein Anliegen teilen, aber es scheint uns etwas unpräzise und verworren. Deswegen werden wir vorsichtig sein, wenn wir ihm folgen. Aber so ist nach der Einleitung sein Buch organisiert: De Landa: „Chapter One: The Storm in the Computer. Chapter Two: Cellular

Automata and Patterns of Flow. Chapter Three: Artificial Chemistries and the Prebiotic Soup. Chapter Four: Genetic Algorithms and the Prebiotic Soup. Chapter Five: Genetic Algorithms and Ancient Organisms. Chapter Six: Neural Nets and Insect Ingelligence. Chapter Seven: Neural Nets and Mammalian Memory. Chapter Eight: Multiagents and Primate Strategies. Chapter Nine: Multiagents and Stone Age Economics. Chapter Ten: Multiagents and Primitive Language. Chapter Eleven: Multiagents and Archaic States.“ Wow! Unverhohlen eine technische Genesis. Der Sturm, „Cellular Automata, Genetic Algorithms, Neural Nets“ und „Multiagents“ korrelieren mit „Patterns of Flow, Prebiotic Soup, Ancient Organisms, Insects, Mammals, Primates, Economy, Language“ und „Politics.“ Wir als Krone der Schöpfung. Was wird Latour dazu sagen? Noch erinnern wir uns. Einleitend hatte De Landa ausgeführt: De Landa: „whole can now be explained as an effect of causal interactions

between its component parts“ und „‚life‘, ‚mind‘ und ‚diety (not ‚god‘)‘ in die ‚materialistische Weltsicht‘ ‚synthetisiert‘ werden“.14 Wir sehen diese Schöpfung als ein kausales Instrumentarium beschrieben. Und De Landa kokettiert damit, dass dieses Instrumentarium, von ihm Simulation genannt, eben endlos tief in selbstbezüglichen Rekursionen geschachtelt ist und das Leben dadurch zwar nicht erfasst, ihm aber gerecht werden kann. Man kann es auch anders formulieren: Dass das Aufbauen des

sprachen benutzt, um von der vielfältigen Aktualität der „lebendigen“ Instanzen zu abstrahieren. Search e.g. for UML Generalization. 14 De Landa (2011), S. 5, 6.

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Instrumentariums die Gerechtigkeit selbst respektive das Leben ist. Das Instrumentarium inkorporiert daher mit Recht immer mehr ungerechte Welt – ein Mahlstrom der Gerechtigkeit. Die Erlösung würde darin bestehen, alle Welt als gerecht instrumentalisiert zu haben und das Leben, befreit von Ungerechtigkeit, als reines Spiel auf der Welt als Instrument zu sehen. Wir reiben uns erstaunt die Augen und sagen etwas zögerlich: gut gespielt, aber: nehmen wir das Leben, die „whole of identity“, wenn es von seinen Komponenten über deren Zusammenspiel erlöst ist, dann können wir das „Ganze“ auch als das bezeichnen, „was keine Teile“ hat. Und wir sind unmittelbar bei Leibniz, der mit seiner Monadology so beginnt: „§. 1. Die Monaden / wovon wir allhier reden werden / sind nichts anders als einfache Substanzen / woraus die zusammen gesetzten Dinge oder composita bestehen. Unter dem Wort / einfach / verstehet man dasjenige / welches keine Teile hat.“15

Und dann in wenigen Sätzen die Figuren beschreibt, die uns De Landa aufführt. Leibniz markiert damit die Infinitesimalrechnung, die Geburt der Rationalen Zahlen, den Beginn der Aufklärung und den Universal Calculus. Wir befinden uns also im 18. Jahrhundert und am Beginn dessen, was wir heute Daten nennen. Irgendetwas Grundlegendes müssen wir mit der Aufführung dieser Form von Simulation übersehen haben. Eine interessante Form von Gerechtigkeit wurde uns da präsentiert: eine Gerechtigkeit, die darin besteht als Menschen zu vergessen, was unsere Maschinen können. Ein hoher Preis der Gerechtigkeit. Alle Macht den Maschinen!

APOLLO UND DIE ERLÖSUNG Jetzt aber tritt Latour auf und er spricht ganz anders. Er sagt, wir seien alle gleich. Er klagt sie alle an und mahnt: Latour:

„Science, religion, politics, law, economics, organizations, etc. are drunk with power. Be sober with power!”16

15 Leibniz (1714). 16 Latour (2005), S. 260.

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MANIFESTATIONEN IM ENTWURF | Epilog

Da fragen wir noch einmal nach: nicht um Gerechtigkeit, sondern um das Ausnüchtern nach dem Delirium soll es gehen. Sogar ein eher hygienisches Anliegen können wir vernehmen: Latour:

„...detoxification of the powerful explanations of critical sociology.”17

Und natürlich geht es auch bei Latour ums Ganze: ein „engage in cosmopolitics” und eine „Politics of Nature.“ Auf neuem, gesäubertem Grund wird die „freshness of the results” versprochen. Donnerwetter: vorhin eine Schöpfungsgeschichte, jetzt ein kristallklares Erlösungsversprechen. Ein Gruß aus dem Paradies. Wir werden neugierig. Was müssten wir tun, um erlöst werden zu können? Wir alle sollen politisch werden: Latour:

Wir: Latour:

Wir: Latour: Wir: Latour:

„Politics is too serious a thing to be left in the hands of the few who seem allowed by birthright to decide what it should consist of.”18 „Ein schönes Spektakel: nieder mit den Aristokraten! Auf die Barrikaden!“ „An invisible agency that makes no difference, produces no transformation, leaves no trace, and enters no account is not an agency. Period.19 No battle has ever been won without resorting to new combinations and surprising events.“20 „Und hier die Parolen:” „To put it bluntly: if there is a society, then no politics is possible.”21 „Und hier die Paläste:“ „the great danger of critical sociology is that it never fails to explain. Sie ‚paralyzes you in times of crisis‘ und sie haben ‚disseminated their definition of society as effectively as utility companies deliver electricity and telephone services.‘ Nieder mit der

17 Ebd., S. 261. 18 Ebd., S. 253. 19 Ebd., S. 53. 20 Ebd., S. 252. 21 Ebd., S. 250.

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Ludger Hovestadt | DAS DRAMA DER ARCHITEKTUR IN EINER WELT DER DATEN

‚formating power of the social sciences‘, mit ‚power, domination, exploitation, legitimization, fetishization, reification‘.“22 OK, das könnte Spaß machen. Wie können wir mitmachen? Latour führt mehrere Begriffe ein: the association, the surprizing movement, the social-actor (participant) and the non-social entity (might be a participant later), the assemblance, the collective, the one common world. Und Latour bringt sie auf die Bühne: Latour:

„the question of the social emerges when the ties in which one is entangled begin to unravel; the social is further detected through the surprising movements from one association to the next; those movements can either be suspended or resumed; when they are prematurely suspended, the social as normally construed is bound together with already accepted participants called ‚social actors‘ who are members of a ‚society‘; when the movement toward collection is resumed, it traces the social as associations through many non-social entities which might become participants later; if pursued systematically, this tracking may end up in a shared definition of a common world, what I have called a collective; but if there are no procedures to render it common, it may fail to be assembled; and, lastly, sociology is best defined as the discipline where participants explicitly engage in the reassembling of the collective.“23

Wir wollen zusammenfassen: es gibt eine Welt vor der „sozialen Partizipation.“ Und diese Welt wird von „surprizing moments“ von „non-social entities“ über „traces“ konstituiert. Diese Entities „define“ als politischen Akt ein „collective.“ Dieses Kollektiv ist der politische Körper vor jeder Gesellschaft, die die (ökonomische) Macht verkörpert. Deswegen stellt Latour die Frage „can we live together?“ vor die Frage „how many are we?“.24 Wie, schlägt Latour vor, sollte diese Politik aussehen, die vor die Wissenschaft gestellt

22 Ebd., S. 248ff. 23 Ebd., S. 247. 24 Ebd., S. 254.

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MANIFESTATIONEN IM ENTWURF | Epilog

wird? Die Antwort macht er an dem Begriff der Kritik fest. Und diese Kritik wendet er nach innen: „Critical proximity, not critical distance, is what we should aim for.”25 Wenn wir diese Bewegung genauer bedenken, kommen uns Zweifel, ob wir an dieser Stelle weiterkommen können: Kritik endet in der Entropie, der Balance von allem, davon wollen wir ausgehen, die invertierte Kritik würde daher im Nichts vor allem enden. Das können wir dann schließen. Und tatsächlich entsprechende Äußerungen Latours in dem dieses Nichts im Gewand der Einfachheit und Flachheit daher kommt: Latour:

Wir:

Latour:

Wir: Latour:

Wir:

„Borrowing a metaphor from cartography, I could say that ANT has tried to render the social world as flat as possible in order to ensure that the establishment of any new link is clearly visible.“26 „Das Paradies ist jungfräulich leer. Bereit für die erste Linie. Wow. Die eine, gemeinsame Welt reduziert auf reine Sichtbarkeit vor jedem Gedanken. So hört sich das an:“ „Whereas the tradition distinguished the common good (a moralist concern) and the common world (naturally given), I proposed replacing ‚the politics of nature‘ by the progressive composition of one common world.“27 „Putzen bis nichts mehr da ist. Und jetzt fängt es an ungemütlich zu werden:“ „To grasp this point, we have to remember that being a matter of fact is not a ‚natural‘ mode of existence but, strangely enough, an anthropomorphism. Things, chairs, cats, mats, and black holes never behave like matters of fact; humans sometimes do, for political reasons, to resist enquiries. So it’s absurd to resist ‚treating humans like objects‘.“28 „Wir befürchten, dass nichts übrigbleibt bei dieser Entgiftungs­ ­aktion.“

25 Ebd., S. 253. 26 Ebd., S. 16. 27 Ebd., S. 254. 28 Ebd., S. 255.

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DAS DRAMA DER DATEN Das war eine starke Vorstellung: der Wirbelwind der Gerechtigkeit und der Saubermann auf Erlösungstour. Jetzt sind wir dran. Wir sollen und wir wollen mitspielen. Natürlich. Aber wie in diesem Stück? Latour sagt, ich wiederhole mich: Latour:

„Wir sind alle Akteure, auch die Steine sind Akteure. Wer nicht agiert, keine Spuren in der Welt hinterlässt, ist kein Akteur. Und natürlich müssen Akteure überraschen, und neue Spuren finden, um gesehen werden zu können.“

OK, Latour rät uns Spuren in dieser Welt zu hinterlassen. Nichts leichter als das! Legen wir also los! Halt! würde Latour sagen: wir haben nur eine Welt und wir sind viele. Wir müssen uns vorher in Kollektiven gemeinsamer Vorstellungen von Welt sammeln, bevor wir Spuren erzeugen. Wir wollten gerade loslegen und jetzt das. Ja, die interessanten Dingen passieren sowieso im Kopf beruhigen wir uns. Deswegen werden sich meine Gedanken vielleicht irgendwann zeigen, aber jetzt sind sie nicht die Spur sichtbar. Was willst du überhaupt? Und zu fordern Kollektive zu bilden und Spuren nur dann zu legen, wenn möglichst viele zustimmen? Da bleibt nicht viel zu sagen und zu zeichnen außer Banalitäten, die sowieso schon jeder kennt. Die schönen neuen Gedanken kann ich da nur für mich behalten und gar nicht erst aufführen. Im Kollektiv, in der Zustimmung kann nichts zugemutet werden. Alle beschweren sich sofort und sind sich genau darin einig. Ich soll deswegen stumm bleiben und nur mitsingen können im großen Chor? Agieren ja, unbedingt, aber nur im Ganzen? Nicht sehr attraktiv diese Vorstellung für einen Architekten. Da muss es etwas anderes geben. Wir schauen lieber zu De Landa: Er spricht von De Landa: „...wholes of identities.“

Und er sagt, dass diese Ganzheiten interessanterweise nicht durch das Agieren entstehen (emergieren), sondern durch das Interagieren ihrer Teile (die natürlich selber wieder Ganzheiten sind). Das Ganze entsteht als Effekt von kausalen Interaktionen der Teile.

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MANIFESTATIONEN IM ENTWURF | Epilog

Wir:

„Wenn wir also mit unserem Gegenübern wiederholt kausal interagieren, was immer das ist, entsteht ein Ganzes, eine Identität. Also können wir loslegen und ein Kollektiv bilden, indem wir kausale Spuren legen.“

Wir gehen rüber zu Latour und sagen ihm Wir: Latour:

„Wir lassen die Maschinen los!“ „Was für ein Unsinn, wir haben nur eine Welt, das könnt ihr nicht machen. Die Welt ist schon jetzt viel zu eng.“

De Landa beschwichtigt: De Landa: „Alles halb so wild. Wir simulieren die Identitäten und unsere

Welten ja nur im Labor.“ „Das können wir mit Latour nicht recht glauben. Jeder Gedanke und jede Simulation will in der Realität Spuren hinterlassen.“ De Landa: „Seht ihr denn nicht...die Simulation ist die materialistische Weltsicht. Die simulierten Spuren sind die Spuren der einen logischen Welt des All-Kollektivs. Schaut doch hin. Seht ihr denn nicht, die Daten im Labor sehen aus wie die Stürme, die Zellen, die Insekten, die Primaten, die Politik … in der Natur, die also offensichtlich aus kausalen Interaktionen emergieren. Das sind die Spuren für die eine Welt, die du suchst, Latour.“ Wir:

Und zu uns: De Landa: „Also sagt etwas Vernünftiges.“

Und der Chor setzt an zum wilden Durcheinander im gemeinsamen Glauben daran, dass Identitäten entstehen, wenn nur alle lange genug keinen Unsinn erzählen. Ufff. Nach diesem Spektakel stehen wir tatsächlich erst einmal ratlos da. Latour:

„Ohne Ganzes keine Aktion. „

De Landa: „Ohne Interaktion kein Ganzes.“ Wir:

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„Mit Latour fühlen wir uns steif und ernüchtert, bei De Landa unangenehm funktionalisiert.“

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DIE MUSIK So kommen wir nicht weiter. Gehen raus. Ein Fest, Tanzen, Essen, Wein. Das ist alles zu erdenschwer, sagen wir zu unserem fremden Gegenüber - es erwidert und lacht - und schnell werden wir leichter, die Stimmen heller und schneller, berauscht, singen fast… Jetzt hören wir dort unten Latour etwas agitativ sagen, dass wir immer wieder agieren müssen, um eine Situation politisch zu stabilisieren. Ja, dass kennen wir, lachen wir unbekümmert zurück: ja, Töne verklingen schnell. Da braucht es viele Töne für gute Musik! Und so fliegen wir und üben uns in unseren Gedanken. Dann hören wir von hinten dich, De Landa, ungestüm tönen: De Landa: „The whole can now be explained as an effect of causal interacWir:

tions between its component parts.“ „Stimmt! Gut gedonnert Manuel!“

Die Dinge werden leicht, wenn sie nicht in der Ewigkeit kartiert werden, wenn wir sie klingen lassen können, weil wir ihnen buchstäblich Zeit geben. So werden sie lebendig. So bekommen sie einen Atem. So können sie sprechen lernen. Wer immer sie sind. So wird die Welt größer und freundlicher.

OHNE EIGENSCHAFTEN Also stellen wir unsere Helden in verschiedene Ecken unserer Bühne. Sie vertragen sich ohnehin nicht auf Anhieb. In dem jetzt offenen Raum zwischen ihnen wollen wir selbst spielen. Pythagoras hat eine Saite aufgespannt und mit dem Monochord seine Proportionen der neuen Welt erklingen lassen. Etwas dieser Art wollen wir auch versuchen. Nun kann das natürlich nicht direkt ein griechisches Theater sein bei dem die Ratios die Helden und Götter zähmen. Es können auch nicht, wenn wir genauer überlegen, die Eigenschaften sein, die die Charaktere von Shakespeare ordnen. Hier haben wir jedoch Identitäten – dieser Begriff scheint uns in diesem Zusammenhang angemessen – auf der Bühne. Das haben uns Latour und De Landa, auf verschiedene Weise zwar, aber eindringlich zu verstehen gegeben. Apropos Eigenschaften und

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MANIFESTATIONEN IM ENTWURF | Epilog

Identitäten: könnte es sein, dass Musils „Mann ohne Eigenschaften“29 eine der frühen Identitäten ist, nach der wir suchen, wenn wir jemanden suchen, der keinen Charakter, also keine Eigenschaft hat? Also besser gesagt, der jedwede Eigenschaft haben kann. Also alles sein kann: Mensch, Frau, Mann, Tier, Maschine, Baum, Stein. Wie wir es ja schon irgendwie gehört haben von unseren Helden. Je nachdem. Wir winken ihn also herbei. Und so hören wir Ulrich, den Mann ohne Eigenschaften: Ulrich:

„Erstes Buch, Erster Teil, Eine Art Einleitung, Woraus bemerkenswerter Weise nichts hervorgeht. Über dem Atlantik befand sich ein barometrisches Minimum; es wanderte ostwärts, einem über Russland lagernden Maximum zu, und verriet noch nicht die Neigung, diesem nördlich auszuweichen. Die Isothermen und Isotheren taten ihre Schuldigkeit. Die Lufttemperatur stand in einem ordnungsgemäßen Verhältnis zur mittleren …”

Das klingt gut. Latour und De Landa in den Ecken der Bühne sind überhaupt nicht amüsiert. Was kann ein Materialist schon machen ohne Eigenschaften, denken wir uns. Ulrich:

„Das einzige, was man von einem Menschen wissen soll, ist, ob er unsere Gedanken fruchtbar macht. Es sollte keine andere Menschenkenntnis geben als diese! Nur das Geniale ist erträglich, und die Durchschnittsmenschen müssen gepresst werden, damit sie es hervorbringen oder gelten lassen! Alle Gefühle, alle Leidenschaften der Welt sind ein Nichts gegenüber der ungeheuren, aber völlig unbewussten Anstrengung, welche die Menschheit in jedem Augenblick macht, um ihre Gemütsruhe zu bewahren. Die Welt kann nur durch die Leute verbessert werden, die zu ihr im Widerspruch stehen.“

29 Musil (1930/1933/1943), S. 8f.

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Das hat etwas von dem Wind, den wir für unsere Bühne suchen. Etwas melancholisch zwar, mit dem Geruch eines Abgesangs der alten Welt der Eigenschaften, aber frei und den starren, kartierten Widerspruch unserer Helden medialisierend. Und Ulrich ist natürlich nicht der Einzige. Wir können vieles ohne Eigenschaften finden. Es springt uns jetzt geradezu entgegen: In der Architektur zu Zeit Ulrichs das Rot, der Marmor, der Chrom, die Wand, das Fenster, das Glas, der Raum … in neuer, aufregender Sprache, mit neuer Schrift und neuen Klängen. Die individuellen Subjekte drehen umeinander auf neuer Bühne, spielen die Melodie des offenen, freien, wilden, lebendigen Universellen. Brechen die Gewohnheiten, beschleunigen stampfende Rhythmen. Tanzen nackt im Sand am Meer. In der Architektur: Die Konstruktivisten, das Bauhaus, Le Corbusier und die anderen. Oder 50 Jahre später sind sie eingetaucht in die neue Welt: Sie laufen in schwarzen Anzügen über die freien Flächen zwischen Gebäuden aus Glas oder sitzen mit gekreuzten Beine benebelt auf offener Wiese und wippen zu wilder Musik. Kahn, Fuller, Superstudio und die anderen.

NATURAL CONTRACT Unser Spiel auf der Bühne wird lustiger! „Naiv, die Kriege, der Hunger, die Bombe!“ (aus seiner Ecke der Bühne.) De Landa: „Wir müssen es nur vernünftig machen.“ (von der anderen Ecke.) „Genau deswegen spreche ich von einem ‚world-objekt‘ und forSerres: dere einen ‚natural contract‘“30 Latour:

wirft plötzlich Michael Serres aus dem Publikum ein. Ihn kennen beide unserer Helden sehr gut. Lassen ihn sprechen. Der Gestus von Serres ist drängend und zugleich freundlich. Hören wir jetzt ihm zu: Serres:

„The successive crises of the sciences and their affiliated technologies, each of which, at the apex of its power, came close to mortal

30 Serres (1995).

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Wir: Serres:

Wir: Serres:

Wir: Serres:

danger – atom and bomb, chemistry and environment, genetics and bioethics – these crises bring back the demand for prudence, as the helmsman of what is effective and what is true.“31 „Das gefällt Latour. De Landa dagegen wirkt konsterniert.“ „A satellite for speed, an atomic bomb for energy, the Internet for space, and nuclear waste for time...these are four examples of world-objects.“32 „OK, heftige Objekte auf der Bühne. Da kommt das nächste:“ „I will call objective violence that in which all the enemies, unconsciously joined together, are in opposition to the objective world, which is called, in an astonishing metaphor, the ‚theater‘of hostilities.“ „Paff. Und jetzt wir, fast wie David gegen Goliath. Aber hören wir zu:“ „And as usual, the law follows death.33 History begins with war, understood as the closure and stabilization of violent engagement within juridical decisions. The social contract that gave birth to us is perhaps born with war to Violence before; war afterwards; legal contract in between.34 We must, therefore, once again, under the threat of collective death, invent a law for objective violence“.35

Es ist anstrengend, Gewalt und Tod so direkt angesprochen zu sehen. Aber wir ahnen, dass wir nicht wegschauen können. Und nach einer Weile stimmen wir zu: Wir: Serres: Wir:

„Wir müssen schlau sein und gute Verträge schreiben…“ „Legal subjects proclaim the rights of objects.“36 „…nur dann sind wir aktive Subjekte…“

31 Ebd., S. 93. 32 Serres (2006). 33 Serres (1995), S. 8. 34 Ebd., S. 13. 35 Ebd., S. 14 36 Serres (2006).

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Serres:

Wir: Serres:

„The relation between the subject of knowledge and its object … was understood that the active subject took information from the passive object.“37 „…in einer Welt von Objekten:“ „Object is ‚that which has been thrown or which one throws in front‘.“ 38

Dies ist jetzt unser zusammenfassendes Bild von der Szene: Die Natur gebiert im wörtlichen Sinne passive Objekte ohne Rechte in die Welt. Wir, als aktive Subjekte, sprechen den Objekten Rechte zu. In dieses Gefüge formuliert Serres nun die drängende Frage: Serres:

„Are world-objects lying in front of us?“39

Oder: welches aktive Subjekt hat das Recht einem Welt-Objekt Rechte zuzusprechen, um die objektive Gewalt zu kultivieren? Oder: ist das Welt-Objekt überhaupt passives Objekt oder aktives Subjekt? Serres fragt also: Serres:

„Who has the right to become a legal subject?“40

Also stehen wir betroffen auf der Bühne. Bisher hatten wir zwei Möglichkeiten Rechte zuzusprechen. Entweder wir als Subjekte debattieren über Objekte… Wir:

„Der ‚archaische Vertrag‘ entsteht aus der ‚Debatte‘ über die Objekte, er spricht von ‚legal reason‘, den ‚political laws of human collectivities‘ und ‚rules of contracts‘.“

…oder wir forschen nach den Regeln der Natur und fühlen dem Drachen auf den Zahn.

37 Ebd. 38 Ebd. 39 Ebd. 40 Ebd.

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MANIFESTATIONEN IM ENTWURF | Epilog

Serres:

„Im ‚Neuen Vertrag‘ dagegen ‚emergieren‘ die Subjekte ‚begleitet‘ von einem sozialen Vertrag in Form von ‚scientific reason‘, den ‚laws of the physical world‘ respektive den ‚rules of Nature.‘41 Mit diesen beiden Möglichkeiten können wir, so Serres, der objektiven Gewalt der technischen Welt-Objekte nur auf eine Art und Weise urteilen: wir müssen alle Objekte, die die Natur gebiert zu legalen Subjekten machen. Das nenne ich den Natural Contract: My book argues […] that all living beings and all inert objects, in short, all of Nature have in turn become legal subjects.“42

Interessanterweise nimmt Serres den Begriff der Ökologie nicht in den Mund, was Latour sehr ärgert. Aber weiter weiß auch Serres nicht. Was für uns aber wesentlich ist, und was wir bei unseren beiden Helden nicht finden konnten, dass es die Problemlage offen gehalten hat und nicht auf die eine oder andere Art und Weise geschlossen hat. Dadurch haben wir ein Gefüge von Begriffen auf der Bühne: Wir:

„world – object – violence – contract – subject – nature.“

Und mit diesem Geschirr können wir den Drachen fliegen, wenn wir schlau genug sind. Die Frage ist also von den Eigenschaften und den Funktionen in der horizontalen Ebene eines knappen Planeten in den Intellekt aufgerichtet worden. Latour und De Landa sehen etwas blass aus. Wir:

„Wir sind aktive Subjekte und führen eine Debatte.“

Dem stimmt Latour zu und hält es De Landa vor. Wir:

„Das Welt-Objekt ist aktives Subjekt und nicht reduziert auf seine Spur.“

Dem stimmt jetzt De Landa zu und hält es Latour vor. Was für De Landa und Latour ein Widerspruch ist, können wir im Gefüge von Serres zwar nicht sehr

41 Ebd. 42 Serres (1995), S. 95.

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Ludger Hovestadt | DAS DRAMA DER ARCHITEKTUR IN EINER WELT DER DATEN

genau explizieren, aber wir kommen weiter. Und damit haben wir eine Saite aufgespannt, zwischen den Positionen unserer Helden und können aufspielen. Und Serres verlässt mit diesem Appell an unsere Intellektualität die Bühne: Serres:

„We must learn our finitude: reach the limits of a non-infinite being. Necessarily we will have to suffer, from illnesses, unforesee able accidents or lacks but we must learn, at the same time, our true infinity. Nothing, or almost nothing, resists training. The body can do more than we believe, intelligence adapts to everything.“43

Ja, denken wir jetzt mit Serres. So schlecht ist es bisher nicht gelaufen. Trotz aller Katastrophen und Krisen in den letzten 100 Jahren können wir dennoch feststellen, dass es mit der Natur nicht so schlecht gelaufen ist: Wir sind viele geworden. Für viele zu viele. Für die alte Welt der passiven Objekte tatsächlich viel zu viele. Aber wer möchte sich hinstellen und entscheiden, wer zu viel ist? Nur 1 von 7 hätte Platz in der alten Welt der passiven Objekte. Oder unser doppeltes Leben: vor 100 Jahren gab es keine Region auf der Welt, in der die Lebenserwartung größer als 50 Jahre war. Heute gibt es Regionen, in denen die Menschen über 80 Jahre erwarten können. Die mittlere Lebenserwartung aller Menschen liegt bei 65 Jahren. Vor 100 Jahren bekam man auf diesem Planeten ab 16 Jahren Kinder und wenn sie groß waren, war man tot. Heute leben wir dann noch 30-40 Jahre. Das ist unser zweites Leben in einer Welt im Naturvertrag. So denken wir über unsere Welt im Jahr 2015. Ganz im Gegensatz zu den Diskussionen um die Grenzen des Wachstums, die Klimakatastrophe, Überbevölkerung (hier klingt Latour mit), und ihre radikal technoiden Lösungen (hier klingt De Landa an). Mit Serres müssen wir diesen Diskussionen vorhalten, dass sie die Welt nicht als mündig ansehen, den Objekten nicht zutrauen legale Subjekte zu sein. Deshalb fühlen wir uns in diesen Diskussionen eher kalt und nicht willkommen. Sie sind ungastlich, ängstlich. Sie misstrauen wie schon die Aristokraten den Bauern, die Männer den Frauen, dem Intellekt der Objekte. Jedoch Serres: De Landa: „Der Naturvertrag ist vor dem Hintergrund objektiver Gewalt der

Welt Objekte eine Notwendigkeit.“

43 Ebd., S. 95.

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MANIFESTATIONEN IM ENTWURF | Epilog

Interessanterweise emanzipieren sich faktisch die Objekte der Welt in großer Geschwindigkeit: Heute können 6 von 7 Mrd. Menschen lesen und schreiben. Vor 100 Jahren waren es nur 100 Millionen. Auch haben 6 von 7 Mrd. Menschen ein Mobiltelefon und können damit instantan miteinander reden. Das konnte sich noch 1980 niemand vorstellen. Aber nicht nur wir, auch unsere Bücher haben wir emanzipiert, indem wir sie gescannt haben. Und auch die Dinge, indem wir sie vernetzen. Alles haben wir gescannt, alle Dinge vernetzt. Jetzt ist unser Planet mit generischen Infrastrukturen überzogen, die jederzeit alles überallhin verfügbar macht. Energie als Daten, Material als Logistik respektive Recycling. Faktisch wird buchstäblich alles verhandelt. Wie Serres es fordert. Vor diesem Durcheinander auf der Bühne setzen wir uns mit Sokrates an den Brunnen und folgen der ordnenden Logik, die nicht aufklärt (das wäre ein apollinisches Bejammern des Katers nach dem Fest der Globalisierung), sondern erklärend (das ist ein Kultivieren der Kraft des Rausches). Wir trauen nicht den Quellen und nicht der Funktion, sondern unserem Intellekt. Und wir sehen vor uns, wie sich die weite Welt der Daten ausbreitet und in ihr das Drama des intellektuellen Ordnens unserer Existenz.

DAS INSTRUMENT Wir schütteln uns, um wach zu werden. Wir haben uns treiben lassen und geträumt. Spannen wir also eine Saite auf, um messen zu können. Für dieses Instrument, oder Denkgestell überzeichnen wir unsere Protagonisten: De Landa

Latour:

„Wir funktionieren alle gleich: Stürme, Zellen, Primaten, Ökonomie, Politik. Jede Form von Verankerung ist ungerecht. Wir richten das andere. Alle Macht den lebendigen Ganzheiten. Logik vor Politik. Die Gerechtigkeit ist ein wilder Hurrikan.“ „Wir sind alle gleich: Menschen, Bäume, Steine. Jede Form von Struktur wollen wir niederreißen. Alle Macht dem Verhandeln der Relationen. Wir lieben das andere. Politik vor Wissenschaft. Die Erlösung liegt in der hygienischen Balance.“

Jetzt verfügen wir über ein Maßband zwischen diesen beiden Polen: eine 3/5 soll heißen, 3 Teile De Landa zu 5 Teilen Latour. Mit diesem Instrument wollen wir in unsere Welt hören. Das Instrument spielt:

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Ludger Hovestadt | DAS DRAMA DER ARCHITEKTUR IN EINER WELT DER DATEN

„Alright, look – I don’t have the answers yet, I’m just now starting to even frame the questions. What we think we know – is that there’s some kind of electrochemical communication between the roots of the trees. Like the synapses between neurons. Each tree has ten to the fourth connections to the trees around it, and there are ten to the twelfth trees on Pandora.“ Selfridge: „That’s a lot I’m guessing.“ Grace:

Natürlich ist es schwierig Avatar von James Cameron zu messen. Aber nehmen wir einmal an unser Maßband zeige 1/4. „Tonight we are a country awakened to danger and called to defend freedom. Our grief has turned to anger, and anger to resolution. Whether we bring our enemies to justice, or bring justice to our enemies, justice will be done.“ 4/1 für die Rede vor dem Kongress am 20.09.2001 von George W. Bush. „I was just a kid, but the computer did everything I told it to do. And even today, that’s what I love about computers. When I write a good program, it always works perfectly, every time.“ 4/1 auch für The Road Ahead von Bill Gates. CRS-Man: „Oh you’re always so negative…“

Schuyler realizes this is a two-way conversation as the CRS-Man winks at him, making a stiff wave. Schuyler: „You people are insane…“ CRS-Man: „Hey, look who’s talking to their TV set.“ 1/2 für The Game von David Fincher. „In an affluent Silicon Valley suburb a clandestine sunset gathering is taking place. A dozen guests, people from all walks of life, whisper conspiratorially as they introduce themselves before indulging in a shared, soon to be illegal, passion.“ 1/2 für Foie-mageddon: the secret California foie gras dinner parties.

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MANIFESTATIONEN IM ENTWURF | Epilog

„Since there is no such thing as absolute rightness and truth, we always pursue the artificial, leading, human truth. We judge and make a truth that excludes other truths. Art plays a formative part in this manufacture of truth.“ 2/5 für Gerhard Richter. „Please enjoy the „look of the spherical shape with the beautiful net“ around it, which was created by a special „massage“ called ball wiping individually performed on each melon, as well as the „scent of musk“ and the „melting sweetness and rich taste of our muskmelons.“ 1/3 für Sembikiya, Japan’s oldest fruit shop. Szabo: Alice: Szabo: Alice:

„May I ask why a beautiful woman who could have any man in this room wants to be married?“ „You can ask.“ „You know why women used to get married, don’t you?“ „Why don’t you tell me.“

2/3 für Eyes Wide Shut von Stanley Kubrick. „For here am I sitting in a tin can far above the world Planet Earth is blue and there’s nothing I can do.“ 2/3 für Space Oddity von David Bowie. Ja, diese Zahlen sind jeweils wage, die Saite noch nicht richtig eingestimmt. Aber wir bekommen eine Idee, wie wir uns bewegen und argumentieren könnten in einer Welt ohne Eigenschaften. Nehmen wir also an, wir würden mit Latour alle verfügbaren Eigenschaften aller verfügbaren Artefakte aufzeichnen. Die Zahl der Eigenschaften nennen wir X. Es können für den Anfang 10, später 100 oder auch 6 Millionen sein. Die Anzahl ist unerheblich. Erheblich ist, dass wir uns X als jedwede Eigenschaft denken. Die Beschreibung unserer Welt besteht dann nicht aus Punkten in einem drei- oder vierdimensionalen Raum, sondern aus Punkten in einem x-dimensionalen Raum. Das sagt uns Latour.

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Ludger Hovestadt | DAS DRAMA DER ARCHITEKTUR IN EINER WELT DER DATEN

Jetzt können wir durch diesen Raum von Punkt zu Punkt reisen und interessante Punkte markieren. Mit der Laplace-Transformation können wir diese Punkte in einem Polynom linearisieren, d.h. auf eine Linie bringen. Diese Linie ist, je nach Auswahl der Punkte, ein mehr oder weniger gutes Argument. Aber auf jeden Fall können wir sie als eine neue Eigenschaft nutzen, als ein neues analytisches Instrument zur Vermessung der anderen Punkte. Unsere Zahl der Eigenschaften, unser X, wird also mit jedem neuen Argument um 1 grösser. Was uns willkommen ist. Aber wir sind noch nicht am Ziel unserer Argumentation. Nehmen wir mit De Landa an, dass in unserer Welt stabile Entitäten emergieren. Sie würden sich in unserem x-dimensionalen Raum als Punktwolken zeigen. Das würde Latour zu De Landa sagen und die Achseln zucken: Latour:

„So what? – wenn sich die Punkte clustern, umso besser! Ich ziehe weiterhin meine Linien.“

De Landa könnte erwidern: … und das würde endlos so gehen. Oben haben wir schon gesehen, dass sich die beiden nicht verstehen können. Jetzt aber kommt Serres und sagt, dass diese Eigenschaften und Punkte legale Subjekte seien. Sie müssten aktiviert und mündig werden. Dadurch kommt sofort Bewegung in unser Spiel. Mit jedem neuen Punkt gibt es Debatten der etablierten Punkte, welche Rechte diesem neuen Punkt zugesprochen werden sollen. Mit einem Vertrag werden auf beiden Seiten Zugeständnisse gemacht, d.h. die Eigenschaften des neuen Punktes ändern sich, er verschiebt sich im x-dimensionalen Raum in Richtung seiner Vertragspartner. Und auch die etablierten Punkte gehen etwas auf den neuen Partner Punkt zu. Soweit der Archaische Kontrakt Serres. Der neue oder soziale Kontrakt würde nun darin bestehen, dass die X Eigenschaften | Argumente | Instrumente neu fokussiert werden müssen, weil sich die Punkte in neuen Partnerschaften bewegt haben. Das ist schon alles. Mit diesem Verfahren wird jeder neue Punkt, den die Natur hervorbringt, subjektiviert. Jetzt sind wir da, wo wir sein wollten. In einer Welt ohne Eigenschaften, in der die Dinge legale Subjekte, d.h. aktiviert sind. Wir agieren in einer Welt, in der weder Proportionen, Eigenschaften noch Funktionen spezifisch sind. Anders als Latour oder De Landa sind wir jetzt nicht mehr selektiv. Wir urteilen nicht mehr. Wir wissen, wir müssen mit jedem neuen Punkt zu einem Verhandlungsergebnis kommen. Wir sind offen für jedwede Eigenschaft und jedwede Funktion, die die legalen Subjekte in die Debatte einwerfen werden.

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MANIFESTATIONEN IM ENTWURF | Epilog

Ein atemberaubender Gedanke – so also klingt unser neues Instrument. Eigentlich überflüssig zu bemerken, dass die sozialen Medien auf dem Weg in diese Mathematik unserer neuen Welt sind. Lesen wir nach diesem quasi mathematischen Exkurs noch einmal die kurze Liste von Texten, die wir oben mit dem Instrument De Landa/Latour vermessen haben. Und jetzt stellen wir uns vor, wir machen dieses Spiel mit allen verfügbaren Artefakten. Mit allen Filmen, aller Musik, Politik, Architektur, Design, Handwerk, Technologie, Poesie, Fiction, mit Marketing, mit aller Kunst. Was auch immer. Und jetzt spannst Du Linien zwischen Punkten in diesem großen Raum als neues Instrument. Und wenn Du Dich auf dieser Saite nach links oder rechts bewegst, erklingt dieser Raum in anderen Tönen schwingender Artefakte. Die Artefakte in Resonanz – was immer das ist – kannst du dir anschauen und nach ihren Eigenschaften fragen. Und sie werden Dir, vermittelt durch Dein Instrument vertrauter werden – was immer das ist. Deine Partnersubjekte werden fragen: warum tust du dies oder das? Was ist Deine Meinung. Es wird interessante Debatten geben, überraschende Meinungsverschiedenheiten. Es gibt eine enorme Menge fruchtbarer Indexe aus allen Disziplinen. Ihr werdet euch in Resonanzen verstehen. Und Eure Eigenschaften und die Funktionen nicht mehr primär nehmen in einer Welt legaler Subjekte. All das – würden wir vermuten – wird Dein und das Denken der Anderen auf eine unvorstellbare Art und Weise bereichern. Wir:

„Apology to Manuel De Landa, Bruno Latour and Michael Serres for putting you on stage in this drastic way. Hopefully you are not offended. But this is how, we think, a stageplay works: instrumentalizing legal subject to provoke debate.“

DIE ARCHITEKTUR Wir gehen. Was wäre der nächste Schritt? Natürlich wollen wir von diesem neuen Instrument mehr wissen, auf diesem neuen Instrument spielen lernen. Und dazu werden wir ein Alphabet entwickeln müssen, eine neue Grammatik, eine neue Logik und neue Meisterschaften. Wo können wir zumindest Ansätze davon finden? In der symbolischen Algebra und im Codieren würden wir vermuten. Aber für heute haben wir genug.

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Ludger Hovestadt | DAS DRAMA DER ARCHITEKTUR IN EINER WELT DER DATEN

Wir:

„Wieder zuhause: Wenig gehört über Architektur. Und vielleicht alles. Was, wenn wir als Architekten dieses Stück aufführen würden? Vitruv liefert uns firmitas, utilitas und venustas. Was, wenn wir De Landa auf firmitas, Latour auf utilitas und Serres auf venustas einschwingen würden? Das könnte gehen.“

Unser Bühnenstück könnte mit dieser Brücke schnell in die Domäne der Architektur übersetzt werden. Eine Anleitung, ein Lehrgang für eine neue Architektur? Ein Drama der Architektur in der Welt der Daten? Wie auch immer. Auch die klassische Physik, mit Keppler, Galileo und den anderen, arbeitete mit neuen Instrumenten, auf die sie sich verlassen konnte, um eine neue Welt zu erkunden, die sie noch nicht kannte. Die Instrumente sind daher das notwendige und sichere, gleiche Maß in der möglichen und fremden, anderen Welt. Das „same“ und das „other“ stehen einander gegenüber. Oder verwenden wir ein konkreteres Begriffspaar: die Ökonomie als Notwendigkeit und die Politik als Möglichkeit stehen einander gegenüber. Im 16. Jahrhundert fallen wir in eine Welt, in der wir instrumentell / gleich / ökonomisch sind und in einer Welt handeln, die anders ist. Deswegen handeln wir im 16. Jahrhundert mit Galileo politisch und wir müssen der Welt gerecht werden, um von ihr erlöst zu werden. Das ist die Welt der klassischen Physik, der Beginn der Moderne. Deswegen musste Galileo widerrufen, denn es war ein politischer Akt, eine neue ökonomische Gleichheit zu postulieren. Es ging nicht um das Notwendige, es ging um das Mögliche und die Politik. Im nächsten Schritt wollen wir der Geste De Landas folgen und fragen wie die Konstellation von „same and other“ in der Chemie oder auch in der Physik von Lagrange oder Maxwell bis hin zur Psychoanalyse im 18. und 19. Jahrhundert beschaffen war. Jetzt werden wir in eine Welt hineingeboren, die axiomatisch verankert und stabilisiert ist (same-ökonomie). Jetzt untersuchen die Wissenschaften und Disziplinen das Zusammenspiel der Teile. Die Teile selbst sind noch nicht bekannt, sondern möglich (other-politics). Wir werden also alle als politische / andere / fremde Individuen in die immer gleiche / ökonomische Welt geboren und wir müssen diese Welt lieben lernen, um Gerechtigkeit erlangen zu können. So in etwa würden wir das formulieren wollen. Dabei sehen wir, und das finden wir weder bei Latour noch bei De Landa, dass, vereinfacht gesprochen, die Welten der Physik und der Chemie zueinander invers stehen. Was in der Physik sicher war, wird in der Chemie möglich, was in der Chemie sicher ist, war in der Physik möglich.

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MANIFESTATIONEN IM ENTWURF | Epilog

Wir wollen noch etwas üben mit unserem neuen Instrument: ein Modell, wie wir es von Palladio, Serlio, Alberti, Bramante oder auch Dürer kennen, ist ökonomisch und handelt politisch. Eine Konstruktion dagegen, wie wir sie von Ledoux, Durand, Paxton, Schinkel oder Semper kennen, ist dagegen politisch und handelt ökonomisch. Entsprechend ist die Geometrie einer Bewegung, auf die Latour referenziert, ökonomisch, während die Funktion eine Bewegung bestimmt bevor sie stattfindet. Funktionen sind deswegen politisch und damit das, was Latour sucht und De Landa logisch instrumentalisieren will. Und noch diese Übung: eine Maschine folgt der Geometrie einer Bewegung, sie bewegt sich. Sie ist daher ökonomisch und handelt politisch. Das würden wir von den Erfindungen Leonardos sagen. Eine konstruierte Apparatur macht dagegen ihre eigenen Bewegungen, sie funktioniert. Sie ist daher politisch und handelt ökonomisch. Das würden wir z.B. von der Dampfmaschine sagen. Heute würden wir sagen, denken wir in Applikationen, die mit Google und im Internet der Dinge wieder ökonomisch sind und politisch agieren. Aber dazu kommen wir später. Hier sehen wir die mangelnde Präzision besonders bei De Landa im Umgang mit seinen Konzepten „possibilities”, „capacities” und „tendencies”, die wir unmittelbar im apparatischen Spiel verorten können. Nur um den Begriff „possibilities“ zu nehmen, bieten sich uns als Protagonisten für ein klärendes Gespräch Thomas Bayes und Jakob Bernoulli an, um den beabsichtigten Umgang mit Populationen zu kultivieren. Thomas Bayes prägt den Begriff der Statistik, von der wir im vorgestellten Sprachgebrauch sagen würden, dass sie maschinisch und ökonomisch ist. Jakob Bernoulli führt dagegen Stochastik, „Kunst des Vermutens“, ins Spiel und damit die apparatische und damit politische Position. Und die Zuordnung fällt uns fast entgegen: De Landa ist Statistiker, Latour Stochastiker. Bleibt zu erwähnen, dass von Richard Feynman unübertroffen gut aufgeführt, die Quantenphysik – und wir würden argwöhnen auch die Informationstechnik – weder statistisch noch stochastisch, sondern nur probabilistisch beschrieben werden kann. Und Probabilistik ist, wie wir behaupten würden, ökonomisch. Damit stehen Probabilistik, Stochastik und Statistik symmetrisch zu dem beschriebenen Verhältnis von Applikationen, Apparaturen und Maschinen. In diesen Symmetrien sehen wir den Hebel unseres neuen Instrumentes um die Erstarrungen Latours und Überhitzungen De Landas balancieren zu können: Probabilistik ist zwar wie die Statistik ökonomisch, während die Stochastik politisch ist. Darin würden wir alle übereinstimmen. Was jedoch von De Landa und Latour nicht gesehen wird, ist, dass die Probabilistik abstrakter und die Statistik konkreter ist als

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die Stochastik. Die Probabilistik steht also – und da können wir wieder den Sprachgebrauch von De Landa und von Latour nutzen – vor der Stochastik, die wiederum vor der Statistik steht. De Landa wie Latour sehen diese Tiefe nicht und denken Probabilistik als Statistik. In dem Sinne kann man sagen, Latour ist Stochastiker und Politiker und De Landa Statistiker und Ökonom. Beide binden sie die Probabilistik der Daten auf unterschiedliche Arten ein. Aber beide sind konzeptionell überfordert in einer Welt dieser Daten. Denn die Welt der Daten braucht für Ökonomie wie für Politik die eine Probabilistik vor der Welt der Stochastik und Statistik, respektive vor der Konstruktion und Funktion und vor dem Modell und der Bewegung. Nach diesen Übungen auf unserem Instrument wollen wir jetzt den nächsten Schritt machen und mit De Landa fragen, wie denn in dieser simplifizierenden Reihe nach der Physik und der Chemie die Biologie beschaffen ist? Die lebenden Ganzheiten (Zellen, Insekten, Mammals, Primaten, aber auch „pre-biotic soup“, „economy“, „language“ …) müssen, wie schon die Instrumente der klassischen Physik als gleiche stabilisiert sein. Sie sind damit ökonomisch und mit ihnen wird die Welt erkundet, die ihrerseits den Raum des anderen, der Politik aufspannt. Diese Vorstellung entspricht erst einmal der Aufstellung von De Landa. Die Interaktion der Teile, das Funktionieren der Ganzheiten also, wird von De Landa jedoch vor die Aktualität der Ganzheiten gesetzt, die damit selbst wiederum reale Bewegungen sind. Deswegen die anschaulichen Cellularen Automaten, Neuronalen Netzwerke und Multiagentensysteme, die sich in einer vermeintlich neuen Physik zeigen,44 aber die Daten und das Denken in alten und nicht adäquaten mechanischen Denkkörpern so verführerisch vertraut einfangen. Wir dagegen würden die Ganzheiten, die lebendigen Identitäten als Applikationen oder als Probabilitäten vor die Funktionen und diese vor die Realitäten setzen. Damit sind unsere Identitäten der Biologie ökonomisch und richten ihre Funktionalitäten politisch aus. Die konkreten Funktionen sind dann im Raum der Chemie politisch und werden ökonomisch in den Arithmetiken der Prozessoren zu realen Bewegungen verarbeitet. Diese Bewegungen sind dann wieder ökonomisch und handeln politisch in der Welt der klassischen Physik. So unsere Skizze. De Landa kennt dagegen nur eine Funktionalität, d.h. nur eine Lebensform, die wir logisches Operieren nennen und in dem Raum der Chemie anordnen

44 Vgl. Wolfram (2002).

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würden. Da den Funktionen jedoch über das Primat der Logik der Raum für die Politik genommen wurde, kennen sie nur noch Notwendigkeiten. Diese Notwendigkeiten werden in den Raum der Physik kalkuliert. Die interagierenden Teile sind dadurch eine mechanische Spezies, die sich allmächtig im Raum der Physik bewegen kann und sich jeder politischen Kontrolle entzieht. Sie sind dadurch das imperiale Instrument schlechthin. Die unsichtbare Hand eines zornigen Gottes gegen alles Leben in anderen Funktionalitäten. „Leben vor Funktion vor Bewegung.“ De Landa: „Leben als Funktion vor Bewegung.“ Wir:

Bei Latour stehen die Dinge anders. Für ihn sind die Spuren von Bewegungen Grundlage für die Politik in der Welt der Daten. Ihn interessiert die reine Territorialität des physikalischen Raumes. Seine politische Frage ist „Can we live together?“ Er beantwortet sie physikalisch politisch und bekämpft jede Form von ökonomischer Konsistenz im chemischen Raum: „To put it bluntly: if there is a society, then no politics is possible.“ Und hier der direkte Angriff auf De Landas Position: „the great danger of critical sociology is that it never fails to explain.“ Da hat er sogar Recht. De Landas Ganzheiten sind immer logisch, immer richtig. Deswegen mahnt er: „be sober with power“. Aber da übertreibt er, würden wir sagen. Aus Angst vor mächtigen Stabilitäten im chemischen Raum kann man sich nicht auf die Politik im physikalischen Raum zurückziehen und den Kollektiven jede Struktur entziehen. Sie müssen dann tote Partikel werden. Mit Latour lieben wir uns zu Tode. Wir würden dagegen behaupten, dass eine Politik im biologischen Raum die Balancen von Politik und Ökonomie in den chemischen Raum der Funktionalitäten und Apparate verhandeln kann, sodass diese wiederum den physikalischen Raum kultivieren können. Das ist sehr entspannt, es gibt keine Revolutionen, keine Knappheiten einer kleinen physikalischen Welt, keine Zwänge und alles ist so reich, wie wir denken können. Man muss abstrakter denken als in Funktionen, würden wir Latour entgegnen, man muss mit Funktionalitäten herumspielen lernen, damit man eine Politik machen kann, die mächtiger ist als das Funktionale. Wir: Latour:

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„Leben vor Funktion vor Bewegung.“ „Leben als Bewegung ohne Funktion.“

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Das klingt alles abstrakt und kompliziert. Wieso sollte es einfach sein? Wollen wir De Landa folgen und das Komplizierte den Maschinen überlassen? Es geht immerhin um das Denken unserer Kultur. Aber lassen sie uns nach unserem Instrument für den biologischen Raum suchen, das von De Landa und auch von Latour zwar versprochen, jedoch nicht eingelöst werden konnte. De Landa bot uns die Ökonomie des chemischen Raumes und Latour die Politik des physikalischen Raumes mit jeweils unbefriedigendem Ergebnis. Und nach diesem schnellen Ritt durch die Argumentationen argwöhnen wir, dass die Ursache für diese zögerlichen Positionen in einem Misstrauen in die Möglichkeiten unseres Intellektes liegt. Ihr Argwohn mag gefühlt oder gut begründet sein. Wir wollen daher vorsichtig sein, nicht urteilen und erinnern daran, dass wir ein Bühnenstück aufführen, um unser Denken schnell voranzutreiben. Wir bewegen uns sozusagen im biologischen Raum, nicht im analytischen, chemischen oder logischen der Physik, wie wir sie so einfach und schnell genannt haben, um den Gedankenlinien von De Landa folgen zu können. Wir wissen natürlich nicht viel von den Konstitutionen des biologischen Raumes, nur dass er Protagonisten der Politik wie Latour aufbringen und die der Ökonomie wie De Landa verblüffen muss. Deswegen wollen wir nicht urteilen und können gerade deshalb so schnell und scharf argumentieren. Und wir wollen auch nicht in Anspruch nehmen Recht zu haben. Wir üben eher und machen so etwas wie Denkgymnastik um uns fit zu machen für das Durchmessen des neuen, weiten biologischen Universums, von dem wir nur wissen, dass es ganz anders ist. Und dabei fällt uns eine Hürde auf, die Latour und De Landa nicht nehmen, die aber konstituierend ist für mindestens unsere Kultur: Sie scheuen sich das Infinite zu symbolisieren, um ein neues Plateau eröffnen zu können. Wir kennen den berühmten Konflikt zwischen Newton und Leibniz, als es darum ging, den physikalischen Raum zu verlassen und den chemischen Raum zu betreten. Newton war der Artist des physikalischen Raumes, Leibniz der Magier aus dem chemischen Raum. Und natürlich hat die orthodoxe Kunstfertigkeit im physikalischen Raum die Zeitgenossen mehr überzeugt als die fremden Symbolisierungen aus der neuen Welt von Leibniz. Aber mit seinen neuen Symbolisierungen des Infiniten hat Leibniz den Infinitesimalen Calculus begründet und im 18. Jahrhundert die kontinentale Wissenschaft mit neuer Sicht vorangetrieben, während die Britische Wissenschaft 100 Jahre lang in physikalischen Manierismen auf alten Notationen zurückfiel.

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Wir würden sagen, dass es nicht ausgesprochen viele, aber doch eine Reihe solcher neuen Plateaus gegeben hat: Uns soll das neue Plateau interessieren, das in der Moderne eröffnet wurde. Sie verließ im 15. und 16. Jahrhundert den räumlichen Kosmos der Antike und des Mittelalters und eröffnete eine Welt auf der Bühne der Zeit. Diesen Raum haben wir etwas flapsig den physikalischen Raum der Bewegungen genannt. Auf dieser Bühne des Universums vermessen wir mit Objekten, die die räumliche Ordnung verkörpern, die Bewegung resp. die Zeit. Er wurde, wie oben beschrieben, von Leibniz in den chemischen Raum der Funktionen in der Zeit gestülpt. Und um das Jahr 1900 haben wir, wie auch oben beschrieben, den Raum der Zeit verlassen und eine Welt auf der Bühne der Werte betreten. Jetzt wollen wir, in Symmetrie zu der aufkommenden Moderne, die neue Bühne unseres Universums mit Objekten, die die zeitliche Ordnung verkörpern, die Werte vermessen, was immer das ist. Wir würden sagen, dass wir besonders bei Nietzsche, Heidegger und Deleuze lernen können. Sie haben, anders, als unsere Protagonisten, den Sprung auf die neue Bühne gewagt. In der Mathematik und der Informationstechnik würden wir eine Linie von Boole, Dedekind und die Geburt der Reellen Zahlen sowie die probabilistische Pragmatik von Markov und heute in der technischen Implementation einer generischen Infrastruktur – allen voran Google – machen. Diese Linie geht bewusst an den Klassikern der Informationstechnik wie Frege, Russel, Shannon oder Chomsky vorbei. Denn sie alle denken in Apparaten und Maschinen, wie unsere Protagonisten De Landa und Latour. Google funktioniert jedoch nur, weil Google alles Verfügbare indexiert, d.h. alles mit allem vernetzt. Google hat keine Angst vor dem Infiniten und gewinnt seine Kraft daraus, dass es aus dem Infiniten der Relationen des analytischen (wir hatten gesagt ‚chemischen‘) Raumes auf die neue Bühne der Werte tritt. Man kann Google jedwede Frage stellen, weil es alles der analytischen Welt indexiert und deswegen nichts mehr verstehen muss. Wir sehen interessiert die Parallelen zu den Symbolisierungen von Leibniz, wir sehen aber vor allen Dingen, wie nah Google an den Vorstellungen Latours liegt. Google verfolgt, wie Latour nur Spuren. Während Latour jedoch statistisch im physikalischen Raum arbeitet, arbeitet Google probabilistisch im biologischen Raum. Latour bekämpft die ökonomischen Strukturen des chemischen Raumes, Google nimmt sie dagegen alle. Beide sind sie ohne Struktur. Nur Latour zieht sich mit erhobenem Finger auf die physikalische Bühne hinter die Funktionen zurück und bekämpft sie politisch. Google eröffnet dagegen eine neue politische Bühne für alle vor jeder Funktion. In diesem Sinn haben auch die Daten keinen Inhalt, hat dieses Netz

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keine Bedeutung, keine Ursache und keine Wirkung. Die neue Welt ist vor jeder Zeit. Wir können noch so viele Karten unserer Welt heute zeichnen, sie falten, entfalten, sie layern, sie schneiden und brechen … wir wären immer zu spät für die Identitäten vor der Zeit und dem Raum. Identitäten sind offen für jedwede Frage. Ohne jede Struktur. Und dennoch intelligibel, weil verknüpft mit jedem Inhalt und jeder Bedeutung. Deswegen greifen Frege, Shannon, Chomsky, McLuhan und eben auch De Landa und Latour zu kurz. Es gibt nicht nur theoretisch seit 150 Jahren, sondern mit Mobiltelefonen und Social Media seit ca. 15 Jahren auch technisch nichts mehr, was nicht Datum ist. Daten bewegen sich nicht auf Pfaden oder in Kanälen vor entropischem Grund. Kein Zufall. Keine externe, auch keine negative Referenz. Nichts ist nicht Datum. Alles kann Bedeutung bekommen. Je nachdem, welche Melodie wir spielen vor der Zeit. Aber wie sprechen und wie schreiben auf neuer Bühne? Es ist nicht schwer und wir tun es seit mehr als 100 Jahren! Wir würden sagen, wir sollten die symbolische Algebra ab 1850 ernst nehmen und nicht mit Cantor, Frege und Russell einpacken. Im Übrigen ist Mathematik die Kunst des Lernens. Nirgendwo kann man den Denkkörper unserer Zeit expliziter finden als in der Mathematik. Lesen wir Richard Dedekind.45 Es ist nicht so schwer. Es gibt wenige Formeln. Aber es schult das Denken und das ist anstrengend und braucht Übung. Und wir sollten Code zumindest lesen lernen. Denn mit Codes werden heute die Applikationen für die generischen Infrastrukturen geschrieben und mit Funktionen bespielt, bevor sie aktualisiert werden. Code ist unser Ausdrucksmittel vor jeder Funktion und Logik. Allein mächtig genug, um uns heute politisch äußern zu können. Der Code von Googles Pagerank ist ein Gedicht von einer halben Seite. Wenn wir jedoch diese Sprachmächtigkeit mit Latour in der vertrauten Geometrie verankern, hören wir nichts. Wenn wir sie mit De Landa in der vertrauten Logik funktionieren lassen, haben wir nur Lärm. Wir mittendrin wollen sprachmächtig werden und neu denken lernen. Das denken wir und konnten wir heute von De Landa und Latour lernen. Danke und Applaus.

45 Dedekind (1963).

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EPILOG Wir gehen. Das alles ist eine gute Nachricht für uns Architekten. Wir könnten die Geburt einer neuen Architektur erleben. Deren Elemente sind nicht gemacht oder produziert, sie fallen aus dem Universum in einen neuen Raum der Werte, und sie verkörpern jedwede Funktionalität der Welt. In unseren architektonischen Konstellationen leben sie auf, werden aneinander stabil oder verkümmern. Es sind wie wir intelligible Bewohner unserer Welt, die uns herausfordern. Wir alle sind denkend, also müssen wir lernen. So können wir fliegen lernen vor den Engnissen und Knappheiten der vertrauten und alten Welt. Und es sind nicht die apollinischen Karten oder die dionysischen Verfahren aus einer anderen Zeit, die uns helfen können. Wir:

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„Auf also wir Sterblichen, wir Vertriebenen, wir Miserablen. Spielen und stimmen wir unsere neuen Instrumente so gut wir können zur Ehre des Universellen.“

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LITERATUR Dedekind (1872): Richard Dedekind, Stetigkeit und irrationale Zahlen, Braunschweig 1872. Dedekind (1963): Richard Dedekind, Essays on the Theory of Numbers. Bd. I: Continuity and Irrational Numbers. Bd. II.: The nature and meaning of number. New York 1963. De Landa (2011): Manuel De Landa, Philosophy and Simulation: The Emergence of Synthetic Reason, New York 2011. Feynman (1985): Richard Feynman, QED: The Strange Theory of Light and Matter, Princeton 1985. Fourier (1808/1822): Joseph Fourier, Thurier analytique de la chaleur, Paris 1808/1822. Latour (2005): Bruno Latour, Reassembling the Social: An Introduction to Actor-NetworkTheory, Oxford 2005. Lavoisier (1783): Antoine Laurent Lavoisier, Réflexions sur le phlogistique, pour servir de développement à la théorie de la combustion & de la calcination, publiée en 1777, Paris 1783. Leibniz (1714): Gottfried Wilhelm Leibniz, Monadologie. Übersetzung durch den Jenaer Staatsrechtler Heinrich Köhler, einen Zeitgenossen des Autors [franz. Orig. La Monadologie, Paris 1714], Projekt Gutenberg-DE. Leibniz (1951): Gottfried Wilhelm Leibniz, Selections, New York 1951. Leibniz (1961): Gottfried Wilhelm Leibniz, Philosophical Writings. Leibniz, P v. Mary Morris, London 1961. Leibniz (2001): Gottfried Wilhelm Leibniz, The Labyrinth of the Continuum: Writings on the Continuum Problem, 1672ter, , New Haven 2001. Musil (1943): Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften. 3 Bde., Lausanne 1943. Riemann (1854/1873): Bernhard Riemann, Ueber die Hypothesen, welche der Geometrie zu Grunde liegen. URL: http://www.emis.de/classics/Riemann/Geom.pdf [Stand 18.07.2015]; englisch: On the Hypotheses which lie at the Bases of Geometry. In: Nature 8 (1873), S. 14–17. Serres (1995): Michael Serres, The Natural Contract. [franz. Orig. Le Contrat Naturel], Ann Arbor 1995. Serres (2006): Michael Serres, Revisiting The Natural Contract. In: Arthur and Marilouise Kroker (Hrsg.), 1000 Days of Theory. URL http://www.ctheory.net/articles.aspx?id=515 [Stand: 18.07.2015]. Weyl (1918): Hermann Weyl, Das Kontinuum. Kritische Untersuchungen über die Grundlagen der Analysis, Leipzig 1918. Wolfram (2002): Steven Wolfram, A new Kind of Science, Champaign 2002.

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Autorinnen und Autoren

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MANIFESTATIONEN IM ENTWURF

Anne-Julchen Bernhardt geboren 1971, hat Architektur an der RWTH Aachen und der Kunstakademie Düsseldorf studiert, als Architektin in Berlin und Köln und als wissenschaftliche Mitarbeiterin in Aachen und Wuppertal gearbeitet. Seit 2008 ist sie Professorin für Gebäudelehre an der RWTH Aachen. Der Lehrstuhl Gebäudelehre betreibt seit mehreren Jahren Forschungen zu Infrastruktur und der Architektur von Migrationsprozessen in der Bundesrepublik. Seit 2006 führt der Lehrstuhl erfolgreich Design Build Projekte in Südafrika und Deutschland durch. Im Jahr 2000 gründete sie mit Jörg Leeser „BeL Sozietät für Architektur“ in Köln. BeL hat bisher 125 nationale und internationale Projekte bearbeitet. Ihr Werk wurde international publiziert, mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Förderpreis des Landes NRW 2003 und den Kunstpreis der Akademie der Künste Berlin 2011. Katharina Bredies ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Designforscherin der Arbeitsgruppe interaktive Textilien am Design Research Lab in Berlin, die sie gleichzeitig leitet. Während ihrer Promotion hat sie nicht nur eine Vorliebe für Techniksoziologie, Semiotik und soziale Systemtheorie entwickelt, sondern auch alte und neue Produktionstechniken kennen und schätzen gelernt. Ihre Forschungsinteressen berühren sowohl Designmethodik und –theorie als auch experimentelles Interfacedesign. Seit dem Abschluss ihrer Promotionsarbeit zu „Gebrauch als Design“ 2014 ist sie immer auf der Suche nach Design in ungewöhnlichen Formen und an unwahrscheinlichen Orten. Nathalie Bredella ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geschichte und Theorie der Gestaltung der Universität der Künste Berlin, wo sie im Rahmen eines eigenen DFG-Projekts („Eigene Stelle“) zum Thema „Architektur und neue Medien“ forscht. Nach ihrem Studium der Architektur an der Technischen Universität Berlin und der Cooper Union New York wurde sie 2008 mit einer Arbeit über Film und Architektur promoviert. Sie war Research Fellow im Rahmen des Programms „Werkzeuge des Entwerfens“ am Internationalen Kolleg für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie (IKKM) der Bauhaus-Universität Weimar. Fabio Colonnese ist Architekt und promovierte in Zeichnung und Denkmalpflege an der Sapienza Universität in Rom, Italien, mit seiner Dissertation „The Labyrinth as a Representation of a Route“, die später mit dem Titel „The Labyrinth and the Architect“ (2006) veröffentlicht wurde. Er war PostDoc Stipendiat im Projekt „Digital Survey and Representation of City“,

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AUTORINNEN UND AUTOREN

unterrichtet Geometrie, Bauaufnahme und Zeichnung und nahm teil an größeren Denkmalschutzprojekten. Seine aktuellen Forschungen beinhalten die Beziehung zwischen der Repräsentation und der Erfahrung von Architektur, deren Ergebnisse in seinem zweiten Buch „Movement Route Representation“ (2012) und weiteren Artikeln nachzulesen sind. Hannah Groninger (Dipl. Szen.) ist seit 2009 wissenschaftliche Mitarbeiterin und seit 2013 akademische Rätin am Lehrstuhl für Bildnerische Gestaltung an der RWTH Aachen. 2002 absolviert sie ihr Diplom der Szenografie (Hauptfach) und Medienkunst, Architektur (Nebenfächer) an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe. Seit 2002 ist sie als freischaffende Szenografin für Theater-, Tanz- und Opernproduktionen tätig und entwickelt u.a. szenische Kunstprojekte für internationale Festivals. Ihre Themen- und Forschungsschwerpunkte liegen im Spannungsverhältnis von Architektur und Bewegung, Narration und Raumwahrnehmung. Sie ist Mitherausgeberin des interdisziplinären Sammelbandes „Werkzeug–Denkzeug, Manuelle Intelligenz und Transmedialität kreativer Prozesse.“ Roger Häußling (Prof. Dr.) ist seit 2009 Leiter des Lehrstuhls für Soziologie mit dem Schwerpunkt Technik und Organisationsforschung an der RWTH Aachen University. Zuvor war er als wissenschaftlicher Assistent am Institut für Soziologie der Universität Karlsruhe sowie als Vertretungsprofessor an der Universität Koblenz-Landau sowie an der Fakultät für Gestaltung, Pforzheim, im Bereich Designtheorie tätig. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich Technik- und Innovationsforschung sowie in der sozialwissenschaftlichen Netzwerkforschung. Ein weiterer Schwerpunkt seiner Arbeit liegt auf der Organisationsforschung. Matthias Heymann ist Associate Professor für Wissenschafts- und Technikgeschichte am Centre for Science Studies der Universität Aarhus, Dänemark. Sein Arbeitsschwerpunkte liegen in der Geschichte der Atmosphärenwissenschaften, der Energietechnik und der Konstruktionswissenschaft im 20. Jahrhundert. Er ist Associate Editor von Centaurus and Domain Editor of WIREs Climate Change für die Domain Climate, History, Society, Culture. Er hat das dänisch-amerikanische Forschungsprojekt „Exploring Greenland: Science and Technology in Cold War Settings“ (2010–2013) geleitet und ist zur Zeit Leiter des internationalen Projekts „Shaping Cultures of Prediction: Knowledge, Authority, and the Construction of Climate Change“ (2013–2016).

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MANIFESTATIONEN IM ENTWURF

Ludger Hovestadt ist Professor für computergestütztes Entwerfen in der Architektur (CAAD) an der Eidgenössischen Technischen Hochschule, ETH in Zürich. Hovestadt sucht nach neuen Verbindungen zwischen Architektur und Informationstechnik und strebt damit die Entwicklung einer globalen Perspektive an. Hovestadts Arbeit nimmt Bezug zu Politik, Demografie und Technik im post-industriellem Zeitalter. Er ist Entwickler des digitalSTROM® chip und Gründer verschiedener Spinn-off Unternehmen in den Bereichen „Smart Building Technology“ und „Digital Design and Fabrication“. Die Publikation „Beyond the Grid – Architecture and Information Technology. Applications of a Digital Architectonic“ (2009) gibt einen Einblick in seine Arbeit der letzten Jahre. Liudmila Y. Kirpichev 1959 in Vinitza (Ukraine) geboren, Vladislav Kirpichev 1948 bei Beirut geboren, Architekten in Moskau. Vladislav Kirpichev gründete 1977 das renommierte EDAS Studio in Moskau, zunächst als privates Architekturbüro gedacht, wurde es mehr und mehr zu einer Architektur- und Designschule für Kinder. Vladislav und Luidmila Kirpichev agieren vielfach als Gastprofessoren und Vortragende und haben zahlreiche Workshops mit Kindern u.a. an der Städelschule Frankfurt, Bartlett School of Architecture in London, Universität für Angewandte Kunst in Wien oder dem Netherlands Architectural Institute in Rotterdam durchgeführt. Susanne König ist Professorin für Kunstgeschichte an der Fachhochschule Potsdam und beschäftigt sich in ihrer aktuellen Forschung mit der Wissenszirkulation zwischen Kunst und Design. Ferner arbeitet sie an dem gemeinsam vom Institut für Kunstgeschichte an der Universität Leipzig mit der TU Dresden durchgeführten SMWK-Forschungsprojekt „Westkunst/Ostkunst. Kunstsystem und ‚Geltungskünste‘ im geteilten und wiedervereinigten Deutschland zwischen 1945 und 2000“. Davor war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Paderborn und an der Universität Siegen. Sie studierte Kunstgeschichte und Philosophie an der Universität Stuttgart sowie Kultur- und Medienmanagement an der Hochschule für Musik Hanns Eisler in Berlin. Zu ihren Veröffentlichungen gehört „Marcel Broodthaers. Musée d’Art Moderne, Département des Aigles“ (2012). Claudia Mareis (Prof. Dr. phil.) ist Designerin sowie Design- und Kulturwissenschaftlerin. Nach einer Erstausbildung in Grafikdesign und Visueller Kommunikation studierte sie Design-, Kultur- und Kunstwissenschaften in Zürich, Berlin und Linz. Die Promotion erfolgte 2010 mit einer diskursanalytischen

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AUTORINNEN UND AUTOREN

Arbeit zu „Design als Wissenskultur“. Forschungs- und Lehraufenthalte führten sie u.a. ans Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte Berlin, die Humboldt-Universität zu Berlin und ans Massachusetts Institute of Technology in Cambridge/MA. Seit 2013 ist sie Professorin für Designtheorie und -forschung an der Hochschule für Gestaltung und Kunst Basel und leitet dort das Institut Experimentelle Design- und Medienkulturen. Daneben ist assoziierte Forscherin am Exzellenzcluster „Bild Wissen Gestaltung“ der Humboldt-Universität zu Berlin sowie am NFS Bildkritik eikones der Universität Basel. Zuletzt erschienen von ihr sind folgende Publikationen: „Theorien des Designs zur Einführung“ (2014). „Wer gestaltet die Gestaltung? Praxis, Theorie und Geschichte des partizipatorischen Designs“ (2013) (hg. mit Matthias Held und Gesche Joost). „Long Lost Friends. Wechselbeziehungen zwischen Design-, Medien- und Wissenschaftsforschung“ (2013) (hg. mit Christof Windgätter). „Design als Wissenskultur. Interferenzen zwischen Design- und Wissensdiskursen seit 1960“ (2011). Thomas H. Schmitz (Univ.-Prof. Dipl.-Ing.) ist seit 2007 Inhaber des Lehrstuhls für Bildnerische Gestaltung an der Fakultät Architektur der RWTH Aachen University. Er diplomierte 1985 an der Fakultät Architektur der Technischen Hochschule Darmstadt. 1985–1987 war er Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Architekturzeichnen und Raumgestaltung der TU Braunschweig. 1987–1989 arbeitete er als freier Mitarbeiter im Büro Prof. Thomas Sieverts, Bonn und fokussierte sich ab 1988 zunehmend auf künstlerische Tätigkeiten im Bereich Malerei und Grafik. Daneben entwickelte er über Wettbewerbe Projekte wie z.B. das Land-Art-Projekt „Halde im Wandel“ in Gladbeck und ab 2005 auch Projekte zur künstlerischen Neuordnung von Kirchenräumen. 1993 wurde er als Professor für Freihandzeichnen, künstlerisches Gestalten und Entwerfen im Fachbereich Bauen + Gestalten an die Fachhochschule Kaiserslautern berufen; 2002–2003 war er dort als Mitbegründer des neuen Bachelorstudiengangs „Virtual Design“ wesentlich an dessen Konzeption und an der Entwicklung einer crossmedialen Gestaltungslehre beteiligt. Forschungsthemen sind Farben und ihre Wirkungsweisen, kreative Prozesse, die Rolle des Körpers beim Entwerfen. Er ist Mitherausgeber des interdisziplinären Sammelbandes „Werkzeug–Denkzeug, Manuelle Intelligenz und Transmedialität kreativer Prozesse“.

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MANIFESTATIONEN IM ENTWURF

Carolin Stapenhorst hat Architektur an der RWTH Aachen University und am IUAV Venedig studiert und ihre Promotion am Politecnico di Torino und der EPF Lausanne gemacht. Sie war als projektverantwortliche Architektin bei C+S Associati in Venedig tätig und arbeitet seit 2007 mit Luciano Motta im Studio Motta-Stapenhorst. Seit 2014 ist sie als Juniorprofessorin für „Werkzeugkulturen“ an der Fakultät für Architektur an der RWTH und beschäftigt sich dort mit den Werkzeugen und Verfahrensweisen, die in der Entwurfstätigkeit zur Anwendung kommen. Schwerpunkte in Forschung und Lehre sind die Instrumente und Prozeduren, die im Zusammenwirken verschiedener Disziplinen wirksam werden, die Wechselwirkungen zwischen dem Berufsbild des Entwerfers und der Auswahl und Entwicklung seiner Werkzeuge und die Abbildbarkeit von entwerferischen Entscheidungsprozessen. Philip Ursprung, geboren 1963 in Baltimore, USA, studierte Kunstgeschichte, Allgemeine Geschichte und Germanistik in Genf, Wien und Berlin. Er wurde 1993 an der FU Berlin mit einer Dissertation zur Geschichte der Kunstkritik promoviert und habilitierte sich 1999 an der ETH Zürich. Er unterrichtete u.a. an der ETH Zürich und dem Barcelona Institute of Architecture. Seit 2011 ist er Professor für Kunst- und Architekturgeschichte an der ETH Zürich. Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der Kunst- und Architekturgeschichte seit den 1960er Jahren. Er ist Autor von „Grenzen der Kunst: Allan Kaprow und das Happening“, „Robert Smithson und die Land Art“ (2003) und Herausgeber von „Herzog & de Meuron: Naturgeschichte“ (2002). Er hat die Einführung geschrieben und die Interviews geführt von „Studio Olafur Eliasson: An Encyclopedia“ (2008) und ist Herausgeber von „Caruso St John: Almost Everything“ (2008). Zuletzt erschien „Die Kunst der Gegenwart: 1960 bis heute“ (2010). Reinhard Wendler arbeitet am Kunsthistorischen Institut in Florenz als Postdoc des Forschungsverbunds Bilderfahrzeuge am Warburg Institute in London und ist Vorstand der Gesellschaft für Modellforschung der HumboldtUniversität zu Berlin. Er studierte Kunstgeschichte, Musikwissenschaft und Philosophie an der TU und der HU Berlin, war wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Forschergruppe „Bild Schrift Zahl“, am Fachbereich „Formale Modelle“, „Logik und Programmierung“ der TU Berlin und am Projekt „Modelle als Akteure“ ebendort. 2013 erschien sein Buch „Das Modell zwischen Kunstund Wissenschaft“. Bis 2014 war er Projektleiter des Projekts „Size Matters. Zur Maßstäblichkeit von Modellen“ an der Zürcher Hochschule der Künste.

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Design Friedrich von Borries, Gesche Joost, Jesko Fezer (Hg.) Die Politik der Maker Über neue Möglichkeiten der Designproduktion Juli 2019, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2859-3

Andrea Rostásy, Tobias Sievers Handbuch Mediatektur Medien, Raum und Interaktion als Einheit gestalten. Methoden und Instrumente Februar 2017, ca. 350 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2517-2

Claudia Banz (Hg.) Social Design Gestalten für die Transformation der Gesellschaft Juli 2016, ca. 240 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3068-8

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Design Julia-Constance Dissel (Hg.) Design & Philosophie Schnittstellen und Wahlverwandtschaften Februar 2016, 162 Seiten, kart., zahlr. Abb., 24,99 €, ISBN 978-3-8376-3325-2

Andreas Beaugrand, Pierre Smolarski (Hg.) Adbusting Ein designrhetorisches Strategiehandbuch Januar 2016, 288 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 24,99 €, ISBN 978-3-8376-3447-1

Claudia Mareis, Matthias Held, Gesche Joost (Hg.) Wer gestaltet die Gestaltung? Praxis, Theorie und Geschichte des partizipatorischen Designs 2013, 320 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2038-2

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Kultur- und Museumsmanagement bei transcript Oliver Scheytt, Simone Raskob, Gabriele Willems (Hg.)

Die Kulturimmobilie Planen – Bauen – Betreiben. Beispiele und Erfolgskonzepte

Mai 2016, 384 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,99 E, ISBN 978-3-8376-2981-1 Museen, Opern, Theater, Konzerthäuser, Kulturzentren, Bibliotheken und Volkshochschulen prägen als Bauwerke das Stadtbild. Sie sind Motoren der Stadtentwicklung sowie des Kulturtourismus und bergen ein Investitionsvolumen in Milliardenhöhe. Nicht nur das Planen und Bauen neuer Häuser, sondern auch die Renovierung alter Kulturimmobilien sowie die Umnutzung von Baudenkmälern sind herausfordernde Aufgaben. Die Beiträge dieses Bandes sind den Spezifika der einzelnen Sparten (Theatern, Museen etc.) gewidmet und von Akteurinnen und Akteuren verfasst, die in das Planen, Bauen und Betreiben von Kulturimmobilien involviert sind. Sie präsentieren erstmalig ganzheitliche Lösungen für »Kulturimmobilien« in den Spannungsfeldern von Stadtentwicklung und Kulturbetrieb, Investitionen und Folgekosten, öffentlicher Hand und Privatwirtschaft.

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