Interdisziplinäre Architektur-Wissenschaft: Eine Einführung [1. Aufl.] 9783658296339, 9783658296346

Architektur, sichtbar und anschaulich, gestaltet baulich-technisch und räumlich unsere Lebensumwelt und stellt in dieser

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Interdisziplinäre Architektur-Wissenschaft: Eine Einführung [1. Aufl.]
 9783658296339, 9783658296346

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-XII
Einführende Anmerkungen (Karsten Berr, Achim Hahn)....Pages 1-19
Front Matter ....Pages 21-21
Philosophie der Lebenswelt als Wissenschaftstheorie und Wissenschaftskritik – im Blick auf die Architektur (Thomas Rentsch)....Pages 23-30
Anfang und Aufbau einer Architekturtheorie auf erfahrungswissenschaftlicher Grundlage. Gegenstand, Begriffe, Wissenschaftstheorie (Achim Hahn)....Pages 31-74
Architektur und Formen ihres Wissens (Petra Lohmann)....Pages 75-90
Front Matter ....Pages 91-91
Architektur als „schweres Kommunikationsmedium“ der Gesellschaft. Architektursoziologische Überlegungen (Joachim Fischer)....Pages 93-115
Architektur für Jedermann. Alltagssoziologie als wissenstheoretischer und methodologischer Zugang zur Architektur (Christine Neubert)....Pages 117-134
Herausforderung Lebenswelt. Zur Diskussion über die Grundlage einer architekturwissenschaftlichen Forschung (Sebastian Feldhusen)....Pages 135-156
Wissenschaftstheoretische Überlegungen zur Landschaftsarchitektur – eine Skizze (Karsten Berr)....Pages 157-190
Von der (Stadt-)Landschaft zur Architektur – Perspektiven einer konstruktivistischen Landschaftstheorie (Florian Weber, Olaf Kühne)....Pages 191-206
Front Matter ....Pages 207-207
Zur Architektur der Architekturwissenschaft (Eduard Führ)....Pages 209-252
Architektur und die Kreativität der Theorie (Jörg H. Gleiter)....Pages 253-262
Ästhetische Praxis und Poiesis. Architektenwettbewerbe als Paradigma der Architekturrezeption (Marcus van Reimersdahl)....Pages 263-288
Architektur muss brennen, aber darf Architekturwissenschaft brennen? Zur Frage der Legitimität normativer Aussagen in der Architekturwissenschaft (Martin Düchs)....Pages 289-308
Front Matter ....Pages 309-309
Das Schweizer Haus: landschaftsbezogen entwickelt, als Symbol verbreitet (Hansjörg Küster)....Pages 311-323
Erlebte, Konzipierte und Verhandelte Bilder – Wegbereiter einer transformativen Landschaftsforschung? (Henrik Schultz)....Pages 325-337
Theoriebildung in Landschaftsarchitektur und Freiraumplanung (Stefan Körner)....Pages 339-364

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Interdisziplinäre Architektur-Wissenschaft: Praxis – Theorie – Methodologie – Forschung

Karsten Berr Achim Hahn Hrsg.

Interdisziplinäre ArchitekturWissenschaft Eine Einführung

Interdisziplinäre ArchitekturWissenschaft: Praxis – Theorie – Methodologie – Forschung Reihe herausgegeben von Karsten Berr, Eberhard Karls Universität Tübingen, Tübingen, Deutschland Achim Hahn, Fakultät Architektur, Technische Universität Dresden, Dresden, Deutschland

Architektur gestaltet baulich-räumlich-technisch unsere Lebensumwelt und stellt in dieser genuinen Eigenschaft eine besondere Herausforderung an die Wissenschaft(en) dar. Eine entscheidende Frage ist, wie eine angemessene wissenschaftliche Reflexion auf die Architektur als Praxis des Entwerfens und Bauens sowie auf den Gebrauch und Umgang damit wissenschaftstheoretisch fundiert und durchgeführt werden kann. Die Schriftenreihe zur interdisziplinären Architektur-Wissenschaft ist so zu verstehen, dass es methodisch zuerst einmal darum zu tun ist, sich der vortheoretischen und außerwissenschaftlichen Erfahrungen, Könnerschaften, Phänomene und Handlungen in der und mit der Welt des Entwerfens, Bauens und Wohnens zu versichern. Aus diesen Anfangsgründen lassen sich dann die Methodologie, die Methoden und die Kategorien einer Architektur-Wissenschaft entwickeln. Die Komplexität der Architektur-Praxis im Hinblick auf technische, kulturelle, soziale und moralische Anforderungen fordert allerdings zur interdisziplinären Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern aus anderen Disziplinen auf, die entsprechendes Wissen in die Architektur-Wissenschaft einbringen können. Architektur kann ihre Aufgabe nur in Kooperation mit anderen Disziplinen erfüllen, die gemeinsam an der Gestaltung menschlicher bewohnbarer Umwelten innerhalb und außerhalb von Städten beteiligt sind. Damit sind die Landschaftsarchitektur und die Landschaftsforschung, aber auch der Städtebau, die Stadtplanung und die Stadtforschung angesprochen. Interdisziplinäre Architektur-Wissenschaft ist demnach kein szientistisches Vereinheitlichungsprojekt unter Federführung der Architekturtheorie, sondern als pragmatisches Projekt zu verstehen, das die genannten Disziplinen im Hinblick auf die Frage nach ihrer Mitwirkung an der Gestaltung einer bewohnbaren Welt befragt und wissenschaftlich untersucht.

Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/15808

Karsten Berr · Achim Hahn (Hrsg.)

Interdisziplinäre Architektur-Wissenschaft Eine Einführung

Hrsg. Karsten Berr Universität Tübingen Tübingen, Deutschland

Achim Hahn Technische Universität Dresden Dresden, Deutschland

Interdisziplinäre Architektur-Wissenschaft: Praxis – Theorie – Methodologie – Forschung ISBN 978-3-658-29633-9 ISBN 978-3-658-29634-6  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-29634-6 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Cori Antonia Mackrodt Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Inhaltsverzeichnis

Einführende Anmerkungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Karsten Berr und Achim Hahn Philosophische Grundlagen Philosophie der Lebenswelt als Wissenschaftstheorie und Wissenschaftskritik – im Blick auf die Architektur. . . . . . . . . . . . . . . 23 Thomas Rentsch Anfang und Aufbau einer Architekturtheorie auf erfahrungswissenschaftlicher Grundlage. Gegenstand, Begriffe, Wissenschaftstheorie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 Achim Hahn Architektur und Formen ihres Wissens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 Petra Lohmann Wissenschaftstheoretische und methodologische Grundlagen und Zugriffe Architektur als „schweres Kommunikationsmedium“ der Gesellschaft. Architektursoziologische Überlegungen . . . . . . . . . . . . . 93 Joachim Fischer Architektur für Jedermann. Alltagssoziologie als wissenstheoretischer und methodologischer Zugang zur Architektur. . . . . . . . . . 117 Christine Neubert

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Inhaltsverzeichnis

Herausforderung Lebenswelt. Zur Diskussion über die Grundlage einer architekturwissenschaftlichen Forschung. . . . . . . . . 135 Sebastian Feldhusen Wissenschaftstheoretische Überlegungen zur Landschaftsarchitektur – eine Skizze. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Karsten Berr Von der (Stadt-)Landschaft zur Architektur – Perspektiven einer konstruktivistischen Landschaftstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Florian Weber und Olaf Kühne Architektur und Architektur-Wissenschaft Zur Architektur der Architekturwissenschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Eduard Führ Architektur und die Kreativität der Theorie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 Jörg H. Gleiter Ästhetische Praxis und Poiesis. Architektenwettbewerbe als Paradigma der Architekturrezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Marcus van Reimersdahl Architektur muss brennen, aber darf Architekturwissenschaft brennen? Zur Frage der Legitimität normativer Aussagen in der Architekturwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 Martin Düchs Theoriebildung und Theorien zu Landschaft, Landschaftsforschung und Landschaftsarchitektur Das Schweizer Haus: landschaftsbezogen entwickelt, als Symbol verbreitet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 Hansjörg Küster Erlebte, Konzipierte und Verhandelte Bilder – Wegbereiter einer transformativen Landschaftsforschung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 Henrik Schultz Theoriebildung in Landschaftsarchitektur und Freiraumplanung. . . . . . 339 Stefan Körner

Autorenverzeichnis

Karsten Berr, Dr.,  studierte Landespflege an der Hochschule Osnabrück sowie Philosophie und Soziologie an der FernUniversität in Hagen. 2008 erfolgte die Promotion über die Konzeption des Naturschönen bei Hegel. 2010–2012 arbeitete er als Lehrkraft für besondere Aufgaben im Fach Philosophie an der Universität Vechta. Von 2012–2017 forschte Herr Berr in einem von ihm geleiteten DFG-Projekt zur Theorie der Landschaft und Landschaftsarchitektur sowie zur ­Architektur- und Planungsethik an der TU Dresden, BTU Cottbus und Universität Vechta. Seit Mai 2018 ist er an der Eberhard Karls Universität Tübingen tätig. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen Theorie der Landschaft, Landschaftsarchitekturtheorie, Architekturtheorie; Architektur- und Planungsethik sowie Landschaftskonflikte; inter- und transdisziplinäre Architektur- und ­Landschafts-Forschung; Kunstphilosophie und Ästhetik, Natur- und Landschaftsästhetik; Kulturtheorie und Anthropologie. Martin Düchs  ist Architekt und Philosoph und derzeit wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg und in der dort angesiedelten Forschungsstelle „Methoden der Normenbegründung“. Arbeits- und Interessenschwerpunkte von Martin Düchs sind Architekturethik, Architekturphilosophie und Architekturtheorie sowie eine philosophische Anthropologie der Architektur. Sebastian Feldhusen  ist Dokto rand am Fachgebiet Landschaftsarchitektur Entwerfen der Technischen Universität Berlin, geschäftsführender Redakteur von Wolkenkuckucksheim, Internationale Zeitschrift zur Theorie der Architektur und freiberuflich in ebendiesen Bereichen tätig. Joachim Fischer, Prof. Dr.,  studierte Soziologie, Philosophie und Germanistik in Hannover, Gießen, Tübingen, Göttingen und lehrte nach der Promotion 1997 in Göttingen dort und in Dresden, Bamberg, Erlangen, Halle, Frankfurt/Oder, VII

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Basel. Habilitation 2010 an der TU Dresden. Seit 2012 ist er Honorarprofessor für Soziologie an der TU Dresden. 2011–2019 Gastprofessor an der Uni Innsbruck. Von 2011 bis 2017 war er Präsident der Helmuth Plessner Gesellschaft. Zu seinen Buchveröffentlichungen zählen u. a. „Philosophische Anthropologie – Eine Denkrichtung des 20. Jahrhunderts“ (2008), zus. m. Heike Delitz (Hg.), „Die Architektur der Gesellschaft. Theorien für die Architektursoziologie“ (2009), „Soziologie der Weltraumfahrt“ (2014) zus. m. D. Spreen; „Exzentrische Positionalität. Studien zu Helmuth Plessner“ (2016); zus. m. Stephan Moebius (Hg.) „Soziologische Denkschulen in Deutschland“ (2018). Eduard Führ, Prof. Dr.,  hat in Kunstgeschichte promoviert und in Architektur habilitiert. Er war zunächst Denkmalpfleger, dann WM im FB Architektur der Hochschule der Künste in Berlin und anschließend bis zu seiner Emeritierung Inhaber des Lehrstuhls Theorie der Architektur an der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus. Er wirkte als Berater bei Bau- und Planungsprojekten mit. 1996 gründete er ‚Wolkenkuckucksheim |Cloud-Cuckoo-Land | Воздушный замок‘, eine Internetzeitschrift zur Theorie der Architektur; seither ist er auch ihr Herausgeber. Er forscht und publiziert weiterhin zur Theorie der Architektur, zur neueren Architekturgeschichte, zu New Towns, zum Wohnen, zur Heimat und zu politischer Architektur. Jörg H. Gleiter, Prof. Dr., seit 2012 Professor für Architekturtheorie an der TU Berlin und geschäftsführender Direktor des Instituts für Architektur. 2002 Promotion in Architekturtheorie (Thema: Kritische Theorie der Architektur) und 2007 Habilitation in Architekturphilosophie (Thema: Friedrich Nietzsche und die Architektur); 2005–12 Professur für Ästhetik an der Facoltà di Design e Arti, Libera Università di Bolzano; Gastprofessuren in Venedig, Tokio, Weimar und Providence (RI). Gleiter ist Herausgeber der Reihe ArchitekturDenken (Transcript Verlag Bielefeld). Arbeitsschwerpunkte: Kritische Erkenntnistheorie der Architektur, Medienphilosophie, Architekturphilosophie und -psychologie, Ornamenttheorie und Nietzsche. Publikationen (Auswahl): Architekturtheorie. Grundlagen I, Traditionelle Theorie 1863–1938 (DOM Publishers Berlin); Architektur und Philosophie (Hg. mit L. Schwarte, Bielefeld 2015); Ornament Today. Digital, Material, Structural (Hg, Bozen 2012); Der philosophische Flaneur. Nietzsche und die Architektur (Würzburg 2009). Achim Hahn, Prof. Dr., war von 1996–2001 Professor für Soziologie an der Hochschule Anhalt und von 2001–2018 Professor für Architekturtheorie und

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Architekturkritik an der TU Dresden. Seit 2018 ist er Seniorprofessor an der TU Dresden. Von 2002–2005 war er Mitglied des Ladenburger Kollegs „Zwischenstadt“. Seit 2002 ist er Herausgeber der Zeitschrift „Ausdruck und Gebrauch“, seit 2006 der „Schriftenreihe Architekturtheorie und empirische Wohnforschung“. Zusammen mit Karsten Berr gibt er seit 2018 die Reihe „Interdisziplinäre ­Architektur-Wissenschaft: Praxis – Theorie – Methodologie – Forschung“ heraus. Stefan Körner, Prof. Dr.-Ing., Nach Gärtnerlehre Studium der Landschaftsplanung an der TU Berlin. Danach Tätigkeit als Landschaftsarchitekt in Berlin. 1994–2001 Wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Landschaftsökologie der TU München. 2001–2005 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Stadtökologie der TU Berlin sowie Lehrbeauftragter für das Fach Kulturgeschichte der Natur im Studiengang Landschaftsplanung. Seit 2005 Professor für Landschaftsbau, Landschaftsmanagement und Vegetationsentwicklung im FB Architektur, Stadtplanung, Landschaftsplanung der Universität Kassel. Forschungsschwerpunkte: Planungstheorie, Theorie der Landschaftsgestaltung, Naturschutztheorie, Pflanzenverwendung/Vegetationsmanagement. Olaf Kühne, Prof. Dr. Dr., studierte Geographie, Neuere Geschichte, Volkswirtschaftslehre und Geologie an der Universität des Saarlandes und promovierte in Geographie und Soziologie an der Universität des Saarlandes und der Fernuniversität Hagen und habilitierte im Fach Geographie an der Universität Mainz. Nach Tätigkeiten in verschiedenen saarländischen Landesbehörden und an der Universität des Saarlandes war er zwischen 2013 und 2016 Professor für Ländliche Entwicklung/Regionalmanagement an der Hochschule ­Weihenstephan-Triesdorf und außerplanmäßiger Professor für Geographie an der Universität des Saarlandes in Saarbrücken. Seit Oktober 2016 forscht und lehrt er als Professor für Stadt- und Regionalentwicklung an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen ­ Landschafts- und Diskurstheorie, soziale Akzeptanz von Landschaftsveränderungen, Nachhaltige Entwicklung, Transformationsprozesse in ­ Ostmittel- und Osteuropa, Regionalentwicklung sowie Stadt- und Landschaftsökologie. Hansjörg Küster, Prof. Dr.,  studierte Biologie an der Universität ­Stuttgart-Hohenheim, wo er auch 1985 promovierte. Von 1981 bis 1998 war er Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Vor- und Frühgeschichte der Ludwig-Maximilians-Universität München. Dort habilitierte er sich 1992 an der Forstwissenschaftlichen Fakultät für das Fach Geobotanik. Er übernahm verschiedene Lehraufträge (TU München, Universitäten Regensburg, Nürnberg,

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Potsdam, Freiburg, Braunschweig). Seit 1998 ist er Professor für Pflanzenökologie am Institut für Geobotanik der Leibniz Universität Hannover, außerdem im Ehrenamt unter anderem Präsident des Niedersächsischen Heimatbundes und Vorsitzender des Vorstandes der Stiftung Naturschutzgeschichte in Königswinter. Mehrere abgeschlossene und laufende Projekte wurden von der DFG, der EU, der Volkswagen Stiftung, der Stiftung Niedersachsen und anderen Drittmittelgebern gefördert. Es gibt zahlreiche Buch- und Zeitschriftenpublikationen zur Landschaft und ihrer Geschichte, zu einzelnen Landschaften, zur Ökologie, zu Kulturpflanzen und ihrer Geschichte, überwiegend erschienen beim Verlag C.H. Beck in München. Einige der Bücher wurden in andere Sprachen übersetzt (Englisch, Norwegisch, Französisch, Italienisch, Russisch, Koreanisch). Petra Lohmann, Prof. Dr.,  Department Architektur, Universität Siegen, 1992– 1996 Studium der Philosophie, der Psychologie und der Kunstgeschichte, 1996– 2002 Promotion im Fach Philosophie (Dissertationsschrift: „Der Begriff des Gefühls in der Philosophie Johann Gottlieb Fichtes“. Amsterdam/Atlanta 2002; 2002–2008 Habilitation im Fach Architektur (Habilitationsschrift: „Architektur als Symbol des Lebens; Zur Wirkung der Philosophie Johann Gottlieb Fichtes auf die Architekturtheorie Karl Friedrich Schinkels von 1803 bis 1815“. Berlin, München 2010. Seit 2013 Professorin für das Fach Architekturtheorie; seit 2015 membre associé von CNRS UMR 7172 THALIM, Paris. Forschungsschwerpunkte: Deutscher Idealismus, Architekturtheorie des 19., 20. Jahrhunderts, Ästhetische Theorie. Christine Neubert, Dr. phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Professur für Soziologie, insbesondere Lebensführung und Nachhaltigkeit, der Universität Hamburg. Sie ist Mitglied im Vorstand des Netzwerks Architekturwissenschaft. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Feld der Alltags- und Wissenssoziologie, der Praxistheorien und Materialitätsforschung sowie der qualitativen Sozialforschung. Thomas Rentsch, Prof. Dr., Studium der Philosophie, der Literaturwissenschaften (Germanistik, Romanistik) und der Evangelischen Theologie an den Universitäten Konstanz, Münster, Zürich und Tübingen. Staats- und Magisterexamen, Promotionsstipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes. 1982 Promotion an der Universität Konstanz im Fach Philosophie. 1982–1988 Hochschulassistent am Lehrstuhl von Prof. F. Kambartel im Fachbereich Philosophie der Universität Konstanz. 1988 Habilitation in. 1992 Berufung auf die C4-Gründungsprofessur für Philosophie mit dem Schwerpunkt Praktische

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Philosophie/Ethik an der Technischen Universität Dresden. 1992–1995 Direktor des Instituts für Philosophie an der TU Dresden; Mitarbeit an der Entwicklung der Studiengänge für das Schulfach Philosophie/Ethik. Schwerpunkte in Lehre und Forschung sind Moderne systematische Philosophie, Praktische Philosophie, Ethik, Philosophische Anthropologie, Ästhetik, Religionsphilosophie, Rechtsphilosophie, Sprachphilosophie, Hermeneutik, Begriffs- und Systemgeschichte, Geschichte der Metaphysik. Marcus van Reimersdahl, Dr.-Ing., ist als Referent im Sächsischen Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst u.a. für die Grundlagen des Hochschulbaus zuständig. Bei Architektenwettbewerben des Freistaates Sachsen vertritt er das Ministerium regelmäßig als Juror. Er hat an der RWTH Aachen und an der Bartlett School of Architecture London Architektur studiert und an der Technischen Universität Dresden promoviert. Er forscht in Zusammenarbeit mit Netzwerken zur Architekturwissenschaft. An der Technischen Universität Dresden besitzt er am Lehrstuhl für Architekturtheorie einen Lehrauftrag. Henrik Schultz, Prof. Dr.,  Landschaftsarchitekt BDLA, ist Professor für Landschaftsplanung und Regionalentwicklung an der Hochschule Osnabrück und Inhaber von Landschaft3*. Er hat zahlreiche Raumbilder und strategische Landschaftskonzepte entworfen. Henrik Schultz forscht an der Hochschule Osnabrück zu stadtstrukturellen Perspektiven für klimaresiliente Städte ­ (BMBF-Projekt „Produktiv. Nachhaltig. Lebendig. Grüne Finger für eine klimaresiliente Stadt) und zu nachhaltigen Mobilitätslandschaften. Henrik Schultz ist Autor des Buches „Landschaften auf den Grund gehen. Wandern als Erkenntnismethode beim Großräumigen Landschaftsentwerfen“ und zahlreicher anderer Veröffentlichungen zu Methoden ko-kreativen und transdisziplinären Entwerfens. Henrik Schultz ist Mitglied des Studios Urbane Landschaften, Fellow des ­deutsch-chinesischen Campus: “Zukunftsbrücke – Sustainable Urban Development in China and Germany in the 21st Century” und „World Responsible Leader“ der BMW Foundation Herbert Quandt. Florian Weber, Prof. Dr., studierte Geographie, Betriebswirtschaftslehre, Soziologie und Publizistik an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. An der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg promovierte er zu einem Vergleich deutsch-französischer Stadtpolitiken. Von 2012 bis 2013 war Florian Weber als Projektmanager in der Regionalentwicklung in Würzburg beschäftigt. Anschließend arbeitete er an der TU Kaiserslautern in der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit im Rahmen der Universität der Großregion,

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als wissenschaftlicher Mitarbeiter und Projektkoordinator an der Hochschule ­Weihenstephan-Triesdorf und als Akademischer Rat an der Eberhard Karls Universität Tübingen, wo er 2018 habilitierte. Seit dem Sommersemester 2019 forscht und lehrt er als Juniorprofessor an der Universität des Saarlandes. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Diskurs- und Landschaftsforschung, Border Studies, erneuerbaren Energien sowie Stadtpolitiken und Stadtentwicklungsprozessen im internationalen Vergleich.

Einführende Anmerkungen Karsten Berr und Achim Hahn

Architektur ist eine professionalisierte Praxis, die es mit dem Entwerfen sowie mit dem sichtbar-anschaulichen, baulich-technischen und räumlichen Bauen und Gestalten für ein Wohnen von Menschen in einer Lebensumwelt zu tun hat. Zu ihrem Umfeld gehören unzweifelhaft die Landschaft und damit Landschaftsarchitektur und Landschaftsplanung, aber auch der Städtebau und die Stadtplanung. Wie auf jede andere Praxis, ist auch eine Reflexion auf die Tätigkeiten, Ziele und Zwecke architektonischer, landschaftsarchitektonischer und planender1 Praxis und der in ihr Tätigen möglich. Eine kritische Hinterfragung scheint sogar nötig zu sein, wenn diese Professionen, ihre etablierten Institutionen (Architektenkammern, Berufsordnungen, technische Regelwerke, Standeskodizes, universitäre Curricula etc.) und die in ihnen verantwortlich handelnden Akteure ihre Motivation und ihre Handlungsziele und -zwecke nicht mehr aus dem Leben der Menschen als Adressaten architektonischer Praxis selbst zu schöpfen wissen. Die Indizien mehren sich, dass gegenwärtig und auch zukünftig von einem

1Im

Folgenden wird vereinfachend von architektonischen Disziplinen, Praxen, Professionen, Fächern etc. gesprochen, jeweils sind die Landschaftsarchitektur und architekturbenachbarte planerische Praxen und Disziplinen mitgemeint.

K. Berr (*)  Universität Tübingen, Tübingen, Deutschland E-Mail: [email protected] A. Hahn  Technische Universität Dresden, Dresden, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Berr und A. Hahn (Hrsg.), Interdisziplinäre Architektur-Wissenschaft, Interdisziplinäre Architektur-Wissenschaft: Praxis – Theorie – Methodologie – Forschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29634-6_1

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K. Berr und A. Hahn

Defizit an Orientierung über Ziele und Zwecke innerhalb des architektonischen Betriebs auszugehen ist. Diese Diagnose als zutreffend unterstellt, wäre allein dieser Tatbestand schon Grund genug für eine wissenschaftliche Beschäftigung, die auch die lebensweltlichen Erfahrungen der von Architektur, Landschaftsarchitektur und anderen planenden Professionen im Umkreis der Architektur betroffenen Menschen zu berücksichtigen hätte. Zweck dieser wissenschaftlichen Beschäftigung wäre der begründete Rückgang auf eine Welt, in der die architekturrelevanten Ziele und Zwecke der Lebensführung und Lebensgestaltung selbst vorzufinden sind. Als ‚Wissenschaft‘ von der Architektur wird traditionell die ‚Architekturtheorie‘ betrachtet. ‚Architekturtheorie‘ hat in ihrer Geschichte ein Verständnis von ihrem Gegenstand entwickelt und etabliert, das häufig von ersten Gewissheiten, Normen oder Axiomen ausgeht, die den Ursprung ihrer Entstehung und die Berechtigung ihres Geltungsanspruches kaum mehr hinterfragen. Am Beispiel des römisch-antiken Architekturschriftstellers Vitruv lässt sich beobachten, dass und wie aus unbegründet gesetzten Anfängen deduktiv und verallgemeinernd Handlungs- und Entscheidungsregeln und theoretisches Wissen für ein Bauen abgeleitet werden, die sich von den lebenspraktischen Situationen, Zwecken sowie An- und Herausforderungen der Menschen, die wohnen müssen und für die Architekten bauen wollen, entfernt haben. Zu den noch heute kaum hinterfragten Axiomen dieser Tradition gehören beispielsweise die Unterscheidung zwischen naiv-ahnungslosen Laien und wissenden Experten, der Glaube an die Regelrekursivität und Machbarkeit gelingenden Bauens und der Vorrang einer expertokratisch-professionellen Ästhetik der Baukunst samt entsprechender Gestaltungsparadigmen vor lebenspraktischen und evaluativen Fragen des Wohnens, (Wohl-)Gefallens und In-Gebrauch-nehmens. Solche theoretischen Setzungen und Konstruktionen negieren allzu leicht lebensweltliches Wissen und Können, das sich der Lebenserfahrung im vor- und außerwissenschaftlichen Umgang mit dem Bauen und Wohnen verdankt. Offensichtlich ist dieser Theorietradition überhaupt die Reflexion ihres Verhältnisses auf menschliches Leben in vorwissenschaftlicher Alltäglichkeit abhandengekommen. Immer wieder haben sich in der Geschichte der theoretischen Beschäftigung mit dem Gebauten neben einer eher von Architekten betriebenen Architekturtheorie weitere Disziplinen (Theologie, Politikwissenschaften, Kunsttheorie, Ökonomie, Psychologie, Soziologie, Philosophie) hervorgetan, die ihr Portefeuille mit dem ‚Gegenstand Architektur‘ bereicherten. Dabei mussten sowohl jene Probleme übersehen werden, die aus der unmittelbaren Begegnung von Architekten, Bauherren und Nutzern resultieren, als auch insgesamt der lebenspraktische Bezug von Wohnen und Bauen verloren gehen. Die mit

Einführende Anmerkungen

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umfassenden Fragen und Problemen einer sozio-kulturell kontextualisierten Alltagspraxis befasste Welt des Entwerfens, Herstellens und Gebrauchens verschwand zugunsten einer dekontextualisierten autonomen Welt einer oftmals bloß disziplinär verwalteten Architektur. Architektur ist allerdings in der Welt und keineswegs eine Welt für sich. Spätestens seit Husserls Hinweis auf die Vergessenheit der Lebenswelt durch die Wissenschaften (Husserl 1954) ist das vermehrte Bemühen sichtbar, die Beziehung von Wissenschaft und Leben von den Wissenschaften selbst her kritisch zu durchdenken. Gerade die neuerliche Besinnung auf die ‚Anfänge‘ der Wissenschaften konnte bewusst machen, dass Motivationen und Anliegen des Fragens, Suchens und Entdeckens nicht von den Wissenschaften selbst ausgegangen sind, da diese überhaupt erst zu begründen sind. Das ‚lebensweltliche Apriori‘ (Mittelstraß 1991), von dem in diesem Zusammenhang heute oft die Rede ist, verweist auf die Notwendigkeit, das vorwissenschaftliche Auftauchen und die lebenspraktische Feststellung und Einordnung von Problemen und Fragestellungen wissenschaftstheoretisch ernst zu nehmen, um ein volles Begreifen des Sitzes der Architektur im Leben der Menschen für eine Architektur-Wissenschaft leitend werden zu lassen. Es geht demnach darum, sich vor theoretischen Setzungen oder Konstruktionen eigens der vor- und außerwissenschaftlichen Erfahrungen, Könnerschaften, Phänomene und Handlungen in der und mit der Welt des Bauens und Wohnens zu versichern. Aus diesen Anfangsgründen – so die These – lassen sich die Methodologie, die Methoden und die Kategorien einer Architektur-Wissenschaft allererst entwickeln. Wenn nach diesen Vorüberlegungen Architektur-Wissenschaft zuerst einmal auf lebensweltliche Fragestellungen und menschliche Bedürfnisse zu reagieren hat, dann ist freilich ein wichtiger Unterschied zwischen einer ­Architektur-Wissenschaft und der Entwurfspraxis der Architektur und anderer bauender und planender Berufe zu beachten. Fassen wir ‚Theorie(n)‘ oder ‚Wissenschaft(en)‘ auch als „Problemlösungsinstrument[e]“ (Gethmann 1991, S. 350) auf, dann sind diese zwar für ein vertieftes Verständnis der lebensweltlichen Herausforderungen und deren Auslegung zuständig, ohne diese aber direkt selbst lösen zu wollen oder gar zu können – und sie sind zudem der Diskurs- oder Verallgemeinerungsfähigkeit ihrer Ergebnisse verpflichtet. Die praktischen Lösungen einer Bau- oder Gestaltungsaufgabe (Bauten, Siedlungen, Landschaften, Parks, Design etc.) innerhalb der Praxis (Architektur, Planung, Entwurf) hingegen werden nicht vorrangig nach wissenschaftlichen Maßstäben (Diskurs- oder Verallgemeinerungsfähigkeit), sondern danach bewertet, ob sie gelingen oder misslingen und ob ein gelungenes Handlungsergebnis hinsichtlich des Handlungszwecks erfolgreich oder nicht erfolgreich (Janich 2015,

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K. Berr und A. Hahn

S. 63–64) ist, das heißt danach, ob sie eine der Bau- oder Gestaltungsaufgabe im Rahmen der berufsspezifischen ‚Regeln der Kunst‘ und damit einer „handwerklichen“ Tradition (Rentsch 1998, S. 161) angemessene oder unangemessene Lösung erwirkt haben. Theorie und Wissenschaft stehen insofern zwischen den vorwissenschaftlichen Erfahrungen und Ansprüchen der Lebenswelt und den konkreten theorie- und erfahrungsgestützten Lösungsangeboten der Praxis im Sinne von ‚téchne‘ (Aristoteles 2001), Könnerschaft, ‚Einheit von Können und Wissen‘ (Eisel 1992). Dann allerdings benötigt eine interdisziplinär verfasste Architektur-Wissenschaft grundlegende wissenschaftstheoretische Klarstellungen, welche Fragen von welcher Instanz jeweils auf welche Weise zu klären und welche Probleme von wem zu lösen sind. Es sind Fragen wie die exemplarisch folgenden, die zu beantworten sind: Wie und zu welchem Gewinn kann es möglich sein, vortheoretische Einsichten und Erfahrungen für die Architektur-Wissenschaft und entsprechende Theorien zu berücksichtigen und zu integrieren? Wie lässt sich für die ­Architektur-Wissenschaft deren ‚Lebensweltvergessenheit‘ erklären (historisch, methodologisch)? Ist es möglich, jene Motivationen, Absichten, Wünsche usw. aussagbar zu machen (zu rekonstruieren), die Anlass sein könnten, Erfahrungswelt und Welterfahrung für eine theoretische und wissenschaftliche Einstellung zu verlassen, das heißt, alle Lebenspraxis zu überschreiten? Wie kann die Stellung der ­Architektur-Wissenschaft zwischen Lebenspraxis und architektonischem Betrieb mit ausgeprägtem Denkstil und Ethos wissenschaftstheoretisch erfasst, begriffen und gegründet sowie methodologisch und methodisch entfaltet werden? Wie lässt sich Architektur-Wissenschaft als Wissenschaft vor diesem Hintergrund wissenschaftstheoretisch begründen? Es sind solche und weitere Fragen, die 2018 den Anlass gaben, im Rahmen eines von der DFG geförderten ‚Rundgesprächs‘ an der TU Dresden einen interdisziplinären Austausch zwischen Architekten, Landschaftsarchitekten, Philosophen, Soziologen, Landschaftsforschern und Vertretern anderer architekturrelevanter Disziplinen zu organisieren und sich diesen Fragen zu stellen. Eine leitende Grundannahme dieses Rundgesprächs war, dass eine ­Architektur-Wissenschaft wie auch die Architektur als Praxis und als einzelne Disziplin gleichermaßen ihre jeweiligen Aufgaben nur in Kooperation mit anderen Disziplinen erfüllen können werden. Die Komplexität des Bauens und Wohnens im Hinblick auf technische, kulturelle, soziale und moralische Anforderungen bedarf der interdisziplinären Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern aus anderen Disziplinen, die entsprechendes Wissen in die ­Architektur-Wissenschaft und in die architektonischen Disziplinen in Praxis und Theorie einbringen können. Architektur-Wissenschaft sowie disziplinäre Praxis

Einführende Anmerkungen

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und Theorie sind immer schon auf das Wissen anderer Disziplinen angewiesen und schon aus diesem Grunde selbst interdisziplinär verfasst. Eine vor diesem Hintergrund anzustrebende ‚Interdisziplinäre Architektur-Wissenschaft‘ darf demgemäß nicht als ein szientistisches Vereinheitlichungsprojekt unter Federführung der Architekturtheorie missverstanden, sondern sollte als ‚pragmatisches Projekt‘ (Gethmann 1991, S. 351) verstanden werden, das die genannten Disziplinen im Hinblick auf die Frage nach ihrer Mitwirkung an der Gestaltung einer bewohnbaren gebauten Umwelt befragt. In den Diskussionen während des Rundgesprächs, aber auch in der Vorbereitung zu diesem Tagungsband ergab sich die Notwendigkeit, zusätzlich zur und neben dem Aspekt der Interdisziplinarität eine weitere disziplinüberschreitende Perspektive einzunehmen, und zwar diejenige der ‚Transdisziplinarität‘. In neueren wissenschaftstheoretischen Diskussionen hat sich eine Sichtweise durchgesetzt, Interdisziplinarität als Begriff für die Überwindung oder Grenzüberschreitung disziplinärer Grenzen und Trennungen zu bestimmen, für Transdisziplinarität hingegen sei die „These von der partiellen Abgrenzbarkeit von Wissenschaft und Gesellschaft“ konstitutiv (Grunwald und Schmidt 2005, S. 7–8). Das heißt, Interdisziplinarität thematisiert die Grenzen und Trennungen zwischen wissenschaftlichen Disziplinen, Transdisziplinarität die Grenzen und Trennungen zwischen Wissenschaft und Lebenswelt. Transdisziplinarität wird von „Interdisziplinarität im engeren Sinne“ also dadurch unterschieden, „dass ausdrücklich wissenschaftsexterne Fragestellungen und Personen aktiv die Forschung mit bestimmen“ (Potthast 2010, S. 180–181). Wissenschaftler aus der Raumplanung haben daher Transdisziplinarität auch „als eine akteurserweiterte Variante“ (Weith und Danielzyk 2016, S. 10) von Interdisziplinarität definiert. Um daher wesentliche Potenziale der einschlägig-kritisch und umfassend mit dem mitweltlichen Leben und seinen Bedingungen befassten Wissenschaften zu vereinen, wäre es ratsam, eine anders aufgestellte und begründete Interbzw. Transdisziplinarität für das Handlungs- und Wirkungsfeld Architektur (im weiten Sinne) zu organisieren. Diese Herausforderung anzunehmen, einigt die in diesem Band versammelten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Interund Transdisziplinarität könnten somit eine Antwort auf die Herausforderung der Integration von lebensweltlichen Wissens- und Könnensordnungen in eine neuartige kritische Architektur-Wissenschaft sein. Mit dem die Autorinnen und Autoren verbindenden Leitthema ‚Wissenschaft und Leben‘ soll allerdings nicht einer Gegenüberstellung von Vernunft und Ahnungslosigkeit das Wort geredet werden. Ziel ist stattdessen, die vielfältigen Erscheinungsformen des Vernünftigen und Wissenswerten gerade auch in Bereichen der praktischen Lebens-

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führung und Daseinsgestaltung aufzudecken und für eine Wissenschaft von der Architektur fruchtbar zu machen. Dieses Verhältnis von ‚Wissenschaft und Leben‘ fordert die beteiligten Wissenschaften auf besondere Weise heraus bei Sachgebieten, deren ‚Gegenstände‘ lebensnotwendige Güter sind (wie Häuser und Landschaften) und deren ‚kunstfertige‘ Herstellung nicht ohne Weiteres von ihrem späteren Gebrauch getrennt werden kann. Das hat Konsequenzen für eine ästhetische Perspektive auf architektonische Disziplinen. ‚Schönheit und Nützlichkeit‘, oder ‚Individualität und Sinnlichkeit‘ beispielsweise vereinen sowohl den Lebenszweck als auch den ‚Kunstcharakter‘ des ‚Lebensmittels‘ (Hahn 2017) Architektur. Hervorgegangen aus der menschlichen Grundsituation des Wohnens und Bleibens gewinnen das Bauen und Gestalten erst ihre zweckmäßige Bedeutsamkeit für ein gutes, gelingendes Leben. Auch als ‚Kunstwerke‘ bleiben sie auf elementare Lebensbedürfnisse (Geborgenheit und Ruhe) und menschliche Grunderfahrungen (Harmonie und Glück) bezogen. Zugleich entfaltet Architektur als gebaute Umwelt nachhaltig ihre Wirksamkeit für jedwede kommunikative Lebenspraxis der Menschen, indem sie dafür erst den benötigten Raum besorgt und gestaltet. Angesichts dieser wissenschaftstheoretischen Herausforderungen wurden die Autorinnen und Autoren darum gebeten, folgende Grundüberlegungen zu berücksichtigen, die eine wünschenswerte Richtung der Inangriffnahme des Projektes einer ‚Interdisziplinären Architektur-Wissenschaft‘ zumindest anzudeuten vermögen. Einer interdisziplinären Architektur-Wissenschaft wird zugetraut, dass daran beteiligte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler das gegenwärtige Erkenntnisinteresse der überkommenen institutionellen Architekturtheorie zu erweitern vermögen. Der architektonische Betrieb favorisiert weiterhin eine Architekturtheorie als eine Architekturkritik, die dem eigenen Umfeld entstammt und von ihm sozialisiert ist. Einer Architekturtheorie, die sich als ‚Lautsprecher‘ zeitgenössischer Architektur und ihrer Vermarktung anbietet, ist mit Blick auf die angesprochenen Herausforderungen freilich nicht weiterzuhelfen. Eine interdisziplinäre Architektur-Wissenschaft hätte ein Verständnis von außerwissenschaftlichen Lagen aufzubringen, die insbesondere durch drei Verhaltenswirklichkeiten charakterisiert sind, deren Relevanz unstrittig sein sollte: 1) mit einem nur partiell zu methodisierenden (architektonischen) Entwerfen (Kreativität lässt sich nicht auf Regeln bringen, der zu berücksichtigende soziale Kontext lässt sich nur partiell verallgemeinerbar erfassen), 2) einem heute durchweg durchprofessionalisierten Bauen und 3) einem an lebensgeschichtlicher Erfahrung orientierten Wohnen (vgl. Hahn 2020). Es ist aber gerade die Vielgestaltigkeit der Phänomene des Wohnens, Entwerfens und Bauens selbst,

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die Veranlassung gibt, die dieser unübersichtlichen Mannigfaltigkeit abzugewinnenden Forschungsfragen interdisziplinär einzugrenzen, zu beschreiben und zu verstehen. Dem entspräche eine architekturwissenschaftliche Haltung, die ihre Aufmerksamkeitsbereitschaft und Forschungsperspektive auf die Anschaulichkeit der gebauten Welt und das Selbstverständnis ihrer Akteure ausrichtet. Wissenschaftstheoretisch und wissenschaftskritisch geht es daher um eine überzeugende Rekonstruktion der Fundierung jener Praxen in der Lebenswelt. Dort allein wird menschliches Verhalten motiviert und sinnvoll. Das Interesse an der Etablierung einer interdisziplinären ­ ArchitekturWissenschaft gilt primär nicht dem geformten Wissen einzelner Disziplinen, das irgendwie bloß „additiv“ (Balsiger 2005, S. 214) zusammenzuführen wäre. Es geht auch nicht um deren ‚Verfügungswissen‘ (Mittelstraß 2003). Was indes unverzichtbar ist, sind disziplinär bereits vorliegende Begründungsansätze und erprobte und bewährte Verfahrensweisen im Umgang mit Phänomenen der außerwissenschaftlichen Welt. Hermeneutik und Phänomenologie, Philosophische Anthropologie, der methodische Konstruktivismus sowie andere Denkrichtungen haben in dieser Frage schon viel geleistet. Einigkeit kann sicherlich darin bestehen, wie der anfängliche Zugang abzusichern ist, nämlich „vertrauensvoll ‚inmitten‘ zu beginnen, nämlich inmitten der Sprache, die wir ‚immer schon‘ sprechen, und inmitten der sprachlich erschlossenen Welt, in der wir vor aller Wissenschaft immer schon leben“ (Kamlah und Lorenzen 1967, S. 17). Nach allem bislang Gesagten ist der zentrale Bezug von Lebenspraxis und Theorie (Begriffsbildung) bereits in der methodologischen Aufstellung und Ausrichtung dieser Architektur-Wissenschaft zu berücksichtigen und zu sichern. Der architekturwissenschaftliche Zugang zur alltäglichen Erfahrungswelt und zu ihren ‚Gegenständen‘ sollte demnach auf vorwissenschaftliche Orientierungen, Sinngebungen und Gewissheiten zurückgreifen können, die Forscher dafür bereit machen zu verstehen, welche Bedeutung den Gegenständen, ihre Herstellung, Gestaltung und ihr Gebrauch, im praktischen Leben zukommt sowie zukommen kann oder zukommen sollte. Denn nur aus einem unvoreingenommenen Verständnis dieser Bedeutungen heraus wird auch die Motivation für Forschung zu gewinnen sein. Unter dieser Prämisse interessiert insbesondere das ­ unthematisch-habituell eingespielte Erfahrungs- und ‚Umgangswissen‘ (vgl. Irrgang 2008; hierzu auch Hahn 2017, S. 85–100), das die Phänomene in ihrer Bedeutsamkeit für ein gutes, gelingendes Leben ‚immer schon‘ verstanden hat. Welche Lebenssituationen mussten gemeistert, welche Unterscheidungen getroffen werden, damit bestimmte Handlungsweisen sich etablieren können? Weiter gefragt: Aufgrund welcher exemplarischen Erfahrungen und unter welchen Umständen hat die Lebenspraxis es einmal gelernt (lernen müssen),

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das Wohnen, Entwerfen und Bauen faktisch zuzulassen und dauerhaft auszuüben? Mit anderen Worten: Anzustreben ist eine „Hochstilisierung“ (Janich 1996, S. 77, 2011, S. 684) des praktischen Wissens und Könnens mit dem Ziel, es in ihrer gewachsenen, strukturellen und gegenwärtig eingeübten Überzeugungskraft, Leistungsfähigkeit und Problematik zu begreifen. Was mögliche ‚Inhalte‘ einer interdisziplinären Architektur-Wissenschaft angeht, so sind diese an keine Disziplin und keine institutionell eingespielte Aufmerksamkeit und methodische Aufgeschlossenheit gebunden, noch davon abhängig. Welche ‚Form‘ ein entsprechendes Wissen annehmen muss, wird sich erst im erfolgten Austausch beteiligter Forscherinnen und Forscher zeigen. Eine wichtige Anschlussfrage ist daher, ob und wie dieses den architektonischen Betrieb orientierende Erkenntnis- und Sinnpotenzial an die verantwortlichen Produzenten von gebautem Raum (Architektur und Landschaft) wieder zurückgegeben werden kann. Praktisch zeigt sich Orientierungswissen (Mittelstraß 2003) in der Bewältigung von konkreten Situationen als ein Orientierungskönnen. Zu den Beiträgen Der Band ist in vier thematische Schwerpunkte gegliedert. Die drei Beiträge des ersten Teils präsentieren jeweils philosophische Grundlagen einer interdisziplinären Architektur-Wissenschaft. Die folgenden fünf Beiträge im zweiten Teil stellen aus unterschiedlichen disziplinären oder wissenschaftstheoretischen Ansätzen heraus wissenschaftstheoretische und methodologische Grundlagen und Zugriffe bereit. Die vier Beiträge des dritten Teils beleuchten das Spannungsverhältnis von Architektur als Disziplin und Praxis zu Architekturtheorie und Architektur-Wissenschaft. Die drei Beiträge des vierten Teils diskutieren exemplarisch Theoriebildung und Theorien zu Landschaft, Landschaftsforschung und Landschaftsarchitektur. Der Beitrag von Thomas Rentsch eröffnet den ersten Teil mit einer Klärung des Verhältnisses von Philosophie als Wissenschaftstheorie zur Fachwissenschaft ‚Architekturtheorie‘. Mit Blick auf die Frage nach den zentralen Ansprüchen, mit der eine entsprechende Wissenschaftstheorie diese Fachwissenschaft hinsichtlich ihrer Bedeutung für die Lebenspraxis zu hinterfragen habe, stellt Rentsch das ‚Apriori‘ der lebensweltlichen Praxis heraus. Da Wissenschaften oftmals ihr lebensweltliches Fundament vergessen und in Ersatzgründe eingetauscht haben, müsse das ‚lebensweltliche Apriori‘ in seiner Eigenschaft als normatives Selbstverständnis der menschlichen Praxis wieder zur Geltung gebracht werden. Eine zentrale Aufgabe der Wissenschaftstheorie sei es daher, die faktische Komplexität des menschlichen Tuns und Lassens aufzuzeigen und

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neben der ­‚Ganzheitlichkeit‘ dieser Praxis die „gleichursprünglichen Aspekte der Lebenswelt“ herauszustellen. Da Bauen und Wohnen als Handlungen und Verhaltensweisen kulturellen Vorbedingungen unterliegen, habe Architekturtheorie die Komplexität der Praxis zu berücksichtigen und die beteiligten Bereiche (Technik, Ökonomie, Recht usw.) in ihren Forderungen stets an die lebensweltliche Grundüberzeugung der Menschen zu erinnern, ein „gutes“ Leben führen zu wollen. Es müsse der Architekturtheorie um die ganzheitliche Gewinnung und kritische Begründung des konkreten lebensweltlichen Fundaments der Architektur und damit der Wissenschaft von der Architektur gehen. Diese „normative Rückbindung der Architektur an die konkrete Praxis der Lebenswelt“ sei „keine abgehobene Metatheorie oder Ideologie, sondern ein dringend erforderliches, gesamtgesellschaftliches, ja internationales Aufklärungsprojekt.“ Der Aufsatz von Achim Hahn ist wissenschaftstheoretisch angelegt. Er fragt nach begründbaren Konzeptionen einer Wissenschaft vom Wohnen und von der Architektur. Gemäß der hermeneutisch-phänomenologischen Tradition sind die ‚naiven‘ Anschauungen von Architektur als alltagsweltlicher Gegenstand hinzunehmen. Auf welche Weise aber sind Wohnen, Entwerfen und Bauen mit unserer menschlichen Lebenspraxis verbunden, sind diese Verhaltensformen selbst genuine Beispiele dieser Praxis? In einer breit angelegten Untersuchung konstitutiver Texte des hermeneutisch-phänomenologischen Denkens (Dilthey, Husserl, Heidegger, Hans Lipps, Ludwig Landgrebe u. a.) wird vor allem den Begriffen Leben, Erfahrung, Lebenserfahrung nachgegangen und deren Fundamentfunktion für den Aufbau einer Architekturtheorie als Erfahrungswissenschaft festgestellt: Lebenspraxis und Wissenschaft stehen sich nicht getrennt gegenüber, vielmehr liegen in der Lebenspraxis selbst Motiv und Tendenz zur wissenschaftlichen Reflexion. Erfahrung „als faktischer Erfahrungszusammenhang eines faktischen Lebens“ (Heidegger) ist in ihren verschiedenen Modifikationen Argument und Fundament der Wissenschaft. Wissenschaftstheorie hat zu zeigen und zu begründen, warum die Erforschung der Motiviertheit des Lebens zugleich die Bereitstellung des Erfahrungsbodens für die Wissenschaft bedeutet. Erfahrung, so ein Fazit von Hahns Analysen, erweist sich als das menschliche Verhalten, welches aus dem Erleben der Welt unmittelbar hervorgeht und zugleich freie Reflexion des so Erfahrenen ist. Wissenschaft liegt im Leben selbst begründet und ist weder unabhängig noch abseits dieser Praxis und ihrer Erkenntnisleistung und Könnensformen angesiedelt. Mit anderen Worten: Erfahrung macht Erfahrenes auf eine vor- bzw. noch-nicht wissenschaftliche Weise verfügbar. Praktische Welterkenntnis läuft der Wissenschaft voran. Eine weitere hermeneutische Herausforderung dieser Wissenschaftstheorie besteht in der sprachlichen Verfasstheit jeder Erfahrung. Sie muss deshalb dafür sorgen, dass Erfahrungen mitgeteilt und

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verstanden werden können. Erfahrung und Wissenschaft sind in ein neuartiges ‚transdisziplinäres‘ Ergänzungsverhältnis zu setzen. Petra Lohmann diskutiert im Rückgang auf insbesondere Johann Gottlieb Fichte eine mögliche Vermittlung zwischen ‚Wissenschaft und Leben‘. So ist die Annahme zu begründen, „dass nicht nur wissenschaftliches Wissen, sondern in einer ebenso großen Relevanz das Leben Orientierung und Maßstab im Umgang mit Architektur ist“. Eine weitere Annahme besteht darin, dass Architektur als „hochdifferenzierter Gegenstand“ der „Integration in die Lebenspraxis bedarf“. Denn Architektur verändere die Welt, indem sie „kontinuierlich neue Strukturen der Realität erzeugt, was nicht ohne Folgen für die lebensweltliche Praxis bleibt“. Auch sei zu bedenken, dass diese Wirklichkeit der Architektur „nicht von vornherein der internen Differenzierung des akademischen Wissens von Architektur entspricht“. Lohmann betont deshalb die Notwendigkeit eines Verständnisses von Transdisziplinarität, das auf Mittelstraß‘ Deutung eines ‚lebensweltlichen Apriori‘ beruht. Auch bei der Architektur seien „gesamt-gesellschaftliche, d. h. akademische und lebensweltliche Probleme“ zu lösen. Aus dieser Ausgangslage ergebe sich die Frage, wie „mittels diverser philosophischer Theorien“ die „Kompatibilität von akademischen und alltäglichen Wissensformen der Architektur“ aussehen könne. Dabei liege ein Schwerpunkt auf dem „intuitive(n) Wissen subjektiver Gewissheit“, das als „kognitives Vermögen des unmittelbaren, unreflektierten Lebens“ zu verstehen sei. Den Auftakt zum zweiten Teil wissenschaftstheoretischer und methodologischer Grundlagen und Zugriffe macht Joachim Fischer mit einem Beitrag zur Architektur als ‚schweres Kommunikationsmedium‘ aus der Perspektive architektursoziologischer Überlegungen. Ziel dieser Überlegungen ist es, Architektursoziologie als Kerndisziplin der Soziologie der Moderne auszuweisen. Auch die Raum- bzw. Stadtsoziologie unterstehen dem Primat der Architektur. Ausgangspunkt ist Fischers These von der „unhintergehbare(n) Kommunikationsleistung der Architektur für jede Vergesellschaftung, also auch für vormoderne Architektur“. Die Begründung erfolgt in vier Schritten. Zunächst wird die Architektur als „eigenlogisches symbolisches Medium der Lebensführung“ präzisiert – Architektur sei „von der Kultursoziologie her vorzubereiten“, das heißt: „den vortheoretischen und vorwissenschaftlichen Umgang mit Bauen und Wohnen phänomenologisch aufzuklären“. Fischer konstatiert eine „Eigenlogik der Architektur als kulturelles Medium“, worin die Umschließung eines Naturraums zum Wohnen und Bleiben (Baukörpergrenze als ‚Raumhülle‘) zur „Erfahrung einer dritten Haut“ wird. Mit dieser „schweren“, halbdurchlässigen Grenze wird „für die Lebensführung auf spezifische Weise Welt und Selbst angeordnet“. Zweitens werden die Sinnlichkeit und der Ausdruck dieser Grenze betont, wodurch auch

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die Erzeugung des sozialen „Raums“ erklärt werden kann. Häuser seien „Sinnofferten“ für die Mitwelt, über die kommuniziert werden könne. Mit Bezug auf Georg Simmel sei Architektur daher auch „konstitutiv für Vergesellschaftung“. Mit der durch die sichtbaren Baukörper erzielten Raumkonstitution (‚Interphänomenalität‘), „die aller ‚Intersubjektivität‘ vorangeht“, sei die Architektur „als Bauwelt“ immer bereits „Mitwelt von Interaktionen“. Entsprechend müsse drittens auch Stadt neu als „Baukörperraum Stadt“ fundiert werden, wobei „der Schwerpunkt der Stadt nicht in den sozialen Interaktionen in ihr, sondern in den Baukörpern, entlang derer sich die Menschen orientieren und koordinieren“, gesucht werden müsse. Viertens rückt Fischer die Architektur ins Zentrum der Soziologie der Moderne. Diese Aufwertung wird entlang der These entwickelt, dass die von der Soziologie behauptete „Raumabgelöstheit sozialer Koordinationsmechanismen“ und ebenso die „Raumabgelöstheit aller kommunikativen Verbreitungsmedien“ nicht zutreffen. Die Architektur müsse aufgrund ihrer unvergleichlichen Omnipräsenz „als eigenes“, als das „schwere, träge Kommunikationsmedium“ jeder Vergesellschaftung verstanden“ werden. Man habe dann auch die „Unausräumbarkeit des Raumes“ einzugestehen sowie schließlich die „Unaufräumbarkeit der Moderne“ für eine Soziologie der Moderne hinzunehmen. Auch Christine Neubert geht von einem soziologischen Ansatz aus, und zwar einer Alltagssoziologie als wissenstheoretischer und methodologischer Zugang zur Architektur. Ausgehend von Berger/Luckmanns Aussagen zur Wissenssoziologie, wonach das Alltagswissen zur problemlosen Orientierung in Welt und Gesellschaft tauge, wird entsprechend „nach dem vortheoretischen Wissen von Architektur, das jede von uns hat und tagtäglich anwendet“, geforscht. Die Leitbegriffe sind Praktik und Erfahrung. Am Beispiel eines Künstlers, der sein Atelier entlang seiner Gebrauchserfahrungen mit Raum und Licht begreift und nutzt, wird die Architektur als „Arbeitsumgebung“ in alltäglicher Aneignung festgestellt. Entsprechend solle das Alltagswissen über Architektur erschließbar werden. Die Alltagssoziologie, so die Autorin, benutze Konstruktionen, die auf den Konstruktionen der Menschen in ihrem Alltag aufbauen. Das heißt, „dass das Alltagswissen ganz wesentlich auf Abkürzungen von Erfahrungsketten, Verallgemeinerungen des Besonderen, Typisierungen und Zusammenfassungen beruht“. Die Autorin schlägt eine „lebensweltlich verankerte Wissenschaft der Architektur – einer möglichen Architekturtheorie der Alltagswelt“ vor, die „die Prämissen eines alltagssoziologischen Zugriffs auf Welt und Wirklichkeit innerhalb der architektonischen Praxis stärker zu berücksichtigen“ habe. Um der Alltagspraktik methodisch besser begegnen und deren „Konstruktionen“ (das heißt: Alltagswissen) angemessen verstehen zu können, wird eine „ethnografische Forschungshaltung“ vorgeschlagen.

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Der Beitrag von Sebastian Feldhusen deutet eine Forschungsperspektive zur Wirkung von Räumen auf den Menschen an, in der die Lebenswelt als Quelle und Rechtfertigungsinstanz der Erkenntnis aufgefasst wird. Der Weg zu dieser Perspektive führt über mehrere Stationen. Zuerst rekonstruiert Feldhusen einen für die Absicht seiner Argumentation tragfähigen Begriff der ‚Lebenswelt‘. In Abgrenzung zu einem Verständnis von Lebenswelt als ‚Alltag‘ rekonstruiert er das Konzept der Lebenswelt bei Edmund Husserl. Darunter sei zu verstehen: „Die Welt, die Menschen mit allen Sinnen erfahren – vor jeder Art von wissenschaftlicher Verallgemeinerung zum Beispiel in Form von Modellen oder Theorien“. Der nächste Schritt zur angestrebten Perspektive führt zu einem Konzept der Erfahrung, vor dessen Hintergrund ein Raum exemplarisch untersucht werden könne. Hinsichtlich der Frage, was genauer unter ‚lebensweltlicher Erfahrung‘ zu verstehen sei, knüpft der Autor an die Theorie der ‚Responsivität‘ von Bernhard Waldenfels an und rekonstruiert ein Konzept der Erfahrung, wonach „Erfahrung nicht nur dem Willen des Menschen unterliegt“, sondern „auch von anderen Menschen und anderen Dingen“ abhänge. Ziel einer exemplarischen Untersuchung von Raum sei es, Wirkweisen und Wirkmittel von Räumen anschaulich und dadurch diskutierfähig zu machen. In gewisser Hinsicht könne man davon sprechen, dass durch eine solche Forschung ein Vermögen, eine Leistung oder vielleicht eine Art Intelligenz von Räumen anschaulich wird, die sich weder nur auf die Ausstattung der Architektur noch allein auf den Willen des Menschen zurückführen lässt. Feldhusen versteht eine Untersuchung dieses ‚Eigensinns des Raums‘ als Beitrag zu einer ‚Wirkungsforschung‘, die sich „der Wirkung des Raums auf den Menschen durch das Ausdrücklichmachen räumlicher Ordnungen nähert“. Der Beitrag von Karsten Berr widmet sich wissenschaftstheoretischen Überlegungen zur Landschaftsarchitektur im Spannungsfeld zwischen Erwartungen der Alltagswelt und wissenschaftlichen Ansprüchen einerseits sowie zwischen disziplinären Aufgaben und inter- wie transdisziplinären Herausforderungen andererseits. Es wird skizziert, auf welche Schwierigkeiten ­Verwissenschaftlichungs-Strategien in der Landschaftsarchitektur stoßen, wie der wissenschaftstheoretische Status der Landschaftsarchitektur einzuschätzen und zu begründen ist, aus welchen Gründen und auf welche Weise die Landschaftsarchitektur in drei Subdisziplinen ausdifferenziert wurde und warum und wie Landschaftsarchitektur als Disziplin auf Interdisziplinarität und Transdisziplinarität verweist. Um Sinn, Erfordernis, Zweckmäßigkeit und Chancen inter- und transdisziplinärer Grenzüberschreitungen der Disziplin Landschaftsarchitektur zu erläutern, wird ein Blick auf die lebensweltlichen Fundamente der Landschaftsarchitektur geworfen. Abschließend wird die Landschaftsarchitektur in ihrer

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disziplinären Infra- und Supra-Struktur näher untersucht sowie mögliche und notwendige Grenzüberschreitungen inter- und transdisziplinärer Art vorgestellt und auf ihre Potenziale und Chancen hin befragt. Es werden jeweils verschiedene Weisen vorgestellt, wie die Landschaftsarchitektur mit ihren drei Subdisziplinen im Dickicht der Interdisziplinarität und wie sie in der Arena der Transdisziplinarität jeweils paradigmenspezifisch aufgestellt ist. Florian Weber und Olaf Kühne stellen in ihrem Beitrag ihr Verständnis von konstruktivistischer Landschaftsforschung vor. Diese fasse Landschaft im Gegensatz zu essenzialistischen oder positivistischen Ansätzen nicht als gegebenes Objekt mit wesentlichen oder quantifizierbaren Eigenschaften auf, sondern als ‚soziales Konstrukt‘ mit wandelbarer, von sozialen und individuellen Konstruktionen jeweils abhängiger Bedeutung. Es geht dementsprechend um die Herausarbeitung von sozialen Deutungsmustern, die „Eindrücke prägen und so auch prägen, wie wir derzeit spezifische Architekturen und architektonische Arrangements deuten“. Ungeachtet verschiedener Ausrichtung (sozialkonstruktivistisch, diskurstheoretisch, radikalkonstruktivistisch) stimmen konstruktivistische Perspektiven darin überein, ‚Landschaft‘ nicht als Realobjekt zu betrachten und daher nicht nach der ‚Landschaft als Objekt‘ zu forschen. Stattdessen sei zu untersuchen, „wie Menschen in welchem Kontext auf welcher Grundlage von ‚Landschaft‘ sprechen und mit welchen Bedeutungen und Interpretationen sie diese versehen“. Es sei von einer Sozialisation des Individuums in „gesellschaftliche Wissensbestände, Deutungs- und Bewertungsmuster“ auszugehen. Dabei könne zwischen Common-sense-Wissen und Expertenwissen unterschieden werden, die ungleich verteilt sind, sich voneinander abgrenzen und sich wandeln können. Die Autoren exemplifizieren die Möglichkeit der interdisziplinären Bereicherung einer Architektur-Wissenschaft durch konstruktivistische Landschaftstheorien am Beispiel so genannter ‚Stadtlandhybride‘. Der Nutzen des konstruktivistischen Zugangs wird darin gesehen, dass diese Theorien „architekturbezogenen Bedeutungswandel, sich verankernde und ebenso wieder aufbrechende temporäre Bedeutungsfixierungen beleuchten und anwendungsbezogen Hinweise für die ‚Architekturpraxis‘ bieten (können).“ Außerdem könnten sie die Machtdiskurse innerhalb der Architektenschaft, wie auch deren ‚Distinktionsgebaren‘ gegenüber Personen ohne ‚expertenhafte Sonderwissensbestände‘ reflektieren. Den Auftakt zum dritten Teil und der Frage nach dem Spannungsverhältnis von Architektur und Architektur-Wissenschaft macht Eduard Führ mit der grundsätzlichen Frage, ob es für die wissenschaftliche Beschäftigung mit Architektur überhaupt förderlich oder nicht eher hinderlich sei, weiterhin von Disziplinen, damit auch von einer Disziplin ‚Architektur-Wissenschaft‘ ausgehen zu wollen.

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Eduard Führ kann zeigen, dass und wie die Verbindung von Architektur und Wissen in der Wissenschafts- bzw. Disziplinengeschichte einen umfassenden und kaum noch zu überblickenden Umfang angenommen hat, der es schwer mache, eine Disziplin Architektur sinnvoll ab- und einzugrenzen. Angesichts der Komplexität architekturaffiner Disziplinen müsse daher zunächst grundlegend über die Disziplinarität bzw. die Interdisziplinarität der Architektur diskutiert werden, um sich „in einem ersten kritischen Ansatz“ klar machen zu können, „was das ist, die ‚Architektur‘. Grundlegend wäre auch zu fragen, ob denn Architektur überhaupt eine Wissenschaft sei oder Kunst oder Handwerk.“ Im Anschluss an bekannte Definitionsvorschläge zur Architektur untersucht Führ den historischen Prozess, der zur Auffassung von Architektur, die in der Renaissance zur „Bau-Kunst“ wurde, als einem spezifischen Wissen geführt hat. Mit dem Aufkommen von Rationalismus und Aufklärung werde Architektur als eine (Geistes–)Wissenschaft, tendenziell aber ebenso als Naturwissenschaft mit Verbindung zur Mathematik verstanden. Als Fazit resümiert Führ „Fraglichkeiten einer Wissenschaft der Architektur“ und verlangt die „Dekonstruktion der geschichtlichen Definitionsversuche“. Es müsse eine „Forschung initiiert werden, die Wissenschaft der Architektur von der Architektur und nicht von der Wissenschaft her bestimmt“. Jörg Gleiter vertritt die These, „dass es für die Architektur eine vorwissenschaftliche Theorie gibt, aber keine vortheoretische Praxis“. Es lasse sich zeigen, dass eine „vortheoretische Architektur ein Widerspruch in sich“ ist, da diese der Architektur als „Erfindung und Kunst der Systeme“ widerspräche. Zweitens werde Architektur „nicht nur auf der Grundlage von Theorien gebildet, sondern in ihren besten Fällen“ seien die Entwurfsprozesse „immer auch Theoriebildungsprozesse“, denn Theorie sei zwar notwendige Voraussetzung für kreative Prozesse, sie sei aber auch „Resultierende der auf das Neue zielenden Entwurfsprozesse“. Drittens komme Theorie der Architektur „nicht aus dem Nichts“, sondern sie stelle „per se immer andere Theorien infrage“, transformiere oder ersetze diese, und daher sei Architekturtheorie nur als „kritische Theorie denkbar.“ Marcus van Reimersdahl fasst Architektenwettbewerbe als Paradigma der Architekturrezeption, in denen im Rahmen von ‚Preisgerichtssitzungen‘ eine wertende Auseinandersetzung mit Architektur stattfindet, bei der allerdings kein reales Gebäude vorhanden ist. Es werden stattdessen Entwürfe begutachtet und deren Tauglichkeit idealisiert. Der Autor fragt daher, wie professionelle und objektive Qualitätsurteile über Architektur inszeniert werden. Der Beitrag kann zeigen, dass gewisse institutionalisierte Verfahren der Urteilsbildung professionelles Können und Wissen generieren und potenzieren, diese es aber

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nicht ermöglichen, den Prozess selbst als kontrollierbar und als objektiv nachvollziehbar durchzuführen. Architektur bedeutet letztlich das, was als Bedeutung im Interpretationsprozess ausgehandelt wird. Solche Prozesse werden aus einem hermeneutisch-phänomenologischen Wissenschaftsverständnis heraus als von der Forschung bislang übersehene soziale Handlungen gefasst. Der Autor hält diesen hinter verschlossenen Türen obwaltenden, intimen Prozess der Geltungszuschreibung bei einem Preisgericht für paradigmatisch: Es geht um das (Er-)Finden einer Geschichte, die zu den Entwürfen die passende, d. h. überzeugendste Erzählung liefert. Der Aufsatz analysiert demnach eine für die Bedeutungsgenerierung von Architektur (und architektonischen Entwurf) typische Handlungssituation. Beim ‚Kampf‘ um die Bedeutung von Entwürfen komme der Sprache eine besondere Rolle zu. Architektur soll Vorstellungen von Bauherren in architektonische Bilder umsetzen, obwohl zunächst weder der Bauherr noch der Architekt klare Beschreibungen ihrer Erwartungen abgeben können. Eine gravierende Folge ist die Entstehung von „Leitbauten, die für diese Anforderungen markante Architekturlösungen entwickelt haben.“ Da solche Leitbauten häufig in den Fachmedien verbreitet werden, können sie als Vorbilder für architektonische Entwürfe fungieren. Dies begünstigt sowohl bei entwerfenden Architekten als auch bei künftigen Bauherren eine entsprechende Erwartungshaltung. Entwürfen können fortan Beschreibungen anhängen, deren Vorgeschichte nicht mehr nachvollzogen wird und oftmals gar nicht mehr nachvollzogen werden kann. Martin Düchs stellt die Frage, ob normative Aussagen bzw. Werturteile in einer Architektur-Wissenschaft legitim seien. Unter ‚Architekturtheorie‘ versteht er diejenige „Art von theoretischer Auseinandersetzung mit Architektur, wie sie häufig von in der Praxis tätigen Architektinnen betrieben wird.“ Und diese tätigen Architekten unterziehen ihren Gegenstand und ihr Tun häufig einem Werturteil mit normativem Geltungsanspruch: so soll oder muss Architektur sein! Die Frage ist dann, ob dies auch ‚Architektur-Wissenschaft‘ dürfe, zu der beispielsweise „die Architekturpsychologie, die Architektursoziologie, die Architekturgeschichte oder die Architekturphilosophie, nicht aber die Architekturtheorie oder die Architekturkritik“ gerechnet werden. Die Architektur-Wissenschaft(en) seien insofern „immer sekundär“. Für eine positive Antwort auf die Frage, ob ­Architektur-Wissenschaft als Wissenschaft Werturteile fällen darf, sprechen für Düchs gute Gründe. So drohe Architektur-Wissenschaft „zu einer reinen Bestandsaufnahme des Gegebenen“ zu werden, die der Architektur und Architekturtheorie, aber auch der Politik oder dem einzelnen Bauherrn „nichts mehr anzubieten hätte.“ Verzichte sie völlig auf Werturteile bzw. normative Aussagen, drohe ihr daher die relative Bedeutungslosigkeit. Verzichtet sie nicht darauf,

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müsse sie aber einen geeigneten Maßstab finden, an dem sie ihre Urteile auslegen kann. Dieser Maßstab – so Düchs – sei das Konzept des „guten Lebens“, und dieser könne etwa beurteilen, ob ein Bauziel und seine Umsetzung geglückt sind. Um diesem Anspruch zu entsprechen, muss Architektur-Wissenschaft eine rein beobachtende Haltung aufgeben zugunsten eines „urteilenden Verhältnisses zur Architektur“: „Architektur-Wissenschaft soll einen Bezug haben zu dem, was für Menschen relevant ist.“ Dieser Ansatz wird vom Autor selbst als programmatisch eingeschätzt, weitere Schritte sollen folgen. Hansjörg Küster geht zunächst von der These aus, jede Landschaft sei charakterisiert „durch eine Durchdringung von Natur, (gestaltender) Kultur und Ideen“. Wissenschaft habe die Aufgabe, diese Durchdringung zu decodieren und festzustellen, „was in einer Landschaft wirklich natürlicherweise entstanden ist, was durch den Menschen geformt wurde und welche Ideen jeder einzelnen Landschaft beigegeben wurden“. An gebauten Häusern des so genannten ‚Schweizer Haus‘ überprüft er diese These exemplarisch, um ihre Verifizierung (typische Baumaterialien; typische Stellung in einer typischen Umgebung; typische Landschaftselemente) aufzuzeigen. Im Mittelpunkt steht die Kenntlichmachung der ‚Idee‘, die mit diesem Haus verbunden sei. So zeige sich überall, wo dieser Bautyp Mittelpunkt einer typischen Landschaft geworden ist, die Bedeutung dieser ‚Idee‘ des ‚Schweizer Haus‘. Dieses Phänomen lasse sich verallgemeinern, beispielsweise mit Blick auf die „Idee von Italien oder der Toskana, von Arkadien, von England oder von Norwegen.“ Es scheint – so Küster – überhaupt „charakteristisch für das Erkennen von Landschaften zu sein, dass deren Benennungen von einem Ort auf den anderen übertragen werden“ können. So sei es auch möglich, eigene Sehnsuchtsziele „weit entfernt von den landschaftlichen Vorbildern“ aufzufinden. Dabei bestehe freilich ein wesentlicher Unterschied: Wenn das Schweizer Haus in eine ganz andere geographische Region verlegt wird, dann um dort ein ideeller Ort der Empfindung oder ein Sehnsuchtsort zu werden. In seiner Ursprungsregion war es stets primär Ausdruck von Sachlichkeit und Pragmatismus und entsprach einer bestimmten traditionellen Beziehung zwischen Haus und Natur. Henrik Schultz überschreitet in seinem Beitrag ausdrücklich die Grenze zur Transdisziplinarität. Er stellt die Frage, wie sich eine stetig wachsende Komplexität in landschaftlichen Transformationsprozessen, in denen Akteure mit unterschiedlichen fachlichen Hintergründen ko-kreativ Wege in eine nachhaltige Zukunft suchen, so ausdrücken und darstellen lässt, dass sie von möglichst vielen Betroffenen verstanden und als Herausforderung angenommen werden kann. Thematisiert ist damit die Frage nach der Anschlussfähigkeit von Landschaftsplanung wie -forschung an die lebensweltlichen Erfahrungen, Erwartungen und

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Überzeugungen der von Planungen betroffenen Menschen. Vor allem, so Schultz in Anknüpfung an neuere Diskussionen, stehe diese Frage in transdisziplinären Forschungssettings wie etwa Reallaboren im Mittelpunkt. Die weitere These lautet, dass in solchen Planungsverfahren unterschiedliche bildliche Darstellungen implizites Wissen versammeln und niedrigschwellige Zugänge zu komplexen Diskussionen schaffen können. Im Gegensatz beispielsweise zu für Nichtexperten schwer verständliche fachsprachliche und häufig lange textliche Darstellungen und Tabellen können solche Bilder als Anker der Erinnerung fungieren, mit denen sich Akteure auch in länger andauernden Prozessen immer wieder verorten können. Schultz unterscheidet Erlebte, Konzipierte und Verhandelte Bilder als zentrale Verständigungs-Medien solcher transdisziplinärer Aushandlungsprozesse. Stefan Körner rekonstruiert kritisch die Theoriebildung innerhalb der Landschaftsarchitektur, wie sie in den letzten Jahrzehnten zutage getreten ist. Neben der Ausdifferenzierung des Fachs seit dem 2. Weltkrieg in die drei Subdisziplinen 1) Naturschutz und Landschaftsplanung, 2) Freiraumplanung, 3) Landschaftsarchitektur diskutiert der Autor den Umgang mit dem NS-Erbe. Vor allem wird die Entwicklung vom Landschaftsgestalter zum Landschaftsarchitekten kritisch gesehen, die den Entwerfer als ‚genial Schaffenden‘ und ‚visionären Künstler‘ betrachtet und in Abgrenzung zur Landschaftsplanung die traditionelle Kulturlandschaft zur modernen ‚Wohnlandschaft‘ umbenennt. Trotz modischer Begriffe und Theorien habe sich aber in der theoretischen Begründung der Disziplin nichts grundlegend geändert. Vor allem die Auslegung des Gestaltens als ein progressives und fortschrittliches Tun überdecke die im Kern kontinuierliche (wert-)konservative Ausrichtung des Fachs Landschaftsarchitektur. Hinzu kommen unzureichende Begründungen, warum Landschaft nun als Stadt-Landschaft angesehen, was unter ‚urban-industrieller Natur‘ verstanden ­ werden kann oder soll. Auch der Versuch von Martin Prominski, drei Landschaften unterscheiden zu wollen, müsse als gescheitert betrachtet werden, wie auch das Anliegen von Udo Weilacher, ein neues ‚Weltbild‘ für die Landschaftsarchitektur zu erkennen, als Ablenkung von substanz- und sozial folgenlosem Theoretisieren im Gewand einer ‚Selbstüberhöhung‘ einzuschätzen sei. Insbesondere sei der „Widerspruch von alltagsweltlicher Nutzbarkeit (im weitesten Sinne) und avantgardistischem Anspruch“ nicht überwunden. Die sogenannte Kasseler Schule der Freiraumplanung hingegen habe das Ziel gehabt, zu einer „Geografie des Alltagslebens“ und zur Emanzipation der Bürger im weitesten Sinne beizutragen. Obwohl inzwischen Theoretisierung und Politisierung von Landschaftsarchitektur und Freiraumplanung wieder weitgehend zurückgenommen worden seien, sei es wichtig gewesen, dass sich die Kasseler Schule

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gegenüber dem künstlerischen Anspruch der Landschaftsarchitektur mit der Forderung habe behaupten können, auch alltägliche Gebrauchspraxen zu beachten. Vor allem sei eine „Verbindung von Schönheit und Zweckmäßigkeit“ für eine Theoriebildung von Landschaftsarchitektur und Freiraumplanung zielführend. Körner schließt mit der Aufforderung zu einer hermeneutischinterpretativ gestützten „Erforschung der lebensweltlichen Praxis“ zwecks ‚nachhaltiger Beheimatung in der Welt‘. Forschungsperspektive Bei den versammelten Beiträgen handelt es sich um die schriftlichen Fassungen von Vorträgen im Rahmen des eingangs bereits erwähnten, von der DFG finanzierten ‚Rundgesprächs‘ zum Thema „Interdisziplinäre ­Architektur-Wissenschaft“ im Juni 2018 an der Technischen Universität Dresden. Die Schriftfassungen der Vorträge werden durch die Beiträge von Thomas Rentsch, Achim Hahn, Karsten Berr, Petra Lohmann, Sebastian Feldhusen, Henrik Schultz und Stefan Körner ergänzt, die auf dem Workshop nicht selbst vorgetragen und diskutiert wurden. Die Autorin und die Autoren dieser zusätzlich aufgenommenen Aufsätze standen und stehen mit wissenschaftlicher Aufgeschlossenheit, Interesse und Engagement für das Thema dieses Bandes in Kontakt mit den Initiatoren des Rundgesprächs. Dank gebührt zum einen der DFG für die finanzielle Förderung des Rundgesprächs, allen Beteiligten, Mitwirkenden und Unterstützern an der Technischen Universität Dresden, den Verantwortlichen im Verlag Springer VS und insbesondere den Autorinnen und Autoren, ohne deren Engagement das Rundgespräch wie auch der vorliegende Band nicht hätten realisiert werden können. Alle Beteiligten hoffen, dass die aufgeworfenen Fragen, die aufgezeigten Perspektiven und die eingenommenen Positionen der Autorinnen und Autoren einen Anstoß für weitere Diskussionen auch anderer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler geben können.

Literatur Aristoteles, (2001). Die Nikomachische Ethik. Griechisch-deutsch (Sammlung Tusculum). Düsseldorf: Artemis & Winkler. (Übersetzt von Olof Gigon, neu herausgegeben von Rainer Nickel). Balsiger, P. W. (2005). Transdisziplinarität. Systematisch-vergleichende Untersuchung disziplinenübergreifender Wissenschaftspraxis. München: Fink. Eisel, U. (1992). Über den Umgang mit dem Unmöglichen. Ein Erfahrungsbericht über interdisziplinäre Studienprojekte in der Landschaftsplanung. Teil 1 und 2. http://​ueisel.

Einführende Anmerkungen

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de ​ / ​ fileadmin/ ​ d okumente/​ a usgetauscht%20ab%20november%202009/​ U eber_​ d en_​ Umgang_​mit_​dem_​Unmoeglichen_​INTERDIS_​1992. Zugegriffen: 18. Jan. 2019. Gethmann, C. F. (1991). Vielheit der Wissenschaften – Einheit der Lebenswelt. In Akademie der Wissenschaften zu Berlin (Hrsg.), Einheit der Wissenschaften (S. 349– 371). Berlin: de Gruyter. Grunwald, A., & Schmidt, J. C. (2005). Method(olog)ische Fragen der Inter- und Transdisziplinarität. Wege zu einer praxisstützenden Interdisziplinaritätsforschung. Technikfolgenabschätzung – Theorie und Praxis, 14(2), 4–11. Hahn, A. (2017). Architektur und Lebenspraxis. Für eine ­ phänomenologischhermeneutische Architekturtheorie (Architekturen) (Bd. 40). Bielefeld: transcript. Hahn, A. (2020). Konstanz und Wandel des Wohnens. In F. Eckardt & S. Meier (Hrsg.), Handbuch Wohnsoziologie. Wiesbaden: Springer VS (im Erscheinen). Husserl, E. (1954). Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie (Husserliana) (Bd. 6). Den Haag: Martinus Nijhoff. Herausgegeben von Walter Biemel. Irrgang, B. (2008). Philosophie der Technik. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. Janich, P. (1996). Was ist Wahrheit? Eine philosophische Einführung (Beck’sche Reihe C. H. Beck Wissen) (Original-Ausgabe Aufl., Bd. 2052). München: Beck. Janich, P. (2011). Handwerk und Mundwerk. Lebenswelt als Ursprung wissenschaftlicher Rationalität. In C. F. Gethmann, J. C. Bottek, & S. Hiekel (Hrsg.), Lebenswelt und Wissenschaft. XXI. Deutscher Kongreß für Philosophie 15. – 19. September 2008 an der Universität Duisburg – Essen (S. 678–691). Hamburg: Felix Meiner Verlag. Kolloquienbeiträge. Janich, P. (2015). Handwerk und Mundwerk. Über das Herstellen von Wissen. München: Beck. Kamlah, W., & Lorenzen, P. (1967). Logische Propädeutik oder Vorschule des vernünftigen Redens (Revidierte Ausgabe Aufl.). Mannheim: Bibliographisches Institut. Mittelstraß, J. (1991). Das lebensweltliche Apriori. In C. F. Gethmann (Hrsg.), Lebenswelt und Wissenschaft Studien zum Verhältnis von Phänomenologie und Wissenschaftstheorie (S. 114–142). Bonn: Bouvier. Mittelstraß, J. (2003). Glanz und Elend der Geisteswissenschaften. In G. Kühne-Bertram, H.-U. Lessing, & V. Steenblock (Hrsg.), Kultur verstehen. Zur Geschichte und Theorie der Geisteswissenschaften. Würzburg: Königshausen & Neumann. Potthast, T. (2010). Epistemisch-moralische Hybride und das Problem interdisziplinärer Urteilsbildung. In M. Jungert, E. Romfeld, T. Sukopp, & U. Voigt (Hrsg.), Interdisziplinarität Theorie, Praxis, Probleme (S. 173–191). Darmstadt: WBG. Rentsch, T. (1998). Wie läßt sich Angemessenheit ästhetisch denken? Zum Zusammenhang von Schönheit, Metaphysik und Lebenswelt. In B. Merker, G. Mohr, & L. Siep (Hrsg.), Angemessenheit. Zur Rehabilitierung einer philosophischen Metapher (S. 161–173). Würzburg: Königshausen & Neumann. Weith, T., & Danielzyk, R. (2016). Transdisziplinäre Forschung – Mehrwert für die Raumwissenschaften. Fünf Thesen zur Diskussion. Nachrichten der ARL, 2, 8–12.

Teil I Philosophische Grundlagen

Philosophie der Lebenswelt als Wissenschaftstheorie und Wissenschaftskritik – im Blick auf die Architektur Thomas Rentsch Systematische Kernthesen 1. Die Philosophie der Lebenswelt muss sich als Wissenschaftstheorie systematisch so entwickeln, dass sie wissenschaftskritisch klärt, inwieweit die jeweilige Fachwissenschaft der Lebenswelt und der konkreten Lebenspraxis auf sinnvolle Weise dient und hilft bzw. inwieweit sie sich von dieser menschlichen Lebenspraxis entfernt und entfremdet und sie so auf negative Weise beeinflusst, verändert und stört. 2. Um das Apriori der konkreten Lebenswelt und ihrer Praxis zu klären, ist es systematisch erforderlich, die interne Komplexität dieser primären, lebensweltlichen Praxis zu erfassen und die normative Tragweite dieser Komplexität zu begreifen. Zentral sind für diese Komplexität ihre Endlichkeit und ihre Ganzheitlichkeit, ihr normativer Holismus und dessen Irreduzibilität. Diesen endlichen, irreduziblen Holismus zu erfassen, stellt methodisch wie normativ eine ganz besondere anspruchsvolle systematische Aufgabe dar. Angesichts der vielfach extremen Ausdifferenzierung und Verselbstständigung der einzelwissenschaftlichen Grundlagen und ihrer spezifischen Forschungspraxis gerät der nachvollziehbare, normativ grundlegende Bezug zur Lebenswelt vielfach aus dem Blick oder er geht sogar tendenziell verloren. Denken wir als fundamentales Beispiel nur an die extrem weit-

T. Rentsch (*)  TU Dresden, Institut für Philosophie, Dresden, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Berr und A. Hahn (Hrsg.), Interdisziplinäre Architektur-Wissenschaft, Interdisziplinäre Architektur-Wissenschaft: Praxis – Theorie – Methodologie – Forschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29634-6_2

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reichende wissenschaftlich ermöglichte Einrichtung und den jahrzehntelangen Betrieb der Atomkraftwerke. Das extreme Gefahrenpotenzial war schon lange evident. Es brauchte sehr lange, bis zumindest wenigstens in Deutschland die Abschaltung politisch beschlossen wurde. Oder denken wir an die sich immer schneller verselbstständigende technische Weiterentwicklung der Digitalisierung. Welche Gefahrenpotenziale mit dieser Entwicklung bezüglich des Schutzes der persönlichen Kommunikation und des individuellen Privatlebens sowie der persönlichen Daten verbunden sind, wird nicht bzw. kaum kritisch diskutiert und reflektiert, auf jeden Fall zu wenig. Ob selbstfahrende Autos wirklich sicher sind, wird zwar gefragt. Jedoch die autonome Forschung und die Aussicht auf ökonomische Effizienz dominieren die internationale Entwicklung. Auch die Weiterentwicklung der Neurobiologie verselbstständigt sich zunehmend. Es ist dringend erforderlich, dass auch die medizinische Forschungspraxis wieder ganz grundlegend an unser normatives, ­lebensweltlich-praktisches Selbstverständnis zurückgebunden wird. Es muss gesamtgesellschaftlich, ethisch, sozial, politisch und rechtlich verstärkt gefragt werden, ob und inwieweit z. B. die wissenschaftlich verfolgte Zielsetzung des Kampfes gegen das menschliche Altwerden („Anti-Aging“) bzw. um die möglichst große Lebensverlängerung (möglichst um mehr als hundert zusätzliche Jahre) sinnvoll ist. Es gilt, grundsätzlich zu fragen, was diese Ziele ethisch, moralisch, sozial und politisch eigentlich bedeuten und mit welchen – bislang kaum absehbaren – Konsequenzen sie für das gesellschaftliche, auch internationale Zusammenleben auf unserem endlichen Planeten haben würden. 3. Die Perspektive der internen Komplexität der primären lebensweltlichen Praxis muss methodologisch zu einer kritisch-hermeneutischen Analyse der Modi und der Aspekte dieser Komplexität führen. Es gilt, die Ganzheitlichkeit, den internen Holismus dieser Praxis ausdifferenziert zu erfassen. Zentral ist dabei, dass die Aspekte gleichursprünglich sind (mit Husserl auch: „äquiprimordial“). Diese Gleichursprünglichkeit führt insbesondere dazu, dass sie übersehen, übersprungen, reduziert, verdrängt oder vergessen wird. Sie führt zur Lebensweltvergessenheit, gerade weil sie uns in der konkreten Lebenspraxis so außergewöhnlich nah ist. Welches sind die gleichursprünglichen Aspekte der Lebenswelt? Als wesentlich lassen sich hervorheben: die moralisch-ethischen, die sozialen, die körperlich-leiblichen, die kulturellen und die technischen Aspekte. Bereits im Blick auf die lebensweltliche Basis der Architekturtheorie und des Bauens und Wohnens lässt sich paradigmatisch konkretisieren, dass es uns in dieser Basis fundamental um ein gutes, gelingendes, dauerhaft tragfähiges gemeinsames Leben geht. Diese Lebensperspektive bereits bewirkt, phänomenologisch gesagt, eine Horizontvorzeichnung, mit der und durch die normativen Konsequenzen des guten Lebens

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für das Bauen und Wohnen und die Praxis der der Architektur notwendig verbunden sind. Gleichursprünglich mit den moralisch-ethischen Aspekten sind die sozialen und auch politischen und rechtlichen Aspekte der konkreten Lebenspraxis, sie sind unlöslich mit ihnen verklammert. Denn es geht um unser gemeinsames Leben, um unser Zusammenleben in unserer gesamten Lebenszeit. Ebenso konstitutiv gleichursprünglich mit diesen Aspekten ist der fundamentalanthropologische Aspekt unserer k­ örperlich-leiblichen Existenz. Die primäre Lebenspraxis aller Menschen ist undenkbar ohne diese Körperlichkeit und Leiblichkeit. Und dieser Aspekt ist ersichtlich ganz wesentlich für unser Bauen und Wohnen und somit für die Architekturtheorie. Zudem seien die Aspekte der kulturellen Kontextualität und der technischen Möglichkeiten aufgezeigt. Jede Kultur hatte ihre eigenen architektonischen Traditionen, von den Hütten bis zu den Wolkenkratzern, auch wenn in der fortgeschrittenen Moderne international und weltweit mittlerweile sehr ähnliche technische Standards die Architektur dominieren. Es sei unterstrichen, dass die aufgewiesenen Aspekte der Lebenswelt ganz intensiv zueinander gehören, auf einander wirken und nur mit– und wechselseitig durch einander begriffen werden können. Diese methodologische Einsicht stellt eine besondere Herausforderung für die phänomenologisch-kritische Hermeneutik dar. Immer droht die Gefahr, einzelne Aspekte, insbesondere die technischen, zu verselbstständigen, vor allem in Verbindung mit effizienzökonomischen Kriterien, die wiederum zum Überschreiten und zum Vergessen der lebensweltlichen Basis unserer Praxis tendieren können. 4. Das lebensweltliche Praxisfundament der Architekturtheorie und des Bauens und Wohnens, ihrer Entwürfe und Maßstäbe wird besonders deutlich, wenn wir die Konstitution der Husserlschen Horizontvorzeichnung und der praktischen Bedeutung seiner Analysen zur sinnkonstitutiven Intentionalität genauer betrachten. Der komplexe Husserlsche Grundbegriff der Horizontvorzeichnungsvollzugsnotwendigkeit aus den umfassenden, subtilen Analysen des Spätwerkes besagt, dass die Vollzüge der menschlichen Lebenspraxis ganz fundamental durch irreduzible Sinnantizipationen konstituiert werden, ohne die sie nicht begriffen werden können. Paradigmatisieren wir diese systematische Kernthese zunächst an elementaren Beispielen aus dem Bauen und Wohnen. Sehen wir die Tür eines Hauses, einer Wohnung oder eines Zimmers, so antizipieren wir gleichzeitig „automatisch“, „von selbst“, ohne dies aktiv bewusst zu initiieren: hier kann ich eintreten, durch diesen Eingang komme ich problemlos ins Haus, in die Wohnung, in dieses Zimmer. Dahinter befindet sich ein weiterer sinnvoller Lebensraum, in den ich problemlos eintreten kann. Oder: Sehen wir einen Stuhl, ein Bett: sofort assoziieren wir: Hier kann ich mich hinsetzen; in dieses Bett kann ich mich hinlegen, mich

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problemlos lang ausstrecken, hier kann ich schlafen. An diesen elementaren Beispielen des Wohnens und Lebens zeigt sich: Wir leben in einem konstitutiven Lebens-Sinnraum, und dies bereits vor- ja, unbewusst. In diesem Raum sind uns die Möglichkeiten der sinnvollen Bewegungen, die Möglichkeiten unserer elementaren, aber eben auch fundamentalen Orientierungspraxis je schon eröffnet und erschlossen. Dies gilt geradezu universal: Es gilt für alle Wege, die Treppen, die Straßen, für die gesamte Fortbewegungspraxis. Ich denke, dass diese Dimension der vorbewussten, alltäglichen, konkreten lebensweltlichen Sinnantizipation für die gesamte Architektur von grundlegender, oft vergessener Bedeutung und Tragweite ist. Wie groß sollte der jeweilige Raum sein, wie klein nicht? Wie können wir gut aus dem Fenster schauen? Schützen uns die Wände gut gegen den Straßenlärm der fahrenden Autos bzw. gegen den Lärm, die Musik oder den Streit der Nachbarn? Hinzu kommt, dass diese elementare Sinnantizipation, die Husserl auch als passive Intentionalität bzw. als passive Synthesis bezeichnet, dass diese Sinnantizipation unser gesamtes Leben prägt und fundiert, und dies eben bereits vor- und unbewusst, bereits als Säugling, als Kleinkind, ja bereits vorgeburtlich, im Mutterleib. Denn je bereits antizipieren wir Sinn im nächsten Moment. Wir können weiter ruhen, werden weiter ernährt, können bald schlafen, werden umsorgt. Und auch im hohen Alter, auch bei den schweren Einschränkungen durch Demenz und Alzheimer, vollzieht sich die passive Sinnantizipation in vielen Formen. Ein Ur- und Grundvertrauen fundiert unsere gesamte lebensweltliche Praxis, und dies fundiert auch die möglichen Sinndimensionen, die die Architektur als Gestaltungsaufgaben hat. Erst so werden auch alle Brüche, Enttäuschungen und defizitären Erfahrungen unseres Lebens ermöglicht. Die Umsorgung kann plötzlich fehlen, die Tür geht nicht auf, der Stuhl wackelt, das Bett bricht zusammen. In diesem Kontext sei auch kurz darauf hingewiesen, dass die Analysen des späten Husserl zur passiven Synthesis und zur passiven Horizontbildung eine große systematische Nähe zu Sigmund Freuds Psychoanalyse haben. Beider Ansätze Ursprung in der Wiener Moderne ist m. E. immer noch viel zu wenig erforscht. 5. Die bisherigen Thesen implizierten bereits häufig einen wesentlichen Aspekt der lebensweltlichen, normativ fundamentalen Basis unserer gesamten Praxis und damit auch aller Wissenschaften und ebenso der Architekturtheorie: Es ist das irreduzible Leibapriori. Unsere gesamte Praxis ist ohne dieses Leibfundament als Zentrum der Existenz jedes Menschen in seinem gesamten Leben und in jedem Augenblick seiner Lebenspraxis völlig unmöglich und undenkbar. Dennoch tendiert gerade die fortgeschrittene Spät- bzw. Postmoderne zu vielen Formen des vermeintlichen Überspringens, des Ersetzens der konkreten Leiblichkeit durch eine Vielzahl technischer Steigerungs- und Perfektheits-

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instrumente, durch fundamentale Ersatzmittel, die schneller und besser rechnen und schalten und uns vernetzen können. Und dennoch: die konkrete interexistenzielle, interindividuelle Kommunikation, das lebensweltliche Gespräch Auge in Auge ist durch keine Technik je ersetzbar. Die irreduziblen Lebenspraxisformen der Partnerschaft, der Liebe und Freundschaft, der Familie, der Kindheit, des Aufwachsens und Erwachsenwerdens – diese Formen sind für eine humane Existenz und ein gelingendes gemeinsames, menschliches Leben völlig unverzichtbar, sie sind notwendig im ursprünglichen Sinn dieses Wortes. Denn die Not, die so Tag für Tag wie Nacht für Nacht abgewendet wird, das ist ganz konkret die Hilflosigkeit des Alleinseins, der Mangel an wechselseitigem Austausch, das Fehlen des gemeinsamen Sich-Aufeinander-Verlassenkönnens. Hier findet sich die lebensweltliche ­ Basis zentraler normativer Kriterien für unser Bauen und Wohnen und damit für die Architekturtheorie. Mit der irreduzibel individuellen, lebenssinnkonstitutiven Leiblichkeit wiederum notwendig verbunden ist das von mir sogenannte Situationsapriori. Wir befinden uns stets, lebenslang, in jeweils konkreten Lebenssituationen. Auch wenn wir noch so weit fliegen, noch so fern vernetzt sind, so sind wir doch stets in unserer jeweils unmittelbaren, zeitlichen wie räumlichen Lebenssituation, auf der Arbeit, im Dienst, beim Einkaufen, ganz privat, Tag und Nacht. Aus diesem lebensweltlichen Apriori der menschlichen Lebenspraxis ergibt sich wiederum notwendigerweise ein weiteres Apriori, das ich in meiner Terminologie als Gestaltgebungsapriori bezeichne und das ersichtlich höchst relevant für die Architektur ist. Stets geht es darum, unsere Räume als Lebensräume zu gestalten. Die normative, fundamentalanthropologische Sinndimension der Endlichkeit und Ganzheit, also des konstitutiven Holismus der Lebenswelt ist dabei bleibend bestimmend. Wie eine sinnvolle Gestaltgebung für die zu bauenden Räume und für die Lebens- und Wohnpraxis jeweils erfolgen kann, das ist eine zentrale Aufgabe der Architektur. Die normative Angemessenheit des zu Bauenden für die kommunikativen, sozialen, gerechten Verhältnisse zwischen individuellen Personen gilt es zu erreichen. Für dieses Ziel ist eine ganz starke interdisziplinäre Ausrichtung der Architektur unumgänglich. 6. Das bislang skizzierte wissenschaftstheoretisch-wissenschaftskritische, philosophisch reflektierte Projekt mit Blick auf das lebensweltliche Fundament der Architektur und ihrer Theoriebildung ist ersichtlich dringend auf umfassende Interdisziplinarität angewiesen. Gegen die gegenwärtig stark drohende Verselbstständigung der Technik wie auch der Ökonomie, in klassischen Termini: gegen Verdinglichung und Entfremdung gilt es, die normativen, die kritischen und insbesondere die lebensweltlichen Potenziale der S ­ oziologie,

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der Politik- und der Rechtswissenschaft einzubeziehen, und dies in sowohl systematisch-methodologischer wie auch in praktischer Hinsicht. Um nur ­ einige zentrale Sinndimensionen im interdisziplinären Kontext noch anzusprechen: Im Blick auf den Praxisbezug von z. B. Kindergärten ist die Kooperation mit Erziehungswissenschaften, Pädagogik und psychologischen Forschungen sehr produktiv denkbar. Ebenso geht es bei Krankenhäusern, bei Alten- und Pflegeheimen um die Zusammenarbeit mit der Medizin und insbesondere mit der Gerontologie und der Gerontopsychiatrie. Dies sind nur einige Beispiele. Deutlich wird wiederum, dass der normative Holismus unserer Problemstellung keinesfalls übersprungen oder verdrängt werden darf. Interdisziplinarität ist daher methodologisch auf möglichst intensivem Niveau auszuarbeiten und möglichst praxisbezogen zu entfalten. 7. Ich komme zu einem Fazit. Um ­ wissenschaftstheoretischwissenschaftskritisch ein systematisch-methodologisch wie auch normativpraktisch begründetes, reflexiv tragfähiges Verständnis der Architektur zu gewinnen, muss die interne Komplexität der lebensweltlichen Praxis begriffen werden, die die Architektur fundiert. Diese Komplexität gilt es, in ihrer Endlichkeit und Ganzheit zu erfassen. Mit diesen Aspekten verbunden ist ein normativer Holismus, der irreduzibel ist. Dieser Holismus erfordert eine kritisch-hermeneutische Analyse der Modi und der Aspekte der besagten Komplexität in ihrer Ausdifferenzierung und unter methodologischer Berücksichtigung von deren Gleichursprünglichkeit. Nur durch die Einlösung dieser sehr anspruchsvollen Aufgabe kann es gelingen, die vielen Formen der – z. B. technischen oder ökonomischen – Lebensweltvergessenheit zu erkennen und zu überwinden. Durch die Analyse der Horizontvorzeichnung und des Gestaltgebungsapriori konnte das lebensweltliche Fundament der Architektur weiter rekonstruiert werden. Mit diesen räumlichen Sinndimensionen konstitutiv verbunden ist das irreduzible Leibapriori, dessen normative Tragweite und Bedeutung ebenfalls zum Zentrum der lebensweltlichen Basis der Architektur gehört. Um die Gebrauchspraxis der Architektur an der normativen Perspektive des guten, gelingenden gemeinsamen menschlichen Lebens zu orientieren, muss das Wohnen mit Achim Hahn als „menschliche Grundsituation“ begriffen werden (Hahn 2017). In diesem Kontext kann an Heideggers philosophische Reflexion der emphatischen normativen Bedeutung des Wohnens und des Bauens erinnert werden. Angesichts der akzentuierten zentralen Aspekte der Horizontvorzeichnung, der Sinnantizipation und des vom Menschen benötigten Ur- und Grundvertrauens ist – wiederum mit Hahn – auch der Rekurs auf die

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fundamentalanthropologische Analyse Helmuth Plessners zur menschlichen Ortlosigkeit und zur dringend benötigten existenziellen Zentrierung bleibend weiterführend (Hahn 2017, S. 26 f., 31 f., 158, 167 f., 244 und Hahn 2008, S. 59–66). Die für das Bauen und Wohnen grundlegende Sinnantizipation geht, so Hahn, philosophisch bereits auf die Analysen des Aristoteles zur phronesis, der für alle menschliche Praxis konstitutiven, vorgängigen Horizontvorzeichnung zurück (Hahn 1994). Ebenso sind die klassischen traditionellen Kategorien des Maßes und der Angemessenheit in der systematischen Perspektive der phänomenologischen Hermeneutik der Lebenswelt zu rekonstruieren und zu aktualisieren (Hahn 2008, S. 240–243; dazu: Rentsch 1998 und Rentsch 2005). Ferner sei im Blick auf die aufgezeigte systematisch notwendige interdisziplinäre Kooperation der Architektur mit vielen anderen Disziplinen darauf hingewiesen, dass der normative Holismus der Lebenswelt ebenso notwendig auf die Perspektive der normativen Ökologie führt. Das lebensbezogene Situationsapriori der Endlichkeit und Ganzheit muss gegen die effizienzökonomisch bedingten Prozesse der Verdinglichung, der Entfremdung und der Naturzerstörung gerichtet und in die Praxis der Architektur eingearbeitet werden. Quantitative Steigerungsprozesse gilt es, auf das menschliche Maß normativer Lebensqualität in seiner endlichen und ökologischen Ganzheit einzugrenzen. Abschließend sei noch eine systematische Klärung hinsichtlich der Methodologie der Philosophie der Lebenswelt unternommen. Wer mit dieser Tradition der Phänomenologie nicht reflexiv vertraut ist, kann diese durchaus als eigenartig abstrakt, als metatheoretisch-metasprachlich unzugänglich wahrnehmen, denken wir nur an Termini wie die „Horizontvorzeichnungsvollzugsnotwendigkeit“. Dieses durchaus verbreitete Missverständnis kann sich auch mit ideologiekritischen Aspekten verbinden. Dann erscheint die Lebenswelt als neoromantische Suggestion, als märchenhafte Idylle einer kleinen, schönen, gemütlichen Welt. Diese verbreiteten Missverständnisse werfen indirekt ein erhellendes Licht auf den spezifischen Status der phänomenologisch-hermeneutischen Methode. Denn ihre Terminologie wirkt so fern, abgehoben und abstrakt, gerade weil die konkrete lebensweltliche Praxis uns so außergewöhnlich nah ist, näher als wir uns selber sind. Philosophisch lässt sich dies z. B. am Phänomen der Individualität zeigen. Jeder weiß: Wir sind einmalige, einzigartige Wesen. Jeden Menschen gibt es nur einmal. Dennoch lehrt daher gerade die gesamte philosophische Tradition: Individuum est inaffabile – das Individuum ist unsagbar, unfassbar, letztlich nicht in seiner Tiefe und Komplexität erkennbar. Auf dieser Ebene ist die Lebenswelt zu verorten. Und die z. B. Husserlsche Terminologie versucht, diese Ebene sprachlich zu erfassen, aufzuzeigen, ins explizite Bewusstsein zu heben.

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­ nalogien aus philosophischer Sicht wären wiederum die Psychoanalyse Freuds, A die es auch versucht, das uns Nächste und deshalb Verborgenste unserer leiblichen Individualität hervorzubringen, ebenfalls mit einer metasprachlichen Hilfsterminologie. Und eine weitere entsprechende Analyse- und Reflexionsmethode bietet die Alltagssprachgebrauchsanalyse Ludwig Wittgensteins, die es unternimmt, die fundamentalen philosophischen Fragen im Rekurs auf unseren alltäglichen, sich schlicht vollziehenden, nicht explizit bewussten Sprachgebrauch zu klären und zu lösen (vgl. dazu Rentsch 2003). Auch dieser Ansatz der Moderne entwickelt sich, wie der von Husserl und Freud, zur gleichen Zeit in Wien. Das uns Nächste ist uns am fernsten, und diese Vergessenheit und Verdrängung steigert sich in unserer Gegenwart durch die Digitalisierung noch einmal auf extreme Weise. Demgegenüber muss eine lebenspraktisch ausgerichtete, kritisch-hermeneutisch reflektierte Architekturtheorie und Architektur immer an ganz konkreten Beispielen (vgl. die Analysen zur Beispielhermeneutik in Hahn 1994) nachvollziehbar verdeutlichen, dass und wie die reale menschliche Lebenspraxis durch ihre Arbeit zu jeweils sinnvoller Gestalt findet: im Kindergarten, in der Schule, auf dem Sportplatz, im Schwimmbad, im Krankenhaus, in der Landschaftsgestaltung, im Straßenbau, in Gärten und Parks, im Alten- und Pflegeheim. Jeweils wird deutlich werden: Die wissenschafts- und technikkritische, normative Rückbindung der Architektur an die konkrete Praxis der Lebenswelt auf allen ihren komplexen Ebenen ist keine abgehobene Metatheorie oder Ideologie, sondern ein dringend erforderliches, gesamtgesellschaftliches, ja internationales Aufklärungsprojekt.

Literatur Hahn, A. (1994). Die Bedeutung der phronesis für die Einheit der Praxis. In A. Hahn (Hrsg.), Erfahrung und Begriff. Zur Konzeption einer soziologischen Erfahrungswissenschaft als Beispielhermeneutik (S. 128–135). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Hahn, A. (2008). Architekturtheorie Wohnen, Entwerfen, Bauen. Wien: UTB. Hahn, A. (2017). Wohnen als menschliche Grundsituation. In A. Hahn (Hrsg.), Architektur und Lebenspraxis Für eine phänomenologisch-hermeneutische Architekturtheorie (S. 21–123). Bielefeld: transcript. Rentsch, T. (1998). Wie läßt sich Angemessenheit ästhetisch denken? Zum Zusammenhang von Schönheit, Metaphysik und Lebenswelt. In B. Merker, G. Mohr, & L. Siep (Hrsg.), Angemessenheit Zur Rehabilitierung einer philosophischen Metapher (S. 161–173). Würzburg: Königshausen & Neumann. Rentsch, T. (2003). Heidegger und Wittgenstein. Existenzial- und Sprachanalysen zu den Grundlagen philosophischer Anthropologie. Stuttgart: Klett-Cotta. Rentsch, T. (2005). Entwurf und Horizontbildung in philosophischer Sicht. Ausdruck und Gebrauch, 6, 73–84.

Anfang und Aufbau einer Architekturtheorie auf erfahrungswissenschaftlicher Grundlage. Gegenstand, Begriffe, Wissenschaftstheorie Achim Hahn „Von der andern Seite ist es eben so wichtig daß die Philosophie darüber verständigt sey […] daß ihr Inhalt die W i r k l i c h k e i t ist. Das nächste Bewußtseyn dieses Inhalts nennen wir E r f a h r u n g.“ G.W.F. Hegel: Encyclopädie. § 6 (Hegel 1992) „Reflektieren wir doch nicht über das Anfangen sondern fangen faktisch an! Aber wie? Läßt sich eine echte wissenschaftliche Methode einfach aufgreifen als etwas von dem Gegenstandscharakter der Wissenschaft Abgelöstes als ein technisches Mittel Handwerkszeug das man sich aneignet dessen Gebrauch man einübt und nun frisch drauflos Phänomenologie betreibt?“ Martin Heidegger: Frühe Freiburger Vorlesung Wintersemester 1919/29 (Heidegger 1993) „Vor jedem Einsatz einer Erkenntnistätigkeit sind schon immer Gegenstände für uns da in schlichter Gewißheit vorgegeben. Jeder Anfang des erkennenden Tuns setzt sie schon voraus.“ Edmund Husserl: Erfahrung und Urteil. § 7 (Husserl 1954)

A. Hahn (*)  Technische Universität Dresden, Dresden, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Berr und A. Hahn (Hrsg.), Interdisziplinäre Architektur-Wissenschaft, Interdisziplinäre Architektur-Wissenschaft: Praxis – Theorie – Methodologie – Forschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29634-6_3

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1. Die vorstehende Untersuchung bewegt sich im Vorfeld der Theoriebildung. Es ist nicht Absicht eine allgemeine Systematik der Architektur und des Wohnens vorzulegen. Was Architektur als alltagsweltlicher Gegenstand darstellt und ausdrückt, davon hat jeder Bewohner und jede Bewohnerin eine durch Umgang und Nachdenken erworbene Ansicht.1 Diese Anschauungen sind hinzunehmen. Im Frühstadium der angestrebten Neuausrichtung einer kritischen, an der Praxis des Wohnens ausgerichteten Architekturdisziplin sollte unsere Aufmerksamkeit darauf gerichtet sein, dass es doch stets gegebene Lebenssituationen sind, in welchen Architektur als alltäglicher Umgebungsraum sich anschaulich zeigt und seinen Bewohnern „etwas“ zu verstehen gibt. Konnte auf diese Weise unser Interesse an der Alltagsfunktion von Gebautem2 für die menschliche Lebensführung geweckt werden, so ist von da zur Frage überzuleiten: In welchem umfassenden intentionalen Bezugssinn ist der wohnende Mensch mit der Architektur eigentlich verbunden? Es mag auf diesem Weg der Annäherung an das uns Vorgegebene und Hinzunehmende einsichtig werden, dass Anfang und Aufbau ihr Werk nicht mit einem hypothetischen Begriff von Architektur und Nutzung, wie ihn eine „Theorie von oben her“ (Husserl) voraussetzen würde, beginnen lassen können, sondern mit Architektur als einem bodenständigen Anschauungsund Außenweltphänomen des alltäglichen Lebens und Erfahrens, als das sie in verschiedenen Situationen lebenspraktisch begegnet, Individuen mit Architektur ein Leben lang Umgang haben und die dabei erworbenen Kenntnisse umgangssprachlich kommunizieren. Suchen wir etwa eine neue, passendere Wohnung oder beauftragen wir einen Architekten, für uns ein Haus zu entwerfen – so sind es doch immer gegebene Lebensumstände, die uns drängen, uns auf Architektur und unser Wohnen grundsätzlich einzulassen. Es wäre allemal sinnlos eine „Wissenschaft vom Wohnen und Bauen“ beginnen zu wollen, gäbe es nicht lebensweltliche Erfahrungen zu diesem Sachgebiet.

1Ich

erachte im Übrigen den Vorschlag des Architekten und Philosophen Martin Düchs zur Bestimmung von Architektur als sehr hilfreich: „‚Architektur‘ wird […] verstanden als flexibles und offenes System von Antworten auf das basale menschliche Bedürfnis nach Behausung für verschiedene Tätigkeiten. Um als Architektur zu gelten, müssen die Behausungen dabei in der Regel funktional, ä­sthetisch-atmosphärisch und symbolisch wirksam sein. Dabei sind die genannten drei Merkmale weit zu verstehen, nicht exklusiv und nicht-essentialistisch.“ (Beitrag Düchs 2020 in diesem Band). 2Vgl. u. a. den Forschungsansatz und die Theorieüberlegungen zur Alltagsbedeutung von Architektur bei Christine Neubert (Neubert 2018).

Anfang und Aufbau einer Architekturtheorie …

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Jedem Forschungsgebiet einer empirischen Wissenschaft muss ein bestimmter Lebensbereich vorgegeben sein. Auch die Motivationen für ein erkenntnisgeleitetes Forschen kann die Wissenschaft nicht aus sich selbst hervorbringen. Sie müssen, wie in unserem Fall, vom gewohnten, bewährten und kenntnisreichen Umgang mit dem Gebauten selbst her geweckt sein. Ihren vorwissenschaftlichen, lebensweltlichen Erfahrungsboden, dem Anliegen und Gegenstand der ­Architektur-, Wohn- und Entwurfsforschung entspringen, hat sich die entsprechende Wissenschaft als erstes zu erschließen. Damit stoßen wir auf das Phänomen der Erfahrung. Worin sollte eine Erfahrungswissenschaft auch anders fundiert sein, wenn nicht in Erfahrung. Was aber ist Erfahrung, welche meinen wir? Diesen Fragen haben unabhängig voneinander vor Jahren Günther Buck und Friedrich Kambartel bedeutende Monographien gewidmet (vgl. Buck 1967; Kambartel 1968; Hahn 2017). Lebensweltliche Erfahrungen, so das Ausgangsverständnis der folgenden Untersuchung, sind im lebenspraktischen Umgang erworbene habituelle Einsichten, Handlungsweisen und Verhaltensorientierungen. Sie fundieren alle späteren Leistungen der Wissenschaften. Im Folgenden soll dieses Phänomen des vorwissenschaftlichen Könnens und Wissens in der Geschichte des hermeneutisch-phänomenologischen Denkens (Dilthey, Husserl, Heidegger, Landgrebe u. a.) verfolgt und daraufhin befragt werden, inwiefern es den Aufbau einer Architekturtheorie als Erfahrungswissenschaft sein Fundament bereiten kann. Anschließend an diese Klärungsversuche soll eine Aussage zur Transdisziplinarität dieser Wissenschaft formuliert werden. 2. Wilhelm Dilthey war der erste moderne Denker, der die lebensweltliche Erfahrung in den Mittelpunkt der Geisteswissenschaften gestellt hat. Der Begriff der Erfahrung ist prominent gesetzt schon in der „Vorrede“ zum Einleitungswerk einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte (zuerst 1883). Dilthey macht deutlich, dass der Anfang dieser Wissenschaft negativ gesetzt werden muss, insofern dieser eine Grenze markiert, die das Bestimmbare vom Nichtbestimmbaren absolut trennt: „Alle Wissenschaft ist Erfahrungswissenschaft, aber alle Erfahrung hat ihren ursprünglichen Zusammenhang und ihre hierdurch bestimmte Geltung in den Bedingungen unseres Bewußtseins, innerhalb dessen sie auftritt, in dem Ganzen unserer Natur. Wir bezeichnen diesen Standpunkt, der folgerecht die Unmöglichkeit einsieht, hinter diese Bedingungen zurückzugehen, gleichsam ohne Auge zu sehen oder den Blick der Erkenntnis hinter das Auge selber zu richten, als den erkenntnistheoretischen; die moderne Wissenschaft kann keinen anderen anerkennen.“ (Dilthey 1962, S. XVII)

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Und noch an einer anderen Stelle der „Vorrede“ wird deutlich, welche Bedeutung der Erfahrungsbegriff, Dilthey unterscheidet mitunter „innere“ von „äußerer“ Erfahrung, für ihn hat, wenn es um die Entschlüsselung das Phänomens des Lebens, des Gegebenen, gehen soll. „Hier scheint sich das hartnäckigste alle Rätsel dieser Grundlegung, die Frage nach dem Ursprung und Recht unserer Überzeugung von der Realität der Außenwelt zu lösen. Dem bloßen Vorstellen bleibt die Außenwelt immer nur Phänomen, dagegen in unserem ganzen wollend fühlend vorstellenden Wesen ist uns mit unserem Selbst zugleich und so sicher als dieses äußere Wirklichkeit […] gegeben; sonach als Leben, nicht als bloßes Vorstellen. Wir wissen von dieser Außenwelt nicht kraft eines Schlusses von Wirkungen auf Ursachen oder eines diesem Schluß entsprechenden Vorganges, vielmehr sind diese Vorstellungen von Wirkung und Ursache selber nur Abstraktionen aus dem Leben unseres Willens. So erweitert sich der Horizont der Erfahrung, die zunächst nur von unseren eigenen inneren Zuständen Kunde zu geben schien; mit unserer Lebenseinheit zugleich ist uns eine Außenwelt gegeben, sind andere Lebenseinheiten gegeben.“ (Dilthey 1962, S. XVIII f.)

Das Leben ist also das Basisphänomen, von dem Diltheys Grundlegung ihren Ausgang nimmt und auf das hin diese stets ausgerichtet bleibt.3 Das Leben entwickelt sich in der Zeit. In der „Vorrede“ zu Band V der Gesammelten Schriften schreibt Dilthey, dass es ihm in seinem Denken darum gegangen ist, „das Leben aus ihm selber verstehen zu wollen“ (Dilthey 1957, S. 4). Das Thema der „geschichtlichen Welt“ hatte ihn dabei besonders beschäftigt. In der Auseinandersetzung mit Kant wurde ihm deshalb die „Zeit“ zum zentralen Thema: „hinter das Leben kann das Denken nicht zurückgehen. … Gäbe es hinter dem Leben, das in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verläuft, ein Zeitloses, dann wäre dieses eine Antezedens des Lebens: denn es wäre danach das, was für den Lebensverlauf in seinem ganzen Zusammenhang die Bedingung wäre: dieses Antezedens wäre dann das, was wir eben nicht erlebten und darum nur Schattenreich.“ (Dilthey 1957, S. 5). Auch die Naturwissenschaften und der Positivismus benutzen einen Erfahrungsbegriff. Dieser ist aber wissenschaftlich konstruiert und muss deshalb

3„Das, was er [Dilthey] als Ziel vor sich sah, drückte er aus mit dem Begriff Leben: dieser ist also bei ihm von wesentlich systematischem Belang, der Zentralbegriff der Philosophie bei einem zur Systematik vordringenden Denker, dessen Lebensverständnis sich von der Dichtung und Geschichte nährt, und zugleich das Mittel, die Philosophie mit der Wissenschaft zu verbinden, mit seiner Wissenschaft vom geistig-geschichtlichen Leben“ (Misch 1947 [1924], S. 37).

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abgewehrt werden. Diltheys Position ist eindeutig: „Empirie nicht Empirismus“. Erfahrung als Grundwissen vom Leben ja, aber keine empiristische Verkürzung! So spricht Diltheys Schüler Georg Misch von „lebendiger Erfahrung“, um positivistische Missverständnisse zu vermeiden. Er weist darauf hin, dass Diltheys Standpunkt die „Interpretation der Erfahrung“ fordere und zitiert: „‚Die philosophische Begründung … kann nur dasjenige analytisch darstellen, was in der lebendigen Erfahrung gegeben ist und dann vermittels der in der Erfahrung gefundenen Bestandteile den Horizont derselben erweitern.‘ So kann Dilthey beanspruchen, durch ‚philosophische Analyse‘ des Ursprungs unseres Realitätsglaubens das Recht desselben zu begründen: diese Analyse will nur ‚zu klarem Bewußtsein erheben, wie uns Realität eines von uns unabhängigen im Bewußtsein gegeben sei und was wir darunter zu verstehen haben‘. In den aufgewiesenen Erfahrungen ‚liegt der ganze Sinn der Worte‘ Selbst und Anderes, Ich und Welt usf.“ (Misch 1957, S. LX)

Erfahrungen erschließen uns das Wissen von uns selbst und vom Anderen. Diltheys Logik und Erkenntnislehre sind in der um die Jahre 1892/93 entstandenen Textsammlung „Leben und Erkennen“ niedergelegt worden. Sie war als Teil des zweiten Bandes der Einleitung in die Geisteswissenschaften geplant und wurde erstmals 1982 veröffentlicht (vgl. Dilthey 1982). Diese Texte greifen erkenntnistheoretische und logische Phänomene auf. Dilthey spricht darin von „analytischer Logik“, die auf der Unterscheidung von schweigendem und diskursivem Denken aufbaut. Im Kern dieser Logik geht es um die Stellung des Denkens dem Leben gegenüber. Ist uns die Realität der Welt allein über das Denken vermittelt oder ist uns die Gewissheit der inneren und äußeren Welt unmittelbar über ein Erlebtes gegeben? Die analytische Logik geht davon aus, „daß das Erfahren als die primäre Tatsache aufzuzeigen ist und das Denken als die sekundäre. Das Bewußtsein des in der Wirklichkeit Enthaltenseins der Aussage als das erste, das der Gebundenheit im Denken als das zweite.“ (Dilthey 1957, S. 86) Statt des cartesischen „Ich denke“ steht für Dilthey am Anfang des Wissens: „Ich bin, Ich lebe“. Es ist, so Georg Misch, der Grundgedanke von Diltheys „analytischer Logik“, elementare Denkleistungen aufzufinden. Und zwar liegt dem diskursiven Denken ein „schweigendes Denken“ zugrunde, „das ohne Zeichen im Gegebenen oder Erlebten arbeitet“ (Misch 1957, S. LXI f.). Diese primären Denkoperationen weisen eine Logik des Lebens auf, die keine Urteilslogik ist. „Für die elementaren Denkleistungen trifft die Universalität des Logischen zu, die den Formen des diskursiven Denkens nicht zukommt; das schweigende Denken ist, als ‚unabtrennbar von der Auffassung‘, allgegenwärtig im Leben, als menschlichem. ‚Denken ist eine Funktion des Lebens. ­Überall,

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wo inneres Leben auftritt, ist Bewußtsein, Besinnung, Besonnenheit seine Bedeutung‘“ (Misch 1957, S. LXII). Der schon angesprochene Text „Leben und Erkennen“ trägt wichtige Argumente dafür bei, dass eine empirische Wissenschaft nicht mit wissenschaftlich gestützten Beobachtungen von Bewusstseinsvorgängen beginnen kann. Dilthey kritisiert die überkommene Erkenntnistheorie des Lebens, insofern diese atomistisch vorgehe, d. h. die gegebene Wirklichkeit in den Gegenständen der Außenwelt aufsuche und sie entsprechend der „Zerlegung der Wahrnehmung in Empfindungen“ feststelle. Man geht davon aus, dass „gleichsam ein Wirbel von Empfindungsatomen“ den Menschen umgibt. Dilthey bezeichnet diese Vorstellung von gegebener Wirklichkeit als ein „psychologisches Luftschloß“ (Dilthey 1982, S. 342). Dieser Theorie hält Dilthey die menschliche Erfahrung entgegen, die nie von „psychischen Atomen“ Kenntnis genommen hat. Dilthey spricht stattdessen von einer „beschreibenden Methode“, die in der Lage ist, das der Erkenntnis Vorgegebene von jener abzusondern. Die Grundlage und der Ausgangspunkt der Erkenntnis sind nicht intellektuelle Prozesse, die von Vorstellungen zu Urteil und weiteren Denkvorgängen führen. Vielmehr muss der „ganze, volle Mensch in seiner Lebendigkeit und Fülle“ (Dilthey 1982, S. 343) zum Ausgang der Erkenntnistheorie genommen werden. Denn das Denken ist nur eine vorübergehende Funktion im Zusammenhang aller Funktionen des Lebens. Es ist gebunden an das Leben. Die „formale“ Logik ist nach Diltheys Urteil von den intellektuellen Vorgängen aus konstruiert worden. Er will sie durch eine „analytische“ ersetzen, für die er ein letztes Kriterium ihrer Gültigkeit sucht, welches der Grundlegung adäquat ist. „Wo ein Eindruck vom Wirklichen aufblitzt, ist es vorhanden“ (Dilthey 1982, S. 344). Offensichtlich lässt sich zunächst damit beginnen, „was jedem das Bekannteste, Intimste ist. Was Leben sei, ist so in der Erfahrung gegeben“ (Dilthey 1982, S. 344). „Leben ist das erste“ (Dilthey 1982, S. 345). Was Dilthey hier beschreibt, ist jedem Menschen nachvollziehbar, da er es an sich selber „von innen“ kennt. „Die Struktur und Artikulation des Lebens“ betrifft alles Lebendige, also Tier- und Menschenwelt gleichermaßen. „Die Urzelle des inneren Lebens ist überall der Fortgang vom Eindruck aus dem Milieu des Lebewesens zu der Bewegung, die das Verhältnis zu diesem im Lebewesen anpaßt“ (Dilthey 1982, S. 345). Dieser Zusammenhang von Eindruck und Bewegung sei ursprünglich. „Alle Kunstgriffe der Natur, unser Wahrnehmen dem äußeren Wirklichen anzupassen, entstehen erst auf der Grundlage dieses ursprünglichen Verhältnisses.“ (Dilthey 1982, S. 345) Das Leben artikuliert sich in unterschiedlichen Lebensformen. Es kann jedoch nicht „auf ein tiefer und allgemeiner

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liegendes Fundament zurückgeführt werden“ (Dilthey 1982, S. 346). Mehr noch: es kann lediglich beschrieben, aber nie in seiner Ganzheit erkannt werden. „(M)an kann das Leben nicht in seine Faktoren zerlegen. Es ist unanalysierbar. Was es sei, kann in keiner Formel und in keiner Erklärung ausgedrückt werden. Denn das Denken kann nicht hinter das Leben, in welchem es auftritt und in dessen Zusammenhang es besteht, zurückgehen. Das Denken ist im Leben, kann also nicht hinter dieses selber sehen. Das Leben bleibt für das Denken unergründlich, als das Datum, an welchem es selber auftritt, hinter welches es daher nicht zurückgehen kann. Das Denken kann darum nicht hinter das Leben zurück, weil es dessen Ausdruck ist.“ (Dilthey 1982, S. 346 f.)

Entsprechend sind die Begriffe, da sie aus dem Denken stammen und vom Leben abstrahieren müssen, „Lebenskategorien“. Das begriffliche Denken spricht das, was das Leben selbst weiß, „nur artikulierter, in Unterschied und Zusammenhang deutlicher“ aus. Erfahrungen sind für Dilthey durchaus eine adäquate Quelle, um erste und naheliegende Hinweise für Lebensformen zu erhalten. In Erfahrungen und weiteren Artikulationen macht sich der Mensch seinen „Lebenszusammenhang“ bewusst. Das Denken kann das Leben erhellen, „aber nicht hinter das Leben kommen“ (Dilthey 1982, S. 357). Es gibt keinen menschlichen Standpunkt, den wir jenseits des je gelebten Lebens einnehmen könnten. 3. Was wissen wir darüber, ob und welche Erfahrungen Menschen mit ihrem Wohnen in Gebäuden und landschaftlichen Umgebungen gemacht haben? Wie lässt sich die „Brücke“ zwischen Erfahren und Wissen konstruieren, die einer neuen Wissenschaft zugrunde gelegt werden muss? Wie, d. h. in welchen praktischen Situationen sind diese Erfahrungen gewonnen worden? Welche Motivationen gehen in sie ein? Welche Struktur weist dieses Wissen auf? Wir benötigen einen festen Boden für unsere Wissenschaft und dieser kann nur in diesen Erfahrungen selbst liegen. Eine entsprechende Forschungsstrategie setzt einen Begriff der Erfahrung voraus, der das „ganze“ vortheoretische Wissen des Umgangs mit Architektur ermöglichen kann und erfolgreich eine Theorie des Wohnens und Bauens mit gründen hilft. Pragmatisches Erfahrungswissen, das Menschen im Umgang mit Situationen des Wohnens und Bauens gemacht haben, führt uns bei Forschungen an. Wenn wir von lebensweltlicher Erfahrung sprechen, so ist zu beachten, dass diese nur in der 1. Person Singular zu haben ist. Fragen wir etwa nach dem Historischen der Architektur, dann ist dieses Historische schon von der K ­ unst-,

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Bau- und Architekturgeschichte unter einem unangemessenen architekturtheoretischen Vorgriff vorgezeichnet. Bestimmen wir jedoch das „Historische“ ­lebensweltlich-lebensgeschichtlich, dann fragen wir danach, wie die Bedeutung der Architektur für Lebensführung und Lebensbewältigung des Menschen je verstanden und ergriffen wurde, welche Erfahrungen „die Menschheit“ bei der eigenen Lebensbemeisterung mit dem Lebensmittel Architektur gemacht hat. Erst wenn dieser alltägliche Lebens-Sinn im faktischen Zu-tun-haben mit Architektur (im Bauen, Wohnen und im Entwerfen) entdeckt ist, kann er auch für eine Architekturgeschichte bedeutsam werden. Man könnte also sagen, der Bezugssinn von Architektur wird auf zweierlei Weise vollzogen: im Wohnen der Menschen und im (dem handwerklichen Bauen vorausgehenden) professionellen Entwerfen von Gebäuden durch den Architekten. Im Gegensatz zu Formationen der Natur, die wir nicht verstehen, sondern nur erklären können, sind Zeugnisse des Bauens (z. B. Architektur) Gegenstände der menschlichen Kultur und damit dem menschlichen Verständnis grundsätzlich und unmittelbar offen. Leben und Handeln, Wohnen und Bauen sind Leistungen des Lebensvollzugs selbst und stellen sich der Welt dar. Sie sind verstehbarer Ausdruck von Lebensleistungen. Wir erfahren Weltliches immer in einem einmaligen historischen Moment und unter bestimmten Umständen. In der Erfahrung kommen sinnliches Vernehmen („Anschauung“) und deutendes Begreifen („Auslegung“) einheitlich zusammen. Dilthey fasste Bauwerke neben anderen nicht-natürlichen, technischen und künstlerischen „Lebensäußerungen“ als „Objektivationen des Geistes“4 und sah in ihnen Bedeutsamkeiten des Lebens artikuliert. Wir haben es dabei mit „sinnlich gegebene(n) fremde(n) individuelle(n) Lebensäußerungen“ (Dilthey 1957, S. 334) zu tun. Entsprechend müssen sie verstanden werden. Dieser „hermeneutischen“ Logik folgend, hätte man den lebendigen menschlichen Zustand, der in Bauwerken zum Ausdruck kommt, nachvollziehend in Erfahrung zu bringen, um damit zur Erkenntnis durchzudringen, warum der Mensch baut, was Motive, Zwecke und Werte eines Gebäudes oder des Bauens selbst sind. Insofern sich also Motive, Zwecke und Werte in einem Bauwerk objektiviert haben, sind sie einem „verstehenden“ Zugang wieder erschließbar. Hier hat man sich jedoch kein erlernbares logisches Schlussverfahren vorzustellen, sondern wohl eher ein intuitives, tastendes „Nacherleben“.

4An

diese Kategorie Diltheys hat Hans Freyer mit seiner Kulturphilosophie (vgl. Freyer 1966) angeknüpft.

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Zum anderen könnte die aufzubauende „Architekturtheorie“ eine Geisteswissenschaft im Sinne Diltheys werden. Ihr „Gegenstand“ ist der Mensch, der sein Leben primär nicht in Wahrnehmung und Erkennen führt. Denn diese denkerischen Formen verwissenschaftlichen schon den Zugang, der es doch zunächst mit Lebensäußerungen zu tun hat, insofern diese zum Ausdruck kommen und als solche verstanden werden können. Auch das Studium der „Raumkunst“ (Dilthey 1927, S. 79) hat es mit einem Gegenstand zu tun, der menschliche Zustände zu Tage treten lässt, im Gegenstand diese als Lebensäußerungen zum Ausdruck gelangen und diese Ausdrücke verstanden werden können. „Erfahrung“ bzw. „Lebenserfahrung“ sind Schlüsselworte, mit denen Dilthey die Aufgaben der Geisteswissenschaften umrissen hat. In der Nachfolge Diltheys hat der „frühe“ Heidegger seine mundane Phänomenologie auch durch den Begriff „Lebenserfahrung“ entfaltet. Aber wie wird aus alldem ein Erfahrungsboden für eine Architekturwissenschaft? 4. Die für uns und unseren Zusammenhang interessantesten Überlegungen von Heidegger orientieren sich an seinem Insistieren auf die „faktische Lebenserfahrung“. Als Assistent Husserls entwirft Heidegger in den frühen Freiburger Vorlesungen (1919–1923) in methodischer und konstruktiver Absicht sein Verständnis von wissenschaftlicher Ursprünglichkeit, von wo aus das Denken seinen Anfang zu nehmen hat. Es ist vor allen das Studium Diltheys, das Heidegger dazu bringt, sich mit dem endlichen, dem faktischen Leben zu beschäftigen.5 Einig weiß sich Heidegger mit Dilthey: „Es ist bei unserer Betrachtung doch auch das Absehen lebendig auf Wissenschaft vom Leben und zwar Ursprungswissenschaft“ (Heidegger 1993, S. 55), aber in bislang ungehörter Radikalität: „Was ist Phänomenologie? Als ihre Idee ist angesetzt: absolute Ursprungswissenschaft vom Leben an und für sich.“ (Heidegger 1993, Beilage 3, S. 171) In den frühen Vorlesungen wird ein Hauptinteresse Heideggers sichtbar: wie kann Wissenschaft in ihrem eigenen Ausdruckszusammenhang und Ausdruckscharakter das faktische Leben, da es doch das Ursprungsgebiet von Wissenschaft ist, darstellen. Die Wissenschaft entspringt der Lebenswelt und lässt diese auf bestimmte Weise hinter sich. Welcher nichtwissenschaftliche „Boden“ ist für ein ­ gegenwärtig

5Die

Beziehungen zwischen Diltheys Schriften und ihrer Aufnahme durch den frühen Heidegger sind vor allem im Dilthey-Jahrbuch Band 4 (1986/87) eingehend diskutiert worden.

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am faktischen Leben ausgelegtes Erkennen relevant? D. h. zunächst: das Leben selbst bildet in sich jene Tendenz aus, die in Richtung „wissenschaftlichen Erkanntwerdens“ (Heidegger 1993, S. 65) geht. Das Leben gibt dem methodisch-erkennenden Verhalten und Streben den bestimmten „Boden“ vor. Die Wissenschaften „entwachsen einer faktischen Lebenswelt und der lebendigen Mannigfaltigkeit des in ihr dem faktischen Leben Begegnenden“ (Heidegger 1993, S. 66). Was „da ist“, ist nicht allein beobachtbares Leben, sondern erfahrenes Leben. Deshalb besitzen die Wissenschaften einen konkreten Erfahrungsboden, welchen sie zu ihrem Sachgebiet machen. Faktisch und konkret bildet eine Einheit. Es ist darauf zu achten, was sich im Leben bekundet, was sich zeigt, sich ausdrückt. Die „Ursprungswissenschaft“, deren Grund diese Vorlesung verstehen möchte, hat eine Wissenschaft vom Leben im Sinn. Ihr Gebiet vereinigt Um-, Mit- und Selbstwelt. Alle drei Welten durchdringen sich. Die Phänomenologie ist von ihrer Idee her die „absolute Ursprungswissenschaft vom Leben an und für sich“ (Heidegger 1993, Beilage 3, S. 171). Von einiger Relevanz für unser Thema wird die Rekonstruktion der „Ursprungswissenschaft des faktischen Lebens an sich“ sein, da für ihren Aufbau die lebensweltliche Erfahrung einen ausgezeichneten Platz erhält. Faktisches Leben ist „lebensweltwärts verlaufendes“ Leben. Dies ist die Vorgabe für eine entsprechende (phänomenologische) Wissenschaft. Nur das diesem Leben Begegnende kann der Boden für jene sein. „Ein konkreter Erfahrungsboden, der dem faktischen Leben ständig zuwächst, ist da. ‚Ist da‘, d. h. das faktische Leben konstatiert nicht erst das Dasein, sondern es selbst ist und lebt erfahrend in einer Welt. (…) Die Wissenschaft ist die konkrete Logik ihres einem bestimmten Erfahrungsboden in bestimmter Weise und Stufung entwachsenden Sachgebietes.“ (Heidegger 1993, S. 66)

Wir haben es hier mit zwei Ausdrucksweisen zu tun, die voneinander abhängig sind. Das faktische Leben drückt sich irgendwie aus, und die Wissenschaften müssen für sich einen Weg finden, wie sie sich diesen lebensweltlichen Ausdruckszusammenhang begegnen lassen können. Die Wissenschaft selbst muss so aufgestellt sein, dass sie Ausdruck des Begegnenden überhaupt sein kann. „Das, was die Wissenschaft ausdrücken soll, dem muß sie als einem noch nicht wissenschaftlich Ausgedrückten in irgendeiner Weise begegnen können. […] Es muß ihr gegenübertreten, muß für sie faßbar werden und zwar als etwas, das die Möglichkeit, in einen wissenschaftlichen Bekundungszusammenhang einzugehen, selbst in sich trägt. Es muß ihr in nicht wissenschaftlicher Weise im faktischen Leben begegnen.“ (Heidegger 1993, S. 66 f.)

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Es geht um die Wirklichkeit, die dem Menschen in seiner Um-, Mit- und Selbstwelt begegnet. Das faktische Leben besteht aus Begegnissen. Was uns in Situationen des Lebens widerfährt, zustößt, was wir dabei erleben, auf uns Eindruck macht, was wir so kennenlernen, „bezeichnen wir als ‚er-fahren‘, auf der Fahrt des Lebens erringen, antreffen, und das in verschiedenen Modifikationen desjenigen, in dessen faktischen Verlauf sich eine Welt, die Umwelt und jede Lebenswelt aufbaut. Das Erfahren oder die Erfahrung – die substantivische Bezeichnung meint meist noch etwas anderes mit, nicht nur das faktische Begegnen als solches, sondern auch das ist mitgemeint, dem begegnet wird“ (Heidegger 1993, S. 67).

Erfahrung ist ein bestimmtes Verhalten, dadurch mir etwas verfügbar wird. Und Heidegger führt weiter aus: „Wir wollen diesem Wort [Erfahrung, A.H.] die Doppeltheit der Bedeutung absichtlich belassen. Alle Auswirkung faktischen Lebens, d. h. der Tendenzen, in denen dem Leben selbst etwas begegnet, und alle faktischen Weisen der Erfüllung solcher können wir bezeichnen als erfahrene. Man spricht geradezu von Lebenserfahrung. ((…) wir sprechen von spezifisch praktischer Lebenserfahrung.) Er-fahrung als Eingehen, Aneignen; Erfahrenes ist solches im Charakter der Verfügbarkeit, der ausdrücklichen, spontanen, nicht lediglich konstatierend festgestellten, frei ins Werk gesetzten, oder des passiven, des mir wieder Begegnenkönnens, das passive sich zur Verfügung geben.“ (Heidegger 1993, S. 67 f.)

Erfahrung in ihren verschiedenen Modifikationen macht den Boden der Wissenschaft aus. Heidegger nennt den Erfahrungsboden auch: „faktischer Erfahrungszusammenhang eines faktischen Lebens“. Wichtig ist wieder zu sehen, dass Heidegger die Wissenschaft als eine Tendenz des Lebens begreifen will, nämlich Erfahrenes auf eine neue, „wissenschaftliche“ Weise verfügbar zu machen. Ausgangspunkt ist die Motiviertheit des Lebens, diesen Boden einer Wissenschaft bereitzustellen. Das Leben zeigt diese Bereitschaft, aber sie muss darin genau und konkret verstanden werden: „Dieser Prozeß der Bereitung des sacheinheitlichen Erfahrungsbodens ist sehr verwickelt und er ist bei jeder Wissenschaft und im Ausgang von jedem faktischen Lebensgebiet von anderer Struktur und Stufenfolge der theoretischen Schritte. Die Bereitung des Erfahrungsbodens, der Prozeß der Beistellung eines möglichen Sachgebietes, kann sich selbst nur vollziehen in der Tendenz der zu etablierenden Wissenschaft selbst, und diese Tendenz ist in ihrem Was und Wie

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A. Hahn selbst wieder nur möglich als echt motiviert von der Lebenswelt her, aus der in ihrer eigenen Perspektive das reine Sachgebiet sich abhebt. Erfahrungsboden besagt: die Verfügbarkeit in ihrer Selbstweltbezüge entblößten Bereitschaft zur Betreffbarkeit von neuen Tendenzen. Mit dem Einsatz dieser beginnt die Ausformung des Erfahrenen als eigentlichem Sachgebiet – gilt im eminenten Sinne für die Phänomenologie. Die unberührten Verfügbarkeiten der faktischen Lebenserfahrung tragen also gleichsam potentiell bei sich diese Bereitschaft.“ (Heidegger 1993, S. 69 f.)

Verfolgt man den Prozess, wie Wissenschaften sich begrifflich entwickelt haben, dann ist heute überhaupt nicht mehr an ihnen erkennbar, dass ihr Erfahrungsboden einst durch die Lebenswelt vorgegeben wurde. Vielmehr wird der Eindruck erweckt, die Wissenschaft „gibt sich selbst (…) den Erfahrungsboden und das Sachgebiet, und doch wird ihr all das letztlich vorgegeben“ (Heidegger 1993, S. 70). Der einzelnen Wissenschaft ist es oft selbst gar nicht mehr nachvollziehbar, dass ihre primären Tendenzen der Lebenswelt entstammen. Wie aber kann die Phänomenologie als Ursprungswissenschaft aus dem faktischen Leben, als ihrem Erfahrungsboden, sich herauslösen? Das faktische Leben soll motivierende Hinweise und Richtungsvordeutungen geben für eine Bereitung des Erfahrungsbodens und die Gewinnung des Ursprungsgebietes (vgl. Heidegger 1993, S. 174). Ein Ausgang kann nur in den nicht- und vorwissenschaftlichen Selbsterfahrungen gesucht werden. Wie aber erreicht das faktische Leben das Ursprungsgebiet? Für diese Zugänglichkeit spielen nun die Erfahrungen (sowie ihre mögliche Verfügbarkeit) die zentrale Rolle6: „Wir sollen Erfahrungen im faktischen Leben begegnen, deren Gehalt einen hinweisenden Charakter auf etwas zeigt; nicht so, daß das, worauf hingewiesen wird, lediglich ein anderer Erfahrungsgehalt wäre, sondern eine Auszeichnung bekundet, eine Vorzugsstellung (nicht im Sinne einer Wertung). (Vorform des Ursprungsgebietes.)“ (Heidegger 1993, S. 83)

Sehen wir uns von diesem Interesse geleitet im faktischen Leben um, dann dürfen wir nicht mit vorgegebenen Theorie oder erkenntnistheoretischen Vorurteilen an die Erfahrungen herantreten. „Wir sind lediglich Zuschauer des faktischen Lebens. Sofern wir an bestimmten Erfahrungen persönlich besonders beteiligt, in Anspruch genommen sind, bleiben diese Bezüge unterbunden, denn wir sollen

6Vgl. hierzu auch die Diskussion der „Vorgriffsproblematik“ in „Anmerkungen zu Karl Jaspers“ (Heidegger 1976, S. 8–10).

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ja doch ein Gegenständliches antreffen, das aus sich selbst seinem Gehalt nach Motiv wird für reine theoretische Betrachtungen im Dienste der Konstituierung einer Wissenschaft oder gar der Ursprungswissenschaft.“ (Heidegger 1993, S. 83) Von besonderer Bedeutung sind Selbstwelt und vortheoretische Selbsterfahrungen, da von ihnen her die erfahrenen Gehalte verständlich werden. Lässt sich aber so ein Erfahrungsboden gewinnen, der ein ursprungswissenschaftliches Sachgebiet möglich macht? Im Folgenden interessiert Heidegger der „Ausdruckszusammenhang Wissenschaft“. Es sind drei Schritte dafür abzuarbeiten: Bereitung des Erfahrungsbodens; Ausformung des Sachgebiets; konkrete Logik (Heidegger 1993, S. 91). Die Phänomenologie hat hier zunächst ihren „Erfahrungsboden“ aufzuklären. Wir werden dabei Heideggers Motiv folgen, wie eine Erfahrungswissenschaft konstituiert werden kann. Dazu ist es nötig zu beschreiben, was Erfahrungen sind und wie sie einer Wissenschaft überhaupt zugänglich sind. Die Frage spitzt sich zu auf die nach der „Gewinnung“ der Grunderfahrung der Selbstwelt, insofern die Motivierung der gesuchten Wissenschaft von der genuinen Erfahrungswelt ausgeht. Diese Grunderfahrung soll im Vollzug, d. h. in ihrer Begegnung mit der Selbstwelt, gewonnen werden. In den „Anmerkungen zu Karl Jaspers“ spricht Heidegger von der „Grunderfahrung des bekümmerten Habens seiner selbst“ (Heidegger 1976, S. 30), offensichtlich ein Vorblick auf die spätere „Sorge“. Rekonstruieren wir zunächst, was wir über das faktische Leben schon kennengelernt haben: „Unser faktisches Leben ist unsere Welt – wir begegnen immer irgendwie, sind dabei ‚gefesselt‘, abgestoßen, entzückt, angewidert, und die Kenntnisnahmen sind irgendwie bedeutungsbetont: wertvoll, gleichgültig, überraschend, nichtssagend usf. In solcher Weise in die erfahrbare Umwelt gehörend wird die Selbstwelt erfahren“ (Heidegger 1976, S. 96). In diesem faktischen Leben stehend greift unsere Aufmerksamkeit das Motiv auf, nach der Selbstwelterfahrung und ihrer „möglichen theoretisch wissenschaftlichen Ausdrückbarkeit“ zu fragen. Doch die Erfahrungen sind unter sich nicht ausgerichtet auf einen wissenschaftlichen Zugriff, sondern unbestimmt und „unabgehoben“. „‚Unabgehoben‘ – betrifft ‚erfahren‘ und ‚erfahrene Welt‘. Zunächst: was im faktischen Leben begegnet, ist immer ein Anderes seinem Was und Wie nach. Das Erfahren selbst unterliegt mannigfaltigen Modifikationen, aber so, daß ein Grundstil sich durchhält, in dem alles erfahren wird. Gerade zum Sinn der Erfahrungsweise gehörig, daß sie als solche ihrem Selbst nach nicht erfahren wird, sich nicht herausdrängt und abhebt gegen andere, es nicht kann, weil es keine anderen gibt. Auf das faktische Leben hin gesehen ist dieses Erfahren absolut, sein Herrschaftsbereich faktisch umgrenzt“ (Heidegger 1976, S. 100).

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Damit ist das Thema der „Abhebung“ gestellt. Wie kommt es zu Abhebungen von besonderen Erfahrungen untereinander? Um diesen Fragen gerecht zu werden, sind zunächst wieder außerwissenschaftliche Vorverständnisse aufzuklären. Was ist eine unabgehobene faktische Lebenserfahrung, wie lässt sie sich anschaulich machen? Welche Haltung ist angemessen? „Wir sehen uns die volle faktische Lebenserfahrung an und heben bestimmte Seiten an ihr heraus, oder besser, wir lassen sie in ihr, lassen nur stärkeres Licht fallen auf sie […]. Und zwar sehen wir hin auf das, was wir gerade erfahren. Wir denken nichts und wissen nichts von Umwelt, Mitwelt, Selbstwelt. Wir leben faktisch in einem Was. Keine besonders ausgefallene Lebenserfahrung – ad hoc zurechtgemacht – greifen wir unmittelbar auf! Ohne Scheu vor Trivialitäten! Ich komme nach der Vorlesung aus dem Universitätsgebäude; drüben sehe ich einen Bekannten mich grüßen […] Was erfahre ich? Trivialitäten, Alltäglichkeiten – aber das kümmert uns nicht, wir können auch Gewichtiges erfahren. Vor allem, was ich erfahre, existiert wirklich: der Bekannte grüßt mich wirklich […]“ (Heidegger 1976, S. 103).

Heideggers Beispiel ist ausführlicher als das Zitat. Es wird aber wohl deutlich, worauf es ankommt: Jedes beliebige alltägliche Beispiel kann zur Abhebung kommen! Jede Beispielerfahrung „ist faktisch wirklich – existiert“. „Wirklich sein“ hat nicht die Bedeutung, dass ich von Erlebnissen des faktischen Lebens etwas theoretisch weiß. „Sofern ich faktisch in all dem Gesagten lebe, mit ihm je nach seinem Gehalt so und so beschäftigt, daran so und so beteiligt bin, hat alles Erfahrene – es mag inhaltlich so heterogen sein wie immer – denselben Sinn von Existenz.“ (Heidegger 1976, S. 104) Seinen Sinn hat es allein in diesem „Charakter der Bedeutsamkeit“. „Auch das Triviale ist bedeutsam, nur eben trivial; auch das Wertloseste ist bedeutsam. […] Ich lebe faktisch immer bedeutsamkeitsgefangen“ (Heidegger 1976, S. 104). Heidegger spricht von der „Bedeutsamkeit als Wirklichkeitscharakter des faktischen Lebens“. Jedes neues Erfahren im faktischen Leben vollzieht sich als eine „geöffnete Situation“. Es gibt keine Hindernisse für dieses Erfahren „von etwas“. Das Leben vollzieht sich immer schon in Bedeutsamkeitszusammenhängen. Nur so kann die Welt erfahren werden. Bedeutsames verbürgt Wirklichkeit. Insofern muss jedes so-erfahrene Etwas daran, wie auch immer im Einzelnen es „bestimmt“ sein mag, partizipieren. „Die faktische Lebenserfahrung geht also auf in Bedeutsamkeitszusammenhängen. Existenz ohne Bedeutsamkeit hat gar nicht die Möglichkeit der Motivierung. Existenz als das, was ‚voll bestimmt‘ ist, an dem ‚nichts unbestimmt ist‘ […]“ (Heidegger 1976, S. 217). Die Rede von der Bedeutsamkeit soll an dem Erfahrenen nichts inhaltlich auszeichnen oder hervorheben

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noch wertschätzen. Es liegt überhaupt kein Werturteil über Erfahrenes vor. Mit Bedeutsamkeit soll lediglich der „ganz unreflektierte Charakter des im faktischen Lebenszuge Erfahrenen ergriffen werden“ (Heidegger 1976, S. 108). Das Thema der lebensweltlichen Erfahrung wird in dieser frühen Freiburger Vorlesung abgeschlossen mit der Frage nach der Weise, wie der Weg „zum Sinn des Wirklichkeitsbewußtseins“ geht. Es ist dies die Frage nach möglichen Modifikationen, die in der faktischen Erfahrung liegen. Diese müssen selbst vortheoretisch bzw. vorwissenschaftlich sein. Heidegger spricht nun davon, dass wir uns das Erfahrene zu Bewusstsein bringen, über es nachdenken können. Er spricht von der „Kenntnisnahme als Grundphänomen“. Ich kann mir meine Erfahrungen bewusst machen, aber auch andere Menschen von ihnen in Kenntnis setzen. Dabei handelt es sich um bestimmte Modifikationen bzw. Ausformungen der faktischen Erfahrung, ohne dass der ursprüngliche Stil des Erfahrens berührt würde. „Wir fragen nun: Läßt die unabgehobene faktische Lebenserfahrung irgendeine Modifikation ihres Stils zu, so daß aus dieser Modifikation Möglichkeiten besonderer Erfahrungsformen sich ergeben?“ (Heidegger 1976, S. 111) Faktisch erlebte Bedeutsamkeitszusammenhänge lassen sich z.  B. nacherleben und erzählen, aber solche Explikationen ändern nichts an der lebendigen Faktizität des Erfahrenen. „Die Explikation ist die kenntnisnehmend erzählende, aber im Grundstil des faktischen Erfahrens, des vollen Mitgehens mit dem Leben.“ (Heidegger 1976, S. 111) Bedeutungszusammenhänge und Erwartungshorizonte sind beständig in Bewegung. Worauf zu achten ist, lässt sich als Leitidee oder Leittendenz der Kenntnisgabe anführen. Kenntnisgabe ist zugleich Kenntnisnahme. Erzählend gegenwärtige und vergegenwärtige ich Erfahrungsund Bedeutsamkeitszusammenhänge – mich richtend an einen Zuhörer, eine Zuhörerin. Gerade das Phänomen der Kenntnisnahme ist entscheidend, denn es definiert eine Grenze. Auf der einen Seite ist sie als Artikulation schon eine Abhebung vom Erfahrenen, auf der anderen Seite verbleibt sie im Grundstil des faktischen Lebens. Auf was genau läuft die Modifikation hinaus? Heidegger gibt folgendes Beispiel: „Konkreter Fall – Besuch: gemeinsames Bücher ansehen, Bilder betrachte, Tee trinken […] – ein Erfahrungszusammenhang, in dem ich voll aufgehe. Abends werde ich gefragt: Was hast du heute nachmittag getrieben? – und ich erzähle den Besuch und […]; oder ich denke abends selbst über mich nach […] oder schreibe das, was mir passierte, in mein Tagebuch – allgemein: nehme es erzählend, mündlich oder schriftlich, oder besinnlich zur Kenntnis. Was wird

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A. Hahn ­ odifiziert? Im Grunde nichts. Die Kenntnisnahme will ja gerade nur erzählen, m das Erfahrene gegenwärtigen, wieder vergegenwärtigen in der Lebendigkeit seines Erfahrengewesenseins, und sie wird gerade als vollkommene Kenntnisnahme den Bedeutungszusammenhang in seiner Fülle wieder zur Gegebenheit bringen und zwar so, daß ich es gleichsam wieder durchlebe, und der, dem ich es erzähle, es mitzuleben meint. […] Also, was modifiziert wird, ist die Einstellung. Damit erledigen sich auch die anderen Fragen: wozu modifiziert wird? Nun, eben zu einer anderen! Und wie vollzieht sich das? Die Einstellung selbst wird eben geändert! Die ganze Weisheit ist also: Wenn ich wahrnehme, erinnere ich mich nicht, und wenn ich mich erinnere, nehme ich nicht wahr […]“ (Heidegger 1976, S. 115 f.).

Die faktische Situation der Kenntnisnahme bzw. Kenntnisgabe ist lebensweltlich eine andere als die Situation des faktischen Erlebens und Erfahrens. In der Einstellung des Erzählers bin ich auf etwas Besonderes gerichtet. Ich stelle eine bedeutsamkeitsgemäße Ganzheit her, forme eine Geschichte aus mit Anfang und Ende. „Es ist nicht mehr die verströmende Erwartungstendenz, sondern die Tendenz auf strukturmäßig einen Zusammenhang als erfahrenen als solchen ausdrückende Verfestigung – eine Verfestigung, die ihr Sitzen hat in der umweltzeitlichen Umgrenzung und der innerhalb dieser vollzogenen, bedeutsamkeitsgeleiteten, ausdrücklichen Zusammenhangsvergegenwärtigung. Damit leistet die Kenntnisnahme eine ausdrückliche Gestaltgebung. Sie expliziert einen Zusammenhang, den das faktische Erfahren selbst nicht kennt, für den es gar kein Organ hat“ (Heidegger 1976, S. 118).

In der Kenntnisnahme erfährt der strömende Lebensprozess einen gewissen Halt und Boden. Erwartungen an das Leben können so überprüft und bei Bedarf neu ausgerichtet werden. „Das Entscheidende ist, daß das Leben, statt in Erwartungstendenzen lebenbildend fortzuschreiten, den Sinn von Erwartungszusammenhang stabilisierend und ihn als ausdrückliche Tendenz nehmend, so aus sich selbst heraus dem gelebten Leben Gestalt gibt. Es kommt damit eine Wesensgesetzlichkeit des Lebens an und für sich zum Ausdruck; es manifestiert seine absolute Strömung und Geschichte in Ideen.“ (Heidegger 1976, S. 119) Lässt sich aber diese Modifikation in Richtung Theoriebildung radikalisieren? Es ist der Bruch zu verstehen, der eintritt, wenn die vergegenwärtigten Erfahrungen von ihrem Lebens- und Ordnungszusammenhang und ihren Erwartungstendenzen getrennt werden. Diese durchgeführte Modifikation bedeutet das Unterbrechen des lebendigen Fließens, stattdessen haben wir

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Auflösung des Zusammenhangs und Vorfinden „echte(r) Bausteine für den Aufbau eines Neuen, für einen Aufbau“ (Heidegger 1976, S. 121). Was aber ist das Neue? „I. die ausdrückliche so oder so (bedeutungsmäßig) geleitete Ganzheitsbildung; II. Öffnung der Momentanphasen und damit III. Schaffung einer von da motivierten Übersehbarkeit. Angetastet wird also das lediglich gegenwartsgeöffnete, in der Zugrichtung eines Erwartungszusammenhangs fortschreitende Erfahren. Es wird verdrängt: in der Richtung der ganzheitsbildenden, Momentanphasen öffnenden, Übersehbarkeit gewinnenden Eigenzusammenhangsbildung. Die Modifikation radikalisiert sich also durch Steigerung der vordrängenden Momente, so daß die Eigenzusammenhangsbildung eine möglichst reine ist, d. h. nicht mehr von Gnaden des im lebendigen Erfahrungszuge sich stiftenden, in der Kenntnisnahme nur abgehobenen – allerdings schon auf Kosten seiner Lebendigkeit und Zugrichtung abgehobenen – Erfahrungszusammenhangs lebt.“ (Heidegger 1976, S. 131)

Das Leben wird gleichsam „angehalten, das unartikulierte Fortfließen der Erlebnisse wird unterbrochen“, damit eine gewisse Strecke von ihm übersehbar abgrenzbar wird. So lassen sich die Erfahrungen „unter eine bestimmt geleitete Ganzheitstendenz“ nehmen und ein Erfahrungszusammenhang verfestigen. Welcher phänomenologische Begriff von Erfahrung kann so gewonnen werden und wie hebt er sich von anderen ab? Heidegger verteidigt ein Verständnis von Erfahrung, das ohne faktisches Erleben „leer“ sein müsste. „Erfahrung ist Denken! Erfahrung gibt es nicht ohne Denken. Ein reines a posteriori Urteilen gibt es nicht. Auch in der primitivsten Erfahrung steckt Denken.“ (Heidegger 1976, S. 133) Zum phänomenologischen Ursprungsverstehen, dem Erfassen des faktischen Lebens, gehört das Sich-Hineinbegeben in echte Lebenssituationen. Mit dieser Haltung sollen bedeutsame Ausdrucksgestalten des Lebens interpretiert werden. „Entsprechend der besonderen Betonung des Ausdruckszusammenhangs Wissenschaft (Kenntnisnahme) sollen die dort angetroffenen Bestimmungscharaktere zurückgenommen werden und das Problem des phänomenologisch-philosophischen Ausdrucks des Lebens gestellt werden […].“ (Heidegger 1976, S. 137 f.) Das Leben als solches kann niemals Objekt werden. Darauf fußt die Grunderfahrung der Phänomenologie und motiviert entsprechend ihre Wissenschaftsauffassung. Die phänomenologische Methode, die sich am Ende der Vorlesung ergibt, sieht vier Schritte vor: 1) Destruktion; 2) Reines Verstehen; 3) Interpretation; 4) Rekonstruktion. Destruktion bedeutet Abbau der rationalen Ordnung und

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jeglicher „Objektivierungseinschlüsse“, Abbau der logisch leeren Begriffskonstruktionen von der „reinen“ Erfahrung, „Bewusstsein überhaupt“ usw. Von der Destruktion handelt dann ausführlich die folgende Freiburger Vorlesung, die Heidegger 1920 gehalten hat. Davon später. Der vom Herausgeber der Vorlesung von 1919/20 mit „Anhang A“ bezeichnete rekonstruierte Schlussteil geht auf Aufzeichnungen Heideggers zurück (vgl. „Nachwort des Herausgebers“, Heidegger 1993, S. 265 ff.). Für unsere Frage nach dem Stellenwert der Erfahrung für das Anfangsproblem einer Wissenschaft vom Wohnen und Bauen interessiert der Punkt, an dem vom Autor „Wege und Gestaltung der Erfassung des Lebens“ zusammengefasst werden. Der Ausgang wird von der faktischen Lebenserfahrung genommen. Hier artikuliert sich das Leben selbst, insofern es sich selber erfährt. Es erkennt sich nicht als Objekt, sondern nimmt lebendige Gestalt an. In der Erfahrung charakterisiert sich das Leben selbst. Dieser Weg über die „Selbstwelt“ führt „zur Gewinnung des reinen verdinglichungsfreien Lebens aus Bedeutsamkeiten“ (Heidegger 1993, S. 156). Ziel ist die Erfassung des treibenden und tragenden Bezugs der Lebenserfahrung. Welche Tendenzen, welchen Motive sind anhängend? Ist der Bezug kritisch freigelegt, dann ist den „Wegweisungen des Freigewordenen, Lebendigen verstehend nachzugehen“ (Heidegger 1993, S. 156 f.). Wie wird Leben erfahren? Nur über den Zugang zu faktischen Lebenserfahrungen lässt sich sehen, ob und wie sich darin Leben ursprünglich artikuliert. Auf diesem Weg soll jede erkenntnistheoretische Meinung abgedrängt werden. „In der faktischen Lebenserfahrung leben wir in eine Welt hinein. Das Leben ist im wörtlichen Sinne ‚weltlich gesäumt‘. Ich lebe in Bedeutsamkeitszusammenhängen selbstgenügsamen Ausmaßes; das Erfahrene spricht an, aber in einer Weise, die uns immer irgendwie vertraut ist. Es selbst ist so, daß es auch immer irgendwie angeht, daß ich dabei bin. Ich habe mich dabei selbst irgendwie. Vorverständnis der gewöhnlichen Rede auf Nichts festgelegt und doch eine Richtung des Meinens da! In dieser Rede ist ‚ich‘, ‚mich‘, ‚selbst‘ noch formal, präjudiziert nichts – formaler Ausdruck und Hinweis auf eine unabgehobene Abgehobenheit, auf einen Motivkreis, der abhebbar und ausformbar wird. Es gilt, diesen im Erfahren selbst liegenden Charakter des Vertrautseins mit ‚mir‘ zu sehen. Das Fremdartige, Neue ist nicht eine Instanz gegen das Gesagte, sondern im Gegenteil, gerade bei erfahrenden Begegnungen, die fremd, nie dagewesen anmuten, erfahre ich, wie ich immer dabei bin. Im Sinne des Fremden liegt gerade das gehemmte, unmittelbar zurückgeworfene Vertrautsein.“ (Heidegger 1993, S. 157 f.)

Lebenserfahrungen und ihre Gestalten sind Phänomene des Sichselbsthabens. In ihnen artikuliert sich das Leben ursprünglich. In meinen Erfahrungen spiegelt

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sich damit auch die Geschichte meines Lebens. Dazu gehört das Vertrautsein mit der Welt, in der man lebt. „Die Geschichte nicht als Quellenkritik und Geschichtsschreibung und Materialsammlung (…) oder als durch individualisierte Begriffsbildung beherrschbar gewordene sonst unbeherrschbare empirische Wirklichkeit, sondern als mitlebendes Leben, als Vertrautsein des Lebens mit sich selbst in all seinen Bezügen gibt die Leiterfahrungen an die Hand […]“ (Heidegger 1993, S. 159 f.).

5. In der nachfolgenden Vorlesung „Phänomenologie der Anschauung und des Ausdrucks“ von 1920 (Heidegger 1993a) widmet sich Heidegger der so genannten experimentellen Psychologie seiner Zeit sowie der zeitgenössischen „Lebensphilosophie“ (u. a. Dilthey). Er macht deutlich, welches Verhältnis zur Philosophie er den Wissenschaften einräumt. Das Thema der „Lebenserfahrung“ wird nun nicht mehr so prominent behandelt, dafür rückt die „Destruktion“ in den Vordergrund. Die Methode der phänomenologischen Destruktion „sucht den Ursprung als solchen, aus dem jede Wissenschaftstheorie […] ihre Vorzeichnung erhält“ (Heidegger 1993a, S. 89). Kommt er schließlich noch auf die „Lebenserfahrung“ zu sprechen, so sieht er darin einen „bisher nicht abgehobenen Grundsinn“ stecken. In den Beilagen zu § 5 wird in wissenschaftskritischer Absicht auf die Methode der Destruktion als „gerichteter Abbau“ eingegangen und deren Zeit-Komponente herausgestellt. Sie betrifft die „faktische Lebenserfahrung und Lebenswelt selbst in ihrer historischen Konkretion“. Konkrete Lebenserfahrung und konkrete Lebenswelt motivieren ursprünglich die Destruktion. Beide erschließen erst die Notwendigkeit des Abbaus. „Aus der faktischen Lebenserfahrung – genauer deren existenzieller Ursprünglichkeit – wird die Notwendigkeit, die Tragweite der phänomenologischen Destruktion sowie die Schwierigkeit ihres Vollzugs verständlich.“ (Heidegger 1993a, S. 181). Sinn und Bedeutung gehören dem Leben ursprünglich an. Weder können noch müssen sie von außen gestiftet werden. Zur weiteren Erläuterung der „phänomenologischen Destruktion“ setzt Heidegger den Begriff der „faktischen Lebenserfahrung“ ein (Heidegger 1993a, S. 36). Wissenschaft und Philosophie haben selbst ihre „Stelle“ in der faktischen Lebenserfahrung. Jedoch wird dort das Bedeutsame des Sinnes unsichtbar und verblasst, insofern das ursprüngliche Haben in Wissenschaft und Philosophie nicht mehr vollzogen wird. „Verblassen“ bedeutet, dass der „Gehalt der faktischen Lebenserfahrung (abfällt) aus dem Existenzbezug gegen andere Gehalte, der abfallende bleibt in Verfügbarkeit;

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dieser selbst aber kann ihrerseits als Sinncharakter des Bezugs verblassen und in der bloßen Verwendbarkeit übergehen“ (Heidegger 1993a, S. 37). Der in der faktischen Lebenserfahrung „ursprünglich gehabte Gehalt“ garantiert den Existenzbezug des Sinn- und Bedeutungszusammenhangs, von dem her eine Wissenschaft und Philosophie des Lebens ihren Ausgang zu nehmen hat. „Verblassen“ bedeutet das Undeutlich-werden des Erfahrungsinhalts. Hier setzt die phänomenologische Methode ein, indem sie zurückführt auf das „im faktischen Leben Erfahrene“ mit seinem „Charakter der Bedeutsamkeit“. Der Verlust an Ursprünglichkeit und Bedeutsamkeit geht einher mit dem Gewinn an Interessehabe und bloßer Verwendbarkeit. „Der so der Ursprünglichkeit seines zugehörigen Bezugs und Vollzugs entblößte Gehalt steht in einem durchschnittlichen ‚Interesse‘ und ist so im Erfahrungsumkreis verfügbar. Mit der Entfernung vom Ursprung nähert sich die Verfügbarkeit immer mehr der bloßen Verwendbarkeit.“ (Heidegger 1993a, S. 183) Es ist vor allem der Zeitfaktor, der das ursprünglich gegenwärtig Gehabte immer wieder entgleiten lässt. Es muss irgendwie nachgetragen werden. „[…] auch wo Ursprüngliches gelingt, ist in der faktischen Zeit des Vollzugs das Verblassen am Werk, so daß wissenschaftliche Theorien, Sätze, und Begriffe ebenso wie philosophische Explikate (im Modus der Verwendbarkeit) des nicht mehr ursprünglichen Erfahrenwerdens aufgenommen, tradiert und weitergebildet werden.“ (Heidegger 1993a, S. 183) Die Methode der Destruktion beginnt ihren Weg „im Verblaßten“. In der Durchsetzung der Destruktion geht es Heidegger darum, Auffassung und Explikation durchzuführen, „die im Umkreis des Verstehens in der faktischen Lebenserfahrung bleibt“ (Heidegger 1993a, S. 44). „Vorverstehen“ heißt „den Sinn zu verstehen, wie er faktisch gemeint ist, d. h. sich in die Situation zu versetzen“, in denen Bedeutungen innerhalb der Lebenserfahrung ausgesagt werden. Heidegger selbst führt die „Methode“ am Beispiel verschiedener Aussagen, die das Wort „Geschichte“ enthalten, durch. Er nennt diesen Schritt die „Destruktion des Aprioriproblems“ (Heidegger 1993a, S. 43). Statt Erklärungsversuche zu unternehmen, sollen die verschiedenen Bedeutungen von Geschichte „in ihrer konkreten Unbestimmtheit“ (Heidegger 1993a, S. 48) genommen und verstanden werden. Eine Explikation der verschiedenen Sinnzusammenhänge muss nach dem „Woher“ der Bedeutungen sowie nach dem „Ursprung“, „aus dem sie erwachsen“, forschen. Die Methode des Abbaus zielt auf die „Frage, worin die ursprungsmäßigen Motive für die Genesis dieser Sinnzusammenhänge liegen“ (Heidegger 1993a, S. 49). Wie ist das faktisch erfahren, was in den Aussagen unter „Geschichte“ verstanden wird? Es wird weiter gefragt, wie denn die verschiedenen Auffassungen von Geschichte erfahren wurden. Was sind die „genuinen Formen und Weisen des Erfahrenwerdens“, wie ist der Zugang

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zu dem, was mit den Bedeutungen gemeint ist, strukturiert? (Heidegger 1993a, S. 60) Heidegger forscht nach dem aktuellen faktischen Vollzug, dem „Vollzug in seiner faktischen Konkretion“. Darin liegt der Unterschied zum theoretischen Aktvollzug, der nicht konkreter Urteilsvollzug ist, sondern bei dem es sich „um das urteilende Bewußtsein überhaupt, die reine Form des Urteilens“ handelt (Heidegger 1993a, S. 63). Nachdem Heidegger das „theoretische Apriori“ in der Gestalt, die ihm Platon gegeben hat, als weiterhin für die zeitgenössische Philosophie, er nennt Rickert, Simmel und Scheler, leitend festgestellt hat, soll nun die „phänomenologische Diiudication“ entscheiden über die „genealogische Stelle“, „die dem Sinnzusammenhang vom Ursprung her gesehen zukommt“ (Heidegger 1993a, S. 74). Zunächst muss das Kriterium bestimmt werden, „an dem gemessen der Vollzug als ursprünglich bzw. nichtursprünglich charakterisiert werden kann“ (Heidegger 1993a, S. 74). Aus dem sozusagen internen phänomenologischen Ursprungsverstehen geht hervor, dass „das Kriterium in dem bestimmt motiviert (ist), was konkret als Ursprungssphäre verstanden wird“. Dieses Kriterium nennt Heidegger das „selbstweltliche Dasein“ (Heidegger 1993a, S. 75). Entsprechend ist das Nicht-Ursprüngliche etwas bloß „Abgeleitetes“. Die Methode der phänomenologischen Destruktion eröffnet erst die Möglichkeit, eine Entscheidung darüber treffen, welcher Vorgriff und welche vortheoretische ursprüngliche Grunderfahrung für ein Problem leitend sein sollen (vgl. Heidegger 1993a, S. 93). Heidegger stellt, nachdem er Natorp und Dilthey phänomenologisch „destruiert“ hat, fest, dass die zeitgenössische Philosophie, trotz einiger Fortschritte, die er an Diltheys Werk feststellt, nicht in der Lage ist, das Leben ursprünglich zu untersuchen. „Das aktuelle Dasein kommt nicht zu seinem ursprünglichen Recht.“ (Heidegger 1993a, S. 170) Die Methode der Destruktion ist notwendig, da allein sie in der Lage ist, das Geschäft der wissenschaftlichen Philosophie selbstkritisch zu hinterfragen, das eigene Dasein (hinsichtlich der aktuellen philosophischen Erfahrung) zu verunsichern. Das „Leben“ kann nicht auf anderes zurückgeführt werden. „Hinter“ den Vollzug des konkreten historisch faktischen Selbst kann keine Wissenschaft kommen. Die Suche nach dem Ursprungsgebiet hat ergeben, dass der Weg über die faktische Lebenserfahrung zur Selbsterfahrung führt. „Die Zugespitztheit auf die Selbstwelt gibt es schon unabgehoben in der Umwelt. Alle Lebenstendenzen laufen aus der Selbstwelt heraus und ihre Erfüllungen erstrecken sich wieder bis auf die Selbstwelt. Sie ist also das Ursprungsgebiet der Phänomenologie, deren Thema nicht bloß das faktische Leben ist, sondern das Leben als aus dem Ursprung entspringend. Als Ursprungswissenschaft des Lebens sucht die Phänomenologie nach jenen Grundsituationen und Grunderfahrungen, in denen sich die Totalität des Lebens ausdrückt.“ (Kisiel 1987, S. 105 f.)

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Lebensgeschichtlich konkrete Erfahrungen manifestieren sich z. B. im Handeln und Sprechen. Grunderfahrungen machen wir im selbst-bewussten Umgang mit der Wirklichkeit unseres Lebens. Heidegger entfaltet in den frühen Vorlesungen ein Verständnis von Erfahrung als leiblich-konkreter Lebensvollzug (vgl. Jung 2003, S. 16). Wir können nur im Rückgriff versuchen, allem ursprünglich konkret Vollzogenen gerecht zu werden. 6. Die Inhalte von Heideggers Freiburger Vorlesungen der Jahre 1919–1923 waren neben den Hörern nur noch Insidern durch Abschriften bekannt geworden. Stellen wir drei Punkte heraus: 1) Die Motive einer Wissenschaft kommen aus dem Leben selbst. 2) Bedeutsamkeiten sind das Charakteristikum von Erfahrungen. Sie sind auch der Grund, Erfahrungen abzuheben und zu thematisieren. 3) Kenntnisnahmen und Kenntnisgaben sind Modifikationen der ursprünglichen Erfahrungen, die deren Grundstil beibehalten. – Wie geht es dann aber weiter mit dem phänomenologisch-hermeneutischen Einsatz für die lebensweltliche Erfahrung? Bevor dieser Strang bei der „Schüler-Generation“ verfolgt werden kann, muss auf Husserls Interesse an der Erfahrung, das spätestens mit der Parole „Zu den Sachen selbst“ von 1910 geweckt war, eingegangen werden7. Freilich arbeitet Husserl erst mit seinem Spätwerk den antizipativen und induktiven Charakter der Erfahrung systematisch heraus und stellt diesen dort prominent innerhalb seiner Theorie der Wahrnehmung, die er schon 1907 in seiner frühen Göttinger Vorlesung „Ding und Raum“ angeht, in den Vordergrund (vgl. Orth 1995). Husserl ist es vor allem in seinem Spätwerk gelungen, die bestehenden Idealisierungen innerhalb der neuzeitlichen Wissenschaften unter der wissenschaftskritischen Perspektive einer lebensweltlichen Erfahrung abzutragen (vgl. dazu auch Rentsch 2020 in diesem Band). Er legt eine genetische (prozessuale) Analyse der Wahrnehmung am Leitfaden des phänomenologischen Begriffs der Intentionalität vor. Weitere wesentliche Gesichtspunkte gelten dem ­Verständnis

7„‚Zu den Sachen selbst‘ heißt, die Entscheidung darüber, was eine Sache ist, darf keine Vorentscheidung sein, sie wird in der Erfahrung der Sache selbst getroffen und nicht von etwas anderem. Als erstes Kennzeichen haben wir also: die Phänomenologie will eine Philosophie sein, die auf Erfahrung beruht und in der Erfahrung bleibt, im Gegensatz zu Philosophien, in denen nur von Formen und Funktionen der Erkenntnis, von deren Bedingungen, von nicht erfahrbaren Erkenntnissen oder Seinsprinzipien die Rede ist“ (Brand 1970, S. 57).

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von Antizipationen sowie der Neufassung des Apriori. In der sogenannten „Krisis“-Schrift stellt er der Objektivität der Wissenschaft die Erfahrbarkeit der Lebenswelt gegenüber. Mit der Untersuchung dieser Erfahrbarkeit müsse jede Wissenschaft beginnen. Diese hätte allerdings eine „ganz andersartige“, da nicht auf Objektivität gerichtete Wissenschaftlichkeit zu verwirklichen. Allein die Lebenswelt und das lebensweltlich Subjektive zeichnen sich „durch seine wirkliche Erfahrbarkeit“ (Husserl 1992, S. 130) aus. Es ist notwendig, den Erfahrungsbegriff der Naturforscher kritisch zu behandeln und Klarheit darüber zu gewinnen, dass das empiristische Reden über Erfahrung von der objektiven Natur nur „wahr“ zu nennen ist in dem Sinne, „in welchem Erfahrung eine rein in der Lebenswelt sich abspielende Evidenz ist, und als das die Evidenzquelle der objektiven Feststellungen der Wissenschaften, die ihrerseits nie selbst Erfahrungen von dem Objektiven sind. Das Objektive ist eben als es selbst nie erfahrbar (…)“ (Husserl 1992, S. 131). Husserls Fassung einer vorwissenschaftlichen lebensweltlichen Erfahrung soll nachvollzogen und für unser primär wissenschaftstheoretisches Anliegen fruchtbar gemacht werden. Der Ausgang kann an folgendem Phänomen, der Wahrnehmung eines beliebigen Alltagsgegenstands, festgemacht werden: „Wahrnehmung, ganz allgemein gesprochen, ist Originalbewußtsein. Aber in der äußeren Wahrnehmung haben wir den merkwürdigen Zwiespalt, daß das Originalbewußtsein nur möglich ist in der Form eines wirklich und eigentlich original Bewußthabens von Seiten und eines Mitbewußthabens von anderen Seiten, die eben nicht original da sind.“ (Husserl 1966, S. 4) Bewusst wahrgenommen wird an einem Gegenstand mehr, als wirklich „leibhaftig“ an ihm gesehen ist. Was hat es mit diesem „mehr“, diesem „Superplus“, auf sich? Dieses „Mehr“ ist zunächst eine „Leere“, die sich durch weitere aktualisierende Wahrnehmung füllen kann. Husserl spricht vom „intentionalen Leerhorizont“, von einer „auszufüllenden Leere“. Diese Leere sei eine „bestimmbare Unbestimmtheit“. Sie ist also nicht beliebig, vielmehr eignet sie eine „Vorzeichnung, die dem Übergang in neue aktualisierende Erscheinungen eine Regel vorschreibt“ (Husserl 1966, S. 6). Jede Wahrnehmung ist in einen intentionalen Horizont eingebettet, der bei einer Gegenstandswahrnehmung mit in Erscheinung tritt. Dieser apriorische Horizont geht dem aktuellen Erfahren des Gegenstands voraus. Das Neue an Husserls phänomenologischer Deutung der lebensweltlichen Erfahrung ist die Feststellung, dass das Apriori a­ nschaulich-sinnvoll ist. Es ist selbst gegeben und erfahren und darum konkret (vgl. Brand 1970, S. 58). Das Apriori liegt jedem einzelnen Erfahren unthematisiert zugrunde. Für Husserl gibt es deshalb keine ursprünglich „erste“ Wahrnehmung, insofern zu jeder Wahrnehmung ein „Vorwissen“ (Antizipationen, Apriori) gehört, welches selbst ein Moment aller Erfahrung ist. Ohne dieses

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Moment könnte nichts Neues erfahrbar werden. Lassen wir uns auf eine „erste“ Erfahrung eines Gegenstands aktiv und bewusst ein, können wir davon ausgehen, dass wir schon ein Vorverständnis von diesem Gegenstand der Wahrnehmung „passiv“ zugrunde gelegt haben. Dieses Vorwissen erstreckt sich auch auf weitere Gesichtspunkte („Seiten“) des Gegenstandes, deren wir aktuell noch gar nicht ansichtig geworden sind. Wir sehen von unserem Standort aus nur einen Ausschnitt, antizipieren jedoch den Gegenstand in seiner Ganzheit. Den Gegenständen unserer Wahrnehmung ist deren apriorische Typik mit angeschaut. „Apriori ist also das, was schon vorher, von früher her schon ist. Das Apriori an Etwas ist das, was an ihm immer schon früher ist.“ (Szilasi 1959, S. 42). Jede Erfahrung besteht aus einem Bündel von Wahrnehmungen, die in einer kontinuierlichen Reihe von Verweisungen einen einheitlichen Zusammenhang bilden. Am Anfang steht die Affektion, das Ich reagiert darauf intentional (vgl. Brand 1970, S. 67). Etwas betritt meine Perspektive und übt einen sinnlichen Reiz aus. Ich sehe einen Tisch in einseitiger perspektivischer Abschattung und fühle mich bald veranlasst und aufgefordert, an ihn heranzutreten, ihn zu berühren, seine vier Seiten einmal zu umgehen. „Die Aufforderung selbst […] ist nichts anders als das anschauliche Apriori. Die Aufforderung ist unmittelbar angeschaut.“ (Szilasi 1959, S. 45)8 Weitere mögliche mit-wahrgenommene Verweisungen beziehen sich z. B. auf den Raum, in dem der Tisch steht, und auch die Umgebung weiterer Räume. Schließlich erfasse ich den Sachverhalt „Möbellager“ und weiß nun, was es mit diesem Tisch noch auf sich hat. „Es erweist sich also, daß erst auf Grund eines anschaulichen Apriori die intentio der Wahrnehmung diesen Tisch in seiner Adäquatheit vernimmt. Es ist eine Reihe von einzelnen Sinneseindrücken, die sich so oder so zusammenbauen lassen. Das Vernehmen des [Tisches, A.H.] geschieht mit einem Schlage, da nicht nur die ­sinnlich-kategorialen Elemente mit einem Blick vernommen werden, sondern auch das a priori anschaulich ist, das alle Verweisungen enthält, also einen unendlichen Prozeß von Erscheinungen systematisch verbindet.“ (Szilasi 1959, S. 45)

8Husserl sagt: „in seinen Verweisen ruft es [das Wahrgenommene] uns gewissermaßen zu: Es gibt hier noch Weiteres zu sehen, dreh mich doch nach allen Seiten, durchlaufe mich, zerteile mich“ (Husserl 1966, S. 5.). Die Gegenstände selbst sprechen uns an, sie eingehender zu prüfen: „Tritt näher und immer näher, sieh mich dann unter Änderung deiner Stellung, deiner Augenhaltung usw. fixierend an, du wirst an mir selbst noch vieles neu zu sehen bekommen, immer neue Partialfärbungen usw., vorhin umsichtige Strukturen des nur vordem unbestimmt allgemein gesehen Holzes usw.“ (Husserl 1966, S. 7).

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Diese Auslegung einer auf Anschaulichkeit verwiesenen Intentionalität hat Folgen für Husserls Verständnis von Erfahrung und seine Hermeneutik, wie Günther Buck herausstellt: „Der Begriff ‚Erfahrung‘ meint also zweierlei: einerseits das, was man aktual jeweils an Momenten einer Sache in Selbstgegebenheit zu Gesicht bekommt (die vielen einzelnen Erfahrungen) oder auch die synthetische Einheit solcher selbstgegebenen und im Gedächtnis behaltenen Momente (Husserl spricht gern von ‚Sedimentierung‘); andererseits das, auf Grund wovon die aktualen Kenntnisnahmen überhaupt Akte des Verstehens von etwas als etwas sind. Das zweite ist nichts, das zum ersten hinzukommt. Es gibt nicht zuerst atomare Sinneseindrücke, die dann irgendwie zu Verstehenseinheiten zusammengesetzt würden. Vielmehr ist Verstehen das Primäre, auf Grund wovon jede Kenntnisnahme von Momenten als Momenten einer und derselben Sache bzw. eines Sachzusammenhanges erst möglich wird auf Grund wovon wir Künftiges, das sich aktuale noch nicht zeigt, als möglicherweise sich Zeigendes erwarten.“ (Buck 1989, S. 62)

Im Verstehen ist immer schon ein Vorwissen aktiviert, das am Gesehenen auf noch nicht gesehene aber erwartbare Aspekte vorgreift. Erfahrung ist der Gang von Erwartung zu Erfüllung bzw. zu Enttäuschung. Jede Einzelerfahrung oder Kenntnisnahme gründet auf einem Vorverständnis, das sich im Laufe des Erfahrens bestätigt oder nicht bestätigt. Dank meines Vorwissens überschreite („transzendiere“) ich das sinnlich Wahrnehmbare. Dies ermöglicht die „Horizontstruktur der Erfahrung“, von der Husserl spricht. Jede Erfahrung hat einen offenen Horizont von Mehr-wissen, der das aktual Bestimmte „unbestimmt“ und offen belässt für zukünftiges Erfahren, Entdecken und Bestimmen. Jede „neue“ Erfahrung stellt eine „alte“ auf die Probe. Jene kann mein Wissen des Gegenstands anreichern, sie streicht aber auch sich nicht erfüllende Erwartung durch und verändert so das horizonthafte Vorverständnis („Apriori“) für die nächste Begegnung. Zu jeder Erfahrung von einem Ding gehören die beiden Horizontmodi „Innen“- bzw. „Außenhorizont“. Die Rede von Horizonten zeigt auf, dass das Apriori zwar in begrenzte Hintergründe gestellt ist, diese Grenzen jedoch mit jeder neuen Erfahrung verschoben werden können. Husserls Entdeckungen beschränken sich nicht allein auf die Horizontstruktur der Erfahrung, sondern weisen auf, „daß in Horizonten weitere Horizonte impliziert sind und schließlich jedwedes als weltlich Gegebene den Welthorizont mit sich führt“ (Husserl 1992, S. 267). Dass Horizonte bei jeder Erfahrung impliziert sind, heißt, dass sie der aktualen Erfahrung vorausgehen oder: „sie sind verstehensmäßig früher“ (Buck 1989, S. 65). Immer verfüge ich über eine – wie konkret ausgebildet auch immer – Hinsicht, die mir die Wahrnehmung in

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etwas Bekanntes – wie allgemein auch immer – einordnet. Denn mit der Wahrnehmung des einzelnen Tisches habe ich schon „Tischhaftigkeit als solche“ mitangeschaut. Das heißt, dass wir in jeder Wahrnehmung eines konkreten Tisches „das Wesen des Tisches mit wahrnehmen, sonst könnten wir ihn überhaupt nicht in den Bereich der Tische einordnen. […] Das anschauliche Apriori zeigt […] die generellen Funktionsmöglichkeiten des Tisches (was er alles sein kann), […] wozu etwas dienen kann, was es leisten kann, was es sein kann, das Sehen des Bereiches dieses Könnens erlaubt zu erkennen, was es ist.“ (Szilasi 1959, S. 46 f.) Dieser Bereich des Könnens, das muss an dieser Stelle betont werden, ist selbst ein „Sediment“ eines offenen und potenziell unabgeschlossenen Erfahrungslebens. Ebenfalls kann keine Definition dieser „Konzeption Tischhaftigkeit“ habhaft werden. Tischhaftigkeit ist ein Beispiel für Generalisierungen und Verallgemeinerungen, die sich unser Erfahrungswissen in typisierenden Vorgriffen leistet. Dies hat Husserl in § 83a von Erfahrung und Urteil näher beleuchtet. Husserl kommt dort auf die „Typik der natürlichen Erfahrungsapperzeption“ zu sprechen. Es soll damit der Weg gezeigt werden, „der von den passiv vorkonstituierten Typisierungen zu den empirischen Begriffen führt, und zwar zu empirischen Begriffen nicht nur im Sinne von Begriffen des Alltags, sondern auf höherer Stufe zu den Begriffen der empirischen Wissenschaften“ (Husserl 1954, S. 398). Husserl knüpft an das an früherer Stelle Gesagte an: „Die faktische Welt der Erfahrung ist typisiert erfahren“ (Husserl 1954, S. 398). Jedes neu Erfahrene hat wesentlich seine charakteristische Vor-Struktur. „Das als individuell Neues Erfahrene ist zunächst nach dem eigentlich Wahrgenommenen bekannt; es erinnert an Gleiches (bezw. Ähnliches). Das typisch Erfaßte hat aber auch einen Horizont möglicher Erfahrung mit entsprechenden Bekanntheitsvorzeichnungen, also eine Typik der noch unerfahrenen, aber erwarteten Merkmale: sehen wir einen Hund, so sehen wir sofort sein weiteres Gehaben voraus, seine typische Art zu fressen, zu spielen, zu laufen, zu springen usw. Wir sehen jetzt nicht sein Gebiß, aber obschon wir diesen Hund nie gesehen hatten, wissen wir im voraus, wie sein Gebiß aussehen wird – nicht individuell bestimmt, sondern eben typisch, sofern wir an ‚dergleichen‘ Tieren, ‚Hunden‘, schon längst und oft erfahren haben, daß sie dergleichen wie ein ‚Gebiß‘, und ein typisch derartiges haben.“ (Husserl 1954, S. 399)

Die „Typik“, um die es Husserl zu tun ist, ist primär keine von „apriorischer Notwendigkeit“ (Husserl 1954, S. 409). Vielmehr gestaltet sie sich „zufällig“. „Empirische Allgemeinheiten“, und um solche handelt es sich bei Einzelerfahrungen, besitzen einen „auszählbaren Umfang von wirklichen Einzelheiten“ und haben „in der Regel einen Horizont, der präsumptiv vorweist auf weitere

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Erfahrung von Einzelheiten, die in freier Beliebigkeit bei Erschließung dieses präsumptiven Seinshorizontes gewonnen werden können. […] Der Umfang ist dann ein unendlich offener, und doch ist die Einheit der empirisch gewonnenen Spezies und höheren Gattung eine ‚zufällige‘. Das heißt, ein zufällig gegebenes Einzelnes war der Ausgang der Begriffsbildung, und sie führte über die gleichfalls zufälligen Gleichheiten und Ähnlichkeiten – zufällig, weil das Ausgangsglied der Vergleichung ein zufälliges, in der faktischen Erfahrung gegebenes, war.“ (Husserl 1954, S. 409) Solchen empirischen Begriffen des Alltags sind die „reinen Begriffe“, die bar jeden Zufalls konstruiert werden, gegenüber zu stellen. Und noch etwas weisen „reine“ Begriffe auf: sie schreiben Regeln vor, die vor aller Erfahrung evident gegeben sind. Ihr Umfang ist vorweg, also a priori, gegeben. „Dieses Umgreifen im vorweg bedeutet, daß sie imstande sein müssen, allen empirischen Einzelheiten Regeln vorzuschreiben.“ (Husserl 1954, S. 410). Das hier gemeinte Apriori greift vorschreibend und „vor aller Erfahrung“ in die Bildung von reinen Begriffen ein. Husserl hat auch herausgearbeitet, inwiefern Erfahrungserkenntnisse einer lebensweltlichen Wissenschaft vorausgehen können. Denn Erfahrungen sind dynamische Leistungen eines immer reichhaltigeren Kennenlernens z. B. alltäglicher Gebrauchsgüter. Erfahrungen machen den Menschen vertrauter und sicherer im bewussten Umgang mit seinen Lebensmitteln. Es gilt nun auf den Prozess zu achten, der jedes Erfahrungsleben eignet. Szilasi schreibt: „Die Erfahrung ist von Anfang an auf die Sache gerichtet. Aber sie lernt ständig aus sich selbst. Was sie lernt, ist die Angemessenheit, die sie in ständiger Bemühung um die Sache aus der Sache gewinnt.“ (Szilasi 1969, S. 31) Jeder Gegenstand, der anschaulich zur Gegebenheit kommt, steht in seinem Horizont, der durch typische Vertrautheit und Vorbekanntheit gekennzeichnet ist. Doch jede neue Anschauung korrigiert und erweitert die Näherbestimmung des Antizipierten. Das Erfassen und Kennenlernen des Gegenstandes folgt in Schritten. „Mit jedem Schritt der Explikation bildet sich an dem zuvor unbestimmten, d. h. vage horizontmäßig vorausbekannten, antizipatorisch bestimmten Gegenstand der Erfassung ein Niederschlag habitueller Kenntnisse.“ (Husserl 1954, S. 137) Die Erfahrung wächst hier durch aktiv „vollzogene subjektive Leistung“. Der Gegenstand ist „bleibend konstituiert als der durch die betreffenden Bestimmungen bestimmte“, „auch wenn er in die Passivität versunken ist“ (Husserl 1954, S. 137). Jeder Explikationsschritt bedeutet eine Veränderung des Vertrautheitsmodus des Gegenstands. „Nicht nur der Gegenstand selbst, sondern die Art seiner Vertrautheit, sein ‚Apriori‘ erfährt eine Klärung, und das bedeutet, daß damit zugleich eine veränderte Typik für die Auffassung neuer Gegenstände vorgezeichnet ist“ (Buck

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1989, S. 72). Husserl schreibt: „(d)aß solche Stiftung von Habitualitäten mit jedem Schritt der Explikation, des Kennenlernens eines Gegenstandes in seinen Eigenheiten, nicht bloß etwas ist, was diesen selbst betrifft, sondern daß damit sogleich eine Typik vorgezeichnet wird, auf Grund deren durch apperzeptive Übertragung auch andere Gegenstände dieses Typus in einer vorgängigen Vertrautheit erscheinen, horizontmäßig antizipiert sind“ (Husserl 1954, S. 139 f.). Was Husserl Erfahrung nennt, ist nicht Statisches, sondern etwas Dynamisches. Antizipation und Typik sind potenziell ständig in Bewegung. „Mit jedem Schritt ursprünglicher Erfassung und Explikation eines Seienden wandelt sich daher der Horizont des Erfahrbaren im Ganzen; neue typische Bestimmtheiten und Vertrautheiten werden gestiftet und gegen den apperzeptiven Erwartungen, die sich an die Gegebenheit neuer Gegenstände knüpfen, ihre Richtung und Vorzeichnung.“ (Husserl 1954, S. 140) Dabei geht es bei jedem neuen Erfahrungsvollzug potenziell um weitere Verdeutlichung, Klärung und Näherbestimmung „des in der Horizontform unbestimmten, darin Implizierten“ (Husserl 1954, S. 140). Der Horizont „wandelt sich“ und kann sich weiter klären. „Klarheit“ kann aber nie vollkommen sein, da weitere Klärungen, nämlich neue Erfahrungen, immer möglich sind. „Das leer Vorgemeinte hat seine ‚vage Allgemeinheit‘, seine offene Unbestimmtheit, die sich nur in der Gestalt der Näherbestimmung erfüllt.“ Solche Erfüllungen bedeuten eine „Sinnesbereicherung“ für den Erfahrenden. Indes: ein „ungeklärter Resthorizont verbleibt“ (Husserl 1954, S. 141). Klärung bedeutet Näherbestimmung bzw. Verdeutlichung. Husserl weist besonders darauf hin, dass an dieser Stelle Verdeutlichung nicht eine „analytische Verdeutlichung“ meint, sondern wir uns stets „im Bereich der Anschaulichkeit“ bewegen. „Erst die wirkliche Klärung zeigt in umgrenzter Deutlichkeit, was vorgemeint war.“ (Husserl 1954, S. 142) Buck führt dazu aus: „die die Erfahrung leitende vorgreifende Anschauung lernt im Fortgang der Erfahrung sich immer mehr in den Grenzen des jeweiligen gegenständlichen Sinnes zu halten. Sie wird im Gange der Erfahrung gekonnter; sie ist ein Produkt der Bildung durch Erfahrung.“ (Buck 1967, S. 73). In den Analysen zur „passiven Synthesis“ zeigt Hussel am Beispiel der Wahrnehmung, wie Erfahrung den Prozess der „ursprünglichen“ Kenntnisnahme beschreibt. Erfahrung ist deshalb der notwendige und selbstverständliche Unterbau jeder wissenschaftlichen Erkenntnis. Denn in der erfahrenden Wahrnehmung selbst schon liegt ein Fortschritt, insofern die Unbestimmtheit, die jede aktuelle Wahrnehmung als intentionaler Leerhorizont eignet, dynamisch auf Bestimmbarkeit („kontinuierlich fortschreitende Erfüllung“ des Leerhorizonts) bzw. „Besonderung“ (bleibende bzw. habituelle Kenntnis) ausgerichtet ist. Husserl macht auch diesen Prozess sichtbar:

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„Zum Wesen der leeren Vordeutung, die sozusagen eine Vorahnung des Kommenden ist, gehört, wie wir sagten, Unbestimmtheit, und wir sprachen von bestimmbarer Unbestimmtheit. Unbestimmtheit ist eine Urform von Allgemeinheit, deren Wesen es ist, sich in der Sinnesdeckung nur durch ‚Besonderung‘ zu erfüllen; soweit diese selbst den Charakter der Unbestimmtheit hat, aber der besonderen Unbestimmtheit gegenüber der vorangegangenen allgemeinen, gewinnt sie eventuell in neuen Schritten weitere Besonderung usf. Nun ist aber zu beachten, daß dieser Prozeß der Erfüllung, die besondernde Erfüllung ist, auch ein Prozeß der näheren Kenntnisnahme ist, und nicht nur einer momentanen Kenntnisnahme, sondern zugleich ein Prozeß der Aufnahme in die bleibende, habituell werdende Kenntnis.“ (Husserl 1966, S. 8)

Den Weg, den Husserl damit aufweist, führt von „weit gespannter Allgemeinheit“ zu „sinnvoll gegliederte(r) Besonderheit“. Dieser Erfahrungsprozess kommt an kein Ende, er muss stets „noch reichere Kenntnisgehalte als Bestimmungsgehalte“ annehmen (Husserl 1966, S. 10). Die „ursprüngliche“ lebensweltliche Erfahrung muss als vorgegebener Boden der alltäglichen Wahrnehmung und Anschauung zur Geltung gebracht werden. Von besonderem Interesse für eine Wissenschaftstheorie dürfte insbesondere die Analyse der von Husserl herausgearbeiteten „Typik“ sein, die die Verbindung von Einzelerfahrung und Horizontantizipation thematisiert. Eine gewisse, durch Erfahrung gebildete Typik veranschaulicht denn auch die intentionale Erwartungshaltung des Menschen gegenüber einer für das eigene Wohnen „angemessenen“ Architektur und generell gegenüber dem professionellen Bauen als einem zu einem „guten“ Leben „passenden“. Darin steckt etwas konkret Allgemeines, das durch den stetigen Fortgang des lebensweltlichen Umgangs mit Lebenssituationen des Wohnens gebildet wird – „im Wandel der Affektion und Aktion“ (Husserl 1992, S. 11). Statt von „Typik“ möchte ich lieber vom konkreten Prinzip des Wohnens sprechen. Als „intuitives“ Prinzip, das unserer Wohnpraxis immer schon als deren variabler Horizont voraus ist, steht es am Anfang unserer Kenntnis vom Wohnen. Diese habituelle Kenntnis ist das jeder wissenschaftlichen Bestimmung vorgegebene lebensweltlich „angeschaute“ Apriori. Es zeichnet unsere Erwartungen vom Wohnen „passiv“, d. h. ohne ausdrückliche Thematisierung, vor und ist aus keiner Theorie abgeleitet. Jedes konkrete Wohnen ist ursprüngliches Erfassen und Vollziehen des Prinzips, dem im Zug der Lebenserfahrung reichere Sinn- und Bestimmungsgehalte zuwachsen können, dabei aber seine antizipative Funktion stets beibehält. Der aktuelle Wahrnehmungshorizont wandelt sich, bleibt aber stets eingebunden in einen invarianten „Welthorizont“. Das apriorische Prinzip ist in angeschauter Horizontform nur unbestimmt und implizit gegeben. Das „vage“ Allgemeine kann

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aber durch bewusste „induktive“ Erkenntnisleistungen („Besonderungen“) zur näheren Bestimmung kommen.9 Die Architekturtheorie als Erfahrungswissenschaft interessiert gerade diese „passiv vorkonstruierte Typisierung“ (Husserl), die im Umgang mit vielen konkreten Einzelmomenten den Verstehenshorizont des Wohnens ausbildet und verdichtet. Der hermeneutische Zugang zu dieser Typisierung eröffnet erst den Blick auf das lebensweltlich intendierte „Prinzip des guten Wohnens“. Es geht der Erfahrungswissenschaft um Möglichkeiten einer methodisch gestützten Kenntnisnahme dieser „passiven Vorgegebenheit“, die ohne unser Zutun, ohne unsere Aufmerksamkeit und ohne erwachtes Interesse „immer bereits da ist“ (Husserl 1954, S. 24). 7. Husserls Verständnis von Antizipation ist dann von Hans Lipps in seiner „hermeneutischen Logik“ weiter verfolgt worden. Die wissenschaftliche „Erfahrung“, das wird von den Husserl-Schülern vor allem kritisch wegen ihrer Einseitigkeit so gesehen, reduziert die menschlichen Möglichkeiten, mit den Dingen, sich zu ihnen verhaltend, umzugehen, auf nur eine einzige, die die „Wahrheit“ über die Dinge in „objektivierender“, „theoretisierender“ und „idealisierender“ Absicht erschließen soll. Solche generalisierenden Bearbeitungen lassen die Güte der ursprünglichen oder unmittelbaren Erfahrung nicht mehr oder kaum noch erahnen, geschweige denn rekonstruieren. Die Welt, wie sie vor bzw. abseits der wissenschaftlichen Ingriffnahme gegeben ist, wird zu einer beständigen Herausforderung phänomenologisch-hermeneutischer Untersuchungen. Es ist Aufgabe, die ursprüngliche Erfahrung oder natürliche Weltansicht als den unmittelbaren Zugang zu den Dingen, unter denen man sich bewegt und mit ihnen zu tun hat, zur Grundlage einer entsprechenden Erfahrungswissenschaft zu gestalten. Ludwig Landgrebe hat Husserls Auslegung der Gegenstandsgegebenheit und der ihr eigenen Evidenz aufgegriffen. In „Erfahrung und Urteil“ sagt Husserl: „Die Rede von Evidenz, evidenter Gegebenheit, besagt hier also nichts anderes als Selbstgegebenheit, die Art und Weise wie ein Gegenstand in seiner Gegebenheit bewußtseinsmäßig als ‚selbst da‘, ‚leiblich da‘ gekennzeichnet sein kann – im Gegensatz zu seiner bloßen Vergegenwärtigung, der leeren, bloß indizierenden

9Allerdings:

„Keine erdenkliche Erscheinungsweise gibt […] den erscheinenden Gegenstand vollkommen, in keiner ist er letzte Leibhaftigkeit, die das vollkommen erschöpfende Selbst des Gegenstandes brächte, jede Erscheinung führt im Leerhorizont ein plus ultra mit sich.“ (Husserl 1966, S. 11).

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Vorstellung von ihm.“ (Husserl 1954, S. 11 f.) Landgrebe hat sich spätestens seit seiner Arbeit zu „Diltheys Theorie der Geisteswissenschaften“ von 1928 der Thematik der Lebenserfahrung immer wieder gestellt, so z. B. in dem wichtigen Aufsatz „Von der Unmittelbarkeit der Erfahrung“ von 1959 (vgl. Landgrebe 1971). Was ist „Wahrnehmung“, inwiefern ist das Verstehen ihres Geschehens das Grundproblem der Philosophie? Es gibt offensichtlich eine Unmittelbarkeit des Wirklichen in dem, was dem Menschen sinnlich begegnet. Wie ist dies zu bewerten, wie damit umzugehen? In der Erfahrung lassen wir etwas Nichtausgedachtes, sondern unmittelbar uns Zustoßendes uns begegnen. Von diesem Geschehen her bekommt auch das Denken seine Aufgabe zugeteilt, nämlich zu verstehen, „was ihm die Erfahrung in ihrer Unmittelbarkeit gibt“ (Landgrebe 1971, S. 125). Wie aber versteht die Philosophie schon dieses Unmittelbare der Erfahrung, welchen Vorgriff von ihr ist je leitend? Es geht Landgrebe um den Begriff von Wirklichkeit selbst und auch darum, was die Wissenschaft ihm gegenüber vermag. Wie versteht die seit dem 19. Jahrhundert sich durchsetzende Neuzeitmoderne das Prinzip des Wirklich-Seins? In den Naturwissenschaften wird den Sinnen, die die Natur erleben und erfahren, nicht getraut. „(…) so eindringlich sie [die Natur] durch die Erfahrung der Sinne zu uns zu sprechen scheint, so glauben wir dessen gewiß zu sein, daß sie in ihrer Wahrheit etwas ganz anderes, in der mathematischen Formelsprache allein in verbindlicher Weise Erfaßbares ist; und wir glauben in dieser Abwendung von der Belehrung durch die Sinne und durch diese Weise der Erfassung sie restlos in der Griff und in unsere Verfügung gebracht zu haben und sie demgemäß umgestalten und nutzen zu können“ (Landgrebe 1971, S. 127). Die Wahrheit der Natur ginge danach auf „in ihrer gegenständlichen Objektivierbarkeit“. Landgrebe ist der Auffassung, dass mit dem neuzeitlich aufgefassten ­Wirklichkeits-Prinzip etwas nicht stimmen könne, ihm etwas fehle, da wir unter seinem Regime der Natur und unserer Sinnlichkeit ihr gegenüber entfremdet werden. Offensichtlich müssen wir uns einen anderen Begriff von der Wirklichkeit machen. Ist aber Wirklichkeit überhaupt ein Produkt des wissenschaftlichen Denkens, ein Folgeergebnis der Kategorien, mit denen wir die Wirklichkeit zu begreifen suchen? Da gibt es jedenfalls noch einen „Rest“ an Wirklichkeit, der sich nicht tilgen lässt. Mit anderen Worten: die wissenschaftliche Vernunft hat dazu geführt, dass uns die Welt als ganze unbegreiflich geworden ist, unser Vertrauen in das leitende Prinzip der unbedingten Begreifbarkeit und Verfügungsmacht schwindet. (Vgl. Landgrebe 1971, S. 128).

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Denken ist stets auch das Denken des Denkens, damit ein Verstehen der Rolle der Vernunft. Die Moderne sieht in der Vernunft das „Vermögen objektivierender wissenschaftlicher Bestimmung des Seienden“ (Landgrebe 1971, S. 129). Aber die so verstandene Welt ist uns fremd geworden, sodass die Vernunft in eine Sackgasse geraten scheint. Der Kampf der Vernunft um das Verhältnis des Denkens zum Unmittelbaren der Erfahrung ist so alt wie die Metaphysik überhaupt. Erst die Radikalität der Phänomenologie beförderte ins Denken die Frage, „ob das Verhältnis der denkenden Vernunft zur unmittelbaren Wirklichkeit der Erfahrung als des Bewußtseins des ‚Selbst-da-Seins‘ (Husserl) des Erfahrenen, der ‚Anschauung‘ in diesem weitesten Sinne, bisher überhaupt zulänglich bestimmt wurde. Ist es tatsächlich so, daß die Begegnung mit der unmittelbaren Wirklichkeit in der ‚Anschauung‘ nur das ungeformte Material liefert (…), so daß erst in der Formung durch das urteilende Denken der Bezug des unmittelbar Wirklichen in seinem Wirklichsein und dem Prinzip dieses Wirklichseins zu uns hergestellt wird? Was Denken heißt, kann also nur verstanden werden, wenn sein Verhältnis zu dem, was uns der Begegnung mit dem Wirklichen, seiner Unmittelbarkeit vergewissert, das Bewußtsein des ‚Selbst-da-seins‘, der erneuten Prüfung unterzogen wird, die sich nicht mit der Hinnahme der von alters her feststehenden Unterscheidung von Anschauung (Empfinden) und Denken begnügt.“ (Landgrebe 1971, S. 134 f.)

Es war Husserls Leistung, dass er die Evidenz auf der Anschauung begründete, er den Rückgang auf diese Evidenz forderte und auch selbst beschritt. Anschauung ist mehr als sinnliche Anschauung, insofern hier schon ein Beginnen des denkenden Urteilens vorzufinden ist. Zunächst wird das unmittelbar Erfahrene „rein“ beschrieben, nämlich das Erlebte und im Erleben Gemeinte, „so wie es gemeint ist“ (Landgrebe 1971, S. 135). So fordert Husserl damit schon eine neue Auseinandersetzung mit dem alten Problem des „Verhältnisses von Sinnlichkeit und Verstand-Vernunft“. „Denn die Erfüllung dieser Forderung reiner Beschreibung des Erlebten, so wie es erlebt ist, zwingt zur Preisgabe der Deutung der Sinnlichkeit als eines rezeptiven, bloße Data gebenden Vermögens.“ (Landgrebe 1971, S. 135) So konnte Husserl zeigen, dass das Empfinden schon unmittelbar Realität erschließt und als ein entsprechendes Vermögen verstanden werden muss. Die Forderung, alle Vormeiningen auszuschalten, bedeutete eine Absage an den Objektivismus, „der das Empfundene in Korrelation zu der objektiv feststellbaren Reizgröße des bereits naturwissenschaftlich bestimmten Reizobjektes zu konstruieren suchte als objektiv feststellbare Wirkung von Naturkörpern auf den Leib als selbst einen Naturkörper.“ (Landgrebe 1971, S. 135) Deshalb musste zuvor der Leib selbst in sein Recht gesetzt werden. Das tut

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Husserl vor allem mit der Feststellung, dass der Leib kein im Raum wahrnehmbares Ding ist.10 Der Leib als Wahrnehmungsleib ist nicht einfach in eine Welt hineingestellt, deren Strukturen naturwissenschaftlich erklärt werden können. Was Welt ist, muss vielmehr so verstanden werden, wie sie diesem Leib aufgrund seiner Vermögen und Erfahrungsleistungen unmittelbar gegeben ist. Diese Leibleistungen sind die Grundlage aller höheren Denkleistungen wie Bestimmungen des Menschen und der Welt. In der unmittelbaren Erfahrung ist die Welt und der Mensch aber „schon immer irgendwie verstanden“ (Landgrebe 1971, S. 136). Erste Aufgabe ist die Beschreibung dieser Welt-Erfahrung, „wie und durch welche Leistungen, die zum Menschen als solchen gehören, sie [die Welt] zustande kommt“ (Landgrebe 1971, S. 136). So wird der Mensch („in seinen allgemeinen Strukturen“) als ein leibliches und denkendes Wesen erkennbar, und es lässt sich verstehen, dass er sich räumlich und zeitlich in seiner Welt orientiert, zunächst allerdings „relativ auf seine Lage inmitten der Dinge“ (Landgrebe 1971, S. 136). In der Fortführung dieses Husserlschen Programms ergeben sich für Landgrebe Probleme mit der Methode der Deskription und Reflexion. Bei der wissenschaftskritischen „Destruktion“ des Überkommenen kann es nicht bleiben. Deskription ist auch Auslegung, und Reflexion bedarf der passenden Ausdrücke. Es müssen mithin Ausdrücke gefunden werden, die allerdings nur die jeweils gesprochene Sprache mit der Bedeutungsgeschichte seiner einzelnen Worte vorhalten kann. „Die unmittelbar erlebte Wirklichkeit ist also gar nicht anders zu erfassen als in diesem Medium der bereits terminologisch fixierten Sprache (…)“ (Landgrebe 1971, S. 137). Versuchen wir das unmittelbar Erlebte in Worte zu fassen, dann bemerken wir die oft kaum getrennte Weise des umgangssprachlichen und des philosophischen Sprechens. Wir stehen so vor einem großen Problem, insofern „(d)amit aber jeder Deskription durch den zwangsläufigen Gebrauch von Ausdrücken mit ihrer zumeist terminologisch festgelegten Bedeutung schon ein Weg gewiesen (ist), auf dem sich bestimmte Alternativen und Kriterien der Unterscheidung wie selbstverständlich anbieten.“ (Landgrebe 1971, S. 137).

10„Der

Leib fungiert beständig mit als Wahrnehmungsorgan und ist dabei in sich selbst wieder ein ganzes System aufeinander abgestimmter Wahrnehmungsorgane. Der Leib ist in sich charakterisiert als Wahrnehmungsleib. Wir betrachten ihn dabei rein als subjektiv beweglichen und sich im wahrnehmenden Tun subjektiv bewegenden Leib. In dieser Hinsicht kommt er nicht in Betracht als wahrgenommenes Raumding […]“ (Husserl 1966, S. 13).

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Um hier nicht ungewollt bestimmten Auslegungen Vorschub zu leisten, bedarf dieses Zum-Sprechen-bringen der Erfahrung seinerseits einer Methode. So hat Heidegger etwa die „methodische Überprüfung des Begriffsmaterials“ gefordert, die er „Destruktion“ nannte (Landgrebe 1971, S. 138). Dies sollte aber nicht nur für bestimmte Schlüsselbegriffe, sondern für alle aus der gegebenen Sprache stammenden Ausdrücke gelten, wenn unmittelbar Erlebtes und Erfahrenes beschrieben werden soll: „Sie [die „aus der gegebenen Sprache stammenden Ausdrücke“] müssen auf ihre ursprüngliche Bedeutung und ihren Ursprung aus dem Horizont desjenigen Weltverständnisses hin befragt werden, in dem sie geschichtlich geprägt wurden“. (Landgrebe 1971, S. 138) Auf diese Weise kann diese Verschiedenheit im Gebrauch der Sprache, die ihrerseits auf unterschiedliche Welt- und Selbstverständnisse verweisen, „methodisch zu Bewußtsein gebracht“ werden, um die Eignung bestimmter Termini für ihre Verwendung festzustellen. Begriffe verhüllen nur, wenn sie nicht mehr bis zum Erlebten und Erfahrenen durchzustoßen vermögen. Beginnt die phänomenologische Deskription zunächst auch naiv, so muss sie doch dann zur Einsicht gelangen, „daß die Sprache, in der die Deskription erfolgt, in sich selbst schon eine Auslegung des Wirklichen in jeweils bestimmter Hinsicht mit sich führt. Diese Welt erschließende Funktion der Sprache liegt primär nicht in dem, was in ihr als Apophansis, in der Form des Urteils ausgesagt wird und was als begrifflich fixierbarer Gehalt der Aussage aufbewahrt ist.“ (Landgrebe 1971, S. 138). Es wird die „Anschauung“ gesucht, „die die Sprachgemeinschaft hatte, von der das Wort geprägt wurde“ (Landgrebe 1971, S. 139). Landgrebe nennt hier als Aufgabe, den Welthorizont zu entdecken, „der in den Verweisungen ihrer ‚inneren Sprachform‘ enthalten ist“.11 Immer wieder taucht der Husserlsche Begriff vom „Horizont“ auf, der eine Welt umgibt und der im Gebrauch von Ausdrücken stets mitgegeben ist. Der ursprüngliche Sinn ist der Sinn, der wissenschaftlich/ philosophisch noch nicht belastet ist, sondern sich unmittelbar mit dem Erlebten und im Erlebnis einstellt. Es muss alles vermieden („destruiert“) werden, was als urteilende Aussage einen Gegenstand primär festzulegen unternimmt. Es muss versucht werden, das Besondere/Einzelne „auf ein schon bekanntes Allgemeines“ (Landgrebe 1971, S. 140) zu beziehen. Die unmittelbare Erfahrung darf nicht von demjenigen abstrahieren, um dessen Erfahren es hier und jetzt

11Landgrebe

nennt in diesem Zusammenhang die „innere Sprachform“, ein Ausdruck, der offensichtlich auf Wilhelm von Humboldt zurückgeht und der die damalige Sprachtheorie sehr beschäftigt hat.

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geht: „Denn das Erscheinende ist nicht etwas von dem Getrenntes, für den es erscheint, sondern unser Verhältnis zum Erscheinenden ist in seinem Verstehen schon immer mit einbegriffen. Jedes Begreifen des Unmittelbaren schließt schon immer ein Sichselbstverstehen in sich – vor aller Objektivierung in der Aussage.“ (Landgrebe 1971, S. 140). Dieser (hermeneutische) Logos der Philosophie (von der primären Erfahrung) als einer, der das Unmittelbare auslegt, steht in einem besonderen, noch nicht vollständig geklärten Verhältnis zur (kritisierten) Gegenstandslogik. „Seine Klärung kann nur in einer Besinnung auf die Art erfolgen, wie in der Sprache – vor allem begrifflichen Denken – schon immer eine Auslegung der Wirklichkeit vor sich gegangen ist“. (Landgrebe 1971, S. 140) Ein Feld, auf dem vor allem Hans Lipps Wichtiges geleistet hat. Es müsste in seinem Sinne wieder die „Fähigkeit des Vernehmens“ (Landgrebe 1971, S. 141) geschult werden. Dass sich in der Unmittelbarkeit der Erfahrung ein Prinzip – Lipps spricht von „Konzeptionen“ – erschließen lässt, muss zunächst festgehalten werden. Jedoch ist darüber hinaus anzuerkennen, dass dieses „Prinzip des Wirklichseins des Wirklichen“ „kein im Entwurf der Vernunft Beherrschbares“ ist. Es lässt sich dennoch verstehen und verbindlich auslegen. Aufgabe ist, auf Beherrschung zu verzichten sowie die Fähigkeit des Vernehmens zu entwickeln. Der Hinweis auf Hans Lipps ist richtig und wichtig. Denn Lipps breitet eine hermeneutische Logik aus, die mit dem Logos der natürlichen Sprache aufschlägt. Auch unmittelbare Erfahrungen müssen in die Sprache gebracht und einem Anderen, ihn anredend, durch Worte vermittelt werden. Denn es stellt sich sehr wohl die Frage, was es mit der „Artikulation“ (Dilthey) bzw. „Kenntnisgabe“ (Heidegger) von Erfahrungen tatsächlich auf sich hat. Hier setzen die sprachhermeneutischen Untersuchungen von Lipps an. Er entwickelt einen lebenspraktischen Logos, der die faktische „Rede“ ins Zentrum der Sprachphilosophie rückt. Welche Bedeutung hat die Rede im Leben? Primär geht es um Verständigung. Meine Rede ist aber anders zu beurteilen als meine Sprache. „Jemandes Rede verstehen bezieht sich auf sachliches Verständnis. Jemandes Sprache verstehen heißt aber: ihn verstehen“ (Lipps 1976 [1938], S. 78). In der Rede „geschieht“ Sprache. In der konkreten Sprache, die jemand spricht, zeigt sich die Bestimmtheit einer Weltansicht. „Jemandes Sprache ist aber die von ihm her insofern bestimmte Sprache, als e r sich darin vollzieht.“ (Lipps 1976 [1938], S. 78). Das sind die Bedingungen, von denen wir auszugehen haben, wenn wir an die Artikulation von unmittelbarer Erfahrung denken. Weder Dilthey noch Husserl oder Heidegger waren dem Problem nachgegangen, wie Erfahrungen in die Sprache kommen und zum Ausdruck gebracht

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werden. Mit unmittelbaren Erfahrungen kann man nicht wie mit wissenschaftlichen Aussagen umgehen, da ich mit der zwischenmenschlichen Kenntnisgabe des mir Begegnenden einer durchlebten Situation und meinem Verständnis davon Rechnung zu tragen habe. Hans Lipps ist diesem Logos-Phänomen eigenständig nachgegangen und dabei auf sprachliche Konzeptionen gestoßen. Konzeptionen zeigen meine Aufnahme des Mir-Widerfahrenen. Konzeptionen zeigen sich in meiner Rede. Man könnte sie deshalb als „verstehende Artikulationen“ bezeichnen. Konzeptionen weisen keine abstrakte Neutralität auf. Sie artikulieren meinen gerichteten Umgang mit dem Erfahrenen. Von mir aus und in „meiner“ Sprache zeigen sich die Dinge und Angelegenheiten, indem ich sie verstehe, an ihnen sich mir etwas zeigt, ich mit ihnen zurechtkomme. „Konzeptionen vermitteln ein Weiterkommen. Es sind gekonnte Griffe, mit denen man etwas zu fassen, worin man selbst Halt bekommt.“ (Lipps 1976 [1938], S. 56). Das Ziel dieser In-Griffnahme ist nicht Erkenntnis. Ich will und muss weiterkommen in meinen praktischen Angelegenheiten. Lipps fasst Konzeptionen als „Griffe des alltäglichen Lebens“. Im Nehmen des Begegnenden unter ein haltgebendes Vorverständnis, das mir die Wirklichkeit aufschließt, vollziehen Konzeptionen ein Begreifen. Verstehen kann ich nur in der „Artikulation des Kontextes der Wirklichkeit“. Das Begegnende erschließt sich mir unter aktiver Beibringung von Lebensbezügen. Kontext und Bezüge stehen mir als meine Vorerfahrung zur Verfügung. Vorerfahrungen spitzen sich situativ zu als Vorgriffe, die eine Richtung angeben, unter die etwas „richtig“ gesehen und genommen werden kann. Das „Richtige“ ist der Vorabdruck der erwarteten Bedeutung des Erfahrenen. Konzeptionen als solche werden nicht artikuliert. Die Lebenserfahrungen werden praktisch vollzogen als gekonnte Vorgriffe in Umgangssituationen, in denen Menschen, Dinge und Sachverhalte mein Urteil verlangen, wie „Vorentscheidungen“ – nicht willkürlich getroffen, sondern lebenslang vorbereitet und bewährt. „Redend verbreitet man sich über die Dinge. Man übersetzt aber etwas in die S p r a c h e eines anderen, wenn man es in dessen Art, die Dinge zu sehen und aufzufassen, überträgt. Jedes Wort gehört zu einer bestimmten Sprache, sofern das Gepräge seiner Konzeption einen bestimmten Geist verrät.“ (Lipps 1976 [1938], S. 32, Anm.1)

Im Gespräch erschließt sich erst, was es mit einer unmittelbaren Erfahrung auf sich hat, was ihr „Prinzip“ ist, was ihre „Typik“, „Objektivität“ begründet:

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„Objektivität – darin liegt keine Vormeinung über ein An-sich der Sache, geschweige denn über die Möglichkeit, die Sache in ihrem An-sich zu erkennen. Gerade umgekehrt: man läßt es bewenden bei einer Objektivität im Sinne einer Richtigkeit, die ihr Maß in einer Auslegung der Wirklichkeit als einer mit anderen geteilten Welt findet. Gerade dieses Vorverständnis von Objektivität wird leitend, wenn man, um eine Sache sachentsprechend zu erkennen, über sie z. B. mit einem andern zu sprechen sucht. Denn vorzüglich der andere kann es verbürgen, etwas richtig, und das meint hier: nicht einseitig, schief, verzerrt erkannt zu haben. Nur gemeinsames Besprechen einer Sache schafft die Umsicht, die heraustreten läßt, was von verschiedenen Seiten dafür und dagegen spricht.“ (Lipps 1976 [1938], S. 34 f.)

Auch H.-G. Gadamer ringt mit einem abschließenden Verständnis der Bedeutung und Einordnung der Erfahrung: „Der Begriff der Erfahrung scheint mir – so paradox es klingt – zu den unaufgeklärtesten Begriffen zu gehören, die wir besitzen.“ (Gadamer 1986, S. 352) Wie kommt Erfahrung in die Sprache? Oder ist Erfahrung immer schon sprachlich? Nach Gadamer muss unterschieden werden zwischen historischer Erfahrung und Erfahrung als methodische Veranstaltung. Nehmen wir etwa die Geschichtlichkeit der Erfahrung ernst, dann wird sie für die (natur)wissenschaftliche Methodik uninteressant. Gadamer sieht vor allem das Problem der „Verallgemeinerung“, das jeder Darstellung der Erfahrung innewohnt und durch die Auslegung der „Induktion“ behandelt wird. Aristoteles hat in seiner „Wissenschaftstheorie“ die Erfahrung (empeiria) zwischen sinnlicher Wahrnehmung und dem Wissen des Allgemeinen angeordnet. Letzteres wird zum Ausgang für Wissenschaft und Technik. Gadamer unterscheidet Erfahrungswissen von theoretischem Allgemeinwissen. Worauf gründet sich dieser Unterschied? Aus der Fülle einzelner Wahrnehmungen ergibt sich ein Allgemeines, eine Einheit, die wir Erfahrung nennen. „Was ist das für eine Einheit? Offenbar ist es die Einheit eines Allgemeinen. Aber die Allgemeinheit ist noch nicht die Allgemeinheit der Wissenschaft“ (Gadamer 1986, S. 356). Gehen wir an dieser Stelle kurz auf die Induktion (Epagoge) ein, so ist sie kein logisches Schluss-Verfahren, um von möglichst vielen Einzelerfahrungen auf eine begriffliche Verallgemeinerung zu kommen, sondern die Erfahrungseinheit, zu der hin wir „epagogisch“ geführt werden, zeichnet aus, dass in den vielen einzelnen Wahrnehmungen etwas Bleibendes und Charakteristisches erlebt oder angetroffen werden kann (vgl. Buck 1989, S. 60–82). Lebensweltliche Erfahrungen kommen nie an ein Ende, insofern insbesondere der Erfahrene gerade für neue Erfahrungen auch der offene ist. Für das Allgemeinwissen der Wissenschaften gilt das, nach Gadamer, nicht.

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„Erfahrung selber kann nie Wissenschaft sein. Sie steht in einem unaufhebbaren Gegensatz zum Wissen und zu derjenigen Belehrung, die aus theoretischem oder technischem Allgemeinwissen fließt. Die Wahrheit der Erfahrung enthält stets den Bezug auf neue Erfahrung.“ (Gadamer 1986, S. 361) An dieser Stelle wird einsichtig, dass Erfahrung stets Lebenserfahrung ist und dass „gemachte“ Erfahrungen die Lebensgeschichte einer Person prägen und biographisch ausfüllen. Aber Erfahrungen verändern nicht nur uns, sondern auch der „Gegenstand“, der uns in der Erfahrung auf neue Weise widerfährt, wird ein anderer als der, der er vor der Erfahrung war. ‚Gebrauchsausdrücke‘ (W. Kamlah), nicht Termini kommen ins Spiel des Verstehens, wenn wir uns eine Erfahrung „bewusst machen“, z. B. indem wir sie Anderen mitteilen. In der Mitteilung erst wird etwas sprachlich ausgelegt. Auch wenn nicht jede Auslegung sprachlich sein muss, sondern etwa eine stumme Geste oder ein demonstratives Zeigen sein kann, so setzt doch jede Auslegung Sprachlichkeit voraus. Auslegung ist Auslegung von Sinn, und dieser gründet auf Welt-Verstehen. Was nun Gadamer an dieser Stelle interessiert, ist das Phänomen, dass jede Auslegung Worte für einen stimmigen Sinnzusammenhang suchen und finden muss, der nicht einer Ableitungsvernunft Rechnung trägt, sondern einem anderen Logos „gehorcht“. „Der Ausleger weiß nicht darum, daß er sich selbst und seine eigenen Begriffe in die Auslegung mit einbringt. Die sprachliche Formulierung wohnt dem Meinen des Interpreten so völlig ein, daß sie ihm in keiner Weise gegenständlich wird. […] Aber der Gebrauch der gewohnten Worte entspringt nicht dem Akte der logischen Subsumtion, durch den ein Einzelnes unter das Allgemeine des Begriffs gebracht würde. […] Der Ausleger bedient sich nicht der Worte und Begriffe wie der Handwerker, der die Werkzeuge in die Hand nimmt und fortlegt.“ (Gadamer 1986, S. 407)

8. Versuchen wir eine Zusammenfassung: Um zu erkennen, welche Zugänge die Lebenswelt zum menschlichen Verhalten (wohnen, entwerfen, bauen) eröffnet, muss man sie zwar verlassen haben, darf sie aber nicht vergessen. Nur so finden sich Architekturtheoretiker in einem nach-lebensweltlichen Wissenschaftsverständnis zurecht. Architekturtheorie hat zum Gegenstand das vorwissenschaftliche Erfahrungswissen vom Umgang mit dem eigenen Wohnen in entworfenen und gestalteten Räumen.12 Bislang hat sie diese allseitigen basalen Leistungen nicht im thematischen Blick. Die Begriffe dieser

12Karsten Berr spricht von einem „proto-theoretischen Unterbau“ z. B. der Landschaftsarchitektur (Berr 2018).

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Art Forschung und Theorie sind Hochstilisierungen der Konzeptionen und Gebrauchsausdrücke, wie sie in situativer Rede und situativem Nachvollzug vernommen und transformiert werden können. Wissenschaftstheoretisch bewegt sie sich in der Tradition einer p­hänomenologisch-hermeneutischen Grundwissenschaft. Phänomenologie als Ursprungs- oder Grundwissenschaft hat das im faktischen Leben Erfahrene als das ihr Vor-Gegebene zum Ausgang hin- und anzunehmen. Jede Lebenspraxis ist gegründet auf einem passiven Weltglauben, der uns unsere Welt als so und nicht anders gegeben versichert. Die Begriffe Erfahrung und Welt gehören untrennbar zusammen: die jedem Zweifel sich entziehende Welt im Ganzen macht den Gesamthorizont unserer Erfahrungen aus. Und mit jeder Erfahrung haben wir eine unmittelbare Auslegung der Welt und ihrer Sachverhalte vorliegen, nämlich des Weltganzen vor der Wissenschaft: „die unmittelbare ‚Lebenswelt‘ in ihrer ursprünglichen Gegebenheit“ (Landgrebe 1971, S. 48). Es ist zugleich die Welt der „vorwissenschaftlichen Erfahrung“ (Landgrebe 1971, S. 48). „Unmittelbar“ heißt: es ist stets ein bestimmtes als selbstverständlich hingenommenes Orientierungszentrum mitgesehen, das jede Erfahrung antizipativ am Leben ausrichtet. Der unmittelbaren Erfahrung steht die theoretisch vorgefasste und nur methodisch erreichbare „Erfahrung“ der Wissenschaften ­gegenüber. Erfahrungen sind Kenntnisnahmen und Mitteilungen von in der Welt bedeutsam Begegnendem. Mit entsprechender, an andere gerichteter Kenntnisgabe erst, so Heidegger, stellt sich Erfahrung ein: in ihrer Bedeutsamkeit für ein individuelles Leben. Nicht nur die „logische Propädeutik“ (Kamlah und Lorenzen 1967) hat auf die Unterschiede zwischen Umgangs-, Bildungs- und wissenschaftlicher Sprache hingewiesen. Diese Differenzierungen gelten auch für das Verständnis von Erfahrung. Erfahrungen teilen wir als Geschichten, Berichte, Beschreibungen oder Aufzeichnungen mit. An andere gerichtete Mitteilungen oder Erzählungen haben ihren Schwerpunkt in den ‚sichtenden Konzeptionen‘ (Hans Lipps), die erfahrungsmäßige Vorgriffe des Verstehens und Begreifens des Mitgeteilten sind. Erfahrungen stellen einen eigenen Anspruch auf Verstehbarkeit. Die „objektive Faktizität“ der Architektur soll „­geisteswissenschaftlicharchitekturtheoretisch“ untersucht werden. Es geht dieser Wissenschaft darum, Erfahrungen sich begegnen zu lassen, die Menschen im Umgang mit dem Wohnen, Entwerfen und Bauen gemacht haben. Unmittelbare Erfahrungen machen wir, indem wir die Selbstverständlichkeiten unseres Da-Seins ausleben. Es sind die Erfahrungen und die antizipierten Horizonte, die uns darin orientieren, das Leben

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zu bewältigen, es gut zu führen. Die „geisteswissenschaftliche“ Tradition hat deutlich gemacht, dass wir mit Erfahrungen einen wesentlichen Bezug des Menschen zu seiner Welt erfassen können. Wir versuchen, den Anfang von Wissenschaft, wie ihn seit Dingler der methodische Konstruktivismus vertritt, mit dem Außer- und Nichtwissenschaftlichen, das die Hermeneutik und Phänomenologie als „vortheoretische ursprüngliche Grunderfahrung“ herausgestellt hat, in einen methodologischen Zusammenhang zu bringen. Das Erfahrungswissen selbst kann als ein Anfang, da uns das vorsprachliche Erleben methodisch unerschlossen bleibt, genommen werden.13 Dieser Anfang ist „sicher“, da er unmittelbar, d. h. ohne wissenschaftliches Denken oder theoretische Konstruktion, Klärung, Verdeutlichung und Näherbestimmung sowie Kenntnisse über den Menschen und die Dinge seiner Welt enthält. Wie begegnen uns Architektur und das Wohnen anfänglich/ursprünglich? In der mitteilenden Rede veranschaulichen wir die Bedeutsamkeiten, die uns unser Erfahrungsleben bereitgestellt hat. Die „Sprache“ des Bedeutsamen zu verstehen, ist für jede hermeneutische Logik die eigentliche Herausforderung. Das Bedeutsame ist das induktiv gewonnene, passiv bzw. unausdrücklich in typisierten Antizipationen gehabte, eine Erfahrung überhaupt ermöglichende Vorverständnis. Die Bedeutung des Erfahrenen, d. h. das Ausdrücklich-machen der durch Erfahrung gewonnenen Hinsichten, kann nur im Gebrauch der je zur Verfügung stehenden Umgangssprache zur Artikulation kommen. Unsere Rede gibt uns und anderen zu verstehen, worauf es uns in unserem Leben (unserem Wohnen) ankommt. Diese Auslegung des Lebens selbst lässt sich nicht an einem sachlichen Begriff veranschaulichen. Denn die Dinge, mit denen wir lebenspraktischen Umgang haben, müssen im Kontext konkreter Lebensumstände, Verhaltensorientierungen und Verstehenssituationen begriffen werden. Die beiden Ankerpunkte der „vernehmenden Vernunft“ (Kamlah) sind Artikulation des Bedeutsamen und ausdrücklicher Vollzug des Verstehens. Dieser Anfang ist nicht weltlos, da er auf den lebendigen Umgang mit Weltlichem zurückgeht. Er ist auch nicht selbst-los, da Erfahrungen stets „selbst gemachte“ Erfahrungen sind, die einem Selbst zugestoßen sind. Das im Erfahren uns Widerfahrende ist kein Objekt; es liegt ganz außerhalb unserer Souveränität. „Ungefragt“ stößt es uns zu. Jede Erfahrung hat ihre qualitative Zeit, zu der sie Jemandem zugefallen ist und als „gemachte“ vollzogen wird. „Erfahrung ist hier

13„Alle

Erkenntnis, als Urteilsbegründung, hebt mit Erfahrung an. Zweifellos ist sie das Erste der Begründung. Aber ist mit bloßer Erfahrung Begründung schon geleistet?“ (Husserl 1966, S. 102).

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etwas, was zum geschichtlichen Wesen des Menschen gehört.“ (Gadamer 1986, S. 361 f.) So können wir Hinsichten, die unsere Wohnerfahrungen betreffen, antizipieren. Das Wohnen ist die ursprünglich-natürliche Möglichkeit der Selbstverwirklichung des Menschen. Die Zeit des Wohnens ist unsere Lebenszeit. Wir müssen wohnen, aber können wir es auch immer? Jedenfalls stellen wir uns diesem Können, weil im Wohnen etwas liegt, das wir bewältigen müssen. Im Scheitern erfahren wir die Grenze unseres Könnens. Erfahrungen artikulieren das Gelingen bzw. Misslingen des eigenen Wohnens. Aber – und das muss die Architekturtheorie methodisch bedenken – Erfahrung und ebenso die Besinnung auf ihr Apriori werden als faktisch gesprochenes Wort gehört und verstanden. Der epagogische Charakter der Erfahrung liegt in der Übermittlung von „etwas“. Die Kenntnisgabe ist gerichtet an einen Anderen, der davon hören soll. Wir haben es dabei nicht mit dem objektivierten logischen Sinn einer Aussage zu tun, sondern ein Verständnis von einem bedeutsamen Sachverhalt zu gegenwärtigen, das der Erfahrene auf vielfältige Weise „induktiv“ im lebenslangen Umgang gewonnen hat. Wissenschaftlich-hermeneutische Auslegung, die die lebenswirkliche Bedeutung des Gesagten untersuchen will, kann der zwischenmenschlichen Situation, die das Verstehen von Rede bedeutet, nicht ausweichen, sie muss vielmehr alles dafür tun, dem alltagsweltlichen Sprechen und Meinen entgegenzukommen. Sie kann sich die Erfahrungen der Menschen immer nur als „Beispiele“, aber nicht als Fälle einer definitiven Theorie, begegnen lassen (vgl. Hahn 2017). Allein der hermeneutische Umgang mit Beispielen kann der konkreten Bedeutsamkeit der Lebenserfahrung gerecht werden. So erschließen sich dem Forscher die Lebensführungskonzeptionen, deren sprachliche Antizipationen er explizit/ausdrücklich macht. Der Habitus der Unvoreingenommenheit muss dabei die wissenschaftliche Interpretation orientieren und atmosphärisch stimmen. „Alle Erkenntnis, als Urteilsbegründung, hebt mit Erfahrung an. Zweifellos ist sie das Erste der Begründung. Aber ist mit bloßer Erfahrung Begründung schon geleistet?“ (Husserl 1966, S. 102). Erfahrungen – in diesem Verständnis des der Wissenschaft evident Vor-Gegebenen – sind als lebensweltliche Einsichten und Urteile tatsächlich „erste“ Begründungen für die Güte architektonischer Artefakte und markieren auf ihre Weise einen autonomen Anfang. Weitere Begründungen, die auf jenen aufbauen und sie systematisch und zirkelfrei explizieren, müssen folgen. Ich möchte es am Ende meiner Untersuchung so ausdrücken: Aufgabe der Architekturtheorie als Erfahrungswissenschaft ist die Übertragung des erfahrungsmäßigen Vorverständnisses in eine intersubjektiv überzeugende Einsicht in Zwecke und Mittel des wohnenden Verhaltens und seiner apriorischen Horizonte.

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Die Frage nach einer wünschenswerten und machbaren Transdisziplinarität ist mit der hier vorgestellten Auffassung von Erfahrungs-Wissenschaft auf gewisse Weise positiv beantwortet. Wir überschreiten bewusst die Disziplingrenze von Wissenschaftlichkeit überhaupt, indem wir die Vor-Gegebenheit unseres Gegenstandsbereichs und Sachgebiets anerkennen. Letzteres, nämlich die konkrete lebensweltliche Erfahrung in ihrer unbedingten Bodenfunktion, konstituiert und ermöglicht erst unsere Wissenschaft einschließlich Wahl und Begründung ihrer Methoden. Es ist dieses bewusst gewollte Schreiten – oder wenn man so will: der gezielt angetretene „Rückgang“ – von der wissenschaftstheoretischen Überzeugung zur Vorwissenschaftlichkeit der Welt des alltäglichen Wohnens, Entwerfens und Bauens, der unsere Disziplin „transzendiert“. Ich könnte mit gleichem Recht sagen, dass es das Alltagsverständnis von der Welt und ihren Gegenständen ist, welches seine Selbstverständlichkeit und Fraglosigkeit überschreitet, indem es das in der sinnlichen Erfahrung gründende „Meinen und Denken“ transzendiert, ohne mit diesem Übergang das eigene Herkommen aus dem Blick zu verlieren und zu vergessen. Die lebensweltlich motivierte „Hochstilisierung“ des „naiven“ Weltglaubens und -meinens, der ­praktisch-vernehmenden Vernunft also, auf der Basis methodisch kontrollierten Nach- und Andersverstehens mag ebenfalls als das Umsetzen von Transdisziplinarität angesehen werden.

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Architektur und Formen ihres Wissens Petra Lohmann

1. Ausgangspunkt der Untersuchung zur Architektur und Formen ihres Wissens ist die Annahme, dass nicht nur wissenschaftliches Wissen, sondern in einer ebenso großen Relevanz das Leben Orientierung und Maßstab im Umgang mit Architektur ist. Die Bestimmung von anonymer Architektur (vgl. Rudofsky 1989) hat gezeigt, dass Menschen ohne besondere Voraussetzung auf der Alltagsebene Architektur schaffen bzw. sich Architektur schon immer aneignen. Architektur gehört wie kaum ein anderer Gegenstand zwingend zum Dasein und es ist nur natürlich, dass sich im Alltag präprofessionelle Fertigkeiten des Bauens sowie gewisse Haltungen und Vorstellungen davon, wie man in seiner architektonischen Umwelt leben möchte, entwickelt haben. Architektur ist, wie es bei Hartmut Böhme heißt, „An-Halt“ des „kulturelle[n] Leben[s]“ (Böhme 2004). Leider steht der Alltag bisher erst am Anfang der Forschung in der Architektur (vgl. Neubert 2017, S. 11), denn Architektur soll in künstlerisch-akademischer Sicht in Abgrenzung vom bloßen Bauen nichts Alltägliches sein. Die Bestimmung der Architektur im Verhältnis zum Alltag ist zudem eine problematische Aufgabe, weil zum Alltag die für eine objektive Untersuchung notwendige kritische Distanz schwierig einzuhalten ist (vgl. Ruhl 2018). Dennoch zeigen diverse Verfehlungen von Architektur, dass es Not tut, sie im Spannungsfeld von wissenschaftlichem und alltäglichem Wissen zu reflektieren und nach möglichen Übergängen zwischen beiden Wissensarten zu suchen. Jüngste Bestimmungen von Architektur im wissenschaftlichen Umfeld lassen jedenfalls darauf hoffen. Sie spiegeln, dass P. Lohmann (*)  Universität Siegen, Siegen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Berr und A. Hahn (Hrsg.), Interdisziplinäre Architektur-Wissenschaft, Interdisziplinäre Architektur-Wissenschaft: Praxis – Theorie – Methodologie – Forschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29634-6_4

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Architektur ein hochdifferenzierter Gegenstand ist, der sich von einem innerdisziplinischen Standpunkt aus nur schwer fassen lässt und der Integration in die Lebenspraxis bedarf. Georg Franck zufolge manifestiert sich „Architektonische Qualität“ als „umfassende[…] Motiviertheit“, die sich in „einem Corpus organisierten Wissens“ niederschlägt, der sich aus Kunst, Natur-, Geistes- und Ingenieurwissenschaften sowie Medizin u.v.a.m. zusammensetzt und der sowohl die ästhetischen als auch die „physischen“ und „psychischen […] Bedürfnisse“ (Franck 2009, S. 29) des Menschen zu berücksichtigen hat. Es geht um das „Ganze“ (de Bruyn und Reuter 2011, S. 63) des Wissens. Dazu gehört die Einsicht, dass Architektur kontinuierlich neue Strukturen der Realität erzeugt, was nicht ohne Folgen für die lebensweltliche Praxis bleibt. Architektur ist, wie es bei Achim Hahn heißt, ein „Lebens-mittel“ (Hahn 2008). Sie ist ‚in der‘ Welt und keine Welt ‚für sich‘. Sie bloß als Gegenstand akademischen Wissens zu betrachten, das keinen unmittelbaren Bezug zur Realität hat, würde bedeuten, sie auf ihre bloße Außenperspektive zu reduzieren und die Erkenntnis von ihr zu verkürzen. Die vollständige Erkenntnis von Architektur verlangt hingegen auch die Rücksicht auf ihre lebensweltliche Perspektive und d. h. sie als Gegenstand des unmittelbaren Alltags zu reflektieren, der gebraucht wird, ohne ihn eigens ins Denken zu erheben. Architektur als „Lebens-mittel“ (Hahn 2008) gehört damit vom Standpunkt des „Ganze[n]“ (de Bruyn und Reuter 2001, S. 63) ihres Wissens aus betrachtet zwei Erkenntnisreihen an. Sie ist in eins Objekt der Erkenntnis und zugleich ist der Erkennende ‚in‘ dem Objekt, das er untersucht. Wichtig ist hierbei, dass die Umwelt, bzw. die lebensbezogene Seite der Architektur, nicht von vornherein der internen Differenzierung des akademischen Wissens von Architektur entspricht. Ihr Begreifen setzt vielmehr ein Transdisziplinaritätsverständnis voraus, das auf das „sozial robuste Wissen“ (Nowotny 2006) des Alltags mit ganz eigener Qualität im Sinne eines „lebensweltlichen Apriori“ (Mittelstraß 1974, S. 146) vertraut. Solches Vorgehen beruht auf der Einsicht, dass die zu lösenden Probleme in der Architektur immer ­gesamt-gesellschaftliche, d. h. akademische und lebensweltliche Probleme sind. Im Forschungsdiskurs wurde die Alltagspraxis der Architektur schon mehrfach beleuchtet. Dies geschah vor allem unter dem Stichpunkt der „anwendungsbezogenen Forschung“ (Luhmann 1990, S. 642), worunter nicht zuletzt Ideen der Partizipationslehre (vgl. Habraken 2000) fielen. Darum geht es hier nicht. Hier wird vielmehr mittels diverser philosophischer Theorien nach der Kompatibilität von akademischen und alltäglichen Wissensformen der Architektur gefragt. Unter Wissen wird hierbei nicht nur das diskursive Vorstellungswissen objektiver Erkenntnis, sondern auch das intuitive Wissen subjektiver Gewissheit, das

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die Realität auf einen Schlag manifestiert, verstanden. Auf letztgenanntem Wissen liegt der Schwerpunkt des Beitrags und damit in eins auf der Sphäre des Lebens. Das Gefühl fungiert hierbei als kognitives Vermögen des unmittelbaren, unreflektierten Lebens. In dieser Eigenschaft dient es als „Brücke“ (SW XI, S. 12) zwischen Wissenschaft und Leben – wie es bei dem Philosophen Johann Gottlieb Fichte heißt. Die Darstellung dieses Sachverhalts auf die Wissensformen der Architektur bezogen, gliedert sich in drei Abschnitte. Der erste Abschnitt handelt von der Zielbestimmung von Architektur in Bezug auf ihr Verhältnis zum Leben. Die Zielbestimmung soll nicht dogmatisch bestimmt werden, sondern das, was sein soll, wird apagogisch bzw. vom Gegenteil, d. h. von dem her, was man vernünftigerweise nicht wollen kann, angegangen. Mit Avantgarde und Funktionalismus – jeweils in ihrer absoluten Zuspitzung als bloßer Selbstzweck verstanden – werden zwei maximale Verfehlungen von Architektur und Leben herangezogen und dabei das Gefühl als Instanz der Verfehlungen ausgemacht. Das Gefühl ist Anzeiger der Befindlichkeit des Rezipienten. Es ist Medium der Selbstwahrnehmung und Umweltwahrnehmung. Der zweite Abschnitt widmet sich dem Gefühl als ersten, unmittelbaren und für das Leben typischen Zugang zur Architektur. Nach Wolfgang Meisenheimer ist der im Leben übliche unmittelbare Umgang mit Architektur „eher intuitiv erfaßbar: im Entwurf, beim realen ­ Wahrnehmungs-Erlebnis, in der Erinnerung, in der Vorstellung usw.“ Dagegen ist Architektur […] rational erfaßbar nur in distinkten Bereichen der Planung, Forschung und Herstellung: in der statischen und der wirtschaftlichen Kalkulation, bei der Betriebsbeschreibung, bei der Analyse von Herstellungsprozeduren etc.“ Im letzteren Fall ist „Architektur ein Katalog von übereinandergelagerten rationalen Strukturen“; im ersten Fall ist sie „eine Szene der Gefühlswelt“ (Meisenheimer 2001). Der dritte Abschnitt beschreibt ein wissenschaftstheoretisches Selbstverständnis, das auf das Gefühl als das zentrale Moment setzt und das seiner Struktur nach ein Vorbild einer Wissenschaft von Architektur sein könnte, die das Leben als konstitutives Element ihrer Theorie erachtet. Dafür wird in Anlehnung an Robert Pippin und seiner Rede von der Aktualität des Deutschen Idealismus (vgl. Pippin 2016) Johann Gottlieb Fichtes Theorie der Wissenschaftslehre aufgegriffen, in der der Begriff des Gefühls als Vermittlungsinstrument zwischen Wissenschaft und Leben jeweils Bestimmungsstück beider Sphären ist, die in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis nachgewiesen werden und in der das Gefühl als Grund und Instanz aller Realität ausgewiesen wird. Die Ausführungen schließen mit einem Appell an die Einsicht in eine wissenschaftliche Haltung zur Offenheit des Lebens und damit auch zur Offenheit der Erkenntnisarten von Architektur, die den Alltag als wertvoll anerkennt, weil er nicht eindimensional, sondern vielgestaltig ausdifferenziert ist. Michel de

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Montaigne hat dieser, aus dem Alltag hervorgehenden Haltung zur Erkenntnis mit seinen Essays eine ganze Philosophie gewidmet und gezeigt (Montaigne 1998, S. 5), welch großer Widerspruch und Verlust es für das vernunftbegabte Subjekt ist, wenn es sich nicht auf die Erfahrungsebene des Lebens einlässt. 2. Angesichts der Tatsache, dass „seit 2008 […] mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung in Städten“ lebt und es „über die nächsten Jahrzehnte […] noch mehr werden“, wird die Frage, „was gebaut wird“, – so Yvonne Farrell und Shelley McNamara von Grafton-Architects – „uns [nahezu] alle betreffen.“ Die Dominanz der Architektur auf das Leben ist schon jetzt so stark, „dass Architektur in Wahrheit eine komplett neue Geographie der Umstände und Dinge [des Lebens] darstellt.“ Es ist absolut nicht gleichgültig, „was […] als ‚Außenhaut‘ des Menschseins gebaut wird“, weil „jedes Gebäude […] Einfluss auf uns“ (Chichosch 2018) hat. Diese Haltung ist schon von Hermann Herzberger vorgedacht. Für ihn hat „Architektur […] unweigerlich eine gewisse Rolle im Leben der Benutzer“. Er fragt: „Wie könnte die Architektur etwas anderes sein als die Beschäftigung mit Situationen des alltäglichen Lebens, wie wir sie alle kennen“? Architektur hat eine „soziale Funktion“ und „jeder Eingriff in die Umgebung der Menschen“ ist Ursache „soziale[r] Folgen“, die sich mittelbar und „unabhängig von den Absichten des Architekten“ ereignen. Es gibt also „keine sozial neutralen Lösungen“ in der Architektur. Daher besteht seiner Auffassung nach „die Hauptaufgabe des Architekten“ darin, dieser lebensgerechten Bedeutung von Architektur zu entsprechen. Architekten „dürfen [demnach …] nicht einfach das entwerfen, was [ihnen] gefällt, denn alles, was [sie] tun, bleibt nicht ohne Konsequenzen für die Menschen und ihre sozialen Beziehungen“ (Hertzberger 1995, S. 171). Die künstlerische Verfehlung von Architektur im Hinblick auf ihre Alltagspraxis liegt in ihrer ästhetischen Selbstzweckhaftigkeit als einer Avantgarde begründet, die am Leben vorbeigeht, indem sie die anthropologischen Gewissheiten des Menschen im Umgang mit Architektur als realem Objekt praktischen Tuns missachtet. Martin Trautz zufolge haben architektonische Objekte anders als Objekte der schönen Künste notwendig einen „Zweck“, d. h. eine konkrete „Nutzung“. Das daraus ableitbare Verständnis der Architektur als „­ Lebens-mittel“ (vgl. Hahn 2008) einer gelungenen Existenz (vgl. Düchs 2011) hat zwar den Status einer communis opinio, dennoch droht ihm eine unter dem Stichwort „Bilbao-Effekt“ fassbare Gefahr. Sie steht für das Artifizielle als Selbstzweck der Architektur im Sinne einer l’art pour l’art (vgl. Ullrich 2005), für die die lebensweltlich existenziellen Bestimmungen der Architektur eher marginal sind. Christian Norberg-Schulz verbindet mit der

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Kritik an dem Aufgeben der Disziplinreinheit von Architektur zugunsten von Kunst deshalb den Wunsch, dass „Architektur keinem l’art pour l’art-Wunschbild entspringt, sondern dem Streben idealistisch gesinnter Persönlichkeiten, die Umwelt des Menschen zu verbessern“ (Norberg-Schulz 1980, S. 17). Damit ist keine grundsätzliche Kritik an der Avantgardearchitektur gemeint, aber die Avantgarde, die laut Werner Spies an der „Abschaffung von Gewissheiten“ (Spies 2009, S. 80; vgl. Bürger 1974) arbeitet oder die, wie es bei Walter Sedlmayer heißt, „wurzellos“ (Sedlmeyer 1948, S. 86) ist und damit den Rezipienten in den Zustand des Zweifels, der Irritation setzt, wirkt sich in den Künsten anders als in der Architektur aus. Sie ist qua Definition ein auf den Einzelfall bezogenes, selbstzweckhaftes Prinzip und der ästhetische Zustand in der Kunst ist mehr oder weniger eine Momentaufnahme in der Rezeption, die sich aus der Distanz zum Leben ergibt. In der Architektur hingegen ist er das ganze unmittelbare Leben in seiner vollen Dauer selbst, wie es bei Aldo van Eyck heißt (vgl. Lefaivre und Tzonis 1999). Architektur muss daher eher bejahend als problematisierend sein und sie kann kein rein selbstzweckhaftes ästhetisches Objekt (Schoper 2010, S. 16) sein, das zu einem erheblichen Teil auf die Reizung von Affekten zielt. Leugnet man dies und verliert den Menschen mit seinen anthropologischen Bedürfnissen zugunsten der Lebenswelt gleichgültigen individualistisch-ästhetischen Impulsen aus dem Blick, wird man Martin Mosebach zufolge „anerkennen müssen, dass die vollkommene Freiheit uns auf eine Probe stellt, auf die wir nicht vorbereitet sind und für die wir wahrscheinlich noch lange nicht gerüstet sein werden: Schönheit unserer Willkür abverlangen zu müssen“ (Mosebach 2016) und uns, wie Kenneth Frampton bemerkt, „narzisstisch“ der Suche nach dem Absolut-Neuen verpflichten und „die Architektur auf wenige bildstarke“, nicht selten auf kurzlebigen Moden beruhende „Momente reduzieren“ (Frampton 2016). Soll Architektur nicht solchermaßen ins Leere laufen, muss der Rezipient, um sie zu verstehen und richtig zu gebrauchen, sie in ihrer funktional-ästhetischen Präsenz und „Weltzugehörigkeit“ ‚lesen‘ können wie es bei Arthur C. Danto heißt (Danto 1984, S. 37), und das stellt an ihn andere Herausforderungen, als das ‚Lesen‘ eines reinen Kunstwerks. Laut Hans-Georg Gadamer ist für ein gelungenes Architekturverständnis körperlich-geistiges „Wiedererkennen“ (Gadamer 1993, S. 1–9, 161, 216) nötig, das überzeitlichen, allgemeingültigen existenziellen Bedingungen gerecht wird, die ein Gefühl für die eigene räumlich bestimmte Daseinsgewissheit liefern. Die Streitsache zum Verhältnis von Zweck, Funktion und Kunst ist in der Architektur nicht neu. „‘Funktionalisten‘ und ‚Baukünstler’“ führen sie „seit mehr als einem Jahrhundert“. Dabei geht es, wie Eduard Führ bemerkt, „nicht um einen wissenschaftlichen Diskurs, sondern um ideologische

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Auseinandersetzungen „um die richtige Menschlichkeit und um Marktanteile“ (Führ 1996). Was die Menschlichkeit betrifft, so denkt man an Friedensreich Hundertwasser, der von „der moralischen Unbewohnbarkeit moderner [funktionalistischer] Architektur“ (Listl 2014, S. 125) spricht (Hundertwasser 2014, S. 149), wie sie z. B. mit Großsiedlungen wie Berlin-Marzahn oder Köln-Chorweiler gegeben ist. Die Verzerrung eines durch solche Architektur ­ bewirkten Selbstverhältnisses lässt sich eindrücklich in der am Subjektbegriff ausgerichteten literarischen Architekturfiktion, in der Architektur als Psychogramm verwendet wird, darlegen (vgl. Schöttker 2006). Dort wird Cord Meckseper zufolge gezeigt, wie Architektur „Denk-und Empfindungsweisen“ (Meckseper 2004, S. 158) des Subjekts beeinflusst. Ein eindringliches Beispiel für die praktische Form der Bildung von Selbstverhältnissen des Subjekts durch Architektur findet sich bei Thomas Bernhard. Jan Süselbeck versteht dessen „Faszination für abweisende, unbelebte und verlassene Gebäude [als] als literarisches Abbild einer pervertierten aufklärerischen Zähmung des Ästhetischen“ die „seit der Industrialisierung“ mit einer „rigide[n] Restriktion architektonischer Vorstellungskraft“ einherging und im „Verbot ornamentaler Strukturen und der Eliminierung alles Spielerischen zugunsten einer rein wissenschaftlich-funktionalen Zweckmäßigkeit“ (Süselbeck 2005) gipfelte. ­ Für Inge Habig und Kurt Jauslin spitzt sich „Rationalität […] dabei auf die Bestätigung gesellschaftlicher und ökonomischer Herrschaftsfunktionen“ (Habig und Jauslin 1990, S. 7; zit. n. Süselbeck 2005) zu, die die „humanen Zwecke der Architektur […] ruinieren“ und „die Erscheinung einer von Bedeutung erfüllten ästhetischen Baugestalt […] verhindern“. In der „Dialektik der Aufklärung“ (vgl. Horkheimer und Adorno 1947) haben Max Horkheimer und Theodor W. Adorno dargelegt, „wie dieses Zweckmäßigkeitsstreben, das seit Hegels Zeiten immerhin noch als Vorschein einer besseren Welt gedacht worden war, in den Abgrund eines inkommensurablen kulturellen Untergangs stürzte“ (Süselbeck 2005). Was bleibt ist die „restlose[…] Desillusionierung und Verzweiflung über die postmoderne Abdankung“ aller „imaginären Wahrheiten, die dem vormodernen Menschen Identität und Stabilität verschafften und nach denen die Moderne sich noch zurücksehnte“ (vgl. Tabah 2008, S. 217) Georg Lucáks gebraucht dafür den Ausdruck „transzendentale[…] Obdachlosigkeit“ (Lucáks 1974, S. 32; vgl. Mittermayer 1995, S. 71). So erscheint beispielsweise in Thomas Bernhardts Erzählung „Gehen“ (Bernhard 1971) den Protagonisten die architektonisch in großen Abschnitten funktionalistisch bestimmte Klosterneuburgerstrasse in Wien als ödes Niemandsland, als „horror vacui“ (Dermutz 2007, S. 46), als eine „festverschlossene Gruft“, in der sich ein „bösartiger Absterbensprozeß“ vollzieht, in dem „geisteskranke[…]

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Menschen“ aus den „Häusern heraussterben“ (Bernhard 1971, S. 99). Architektur avanciert zum Spiegel der seelischen Hölle der Protagonisten, die sie in den Gefühlen der Vereinsamung, Verödung und Verrohung erleben. Es sind abweisende, anonyme, „Kerker“ (Bernhard 1971, S.  99), immer gleiche Gebäude einer Funktionsarchitektur mit „Innenstadthaustüren“, an denen sich keine „vertrauten Namen“ (Bernhard 1971, S. 99) finden und in denen „kein Wohnen, [sondern] nur Aufenthalt“ (Eickhoff 1998, S. 38, vgl. Süselbeck 2005) möglich ist. „Hilflosigkeit und Unbeweglichkeit“ bestimmen das Leben in der Klosterneuburgerstrasse. Die Gemeinschaft der Spaziergänger geht in diesem Stadtviertel „von einer Ausweglosigkeit in die andere“ (Bernhard 1971, S. 82) – unfähig, ihrem düsteren Bewusstseins- und in eins Realraumschicksal zu entkommen (vgl. Marquard 1990). 3. Neben dem professionellen, wissenschaftlichen Begreifen von Architektur gibt es mit dem Rückgriff auf das Gefühl ein vorwissenschaftliches Begreifen von Nützlichkeit und Ästhetik von Architektur. In dessen Horizont wird die Architektur „ganz selbstverständlich [als] ein in Gebrauch zu nehmendes Lebens-mittel […] fraglos voraus[ge]setzt“ (Hahn 2008). Bringt man diesem unmittelbaren Wissen des Lebens die nötige Wertschätzung entgegen, erkennt man, dass es „nicht grundsätzlich banal, […] simpel“, pragmatisch, „a priori geistlos [und] perpetuativ“ ist. Es bildet nicht von vornherein einen „Gegensatz“ (Führ 1996) zur geistvollen, spekulativen Vernunft, sondern ist selbst eine Art Erkenntnis. Voraussetzungen sind dafür der Leib und das Gefühl. Unsere Gebäude sind Juhani Pallaasma zufolge „Teil desselben ‚Fleisches der Welt‘ wie wir als physische Lebewesen“ (Pallasmaa 2012). Hermann Schmitz spricht in seinem Werk „Atmosphären“ von Gefühlen als „Brückenqualitäten“ (Schmitz 2014, S. 28) zwischen dem eigenen Leib, als Träger der Gefühle, bzw. als System der Sensibilität und der Umwelt. Gefühle markieren den Zwischenbereich zwischen Innenwelt und Außenwelt in der Schwebe zwischen Wahrgenommenem, Erinnerungen, Erwartungen, Ideen, Wünschen etc. Gefühle sind wie Filter. Gebäude haben „auditive, […] olfaktorische und sogar gustatorische Eigenschaften, die sich der Summe nach bei Gaston Bachelard als „Polyphonie der Sinne“ niederschlagen und die der „visuellen“ und „haptischen[n …] Wahrnehmung […] Fülle und Leben verleihen“ (Pallasmaa 2012), indem sie das „Gespür von Gegenwärtigkeit, […] zeitlicher Tiefe und Kontinuität vermitteln“ (Pallasmaa 2012). Architektur als „Szenerie des Gefühls“ (Meisenheimer 2001) meint, die Rezipienten erleben präbewusst bzw. intuitiv qua Gefühl im Sinne einer übergreifenden atmosphärischen Erfahrung „mit jeder Handlung eine bestehende [architektonische] Situation und verändern beziehungsweise entwickeln sie durch

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[ihr] Tun weiter“, d. h. sie objektivieren die Architektur auf das hin, was sie innerlich erleben. Diese Spiegelbilder wirken auf den Rezipienten zurück und verfestigen sich zu Weltanschauungen und Handlungsmustern als Formen subjektiver Sinnentäußerung, die nichts anderes als äußere Bilder innerer Erlebnisse, bzw. Widerfahrnisse objektiv erscheinen (vgl. Steets 2018). Eine überzeugende Konkretion der präbewussten Determination des Rezipienten im Alltag durch Architektur gibt Walter Benjamin. Er führt dafür „Taktilität“ und „Gewohnheit“ an, durch die Architektur „weniger in einem gespannten Aufmerken“ als vielmehr „in einem beiläufigen Bemerken“ rezipiert wird. Für Benjamin ist Architektur daher „der Prototyp eines Kunstwerks“, dessen Rezeption in der „Zerstreuung“ des Lebens und nicht in der „Kontemplation“ in ein Werk liegt. Architektur ist für das Dasein des Menschen ein zwingend notwendiges Medium, dass in dieser Deutlichkeit im unmittelbaren Leben jedoch niemals entsprechend offen zutage tritt. Vereinfacht gesagt, „begleite[t Architektur] die Menschen seit ihrer Urgeschichte. […] Das Bedürfnis des Menschen nach Unterkunft […] ist beständig“ (Benjamin 1991, S. 504). Bei Jacques Derrida heißt es dazu: „Der Begriff von Architektur ist selbst ein bewohntes Konstruktum, ein Erbe, das uns miteinbegreift, noch bevor wir versucht haben, es zu denken“ (Derrida 1988, S. 56). Menschen eignen sich Architektur im unmittelbaren Lebensalltag an, indem sie Gebäude qua Gefühl auf eine unmittelbare, präbewusste Weise verinnerlichen, den Gefühlsinhalt objektivieren und dann auf den Gegenstand Architektur übertragen (vgl. Steets 2018). Die Korrespondenz zwischen Formen des Bewusstseins und Formen der Architektur evoziert auf diese Weise bestimmte körperliche und psychische Modi der Entfremdung und Aneignung. Sie fungiert, – was nicht zuletzt für das Thema Architektur und Krankheit relevant ist (vgl. Vollmer und Koppen 2010) – wie bei Hertzberger als ‚Ko-Produzent‘ sozialer Situationen. Genau das meint Gefühl als Grund und Kriterium der Realitätserkenntnis: was Architektur in ihren qualitativen Beschaffenheiten ist, was sie tatsächlich bewirkt und woraufhin sie sich der Rezipient entwickelt wünscht, bzw. was er von ihr erwartet. 4. Der Hauptimpuls von Johann Gottlieb Fichtes Wissenschaftstheorie ist die Achtung vor dem Leben als dem Ersten jeglichen Handelns. Das Gefühl ist für ihn nicht nur das Konstituum des unmittelbaren Lebens, sondern es ist auch Kriterium der wissenschaftlichen Philosophie. Diese Relevanz des Gefühls schlägt sich in den zwei Erkenntnisreihen genetisch-spekulativer und faktisch-propädeutischer Prägung nieder. Diese zwei Reihen bedingen sich gegenseitig, bilden einen Kreislauf und gewährleisten damit die Ganzheit des Wissens. Dass in beiden Reihen das Gefühl als Grund von Realitätserkenntnis

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nachgewiesen wird, besagt, dass jeder Gegenstand des Wissens doppelt vorkommt, d. h. faktisch und genetisch, populär und wissenschaftlich. Mit dieser Opposition verbindet Fichte ein Wissenschaftsverständnis, das auf eine Metawissenschaft, d. i. die Wissenschaftslehre (Prinzip bzw. der Erkenntnis überhaupt) und angewandte Einzelwissenschaften als deren Teildisziplinen setzt, zu denen u. a. auch die Architektur gehören könnte. „Das Leben zu erkennen“ (GA II/5, S. 112) ist für Fichte das höchste Ziel der Philosophie, die er als Lehre vom Bewusstsein und Wissen bestimmt. Deren Aufgabe ist es nicht, „durch die Kraft [der] Syllogismen neue Objekte des natürlichen Denkens“ (GA II/5, S. 112) zu ersinnen, sondern sie soll „das Leben, das System der Gefühle zum Höchsten“ machen und der „Erkenntnis überall nur das Zusehen“ (GA II/5, S. 137) lassen. Philosophie ist für Fichte Reflexion auf das unmittelbare Bewusstsein des Menschen mit allen seinen theoretischen, praktischen und ästhetischen Vermögen sowie den soziokulturellen Bedingungen seines Lebensumfeldes. Diese faktischen Vermögen und Bedingungen deduziert er in der Wissenschaftslehre in Rücksicht ihrer allgemeinen Voraussetzungen als notwendige Handlungen des menschlichen Geistes (GA I/2, S. 142), die er in der Rekonstruktion des „System[s] des menschlichen Geistes“ (GA I/2, S. 140) genetisch expliziert. Von diesem metatheoretischen Explikationspunkt aus fordert Fichte die Rückführung der transzendentalen Erkenntnis ins Leben. „Man habe daher […] zu erinnern, daß das Wissen nicht sein letzter Zweck sei“ (SW XI, S. 141), sondern nach „Meinung des wahren Philosophen“ müsse das Wissen „allerdings in’s Leben eingeführt werden“ (SW XI, S. 141) und „so habe man ja unverrückt Acht auf sich, daß man das spekulative selbst als etwas Praktisches treibe“ (SW XI, S. 143). Denn Philosophie als „Letzterkenntnis aus Prinzipien“ ist „Totalerkenntnis“, „Denkbild des geistigen Lebens“ (Lauth 1964, S. 272) und nicht das Leben selbst. Die Wissenschaftslehre kann das Leben nicht „ersetzen oder stellvertreten“. Das Instrument des Gelehrten, um die Wissenschaftslehre „in das Leben zu verweisen“ (SW IX, S. 574), ist die unmittelbare Affizierung des Gefühls im Horizont faktisch-propädeutischen Wissens einer Popularphilosophie, in dem das Gefühl die Resultate der Wissenschaftslehre aufnimmt und zum praktischen Gestaltungsmoment einer Lebensführung fortbildet, deren Ziel, d. i. bei Fichte die Freiheit, sich mit dem der Wissenschaftslehre, als Lehre von der Autonomie des Menschen, deckt. Gefühle haben bei Fichte generell die Funktionen des Motors und des Kriteriums für die Realitätserkenntnis eines jeden Gegenstandes. Der „natürliche Wahrheitssinn“ (GA I/2, S. 151) fungiert als „Ausgangspunct […] der wissenschaftlichen Philosophie“ (SW V, S. 422). Da die spekulative Tätigkeit des

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Philosophen frei ist, unternimmt er in der Rekonstruktion des Systems des menschlichen Geistes „mancherlei Versuche“ (GA I/2, S. 143). Daraus resultiert für Fichte die Gefahr, daß dem Philosophen Denkfehler unterlaufen, „denen kein Forscher mehr ausgesetzt ist, als der Erforscher des menschlichen Geistes“ (GA I/2, S. 145). Diese Gefahr wäre für den Philosophen nicht zu bannen, wenn nicht das „dunkle[…] Gefühl[…] des Richtigen“ (GA I/2, S. 143) ihn „wieder dahin zurückleitete, wohin er durch richtige Folgerung nie wieder zurückgekommen wäre“ (GA I/2, S. 147). Für Fichte folgt daraus, „daß der Philosoph der dunklen Gefühle des Richtigen […] in keinem geringerem Grad bedürfe, als der Dichter […]; nur in einer andern Art. Der letztere bedarf des Schönheits- jener des Wahrheitssinnes, dergleichen es allerdings giebt“ (GA I/2, S. 143). In der Explikation des Systems des menschlichen Geistes weist Fichte im Rahmen seiner Strebungsphilosophie und deren Bestimmungsstücken wie Trieb, Neigung, Vorstellung, Einbildung, Sehnen etc. nach, wie sich aus dem Zusammenspiel dieser Vermögen eine Gradation der Selbstobjektivierung des Subjekts ableiten lässt, die auf dem Fundament des Leibes als „System der Sensibilität“ mit den Gefühlen des Zwanges, der Kraft, des Selbst, des Sehnens, des Beifalls/Misfallens, mannigfaltigen konkreten Empfindungen und schließlich der Vollendung/Entzeiuung eine Bestimmung des Gefühls als „Grund allen Realitätsbewusstseins“ (GA I/2, S. 429) anvisiert und in der sich theoretisches und praktisches Erkennen der Umwelt und des Selbst zusammenschließen. Das heißt, ein und dasselbe Objekt ist Objekt der Erkenntnis und der Moral, der Wissenschaft und der Lebenspraxis. Das Gefühl erweist sich so als der terminus a quo, von welchem „alle transzendentale Reflexion sich erhebt und die [sie] nie als Bezugspunkt verläßt“ (GA I/2, S. 429) und für die das Gefühl die „Brücke“ (SW XI, S. 12) zum Leben ist. Wissenschaftslehre als Lehre vom Wissen überhaupt, versteht Fichte als Metawissenschaft, die die allgemeinen Voraussetzungen für alle möglichen Einzelwissenschaft, wie u. a. die der Architektur bereitstellt. Das Prinzip einer konkreten Wissenschaft ist Teilsatz der Wissenschaftslehre und somit auf eine höchste Begründung zurückführbar, die nichts Geringeres ist als der Grund des Bewusstseins überhaupt ist. Und das bedeutet, dass das Gefühl, sowohl als Grund und Kriterium für Realität als Begriff im System und auch als Bestandteil des Lebens im Faktisch-Populären ausgewiesen, in dieser Dopplung nach Fichtes Wissenschaftslehre auch für die Architektur als wissenschaftliche Disziplin und als Gegenstand des unmittelbaren Lebens gelten muss. Die Analogien und Differenzen von genetischem und faktischen Wissen hat Fichte Hartmut Traub zufolge in der Ausformulierung seiner Philosophie in Wissenschaftslehre und Popularphilosophie weitsichtig und auf den Diskussionshorizont unserer Zeit bezogen, vorausschauend bedacht (vgl. Traub 1992). Wie

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Fichte, nur moderner und empirischer, d. h. weniger streng transzendentalphilosophisch formuliert, geht auch Paul Hoyningen-Huene davon aus, dass das Wissen ganz allgemein auf fragen, prüfen, experimentieren, beobachten, sammeln, sortieren, erklären, prognostizieren und verteidigen zurückgeht (Hoyningen-Huene 2000, 2013). Dies sind urmenschliche Praktiken des Wissens im Alltag und in der Wissenschaft gleichermaßen. Beide Wissenssphären haben ähnliche Voraussetzungen, die jedoch unterschiedlich ausgebildet sind und in unterschiedlichen Wirkungssphären aktiv sind und unterschiedliche Reichweiten haben. Die Wirklichkeit der Alltagswelt ist die Wirklichkeit schlechthin. Als empirisches Fundament unmittelbarer Lebenserfahrung erschließt sie Erfahrungen, Befindlichkeiten, Meinungen, Wünsche, Affekte, Bedürfnisse der einzelnen Gesellschaftsmitglieder in ihrem sozio-kulturellen Umfeld. Ungeachtet dieser Leistungen ist Alltagswissen Theodor M. Bardmann zufolge „bescheiden[…]“ (Bardmann 2015, S. 25). Es resultiert aus der Lebenspraxis des Alltags und ist auf den gelingenden Umgang mit den mannigfaltigen Ereignissen des Alltags gerichtet. Das Alltagswissen artikuliert sich dabei andeutungsweise, fließend und offen. Es handelt sich weniger um fixiertes bewusstes Wissen, als vielmehr um unbewusstes Gewohnheitswissen. In dieser Eigenschaft fungiert Alltagswissen als eingängliches Wissensrepertoire, mit dem die Alltagssituationen erschließbar sind. Dieses vorverstehende Wissen (Saarinen 2001, Sp. 1190 ff.) lässt sich als etwas Präcognitives, bzw. immer-schon-Gewusstes verstehen. Über dieses Wissen besteht im Alltag intersubjektive Übereinkunft. Im Unterschied dazu bezieht sich das wissenschaftliche Wissen auf ein speziellen, begrifflich präzisen, und methodisch begrenzten, objektiv beweisbaren Teilausschnitt eines mittelbar oder unmittelbar aus der Wirklichkeit abgeleiteten Objekts. Mit dieser Explikation hat das wissenschaftliche Wissen zwar den Anspruch auf Evidenz und Vollständigkeit, ist aber nur von begrenzter Reichweite. Zudem ist es nur ein Wissen für Wenige. Erkenntnis wissenschaftlichen Wissens ist zwar absolut notwendig, aber da es Wissen als Selbstzweck und ohne unmittelbaren Handlungsgewinn ist, ist es für alle Gesellschaftsmitglieder weder direkt oder indirekt von Bedeutung, sondern nur für einen kleinen speziellen Diskurs; noch ist es auf alle relevanten Dimensionen des Lebens beziehbar (vgl. Bardmann 2015, S. 26). Beide Wissensarten sind damit für Fichte und seine Nachfolger ihren Möglichkeiten und Grenzen nach zwar jeweils an sich notwendig, aber sie ergeben erst in ihrer Korrelation einen hinreichenden Sinn von Wissen. 5. Was das wissenschaftstheoretische Selbstverständnis einer zukünftigen Architekturwissenschaft angeht, so ist es von Fichtes transzendentalphilosophischem Prinzip her heute nicht mehr uneingeschränkt begründbar, aber Fichtes Ansatz

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enthält eine ideelle Tendenz auf die Brücke zwischen Wissenschaft und Leben, die sich auch bei Vertretern empirischer Wissenschaften und gegenwärtiger Philosophie in ähnlicher Weise finden lässt. Bei Albert Einstein heißt es: „Alle Wissenschaft ist nur eine Verfeinerung des Denkens des Alltags“ (Einstein 1993, S. 63) und für Paul Hoyningen-Huene unterscheidet sich wissenschaftliches Wissen primär durch sein höheres Niveau systematischer Vertiefung und Aufbereitung des Alltagswissens (vgl. Hoyningen-Huene 2000). Was an Fichtes Wissenschaftsmodell für den Aufbau eines zukünftigen Architekturwissenschaftsmodells interessant sein dürfte, ist die Unterscheidung der zwei Erkenntnisreihen in Populärphilosophie (angewandtes Wissen) und Wissenschaftsphilosophie (akademischer Überbau) sowie die konstitutive Rolle des Gefühls für beide Reihen als Grund, Kriterium und Brücke des Realitätsbewusstseins. Zudem garantiert die genetisch und faktisch abgesicherte Konstruktionsfigur des Gefühls ein Selbstverständnis von Wissenschaft, das im Vertrauen auf den gesunden Menschenverstand (vgl. Maydell und Wiehl 1974) dafür beruht, „dass sich Wahrheit eher im wechselseitigen Austausch als in strenger Deduktion finden“ lässt, und sich daher „leichter dialogisch als monologisch aufspüren lässt“ (Binkelmann und Schneidereit 2015, S. 16). Ein gutes Beispiel für die Übertragung dieses transdisziplinär mit dem Leben vernetzten Fichteschen Wissenschaftsmodells in die Gegenwart ist mit dem Immanenzbegriff von Gilles Deleuzes gegeben, der mit der Ersetzung des hierarchischen Stammbaums des menschlichen Wissens (vgl. Diderot und d’Alembert 1749, Anfang Bd. 1) durch das Rhizom die „Vielheit“ des Lebens „der Einheit“ eines Prinzips „nicht identitätslogisch“ unterordnet. „Weder existiert das eine vor oder über dem anderen noch hebt das eine das andere auf. Keines gibt es ohne das andere“ (Kuhn 2005, S. 63). Das Rhizom vereinigt auf gleichberechtigte Weise alle Inhalte, Methoden und Ebenen des Wissens. Wissen ist in allem. Das „Rhizom ist ein Raumbild reiner Immanenz“ (Röttgers 2012, S. 344). Die „Immanenz [bezieht sich…] nicht auf ein Etwas als höhere Einheit gegenüber allem anderen und nicht auf ein Subjekt als Akt, der die Synthese der Dinge vollzieht“, sondern von einer „Immanenz“, die „sich selbst immanent ist […]. So wenig sich das transzendentale Feld durch das Bewusstsein definiert, so wenig definiert sich die Immanenzebene durch ein Subjekt oder Objekt, die sie enthalten könnten. Man möchte sagen, die reine Immanenz sei EIN LEBEN und nichts anderes. Sie ist nicht Immanenz im Leben, vielmehr ist sie als Immanentes, das in nichts ist, selbst ein Leben“ (Deleuze 1996, S. 30). Aus dieser Annahme der Immanenz des Wissens sollte sich eine wissenschaftliche Haltung zur Architektur ableiten lassen, die das Leben als Wissensvorrat und Architektur als

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„Rahmen“ (Deleuze und Guattari 1991, S. 222) des Lebens anerkennt. Damit ist ein Bildungsmodell der Architektur anvisiert, dass die lebensbezogenen, d. h. auf die Befindlichkeiten des Rezipienten ausgerichteten Aspekte der Architektur, wie z. B. die Anthropologie, die Psychologie und die Medizin, ganz selbstverständlich in angewandten Teildisziplinen aufnimmt und mit ihrem wissenschaftlichem Kernbereich in die Ganzheit des Verstehens von Architektur bringt.

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Teil II Wissenschaftstheoretische und methodologische Grundlagen und Zugriffe

Architektur als „schweres Kommunikationsmedium“ der Gesellschaft. Architektursoziologische Überlegungen Joachim Fischer Es geht hier darum, die Architektursoziologie innerhalb einer interdisziplinären Architekturwissenschaft zur Geltung zu bringen. Eine solche Intervention ist nur dann ergiebig, wenn die Architektursoziologie zeigen kann, dass sich die Soziologie selbst sich von der Phänomenalität der Architektur, der gebauten Gesellschaft im innersten herausfordern lässt. Anders gesagt: Wenn die Soziologie die Architektur zu einem Organon ihrer eigenen Orientierung nimmt. Architektur wird hier deshalb nicht von den vertrauten Vorannahmen der Soziologie als gebaute Umwelt des Sozialen expliziert, sondern umgekehrt: Es geht im Folgenden darum, Architektur als Mitwelt in das Innere der Soziologie selbst zu schleusen. Dabei soll Architektur für Vergesellschaftungsprozesse so gravierend wie möglich angesehen bzw. angesetzt werden. Die Überlegungen zum Aufbau und zentralen Status der Architektursoziologie in der Soziologie stammen aus der Auseinandersetzung mit der soziologischen Diagnostik der modernen Gesellschaft. Obwohl es die Architektursoziologie bereits als Fach gibt, könnte sie in der Disziplin Soziologie immer noch als marginal erscheinen, im Vergleich z. B. zur Industrie- und Betriebssoziologie, zur Wirtschafts-, Technik-, Rechts-, Mediensoziologie. Die Soziologie der Moderne tendiert nämlich in ihrer Eichung auf abstrakte Prinzipien der Vergesellschaftung (Geld, Recht, Schrift, virtuelle Medien) dazu, eine Stadtsoziologie ohne Architektur und eine Gesellschaftstheorie ohne Stadt zu betreiben – bzw. diese Größen immer erst nachträglich zu thematisieren. Die folgenden Überlegungen

J. Fischer (*)  Philosophische Fakultät, Institut für Soziologie, TU Dresden, Dresden, Deutschland © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Berr und A. Hahn (Hrsg.), Interdisziplinäre Architektur-Wissenschaft, Interdisziplinäre Architektur-Wissenschaft: Praxis – Theorie – Methodologie – Forschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29634-6_5

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kreisen demgegenüber um das Ziel, die Baukörper, die sich Menschen für ein Wohnen und Bleiben in ihrer Lebenswelt entwerfen und bauen lassen, von Beginn an in den Vergesellschaftungsprozess hineinzunehmen, die Architektursoziologie von der Peripherie in das Zentrum der Soziologie zu lotsen. Gelänge das, hätte Architektursoziologie einen zentralen Status für die soziologische Theorie überhaupt und die Beobachtung der modernen Gesellschaft.1 Obwohl also die Moderne und ihre soziologische Theorie die Herausforderung bilden2, sind die Grundüberlegungen zur „Architektur der Gesellschaft“3 so angelegt, dass die unhintergehbare Kommunikationsleistung der Architektur für jede Vergesellschaftung, also auch für vormoderne Architektur, für frühere und früheste Epochen der Siedlungs- und Stadtgeschichte gezeigt wird. Oder anders: Gelingt es, die konstitutive soziale Funktion von Architektur selbst für die abstrakte Moderne zu zeigen, ist sie in ihrer Brisanz für jede Vergesellschaftung gezeigt. Geht man von der Moderne aus, gilt es zu klären, warum die ‚schwere‘ Architektur – und über sie der Raum und die Stadt –mitten in flinker geld- und rechtsgesteuerter und überlokal schriftgestützter bzw. massenmedialer virtueller Kommunikation zentral für die Moderne ist. Diese Einschleusung der Architektursoziologie ins strategische Zentrum der Soziologie verlangt vier Stufen: Zunächst ist die Architektur aus ihrer Phänomenalität her als ein – im Kontrast zu anderen kulturellen Medien – eigenlogisches symbolisches Medium der Lebensführung zu präzisieren (1). Dies ist die Voraussetzung, um die konstitutive Sozialdimension der Architektur in ihrer Wucht zu erschließen – und zwar durch eine sozialtheoretische Umakzentuierung der Raumsoziologie (2) und eine folgende architektursoziologische Umwandlung der Stadtsoziologie (3). Hat man die Architektur als das „schwere Kommunikationsmedium“ der Vergesellschaftung so weit geführt, findet sich die Architektursoziologie im Zentrum der soziologischen Diagnostik der Moderne (4) wieder: Man erkennt, warum Architekturdebatten keine Nebendebatten, sondern Zentraldebatten gegenwärtiger Vergesellschaftung sind. Immer geht es für eine interdisziplinäre Architekturwissenschaft um die „Doppelpotenz der Architektursoziologie“, die sich so

1Erste

Überlegungen zu dieser Begründung der Architektursoziologie: Fischer 2006. erster Versuch, von verschiedenen soziologischen Theorien aus die gesellschaftsdiagnostische Erschließung eines Bau- und Stadtplatzes der Moderne („Potsdamer Platz“) zu organisieren: Fischer und Makropoulos 2004. 3Als zweiter Versuch, die multiperspektivische und phänomenerschließende Kraft der soziologischen Theorien für die „Architektursoziologie“ zu organisieren: Fischer und Delitz 2009. 2Als

Architektur als „schweres Kommunikationsmedium“ …

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staffeln lässt: Die Frage „Was bringt die Soziologie der Architektur?“ hängt ab von der Frage: „Was bringt die Architektur der Soziologie?“ (Fischer 2009).

1 Architektur – zur Eigenlogik eines Mediums der kulturellen Welt- und Selbsterschließung: Baukörpergrenze Um die Architektursoziologie ins Zentrum der Soziologie zu bringen, muss man einen wichtigen Schritt ohne Soziologie gehen – gleichsam einen Anlaufrückschritt nehmen. Um der Architektursoziologie das Momentum in der Soziologie geben zu können, darf die Soziologie nicht bei der Soziologie der Architektur anfangen. Sie muss einen Umweg gehen, indem sie die Architektur noch vor ihrer Sozialdimension erschließt. Es ist für die Architektursoziologie zentral, die Architektur von der Kultursoziologie her vorzubereiten, d. h. den vortheoretischen und vorwissenschaftlichen Umgang mit Bauen und Wohnen phänomenologisch aufzuklären. Sie muss Architektur – im Vergleich mit anderen kulturellen Medien – in ihrer Phänomenalität als eigenlogisches Medium der kulturellen Welt- und Selbsterschließung nachvollziehen. Die Soziologie begreift die Architektur zu oft zu rasch in der Analogie zu anderen kulturellen Medien, mit denen sie bereits vertraut ist. Architektur funktioniert aber nicht wie eine „Sprache“, wie ein „Text“, wie ein „Bild“, wie eine „Skulptur“, wie „Musik“, nicht wie ein technisches „Artefakt“: Sie funktioniert anders als die anderen Medien des Welt- und Selbstzuganges. Zwar ist es möglich (und folgenreich), die Architektur metaphorisch nach dem Muster anderer Medien aufzufassen, aber in der Grundlegung birgt jede dieser uneigentlichen Redeweisen über Architektur die Gefahr der Verkennung, und zwar gerade ihrer spezifisch sozialen Dimension.4 Die Eigenlogik der Architektur zu ermitteln heißt, auf das spezifische „Wie“ der kulturellen Welt- und Selbsterschließung im Bauwerk Acht geben – noch

4Selbstverständlich

steigert und verändert Architektur als Medium ihre Wirkung durch andere Medien, z. B. die Sprache und die Bildlichkeit: Diskurse, vom Stadtgeschwätz bis zur gepflegten Semantik der Architekturkritik, kreisen um das Gebaute, wirken durch Namengebung, Verballhornung, lobende Aufladung, historischen Vergleich an der Bedeutungsentfaltung und Bedeutungsverschiebung von Bauwerken und ganzen Stadtensembles mit. Und ebenso wirken „Architekturbilder“ an der Entfaltung von Architektur mit, von den Stadtveduten bis hin zur fotografischen Bildpolitik bei der Durchsetzung des Bauhaus-Stils. Aber die Architektur selbst funktioniert nicht wie eine „Sprache“ oder wie ein „Bild“.

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vor der Frage des Zweckes, der Funktion. Eine Schulung für diese Aufgabe ist Ernst Cassirers Differenztheorie der „symbolischen Formen“: also die kulturellen Medien des Welt- und Selbstzuganges – wie Sprache, Mythos, Technik, Wissenschaft – in ihren Funktionsweisen so voneinander zu unterscheiden, dass sie nicht miteinander verwechselt werden können, dass jede als spezifische Verknüpfungsart von Sinnlichkeit und Sinn zur Geltung kommt (Delitz 2008).5 Charakteristisch ist dann für die Architektur als kulturelles Medium die Umschließung eines Raumes in der Natur, die dadurch zur Landschaft wird, die Grenzziehung zwischen Innen- und Außenraum durch Wand, Decke, Boden, in die zugleich Schließungsöffnungen eingefügt sind. Architektur als kulturelles Medium ist die Setzung und Erfahrung semipermeabler künstlicher „Baukörpergrenzen“ – wie sie hier genannt werden sollen –, gleichsam die Erfahrung einer dritten Haut, nach der Körperhaut und der Kleidung. Diese phänomenale Eigenlogik der Architektur ist keine neue Entdeckung, man muss sie nur erneut zur Geltung bringen, um durch sie dann auch die genuine Sozialdimension der Architektur zu erreichen. Bekannt ist die Architekturtheorie Gottfried Sempers, der – in seiner Kleider- und Maskentheorie des Bauens – die „Wände“ aus dem Gewand, dem gewundenen Flechtwerk hergeleitet hat, aus dem diese künstlichen Grenzen des Baukörpers hergestellt werden (Semper 1860, S. 227 ff., § 60). Architektur als die kulturelle Eigenlogik der Baukörpergrenze, welche menschliche Lebewesen halbdurchlässig umschließt, ist unmittelbar mit der ontogenetischen, aber auch der phylogenetischen Menschwerdung verknüpft – gleich ob es sich um Zeltarchitektur oder um Glasarchitektur oder um eine Raumstation handelt. In dieser Medienlogik der Architektur wird für die Lebensführung auf spezifische Weise Welt und Selbst angeordnet, und an diese Funktionsweise schließen sich immer schon Funktionen der Lebensführung und Lebensgestaltung (sog. „Bauaufgaben“) an. In den Baukörpergrenzen sichert so gesehen das menschliche Lebewesen die Gefährdetheit und Gleichgewichtslosigkeit seiner körperlichen Existenz (Temperatur-, Witterungsschutz) und reguliert zugleich durch diese artifiziellen Grenzen sein Erscheinen in der Welt – wie umgekehrt das selektive Erscheinen der Welt in seinem künstlichen Bezirk (z. B. der Landschaft in Gestalt des Gartens). Als Baukörpergrenze ist Architektur notwendig die Kopplung von Funktion und Ausdruck – wie bereits Kleid und Haut.

5E.

Cassirer ([1923–1929] 1953) selbst behandelt die Architektur nur am Rande. Zur Theorie verschiedener kultureller Medien als je verschiedener Verknüpfung von Sinnlichkeit und Sinn lässt sich neben Cassirer auch H. Plessners „Ästhesiologie des Geistes“ heranziehen; vgl. Delitz 2005a, 2006.

Architektur als „schweres Kommunikationsmedium“ …

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Diese Eigenlogik der Architektur wird prägnant im Kontrast zu anderen Medien. Anders als in der atemleichten Sprache sind die Bauartefakte ‚schwer‘ und (zumeist) fixiert. Anders als im Text, der den Sinn sukzessiv entfaltet, ist der Baukörper simultan gegeben (in der Begehung sich vertiefend).6 Anders als das Bild, das in seiner zweidimensionalen Fläche etwas sehen lässt, dem der Betrachter gegenübersteht, bewegt sich das Lebewesen im Verhältnis zum dreidimensionalen Bauwerk innen wie außen, erfährt also die elementare Differenz von System und Umwelt.7 Obwohl wie die Skulptur dreidimensional, ist das Bauwerk keine Plastik: Es ist eine Raumhülle, die das Subjekt umschließt und damit die Gegenüberstellung eines Subjekt-Objekt-Verhältnisses von Beginn an unterläuft. Obwohl technisch konstruiert, ist das Bauwerk kein Artefakt nach Analogie eines Gerätes – es funktioniert nicht wie ein „Berliner Schlüssel“ (Latour 1996): Der Prototyp des Artefaktes (auch in seinem Status als „Aktant“: Latour 1996) ist das Instrument, das Zuhandene, das sich zwischen die manipulierende Hand und das Vorhandene schiebt. Der Prototyp der Architektur ist hingegen der umschlossene Raum, in den man schlüpft und aus dem man blickt und tritt. Architektur vermittelt am Objekt im Objekt die Anschauung der Reduktion von Komplexität, von stabilisierter System- oder Binnenkomplexität (des Hauses) im Grenzverhältnis (der Wände) zur Welt-im Übrigen. Schließlich ist Architektur nun in ihrer Baumasse nicht einfach als Materialität adäquat verstanden, also der kompakten raumfüllenden Stofflichkeit gegenüber abstrakten Strukturen. Die Pointe der Architektur ist der künstliche Hohlraum in der Materie aus Materie: die ausgesparte Materie. Deshalb evoziert die Baukörpergrenze nach innen und außen die Erfahrung von System-Umwelt-Grenzen, nach oben und unten Schichtengrenzen. Anders als Musik wiederum, die mit der Architektur die „Atmosphäre“ (Schmitz 1992; Hasse 2012), den Widerfahrnischarakter teilt, ist Architektur in ihrer harten Materialität (und sei sie aus Flecht-

6Die

Redeweise von einer „Architektursprache“, vom Bauwerk als „Einschreibung“ eines Sinns in das Material oder einer „Lesbarkeit“ von Gebäuden trifft die Eigenphänomenalität der Architektur sowenig wie die aus der linguistischen Semiotik stammende Vorstellung der „Grammatik“ bzw. „Syntax“ von Baukörpern. Als metaphorische Entschlüsselung ist die Sprachmetapher hilfreich, aber ebenso begrenzt wie die Musikmetapher (s. u.). Zur Semiotik der Architektur vgl. Schäfers 2006, S. 43, 57. 7Architektur ist natürlich gezeichnet und insofern ein im Entwurf sichtbares „Bild“; das zentrale Medium des Entwurfs ist aber das „Modell“, durch das die Innen-AußenErfahrung simuliert wird. Diese Simulation ist es, die das computergestützte Entwerfen fortsetzt.

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werk oder Glas) ein bleibendes, schwer wegschaffbares, nie ausschaltbares Medium der Selbst- und Welterfahrung. Musik hebt an und verklingt, das Bauwerk harrt und bleibt. „Es wird nicht etwas im Raum gebaut, sondern archaischer Hüttenbau wie moderne Architektur betreiben beide Herstellung und Gestaltung von Raum. Der Raum entsteht gleichzeitig mit und durch das Bauen“ (Ziemann 2000, S. 260 f.). Jede dieser Raumbildungen ist eine Grenzziehung, die ein Drinnen von einem Draußen unterscheidet und ein Oben von einem Unten. Für alle menschlichen Lebewesen ist dies ständig körperlich erlebt, angeschaut, gespürt8 – zwischen dem „­ Ein-wohnen“ des markierten Raumes und dem Auswärtig-Sein, zwischen dem Darüber-Stehen im oberen Stock und dem Darunter-Stehen im Parterre oder Keller. Unter Einbeziehung klimatischer Bedingungen und technischer Möglichkeiten wird je in der Raumbildung eine „Bauaufgabe“ gelöst, ein „Bautyp“ (Seidl 2006) hergestellt. Menschen bewohnen und gebrauchen diese je zwischen einem Außen und einem Innen markierten, in ein Oben und ein Unten geschichteten und in sich gegliederten Räume: als Räume des Schlafens, Kochens, Arbeitens, der Körperpflege, als Habitate der Kohabitation, als Räume und Ecken der Kinder, der Bildung, des Speicherns und Handelns, der Unterhaltung, der Ehrfurcht, des Schutzes und der Abwehr, des Weg- und Einschließens. Bei Letzterem sitzt man im „Bau“, in dem vielleicht die Gedanken noch frei sind, aber nicht mehr die körperliche Bewegung. Der architektonische Raum ist der Nullpunkt von Nähe und Ferne: Die Peripherie einer Territoriumsgrenze erschließt sich vom Haus aus, das Meer vom Hafen, dem Port, der Pforte an der Grenze von Land und Meer.

2 Architektursoziologie als Schlüssel der Raumsoziologie: Architektur als Kommunikationsmedium Hat man die Architektur als „Baukörpergrenze“ bestimmt, hält man den Schlüssel zur Raumsoziologie in der Hand. Diesen erhält man, indem man von einem kulturtheoretischen Mediumsbegriff (Cassirer) zu einem soziologischen Begriff des Mediums als Kommunikationskoordination umschaltet (Simmel, Luhmann)

8Dieses

Entsprechungsverhältnis von Körperlichkeit und Raumerschließung ist von Phänomenologen wie O. F. Bollnow (1980 [1963]), H. Schmitz (1992) und B. Waldenfels (2001) differenziert beschrieben worden.

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– wie bei einem Gestaltswitch, einer Umkippfigur. Architektur als die künstliche raumbildende Grenze ist nämlich immer zugleich Ausdruck dieser Grenze. Da jede von Menschen konstruierte Baukörpergrenze genuin auch expressiv ist, enthält sie das Potenzial, eine darstellende und kommunikative Grenzziehung vor Anderen, eine Sinnofferte gegenüber anderen Baukörpern zu sein. Architektur ist ein Kommunikationsmedium – das Kommunikationsmedium des sozialen Raumes und darüber konstitutiv für Vergesellschaftung. Die klassische „Raumsoziologie“ ist bereits architektursoziologisch grundiert, wenn man Simmels Kapitel „Der Raum und die räumlichen Ordnungen“ vom Leittext „Brücke und Tür“ her liest. Simmel hat seinem raumsoziologischen Text direkt die konzentrierten Studien über „soziale Begrenzung“, die „Soziologie der Sinne“ und die Soziologie des „Fremden“ zugeordnet. (Simmel 1968 [1908]).9 Darin entwickelt er eine soziologische Doppelbestimmung des Menschen: Menschen sind Lebewesen, die sinnlich im „Blick“, der „unmittelbarsten und reinsten Wechselbeziehung“ (Simmel 1968, S. 484) voreinander erscheinen, und zugleich müssen sie als speziell menschliche Lebewesen damit fertig werden, „das Grenzwesen [zu sein], das keine Grenze hat“ (Simmel 1957a, S. 6) – am deutlichsten am Phänomen des „Fremden“. Simmel hat die Körperlichkeit des Sozialen, den sinnlichen Kontakt, die „Verkörperung des Sozialen“ (Gugutzer 2014) wie kein anderer thematisiert. „Brücke“ und „Tür“, „Wege“ und „Fenster“ sind für ihn raumsoziologische Urphänomene. Für die Vergesellschaftung kommt alles darauf an, dass die nicht festgestellten „Grenzwesen“ im Material des Sichtbaren, Hörbaren, des Riechbaren, Tastbaren nun „Wege“ und „Brücken“ zueinander finden und zugleich eine künstliche „soziale Begrenzung“ suchen, die als Hülle, als Mantel „Entlastung“ des Innersten bringt. Deshalb Simmels notorisches Interesse an der Soziologie des „Kleides“, des „Schmucks“, des „Parfüms“, des „Gesichts“, des „Schauspielers“, der „Rolle“ – weil sich hier diese künstlichen, expressiven Grenzziehungen in der sinnlichen „Wechselwirkung“, in der Interaktion aufklären lassen. Diese Grenzziehung hat Simmel als konstitutive „Stilisierungserscheinung“, als natürliche Künstlichkeit, als vermittelte Unmittelbarkeit des Sozialen charakterisiert, wenn er die kommunikativen Medien des Parfüms, des Schmucks und der Kleidung zusammenzieht: „Das Parfüm leistet […] durch Vermittlung der Nase, was der sonstige Schmuck durch die des Auges. Es fügt der Persönlichkeit etwas völlig Unpersönliches, von außen Bezogenes hinzu, das nun aber doch so mit ihr zusammengeht, dass es von ihr auszugehen scheint.“ Man kann ergänzend

9Als

einschlägige Studie zu Simmels Raumsoziologie: Ziemann 2000.

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auch an ein Bauwerk denken, wenn Simmel fortfährt: „Es vergrößert die Sphäre der Person, wie die Strahlen des Goldes und des Diamanten, der in der Nähe Befindliche [der Andere] taucht darein ein und ist gewissermaßen so in der Sphäre der Persönlichkeit gefangen. Wie die Kleidung verdeckt es die Persönlichkeit mit etwas, was doch zugleich als deren eigne Ausstrahlung wirken soll“ (Simmel 1968, S. 490). „Wege“ und „Brücken“, „Wände“ und „Türen“ sind nun die raumbildenden sozialen Übergänge und Grenzregulierungen. So wie Kleider Leute machen, machen gebaute ‚Gewänder’, die Wände die Bauwerke – und in-formieren und formieren damit die hinein- und hinausschlüpfenden Personen. Durch die semipermeablen Baukörpergrenzen der Bauten erscheinen die Menschen dauerhaft voreinander, sichern sich, eignen sich Grund und Boden an, bringen sich zur Geltung, bedrohen und verlocken einander. Sie kommunizieren immer schon im und durch den bebauten, beharrlichen Raum: schließen sich ab und andere ein (durch Fortifikation etc.) und räumen einander Raum zur Erscheinung ein (in prähistorischen Siedlungen durch Rundanlagen mit zentralem Platz, in Stadtensembles auf öffentlichen Plätzen etc.). Zwischen diesen Extremen verharrt das Neben- und Gegeneinander der Häuser, von „Bau und Gegenbau“ (Warnke 1996) als ein quasi-kommunikatives Verhältnis. Man muss nur noch eine Drehung innerhalb der Sozialtheorie der Architektur vollziehen, damit die Architektursoziologie die Raumsoziologie aufschließt: Genau gesehen liegen die raumkonstituierenden Baukörper selbst wie (menschliche) Körper zueinander, sie sind vor-, für-, gegeneinander positioniert und expressiv zueinander orientiert. Das liegt daran, dass „nach dem Vorbild des Körpers gebaut wird. […] beim Bau der Gebäude ist der menschliche Körper das stets herangezogene Ideal. Die geläufigen körperlichen Begriffe von Kopf und Fuß, Gesicht und Rücken tauchen als Unterscheidungen von oben und unten, vorn und hinten am Gebäude als Dach- und Untergeschoss, Vorder- und Rückseite wieder auf“ (Schroer 2006, S. 280 f.). Und in Analogie zur menschlichen Haut: „Vor allem aber folgt die Differenz von innen und außen, die für das Wohnen eine eminente Bedeutung hat, unmittelbar dem Körperschema. Ebenso wie Eigen- und Fremdkörper voneinander getrennt werden, wird auch in der Architektur ein Eigenbereich von einem Fremdbereich, die Privatsphäre von der Öffentlichkeit unterschieden“ (Schroer 2006, S. 280 f.). Damit hat man die Denkmöglichkeit einer basalen basalen Kommunikationstheorie der Architektur (Fischer 2017): Menschen kommunizieren durch den gebauten Raum miteinander, weil die Baukörper selbst in einer ­ Als-Ob-Kommunikation zueinander liegen. Das ist für die Ontogenese menschlicher Neuankömmlinge ebenso unhintergehbar wie für die Phylogenese insgesamt – wenn man sich die „Architektur ohne Architekten“ überlieferter

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oder noch existierender nicht-moderner Siedlungen ansieht (Rudofsky 1989), in denen die Zelte und Hütten, die Höhlen immer schon zueinander angeordnet sind, der Raum baukörperlich immer schon sozial relationiert ist. Diese Suggestion wird durch die Dauerpräsenz von Bauwerken gestützt: Sie senden immer, ihre Antennen sind immer auf Empfang eingestellt, im Vergleich zu den doch nur sporadisch einsetzenden Medien Sprache, Bildlichkeit, Musik. Der ontogenetisch unhintergehbare Animismus der kindlichen Wahrnehmung, dass auch Häuser im Verhältnis zueinander etwas wollen und verbergen, findet seine Stützung darin, dass in der Beobachtung Menschen in Zelte hineinschlüpfen, aus Hütten heraustreten, sich an Fenstern zeigen. Dieser Animismus verliert sich auch bei den Erwachsenen nicht, die um die Sachdimension von Baukörpern wissen: Selbst bei geräumten Häusern appräsentiert die Wahrnehmung das Gesehenwerden aus dem Haus, den anonymen Blick aus dem Inneren.10 Man kann hier von einer „Interphänomenalität“ der Baukörper sprechen (Fischer 2012b), die aller ‚Intersubjektivität‘ vorangeht, sie einbettet und durchwirkt. So soziologisiert, fundiert Architektur Raum, fungiert die Architektur als Organon der Raumsoziologie (Fischer 2013). Deshalb. Deshalb fundiert Architektursoziologie die Raumsoziologie.11 Die Architektur ist nicht nur „gebaute Umwelt“ der Mitwelt, also Materialisierung des Sozialen, sondern als Bauwelt immer bereits Mitwelt selbst, weil die Bauten – interphänomenal – selbst zueinander Mitweltcharakter annehmen und dadurch den Raum dauerhaft sozial relationieren. Dieser „sozialkonstitutive“ Charakter von Baukörpergrenzen macht plausibel, warum umgekehrt die je konkrete Vergesellschaftung auf die je spezifische „Sozialregulation“ der Architektur so viel Wert legt, warum es zum Kampf um die je spezifische Repräsentation kommt, zum Ringen um das Verhältnis der Baukörper zueinander.12 Immer kreisen die Architekten auch um das

10Zum

sozialtheoretischen Grundaxiom des Ausdrucksüberschusses der menschlichen Wahrnehmung s. M. Scheler (2006 [1913], S. 233 f.): Alle Phänomene werden in der menschlichen Wahrnehmung zunächst als belebt wahrgenommen; erst in einer nachträglichen Limitierung des Ausdrucksüberschusses wird die Sachdimension von der Sozialdimension abgezogen. – Vgl. die Spiegelneurone-Theorie als eine neurobiologische Zusatzbestätigung dieser Sozialtheorie der universellen Expressivität: Rizzolatti und Sinigaglia 2008. 11Das gilt sowohl im Verhältnis zur voluntaristischen Raumsoziologie (Löw 2001) wie zur eher realistischen Raumsoziologie von M. Schroer (2006). Beide verstehen Architektur als bloßen Anwendungsfall der Raumsoziologie. 12Zur sozialtheoretischen Unterscheidung der „sozialkonstitutiven“ von den „sozialregulativen“ Aspekten in Simmels „Soziologie der Sinne“ s. Fischer 2002.

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Erscheinungsverhältnis der Baukörper voreinander. Erst unter dieser Voraussetzung gilt der viel zitierte Satz Simmels (1968 [1908], S. 467): Die Grenze ist „eine soziologische Tatsache, die sich räumlich formt“. Erst jetzt erhält die Vorstellung ihre Schwere, dass alle menschlichen Bereiche der Architektur anvertraut und ausgeliefert sind. Nur in diesem Sinn ist recht verstanden die Architektur „ein Medium des Sozialen“, insofern sie – als „Architektur der Gesellschaft“ – der jeweiligen Gesellschaft, ihrem „Imaginären“ überhaupt erst dauerhafte Gestalt gibt, in der sich diese als eine so und so bestimmte Gesellschaft erkennt und reguliert.13 Hier wird komplementär zum eben erwähnten kollektivistischen Konzept der „Architektur der Gesellschaft“ (Delitz) sozialphänomenologisch der „Entwurf“ (eines Baumeisters) im „sinnhaften Aufbau der gebauten Welt“ (Steets 2015) bedeutsam – wenn man architektursoziologisch postuliert: Im Wandel der Bauaufgabe, in der Grundrisslösung, in der Größenordnung und im Material des Gebauten, in der Außengestalt, in den Fenstern und Eingängen, Treppen und Raumgliederungen rafft sich ein erst latenter sozio-kultureller Wandel der Vergesellschaftung, der „Zug der Zeit“, der gespenstisch seine Gleise selbst erst vor sich her wirft, zu einer fixierten Raumgestalt, in der der Wandel selbst sich verstetigt, anerkennt oder – vor sich selbst erschrocken – (um-)steuert, abbricht und neu aufbricht. Die Verknüpfung des sozialkonstitutiven Charakters der Baukörpergrenzen mit ihrer gesellschaftsgeschichtlichen Sozialregulation macht die Architektursoziologie als Kern der Raumsoziologie aus. Hat die Soziologie die Architektur so als das anonyme Feld gebauter Mitwelt eröffnet, kann sie nun auch die Figur des Architekten „soziologisieren“. Eine Architektursoziologie muss die „Figur“ des Baumeisters, des Architekten in ihrer historisch-soziologischen Konstitution professionssoziologisch spezifizieren (Steets 2015). Das grundlegende soziale Beziehungsmuster in der konkreten Genese der Architektur ist die Figuration Bauherr – Architekt – Nutzer (respektive Nutzerin). Dass die Relation notwendig triadisch ist, weil Bauherr und Nutzer nicht kongruent sind, dass (bisher in der Mehrzahl männlichen) Architekten nicht nur im Auftrag des (öffentlichen oder privaten) „Bauherrn“, sondern immer auch in Erwartung der Nutzer bauen, die diese Ausdruckskörper in „Gebrauch“ nehmen (Hahn 1994, 2017), um in und mit ihnen ihr Leben führen zu können, sieht man schlagartig daran, dass sie bereits immer auch für Frauen – die bei der weltweit und weltgeschichtlich gebauten Architektur überwiegend

13Dieser

Grundgedanke wird von der Architektin, Philosophin und Soziologin H. Delitz in mehreren Arbeiten verfolgt: Delitz 2005b, 2009, 2010, 2018.

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nicht Auftraggeber oder Baumeister waren – mitgeplant und -gebaut haben.14 Zelte, Häuser und Höfe sind ebenso wie öffentliche Räume auch auf Frauen als Nutzerinnen hin orientiert worden.15 Da eine zentrale „Gabe“ im Verhältnis von Männern und Frauen durch alle Hochkulturen hindurch bis in die Moderne der zur Verfügung gestellte umbaute Raum war, die Wohnpräferenz (für sie und eventuelle Neuankömmlinge) mit ein Selektionsparameter der Frauen bildete, waren architektursoziologisch gesehen auch Frauen über ihre Nutzererwartungen, ihre Geschmacksbildung und -entscheidung eine permanente Steuerungsgröße der Architekturgeschichte: Ihre Erwartungen mussten mit erwartet werden. In diesem Sinne haben Frauen, je nach ihren Interessen und Einflussmöglichkeiten, vermittelt über den „Bauherren“, die Baumeister bauen lassen. Über das Beziehungsgefüge Bauherr – Architekt – Nutzerin erlaubt es die Architektursoziologie, eine feminine Soziogenese bestimmter Bautypen (z. B. Tempel, Kirchen, Klöster, Hofhäuser, Wohnhäuser, Villen, Schlösser, Marktplätze, Theater, Passagen, Kaufhäuser) und vielleicht auch Baustile zu rekonstruieren.16 Diese Figuration ist der Prototyp für das tertiäre Beziehungsgefüge des Architekten überhaupt. Soziologisch entscheidend ist, dass der Architekt bei seinen Bauaufgaben eine Drittenfunktion hat: dass er Erwartungen aus verschiedenen Richtungen erwarten und mit den technischen Möglichkeiten, topographischen und klimatischen Bedingungen koordinieren muss: die des Auftraggebers, die der Nutzer. In dieser Verschiebung der architekturtheoretischen Aufmerksamkeit auf die Ausdrucks- und Gebrauchserwartungen und –erfahrungen der Lebensnutzer von Baukörpern liegt die analytische Kraft einer phänomenologischhermeneutischen Architektursoziologie (Hahn 2017). Hat man die Architektur sozialtheoretisch als raumbildendes „Kommunikationsmedium“ bestimmt, kann man sie mit anderen Kommunikationsmedien vergleichen. War der erste Schritt die Differenzbestimmung der Architektur im Vergleich mit andersgearteten kulturellen Medien

14Dies

muss man differenzieren für nichtmoderne Architekturen, bei denen der Anteil beim Bau mitwirkender Frauen sicherlich höher als bei modernen Architekturen ist. 15Zum

Haus der Kabylen als vormoderner Kompromissbildung zwischen den Geschlechtererwartungen und -interessen s. Bourdieu 1987. 16Diese Beobachtung ist zunächst trivial – bedarf dann aber der speziellen Erforschung. Z. B. Sombart 1967 [1912], S. 127–140, mit erhellenden Bemerkungen zum „Sieg des Weibchens“ („Wohnluxus“, „Luxus in der Stadt“) in der Formierungsphase des modernen Kapitalismus. Hat man diese Mitberücksichtigung von Frauenerwartungen in der Architekturgeschichte verstanden, greifen die kritischen Differenzierungen der ‚gender studies‛.

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oder symbolischen Formen (Cassirer), so nimmt der jetzt folgende Schritt die Differenzbestimmung der Architektur im Vergleich mit anderen sozialen oder kommunikativen Medien vor. Die Vergesellschaftung bringt eben auch „andere Formen des Beisammenseins“ hervor, andere kommunikative Medien (Luhmann), um die Anschlüsse zwischen „Grenzwesen, die keine Grenze haben“ (Simmel 1957a, S. 6), zu ermöglichen. Sprache, Recht oder Geld sind je als symbolisch operierende Kommunikationsmedien geradezu dadurch gekennzeichnet, dass in ihnen die Wechselwirkung Raumgrenzen überschreitet.

3 Architektur im Zentrum der Stadtsoziologie: das „schwere Kommunikationsmedium“ Die so weit entfaltete Architektursoziologie bedeutet in der Konsequenz eine Umakzentuierung der Stadtsoziologie. Durch die Architektur bildet sich der soziale Raum und durch den baulich erschlossenen Raum die Stadt. Soziologisch gesehen liegt für einen so disponierten Beobachter in der Konsequenz der Schwerpunkt der Stadt nicht in den sozialen Interaktionen in ihr, sondern in den Baukörpern, entlang derer sich die Menschen orientieren und koordinieren. Die Stadt als soziales System funktioniert primär also über die Baukörper, die die städtische Kommunikationen vorcodieren. Zugespitzt gehört nicht den Bewohnern die Siedlung, sondern die Siedlung, die Stadt besitzt sich selber. Selbst in einer vollständig unbewohnten Stadt würden die Gebäude in ihren semipermeablen Baukörpergrenzen noch in einer Quasi-Kommunikation zueinander verharren. Damit verschiebt sich kraft der Architektursoziologie in der Stadtsoziologie der Akzent vom Sozialraum Stadt zum Baukörperraum Stadt. Die Stadt ist – noch bevor jemand die Lippen bewegt oder mit Geld klimpert – in Bau und Gegenbau eine Fülle von Kommunikationsofferten. So wird klar, dass die interagierenden Subjekte durch die gebaute Welt, an die sie sich anschmiegen, durch die sie permanent dahin wandeln, mit denen sie sich identifizieren, immer schon mit- und gegeneinander kommunizieren. Menschliche Lebewesen tauchen als Neuankömmlinge in ihren bebauten Räumen auf, als Neugeborene oder Zugezogene, verrichten ihre Werke und Aktionen und verschwinden wieder – aber die Stadt bleibt in der Beharrlichkeit ihrer Baukörper, an deren Codierung jede Generation neu anknüpfen kann. Das gilt ubiquitär für alle Siedlungen, insbesondere für Städte, für das alte Babylon wie für chinesische Millionenstädte, für brasilianische Favelas wie für arabische Palm Islands.

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Zweifellos funktioniert die Architektur als gebaute Umwelt für Interaktionen, ist also der bauliche Hintergrund für das stilisierte soziale Verhalten der Akteure oder Flaneure im öffentlichen Raum.17 Gleichzeitig oder noch vorweg verkörpert Architektur in ihrer Gestalt selbst die Mitwelt von Interaktionen. Das ist das sozial relevante Basisfaktum – das macht die Architektursoziologie basal für die Stadtsoziologie. Alle Baukörper und die gebaute Stadt sind in ihrer Grenzziehung objektivierte Eigenkomplexität im Verhältnis zur Umwelt, stehen einander und den menschlichen Subjekten gegenüber – und zugleich werden sie von diesen bewohnt: mikrosoziologisch im Haus, makrosoziologisch in der gebauten Stadt. Wie ist dieses Verhältnis adäquat zu benennen? Zweifellos sind die Menschen „Nutzer“ von Gebäuden – Medien-Nutzer könnte man sagen. Aber „Nutzer“ bezieht sich zu stark auf die Sachdimension; andererseits sind „user“ nur selten „Zeichenleser“ von Gebäuden (bei Orientierungsbedarf, als Kunstgeschichtler, als Archäologen). Eher sind die (Inter-)Akteure im Verhältnis zu den Baukörpern „Gleiter“: Die Wahrnehmung und Bewegung gleitet und wandelt an den Baukörpern entlang, schlüpft in sie hinein und wieder hinaus – und dabei gleitet die architektonische Sinnofferte beiläufig in die Menschen hinein. Jedes Haus signalisiert mit seinen Schwellen und Türen Hausrecht und Gastrecht, jede Fassade kommuniziert eine profilierte Lebenssphäre, deren Rückseite verdeckt bleibt, die ganze Stadt schirmt sich gegen das Andere ihrer selbst (Erde und Atmosphäre) ab: All das kommuniziert diese Grenzleistung.18 Was wird im Kommunikationsmedium Architektur kommuniziert? In jedem Fall die Differenzierung von Funktionen, die Auseinanderhaltung spezialisierter Teilsysteme der Gesellschaft: von Profan- und Sakralsphäre, von privater und öffentlicher, Sphäre von Ernst-, Produktions-, Spiel- und Konsumsphäre (im Sinne von „Bautypen“: Seidl 2006), standardisierten Offerten, die Anschlusskommunikationen signalisieren oder ausblenden. In jedem Fall werden via Architektur aber immer auch Stratifikation, Schichten- und Klassendifferenzen, Armut und

17Stadt

als gebauter Erscheinungsraum für die voreinander erscheinenden Interakteure: Bahrdt 1998 [1961], Goffmann 1974 [1971], Janson und Bürklin 2002. 18Eine weiterentwickelte architektursoziologisch fundierte Stadtsoziologie müsste natürlich neben den „Immobilien“ als kommunizierenden unbeweglichen Baukörpern die „Mobilien“ als (selbst-)bewegliche Verkehrskörper einbeziehen, in denen zwischen und neben den Bauten die Stadtbewohner im jeweiligen Design (früher: Transporttiere, Kutschen; heute: Automobile, öffentliche Verkehrskörper, Fahrräder) im Vorbeigleiten voreinander erscheinen – ganze Städte sind z. B. auf diese Art der Kommunikation durch automobilen Verkehr konzentriert (Los Angeles).

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Reichtum, Gleichheit und Ungleichheit kommuniziert, in den Bauwerken selbst (die Beletage); in den Wohnlagen (downtown, uptown), in der Unterscheidung von Zentrum und Peripherie (Wacquant 2017). In jedem Fall prozessiert in der Architektur die Kommunikation schließlich immer entlang der Generationen: ein in seinen Folgen für die Vergesellschaftung unabsehbares, aber in der architekturenthaltsamen Stadtsoziologie oft übersehenes Momentum. In den „Baustilen“ (in denen sich jeweilige Generationen sozial differenzieren) geht es um Existenzfragen (Illies 2005, S. 71 f.), um Leben und Tod insgesamt – und zwar nicht nur als ein- und ausgrenzende oder einstürzende Mauern, sondern als „Stilisierungserscheinung“ (Simmel) –, wenn man sich für die Moderne die Titel „Tod und Leben großer amerikanischer Städte“ oder „Die gemordete Stadt“19 in Erinnerung ruft. Die Baukörper in ihrem jeweiligen Baustil sind Kommunikationsofferten, gestatten oder blockieren „Atmosphären“ oder Posen des Lebens.20 Und in jedem städtischen Baukörperraum, sei er noch so „modern“ und neu, gibt es ein Früher und ein Später, die stilisierte Kommunikationsofferte einer vergangenen Generation, die von nachfolgenden Generationen übernommen, verweigert, gebrochen oder aufwendig negiert wird. Erst eine so architektursoziologisch umakzentuierte Stadtsoziologie wäre möglicherweise bereit, die Einsichten der Raumsoziologie insgesamt herankommen zu lassen – und könnte vor diesem soziologischen Ernstnehmen des Baukörperraums Stadt ihre bisherigen Forschungen zum Sozialraum Stadt einbringen.21

19Jacobs

1963 [1961]; Siedler und iggemeyer 1964. – Das Kinder-Erwachsenenbuch zur Dramatik des Streits um Architektur: Müller 1976. 20Aus der so umakzentuierten Stadtsoziologie folgt, dass die „Expressivität“ jedes Baukörpers grundsätzlich rekonstruiert werden kann – auch wider die architekturtheoretische (Selbst-)Behauptung von z. B. rein „funktionalen“ Bauten; vgl. Kaehler 1981, der die Aufbruchs- und Ausfahrtsymbolik der Bauhausmoderne beschreibt. Zum spezifischen Kommunikationscharakter eines spektakulären sozialistischen Bauensembles der „funktionalistischen“ Moderne („Prager Straße in Dresden“) s. Fischer 2005. 21Beim deutschen Klassiker der Stadtsoziologie H.-P. Bahrdt (1998 [1961]) waren Architektur-, Raum- und Allgemeine Soziologie noch miteinander verknüpft. Zum Stand der gegenwärtigen Stadtsoziologie: Häußermann und Siebel 2004. Zur Kritik: Steets 2008.

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4 Architektur im Zentrum der Soziologie der Moderne: Unausräumbarkeit des Raumes und Unaufräumbarkeit der Moderne Hat man die Architektur, die Baukörper soweit als eigenlogisches kulturelles Medium, dann als eigenes Kommunikationsmedium, dann als „schweres Kommunikationsmedium“ der Stadt freigelegt, kann man architektursoziologisch ins Zentrum der modernen Gesellschaft vorstoßen – und damit auch der Architekturwissenschaft insgesamt mit ihrer Konzentration auf die Architektur einen analytischen Dienst erweisen. Nun ist die Stadt nicht mit der Gesellschaft identisch, und gerade die moderne Gesellschaft fällt nicht mit der Stadt zusammen. Die soziologische Theorie hat die Strukturprinzipien der modernen Gesellschaft geradezu in der Raumabgelöstheit dieser Prinzipien erkannt: am deutlichsten in der Theorie funktional differenzierter sozialer Teilsysteme, die über hochspezialisierte symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien (Luhmann 1997, S.  190–412) unwahrscheinliche Koordinationen zwischen unbekannten Menschen möglich machen, die sich nun noch nicht einmal als Unbekannte in einer Stadt begegnen müssen. Dahinter steckt die Erfahrung, dass „die Aufnahme wirtschaftlichen Handelns und Geldgebrauchs gegenüber Unbekannten“ zwar in der Stadt, aber ebenso jenseits einer spezifischen Stadt möglich geworden ist, ebenso wenig wie die „Bereitschaft zur politischen Unterwerfung“ unter die Weisungen von Unbekannten an den städtischen oder irgendeinen spezifischen Raum gebunden ist. „Das Einreichen einer gerichtlichen Klage bei Unbekannten“ wie die „Erwartung, von unbekannten Lehrern etwas lernen zu können“ sind vom Prinzip her ebenso wenig an den städtischen Raum gebunden wie die „Fähigkeit, auf Heiratsmärkten auch Unbekannte zuzulassen“ (Baecker 2004, S. 199 f.).22 Die Systemtheorie entdeckt als Kristallisationskerne der ausdifferenzierten raumabgelösten Teilsysteme (z. B. Wirtschaft, Politik, Recht, Erziehung, Intimität) symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien, die – wie Geld, Macht, Liebe – Sinnofferten codieren und ihre Annahme wahrscheinlich machen, sie durch Selektion motivieren. Diese Raumabgelöstheit sozialer Koordinationsmechanismen, die abstrakte Vergesellschaftung auch der konkreten Lebenswelt vor Ort ist die gesellschafts-

22D.

Baecker versucht in der Systemtheorie nach Luhmann, die Stadt als symbiotischen Mechanismus zu begreifen, der die raumabgelösten Kommunikationen begleitet und absichert: Baecker 2004, S. 199 f.

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theoretische Grundentdeckung der Soziologie der Moderne, sei es im Medium des „Rechts“ (M. Weber), des „Geldes“ (G. Simmel)23 oder der „Sprache“ (G. H. Mead, J. Habermas). Das Paradigma für die Raumabgelöstheit aller kommunikativen Verbreitungsmedien ist und bleibt die „Schrift“, die als Inbegriff eines ‚geflügelten‘ Kommunikationsmediums die Raum- und Kontextablösung mit Spezialisierung der Information verknüpft. Und der Inbegriff aller ‚geflügelten‘ Erfolgsmedien – die durch Kopplung von Selektion und Motivation die Annahme der Kommunikationsofferte wahrscheinlich machen – ist das Geld. Man könnte von der soziologischen Theorie her sagen, die moderne Gesellschaft sei in der Modernität ihrer Kommunikationsmedien gleichsam aus den Häusern, aus der Stadt ausgestiegen, weshalb Niklas Luhmann24 selbst gar keine Stadt-, geschweige denn eine Architektursoziologie gegenwartsdiagnostisch als relevant ansehen konnte.25 Das Credo jeder avancierten soziologischen Theorie der aktuellen Moderne ist, dass es gesellschaftlich zu einer tiefenstrukturellen Umstellung der Vergesellschaftung von „architekturgestützter Disziplinierung“ zu „medienvermittelter Vergesellschaftung“ kommt (Makropoulos 2003, S. 586). Das Faktum einer eskalierenden Vergesellschaftung via virtueller Medien stützt diese immer schon konstatierte Raumabgelöstheit bzw. Abstraktheit moderner Vergesellschaftung, die die Architekturwissenschaft insgesamt in eine marginale Position zu bringen scheint – wegen der zunehmenden Irrelevanz ihres Gegenstandes.

23Simmels

berühmter Aufsatz „Die Großstädte und das Geistesleben“ (1957b [1903]), der von seiner Kultursoziologie des Geldes als Koordinations- und Denkform der Moderne geleitet ist, stellt gerade keinen Leittext für eine architektursoziologisch inspirierte Stadtsoziologie der Moderne dar. 24Das Paradox liegt natürlich darin, dass sich Luhmanns architektur- und stadtfrei formulierte soziologische Systemtheorie einer spezifischen Stadterfahrung verdankt – Hannover, der Stadtikone der Moderne in der Nachkriegszeit. In der Inkubationszeit seiner Theorie (den 1950er Jahren) arbeitete Luhmann als Verwaltungsjurist im modernen Bau des Kultusministeriums mitten in der zerstörten Innenstadt, die der Stadtbaurat Rudolf Hillebrecht unmittelbar nach dem Krieg mit einem neuen, über ampelfreie Kreisel geführten Straßennetz anlegte: Die großzügig über Grünflächen zueinander platzierten „funktionalen“ Baukörper ließen zwischen sich die Automobile fließen – der Anschauungsraum für die reibungslose, sich von selbst koordinierende „Anschlussselektivität“ von Kommunikationen als Kern der soziologischen Systemtheorie der Moderne. 25Der Versuch von D. Baecker, Architektur systemtheoretisch einzubeziehen, enthält interessante Hinweise auf die Innen-Außen-Differenz: Baecker 1990. Aber die Systemtheorie muss sich aus systematischen Gründen vom Ansatz her mit dem Phänomen beharrlicher Baukörperlichkeit in der Moderne schwer tun. Vgl. auch Ziemann und Göbel 2004.

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Die Architektursoziologie kann hier als gesellschaftstheoretisches Korrektiv der Theoriebildung der Moderne fungieren – wenn man Architektur sozialtheoretisch im Binnenfeld des Sozialen als eigenes Kommunikationsmedium, als das „schwere, träge Kommunikationsmedium“ jeder Vergesellschaftung verstanden hat. In der Ausdifferenzierung der ‚geflügelten‘ symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien haben sich Aspekte des Welt-, Selbstund Sozialverhältnisses herausgedreht, um eine überlokale und hochspezialisierte Feinkoordination der Erwartungen untereinander, der Erwartungserwartungen zu etablieren. Damit ist Architektur nicht außer Kraft gesetzt – genauso wenig wie die Moderne die kommunikative Potenz des „Gesichts“ durch die Mechanismen der Sprache, des Rechts, des Geldes preisgeben würde: Im Gegenteil, über die visuellen Massenmedien gelangt die Strahl- und Differenzierungskraft des „Gesichts“, des menschlichen „Antlitzes“ zur Prominenz in der Fernkommunikation. Architektursoziologie macht vielmehr die Evolution der Moderne systematisch beobachtbar als Ko-Evolution der anderen „leichten“ Medien und des „schweren“ Kommunikationsmediums Architektur. Wegen ihrer Omnipräsenz für alle Erwartungserwartungen kann man die Architektur als das grundierende Kommunikationsmedium der Gesellschaft ansehen, als Basso continuo. In ihren Leibkörpern situierte Menschen wandeln und gleiten in ihren Interaktionen Tag für Tag, Tag und Nacht zwischen expressiven, schweren Gebäuden, die den Interakteuren Sinnofferten zuwinken, die sie als Sinnprämissen ihres eigenen Erlebens und Handelns annehmen sollen. In ihrer Omnipräsenz wird Architektur von keinem der anderen Medien erreicht. Darin ist sie nur vergleichbar mit dem Wetter – aber das Naturphänomen will nicht von sich aus informieren und akzeptiert werden, es ist nicht aus sich heraus kommunikativ. „Schwer“ ist die Architektur, weil am baukörperlichen Material eine Sinnkommunikation haftet, gleich ob Holz und Stein, Stahl und Glas: schwerer als der Körper, größer, aber auf sein sinnliches Erleben bezogen. Schrift und Geld lösen sich in ihren Sinnoperationen tendenziell ab von der sinnlichen Präsenz, von lokaler Kommunikation, aber sie können Baukörper nicht auflösen. Selbst wenn die gebaute Stadt praktisch nicht mehr nötig wäre (was unmöglich sein wird), wäre sie immer noch aus Gründen der „Sinnlichkeit“ der Menschen erwartbar. Die leichten Kommunikationsmedien bleiben an das schwere gebunden. Was verändert eine solche Architektursoziologie im Zentrum der soziologischen Beobachtung der Moderne? Zunächst öffnet sie die Augen für die Unausräumbarkeit des Raumes in der Moderne – eine Erkenntnis, die sie mit der Raumsoziologie insgesamt teilt. Allerdings ist dabei die „Omnipräsenz des Gebauten“ (B. Schäfers) der Evidenzbeweis für die sozio-

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logisch behauptete Relevanz des Raumes auch in der Moderne.26 Moderne als Deterritorialisierung der Kommunikation mit einer nachträglichen Wiederentdeckung ihrer Reterritorialisierung (des „Raumes“) ereignet sich eigentlich nur in der soziologischen Theorie – nicht in der von ihr beobachteten Wirklichkeit: die kommunikative Differenzierung des Territoriums läuft über den bebauten Raum permanent mit. Die gesellschaftstheoretische Kraft der Architektursoziologie zeigt sich nicht nur in der Beobachtung der Unausräumbarkeit des Raumes in den modernen Verhältnissen. Sie lenkt den Blick zweitens auf den Widerfahrnischarakter der Vergesellschaftung – auch in der Moderne. Als Korrektiv zu handlungstheoretischen (voluntaristischen) und sozialkonstruktivistischen Ansätzen, in denen die Machbarkeits- und Kontingenzerfahrung der Moderne zum Begriff gerinnt, wird in der Architektur der passivische Grundzug der Vergesellschaftung deutlich. Gewiss, gerade Architektur ist konstruiert; aber die meisten „Akteure“ hausen in Häusern, die sie nicht selbst gebaut haben. Die Grunderfahrung ist die „Gesetztheit“ in Baukörpergrenzen, durch deren Affektion und Ausstrahlung sie zu- und gegeneinander vermittelt sind, bevor sie selbst Handlungssubjekte werden. Und wegen der materiellen Schwere der Architektur, der relativen Trägheit gegenüber allen anderen Kommunikationsmedien, ist die Moderne ungeachtet aller Beschleunigung charakterisiert durch eine immer nur partielle Umkonstruierbarkeit: Jedes Bauwerk, das vor meiner eigenen biographischen Spanne errichtet wurde, gleich ob es umgenutzt oder umgebaut ist, strahlt die Sinnofferte der Ahnen ab. Die Architektursoziologie als soziologische Beobachtung der Gegenwartsgesellschaft erschließt diese als eine unausweichliche Ahnenkommunikation, als eine unhintergehbare Kommunikation zwischen den Ahnen (mehrerer Generationen) und den Heutigen.27 Nicht an Spezialorten wie dem Friedhof

26Gerade

die so genannte „virtuelle Welt“ ist dabei die indirekte Bestätigung für die gesteigerte Präsenz der Architektur in der sozialen Vorstellungswelt: In den Computerspielen treffen die Nutzer notorisch auf architektonisch anschaulich gestaltete Räume, durch die hindurch sie die jeweiligen Aufgaben zu lösen haben. Virtuelle Welt bedeutet eine Simulierung und sinnlich-anschauliche Vervielfachung architektonisch gestalteter Räume, wie sie zu Hochzeiten der Schrift- und Buchkultur nur besonders begabten Lesern möglich war. 27Zur Durchführung einer architektursoziologisch inspirierten Stadtanalyse vgl. Fischer und Delitz 2007. Eine Stadt (Dresden) wird als komplexes Resultat verschiedener „Stadtvisionen“ (je gebauter und bloß geplanter architektonischer Lebensentwürfe) rekonstruiert: barocke Stadtvision, Stadtvisionen des Bürgertums, Stadtutopie der Lebensreform, nationalsozialistische Stadtvision, die Architekturvision des Sozialismus, die Vision der „europäischen Stadt“ nach 1989.

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oder dem Archiv sind die Vorfahren präsent, sondern im Gebauten auch noch der futuristisch gemeinten Stadt – „futuristisch“ gemeint von einer bereits vergangenen Generation, wie z. B. in den inzwischen im 21. Jahrhundert wie eine antike Moderne erscheinenden Bauhaus-Architektur-Entwürfen. Man kann drittens schließlich verstehen, warum es mitten in der „virtuellen“ Moderne Architekturstreite gibt, einen Kampf um die „Baukörpergrenze“ – warum die Frage des Baustils gesellschaftlich so gravierend ist. Immer geht es darum, wie die umbauten Räume zueinander in Beziehung treten, wie Innenräume von Außenhüllen abgeschirmt und perforiert werden und in ihrer „Stilisierung“ zu den anderen Bauwerken Beziehungen aufnehmen. Durch jede Destruktion, jeden Abriss, jede Um, Neu- und Rekonstruktion verschiebt sich etwas im Kommunikationssystem der Baukörper einer Stadt, damit einer Gesellschaft – und damit auch im Verhältnis der Bewohner zueinander. Die Bauhaus-Moderne mit den Baukörper-Gebärden des Aufbruchs, der Ausfahrt, das zeitgleiche traditionale Bauen mit der sich einfügenden Schutzgebärde und die expressionistische Architektur voll mythischer Baukörpermasken, der Neoklassizismus mit seiner Erhabenheitskommunikation, die „Postmoderne“ mit den der Gesellschaft architektonisch mitgeteilten Lockerungsübungen, der „Dekonstruktivismus“ mit den bautechnisch gekonnten Störgesten, die „Rekonstruktion“ als bewusste Kommunikation mit den Vorfahren bürgerlicher Vergesellschaftung (Fischer 2012a) – alle und noch andere Baustile sind dann für eine architektursoziologisch geschulte Diagnostik als jeweilige gesellschaftliche Sozialregulationen der sozialkonstitutiven Baukörpergrenzziehung im schweren Kommunikationsmedium mitten in der Moderne identifizierbar. Eine architektursoziologisch inspirierte Gesellschaftsdiagnostik gelangt schließlich zur Unaufräumbarkeit der Moderne. Wie nirgends sonst macht die moderne Gesellschaft in den städtischen Baukörper-Räumen die Erfahrung der systemischen Unvollendbarkeit der Moderne. Dasselbe Phänomen zeigt sich als Differenzerfahrung der Moderne in der Verschiedenheit der Städte, der gesellschaftskonstitutiven „Differenz der Städte“ (Löw 2008). Diese Differenz ist basal eine je architektonische Differenz, so wie sich meistens der migrierende oder touristische Erstkontakt mit einer Stadt entlang der Sinnofferten der Architektur vollzieht. Es ist ja die Architektur, die die sprachlich (noch) nicht anschlussfähigen Fremden über die je spezifische Gesellschaft informiert – und zwar deshalb, weil diese sich in der „Architektur der Gesellschaft“ bereits permanent über sich selbst unterrichtet. Deshalb hat die architektursoziologische Diagnostik gesellschaftstheoretische Kraft. Man versteht, warum mit „Moderne“ und „Postmoderne“ prägnante Baustile bereits in der soziologischen Gesellschaftsgeschichte Epochen pars pro toto ihren Titel gegeben haben und

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warum umgekehrt mit „Konstruktivismus“ und „Dekonstruktivismus“ Architekturmetaphern als Leitparadigmen der Sozial- und Kulturwissenschaften ins Innere der Theoriebildung aufsteigen. Wegen der Ko-Evolution von leichten und schweren Kommunikationsmedien in der Moderne können Architekturdebatten keine Nebendebatten der Moderne sein – so wie Architektursoziologie keine nur spezielle Disziplin sein kann, nicht in der Sozialtheorie, nicht in der Stadtsoziologie und auch nicht in der Gesellschaftstheorie der Moderne. Gelingt es – so wurde am Anfang gesagt – die konstitutive Funktion von Architektur selbst für die abstrakte Moderne zu zeigen, ist sie in ihrer Brisanz für jede Art der Vergesellschaftung gezeigt. Architektursoziologie im Zentrum der Soziologie begründet, enthält auch Anregungspotenzial für Archäologie und Ethnologie: In den von ihnen gefundenen, ergrabenen Baukörpern stecken Architekturdebatten versunkener Gesellschaften.

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Architektur für Jedermann. Alltagssoziologie als wissenstheoretischer und methodologischer Zugang zur Architektur Christine Neubert 1 Hinführung Die Programmatik dieses Sammelbandes ist direkt und pragmatisch: Die Aufforderung, Architektur bzw. die wissenschaftliche Disziplin der Archi­ tektur, lebensweltlich (neu) zu begründen. Es scheint einer (Rück-)Besinnung zu bedürfen, für wen und weshalb Architektur gebraucht wird, warum es ferner ein Studium, eine Wissenschaft der Architektur gibt, die ihren Gegenstand umfassend reflektiert, dazu bestimmte Methoden und Theorien in Anspruch nimmt und sich sukzessive einen spezifischen Wissensstand erarbeitet, der sich – gemessen an Wissenschaftsmoden und gesellschaftlichenBedarfen1 – immer weiter funktional ausdifferenziert. Das Wissen der Architektur wird zu einem von Expertinnen.2

1Theorien

der Architektur erleben etwa gleiche Moden wie Theorien der Kommunikation oder des Handelns (bspw. vom Stimulus-Response-Modell zum wechselseitigen Herstellen und Gebrauchen, vom rationalen Handeln zum Akteur-Netzwerk-Modell), gesellschaftliche Bedarfe (wie Vernetzung, Kommunikation, Sicherheit) stellen zugleich deren Ausgangswie Folgesituationen dar. 2In diesem Text werden aus Gründen der besseren Lesbarkeit männliche, weibliche und genderneutrale Personenbezeichnungen abwechselnd angewandt. C. Neubert (*)  Universität Hamburg, Hamburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Berr und A. Hahn (Hrsg.), Interdisziplinäre Architektur-Wissenschaft, Interdisziplinäre Architektur-Wissenschaft: Praxis – Theorie – Methodologie – Forschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29634-6_6

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Gleichwohl hat jedermann im Alltag mit Architektur zu tun. Wir bestreiten unser Leben Tag für Tag in und mit ihr, handeln und bewegen uns in architektonischen Settings. Wir verfügen also auch im Alltag über ein Wissen von Architektur – eines, das im alltäglichen Tun und Handeln Anwendung findet. Stellt man nun diese beiden Arten architektonischen Wissens gegenüber – ein ‚spezialisiertes‘ Fachwissen der Architektur und ein ‚allgemeines‘ Wissen der Architektur im Kontext der alltäglichen Lebensführung – kommt die Frage auf: Haben diese beiden Wissensarten überhaupt etwas miteinander zu tun? Was hat Wissenschaft mit Alltag zu tun? Geht es in der Wissenschaft von Architektur nicht um andere Dinge als im Alltag mit Architektur? Um welchen Begriff von Architektur soll es sich handeln, wenn wir von einem Alltagswissen der Architektur sprechen? Vorgestellt wird in diesem Beitrag eine alltagssoziologische Perspektive auf Architektur, die ihren eigenen Gegenstand ‚Architektur‘ entwirft mit eigenem Wissen von ‚der Architektur‘. Vielversprechend ist dieser Zugang gerade bei der Implementierung einer gemeinsamen Basis im Begründungszusammenhang einer wissenschaftlichen Unternehmung3 deshalb, da er im Gegensatz zur Tendenz in herkömmlichen architekturtheoretischen Debatten unterschiedliche Positionen vielmehr eint als sie zu spalten. Eben dieses Potenzial einer Architekturtheorie der Alltagswelt sowohl für die Praxis als auch für die Theorie der Architektur soll im Folgenden entfaltet werden. Dazu werde ich zunächst die wissenstheoretischen und methodologischen Grundlagen des alltagssoziologischen Paradigmas vorstellen und verschiedene Grade und Qualitäten eines Wissens von Architektur herausarbeiten (2.1). Im zweiten Schritt wird das Gerüst einer Architekturtheorie der Alltagswelt aufgestellt, das wesentliche wissenssoziologische Prämissen insbesondere auf das diskursive Feld der bestehenden Architekturtheorie anwendet (2.2). Abschließend (3) werden die alltagssoziologischen Überlegungen und empirischen Befunde4 für eine programmatische Theorie und Praxis der Architektur zugespitzt.

3Wie

die Herausgeber dieses Buches in Bezug auf eine Interdisziplinäre Architekturwissenschaft. 4Die im Rahmen meiner ethnografischen Studie zur Architekturerfahrung im Arbeitsalltag entstanden sind (Neubert 2018).

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2 Common-Sense Architektur 2.1 Alltagswissen und Alltagswelt Hinter einem alltagssoziologischen Zugriff auf Architektur verbirgt sich zugleich ein wissenssoziologischer Denkansatz. Unter zentralem Bezug auf Alfred Schütz verstehen sich wissenschaftliche Untersuchungen, die in dem Bereich des ­ Alltags(-lebens) angesiedelt sind, gleichsam als Suchbewegungen nach dem Wissen von jedermann. Mit Wissen ist all dies gemeint, „was im offenen Rahmen der Lebenswelt Wissen zu sein behauptet und den Anspruch darauf plausibel findet“ (Vorwort von Helmuth Plessner in Berger und Luckmann 2004, S. XIV). Es ist die nach Karl Mannheim und Max Scheler radikale Neuausrichtung der Wissenssoziologie, die Peter Berger und Thomas Luckmann im Anschluss an Schütz in ihrem Klassiker „Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit“ (1966) vertreten. Wissen ist nicht mehr eines, das seiner Berechtigung nach an Klassen oder andere Wissen vorstrukturierende Zugehörigkeiten gebunden ist, sondern jede und jeder5 hat das Recht auf Wissen (vgl. ebd.), hat Wissen und gebraucht Wissen, bisweilen ohne es explizit zu wissen. Wissen ist nun der programmatische Sammelbegriff für ein in der Lebenswelt des Alltags zu beobachtendes Phänomen: dass schlichtweg vieles funktioniert – und dies fraglos und unbesprochen. Im sozialphänomenologischen Sinne meint dies etwa die unhinterfragte Orientierung in der Welt qua Sprache, aber ebenso die wortlose Abstimmung sich bewegender Körper auf der Straße, das gelingende Ineinandergreifen von Interaktionen zwischen Menschen, Menschengruppen, Organisationen und zwischen Menschen und Dingen. Zwischen Mensch und Architektur.6 In dieser Forschungshaltung suchen wir nach dem vortheoretischen Wissen von Architektur, das jede von uns hat und tagtäglich anwendet. Das sogenannte Jedermanns-Wissen oder Alltagswissen ist unverzichtbar, um alltägliches Leben zu bestreiten: Gewohnheiten und Handlungsabfolgen, die wir etwa im Wohnen, im Wege zurücklegen, im Besorgungen machen, im Arbeiten, im Abschalten etc. vollziehen, beruhen auf Wissensvorräten, die in Kopf, Körper und Leib

5Damit

sind nicht nur Einzelpersonen gemeint, sondern auch Gruppen, Organisationen, Institutionen etc. 6Damit schließe ich an Silke Steets an, die die Wissenssoziologie von Berger und Luckmann explizit auf diese körperliche und leibliche Komponente von Wissen verweist (vgl. Steets 2015, S. 210 f.).

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verankert sind. Um diese Dinge zu tun und dazu den eigenen Körper und das eigene Denken zu gebrauchen, bedarf es keiner expliziten Reflexion und Unterbrechung im Fluss des Alltags. Wir wissen, wie wir uns bewegen müssen, um ohne Anzuecken durch die eigene Wohnung zu gehen, wir wissen, an welchem Platz in der Küche wir am liebsten essen, wir wissen, wie das Fahrrad oder die Straßenbahn zu benutzen sind, um zu unserem Zielort zu gelangen und tun all dies unbesprochen. Diese Beispiele ließen sich unendlich ergänzen, der Wissensfundus scheint grenzenlos. Es handelt sich folglich um ein Wissen, das in einem bestimmten Ausschnitt unseres Lebens unhinterfragt Anwendung findet, und dass sich diesbezüglich als ‚richtiges‘ Wissen bewährt hat. Wer so weiß, der kann sichergehen, dass die Dinge in der Regel gelingen – sollte nicht etwas Unvorhergesehenes passieren und das Bewährte dadurch konterkariert und problematisiert werden (vgl. Schütz und Luckmann 2003). Der Ausschnitt des Lebens, in dem dieses Wissen dominiert, wird phänomenologisch als Alltagswelt7 bezeichnet. In dieser „Wirklichkeit par excellence“ (Berger und Luckmann 2004, S. 21) leben und erfahren wir Wirklichkeit im „Zustand voller Wachheit“ (Berger und Luckmann 2004, ebd.). In dieser Wirklichkeit kommen die besagten Dinge des alltäglichen Lebens vor, Dinge und Menschen, mit denen wir zu tun haben und die einen wesentlichen Teil unseres Alltags beschreiben. Ein strukturelles Merkmal dieser Welt (neben ihrer unhinterfragten Vorrangstellung) ist das der Intersubjektivität. Wir gehen davon aus, dass das, was wir hier erfahren, prinzipiell intersubjektiv geteilt wird und vermittelbar ist. Die Alltagswelt ist eine Welt der (sozialen) Beziehungen, permanent ist sie Gegenstand intersubjektiver Aushandlungsprozesse, die die Grenzen dieser Welt immer wieder neu bestimmen. Sofern wir nicht in neue, unbekannte Situationen geraten, werden sie und die Dinge in ihr uns nicht bewusst (vgl. Berger und Luckmann 2004, S. 27). Wir leben in ihr und erfahren sie größtenteils in Routine und Gewohnheit, und können nur durch eine Unterbrechung dieser Routine einzelne ­Erlebnis- und Erfahrungsstränge herausgreifen und benennen. Sobald es zu einer solchen Unterbrechung kommt, haben wir es nach der Terminologie von Schütz mit problematischen Situationen zu tun. Dann muss neu und in situ verhandelt werden, welche Deutung der Situation Hoheit erhält.

7Berger

und Luckmann sprechen von Alltagswelt, nicht von einer „Lebenswelt des Alltags“, „um die Eingeschmolzenheit der kognitiven Komponente in ihre Grundschicht hervorzuheben“ (Vorwort von Helmuth Plessner in Berger und Luckmann 2004, S. XV), folglich, um das Faktum der bedeutsamen Vor-Erschlossenheit von Welt noch stärker zu betonen.

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Um diese Deutungs-Entscheidung (und -Unterscheidung) treffen zu können, greifen wir auf den Fundus unserer Erfahrungen zurück: auf Erfahrungen, die wir entweder am eigenen Leib durchlitten haben oder auf Erfahrungen, die in Form vorfabrizierten Wissens (Wissensvorrat) – z. B. anhand sprachlicher Ausdrücke und Differenzierungen – in der Wirklichkeit der Alltagswelt vorliegen (vgl. Schütz und Luckmann 2003, S. 33). Jedermann hat auf diesen gesellschaftlichen Wissensvorrat Zugriff. Alles, was mit Recht lebensweltlich Wissen genannt wird, steckt darin und zieht diese Berechtigung aus Erfahrungen, die Menschen machen und in der Vergangenheit gemacht haben. Diesen letztgenannten Aspekt im Folgenden zu entfalten ist zentral, um die (Erfahrungs-)Qualität von Alltagswissen zu verstehen und zugleich die Bedeutsamkeit dieses Wissens im Zusammenhang mit Architektur – etwa hinsichtlich der vielfältigen Erfahrungsqualitäten des Architektonischen – nachzuvollziehen.

2.1.1 Wissen durch Erfahrung – Alltag als Praxis Schütz und Luckmann stellen in ihrer umfassenden Strukturierung der Lebenswelt eben diese auch „als Bereich der Praxis“ (Schütz und Luckmann 2003, S. 445) vor: „Die Lebenswelt ist der Inbegriff einer Wirklichkeit, die erlebt, erfahren und erlitten wird. Sie ist aber auch eine Wirklichkeit, die im Tun bewältigt wird, und die Wirklichkeit, in welcher – und an welcher – unser Tun scheitert. Vor allem für die Lebenswelt des Alltags gilt, daß wir in sie handelnd eingreifen und sie durch unser Tun verändern. […] Wir erfahren den Alltag wesensmäßig als den Bereich menschlicher Praxis“ (Schütz und Luckmann 2003, S. 447).

Hier liegt der Anknüpfungspunkt, um erstens das Wie des Machens von Erfahrungen mit Architektur im Alltag näher zu erläutern und damit zweitens (Alltags-)Wissen dezidiert als Produkt von lebensweltlichen Erfahrungen zu begreifen. Beide Vertiefungen versprechen bei der Aufklärung darüber zu helfen, inwiefern Architektur als Teil des alltagsweltlichen Lebenszusammenhangs, als Teil des Wissens von jedermann zu denken ist. Wie macht man Erfahrungen mit Architektur im Alltag? Vielleicht gilt es vorgelagert zu erläutern, was Erfahrungen sind. Pathetisch könnte man sagen, Erfahrungen sind der Schlüssel zur Welt. Sie sind zugleich Prozess und Produkt der „Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit“ (Gehlen 1983, S. 12), ließe sich im Denkstil der Philosophischen Anthropologie konkretisieren. Hier ist das pragmatische Moment von Erfahrung, das bei Schütz und Luckmann mitgedacht ist, fest verankert. Als Bedingung von Erfahrung beschreibt Arnold Gehlen

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einen körperlichen wie kognitiven Umgang mit Dingen, der prozesshaft verläuft und demzufolge auch prozesshaft Bedeutungen und Gegenstände des Erfahrens hervorbringt. Dass und wie wir mit Dingen umgehen, beeinflusst, welche Erfahrung wir mit Dingen machen, nunmehr welche vorläufige Bedeutung wir dem Umgang mit einem Ding – und kurzgefasst: dem Ding – zuweisen. Dieses Umgehen ist ganz konkret ein praktisches Zu-tun-haben mit den Dingen, indem wir sie „durch die Mehrheit unserer Sinne hindurchziehen“ (Gehlen 1983, S. 12). Eine sinnliche Auseinandersetzung also, ein „betasten, befühlen oder […] ansprechen“ (Gehlen 1983, S. 12). Solche unmittelbaren Erfahrungen, die am eigenen Leib vollzogen werden, sind folglich auch an einen bestimmten räumlichen Ausschnitt der Lebenswelt gebunden: an eine „Welt in aktueller Reichweite“ (Schütz und Luckmann), an eine Welt, in der leiblich gewirkt werden kann („Wirkzone“ bei Mead 1987) oder gehandelt im Sinne von Otto Bollnow („Handlungsraum“, Bollnow 2000). Gemein ist all diesen Bereichs-Begriffen8 die Vorstellung von einem Menschen, der – um sich fortlaufend Orientierung in der Welt zu verschaffen – tätig wird, ja werden muss, und so unweigerlich die Welt (oder die Zone oder den Raum) seines tätigen Zugriffs deutet und zugleich Bedeutungen produziert. In diesen begrenzten ‚Bereich[en] menschlicher Praxis‘ wird menschliche Bedeutungsproduktion sichtbar, Veränderungen sind unmittelbar umsetzbar. Im Hinblick auf die gebaute Umgebung wären das so alltägliche Eingriffe wie: ein Fenster wird geöffnet, ein Stuhl verrückt, die eigene Körperhaltung verändert. Arbeitsorte (Arbeit verstanden im weiteren Sinne, vgl. Böhle et al. 2010, S. 169 ff.) verdeutlichen diesen Zusammenhang von menschlicher Praktik9 und Deutung der gebauten Umgebung beispielhaft:10 Ein Künstler in seinem Atelier greift mittels Pinsel und Farbe in seine Welt ein, schafft auf der Leinwand etwas Neues, dass vordergründig visuelle Reize hat, denen er sich im Prozess des Malens körperlich wie geistig auszusetzen weiß, um die Idee seines Bildes

8Auf

die feinen Unterschiede zwischen ihnen kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Zum Teil wurde das in Neubert 2018 getan. 9Von einer Praktik spreche ich im Zusammenhang mit der empirischen Erforschung menschlicher Praxis und meine einen konkret beobachteten Tätigkeits- und Wirkungszusammenhang, an dem menschliche und nicht-menschliche Akteure teilhaben. 10Die Beispielschilderung bezieht sich auf die Empirie meine qualitative Studie zur Architekturerfahrung in Arbeitsumgebungen und bündelt hier idealtypisch unterschiedliche Befunde (Neubert 2018).

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umzusetzen.11 Dabei nimmt er beiläufig den Lichteinfall in seinem Atelier wahr, beobachtet, wie er wandert und im gleichen Moment den Bildausdruck verändert. Er könnte zum Fenster gehen und die Jalousien herunterlassen. Er könnte aber ebenso diese Erfahrung (diese Bedeutungszuschreibung an das Fenster als störende Lichtquelle) bereits gemacht und darum das Fenster im Vorhinein, zu Beginn seines Arbeitstages, abgedunkelt und stattdessen eine Tageslichtlampe angeschaltet haben. Oder er rechnet sogar mit der Veränderung des Lichteinfalls und gibt dieser sinnlichen Wahrnehmung den Sinn einer willkommenen externen Mitarbeit an der Bildkomposition. Es sind viele Formen des Eingreifens in die Welt seiner aktuellen Reichweite denkbar – jeweils anders ist die Erfahrung des Ateliers als Arbeitsumgebung, jeweils different wird die Bedeutung des Fensters, im eingreifenden Umgang mit dem Lichteinfall, prozessiert. Erfahrungen (mit Architektur) vollziehen sich praktikabhängig und leiblich. Sie sprechen den Menschen als sinnlich-sinnhaftes, als sozial-kulturelles Wesen an. Das bedeutet, die sinnliche Wahrnehmung von etwas ist immer schon in den Bedeutungs- und Gebrauchszusammenhang einer sozialen wie kulturellen Praktik, in der dieses etwas vorkommt, eingebunden. Der Lichteinfall stört das entstehende Bild, eben, weil es ein Bild ist, dass womöglich eine bestimmte Wirkung erzielen soll, an der kontinuierlich mit Pinsel und Farbe gearbeitet wird. Die Wahrnehmung des Lichts findet im Kontext dieser Praktik des Malens statt, die ganz konkret u. a. auf die Kontrolle und Konstanz des Lichts im Atelier angewiesen ist. Man könnte auch sagen: Sobald man künstlerisch tätig wird, wird man auch auf die Mitwirkung der gebauten Umgebung in der Art der Ausrichtung der Fenster und des Lichteinfalls verwiesen. Diese Mitwirkung kann eine negative oder positive sein, und sich sowohl in der Störung der Malpraktik als auch in ihrer ungestörten Entfaltung ausdrücken. Im Alltag wird Architektur folglich weniger als Ausdruck von Design und Ingenieursleistung thematisiert, sondern vor allem als kooperierender oder nicht kooperierender Teilnehmer an der Praktik, in die Mensch und Ding verwickelt sind. Andere Erfahrungsqualitäten des Ateliers als die beschriebene visuelle, lichtmäßige wären denkbar – etwa haptische, akustische, olfaktorische12. Der Arbeitsort Atelier wird so

11Zu

einer umfassenden Analyse künstlerischer (Seh-)Praxis siehe Schürkmann 2017. unserer synästhetischen Wahrnehmung ist gleichwohl nur reflexiv möglich. Siehe dazu u. a. Hahn 2013. Einen Systematisierungsvorschlag über relevante alltagsweltliche Erfahrungen des Architektonischen habe ich in meiner Dissertation gemacht (Neubert 2018).

12Eine Aufspaltung

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g­ egenständlich, die spezifische Mitwirkung des Gebauten setzt sich aus diesen konkreten Erfahrungsqualitäten beim Malen zusammen. Wissen als Folge von lebensweltlichen Erfahrungen. Es liegt auf der Hand, dass nicht jeder die gleichen Erfahrungen mit der gebauten Umgebung bspw. einer Stadt oder eines Stadtviertels macht. Das heißt, jede hat ihr ganz eigenes körper-leibliches, biografisch geprägtes Wissen von der Architektur ihres Alltags. Gleichwohl können wir im Bewältigen13 von Situationen nicht nur auf unser persönliches Wissen, sondern auch auf das Wissen anderer, vor uns Erfahrender („Vorwelt“, vgl. Schütz und Luckmann 2003, S. 133 ff.) zurückgreifen.14 Wir werden in einen Vorrat an Alltagswissen über Architektur hineingeboren, den wir uns qua Sozialisation aneignen. Wie sich zum Beispiel Einfamilienhaus und Baublock im Wohnen unterscheiden, diese (Wohn-)Erfahrung muss ich nicht zwangsläufig selbst machen, sondern ich wachse in einem von beidem auf und weiß irgendwann, dass es auch das andere gibt. Ebenso weiß ich – aus Erzählungen und Beschreibungen anderer – ungefähr, was es bedeuten könnte, dort zu wohnen, welche Erfahrungsqualitäten damit verbunden wären. Entscheidend ist der Punkt, dass dieses Wissen nicht aus dem luftleeren Raum auf eigentümliche Weise zu uns kommt, sondern vermittelt über Erfahrungen unserer Vorfahren oder Zeitgenossen (vgl. Schütz und Luckmann 2003, S. 110 ff.). Und diese Erfahrungen sind – wie am Beispiel des Ateliers gezeigt wurde – stets in den Kontext von Praktiken eingelassen und nicht ohne diesen zu verstehen. Das bedeutet letztlich, dass an das Alltagswissen über den Ausdruck bspw. baulicher Typologien wie Einfamilienhäuser oder Häuserblocks immer auch die Ahnung um die Praktik des Wohnens in diesen Dingen geknüpft ist. Umgekehrt könnte man sagen, dass in dem Common-Sense Wissen über gebaute Umgebungen des eigenen Alltags (die Wohnung, der Arbeitsort, die

13Damit

meine ich in sozialtheoretischer Hinsicht das Definieren von Situationen (‚Definition der Situation‘, vgl. Thomas und Znaniecki 2004). 14Ein dezidiertes Beispiel für die Mittelbarkeit architektonischer Erfahrungen im Alltag sind die in der Architektur verwendeten DIN-Normen. Mit der Anwendung dieser Normen in der architektonischen Praxis wird zugleich auf ein bewährtes und aufeinander abgestimmtes System von architektonischen Erfahrungen zurückgegriffen. Besonders deutlich wird das im Bereich Ergonomie, aber auch andere Erfahrungsqualitäten (visuelle, akustische, Lufthygiene etc.) werden mehr und mehr standardisiert (aufgrund der Abwägung der Erfahrung mehrerer Personen), wie etwa im Bewertungssystem Nachhaltiges Bauen (BNB) des Bundesinnenministeriums. Vgl. https://www. bnb-nachhaltigesbauen.de/bewertungssystem/bnb-bewertungsmethodik.html (zuletzt am 6.2.2019).

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Stadt, ­Infrastrukturen) implizit stets ein Wissen über die – qua Sozialisation vermittelten – „Umgangswerte“ (Gehlen 1983, S. 14) dieser Dinge steckt. Diese Umgangswerte wiederum sind der Ausgangspunkt für den Aufbau eines Systems von Bedeutungen, gleichsam von verketteten „Erfahrungsketten“ (Gehlen 1983, S. 14), das bereits im Alltagswissen, erst recht aber im Bereich des Spezialwissens wie das von Wissenschaften (etwa in Form von Fachtermini), in seiner Komplexität nicht mehr aufzubrechen ist. Viel zu ineffizient (bis unmöglich) wäre es, in der architektonischen Praxis (gleich ob in Büros oder Universitäten) nicht auf Fachtermini zurückzugreifen, sondern stattdessen die Genese des sprachlichen Symbols (z. B. Baublock) von Mal zu Mal erneut erfahrend zu rekapitulieren. Dass die Basis jedweder Fachtermini im leiblich erfahrenden Umgang mit den Dingen der Architektur liegt, für die jedermann im Alltag in der Regel keine Worte braucht, muss dennoch reflektiert werden.

2.1.2 Konstruiertes Wissen 1. und 2. Grades In der Alltagssoziologie ist die somit angesprochene Verankerung wissenschaftlichen Wissens im lebensweltlichen Wissen methodologisch berücksichtigt: „Die gedanklichen Gegenstände, die von Sozialwissenschaftlern gebildet werden, beziehen und gründen sich auf gedankliche Gegenstände, die durch das ­ Common-Sense Denken des im Alltag unter seinen Mitmenschen lebenden Menschen gebildet werden. Die Konstruktionen, die der Sozialwissenschaftler benutzt, sind daher sozusagen Konstruktionen jener Konstruktionen, die im Sozialfeld von den Handelnden gebildet werden, deren Verhalten der Wissenschaftler beobachtet und in Übereinstimmung mit den Verfahrensregeln seiner Wissenschaft zu erklären versucht“. (Schütz 2004, S. 159)

Dass es sich weder im Alltag noch in der Wissenschaft allein um ausdrücklich gedankliche Gegenstände handelt, die konstruiert sind, sondern dass ebenso körperliche Bewegungen (auch Körpertechniken nach Marcel Mauss, vgl. Steets 2015, S. 224 ff.) auf sozial-kulturellen Verstehensleistungen basieren, denen Bedeutungskonstruktionen zugrunde liegen, sei noch ergänzt. Konstruktionen sind zu verstehen als ein Bündel von „Abstraktionen, Generalisierungen, Formalisierungen und Idealisierungen“ (Schütz 2004, S. 158), das in der jeweiligen Situation, die zugleich biografisch, praktisch und gesellschaftlich vorstrukturiert ist und nur selektiv wahrgenommen werden kann, zur Deutung der Situation beiträgt. Das bedeutet schließlich, dass auch Alltagswissen ganz wesentlich auf Abkürzungen von Erfahrungsketten, Verallgemeinerungen des Besonderen, Typisierungen und Zusammenfassungen beruht.

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In der wissenschaftlichen Haltung der Alltagssoziologie wird das Wissen der Lebenswelt in seinem Aufbau und seiner Struktur ernst genommen. Sozialwissenschaftliche Deutungen (Konstruktionen 2. Grades) einer sozialen Interaktion oder Situation bauen nicht nur auf Deutungen, die wir tagtäglich gebrauchen (Konstruktionen 1. Grades) auf, ihre Nachvollziehbarkeit in der Alltagswelt und Adäquanz zu Common-Sense Konstruktionen sind explizite Postulate wissenschaftlicher Modellbildung (vgl. Schütz 2004, S. 193 f.). Mit Einsicht dieser Konstruiertheit sowie der Kontingenz (vgl. Böcker et al. 2018, S. 21) alltagsweltlichen wie sozialwissenschaftlichen Wissens gehen theoretische und methodologische Schlüsse einher, die ich hier vorschlage, auf den Kontext der Unternehmung einer lebensweltlich verankerten Wissenschaft der Architektur – einer möglichen Architekturtheorie der Alltagswelt – anzuwenden und somit die Prämissen eines alltagssoziologischen Zugriffs auf Welt und Wirklichkeit innerhalb der architektonischen Praxis stärker zu berücksichtigen.

2.2 Gerüst einer Architekturtheorie der Alltagswelt 2.2.1 Keine Laien, keine Expertinnen Der vielleicht wichtigste Gerüst-Pfosten einer Architekturtheorie der Alltagswelt ist die Feststellung, dass es aus alltagssoziologischer Perspektive keine Laien und keine Expertinnen der Architektur gibt. Jede und jeder ist zu gleichen Teilen entweder Laie der Architektur oder „Experte[n] des Alltags“ (vgl. Hörning 2001) – je nachdem, welche Sichtweise bevorzugt wird. Wissenschaftlerinnen der Architektur, Architekten wie auch sozialwissenschaftlich Forschende sind, wenn es um den alltäglichen Umgang mit der gebauten Umgebung geht, also den Alltag mit Architektur, gleichermaßen in den Bedeutungszusammenhang ihrer alltäglichen Praxis gestellt. Weder hilft die geschulte Reflexion über Entwurfsmethoden und Baumaterialien noch jene über soziale Gefüge und Erfahrungsbegriffe dabei, die geregelte Betriebsamkeit des Alltags zu bewältigen. Stattdessen sind es in Körper und Geist eingeschriebene Routinen, Fertigkeiten und Gebrauchsmuster (vgl. Schütz und Luckmann 2003, S. 156 ff.; vgl. auch Steets 2015, S. 224 ff.), die sicherstellen, dass jedermann weitestgehend ungestört den Alltag in und mit Architektur meistert. Anstatt also mit der Unterscheidung Laie/Experte indirekt von einer qualitativen Differenz des architektonischen Wissens auszugehen, wäre es sinnvoll, Alltagswissen und wissenschaftliches oder Fach-Wissen hinsichtlich ihrer Praktikenkontexte zu unterscheiden. In unterschiedlichen Praktiken

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(­alltagsweltliche oder wissenschaftliche) bilden sich – so könnte man mit Schütz sagen – unterschiedliche Rationalitäten bzw. Rationalitätstypiken15 ab (vgl. Schütz 2004, S. 184). Weder hat man es mit irrationalem auf der einen oder rationalem Handeln auf der anderen Seite zu tun, sondern mit einem jeweils abhängig vom Bedeutungs- und Gebrauchszusammenhang der Praktik greifenden Bündel „nicht weiter in Frage gestellter“ (vgl. Schütz 2004, S. 184) Konstruktionen. Sowohl in der Alltagswelt wie auch im Relevanzsystem der Wissenschaft regeln diese Verallgemeinerungen, Formalisierungen und Typisierungen von Wissen ungefragt den Zugriff auf ‚Probleme‘ ihres Feldes und dienen der Definition der Situation. Das im Hinterkopf behaltend könnte man sich situativ darüber klar werden, dass das Wissen sogenannter Laien in Bezug auf eine bestimmte Architektur aus der Logik und dem Ziel der Praktik gespeist ist, an der diese bestimmte Architektur aus Sicht der Menschen teilhat und damit den praktischen Gebrauchszusammenhang mit gewährleistet („Affordanz“ der Dinge, vgl. Schmidt 2012, S. 66). Das Wissen sogenannter Expertinnen jedoch, das jenes der Laien als gegebenenfalls irrational und unzureichend identifiziert (vgl. Kernich 2016), bewegt sich mehr oder weniger auf einer den alltäglichen Gebrauchszusammenhängen enthobenen Ebene. Der Mangel eines ­Laien-Experten-geprägten Diskurses über Architektur, der hier in Rechnung gestellt wird, liegt in dem weitestgehenden Ausbleiben der Reflexion dieser unterschiedlichen Praktikenkontexte des Wissens.

2.2.2 Keine Fehler Aus der bisherigen Argumentation ergibt sich ein spezifischer Blick auf den Menschen. „Das mit einer alltagssoziologischen Perspektive kommunizierte Menschenbild ist ein positives, ohne ein wertendes zu sein“ (Neubert 2018, S. 48). Grundsätzlich gilt die Sinnhaftigkeitsunterstellung: Es wird angenommen, dass alles schon immer seine Richtigkeit hat und Sinn ergibt, so wie es ist (vgl. Soeffner 2014; Reichertz 2007). Keiner der Handelnden und praktisch Tätigen

15Gleichsam

geht Schütz mitnichten davon aus, dass alles Handeln als rational zu bezeichnen sei oder auch nur voll und ganz rational sein könne. Schütz versteht unter Rationalität keinen speziellen Handlungstypus (wie Max Weber), sondern eine strukturelle Eigenschaft von Wissen und Alltagswissen, die grob gesagt die situativ anlaufende, aufeinander aufbauende Selektion von Sinndeutungen bezeichnet. Entsprechend spricht Schütz auch von der „Rationalität verschiedener Grade“ (Schütz 2004, S. 184).

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wird demzufolge als defizitär entworfen. Im umgangssprachlichen Sinne fehlerhaftes, unnormales, aber auch normales Handeln gibt es nicht. Stattdessen gibt es sinnhaftes Handeln, das auf Konstruktionen basiert. Das sozialwissenschaftliche Erkenntnisinteresse an diesen alltagsweltlichen Konstruktionen besteht dann in dem deutenden ­Verstehen ihrer regelhaften Hervorbringung innerhalb bestimmter Gebrauchs- bzw. Praktikenkontexte (vgl. Neubert 2018, S. 49). Für ein Alltagswissen von Architektur bedeutet das, dass es keine Einschränkungen oder Vorgaben gibt, wie ein solches Wissen auszusehen habe oder welche Wissensbereiche es abdecken solle. Vielmehr gilt es, empirisch und situationsspezifisch herauszufinden, wie sich Architektur in das soziale Gefüge alltäglicher Praktiken einwebt und welche vielfältigen Sinndeutungen sich daraus über das Architektonische der Alltagswelt ergeben. Folgt man also der Zielstruktur und Logik alltäglicher Praktiken – über empirische Daten, z. B. aus der teilnehmenden Beobachtung, aus Interviews, aus Dokumenten – wird es möglich, im Kontext dieser Praktiken das Wie des sinnhaften Bezugs auf Architektur zu rekonstruieren.

2.2.3 Kein ‚an sich‘ Der dritte Pfosten im Theoriegerüst bezieht sich auf einen Allgemeinplatz der wissenssoziologischen Sicht auf Dinge: In dem Wie des sinnhaften Bezugs auf Architektur konstituiert sich gewissermaßen erst das architektonische Ding. Erst darin wird es situativ relevant und entsprechend dieser Relevanz zum Gegenstand und Bezugspunkt sozialer Praxis gemacht. „Architektur wird folglich wie jedes andere Ding der Alltagswelt als ein auslegungsbedürftiges behandelt“ (Neubert 2018, S.  49). Diese Auslegungsarbeit ist offensichtlich kulturell geformt und geschieht unter sozialen Bedingungen des Aufeinander-Bezogenseins von Sinnzuschreibungen innerhalb einer Gesellschaft. Was wir uns etwa typischerweise unter einem Haus vorstellen – wie einfach bis komplex, wie einheitlich bis differenziert – hängt von dem kulturell eingebetteten Wissensvorrat ab, in den wir hineinsozialisiert werden. Das Haus ‚an sich‘ gibt es nicht, gerade einmal wäre eine Minimaldefinition wie ein ‚Schutzraum‘ denkbar, über die man sich gleichwohl fortlaufend intersubjektiv verständigen müsste und die wiederum möglicherweise nur entfernt mit unserer (mitteleuropäischen) Vorstellung eines Hauses verknüpft wäre. Architektur als kulturelle Objektivation zu begreifen nimmt die Kontextgebundenheit ihrer intersubjektiv hergestellten Bedeutung ernst. Es liegen grundsätzlich keine Deutungen eines architektonischen Dings per se mehr auf der Hand als andere oder wären richtiger als andere. Jede B ­ e-Deutung von Architektur – jedes Wissen über Architektur – steht

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aus wissenssoziologischer Sicht zur Disposition und hat Anspruch darauf, in seiner ­spezifischen, sozial-kulturellen Gewordenheit hinterfragt und methodisch kontrolliert16 rekonstruiert zu werden.

3 Architektur von und für Jedermann Abschließend geht es darum, die bisher diskutierten wissenstheoretischen und methodologischen Prämissen einer Alltagssoziologie sowohl für die Theorie als auch für die Praxis der Architektur zuzuspitzen – im Sinne eines Denkvorschlags über eine Architektur von und für jedermann (3.1) und im Sinne der Anwendung dieses Denkens in der Entwurfsvorbereitung- und Lehre durch das Einüben einer ethnografischen Haltung (3.2).

3.1 Programmatische Architekturtheorie Alltagsweltlich haben wir es mit einem heterogenen und kontingenten Erfahrungs- und Wissensvorrat in Bezug auf Architektur zu tun, der sich strukturell aus dem Gebrauchs- und Bedeutungszusammenhang der Praxis speist. Das, was Architektur ist und sein kann, wie sie situativ wirkt und wirkungsvoll eingesetzt werden kann, gründet in der Praktik, die der jeweils konkrete Anlass für den Umgang mit Gebautem und die Thematisierung des Gebauten ist. Der malende Künstler in seinem Atelier gab davon ein Beispiel. Ein Vorschlag der Systematisierung alltagsweltlicher Erfahrungen mit Architektur zielt auf die konsequente Rekonstruktion der Verankerung architektonischer Erfahrungsqualitäten in dem Aufbau und Ablauf – in der Konstitution und Organisation – alltäglicher Praktiken. In meiner ethnografischen Studie zur Architekturerfahrung im Arbeitsalltag zeigten sich vergleichend folgende architektonische Erfahrungsqualitäten als Bestandteil eines Alltagswissens über die jeweilige gebaute Arbeitsumgebung: Luftmäßiges und Lichtmäßiges, Klimatisches und Akustisches, Sichtachsen, Wege und physische Begrenzungen; und auch die Erfahrung der wiederkehrenden Verortung und damit verbundener Entfaltungspotenziale der Praktik gehört zu einem ­wesentlichen Bestandteil eines Alltags-

16Etwa

nach den Regeln der sozialwissenschaftlichen Hermeneutik, zentral basierend auf dem Prinzip der Sequenzialität sozialer Praxis und des sozialen (intersubjektiven) Sinns subjektiver Entäußerungen (vgl. Przyborski und Wohlrab-Sahr 2014, S. 253 ff.).

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wissens von Architektur (vgl. Neubert 2018; Kap. 5). Ihre jeweilige Thematisierung gab zugleich Aufschluss über die spezifische Zielstruktur der Praktik und damit verbundene Motive und Orientierungen der menschlichen Akteure. Diesen Zusammenhang will ich an einem weiteren Beispiel veranschaulichen. In dem schon genannten Arbeitsort Atelier wurde neben dem Visuellen auch die Erfahrung der physischen Begrenzung herausgestellt.17 Die wörtliche Beschreibung des „Raumes als Grenze“ steht dabei im Kontext des Bearbeitens unterschiedlicher Bildformate und zielt auf die praktikimmanente Anforderung, das richtige Verhältnis zwischen Bildformat und Ateliergröße – zwischen „meiner […] Kantenlänge“ (der Leinwand) und „meiner Diagonale“ (des Türblattes) – zu finden. Schließlich ist diese Verhältnisbestimmung essenziell, um dem Bildformat entsprechend ausreichend Bewegungsfreiheit vor der Staffelei bzw. vor dem Bild zu gewährleisten. Die empirische Begründung für die Auswahl des Ateliers veranschaulicht, dass die Erfahrung der physischen Begrenzung (oder eben auch des Gegenteils: „dass mir der Raum gereicht hat“) eine Konstruktion der Praxis ist, denn er hat gereicht, weil der oder die Künstlerin nur im kleinen und mittleren Format arbeitet. Unter diesen Umständen zeigt sich die Umgebung kooperativ. Unter anderen Umständen jedoch (nämlich bei größeren Formaten) erfahren die Kunstschaffenden in ihren Ateliers eine physische Begrenzung, meist in Gestalt der Wand, die ihnen das Malen an der Staffelei regelrecht aufzwingt. Es ist erst diese Praktik und ihre immanente Ordnung – dass sich abwechselnde Produzieren und Betrachten des Bildausschnitts – die die Begegnung der Kunstschaffenden mit den physischen Grenzen ihrer Ateliers in dieser Weise herausfordert. Anstatt als architektonische Erfahrungen ließen sich diese Zuschreibungen und Wahrnehmungen des Arbeitsortes auch als Umgebungsqualitäten bezeichnen. Denn nichts Anderes zeigt sich letztlich: Die gebaute Umgebung begegnet den Arbeitenden in (Erfahrungs-)Qualitäten des „wechselseitigen Verkehrs und Brauches“ (Dewey 1995, S. 31) im Kontext einer Praktik. Damit nähert sich die Terminologie jenem Interesse an Architektur an, wie es etwa die klassische Arbeitssoziologie am Rande konzeptualisiert, indem „Umweltfaktoren“ von Arbeit wie Licht, Luft und Temperatur (vgl. Littek et al. 1982, S. 103) berücksichtigt werden. Aber auch die Anfänge einer Architekturtheorie um 1968, die als „Umwelttheorie“ zu lesen wäre (vgl. Kamleithner 2018), beschreiben eine ähnliche Stoßrichtung der Theoretisierung architektonischen Wissens: Der Gebrauch und die damit verbundene sinnliche Wahrnehmung der Umwelt bestimmen, was unter Architektur zu verstehen sei. Hans Hollein (1968) spricht konkret von „Raumqualitäten“, die fortan an Bedeutung gewinnen würden, wenn es darum gehe, Architektur sowohl zu beschreiben als auch zu bauen: „Räume 17Die

folgende Erläuterung lehnt an die Ausführungen in Neubert 2018, S. 179ff. an.

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werden deshalb weit bewusster etwa haptische, optische und akustische Qualitäten besitzen, Informationseffekte beinhalten, wie auch sentimentalen Bedürfnissen direkt entsprechen können.“ Hinter der Programmatik von damals steckt im Grunde eine anthropologisch und kulturell fundierte Vorstellung von Architektur als „Medium des Sozialen“ (Delitz 2010), die davon ausgeht, dass der architektonische (Erfahrungs-)Gegenstand in engster Verbindung zu dem steht, ja daraus folgt, wie Menschen wahrnehmen und in welchen Kontexten sie praktisch tätig werden. Reden über bzw. Entwerfen und Bauen von Architektur ohne Einbezug des Menschen entbehrt fortan jeder Grundlage. Holleins Statements Alle sind Architekten und Alles ist Architektur verlautbaren die explizite Aufforderung zur Verankerung jenes architekturtheoretischen Wissens der 1960er Jahre in der Lebenswelt. Eine alltags- bzw. wissenssoziologisch informierte Architekturtheorie der Alltagswelt treibt dies weiter, und zwar in wissenstheoretischer und methodologischer Hinsicht. Ihre Programmatik liegt in der empirischen Systematisierung dieses architektonischen Wissens einerseits (etwa durch ethnografische Studien) sowie in der systematischen Verankerung dieses Wissens in der Alltagswelt andererseits (Konstruktionen 2. Grades beruhen auf Konstruktionen 1. Grades). Architektur ist dann das sozial wirksame, intersubjektiv verhandelte Konglomerat kulturell-sozialer Abstraktionen, Typisierungen, Verallgemeinerungen, kurz: eine soziale und damit eine konstruierte – eine gleichsam kontingente – Tatsache, die kognitiv-körperlich-leiblich gewusst wird. Damit ist zugleich auch veränderbar und zukunftsoffen, wohin sich Architektur und architektonisches Wissen entwickelt. Die Frage nach der zukünftigen Architektur kann somit vor allem als Frage nach dem zukünftigen Menschen und seinen Praktiken (inklusive Werten, Vorstellungen, Ideen, Affekten, Zielen etc.) verhandelt werden.

3.2 Ethnografie für Architektinnen und Architekten Für die architektonische Praxis ergibt sich daraus die Aufforderung, eine gewisse Neugier für Menschen und ihre Praktiken zu entwickeln. In Vorbereitung des Entwurfs sollte es bestenfalls nicht nur um das Verständnis der städtebaulichen oder funktionalen Situation gehen, in die hinein entworfen und gebaut werden soll, sondern es braucht eine tiefere Durchdringung dieses Verständnisses, indem Was-Fragen durch Wie-Fragen erweitert werden. Es muss in Erfahrung gebracht werden, nicht nur welche Funktionen benötigt werden, sondern auch warum und inwiefern diese Funktionen Sinn machen? Für welche Praktiken soll hier entworfen werden? Wie laufen die Dinge hier ab?

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Einen methodisch abgesicherten Weg, sich über das, was ‚draußen‘ – auf der Straße, in den Büros, in Wohnblöcken und öffentlichen Einrichtungen – wie vor sich geht, bewusst zu werden, bietet die Ethnografie. In der ethnografischen Forschungshaltung wenden wir uns in künstlicher Distanz den Praktiken des Alltags zu, um sie so erst in ihrer inneren Logik, ihrer Ordnung und Zielstellung verstehen zu können. Entsprechend der methodologischen Anbindung an die Alltagssoziologie wird davon ausgegangen, dass das zu Beforschende nicht notwendigerweise das Unvertraute ist, sondern im Gegenteil oft gerade das „Allzuvertraute“ (Breidenstein et al. 2013, S. 31). Es steht die Maxime im Vordergrund, sich die eigene, vertraute Kultur fremd zu machen. Damit steht jener Erfahrungsbereich, in dem die architektonische Umgebung Teil des „selbstverständlich Hingenommene[n] einer Kultur“ (Hirschauer und Amman 1997, S. 12) ist – Teil von Alltag und Alltagswissen also – im Zentrum des Interesses. „Architekten müssen aufhören, nur in Materialen zu denken“ (Hollein 1968). Es steht außer Frage, dass Architekturschaffende in der Praxis kaum Zeit und Geld haben, diesen Schritt der Wissensgenerierung in der Lebenswelt zwischenzuschalten. Weder lassen dies das Büro noch die Curricula der bestehenden Architekturausbildung zu.18 Zu fragen wäre indes aber, ob es hier nicht einer Veränderung bedarf. Denkbar wären etwa Wahlmodule, die im Master Architektur in die ethnografische Forschungshaltung einführen. Entwurfsprojektbegleitend könnte man sich dann tiefer und systematischer der Bauaufgabe als lebensweltlich situiertes ‚Problem‘ (Schütz) widmen. Teilnehmende Beobachtungen am Ort des Geschehens und Erfahrungen am eigenen Leib könnten angehende Entwerfer in ihrer Wahrnehmung sozialer Situationen und sozialer Praktiken sensibilisieren und Fragen darüber generieren, was denn eigentlich hier von den Menschen über (ihre) Architektur alltagsweltlich gewusst wird? Das heißt: Wie erfahren sie die gebaute Umgebung, wann wirkt sie störend, wann fällt sie auf, wann nicht, welche Praktiken kommen hier zur Entfaltung? Mit diesem Alltagswissen ließe sich dann weiterarbeiten, etwa indem bestehende Bautypologien und Raster situativ überdacht und angepasst werden oder entwerferische Entscheidungen in ihrer Orientierung am Alltagswissen über Architektur offengelegt und reflektiert werden. Letztendlich spielte diese

18Zu

leisten wäre das allenfalls in Zusammenarbeit mit Soziologinnen, deren strukturelle Einbindung in die Lehre und praktische Tätigkeit der Architektur ohnehin anzustreben ist. Es wird seit langem, etwa im Netzwerk Architekturwissenschaft, wissenschaftlich interdisziplinär und fundiert diskutiert, inwiefern ein solches, transdisziplinäres Verständnis architektonischer Praxis zu einer nachhaltigeren gebauten Umgebung beitragen kann.

Architektur für Jedermann ...

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e­ thnografische Praxis wiederum in die Karten einer sowohl programmatischen als auch in der Alltagswelt standhaften Theorie der Architektur, die davon profitierte, dass man weniger über ästhetische Haltungen stritte und hingegen mehr miteinander über architektonisches Wissen diskutierte.

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Herausforderung Lebenswelt. Zur Diskussion über die Grundlage einer architekturwissenschaftlichen Forschung Sebastian Feldhusen Ziel dieses Beitrags ist es, eine Forschungsperspektive zur Wirkung von Räumen auf den Menschen anzudeuten, in der die Lebenswelt als Quelle und Rechtfertigungsinstanz der Erkenntnis aufgefasst wird. Der Weg zu dieser Perspektive führt von einem Konzept der Lebenswelt zu einem Konzept der Erfahrung, vor dessen Hintergrund ein Raum exemplarisch untersucht wird.

1 Lebenswelt und Architektur1 Der Begriff Lebenswelt wird in der Entwurfspraxis kaum verwendet. Daraus ist nicht zu schließen, dass Entwerfende das Konzept geringschätzen, das mit dem Begriff bezeichnet wird. Es sagt nur, dass der Begriff in Gesprächen über Entwürfe keine nennenswerte Rolle spielt.2 Häufiger fällt der Begriff in Texten, Podiumsgesprächen oder Vorträgen, die einen Austausch mit Nichtfachleuten suchen (zum Beispiel Bundesstiftung Baukultur 2018). Im architekturwissenschaftlichen Bereich wird der Begriff auch verwendet, aber selten zum Thema 1„Architektur“

meint hier nicht nur Hochbauarchitektur, sondern zum Beispiel auch Landschaftsarchitektur und Städtebau. 2Hierfür kann ich keine schriftlichen Belege anführen. Meine Einschätzung resultiert aus Gesprächen mit Studierenden und Kolleginnen und Kollegen in den letzten zehn Jahren. S. Feldhusen (*)  Technische Universität Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Berr und A. Hahn (Hrsg.), Interdisziplinäre Architektur-Wissenschaft, Interdisziplinäre Architektur-Wissenschaft: Praxis – Theorie – Methodologie – Forschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29634-6_7

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S. Feldhusen

gemacht (Ausnahmen sind z. B. Hahn 2017, S. 241–268, Hahn 2018 und Berr 2018). Mein Eindruck ist, dass es auf diesen drei Ebenen mehr oder weniger dasselbe Verständnis von Lebenswelt gibt: Lebenswelt als Alltag. In der Regel wird das Konzept der Lebenswelt im Sinne von Alltag im Rahmen einer Kritik an der Architektur in den Diskurs eingebracht, beispielsweise indem Entwerfende dafür kritisiert werden, die alltäglichen Bedürfnisse der Nutzerinnen und Nutzer von Architektur zu vernachlässigen (s. etwa Körner 2001). Das Konzept spielt aber auch dann eine Rolle, wenn kritisiert wird, dass zu viele Architekturen auf die visuelle Wahrnehmung abgestimmt sind, obwohl Menschen im Alltag Architektur multisensorisch wahrnehmen (z. B. Pallasmaa 2013 [1996]). Ebenso kommt das Konzept in der Kritik an der Berichterstattung über Architektur zum Tragen. Dabei wird davon ausgegangen, dass sich in Fachzeitschriften und auch im Feuilleton der Tageszeitungen zu oft mit der Architektur von bekannten Architektinnen und Architekten beschäftigt wird. Dieser letzte Punkt wird häufig als problematisch herausgestellt, weil bekannte Architekturbüros nur wenige Architekturen realisieren – gemessen an der Anzahl der gesamten Architekturproduktion. Hierzu gehört auch die Einsicht, dass sich viele Menschen die meiste Zeit ihres Lebens in einer Architektur aufhalten, die im Diskurs keine Rolle spielt (s. zu dieser Problematik z. B. Petrow 2007). Diese drei Formen der Kritik sind aus meiner Sicht im Groben berechtigt. Warum sollte man auch dagegen sein, alltägliche Bedürfnisse von Nutzerinnen und Nutzern ernst zu nehmen, Architektur so zu gestalten, dass sie möglichst viele Sinne anspricht und den Fokus der Berichterstattung nicht nur auf prominente Architekturen zu richten? Ich sehe aber die Gefahr, dass eine solche Kritik radikalisiert wird. Damit meine ich zum Beispiel, dass der ­Lebenswelt-Begriff auch dafür verwendet werden könnte, um für ein vermeintlich ursprüngliches und deshalb qualitätsvolles Leben einzutreten. So könnte zum Beispiel Martin Heideggers Bauen Wohnen Denken (1952) als ein Plädoyer für ein solches Leben in einer Schwarzwaldhütte gelesen werden, obwohl er selbst erwähnt, dass man nicht zu einem „gewesenen Wohnen“ zurückgehen könne (Heidegger 2000 [1952], S. 47). In Otto Friedrich Bollnows Mensch und Raum (1963), Christian Norberg-Schulz‘ Genius Loci (1979) und Juhani Pallasmaas Augen der Haut (1996) finden sich auch Textstellen, die in dieser Hinsicht radikalisiert werden könnten (Bollnow 2010 [1963], Norberg-Schulz 1991 [1979], Pallasmaa 2013 [1996]). Allgemeiner formuliert: Das Konzept der Lebenswelt als Alltag wird aus meiner Sicht zu radikal, wenn es auf einen Idealzustand hinausläuft, dessen Kern in einem ursprünglichen Leben gesucht wird. Aber ist die Lebenswelt nicht auch eine Welt der widersprüchlichen und auch überraschenden Gegenwart, die sich nicht aus einem Ursprung ableiten lässt?

Herausforderung Lebenswelt …

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Müssten diese Widersprüchlichkeiten und Überraschungen nicht als Rationalitäten eigenen Rechts aufgefasst und bei der Diskussion über das Konzept der Lebenswelt bedacht werden?

2 Lebenswelt bei Edmund Husserl Zur Erinnerung: Wer heute im architekturwissenschaftlichen Bereich von Lebenswelt spricht, denkt vermutlich an Konzepte besonders von Alfred Schütz, Thomas Luckmann und Peter Ludwig Berger (Berger und Luckmann 1974 [1966] sowie Schütz und Luckmann 1979 und 1984). Der Begriff Lebenswelt ist aber besonders mit Edmund Husserl verbunden. Er war zwar nicht der erste Autor, der den Begriff verwendete (vgl. Fellmann 2015 [2006], S. 133–136), aber er war der erste Autor, der den Begriff im ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts zum Thema machte und dabei so prägte, dass viele Autorinnen und Autoren zu eigenen Lebenswelt-Konzepten angeregt wurden, auch die oben genannten Autoren. Ich beschränke mich im Folgenden auf wenige Merkmale Husserls Konzept der Lebenswelt, das umfangreich kommentiert wurde (zur ersten Orientierung Janssen 1980; Eden 2004; Bermes 2017). Was versteht er unter Lebenswelt? Die Antwort lautet: Die Welt, die Menschen mit allen Sinnen erfahren – vor jeder Art von wissenschaftlicher Verallgemeinerung zum Beispiel in Form von Modellen oder Theorien. Das ist eine grobe Definition der Lebenswelt bei Husserl, die ich noch weiter ausdifferenzieren werde. Der Autor verwendet den Begriff der Lebenswelt in mehreren Schriften, er drückt den gleichen oder einen ähnlichen Sachverhalt zuvor auch mit anderen Begriffen aus (vgl. Husserl 1954 [1936]).3 Zum Thema wird der Begriff erst in Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, kurz Krisis genannt, vornehmlich im dritten Teil dieses Buchs (Husserl 1954 [1936], S. 105–276), das 1954 posthum herausgeben wurde.4

3Alternative

Begriffe sind zum Beispiel die „vorgegebene Erfahrungswelt“ (etwa S. 120, 145, 208, in sprachlichen Varianten passim) oder die „alltägliche Erfahrungswelt“ (etwa S. 99, in sprachlichen Varianten passim). Vgl. auch Orth 1999, S. 136–141. 4Teile dieses Buchs erschienen zuerst 1936, zwei Jahre vor Husserls Tod. Erweiterte Fassungen wurden 1954 und 1993 herausgegeben. Zur Entstehung des Buchs siehe Orth 1999, besonders S. 9–12. Ich zitiere aus Band 6, der 1954 in Husserls gesammelten Werken, die Husserliana, von Walter Biemel herausgeben wurde. Die Bände werden in der Zitation zumeist mit dem Sigel „Hua“ angegeben, ich schreibe „Husserl 1954 [1936]“,

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Was meint Husserl, wenn er von der Krise der Wissenschaft spricht? Im Titel des Buchs ist von einer Krise der Wissenschaft die Rede, wobei der Autor besonders die positiven Wissenschaften im Blick hat (vgl. Zahavi 2009 [2003], S. 132). Worin besteht diese Krise? Husserl geht davon aus, dass Forschende zuweilen vergessen, dass ihre Arbeit durch die vorwissenschaftliche Welt beeinflusst wird, in der es stets relativ zugeht. Etwas sei einem Menschen zum Beispiel immer in einer bestimmten Weise gegeben, kein Gegenstand sei nur in einer für alle Menschen gleichen Weise da. Dieser Gedanke entspricht, grob gesagt, Husserls Konzept der Intentionalität (vgl. Husserl 1901). Solange diese Sachlage bewusst oder unbewusst übergangen werde, befinde sich die Wissenschaft in einer Krise. Das Wort „Krise“ bezeichnet hier also eine Entwicklung, deren Voraussetzungen nicht berücksichtigt werden. Dan Zahavi formuliert es so: „Eine Krise zeigt sich nicht nur in dramatischen Zusammenbrüchen, sondern auch in einer gut funktionierenden Gedankenlosigkeit“ (Zahavi 2009 [2003]. S. 132). Ich kann nicht beurteilen, ob dieser Befund für die positive Wissenschaft im Allgemeinen im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts und auch heute in dieser Form gerechtfertigt ist. Das heißt aber nicht, dass Husserls Untersuchung der Lebenswelt damals oder heute überflüssig wäre. Denn seine Untersuchung erinnert daran, dass man bei einer wissenschaftlichen Arbeit in der Tat leicht übersieht, dass das Leben nicht vor Büro oder Labor Halt macht, sondern dass es in jeder wissenschaftlichen Arbeit mitschwingt, sei ihr Anspruch auf Objektivität auch noch so groß. Ein einfaches Beispiel: In einer wissenschaftlichen Arbeit müssen Messergebnisse an Instrumenten bewertet werden. Hinzukommt, dass diese Bewertungen meistens im sprachlichen Austausch mit Kolleginnen und Kollegen entstehen. Gerade hier spielen subjektive Aspekte eine Rolle. Das drückt sich bis heute in der Redewendung „Interpretation von Messergebnissen“ aus. Husserl argumentiert also nicht gegen die Wissenschaft oder gegen ihre Verallgemeinerungen wie Modelle oder Theorien, sondern er erinnert daran, dass Modelle und Theorien auf einem „Geltungsboden“ (etwa Husserl 1954 [1936], S. 124) namens Lebenswelt formuliert werden – und demnach auch den ­ Voraussetzungen dieser Lebenswelt unterliegen. Wenn Forschende

auch wenn es ungenau ist, weil es sich um zwei Bücher mit unterschiedlichem Umfang handelt, die 1936 und 1954 veröffentlicht wurden. Der vollständige Titel des Bandes lautet: Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie.

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diese ­Voraussetzungen als belanglos abtun oder vergessen, dann befinde sich die Wissenschaft in der Krise. Was versteht Husserl unter Lebenswelt? Bis jetzt wurde die Lebenswelt als vorwissenschaftliche Welt definiert. Diese Definition soll vorerst bestehen bleiben, weil mit ihr einige Aspekte des Konzepts erläutert werden können, die meines Erachtens mehr oder weniger unstrittig sind.5 Erstens: Die Lebenswelt kann vom Menschen nicht hintergangen werden. Das bedeutet auch, dass Menschen der Lebenswelt ausgesetzt sind – in dem Sinne, dass die Lebenswelt das Leben nicht bestimmt, aber es prägt. Zweitens: Die Lebenswelt ist eine Welt der relativen Wahrheiten (womit nicht alternative Wahrheiten gemeint sind). Es gibt in der Lebenswelt zwar auch sogenannte objektive Wahrheiten, aber diese sind nur objektiv im Verhältnis zu einem durch relative Wahrheiten organisierten Umfeld. Drittens: Wenn die Lebenswelt wissenschaftlich untersucht werden soll, bedarf es einer methodischen Vergewisserung. Elemente dieser Vergewisserung sind bei Husserl „Epoché“ und „Reduktion“ (zum Einstieg etwa Husserl 1954 [1936], S. 154–163).6 Kurz gesagt: Die Epoché bezeichnet der Autor als eine Art „Eingangstor“ (Husserl 1954 [1936], S. 260), um Erkenntnis zu erlangen. Die Epoché ist nach seiner Meinung notwendig, weil der Mensch im Alltag eine „natürliche Einstellung“ (Husserl 1954 [1936], S. 261) hat, die nicht darauf aus ist, sich Gedanken über das Verhältnis von Menschen und Dingen zu machen. Die Epoché bezeichnet also den Wechsel von einer alltäglichen zu einer wissenschaftlichen Einstellungsweise. Ist dieser Wechsel vollzogen, beginnt nach Husserl die eigentliche Forschungsarbeit, die sich in einer „konkreten, höchst diffizilen und differenzierten Arbeit“ ausdrückt, die er Reduktion nennt. Epoché und Reduktion können als methodische Elemente in diesem Lebenswelt-Konzept verstanden werden, sodass sich Forschende der Beziehung zum Untersuchungsgegenstand bewusst werden. Die eher unstrittigen Punkte sind also zusammenfassend: Die Lebenswelt kann nicht hintergangen werden, und sie ist eine Welt der relativen Wahrheiten. Außerdem bedarf es einer bestimmten Einstellung der

5Gemessen

an der Sekundärliteratur, die ich zu diesem Thema konsultiert habe. Bei der Auswahl der Sekundärliteratur habe ich darauf geachtet, dass sie von Autoren mit verschiedenen Interessenslagen und aus verschiedenen Zeiten (zwischen 1985 und 2015) stammen, aber primär in das Konzept der Lebenswelt einführen: Waldenfels 2005 [1985], S. 15–55, Waldenfels 1992, S. 35–40, Held 2007 [1986], Möckel 1998 [1998], S. 213–316, Orth 1999, S. 106–144, Zahavi 2009 [2003], S. 131–139, Fellmann 2015 [2006], S. 131–150. 6Husserl verwendet die Begriffe in Krisis zum Teil auch synonym.

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Forschenden, um die Lebenswelt untersuchen zu können. Im Folgenden geht es um Aspekte des Konzepts, die im Diskurs eher strittig sind.7 Die Aspekte werden anhand von zwei Fragen erläutert: Gibt es eine oder mehrere Lebenswelten? Ist die Lebenswelt individuell oder überindividuell? Zur ersten Frage: Bis zu dieser Textstelle wurde die Lebenswelt als vorwissenschaftliche Welt definiert. Nun wird diese Definition verfeinert. Nach Bernhard Waldenfels sollte man bei Husserl zwischen einer Lebenswelt im „weiteren Sinne“ und einer Lebenswelt im „engeren Sinne“ unterscheiden (Waldenfels 2005 [1985], S. 23). Unter der Lebenswelt im weiteren Sinne könne die Welt der „sozialen Lebenskreise“ verstanden werden, die sich von Mensch zu Mensch oder von Menschengruppe zu Menschengruppe unterscheiden (Waldenfels 2005 [1985], S. 23).8 Folgt man diesem Verständnis, gibt es so viele Lebenswelten, wie es Menschen oder Menschengruppen gibt (Fellmann 2015 [2006], S. 145).9 Lebenswelt in diesem weiteren Sinne ist nach Husserl eine „für uns jeweils […] geltende“ Welt, die es nur in der Mehrzahl gibt (Husserl 1954 [1936], S. 146). Diese Position wird heute von vielen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern im geisteswissenschaftlichen Bereich mit unterschiedlicher Intensität vertreten, besonders in Konzepten konstruktivistischer oder perspektivistischer Spielart. Nun zur Lebenswelt im engeren Sinne. Husserl vertritt die Position, dass es auch überindividuelle Voraussetzungen gibt, die das Leben zwar nicht bestimmen, aber es prägen. Diese Voraussetzungen würden für alle Menschen und Menschengruppen gelten – wie unterschiedlich die Lebenswelten im weiteren Sinne auch sind. Diese überindividuelle Lebenswelt bezeichnet Ferdinand Fellmann als „Erfahrungsmodalität“ (Fellmann 2015 [2006], S. 145), im architekturwissenschaftlichen Bereich spricht Eduard Führ von einem „Archimedium“ (Führ 2014). Husserl selbst bezeichnet diese Lebenswelt auch als „Welthorizont“ (Husserl 1954 [1936], S. 141). In diesem Sinne gibt es also Voraussetzungen, die alle Menschen betreffen. Die Welt hat nach Husserl eine „allgemeine Struktur, an die alles relativ Seiende gebunden ist“, aber diese Struktur ist „nicht selbst relativ“ (Husserl 1954 [1936]: S. 142). Deshalb könnten Menschen diese Struktur zwar manipulieren,

7Wiederum

gemessen an der konsultierten Sekundärliteratur, siehe Fußnote 5. Husserl wird dieser Sachverhalt zum Beispiel so ausgedrückt: „Aber wenn wir in einen fremden Verkehrskreis verschlagen werden, zu den Negern am Kongo, zu chinesischen Bauern usw., dann stoßen wir darauf, daß ihre Wahrheiten, die für sie feststehenden allgemein bewährten und zu bewährenden Tatsachen, keineswegs die unseren sind.“ (Husserl 1954 [1936], S. 141). Ich distanziere mich von der Verwendung des Begriffs »Neger«. 9Fellmann spricht von „Kulturen“, ich deute das als Menschengruppe und als einzelnen Menschen. 8Bei

Herausforderung Lebenswelt …

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aber nicht abschaffen. Die Lebenswelt in diesem Verständnis gebe es also nur in einer „Einzigkeit, für die der Plural sinnlos“ sei (Husserl 1954 [1936], S. 146). Der Zusammenhang zwischen der Lebenswelt im engeren und weiteren Sinne könnte man auch so beschreiben: Individuelle Lebenswelten verwirklichen sich im Modus einer überindividuellen Lebenswelt (vgl. Orth 1999, S. 121). Damit ist auch die zweite Frage beantwortet, ob die Lebenswelt nach Husserl individuell oder überindividuell ist. Die Lebenswelt im weiteren Sinne ist individuell. Diese Individualität kann sich auf Menschengruppen, aber auch auf einen einzigen Menschen beziehen. Die Lebenswelt im engeren Sinne ist hingegen überindividuell – und zwar in dem genannten Sinne, dass diese Lebenswelt Bedingungen unterliegt, die nicht abgeschafft werden können. Das ist einleuchtend, denn es ist ja zum Beispiel nicht möglich, dass ein physisches Ding gleichzeitig von allen Seiten wahrgenommen werden kann. Man kann versuchen, die Wahrnehmung zu manipulieren, aber stets wird man in einem Moment nur eine bestimmte Perspektive auf das Ding einnehmen. Und diesen Voraussetzungen unterliegen alle Menschen, unabhängig von ihrer individuellen Lebenswelt, der Lebenswelt im weiteren Sinne. Bis zu dieser Stelle wurde beschrieben, dass nach Husserl jeder Mensch oder jede Menschengruppe zwar seine oder ihre Lebenswelt hat, alle Lebenswelten aber gleichen Voraussetzungen unterliegen. Wie können diese Einsichten für die Untersuchung der Wirkung von Räumen berücksichtigt werden? Die Beschäftigung mit der Lebenswelt erinnert daran, dass es bei dem ­Lebenswelt-Konzept auch darum geht, eine möglichst treffsichere Einschätzung der Weise zu gewinnen, wie Menschen etwas erfahren.

3 Lebensweltliche Erfahrung Erfahrung fällt einem Menschen nicht einfach zu. Vielmehr entsteht sie aus einem „Antworten“ auf einen „Anspruch“, wie Waldenfels formuliert.10 Was ist mit Anspruch gemeint? Eine Erfahrung11 beginne damit, dass einem Menschen etwa

10Der

Autor entwickelt seine Analyse in mehreren Schriften, zum Beispiel in Antwortregister (2007 [1994]) und Bruchlinien der Erfahrung (2002). In das Thema führt Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden (2006) ein. Der letzte Titel deutet bereits darauf hin, dass Waldenfels’ Konzept der Erfahrung vor dem Hintergrund seiner Arbeiten zum Fremden zu diskutieren ist; darauf kann hier nicht eingegangen werden. Ich beschränke mich hier auf die Begriffe „Antwort“ und „Anspruch“, obwohl der Autor eine umfangreichere Terminologie entwickelt. 11Waldenfels verwendet die Begriffe „Erfahren“, „Erleben“ und „Verhalten“ aus meiner Sicht synonym, siehe etwa Waldenfels 2019, S. 255–261.

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auffällt oder einfällt, dass etwas auftritt oder eintritt – um nur einige Beispiele dafür zu nennen, dass jede Erfahrung von etwas angeregt würde, das nicht dem erfahrenden Menschen selbst entstammt. Erfahrung setze also eine „Widerfahrnis“ voraus, ein „Pathos“. Was ist mit Antwort gemeint? Sie sei die Resonanz des erfahrenden Menschen auf das Pathos. Waldenfels bezeichnet sie als „Respons“. Pathos und Respons prägten das Geschehen, das Erfahrung heißt. Eine Erfahrung entspringt nach Meinung des Autors also einem ­Antwort-Anspruch-Geschehen.12 Responsivität Indem Waldenfels das Antwort-Anspruch-Geschehen beschreibt, entwickelt er ein Konzept der Erfahrung. Er nennt es „Responsivität“ oder „Antwortlichkeit“ (Waldenfels 2007 [1994], S. 320). Es umfasst nach seiner Auffassung alle Erfahrungen. Das bekräftigt der Autor, indem er die Reichweite der Erfahrungen, die er der Responsivität einräumt, mit den Reichweiten der Erfahrungen vergleicht, die das Konzept der Intentionalität (Edmund Husserl) und das Konzept der Kommunikativität (Jürgen Habermas) beanspruchen (vgl. Waldenfels 2007 [1994], S. 327–332). Die Responsivität gilt nach Waldenfels also nicht nur für Erfahrungen, die mittels der Sprache in einem Gespräch gewonnen werden. Um diesen Gedanken plausibel zu machen, dehnt der Autor den Begriff „Antworten“ aus. Er unterscheidet zwischen vier verschiedenen Formen von Antworten: im engsten, erweiterten, weiten und allerweitesten Sinne. Antworten im engsten Sinne meint ein sprachliches Antworten auf eine sprachliche Frage. Unter dem Antworten im erweiterten Sinne versteht Waldenfels ein sprachliches Antworten auf eine sprachliche Frage, wobei er darunter zwei Varianten von Antworten unterscheidet: Ein Antworten, das die Frage erfüllt „(answer)“ und ein Antworten in Form einer Gegenfrage „(response, reply)“ (Waldenfels 2007 [1994], S. 320–321). Bis zu diesem Punkt geht es um sprachliches Fragen und sprachliches Antworten. Dieses Verständnis von Antworten entspricht dem Verständnis von Antworten in der Alltagssprache. Eine Antwort müsse aber nicht nur sprachlich sein; auf eine sprachliche Frage könne auch nichtsprachlich geantwortet werden. Dieser Gedanke ist nachvollziehbar, denkt man zum Beispiel an eine sprachliche Frage, die nur durch eine Geste beantwortet wird. Ein solches Antworten bezeichnet Waldenfels als Antwort im weiten Sinne. Unter dem Antworten im allerweitesten Sinne versteht der Autor schließlich jedes „vor- und außersprachliches Ausdrucksverhalten”

12Waldenfels

verwendet auch den Begriff „Ereignis“ (etwa Waldenfels 2007 [1994], S. 320). Ich verwende hier den Begriff „Geschehen“, weil er in der Architektur unverfänglicher ist als der Begriff „Ereignis“.

Herausforderung Lebenswelt …

143

(Waldenfels 2007 [1994], S. 322). Er v­ ersteht also auch das Handeln als Antworten. Dieses Antwort-Verständnis ist für das Nachdenken über Architektur besonders von Interesse, sofern davon ausgegangen wird, dass Architektur in der Regel nicht nur sehend, sondern handelnd begegnet wird. In diesem Sinne müsse der Mensch überall und immerzu antworten, denn auch ein Schweigen sei eine Antwort. Antworten ist in diesem Konzept also unumgänglich, der Mensch wird als „Homo respondens“ (Waldenfels 2015, S.  15–16) verstanden. Diese Sachlage unterläge einer „Unausweichlichkeit“. Dabei handele es sich um eine „ne-cessitudo [sic] im wörtlichen Sinne, die sich nach Meinung Waldenfels nicht aus allgemeinen Gesetzen ableitet, sondern als praktische Notwendigkeit zu den unumgänglichen Voraussetzungen unserer w ­eltlich-sozialen Existenz gehört“ (Waldenfels 2006, S.  63). Der Autor formuliert es noch eindeutiger: „In seiner Radikalität gleicht der fremde Anspruch traditionellen Instanzen wie Glücksstreben, Selbsterhaltungstrieb, kategorischer Imperativ und Freiheit, die – wenn es sie gibt – allesamt nicht zur Wahl stehen und sie allesamt einem Berechtigungsnachweis entziehen.“ Auf diese Sachlage könne man sich „nur einlassen, oder man kann sich ihnen entziehen; austilgen kann man sie so wenig wie die Luft, die wir atmen“ (Waldenfels 2006, S. 64). Dieses und das was Waldenfels mit den „Voraussetzungen unserer weltlich-sozialen Existenz“ nennt, bezieht sich auf Husserls Lebenswelt im ­ engeren Sinne,13 die er, wie erwähnt, auch als „Welthorizont“ bezeichnet. Mit der Unausweichlichkeit hat Waldenfels ein Merkmal benannt, das jede Erfahrung präge. Er erwähnt noch weitere Merkmale, die er zusammen als eine „Antwortlogik“ (Waldenfels 2007 [1994], S. 334) bezeichnet. Waldenfels argumentiert also, dass es so etwas wie Gesetzmäßigkeit (er verwendet diesen Begriff nicht) gibt, die auf alle Erfahrungen zutrifft.14 Die Unausweichlichkeit ist eine dieser Gesetzmäßigkeiten, ein Merkmal dieser Antwortlogik. Der Autor führt weitere Merkmale an, ich beschränke mich hier auf die Merkmale, die er unter den Begriffen „Hiatus“ und „Diastase“ beschreibt.15

13Das belegt zum Beispiel auch: „Der fragliche Spalt [Hiatus, SF] ist für das Widerfahrnis ebenso konstitutiv wie die Perspektive für die Wahrnehmung, von der Husserl sagt, daß selbst ein wahrnehmender Gott ihr unterläge.“ (Waldenfels 2006, S. 50). 14Wobei Waldenfels hervorhebt, dass sich diese Antwortlogik „immer wieder an der Sache selbst erweisen“ muss (Waldenfels 2007 [1994], S. 336). 15Waldenfels erwähnt noch weitere Momente, zum Beispiel unter den Stichworten Singularität, Asymmetrie und Überschuss. Darauf kann hier nicht eingegangen werden.

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S. Feldhusen

Hiatus: Waldenfels geht davon aus, dass Antwort und Anspruch zwei „Instanzen“ sind, zwischen denen etwas geschieht. Diese zwei Instanzen seien aber nicht zwei isolierte Bereiche, vielmehr gebe es zwischen ihnen einen „Hiatus“, einen „Riß, Spalt, Sprung“, einen „Graben“ (Waldenfels 2007 [1994], S. 334–335). Damit versucht der Autor, einen Unterschied in einem Gemeinsamen zu beschreiben.16 Das Gemeinsame ist die Erfahrung, die dem genannten Anspruch-Antwort-Geschehen entspringt. Der Unterschied in dieser Erfahrung liegt im Anspruch und im Antworten auf den Anspruch. Waldenfels bezeichnet diese Sachlage auch als „Zueinander und Auseinander“ zwischen Antwort und Anspruch. Diese Instanzen könnten nicht mit „Subjekt“ und „Objekt“ markiert werden, weil dann schon etwas vorausgesetzt werde, das erst durch die Erfahrung entstünde (vgl. z. B. Waldenfels 2007 [1994], S. 335; Waldenfels 2006, S. 44). Dieses Argument wird durch ein weiteres Merkmal dieser Antwortlogik unterstützt, das er als „Diastase“ bezeichnet. Wie herausgestellt wurde, bringen Anspruch und Antwort gemeinsam eine Erfahrung hervor. Dabei herrscht eine unumgängliche Reihenfolge: erst der Anspruch, dann die Antwort. Waldenfels macht also auf ein zeitliches Phänomen aufmerksam, das jede Erfahrung präge. Es sei aber nicht nur ein zeitliches Phänomen, sondern auch ein räumliches: Anspruch und Antwort würden von unterschiedlichen Orten formuliert. In dieser zeitlichen und räumlichen Differenz entwickele sich aber auch erst der Unterschied zwischen Anspruch und Antwort – weder auf der Grundlage einzelner Daten, auch nicht durch eine Ausdifferenzierung eines Datenzusammenhangs. Vielmehr entstünde die Differenzierung im Prozess der Erfahrung. Instanzen würden erst im Verlauf der Erfahrung auseinandertreten, das bezeichnet der Autor als „Diastase“ (Waldenfels 2007 [1994], S. 335).17 Dazu Waldenfels: „Damit gewinnt die Diastase die eminent ­zeit-räumliche Bedeutung einer Verschiebung. Erfahrungen sind gegenüber sich selbst verschoben in Form einer Vorgänglichkeit dessen, was uns affiziert, und einer Nachträglichkeit dessen, was wir darauf antworten“ (Waldenfels 2002, S. 10). Man könnte es vielleicht auch so beschreiben, dass die Wirkung dem Erklären der Ursache vorausgeht (Vgl.

16Waldenfels

spricht auch von einem „Doppelgeschehen“ (Waldenfels 2006, S. 49). geht zurück auf das Griechische diastasis, das in deutscher Sprache unter anderem „Auseinanderstehen“ (Vetter 2004) oder „Auseinandertreten“ (Waldenfels 2002, S. 174) bedeutet.

17„Diastase“

Herausforderung Lebenswelt …

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Waldenfels 2006, S. 50). Das Konzept der Erfahrung bei Waldenfels zeigt also, dass Erfahrung nicht nur dem Willen des Menschen unterliegt, Erfahrung hängt auch von anderen Menschen und von anderen Dingen ab.

4 Wie wirken Räume? Ein Beispiel Mit diesem Verständnis von Erfahrung werde ich auszugsweise die Wirkung18 eines Raums an einem Beispiel beschreiben, an einem Raum zwischen dem Audimax und der Bibliothek des Campus der Ruhr-Universität Bochum.19 (Abb. 1). Dort gibt es eine Treppe mit einer Brücke, über die man auf eine etwa vier Meter höher gelegene Plattform gelangt (Abb. 2). Die Treppe und die Brücke werden weniger als zwei Elemente wahrgenommen, sondern mehr als ein Element, als eine Art Tor. Es trennt zwei Bereiche voneinander ab. Auf der einen Seite des Tors erstreckt sich ein Platz mit Bäumen und Sitzstufen, er wird von der Universität „Forum“ genannt (Abb. 3). Auf der anderen Seite des Tors schließt ein Platz an, der kleiner als das Forum ist. Auf diesen Platz treffen Wege aus allen Himmelsrichtungen. Wird das Forum von dieser Stelle aus wahrgenommen, (Abb. 4) wird deutlich, um welche Art von Trennung es sich handelt: Das Tor schränkt die Sicht auf das Forum so ein, dass es nicht vollständig überblickt werden kann. Trotz dieser visuellen

18Ich

beschäftige mich mit der Wirkung von sogenannten öffentlichen Freiräumen, also mit der Wirkung von Gärten, Parks, Plätzen, Promenaden, Hochschulgeländen und dergleichen. Dabei verstehe ich den Begriff „Wirkung“ anspruchslos und differenziere nicht zwischen Erfahrung, Erleben, Wahrnehmung. Um dem Begriff „Wirkung“ etwas mehr an Kontur zu verleihen, unterscheide ich ihn vom Begriff Nutzung: Räume beeinflussen Menschen, indem sie Räume für etwas nutzen – dabei müssen sie aber damit rechnen, dass Räume in der Nutzung in einer Weise wirken, die nicht ausdrücklich von einem Menschen bedacht oder gewollt wird. Räume wirken also auch auf eine unterschwellige Weise, weil man ihr im Handlungsvollzug keine Aufmerksamkeit schenkt. Diesen eher subtilen Einfluss des Raums auf den Menschen verstehe ich hier als Wirkung. Dieser Gedanke wird weiter unten genauer ausgeführt. Ich verzichte auf eine geschichtliche Darstellung, es gibt hierzu eine Fülle von Literatur, vgl. etwa im Bezug zur menschlichen Bewegung Jöchner 2004, zum Raum Kemp 2009, S. 115–166, zu Ausprägungen der Architekturphänomenologie Führ 2012, zum Städtebau Brandl 2013. 19Der Entwurf stammt vom Architekturbüro Hentrich und Petschnigg aus dem Jahr 1963. Zur Entstehung des Campus siehe H ­ oppe-Sailer und Jöchner et al. 2015.

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Abb. 1   Vereinfachter Lageplan der Ruhr-Universität Bochum. Der beschriebene Raum befindet sich zwischen Bibliothek und Audimax. (Quelle: Ruhr-Universität Bochum, Abbildung wurde vom Autor verändert)

Abb. 2   Blick auf Augenhöhe von Südost auf das Forum. (Quelle S. Feldhusen)

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Abb. 3   Blick auf Augenhöhe von Nordwest aus dem Forum heraus. (Quelle: S. Feldhusen)

Abb. 4   Blick auf Augenhöhe von Südost auf das Forum. (Quelle: S. Feldhusen)

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­ eeinträchtigung kann man ohne Hindernisse unter der Brücke hindurch auf das B Forum gehen, das Tor ist sogar so breit, dass es auch von mehreren Personen gleichzeitig passiert werden kann. Das ist auch die Regel, weil die Brücke einen Hauptweg des Campus in Nord-Süd-Ausrichtung überspannt. Die Trennung zwischen Forum und Platz wird durch den Schattenwurf des Tors unterstützt, auch wenn dieser selbst im Hochsommer nur dezent ist. Ein stärkeres Gewicht hat dagegen eine Baumreihe, die sich im Norden des Tors befindet. Tor und Baumreihe sind etwa zehn Meter voneinander entfernt, sie verlaufen parallel und versetzt zueinander. Auch hier können Personen zwischen den Bäumen hindurch blicken und gehen, weil die Bäume erhöht in Trögen gepflanzt wurden. Es wird also nicht nur etwas getrennt, sondern auch etwas verbunden. Dieses Trennen und Verbinden ist aber zugleich auch ein Schließen und Öffnen unterschiedlicher Bereiche. Schließen und Öffnen sind keine Gegensätze, ebenso wie sich Trennen und Verbinden nicht ausschließen, eher wird etwas partiell geschlossen, ohne es völlig zu öffnen. Das Trennen und Verbinden sowie Schließen und Öffnen hat weitere Folgen. Es wird auch ein Innen und ein Außen hervorgebracht, wodurch erst die zwei Bereiche entstehen. Wie ist das möglich? Das Tor wird nicht von seinen beiden hier beschriebenen Seiten als solches wahrgenommen. Vom Forum aus betrachtet, ist es weniger ein Tor, sondern mehr eine verlängerte Brüstung der höher gelegenen Plattform. Das Tor zeichnet sich also weniger deutlich von seiner Umgebung ab, weil es die Umgebung mit der Brüstung in einer größeren Einheit einschließt. Hinzukommt, dass diese Einheit als angedeutetes, sich schließendes rechteckiges Element wahrgenommen wird, welches das Forum, bildhaft gesprochen, nicht wie eine Mauer umschließt, sondern eher wie ein Vorhang umhüllt. Personen, die auf den Stufen sitzen oder liegen, sind von diesem Vorhang partiell umgeben, in jedem Fall sind sie vor dem Vorhang, der sich von dem Bereich hinter dem Vorgang unterscheidet. Diese Wirkung wird aber auch durch Elemente unterstützt, die nicht unmittelbar mit dem Vorhang dinglich verbunden sind. So verlaufen die Treppen- und Sitzstufen des Forums parallel versetzt zum Vorhang. Anders formuliert: Die Ausrichtung der Stufen entspricht der Ausrichtung der höher gelegenen Plattform. Diese Formähnlichkeiten unterschiedlicher Elemente begünstigt es, dass das Forum als eigenständiger Bereich wahrgenommen wird (Abb. 5, 6). Diese Wirkung wird auch nicht von den Informations- und Werbeschildern an den Brüstungen geschwächt, obwohl sie vermutlich nicht von den Entwerfenden so geplant wurden. Unterstützt wird diese Wirkung ausdrücklich durch den Hauptweg des Campus. Er verläuft nicht durch das Forum, sondern seitlich an ihm vorbei. Folglich ist das Forum kein Durchgangsort, sondern eher ein Aufenthaltsort.

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Abb. 5 und 6   Blick von einem erhöhten Standpunkt von Nordwest über das Forum auf das Audimax. (Quelle: S. Feldhusen)

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Abb. 7   Blick von einem erhöhten Standpunkt vom Norden über das Forum auf das Audimax. (Quelle: Ruhr-Universität Bochum, Abbildung wurde vom Autor verändert)

Als solcher wird er dadurch gestärkt, dass es in seinem Umfeld nur wenig Sitzund Liegemöglichkeiten gibt, denn auch das Sitzen oder Liegen durch andere Personen auf dem Platz tragen dazu bei, dass das Forum als Aufenthaltsort erkennbar wird (Abb. 7). Abgeschwächt wird der Aufenthalt allerdings dadurch, dass die Bäume so angeordnet sind, dass sie fast keinen Schatten für das Sitzen oder Liegen auf dem Forum spenden. Hinzukommt, dass man im Sitzen oder Liegen nur teilweise durch den Vorgang hindurch auf die Landschaft im Süden des Campus blicken kann, das würde den Aufenthalt vermutlich unterstützen. Das Tor ist ein Bauelement, das von beiden Seiten fast gleich aussieht – das wäre aber eine abstrakte Wahrnehmungsweise. Wird das Tor als Vorhang hingegen von der anderen Seite mit Blick auf das Forum wahrgenommen, nimmt man keinen Vorhang, sondern das eingangs erwähnte Tor wahr. Das liegt zum Beispiel daran, dass das Tor mit der Brüstung nicht als größere Einheit erscheint, wie es auf der anderen Seite des Tors der Fall ist. Stattdessen wirkt das Tor wie ein Eingang in das Forum bzw. ein Ausgang aus dem Forum. Je mehr Personen auf diesem Weg durch das Tor hindurch gehen, desto deutlicher tritt das Tor als

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­ ingang und ­Ausgang des Forums hervor. Die Beschreibung des Raums zeigt E also, dass Trennen und Verbinden nicht in allen Lebensbereichen Gegensätze sein müssen, auch wenn es die Verwendung dieses Begriffspaars in der Alltagssprache ­nahelegt. Merkmale des Eigensinns räumlicher Ordnungen. Das bisher Beschriebene wird nun allgemeiner betrachtet. Dabei setze ich voraus, dass diese Betrachtungen nicht nur für den Raum in Bochum gelten, sondern auch für andere Räume, wohl gemerkt für andere öffentliche Freiräume wie Gärten, Parks, Plätze, Promenaden und dergleichen. Ferner gehe ich davon aus, dass die Beschreibungen von anderen Forschenden vor Ort nachvollzogen werden könnten, was nicht ausschließt, dass die Beschreibung verändert, präzisiert oder ergänzt werden müsste. Erstens: Die Wirkung von Räumen geht über das Sehen hinaus, auch wenn meine Formulierungen einen anderen Eindruck erwecken. Wenn eine Person auf den Stufen sitzt, am Forum vorbeigeht oder bemerkt, dass der Schatten fehlt, dann wird deutlich, dass nicht nur etwas gesehen wird, sondern es werden zum Beispiel auch Distanzen zwischen Dingen und Menschen sowie die Temperatur vernommen. Räume wirken multisensorisch. Zweitens: Durch die Beschreibung des Raums sollte deutlich geworden sein, dass Menschen durch den Raum nicht überwältigt werden, der Raum versetzt den Menschen nicht in einen Zustand des Erstaunens, der Erhabenheit oder dergleichen. Das Gegenteil ist der Fall. Der Raum wirkt auf den Menschen eher unterschwellig – zum Beispiel legt es der Raum den Menschen nahe, an einer bestimmten Seite durch das Tor zu gehen oder auf der Treppe in einer bestimmten Weise zu sitzen. Tor und Treppe sind Ansprüche,20 auf die mit einer Handlung eingegangen wird, ohne dass darüber in Vollzug der Handlung ausdrücklich nachgedacht wird. Ein entscheidender Punkt dabei ist: Auch wenn Räume nur so subtil wirken, kann sich ihre Wirkung durchaus nachhaltig auf die Handlungen auswirken – aber eben unterschwellig. Räume wirken latent. Drittens: Eine Person kann zum Beispiel den Höhenunterschied mithilfe der Treppe überbrücken, aber die Treppe geht in diesem Zweck nicht auf. Zugleich ist die Treppe Teil eines Tors, das sich auf die Hervorbringung der anschließenden Bereiche auswirkt. Diese Beobachtung macht deutlich, dass es unterschiedliche Stufen von Wirkungen gibt. Es gibt Wirkungen, die fast direkt Folgen für den Menschen haben. Es gibt aber auch Wirkungen, die zuerst Folgen

20Vgl.

auch das Konzept des „Aufforderungscharackters“ von Dingen der Berliner Schule der Gestaltpsychologie, etwa Lewin 1926.

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für andere Elemente des Raums haben, die also indirekt auf den Menschen wirken. Räume wirken in verschiedenen Stufen zwischen direkt und indirekt. Viertens: Durch die Beschreibung wurde einsichtig, dass sich die Bezeichnungen von Dingen verändern. So wurde etwa ein Ding, das in einem Moment als „Tor“ bezeichnet wird, in einem anderen Moment mit „Vorhang“ präziser ausgedrückt. Das liegt an den wechselnden Perspektiven, die im Raum erfahren werden können. Wobei das Wahrgenommene tatsächlich anders ist: das Tor ist von der einen Seite eher ein Eingang oder Ausgang, von der anderen Seite eher ein Vorhang, der den Raum schließt. Das heißt aber nicht, dass das beschriebene Element alles sein kann und nur die Imaginationskraft die Grenzen setzen würde. Man könnte natürlich auch ein Schwimmbecken imaginieren (so wie man Einhörner imaginieren kann), aber das ist keine realistische Beschreibung der Erfahrung des konkreten Raums. Räume prägen in einem gewissen Rahmen unterschiedliche Identitäten von Dingen. Fünftens: Deutlich wurde durch die Beschreibung auch, dass man es bei der Untersuchung des Raums mit einem qualitativen Phänomen par excellence zu tun hat. Das wird besonders offenkundig, wenn die Begriffe versagen, um Nuancen zwischen Trennen und Verbinden zu beschreiben. Diese Nuancen drücken sich in Begriffen wie „eher“, „weniger“, „mehr“, „fast“, „stärker“ und „schwächer“ aus. Solche Relativierungen werden in journalistischen und akademischen Texten als Füllwörter getadelt, in der Beschreibung von Räumen sind sie unvermeidlich. Die Wirkung des Raums kann nicht ohne qualitative Abstriche in die Verbalsprache überführt werden. Bei allen diesen Punkten sollte deutlich werden, dass das Antworten auf einen Anspruch nicht in der Wechselwirkung von Mensch und Ding aufgeht. Auch Mitmenschen und flüchtige Phänomene wie Licht und Temperatur haben Einfluss auf die Wirkung des Raums. Diese Wirkung ist weder voll planbar, noch kann sie vollumfänglich beschrieben werden. Deshalb spreche ich vom Eigensinn des Raums, der sich zwar nicht der Planung und Beschreibung entzieht, aber mit dem in der Planung und Untersuchung zu rechnen ist, auch wenn einem das im Entwerfen und Forschen nicht gefällt.21 In diesem Sinne könnte man die soeben angesprochenen Punkte als Merkmale des Eigensinns von Räumen bezeichnen. Methodisch betrachtet ist eine Untersuchung dieses Eigensinns eine Art Wirkungsforschung. Erkenntnisse werden durch die Reflexion der eigenen Erfahrung und durch die Reflexion der Beobachtung der Handlungen anderer Menschen gewonnen. Die Beschreibung setzt bei eigentümlichen Stellen des

21Das,

was ich als Eigensinn des Raums bezeichne, überschneidet sich in einigen Punkten mit dem, was Hans Peter Hahn „Eigensinn der Dinge“ nennt (Hahn 2015).

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Raums an, an denen die Folgen auf die Wahrnehmung besonders anschaulich werden.22 Genauer ausgedrückt: Das, was beschrieben wurde, ist ein intersubjektiv wahrnehmbarer Zusammenhang zwischen Dingen, Menschen, aber auch flüchtigen Phänomenen wie Schatten und Wärme. Dieser Zusammenhang ist kein Muster, das so und nicht anders ist, sondern eine Ordnung, die sich zwar nicht völlig, aber in einem gewissen Rahmen verändern kann. Diese Ordnung kann einerseits nur zu einem gewissen Grad durch bauliche Maßnahmen hergestellt und beeinflusst werden. Andererseits wird diese Ordnung auch nicht allein durch den Willen des Menschen hervorgebracht und geprägt. Ich habe diese räumliche Ordnung weder analysiert (in ihre Bestandteile zerlegt), noch interpretiert (ihre Bedeutung herausgearbeitet), sondern eher expliziert, insofern darunter verstanden werden kann, dass eine räumliche Ordnung verdeutlicht, oder, dem lateinischen Wort explicare folgend, auseinandergefaltet wird. Demnach handelt es sich nicht um sozialwissenschaftliche Forschung, die zumeist nach der Nutzung eines Raums durch Menschen, Menschengruppen oder Gesellschaften fragt – und dabei zum Beispiel herausfinden möchte, warum ein Raum gern oder weniger gern von Menschen aufgesucht wird. Es geht aber auch nicht um eine kunstgeschichtliche Forschung, die eine Bedeutung des Raums durch dessen Interpretation herausarbeitet – und dabei das Ziel verfolgt, die singuläre Qualität eines Raums in seinem geschichtlichen Zusammenhang herauszustellen. Stattdessen geht es hier um eine Forschung, die so etwas wie ein Vermögen, eine Leistung oder Intelligenz von Räumen anschaulich macht – und dabei das Ziel verfolgt, räumliche Wirkweisen und Wirkmittel besser zu verstehen und diskutierfähig zu machen.

5 Herausforderung Lebenswelt Setzt man sich mit Husserls Konzept der Lebenswelt auseinander, wird man daran erinnert, dass der Autor zwischen einem eher individuellen und einem eher universellen Verständnis von Lebenswelt unterscheidet. Bei der soeben vorgestellten Untersuchung zur Wirkung des Raums hilft das individuelle Verständnis von Lebenswelt bedingt weiter, denn es sollte nicht untersucht werden, wie der Raum auf ein einzelnes Individuum wirkt. Deshalb wurde hier eher dem universellen Verständnis von Lebenswelt gefolgt, das von einem überindividuellen

22Anregungen

für diese Formulierung habe ich von Boehm 1996, S. 18; dort wurde die Formulierung zur Erläuterung der Ikonik Max Imdahls gewählt.

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„Welthorizont“ ausgeht.23 Aber wie kann dieses Verständnis für konkrete Untersuchungen zur Wirkung von Räumen fruchtbar gemacht werden? Hierfür scheint es mir notwendig zu sein, sich genauer mit dem zu beschäftigen, wie die Lebenswelt geprägt wird: durch Erfahrungen. Bernhard Waldenfels’ Konzept der Responsivität ist ein Konzept der Erfahrung, in der Erfahrung als ­Anspruch-Antwort-Geschehen verstanden wird. Vor diesem Hintergrund könnte eine Forschungsperspektive näher beleuchtet werden, die sich der Wirkung des Raums auf den Menschen durch das Ausdrücklichmachen räumlicher Ordnungen nähert.

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23Dieser

Ansatz ist problematisch, wenn er essenzialistisch verstanden wird. Der Ansatz müsste auch im Verhältnis zur Gestaltpsychologie diskutiert werden. Darauf kann hier nicht eingegangen werden.

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Wissenschaftstheoretische Überlegungen zur Landschaftsarchitektur – eine Skizze Karsten Berr 1 Einleitung Ein Beitrag zu einem Einführungs-Band in die Thematik ‚Interdisziplinäre ­Architektur-Wissenschaft‘, der sich der Profession und Disziplin ‚Landschaftsarchitektur‘ zuwendet, hat beispielsweise folgende Fragen zu beantworten: Was heißt überhaupt ‚interdisziplinär‘ und ‚disziplinär‘? Was heißt in diesem Zusammenhang ‚Wissenschaft‘? Inwiefern können Architektur wie auch Landschaftsarchitektur als universitäre Disziplinen Wissenschaftlichkeit gegenüber Architektur und Landschaftsarchitektur als vorwissenschaftliche Praxen der so genannten ‚Lebenswelt‘ beanspruchen? Wie ist die Binnenstruktur der Landschaftsarchitektur als Disziplin beschaffen und welchen Sinn haben inter- und transdisziplinäre Grenzüberschreitungen dieser Disziplin? Im Folgenden1 wird zuerst skizziert (2), wie sich die Landschaftsarchitektur im akademischen ‚Kampf um Anerkennung‘ (Franck 2007; Honneth 1992) Verwissenschaftlichungs-Strategien verschreibt, auf welche Schwierigkeiten sie dabei stößt und wie ihr wissenschaftstheoretischer Status einzuschätzen und zu begründen ist. In diesem Zusammenhang kann gezeigt werden (3), aus welchen Gründen und auf welche Weise die Landschaftsarchitektur in drei Subdisziplinen ausdifferenziert 1Dieser

Aufsatz stützt sich teils auf bereits verstreut publizierte Überlegungen zu verschiedenen Aspekten der Fragestellung: Berr (2014, 2016, 2017, 2018a, 2018b, 2018c, 2018d, 2018e, 2019a, 2019b). K. Berr (*)  Eberhard Karls Universität Tübingen, Tübingen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Berr und A. Hahn (Hrsg.), Interdisziplinäre Architektur-Wissenschaft, Interdisziplinäre Architektur-Wissenschaft: Praxis – Theorie – Methodologie – Forschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29634-6_8

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wurde. Diese Ausdifferenzierung führt auf die grundsätzliche Frage, warum und wie Landschaftsarchitektur als Disziplin auf Interdisziplinarität und Transdisziplinarität verweist (4). Um den Sinn, das Erfordernis, die Zweckmäßigkeit und die Chancen inter- und transdisziplinärer Grenzüberschreitungen der Disziplin Landschaftsarchitektur zu erläutern, wird anschließend ein Blick auf die lebensweltlichen Fundamente wissenschaftlicher Disziplinen im Allgemeinen und der Landschaftsarchitektur im Besonderen geworfen (5). Daran anschließend wird die Landschaftsarchitektur in ihrer Binnenstruktur, und zwar in ihrer Infra-Struktur (Abschn. 6.1.1) und Supra-Struktur (Abschn. 6.1.2) näher untersucht sowie mögliche und notwendige Grenzüberschreitungen inter- (Abschn.  6.2.1) und transdisziplinärer (Abschn. 6.2.2) Art vorgestellt und auf ihre Potenziale und Chancen hin abgefragt.

2 Landschaftsarchitektur im ‚Kampf um Anerkennung‘ Angesichts ihrer Stellung zwischen handwerklicher Herkunft und wissenschaftlichen Ansprüchen wurde Landschaftsarchitektur als ‚Disziplin‘ in der jüngeren Vergangenheit gelegentlich als „verwissenschaftlichtes Handwerk“ (Eisel 1992, S. 3) oder als „akademisierte Profession“ (Hard 1991, S. 18) charakterisiert. Solche Charakterisierungen führen unweigerlich zu der Frage, wie der ‚wissenschaftstheoretische Charakter‘ der Landschaftsarchitektur (Körner 2006) einzuschätzen sei. Fraglich sei etwa, ob Landschaftsarchitektur eine ‚harte‘ (Hard 2003), ‚kompakte‘ (Toulmin 1978) oder ‚reife‘ (Kuhn 1976) Disziplin oder Wissenschaft wie etwa Physik, Chemie oder Biologie oder eher als eine Kunstfertigkeit bzw. Könnerschaft (gr. téchne, lat. ars) anzusehen sei. Solch ‚praktisches Können‘ (téchne) (Aristoteles 2001) wurde und wird im Sinne eines regelgerechten Tuns (Aristoteles 1991) beispielsweise als Einheit von Können und Wissen (Eisel 1992) oder als „standardisierte Geschicklichkeit“ (Türcke 2016, S. 22) näher bestimmt. Dann wäre die Landschaftsarchitektur eher als eine ‚weiche‘ (Hard 2003), ‚diffuse‘ (Toulmin 1978; Körner 2006) oder ‚vorparadigmatische‘ (Kuhn 1976) Disziplin wie Geographie (Hard 2003), Soziologie (Kneer und Schroer 2009), aber auch Sprachwissenschaften, Literaturwissenschaften, historische Wissenschaften, die Philosophie, die Kunstgeschichte, die Ethnologie u. a. einzuschätzen. In solchen Disziplinen begegnen sich „auf Schritt und Tritt vorwissenschaftliche und wissenschaftliche Ideen und Theorie“ (Hard 2003, S. 180). Und da sie ihre ‚Gegenstände‘ und Hauptbegriffe mit dem vorwissenschaftlichen Alltagsverständnis teilen, werden sie stets auch mit Problemen der Alltagswelt konfrontiert, die sich „anderen als allein wissenschaftlichen Fragestellungen verdanken“ (Mittelstraß 2005, S. 19).

Wissenschaftstheoretische Überlegungen …

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Da diese Verquickung von vorwissenschaftlichen Erfahrungen mit wissenschaftlichem Wissen auch auf die Landschaftsarchitektur zutrifft, muss sie sich in der akademischen Welt im ubiquitären ‚Kampf um Anerkennung‘ (Eisel 1997; Honneth 1992), das heißt, im Kampf um kollegiale ‚Aufmerksamkeit‘, akademische Reputation, wissenschaftspolitisches Renommee, finanzielle Ressourcen und institutionelle Sicherung im gegenwärtigen ‚Wissenschaftsbetrieb‘ (Franck 2007) bisweilen sogar den „Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit und Theorielosigkeit“ (Eisel 2007, S. 27) gefallen lassen. Häufig wurde daher ein ‚Theoriedefizit‘ (z. B. Eisel 2003, 2007; Körner 1991; Prominski 2004; Stimmann 1998; Weilacher 2003) oder gar eine ‚Theoriefeindlichkeit‘ (Selle 2010) moniert. Diese „Diskriminierung der Landschaftsarchitektur“ (Eisel 2007, S. 27) innerhalb des akademischen ‚Betriebs‘ (Heidegger 1963 [1938]; vgl. auch Franck 2007) führte und führt bis dato zu entsprechenden Bemühungen, das Fach im Zuge einer „Härtung“ (Hard 2003, S. 181) ‚verwissenschaftlichen‘ bzw. theoretisch aufrüsten zu wollen, um in die Liga so genannter ‚richtiger‘ oder ‚harter‘ wissenschaftlicher Disziplinen aufsteigen zu können. Dies geschah und geschieht bis heute zumeist im Rahmen von Entwurfstheorien, und zwar in zwei typischen Varianten. Die eine besteht darin, im Rahmen so genannter ‚Entwurfsforschung‘ (z. B. Ammon und Froschauer 2013) bzw. eines ‚Design Research‘ (z. B. Cross 2001; Mareis 2014) das Entwerfen selbst als „innovative Form von Wissenschaft“ (Prominski 2004, S. 17), als ‚Forschen‘ (z. B. von Seggern et al. 2008; Latz 2008; Buchert 2014), als ‚eigenständige Erkenntnisform‘ (‚Creating Knowledge‘) (von Seggern et al. 2008) oder als ‚experimentelles Erfinden‘ (Latz 2008) zu deuten. Die andere besteht darin, sich auf „disziplinexterne Instanzen“ (Hard 2003, S. 180) zu stützen oder sich an „externen Perspektiven zu orientieren“ (Hard 1991, S. 18) bzw. sich „auswärtige Prinzipien“ aus anderweitigen Disziplinen zu „borgen“ (Kant 1993, S. 245). Auf diese Weise gelangen beispielsweise der Begriff ‚Komplexität‘ (Prominski 2004) aus der Systemtheorie, der Begriff ‚Syntax‘ (Weilacher 2008) aus der allgemeinen Semiotik sowie die Begriffe ‚Erkenntnisform‘ (von Seggern et al. 2008) und ‚Forschen‘ (Buchert 2014) aus der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie in die theoretischen Diskussionen um Landschaftsarchitektur. Gegen solche Verwissenschaftlichungsbemühungen überhaupt regte sich Widerstand und es wurden und werden gegen sie bis heute zwei typische Vorwürfe erhoben. Zum einen werden sie kritisch betrachtet, da sie – so die Vermutung – angesichts des akademischen ‚Kampfes um Anerkennung‘ viele Akteure im Rahmen einer „verordneten Verwissenschaftlichung des Entwerfens“ (Weidinger 2013) zur teils unbotmäßigen wissenschaftlichen Valorisierung des eigenen Faches (Ammon und Froschauer 2013, S. 17)

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anregen. Zum anderen werden sie eher müde belächelt, wenn solche Theorieund Verwissenschaftlichungsbemühungen – so der Vorwurf – lediglich zu einem „ambitionierten Theoriegewurstel“ bzw. zu prätentiösen Versuchen führen, die eigene wissenschaftliche Position aufzuwerten (Eisel 2003, S. 9), in Unkenntnis oder Unterschätzung bereits etablierter Theorien bzw. vorgeschlagener Theorieoptionen alten Wein in neuen Schläuchen präsentieren zu wollen (vgl. Körner 2020 in diesem Band) oder altbekannte Diskussions- und Argumentationsmuster neu aufzulegen. Anzumerken ist daher auch, dass Versuche der ‚Verwissenschaftlichung‘ im Sinne einer „Härtung“ (Hard 2003, S. 181) des Faches und entsprechende Gegenströmungen sich in der Landschaftsarchitektur bzw. in ihrer Vorläuferdisziplin ‚Landespflege‘ (vgl. zur Geschichte: Konold 2019) aber auch in der Architektur zyklisch von Generation zu Generation und unter veränderten Rahmenbedingungen wiederholen (vgl. z. B. Ammon und Froschauer 2013; Körner 2001; Prominski 2004; Weidinger 2013; Selle 2010; Weckherlin 2013).

3 Ausdifferenzierung der Disziplin Landschaftsarchitektur in Subdisziplinen Um nur zwei Beispiele für solche Verwissenschaftlichungsbemühungen in der Landschaftsarchitektur zu nennen, sei erstens an die Versuche nach dem Zweiten Weltkrieg erinnert, die Landespflege auf neue theoretische Grundlagen zu stellen und damit dem Bannkreis der NS-Ideologie entkommen zu wollen (vgl. Körner und Eisel 2003). Die Nationalsozialisten hatten die Landespflege mit einer rassistischen ‚Blut-und-Boden‘-Ideologie zu einem Planungskonzept verknüpft, „das wissenschaftlich-ökologische und gestalterische Aspekte der Landschaftsgestaltung im Rahmen des völkischen Auftrags vereinte“ (Körner 2001, S. 16). Der Wegfall dieser Ideologie schien die Landespflege gleichsam zu ‚zwingen‘, „sich durch einander widersprechende Strategien von dem rassistischen Kontext der Landespflege zu distanzieren (Körner 2001, S. 425; vgl. auch Körner 2020 in diesem Band). Die eine Strategie besteht in der Verwissenschaftlichung der (Landschafts-)Planung mit der Ökologie als Basiswissenschaft am Leitfaden rationaler Planung und des Naturschutzes (Buchwald 1968; Haber 2002; Piechocki 2010; Hage und Bäumer 2019; Hupke 2019). Die andere Strategie besteht in der von Hermann Mattern konzipierten ‚gestalterischen Landschaftsaufbauplanung‘ (vgl. Körner 2001, S. 126–168), die zudem als „künstlerisch motivierte Landschaftsarchitektur“ (Körner 2007, S. 13) und als „Gegenbewegung“ (Dettmar 2018b, S. 22) zur ‚Ökologisierung‘ der Landschaftsplanung näher bestimmt werden kann. Diese Strategie erfuhr in Anbetracht der „Diskussionen über die Wirkungslosigkeit der ökologie-

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orientierten Landschaftsplanung in den 1980er Jahren neuen Aufwind“ (Dettmar 2018b, S. 22), insbesondere durch die Veröffentlichungen von Jürgen Wenzel (z. B. 1982). Zweitens sei an die Diskussion um Martin Prominskis Dissertation „Landschaft Entwerfen“ Mitte der 2000er Jahre erinnert, die um den Begriff der so genannten „Landschaft drei“ (Jackson 1984; Körner 2010; Prominski 2004, 2019), aber auch um die Frage nach dem wissenschaftlichen Status der investierten Theorien kreist. In dieser Diskussion zeigte sich, dass und wie ein altbekanntes Diskussions- und Argumentationsmuster unter anderen Bedingungen wiederholt wurde: die Intention, durch mehr Theorie oder Wissenschaft das Fach nach außen hin aufzuwerten und neue wissenschaftliche Grundlagen bereitzustellen. Angesichts dieser Beispiele mag es daher nicht unwichtig sein, Kenntnisse über die Geschichtlichkeit typischer wiederkehrender Diskussionen und Fragestellungen für aktuelle Diskurse zu vermitteln, um Autoren und Autorinnen vor unangemessenen Novitäts- oder Originalitätsansprüchen zu bewahren (vgl. Berr 2018d, S. 146; Körner 2020 in diesem Band). Gegenüber der aus der Landespflege ausdifferenzierten naturwissenschaftlich fundierten Landschaftsplanung und der ‚künstlerisch motivierten‘ Landschaftsarchitektur positionierte sich Ende der 1970er Jahre die sozialwissenschaftlich fundierte ‚Freiraumplanung‘, die in der so genannten ‚Hannoveraner‘ sowie der ‚Kasseler Schule‘ (hierzu ausführlicher: Hennecke 2019; Körner 2017) vertreten wurde. Beide ‚Schulen‘ eint die Orientierung an empirisch-objektiv zu erfassenden Bedürfnissen von Nutzern bei der Aneignung von ‚Freiräumen‘ (vgl. Hennecke 2019) und deren erstrebter Emanzipation von politisch-administrativen und von gestalterisch-elitären Bevormundungen im Rahmen einer am Individuum orientierten „Politik ‚von unten‘“ (Körner 2017, S. 131). Dieses Konzept erwies sich aber als kaum durchführbar, weil eine Entscheidung darüber, welche Bedürfnisse emanzipatorisch seien, zu (ungewollten) paternalistischen Konsequenzen führen und die „Verbindung von nomothetisch-instrumentellem und idiographisch-einfühlsamem Vorgehen“ (Körner 2001, S. 14) nicht überzeugend entfaltet werden kann. Aus diesen Gründen ist die Freiraumplanung im akademischen Bereich inzwischen marginalisiert, gewinnt dafür aber ­neuerdings im Hinblick auf die „Integration von bürgerschaftlichem Engagement bei der Entwicklung und Gestaltung urbaner Freiflächen“ in der „Praxis der ­Stadtentwicklung wieder an Bedeutung“ (Dettmar 2018b, S. 23 [Hervorhebung: K. B.]; vgl. auch Körner 2017, S. 145; Hauck et al. 2017). Dieser Verlust akademischer Bedeutung einer Planungs-Disziplin bei gleichzeitig zunehmender Einforderung auch der Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger (zum Unterschied zwischen Bürgerengagement und Bürgerbeteiligung vgl. Petrow 2017) auf unterschiedlichen Planungsebenen (vgl. Berr et al. 2019b) verweist auf das Verhältnis

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des Entwicklungsstandes einer Disziplin zu den Erfordernissen der Alltags- oder Lebenswelt. Offensichtlich passen Disziplinen nicht „quasi-naturwüchsig zu den Problemen der Lebenswelt (…), wie der ‚Deckel auf den Topf‘. Die Gesellschaft muß vielmehr das wissenschaftliche Wissen so nutzen, daß es passend wird“ (Gethmann 1991b, S. 369). Diese problemorientierte Konfrontation von Lebenswelt und Wissenschaft ist gegenwärtig ein Thema der Diskussionen um ‚Transdisziplinarität‘ (vgl. Balsiger 2005; Bergmann und Schramm 2008; Berr 2018c; Berr et al. 2019a; Mittelstraß 2005). In den 1990er Jahren wurde der Ausdruck ‚Landespflege‘, der die Disziplin bislang bezeichnet hatte, durch ‚Landschaftsarchitektur‘ ersetzt. Dieser neue Ausdruck umfasst die drei aus der ‚Landespflege‘ ausdifferenzierten Subdisziplinen ‚Landschaftsplanung‘, ‚Freiraumplanung‘ und ‚Landschaftsarchitektur‘ (im engeren Sinne einer Entwurfsdisziplin) (Dettmar 2018b, S. 23). Diese Ausdifferenzierung des Faches in Subdisziplinen verweist auf eine grundsätzliche wissenschaftstheoretische Fragestellung: Was zeichnet eine Disziplin als Disziplin überhaupt aus, welche Rolle spielen dabei Wissensbestände, Begriffe, Methoden, Traditionen und Paradigmen aus unterschiedlichen Wissenschaften und wie ist mit der Paradigmenvielfalt innerhalb einer Disziplin und wie mit der Vielfalt unterschiedlicher Disziplinen umzugehen, die sich dem selben Gegenstand zuwenden? Die letzte Teilfrage wird seit langem unter den Titeln ‚Multi-, Inter- und Transdisziplinarität‘ (vgl. instruktiv Balsiger 2005; Grunwald und Schmidt 2005; Jungert et al. 2010) diskutiert. Mit dieser Diskussion ist zugleich diejenige nach dem jeweiligen Verhältnis der Disziplinen zu Inter- und Transdisziplinarität sowie dem Verhältnis zwischen Inter- und Transdisziplinarität verbunden. Desgleichen sind bereits erste Hinweise auf Funktionen, Aufgaben und Formen disziplinüberschreitender Forschung skizziert. Eine Form betrifft Grenzen und Trennungen zwischen verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen und Versuche ihrer Überwindung. Die andere Form betrifft Grenzen und Trennungen zwischen wissenschaftlichen Disziplinen und der Alltagswelt und Versuche ihrer Überwindung.

4 Landschaftsarchitektur zwischen Disziplinarität, Interdisziplinarität und Transdisziplinarität Dass das System der Wissenschaften inzwischen in eine Vielzahl und Vielfalt unterschiedlicher Wissenschaften, Disziplinen und Subdisziplinen ausdifferenziert ist, kann als zuträgliche Reaktion auf den Umstand betrachtet werden, dass die zu erforschenden ‚Gegenstands‘- bzw. ‚Wirklichkeits‘-Bereiche einzelnen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern oder Forschungsgruppen nicht in einer

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mutmaßlichen ‚Totalität‘ zugänglich sind. Zugänglich, also erfahrbar und messbar, sind lediglich wissenschafts- oder disziplinspezifische Eigenschaften oder Aspekte, die sich erst im Licht spezifischer Fragestellungen und Zwecksetzungen konstituieren und entsprechende spezifische Begriffe, Theorien, Methoden, Fachsprachen und sogar Wissenschaftlichkeitskriterien erforderlich machen (Defila und Di Giulio 1998, S. 111–113). Dieser Umstand kann als „wichtige methodologische Grundtatsache jeder Forschung“ (Tetens 1999, S. 1769) angesehen werden. Sie ist zudem gleichsam der ‚Motor‘ einer Dynamik, die unaufhörlich neue Wissenschaften und Disziplinen produziert, zusammenführt, in anderen Wissenschaften und Disziplinen aufgehen oder untergehen lässt. Genetisch betrachtet sind ‚Disziplinen‘ daher in „historisch gewachsene Grenzen“ (Mittelstraß 2005, S. 19) eingeschlossen (vgl. auch Gutmann 2005, S. 70). Geltungstheoretisch stellen sie eine „kognitive und soziale Einheit innerhalb der Wissenschaft“ (Defila und Di Giulio 1998, S. 112) dar, insofern sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu ‚scientific communities‘ mit spezifischen Paradigmen, Theorien, Forschungsproblemen und Karrierewegen zusammenschließen (Defila und Di Giulio 1998, S. 112), die bestimmen, was innerhalb einer Wissenschaft oder Disziplin als ‚wissenschaftlich‘ oder ‚wahr‘ gilt oder zu gelten hat. Solche disziplinären ‚Einheiten‘ sind allerdings nicht eindeutig durch einen Gegenstandsbereich, Methoden, Mittel oder Probleme zu definieren (vgl. Gutmann 2005), sodass sie sich auf diese Weise mehr oder weniger leicht voneinander abgrenzen ließen. Vielmehr ergeben sich Abgrenzungskriterien aus wissenschaftlichen Fragen, Zwecken und Zielen, „wodurch sich die jeweilige ‚Einheit‘ der betreffenden Disziplin erweisen ließe“ (Gutmann 2005, S. 70). Disziplinen sind in diesem Sinne „rekonstruktiv-reflexive Ergebnisse der Artikulation wissenschaftlicher Tätigkeit“ (Gutmann 2005, S. 73). Insofern lassen sie sich als „eine bestimmte Form des Sich-Verhaltens zu menschlicher, hier näherhin wissenschaftlicher Tätigkeit“ (Gutmann 2005, S. 73) beschreiben. Daher auch entziehen sich „bestimmte Probleme dem Zugriff einer einzelnen Disziplin“ (Mittelstraß 2005, S. 19) und verweisen damit durch sich selbst auf das Erfordernis interdisziplinärer Forschung. Außerdem ist disziplinspezifisches Wissen mehr oder weniger auch auf Wissen aus anderen Disziplinen angewiesen und grundsätzlich „seiner Form nach interdisziplinär“ (Gutmann 2005, S. 70) angelegt. Das auf diese Weise von Disziplinen erarbeitete Wissen kann mit Heinz Heckhausen (1987) als „theoretische[s] Integrationsniveau“ bezeichnet werden, „auf dem der gewählte Gegenstandsaspekt theoretisch integriert, ja rekonstruiert wird“ (zit. nach Balsiger 2005, S. 146). Dieser Befund gilt in besonderem Maße für Architektur und Landschaftsarchitektur, die im Gegensatz zu ‚kompakten‘ (Toulmin 1978) oder ‚harten‘ (Hard 2003) Disziplinen wie etwa Physik oder Chemie „auf kein eigenständiges

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theoretisches Gerüst zurückgreifen“ (Dettmar 2018b, S. 26) können, sondern deutlich mehr auf die Begriffe, Methoden und Ergebnisse anderer Wissenschaften zurückgreifen müssen. Das jeweilige Wissen von Architektur und Landschaftsarchitektur kann in diesem Sinn mit einer These des Wissenschaftstheoretikers und Technikphilosophen Mathias Gutmann als ‚Metatéchne‘, d. h. als multidisziplinäre Wissensstruktur betrachtet werden, die bereits geltendes Wissen unterschiedlicher Herkunft und Struktur benötigen und in sich aufnehmen. Insofern benutze der Architekt bereits vorhandenes Wissen, ohne dieses selber hervorzubringen.2 Hinzu kommt, dass architektonische Disziplinen – wie eingangs bereits erwähnt – stets auch auf Fragen und Probleme der Alltagswelt reagieren, die sich „anderen als allein wissenschaftlichen Fragestellungen verdanken“ (Mittelstraß 2005, S. 19). Sie sind daher auch auf Anschlussfähigkeit an die Motivationen, Überzeugungen und Werthaltungen unterschiedlicher alltagsweltlicher Akteure angewiesen. So wie Disziplinen generell durch ihre pragmatisch motivierte Abgrenzung zu anderen Disziplinen und Landschaftsarchitektur als ‚Metatechne‘ oder ‚diffuse‘ Disziplin (Toulmin 1978; Körner 2006) im Besonderen auf die Notwendigkeit von Interdisziplinarität verweisen, so erfordern Disziplinen generell und die Landschaftsarchitektur im Besonderen Transdisziplinarität als Vermittlung zwischen alltags- bzw. lebensweltlichen Erfordernissen und wissenschaftlichem Räsonieren. Um den Sinn, das Erfordernis, die Zweckmäßigkeit und die Chancen dieser Vermittlung näher zu erläutern, ist zuerst ein Blick auf die lebensweltlichen Fundamente wissenschaftlicher Disziplinen im Allgemeinen und daran anschließend der Landschaftsarchitektur im Besonderen zu werfen.

5 Lebensweltliche Grundlagen wissenschaftlicher Disziplinen Um diesen Blick auf die lebensweltlichen Fundamente zu plausibilisieren sei daran erinnert, dass Wissenschaft nicht zwangsläufig als Selbstzweck zu verstehen ist. Eine im 20. Jahrhundert sich entwickelnde und einflussreiche Tradition hat auf unterschiedliche Weise ergründet und expliziert, dass und wie Wissenschaften in der ‚Lebenswelt‘ bzw. im Alltag der Menschen verwurzelt sind und von dieser ‚Lebenswelt‘ aus in ihrer Genese und ihrem Geltungsanspruch 2Diese

These hat Mathias Gutmann in einem von der DFG geförderten und von Achim Hahn und Karsten Berr organisierten Rundgespräch an der TU Dresden vom 08.-09. Juni 2018 vorgetragen.

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bestimmt werden. Wichtige Vordenker dieser Tradition sind beispielsweise Martin Heidegger (1993 [1927]); Edmund Husserl (1954); Peter L. Berger und Thomas Luckmann (1966), deren grundlegende „Wendung zum Primat der Praxis“ (Lorenzen 1968, S. 26) von den Protagonisten konstruktivistischer Wissenschaftstheorie Erlanger Provenienz wie Wilhelm Kamlah und Paul Lorenzen (1967) oder Marburger Provenienz wie etwa Peter Janich (2015) aufgegriffen wurde. Die Grundüberzeugung, die die Vertreter dieses Ansatzes eint, besteht darin, dass alles Denken und jede Methode „vom Leben, von der praktischen Lebenssituation des Menschen auszugehen“ hat, also von dem, „was man im praktischen Leben immer schon tut“, und daher diese Welt des praktischen Lebens nicht erst durch Begriffe und Theorien erschlossen werden muss, sondern dem Menschen diese „Welt (…) vielmehr das unmittelbar Vor- oder Zuhandene“ sei (Lorenzen 1968, S. 26).3 Das traditionelle Fundierungsverhältnis von Praxis und Theorie wird pragmatisch-lebensweltlich so umgedeutet, dass das Theoretische abkünftig gegenüber der Praxis sei. Demnach sind konkrete Lebenssituationen in der Teilnehmerperspektive lebenspraktischer Orientierung und Handelns jeder Rede und jedem theoretischen bzw. wissenschaftlichen Zugriff auf diese Lebenssituationen vorgeordnet. Erst bei Störungen im Orientierungs- und Handlungszusammenhang, wenn bewährte Orientierungen und Wissen nicht mehr dienlich oder tragfähig sind, kommt es zu einem Wechsel in eine distanzierende Beobachterperspektive. Mit Heidegger (1993 [1927]) kann beispielsweise ‚Zuhandenes‘ nunmehr aus der Distanz einer Beobachterperspektive heraus aus dem Funktionszusammenhang und der Teilnehmerperspektive der Praxisbezüge isoliert und ontisch ausschließlich als objektiv ‚Vorhandenes‘ betrachtet und thematisiert werden. Dieser Perspektivenwechsel ist methodisch unerlässlich, um Distanz zur vorwissenschaftlichen Lebenswelt und deren konkreten Funktionszusammenhängen aufbauen zu können. Diese Distanz ist ebenfalls kein Selbstzweck, sondern unabdingbar, um wissenschaftliches – das heißt: methodisch gesichertes – Wissen gegenüber vorwissenschaftlichen Alltagsplausibilitäten und Praxisroutinen zu gewinnen, die sich bei der konkreten Bewältigung lebensweltlicher Anforderungen und Probleme gerade als unsicher und unzulänglich erwiesen haben. Wissenschaftliches Wissen kann daher als „praxisstabilisierendes Wissen“ (Mittelstraß 2004, S. 259) verstanden werden. Das bedeutet zugleich, dass die Motivation zur Überschreitung der Lebenswelt in den Bereich der Wissenschaft dieser Lebenswelt selbst und ihren Anforderungen und Problemen entstammt.

3Die

Analyse von „Zuhandenheit“ und „Vorhandenheit“ unternimmt Heidegger insbesondere im § 15 von Sein und Zeit: Heidegger (1993 [1927], S. 66–72).

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Die mit einem wissenschaftlichen Zugriff verbundene Beobachterdistanz zum Beobachteten findet ihren etymologischen Niederschlag im altgriechischen Begriff der „Theoria“ (Mittelstraß 2004). Betrachtungsgegenstand waren ursprünglich religiöse (gr. theós, göttlich), später auch sportliche Feste oder Veranstaltungen. Der theorós ist der Festgesandte (der eine Schau sieht) bzw. der „offizielle Zuschauer bei den klassischen olympischen Spielen, also der Sportfunktionär und Reporter, der seiner Gemeinde vom Verlauf und vom Abschneiden der eigenen Leute berichtete“ (Janich 2015, S. 16). In diesem Sinn indiziert ‚Theorie‘ eine spezifische Betrachtersituation, die durch Distanz zum Beobachteten charakterisiert ist (Lembeck 2011a, S. 2180; Mittelstraß 2004, S. 259; Thiel 2004, S. 260). Der „Theoretiker“ ist der am konkreten lebensweltlichen Beobachtungsgegenstand unbeteiligte und „uninteressierte Zuschauer“ (Lembeck 2011a, S. 2180), der gerade nicht in das Beobachtete eingreift und in der theoretischen Einstellung „die vermeintlich wahre Welt als ein vom faktischen Leben gerade unbetroffenes bloßes Gegenüber“ (Lembeck 2011b, S. 228) erklärt. So notwendig die wissenschaftlich-theoretische Abstraktion von der Lebenswelt im Interesse der Lebenswelt selbst auch sein mag, sie zeitigt bisweilen einen gravierenden Kontereffekt, auf den insbesondere Husserl in aller Deutlichkeit hingewiesen hat (1954): Es droht eine „Verselbständigung der Theorie zur reinen Theorie“ (Mittelstraß 2004, S. 259), wenn die Beobachterperspektive in ihrer lebensweltlichen Ferne nicht mehr als lediglich methodisch notwendige Abstraktion zum Zwecke der Verbesserung und Stabilisierung lebensweltlich bereits vorhandenen Wissens verstanden, sondern zu einem szientistischen Ideal und Maßstab von Theorie überhaupt erhöht wird. Das führt dazu, dass die ‚Lebenswelt‘, aus der angesichts der Stör- und Fehleranfälligkeit und daraus resultierend Unzulänglichkeit des von ihr selbst produzierten vorwissenschaftlichen Wissens überhaupt erst die Motive für Wissenschaft entspringen, „ihre eigene Abschaffung [betreibt]“ (Lembeck 2011b, S. 228; vgl. Held 1991). Obwohl Wissenschaft und Theorie angesichts dieser Motive vom Anfang der Wissenschaftsgeschichte an auch als „praxisstabilisierendes Wissen“ (Mittelstraß 2004b, S. 259) verstanden und gehandhabt wurden, kann die Entwicklung der Wissenschaft dazu führen, diese Motive und letztlich den Sinn von Wissenschaft zu vergessen. Der Beobachterdistanz korrespondiert zudem eine besondere Form der Darstellung und Beschreibung des Betrachteten, die sich auf den ‚reinen‘ Sach- und Wahrheitsgehalt des vermeintlich ‚objektiv Gegebenen‘ zu beschränken hat. Als die hierfür angemessene Ausdrucksform wurde und wird traditionell ein die beobachteten Phänomene ordnendes, erklärendes, auch begründendes kohärentes sprachliches System propositionaler Aussagen angesehen – Diskussionen um die Bedeutung und jeweilige Reichweite propositional und nicht-propositional (etwa

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ästhetisch) verfassten Wissens (Gabriel 2005, 2013; Ryle 1949; Wieland 1982) dauern bis heute an. Das traditionelle „Vorbild für die sprachliche Form von Wissenschaft in einer Theorie“ war und ist die Geometrie (Janich 2015, S. 23). Und die Geometrie ist zugleich das klassische Beispiel einer Wissenschaft, die ihre lebensweltlichen Wurzeln vergessen hat: Sie verdankt ihre Entstehung handwerklichen Tätigkeiten in alltagsweltlichen Handlungskontexten, und zwar durch „Behauen“ und paarweise aneinander „Abschleifen“ (vgl. Janich 2015, S. 42–46) von Stein- oder Metallplatten im „Dreiplattenverfahren“ (Dingler 1952, S. 8), durch welches überhaupt erst ‚geometrische Grundformen‘ wie ‚Ebene‘, ‚rechter Winkel‘, ‚Parallelen‘ im Vollzug poietischen Handelns (gr. poiesis) hergestellt werden – um anlässlich weiterer Ziele und Zwecke oder möglicher Störungen methodisch nachgelagert „ideativ“ im Rahmen eines „neuen Mundwerks“ (Janich 2015, S. 48) nun auch sprachlich verfasste geometrische ‚Theorie‘ zu betreiben. Das Verhältnis von ‚Lebenswelt und Wissenschaft‘ (vgl. exemplarisch Gethmann 1991a, b; Ströker 1979; Welter 1986) erweist sich angesichts dieser Erläuterungen als durchaus ambivalent und schwierig, da Verwurzelung in und Distanz zur Lebenswelt gleichermaßen dieses Verhältnis bestimmen. Die Lebenswelt ist zum einen Ausgangspunkt der Wissenschaften, insofern vorwissenschaftliche „Handlungsroutinen“ (Gethmann 1991b, S. 361) und entsprechendes Wissen im ‚Störfall‘ oder bei Verbesserungsbedarf zwecks Klärung, Lösung und Verallgemeinerung eben jene Wissenschaften gebären. Wissenschaftliches Wissen und damit Wissenschaft(en) überhaupt können daher als „Störungsbewältigungsinstrument“ (Gethmann 1991b, S.  361) verstanden werden. Dabei werden „situationsdistanzierte Problemlösungen“ (Gethmann 1991b, S. 361) angestrebt, die nicht nur für einen Problemfall, sondern auch für ähnlich gelagerte Fälle verwendbar sind. Die Lebenswelt ist daher auch Zielpunkt von Wissenschaft. Eine Gesellschaft freilich, die solches Interesse an generalisierbaren oder gar invarianten Lösungen nicht hat, wird auch keine Wissenschaften brauchen und ausbilden. Wenn eine Gesellschaft aber Wissenschaften etabliert, dann können Wissenschaftler als Wissenschaftler gar nicht anders als abstrahieren, spezifizieren, differenzieren und Begriffe und Theorien bilden, die sich den Erfordernissen wissenschaftlicher Methodik und Forschung verdanken und daher unabhängig gegenüber lebenspraktischen Ansprüchen sein müssen, obwohl Zielpunkt der Wissenschaft die Lebenswelt ist. Diese funktionale Paradoxie der Wissenschaften zeigt sich beispielsweise für die meisten Menschen sehr deutlich und hautnah, wenn die Medizin Menschen als medizinischen Fall auf bloße Körperlichkeit reduziert. Diese Abstraktion von Personalität auf bloße Somatik oder Körperlichkeit ist methodisch sinnvoll und sehr erfolgreich, verdankt die Medizin diesem Verfahren doch immense Fortschritte und Erkenntnisse. Die Kehrseite besteht darin, dass dann, wenn die abstrakte Methode nicht mehr als

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Methode und damit als Mittel zum Zwecke der Linderung oder Vermeidung körperlicher Übel, sondern als Selbstzweck betrachtet wird, diese Abstraktion ihren Sinn verliert und Menschen in ihrer Personalität nicht mehr wahrgenommen werden. Diese Eigenart wissenschaftlicher Methode kann dann im Übrigen zur Abgehobenheit und mangelndem Verständnis von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern gegenüber Menschen und der Gesellschaft, aber auch zur Abgehobenheit und zu Verständnisschwierigkeiten der Vertreter unterschiedlicher Wissenschaften gegeneinander führen. Eine doppelte Aufgabe für Wissenschaften mag darin bestehen, solche gegenseitigen Verständnisschwierigkeiten zu überwinden und wissenschaftliche Ergebnisse zum einen anschlussfähig an den Erwartungs-, Erfahrungs-, Wissens- und Überzeugungshorizont betroffener Menschen zu gestalten. Als ein Mittel solcher Gestaltung wird gegenwärtig das bereits erwähnte Konzept der Transdisziplinarität diskutiert. Zum anderen sind Kommunikation und Interaktion zwischen den verschiedenen Wissenschaften zu verbessern, eine seit Jahrzehnten unter dem bereits angesprochenen Titel ‚Interdisziplinarität‘ geführte und weitgehend anerkannte Forderung. Im Rahmen dieses wissenschaftstheoretischen Ansatzes lassen sich demnach wissenschaftliche Disziplinen als sekundäre Ausdifferenzierungsprodukte lebensweltlicher vorwissenschaftlicher Praxen verstehen, die jeweils eine spezifische regelgeleitete Könnerschaft im Sinne jener eingangs beschriebenen Einheit von Können und Wissen (Eisel 1992, S. 3) ausgebildet haben. Diese Kunstfertigkeiten (gr. téchnai; lat. artes) und die mit ihnen gegebenen Wissensbestände, die umgangssprachlich bzw. in handwerklichen Fachsprachen tradiert und kommuniziert werden, können zu wissenschaftlichen Methoden im Rahmen wissenschaftlicher Theorien und Disziplinen „hochstilisiert“ bzw. ­„verwissenschaftlicht“ (Janich 2011, S. 684) werden – „und zwar in dem Sinne, daß die einer praktischen Bewährungsgeschichte unterworfenen, vor- und außerwissenschaftlichen Künste zu wissenschaftlichen Methoden entwickelt werden. Der Unterschied von lebensweltlichen Künsten und wissenschaftlichen Methoden liegt dabei in der Diskursfähigkeit der letzteren, d. h. in einem argumentativ expliziten Ausweis ihrer Leistungsfähigkeit für bestimmte Zwecke“ (Janich 1996, S. 77). So genannte „Prototheorien“ können „rekonstruierend die graduellen Übergänge lebensweltlicher Fachsprachen, Verfahren und Wissensbestände zu wissenschaftlichen Terminologien, Methoden und Theorien nach[zeichnen]“ (Janich 2004, S. 383). Es ist allerdings nicht erforderlich, für alle Praxen gleichermaßen einen Anfang in der Lebenswelt zu finden, sondern es lassen sich „immer selbständige Teilstücke von Praxen abgrenzen, um für diese zu fragen, wie das Anfangsproblem zu lösen sei“ (Janich 2015, S. 147). Die Fundamente wissenschaftlicher Disziplinen liegen demnach in unterschiedlichen lebensweltlichen Praxen und können auch als „operationale Basis“ (Hartmann

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und Janich 1996, S. 47) bezeichnet werden. Neben der bereits erwähnten Geometrie lassen sich weitere Beispiele anführen. Der Anfangsgrund der Arithmetik liegt in der „Rechenkunst der Kauf- und Seeleute“ (Janich 1996, S. 77). Chemie und Biologie basieren „auf den Künsten der Gerber und Färber, Metallscheider und Heilkundigen“ und „auf den Künsten des Züchtens und Nützens von Tieren und Pflanzen und wieder der Heilkunst“ (Janich 1996, S. 77). Das lebensweltliche Fundament der Medizin ist der „Eingriff“ (Schipperges 1970, S. 7), das der Ethik das „Streitschlichten“ (Gethmann 1992), das der Pädagogik das „Zeigen“ (Prange 2005). Für Landwirtschaft, Gartenbau, Forstwirtschaft, Fischerei und Bergbau können als Fundamente der „Umgang mit der Erde“ (Kluxen 1997a, S. 229) in Gestalt von ‚Anbau‘, ‚Abbau‘ und ‚Raubbau‘ (Kluxen 1997b) sowie die „allgemeine Landnutzung“ als „Urproduktion“ (Potthast 2011, S. 1252) im Rahmen von ‚Landnutzungssystemen‘ (Küster 2012) rekonstruiert werden (vgl. Berr 2017).

6 Disziplinäre Strukturen sowie inter- und transdisziplinäre Grenzüberschreitungen der Landschaftsarchitektur Diese lebensweltlichen Grundlagen wissenschaftlicher Disziplinen lassen sich auch für die Landschaftsarchitektur als Disziplin rekonstruieren. Die Sicht auf diese Fundamente der Disziplin wird zugleich eine Einsicht in Sinn und Zweckmäßigkeit inter- und transdisziplinärer Erfordernisse und Chancen der Landschaftsarchitektur ermöglichen. Innerhalb der Binnenstruktur einer Disziplin lassen sich eine Infra- und eine Supra-Struktur unterscheiden, die jeweils bestimmte Funktionen erfüllen und Integrationsleistungen verlangen. Im Rahmen von Inter- und Transdisziplinarität verlässt Landschaftsarchitektur die Grenzen der Disziplin, um entweder mit anderen wissenschaftlichen Disziplinen oder mit nichtwissenschaftlichen Akteuren zu kooperieren.

6.1 Disziplinäre Strukturen der Landschaftsarchitektur Im Folgenden wird die Binnenstruktur einer Disziplin näher betrachtet, die in eine Infra- und eine Supra-Struktur unterschieden werden kann und die für die Landschaftsarchitektur in Grundzügen dargestellt wird. Diese differenzierte Binnenstruktur ist mit typischen wissenschaftstheoretischen Herausforderungen verbunden und auf Integrationsleistungen verwiesen, für die in den Abschn 6.1.1 und 6.1.2 jeweils ein Vorschlag skizziert wird.

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6.1.1 Zur Infra-Struktur der Landschaftsarchitektur Der Ausdruck „infradisziplinär“ wurde zuerst von Paul Lorenzen (1974b) eingeführt und bezeichnet bei ihm die allen Disziplinen und fachdisziplinären Tätigkeiten zugrundeliegenden Fundamente (vgl. Balsiger 2005, S. 145). Logik, Ethik und Wissenschaftstheorie seien „die grundlegenden Schritte, durch die die Wissenschaften in Gang kommen, das sind die Teile, die zusammen ein infradisziplinäres Wissen bilden“ (Lorenzen 1974b, S. 145). Freilich konnte sich der Begriff ‚infradisziplinär‘ nicht etablieren, auch ließ sich das damit verbundene Fundierungsprogramm nicht realisieren. Aber dieser Begriff – so mein Vorschlag – kann durchaus als Bezeichnung für die grundlegende Infrastruktur einer Wissenschaft oder Disziplin herangezogen werden, wie sie etwa durch die Wissenschaftstheoretiker Ludwik Fleck, Thomas Kuhn und Yehuda Elkana thematisiert wurde: als die grundlegenden und gemeinsam geteilten Sichtweisen, das heißt, ‚Denkstile‘ (Fleck 1980 [1935]), ‚Paradigmen‘ (Kuhn 1976) oder ‚Wissensvorstellungen‘ (Elkana 1986) einer Disziplin bzw. einer Wissenschaft und ihrer Vertreter. Für die Landschaftsarchitektur hat Ulrich Eisel (1997) drei solcher grundlegenden Sichtweisen bzw. Paradigmen mit entsprechenden Traditionen rekonstruiert, denen sich zudem jeweils eine der drei aus der ‚Landespflege‘ ausdifferenzierten Subdisziplinen ‚Landschaftsplanung‘, ‚Freiraumplanung‘ und ‚Landschaftsarchitektur‘ im engeren Sinne einer Entwurfsdisziplin zuordnen lässt. Die Landschaftsarchitektur als Entwurfsdisziplin knüpfe an die Tradition und das ästhetische Paradigma des Entwerfens, die Landschaftsplanung an die „naturwissenschaftliche Tradition bio- und geoökologischer Wissenschaften“ und ein „empirisch-analytisch[es]“ Paradigma, die Freiraumplanung an die „sozio-ökonomische Tradition“ und ein gesellschaftstheoretisches‘ Paradigma an. Eisel betrachtet das Ästhetische und den landschaftsarchitektonischen Entwurf allerdings als Vermittlungs- oder Überbrückungsmedium angesichts der opponierenden Perspektiven des natur- und sozialwissenschaftlichen Zugangs ‚zur Natur als Beobachtungsgegenstand‘ (1997). Der Entwurf befreie sich spielerisch von den objektiven und intersubjektiven Vorgaben der anderen Zugangsweisen. Eisel knüpft damit seinerseits an eine spezifische Tradition an, nämlich diejenige, die den „Status des Schönen als des Integrals des Wahren und Guten“ in dessen „Synthesisfunktion“ bestimmt (Rentsch 1998, S. 163). Die entsprechende klassische neuzeitliche Position findet sich in der ‚Kritik der Urteilskraft‘ (Kant 1993). Die Rekonstruktion der Paradigmen kann freilich von dieser Vermittlungsfunktion gelöst werden. Das Ästhetische ist dann nicht als Vermittlungsinstanz zu betrachten, sondern kann als eine von drei möglichen Weltbezügen rekonstruiert werden (vgl. hierzu im Folgenden Berr 2018d): einem subjektiv-ästhetischen,

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einem objektiv-sachlichen und einem intersubjektiv-sozialen. In der philosophischen Tradition wurden und werden solche Weltbezüge in Anknüpfung an die metaphysische Trias des ‚Wahren-Guten-Schönen‘ (vgl. Kurz 2015) grundlegend thematisiert und im 20. Jahrhundert reformuliert (vgl. mit Hinweisen: Berr 2018d). Demgemäß können drei Weltverhältnisse unterschieden werden: ein objektives, ein intersubjektives und ein subjektives (Davidson 2004), in denen es um einen „Sachbezug, Sozialbezug und Selbstbezug“ (Prange 2010, S. 28) geht. In dieser Perspektive erweist sich die Ausdifferenzierung der ‚Landespflege‘ in die drei Subdisziplinen der Landschaftsarchitektur als pragmatisch zweckmäßig und sinnvoll. Die Landschaftsplanung konzentriert sich methodisch auf einen Sachbezug und nimmt daher eine naturwissenschaftliche Objektivierung vor. Die Freiraumplanung konzentriert sich auf einen Sozialbezug und fokussiert daher den sozialen und politischen Aspekt divergierender und konfligierender Freiraumansprüche und –bedürfnisse. Die Landschaftsarchitektur im engeren Sinne einer Objektplanung konzentriert sich auf einen Selbstbezug und erstellt einen subjektiven Entwurf, der an die Person des Entwerfers und dessen individuelle Kreativität gebunden bleibt. Dessen Gestaltungslösung besteht allerdings nicht in der Evozierung von ‚Wohlgefallen‘ (Eisel 1997) am Leitfaden einer traditionellen „Synthesisfunktion“ (Rentsch 1998, S. 163), sondern in der Passung in einen „Weltzusammenhang“ (Picht 1969, S. 433) und verweist damit auf ästhetische „Angemessenheitsmodi“ (Rentsch 1998, S. 162) im Rahmen einer „handwerklichen“ Tradition (Rentsch 1998, S. 161). Die Landschaftsarchitektur wird angesichts dieser Ausdifferenzierung unterschiedlicher Paradigmen von vielen Autorinnen und Autoren als „polyparadigmatische“ Disziplin (z. B. Dettmar 2018b; Eisel 1997; Vicenzotti 2011; Berr et al. 2019a) charakterisiert. Tab. 1 veranschaulicht diese Differenzierungen und Zusammenhänge. Ungeachtet der Einsicht in die Zweckmäßigkeit und Sinnhaftigkeit dieser Ausdifferenzierung bleibt allerdings die eingangs gestellte Frage virulent, wie mit dieser Ausdifferenzierung in Theorie und Praxis angemessen umzugehen sei. Anders gefragt: Gibt es womöglich so etwas wie eine ‚integrative Rolle‘ von Theoriebildung oder eine gemeinsame praktische Basis der ausdifferenzierten Paradigmen? Körner (2001, S. 446–448) hat angesichts möglicher ‚Alleinvertretungsansprüche‘ der ausdifferenzierten Subdisziplinen und ihrer Paradigmen auf die ‚integrative Rolle‘ von Theoriebildung hingewiesen, die darin bestehe, diese Subdisziplinen in ihrer jeweiligen Relevanz näher zu bestimmen. Anstatt diese Differenzen zu leugnen oder einebnen zu wollen, sei das Ziel die Akzeptanz der Ausdifferenzierung in ihrem historisch situierten Sinn und ihrer Relevanz und dementsprechend ein respektvoller Umgang im

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Rahmen institutioneller Zusammenarbeit. An Körner lässt sich anknüpfen und das Integrierende solcher institutionellen Zusammenarbeit aus der lebensweltlichen Grundlage der Landschaftsarchitektur heraus begründen. Die Paradigmen-Vielfalt innerhalb der Landschaftsarchitektur als polyparadigmatische Disziplin lässt sich demnach integrieren, indem im Rahmen einer lebenspraktischen Fundierung dieser Disziplin die „operationale Basis“ (Hartmann und Janich 1996, S. 47) rekonstruiert wird, die als gemeinsames Fundament dienen kann. Bei der L ­andschaftsarchitektur kann diese operationale Basis als der Gestaltungsauftrag der Landschaftsarchitektur in ihren drei Subdisziplinen im Sinne einer pragmatisch verbindenden Mitwirkung an der Nutzung, Gestaltung und Schonung einer ‚bewohnbaren Welt‘ mit Gärten, urbanen Freiräumen, Parkund Freizeitanlagen, Spiel- und Sportplätzen sowie öffentlichen landschaftlichen Freiflächen bestimmt werden (Berr 2017, 2018d, 2019b) – und zwar im allgemeineren Rahmen des „Bauens“, das seinerseits als „Summe der Eingriffe, durch die sich der Mensch der Erde bemächtigt“ (Kluxen 1997a, S. 230), rekonstruiert werden kann. Dieses Vorgehen ist in seiner Art nicht neu und beansprucht auch nicht, neue Erkenntnisse oder eine neue Theorie in Aussicht zu stellen. Vielmehr ist es das Ziel, das bereits Bekannte, aber noch nicht in seiner Bedeutung vollständig Erkannte zur Evidenz zu bringen (vgl. den klassischen philosophischen Topos: Hegel 1980, S. 26) und auf diese Weise die gegebenen Verhältnisse innerhalb der Landschaftsarchitektur klarer zu sehen und besser zu verstehen. Dieses Ziel entspricht im Übrigen der Aufklärungsfunktion von Philosophie (vgl. Berr 2014). So ist etwa die ‚Bewohnbarmachung‘ der ‚Welt‘ von unterschiedlichen Autoren aus unterschiedlichen Wissenschaften und Disziplinen bereits implizit oder explizit thematisiert worden (z. B. Bappert und Wenzel 1987; Hasse 2009; Hegel 2003 Tab. 1   Landschaftsarchitektur als polyparadigmatische Disziplin. (Modifiziert nach Berr 2018c; auf Grundlage von Eisel 1997 und Dettmar 2018b) Naturwissenschaftliche Tradition

Tradition des Entwerfens

Gesellschaftswissenschaftliche Tradition

Empirisch-analytisches Para- Ästhetisch-künstlerisches digma Gestaltungs-Paradigma

Gesellschaftstheoretisches Paradigma

Landschaftsplanung

Landschaftsarchitektur als Objektplanung

Freiraumplanung

Objektives Weltverhältnis

Subjektives Weltverhältnis

Intersubjektives Weltverhältnis

Vorrangig Sachbezug

Vorrangig Selbstbezug

Vorrangig Sozialbezug

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[1823]; Heidegger 1994; Herder 1964; Jackson 1984; Körner 2010, 2017; Mattern 1950, 1964; Mittelstraß 2001; Kazig 2019; Kühne 2019a). Auch ist der Geltungsanspruch dieses Vorschlags bescheiden. Denn es ist eine evaluative Frage, in welcher Welt Menschen wohnen und leben wollen. Die Frage, was als bewohnbar oder nicht-bewohnbar jeweils anerkannt werden kann, lässt sich keineswegs wie auch immer theoretisch beantworten. Sie kann nur im Rahmen komplizierter Aushandlungsprozesse pragmatisch entschieden und gerechtfertigt werden (vgl. Berr 2018d; Kühne 2019b; Weber 2019). Das Kriterium der ‚Bewohnbarmachung‘ kann daher nicht als ‚konstitutive‘, sondern lediglich als ‚regulative Idee‘ für das institutionelle Zusammenwirken der landschaftsarchitektonischen Subdisziplinen mit Blick auf deren Gestaltungsauftrag angesehen werden.

6.1.2 Zur Supra-Struktur der Landschaftsarchitektur Innerhalb einer Einzeldisziplin lassen sich grundsätzlich nicht nur eine Paradigmenvielfalt als infra-disziplinäre Infra-Struktur, sondern auch eine Begriffsund Theorienvielfalt als intra-disziplinäre Supra-Struktur feststellen. Der Ausdruck ‚Intradisziplinarität‘ wurde zuerst von Margret Luszki eingeführt, später wurde er von Heinz Heckhausen zur Bezeichnung eines „theoretischen Integrationsniveaus“ innerhalb einer Disziplin verwendet, ohne sich allerdings etablieren zu können (Balsiger 2005, S. 145–147). Entgegen dieser anfänglich intendierten Funktion wollen wir mit dem Ausdruck ‚intra-disziplinär‘ die disziplinspezifische Theorien- und Begriffsvielfalt bezeichnen, die sozusagen ‚oberhalb‘ einer Disziplin-Infrastruktur nicht ein ‚Integrations‘-, sondern ein Differenzierungsniveau als disziplinäre Suprastruktur anzeigt. Wie aber kann das Differenzierungsniveau als disziplinäre Suprastruktur auf ein ‚theoretisches Integrationsniveau‘ gebracht werden und welchen Zwecken sollte es dienen können? Um diese Frage einer Antwort näher zu bringen, ist zuerst einmal daran zu erinnern, dass jede Wissenschaft oder Disziplin auch ein Ringen um die aktuell jeweils bestmögliche wissenschaftliche Erklärung fraglicher Phänomene im Rahmen von Begriffen und Theorien ist. Da Forschung grundsätzlich einem ‚Fallibilismus‘ (Popper) unterliegt, kann niemand ein wissenschaftlich gesichertes Wissen darüber beanspruchen, welche Begriffe, Theorien oder Paradigmen hinsichtlich fraglicher Phänomene, drängender Probleme oder spezifischer Forschungsfragen die unzweifelhaft ‚richtigen‘ Erklärungen oder Lösungen bieten. Gerade diese Theorien- und Begriffsvielfalt ist aber wissenschaftlich produktiv, da sie den Horizont möglicher Erklärungen und Lösungsvorschläge gegen Immunisierungsstrategien oder angemaßte Deutungshoheiten offenhalten kann. Der offene Horizont dieser Pluralität verlangt Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern eine verschärfte Begründungsarbeit ab und erhöht damit die Chancen, im Rahmen menschlichen Ermessens bestmög-

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liche Theorien und entsprechendes Wissen zu generieren. Mit Dahrendorf ist daher „die gegenseitige Kritik der Forschenden Bedingung der Möglichkeit der Vermeidung des dogmatisierten Irrtums. Solche Kritik verlangt vom Einzelnen vor allem die Offenheit für neue und bessere Lösungen ‚seiner‘ Probleme“ (Dahrendorf 1972, S. 305). Ein ‚theoretisches Integrationsniveau‘ könnte, so mein Vorschlag (vgl. Berr 2016, 2018c, S. 55–57), über ein Verfahren erreicht werden, das solche Integration dialektisch (vgl. hierzu einschlägig: Hubig 2013; Stekeler-Weithofer 1992) versteht – genauer: als ‚Dialektik‘ objekt- und reflexionstheoretischer Bestimmungen. Objektstufige Begriffe und Theorien beziehen sich in einem ersten notwendigen Schritt – jede/jeder muss irgendwie und mit irgendetwas unmittelbar ‚anfangen‘ – auf ein Feld gegebener Möglichkeiten (vorwissenschaftliche und wissenschaftliche Phänomene, Ideen, lebensweltliche Vorgaben, Horizonte und Erwartungen, wissenschaftliche Paradigmen und Standards etc.), das unser Denken und Handeln bestimmt. Dieses ‚Potenzial‘ fordert uns daher z. B. als „irgendein zu analysierender, weil problematisch gewordener alter Stand eines konventionellen Gebrauchs oder traditionellen Brauchs in einer bloß faktischen Praxis, etwa einer wissenschaftlichen Lehre“ ­ (Stekeler-Weithofer 1992, S. 19) zur wissenschaftlichen Stellungnahme heraus. Solche Stellungnahmen beziehen ‚Position‘, das heißt, der „diffuse Horizont möglicher Bestimmungen [wird] in konkret vorgenommene Setzungen (‚Positionen‘) überführt“ (Hubig 2013, S. 276). Viele Möglichkeiten werden auf eine Wirklichkeit begrenzt, das jeweilige Bestimmen ist dadurch aber zugleich ein Verneinen der anderen Möglichkeiten. Der Preis der (‚positiven‘) Bestimmung ist die Verneinung (‚Negation‘) der Gesamtheit (‚Totalität‘) der gegebenen Möglichkeiten, ihre Eingrenzung (‚Reduktion‘) auf eine Wirklichkeit. Beispielsweise kann landschaftsarchitektonisches Entwerfen als erkenntnisgenerierendes Verfahren (Cross 2006), als ‚Forschen‘ (z. B. von Seggern et al. 2008; Latz 2008; Buchert 2014) oder als Erfüllung sozio-politischer Bedürfnisse und Interessen (Nohl 1980, Tessin 2004) gedeutet werden (vgl. Berr 2018d) – eine jeweils berechtigte Herangehensweise, die allerdings ihren Preis hat. Die ‚Negativität‘ in Gestalt objektstufiger Theorien und Begriffe zeigt sich schnell in der Widerständigkeit des wissenschaftlich Erklärten. Theorien und Begriffe gehen nicht auf, es bleiben Erklärungslücken, Ungereimtheiten, Inkohärenzen, Inkonsistenzen etc. Reflexionsstufige Begriffe und Theorien beziehen sich antithetisch auf solche objektstufigen Theorien, Sprachgebräuche oder Praxen, wenn sich deren Erklärungswert durch Störungen, Fehlerhaftigkeit oder Zweifel als fallibel erweist. Diese Widerständigkeiten nötigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, „die Negativität jeder positiven Bestimmung ihrerseits zu erfassen, indem wir das, was wir vollzogen haben, seinerseits bestimmen. Dies nennt Hegel die Reflexion, in der wir uns der (begrenzenden)

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Perspektive und Instanz vergewissern, die dafür maßgeblich ist, dass wir unsere positive Bestimmung als negativ erfahren. […] Sie ist sozusagen die Startbasis, von der aus eine Neubestimmung des Potenzials […] vollzogen werden soll, und sie ist insofern ein Beitrag zu einer Wiedererschließung des Bestimmens in seiner Gesamtheit“ (Hubig 2013, S. 276). Eine metastufige bzw. reflexive ‚Integration‘ hätte vor diesem Hintergrund die Aufgabe, sich erneut des ‚Potenzials‘ zu versichern und erreichte ‚Positionen‘ als das zu nehmen und zu verstehen, was sie sind: als wissenschaftliche ‚Setzungen‘, die nur möglich sind um den Preis der methodisch gerechtfertigten Ausblendung anderer Möglichkeiten (Begriffe, Methoden, Paradigmen, Ideen, etc.). Auf diese Weise mag sich die Gefahr eines „dogmatisierten Irrtums“ (Dahrendorf 1972, S. 305) begrenzen oder bannen lassen, kann eine entsprechende ‚Offenheit‘ der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler den Prozess immer neuer und hoffentlich ‚besserer‘ Theorien vorantreiben. Für Theorien beispielsweise landschaftsarchitektonischen Entwerfens würde dies bedeuten, diese Theorien wieder im Licht des „Weltzusammenhang[s]“ (Picht 1969, S. 433) als Gesamtheit des Möglichen zu verorten, in das Entwerfen stets schon hineingestellt ist und auf den Entwurfstheorien als ‚Setzungen‘ (‚Positionen‘) bestimmend (‚negativ‘) antworten. Gewiss ist mit dieser ‚Integration‘ kein letztgültiger Stand des Wissens erreicht. Vielmehr ist dieser Wissensstand ebenfalls nur unter dem Vorbehalt der ‚Fallibilität‘ zu rechtfertigen und provoziert zudem als „Differenzgenerator“ (Reckwitz 2005, S. 67; Hervorhebung im Original) „die Produktion von Gegenvokabularen“ (Reckwitz 2005, S. 65). Überhaupt lässt sich die Vielfalt möglicher wissenschaftlicher Standpunkte nicht nivellieren, sondern diese ist anzuerkennen. Der Philosoph Gottfried Martin hat daher in einer weiteren Variante dialektischer Integration erneut an die Notwendigkeit erinnert, „die Vielheit der Standpunkte anzuerkennen“ (Martin 1965, S. 328). Und genau diese Vielheit der Standpunkte könne „dialektisch genannt werden“ (Martin 1965, S. 330). Es handelt sich dabei um eine ‚aporetische Dialektik‘, weil erstens einzelne Standpunkte „nicht aporienfrei gemacht werden“ und zweitens „die Vielheit der möglichen Standpunkte nicht systematisch abgeleitet“ und daher „auch nicht vollständig dargestellt werden“ (Martin 1965, S. 331) könne. Zweck solcher Integration bzw. ‚Synthese‘ kann lediglich Orientierung im Rahmen einer Orientierungs- und Aufklärungsfunktion wissenschaftlichen Systematisierens sein. Erst aus einer solchen Perspektive kann die Vielheit der Begriffe und Theorien in ihrer Differenziertheit bislang berücksichtigter Aspekte gesichtet, verstanden und gewürdigt werden, um zudem die Grenzen (‚Aporien‘) und damit die Reichweite des Geltungsanspruchs der Begriffe und Theorien kritisch aufzuzeigen.

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6.2 Grenzüberschreitungen: Inter- und Transdisziplinarität Es ließ sich zeigen, dass die Landschaftsarchitektur als ‚polyparadigmatische‘ Disziplin schon ‚ihrer Form nach‘ (Gutmann 2005) interdisziplinär verfasst ist. Als ‚diffuse‘ Disziplin (Körner 2006) und als ‚Meta-techné‘ (M. Gutmann) ist sie zudem – auch das ließ sich zeigen – auf Anschluss an die Alltags- bzw. Lebenswelt betroffener Akteure angewiesen. Das heißt, die Landschaftsarchitektur ist durch ihre eigene disziplinäre Form auf Inter- und Transdisziplinarität verwiesen. Disziplinübergreifende Forschung oder Kooperation kann versuchen, die Grenze zwischen den Disziplinen (Inter-Disziplinarität) oder zwischen Wissenschaft(en) und Alltagswelt (Trans-Disziplinarität) zu überschreiten.

6.2.1 Landschaftsarchitektur im Dickicht der Inter­­ Disziplinarität Schon seit langem wird in vielen Wissenschaften und Disziplinen allgemein die „Inkooperativität der Fachwissenschaften“ (Lorenzen 1974a, S. 135) beklagt und die Bemühungen von Wissenschaftlern, ihr Forschungsgebiet „schleunigst einzuzäunen und keinen anderen mehr hereinzulassen“ (Dahrendorf 1972, S. 304) mit dem Revierverhalten von Kleingärtnern in einer „Schrebergartenkolonie“ (Homann und Suchanek 2005, S. 393) verglichen. Seit Jahrzehnten werden die Versuche, diese Problematik zu überwinden, unter Stichworten wie ‚Multidisziplinarität‘, ‚Polyperspektivität‘ und insbesondere ‚Interdisziplinarität‘ (vgl. Balsiger 2005, S. 157–173; Grunwald und Schmidt 2005; Jungert et al. 2010; Kocka 1987) ausführlich diskutiert. Landschaftsarchitektur hat im Rahmen ihrer drei typischen Paradigmen Verbindung zu 1) (garten)architektonischen, 2) landschaftlichen und 3) akteursbezogenen Objektbereichen und Fragestellungen. Dementsprechend sind die Erfordernisse und Möglichkeiten interdisziplinärer Forschung oder Kooperation beträchtlich. Was 1) die architektonischen Aspekte der Landschaftsarchitektur anbelangt, sei nochmals auf die eingangs erörterte Entwurfsforschung hingewiesen. In diesem Rahmen gibt es interdisziplinäre Schnittstellen zwangsläufig nicht nur zu planerischen oder architektonischen, sondern auch zu vielen natur-, sozial- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen. Auch 2) der Bezug auf ‚Landschaft‘ in der ‚Landschaftsforschung‘ (zu diesem Begriff vgl. Hokema 2018) ist eminent interdisziplinär verfasst, worauf bekannte Landschaftsforscher auch ausdrücklich hingewiesen haben (z. B. Eisel 1992; Hard 2002; Kühne 2008, 2018; Trepl 1996). Eine typische und weit verbreitete Variante landschaftsbezogener Interdisziplinarität (weitere in Berr 2016, 2018d; Berr et al. 2018a) ist eine Form von „Multidisziplinarität“ (Potthast 2010,

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S. 180), die nicht im Sinne bloß additiver Vereinigung (Balsiger 2005, S. 214) fragmentierten Wissens verstanden, sondern mit Kühne als „multiperspektivische Herangehensweise“ (2018, S. 2) bezeichnet werden kann, um „einen Überblick über wesentliche Stränge der Landschaftsforschung zu ermöglichen“ (2018, S. 3). Wie schon bei der intradisziplinären ‚Synthese‘ besteht auch bei diesem multiperspektivischen Überblick die entscheidende Funktion in einer Orientierungsund Aufklärungsfunktion. Denn mit dieser Herangehensweise lassen sich „Standpunkte gruppieren und zu anderen Positionen ins Verhältnis setzen“, um „die vorliegenden Auffassungen zum Landschaftsbegriff ordnen und den Diskurs über Ähnlichkeiten und Differenzen erleichtern“ (Hokema 2018, S. 30) zu können. Ein solcher Überblick kann zudem die Chance eröffnen, theoretische Differenzen auch als Angebot zum wissenschaftlich fruchtbaren „Widerspruch“ und zur „produktive[n] Reibung“ (Leibenath und Gailing 2012, S. 59) von Wissenschaftlern untereinander anzuerkennen. Diesem Anliegen entsprechen beispielsweise unterschiedlich rekonstruierte und systematisierte Begriffs- und Theorie-Typologien (zum Überblick vgl. exemplarisch Berr 2018c, d; Berr et al. 2019b; Berr 2019b; Berr und Schenk 2019; Kirchhoff und Trepl 2009; Leibenath und Gailing 2012; Schenk 2017; Vicenzotti 2011). Schließlich ist 3.) auch der Akteursbezug, etwa in der Freiraumplanung, dann, wenn er tatsächlich in der „Praxis der Stadtentwicklung wieder an Bedeutung“ (Dettmar 2018b, S. 23; vgl. auch Körner 2017, S. 145; Hauck et al. 2017) gewinnen will, auf interdisziplinäre Forschung und Kooperation angewiesen. Das bedeutet, wissenschaftlich beispielsweise auch mit Stadt- und Verkehrsforschern und -planern, Architekten, Stadtsoziologen, Umweltpsychologen und Vertretern anderer Disziplinen interdisziplinär zu kooperieren. Die eingeforderte „Integration von bürgerschaftlichem Engagement bei der Entwicklung und Gestaltung urbaner Freiflächen“ (Dettmar 2018b, S. 23) wie auch die „seit den 1970er Jahren gesetzlich vorgeschriebene[.] und fallweise durch die Kommunen über den gesetzlichen Rahmen hinaus ausgeweitete[.] Bürgerbeteiligung“ (Petrow 2017, S. 62) lassen sich im Übrigen mit Blick auf ein „Neues Steuerungsmodell“ (Seibel 2016, S. 158) für Verwaltungshandeln in Planungsprozessen plausibilisieren. Seit einigen Jahrzehnten wird darüber diskutiert, dass und wie der Staat als kooperativer Verhandlungspartner betrachtet werden kann und daher nicht länger eine administrative Steuerung „von oben“ („top down“), sondern „von unten“ („bottom up“) (Walter et al. 2013) anzustreben sei. Für diese ‚neue‘ Steuerungsform bürgerte sich in der Forschung inzwischen der Ausdruck ‚Governance‘ ein (vgl. Benz 2004; Berr et al. 2018b; Fürst 2001; Gailing 2018, 2019; Kühne 2018; Leibenath 2019; Leibenath und Lintz 2018; Weber et al. 2018, S. 30–35). Bei solchen Formen interdisziplinärer wie auch bei den im Folgenden angesprochenen Formen transdisziplinärer Zusammenarbeit, die wie auch immer

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dieses Konzept implizit oder explizit voraussetzen, ist ein anderes begriffliches Konzept dienlich, das 1989 von Susan Leigh Star und James Griesemer in die Wissenschaftstheorie eingeführt wurde: das Konzept des ‚Boundary Object‘ (1989; vgl. Berr 2018a; Gießmann und Taha 2017): “Boundary objects are objects which are both plastic enough to adapt to local needs and the constraints of the several parties employing them, yet robust enough to maintain a common identity across sites. They are weakly structured in common use, and become strongly structured in individual site use“ (Star und Griesemer 1989, S. 393).

Wenn ‚Landschaft‘ in diesem Sinne als ‚Boundary Object‘ verstanden wird, kann vielleicht ein Verständnis überwunden werden, das bis heute weit verbreitet ist: Nach wie vor galt und gilt vielen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in vielen Disziplinen der Begriff ‚Landschaft‘ als „Fahnenwort“, das „alles und nichts bedeuten kann“ (Hard 1977, S. 22) und daher als „ein dankbarer Begriff mit hohem Sympathiewert und geringem Festlegungsrisiko“ (Franzen und Krebs 2005, S. 25) bezeichnet wird. Aber gerade diese Vieldeutigkeit, Flexibilität und Bedeutungsoffenheit des Landschaftskonzepts bei gleichzeitiger ­Bedeutungs-Robustheit im Sinne eines ‚Boundary Object‘ kann die Anschlussfähigkeit an unterschiedliche Diskurse, Disziplinen, Expertenmilieus und alltagsweltliche Akteurskonstellationen sowie inter- und transdisziplinäre Kooperation und Verständigung verbessern (vgl. hierzu auch Gailing und Leibenath 2012; Jones und Daugstad 1997; Schenk 2013).4 Auf ähnliche Weise ‚funktionieren‘ Begriffe wie ‚Natur‘, ‚Kultur‘ und ‚Technik‘, die mit Christoph Hubig in Anlehnung an Kant (1959 [1781]) allerdings als ‚transzendentale Reflexionsbegriffe‘ bezeichnet werden können (Hubig 2011). Das bekannte „Übersetzungsproblem“ (Balsiger 2005, S. 245) oder die „Übersetzungsarbeit“ (Eisel 1992, S. 10) kann auch hier gelöst werden, indem solche Begriffe nicht objekt-, sondern mit ‚einheitliche[m] Interesse‘ (Hubig 2011, S. 101) metasprachlich, in diesem Fall mit Bezug auf das Handlungsvermögen, verwendet werden. An anderen Stellen (Berr 2016, 2018c)

4Eine

solche Einschätzung von ‚Landschaft‘ als ‚Boundary Object‘ wurde auch auf einer Tagung der Deutschen Akademie für Landeskunde (DAL) im September 2019 in Kiel diskutiert und von vielen Vortragenden und Diskussionsteilnehmern geteilt – beispielsweise von Ute Wardenga, Peter Weichhart, Winfried Schenk und Olaf Kühne. Diese Vorträge werden in 2020 in einem Tagungsband in der Schriftenreihe „Berichte. Geographie und Landeskunde“ publiziert.

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habe ich den Vorschlag gemacht, auch den Begriff ‚Landschaft‘ im Sinne dieses Konzeptes der transzendentalen Reflexionsbegriffe einzusetzen.

6.2.2 Landschaftsarchitektur in der Arena der Transdisziplinarität Mit dem angesprochenen Konzept der ‚Governance‘ wird die Arena der Transdisziplinarität betreten, denn eine erstrebte Anschlussfähigkeit an den Erwartungs-, Erfahrungs-, Wissens- und Überzeugungshorizont (hier: von durch landschaftsarchitektonische Planungen oder Entwürfe) betroffener Menschen wird seit langem diskutiert, ohne dass der Begriff ‚Transdisziplinarität‘ selbst bereits ausdrücklich verwendet wurde (vgl. Balsiger 2005; Berr 2018a; Grunwald und Schmidt 2005; Jahn 2008; Sukopp 2010; Vilsmaier und Lang 2014). In dieser Arena können Landschaftsarchitekten auf Anspruchsträger aus Politik, Verwaltung, Wirtschaft und der so genannten ‚Bevölkerung‘, also auf ‚Bürger‘, ‚Leute‘ oder ‚Akteure‘ treffen – und damit auf nichtwissenschaftliche Überzeugungen, Wertungen, Weltanschauungen und Argumente wissenschaftlicher und nichtwissenschaftlicher Herkunft. Daher auch wird Transdisziplinarität von „Interdisziplinarität im engeren Sinne“ dadurch unterschieden, „dass ausdrücklich wissenschaftsexterne Fragestellungen und Personen aktiv die Forschung mit bestimmen“ (Potthast 2010, S. 180–181). Anders formuliert: Transdisziplinarität kann „als eine akteurserweiterte Variante“ (Weith und Danielzyk 2016, S. 10) von Interdisziplinarität definiert werden. Ähnliche Bestimmungen finden sich beispielsweise bei Jahn (2008), Laitko (2018), Pohl und Hirsch Hadorn (2008) oder Vilsmaier und Lang (2014). Als Ziel von Transdisziplinarität wird daher eine „argumentative Einheit“ (Mittelstraß 2005, S. 23) einzelwissenschaftlicher und lebensweltlicher Argumente angestrebt. Um zu diesem Zweck ein Fundament „für ein allgemeines Problemverständnis, für eine geteilte Sprache, für zu formulierende Handlungsnotwendigkeiten sowie für die Erarbeitung einer konkreten Ziel- und Handlungsperspektive“ (Weith und Danielzyk 2016, S. 10) herstellen zu können, seien ein unreflektiertes oder dogmatisches Beharren auf Deutungshoheit zu vermeiden (Gieryn 1983; Pohl und Hirsch Hadorn 2008) sowie die „unterschiedlichen Entscheidungslogiken und Spielregeln“ (Loibl 2005, S. 34) und damit die Vielfalt der Sichtweisen wissenschaftlicher und alltagsweltlicher Akteure zuzulassen und zu verstehen (Pohl und Hirsch Hadorn 2008, S. 13–14). In den Grenzbereichen der Landschaftsarchitektur wird Transdisziplinarität beispielsweise in der Umwelt- und Nachhaltigkeitsforschung (vgl. Pohl und Hirsch Hadorn 2008; Schäfer 2013; Vilsmaier und Lang 2014; Waag 2012), in der Architekturwissenschaft (vgl. Doucet und Janssens 2011; Hauser und Weber

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2015), den Raumwissenschaften (vgl. Weith und Danielzyk 2016) sowie in der Landschaftsforschung (vgl. insbesondere die Hinweise von Dettmar 2018a; vgl. zudem Küster 2012; Schmidt et al. 2018; Stemmer 2016; Tress et al. 2003; Tress et al. 2003; Weber et al. 2016; Weber und Kühne 2016; Schultz 2020 in diesem Band) thematisiert. Die Potenziale und Chancen von Transdisziplinarität in der Landschaftsarchitektur hat zuletzt insbesondere Dettmar (2018a) diskutiert und auf entsprechende Forschungsprojekte hingewiesen (vgl. auch die Überlegungen von Schultz 2020 in diesem Band). Dettmar schließt seine Überlegungen mit dem Hinweis, die Konfrontation der ‚Theorie‘ bzw. der Theoretiker mit der ‚Praxis‘ im Rahmen transdisziplinärer Kooperation könne möglicherweise dazu führen, dass „die ‚Praxis‘ die Theoretiker zu pragmatischeren Formen der Zusammenarbeit“ (Dettmar 2018a, S. 149) ‚zwinge‘. Dieser Vermutung schließe ich mich gerne an, nicht zuletzt auch mit einem Hinweis auf Überlegungen von Hegel, die er exemplarisch an menschlichen Naturverhältnissen demonstrierte, die aber allgemein genau diese Dialektik von Theorie und Praxis zur Sprache bringen (vgl. Berr 2016, S. 93–95). Demnach fungieren Theorie und Praxis grundsätzlich auch als wechselseitiges Korrektiv, insofern praktische Erfahrungen die ‚Theorie‘ und umgekehrt theoretische Einsichten die ‚Praxis‘ über kategorial ‚fremde‘ Sach- und Handlungslogiken, Schwierigkeiten und Hemmnisse ‚belehren‘ oder ‚sensibilisieren‘ können. Wie bei den inter-disziplinären Grenzüberschreitungen sind auch die Formen trans-disziplinärer Kooperation paradigmenspezifisch zu differenzieren. Die Korrekturen der Theorie durch Praxis und umgekehrt werden in Landschaftsplanung, Objektplanung und Freiraumplanung sicherlich jeweils anders ausfallen. Dass dies auch jeweils eine große Chance für die Landschaftsarchitektur in ihren Subdisziplinen in ihrem Verhältnis zur Öffentlichkeit und den Herausforderungen der Alltagswelt ist, sei abschließend als hoffnungsvolle These ausdrücklich gesetzt (Siehe Tab. 2). Tab. 2   Übersicht: Strukturen und Grenzüberschreitungen der Landschaftsarchitektur Disziplinäre Infra-Struktur

Disziplinäre Supra-Struktur

Inter-disziplinäre Trans-disziplinäre Grenzüberschreitung Grenzüberschreitung

Paradigmen-Vielfalt in ausdifferenzierten Subdisziplinen ‚Bewohnbarmachung‘ der Welt

Begriffs- und Theorien-Vielfalt ‚Dialektische‘ Begriffsarbeit

Paradigmenspezifische Formen der Inter-Disziplinarität

Paradigmenspezifische Formen der Trans-Disziplinarität

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Von der (Stadt-)Landschaft zur Architektur – Perspektiven einer konstruktivistischen Landschaftstheorie Florian Weber und Olaf Kühne 1 Einleitung: (Stadt-)Landschaften und Architektur Wiesen, Felder, Bäume, ein Flusslauf, eine kleine Siedlung mit herausragendem Kirchturm und Berge sowie gegebenenfalls Windräder am Horizont – unterschiedliche Elemente, die durchaus recht exemplarisch für Landschaften stehen beziehungsweise sich zu Landschaften zusammenfügen. Wenn wir an ‚Landschaft(en)‘ denken, geschieht dies üblicherweise mit einem Blick auf den Mittel- und Hintergrund. Wir können uns dabei mitten ‚in der Landschaft‘ befinden, doch nicht der einzelne Baum oder das einzelne Haus werden zentral, sondern gerade Abstraktionen zugunsten von Wald und dörflicher Siedlung (allg. bspw. Kühne 2018b; Weber 2018). In Differenz zu eher essentialistischen und positivistischen Zugängen haben sich seit den 1980er Jahren mit angloamerikanischen Diskussionssträngen (Cosgrove 1985; Duncan 1995) auch in Deutschland konstruktivistische Zugänge zu einer Landschaftsforschung entwickelt, präzisiert und differenziert, womit Landschaft als soziales Konstrukt in den wissenschaftlichen Fokus rückt. Neben eher suburban-ruralen Räumen wird in den letzten Jahren nun zunehmend der Blick auch auf den städtischen Pol der ‚Stadtlandhybride‘ (Kühne 2012a) gerichtet, um so aktuellen räumlichen und F. Weber (*)  Universität des Saarlandes, Saarbrücken, Deutschland E-Mail: [email protected] O. Kühne  Eberhard Karls Universität Tübingen, Tübingen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Berr und A. Hahn (Hrsg.), Interdisziplinäre Architektur-Wissenschaft, Interdisziplinäre Architektur-Wissenschaft: Praxis – Theorie – Methodologie – Forschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29634-6_9

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synthetisch zu Landschaft gedeuteten Entwicklungen Rechnung zu tragen (Hofmeister und Kühne 2016). Üblicherweise geschieht hier die Annäherung, wie einführend dargestellt, makro- oder mesoperspektivisch. Es lässt sich gleichwohl aber auch, wie aktuelle Herangehensweisen zeigen, mikroperspektivisch ansetzen, um so von Wahrnehmungen des Lebensumfeldes von Einzelnen (Stadt-)Landschaften zu konturieren (Potteiger und Purinton 2002; Wang 1999). So kann durchaus auch die Möglichkeit entstehen, aus Landschaftsforschungsperspektive stärker Architekturen einzubeziehen. Bestandteile entworfener und gebauter Umwelt zum Wohnen, Leben, Arbeiten, Freizeit gestalten stehen im Zusammenhang mit weiteren bereits angeführten Elementen, die Vorstellungen von Landschaften – Landschaftskonstrukte – generieren. In unserem Beitrag möchten wir vor dem Hintergrund der einführenden Bemerkungen ausführen, wie sich konstruktivistische Landschaftstheorien entwickelt haben, wie sich über diese (Stadt-)Landschaften als soziale Konstrukte deuten lassen und der Frage nachgehen, welche Chancen diese für die weitere Konturierung einer interdisziplinären Architekturtheorie bieten könnten. Wir verdeutlichen unsere Überlegungen anhand von urbanen Kontexten in Frankreich und den USA, wo sich Stadtlandhybride in der Durchdringung struktureller, funktionaler, lebensweltlicher, emotionaler, ästhetischer und kognitiver Dimensionen herausbilden (Kühne 2012a, 2016; Weber 2017, 2019) und damit auch Architekturen einen zu berücksichtigen Faktor darstellen. Wir folgen dabei der Auffassung, dass eine konstruktivistische Perspektive der Reflexion in multiperspektivischer Annäherung die Chance bietet, ‚von außen‘, aber durchaus auch ‚in lebensweltlicher Annäherung‘ aktuelle soziale Deutungsmuster nachzuzeichnen, die Eindrücke prägen und so auch prägen, wie wir derzeit spezifische Architekturen und architektonische Arrangements deuten – womit Kontingenz aktiver Rechnung getragen werden kann.

2 Potenziale konstruktivistischer Landschaftstheorien 2.1 Vom ‚Wesen‘ der Landschaft zum Konstrukt Seit den 2000er Jahren haben sich konstruktivistische Zugänge zu Landschaft im deutschsprachigen Raum zunehmend etabliert, wobei ‚traditionelle‘ Ansätze hiervon deutlich divergieren, aber bis heute explizit oder implizit in Betrachtungen und Analysen mitschwingen, was eine kurze Differenzierung sinnvoll erscheinen lässt. Für das Fach der Geographie bildete ‚Landschaft‘ einen entscheidenden

Landschaft und Architektur

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Anker zur Wahrung der ‚Einheit der Disziplin‘ (Schmithüsen 1973, S. 158), wobei damit bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg zum einen die Haltung von Landschaft als gegebenes Objekt und zum anderen ein Denken in klar differenzierbaren Erdräumen einherging (Hard 1977, S. 15). Letztlich konnte sich die Landschaftsforschung in diesen Zugangsweisen nur begrenzt von einer essenzialistischen Grundhaltung befreien, was wissenschaftsbezogen in eine Sackgasse führte. Essenzialistische Ansätze (lat. ‚essentia‘=Wesen) betrachten ‚Landschaft‘ als einen „betrachterunabhängige[n] physische[n] Gegenstand“ (Kühne 2018d, S. 3) und eine ‚Ganzheit‘ im Sinne eines ‚selbstständigen Eigenwesens‘. Diese Ganzheit fände sich nicht im Erleben durch die Betrachtenden, sondern müsste im Objekt von Landschaft ergründet werden (Lautensach 1973). In dieser Lesart werden ‚essentielle‘ von ‚akzidentiellen‘ dingbezogenen Eigenschaften unterschieden (Albert 2005, S. 44). Dabei wird Essentielles in Koppelung von Kultur und Natur gedacht Kultur und Natur gedacht, während Akzidentelles Akzidentielles Ablehnung findet – gerade also rezente Umbrüche wie beispielsweise Windkraftanlagen aus Sicht verschiedener Bürger*innen und Bürgerinitiativen (Chilla et al. 2015, 2016; Kühne und Weber 2018 [online first 2017]; Weber und Kühne 2016). Insbesondere rasche Umbrüche wurden beziehungsweise werden als Gefährdung für das ‚Gleichgewicht‘ von ‚Landschaft‘ angesehen: „Erfolgt die Wandlung schnell, so wirkt sie zunächst disharmonisch, da das Gleichgewicht für längere Zeit gestört ist“ (Lautensach 1973, S. 26–27). Eine Orientierung an Landschaft als wesenhafte Erscheinung führte dazu, dass sich beim Kieler Geographentag 1969, nunmehr vor über 50 Jahren, massive Missbilligung Bahn brach und die ‚klassische geographische Landschaftsforschung‘ als empirisch nicht belegbar und methodisch wenig begründbar kritisiert wurde (Kühne et al. 2018; Schenk 2006). In der Folge etablierten sich positivistisch ausgerichtete Zugänge, die nicht mehr ‚Landschaft‘, sondern ‚Raum‘ fokussierten und damit Landschaftsforschung ins Abseits drängten. Positivistisch gefasst wird Raum als Gegenstand begriffen, der durch das Zählen, Messen und Wiegen von Einzelphänomenen empirisch erschlossen und induktiv generalisiert werden kann (Egner 2010, S. 98; Eisel 2009, S. 18; Wardenga 2002, S. 9). Weder essenzialistisch noch positivistisch wird nun aber sozialen Deutungsmustern und Zuschreibungen nachgegangen, was aus unserer Sicht für Raum-Gesellschafts-Analysen eine wichtige Komponente darstellt. Beispielsweise Großwohnsiedlungen als Architekturen und physische Manifestationen, die in Frankreich nach dem Zweiten Weltkrieg landesweit bis dato gegebene Siedlungsstrukturen umfänglich veränderten, lassen sich essenzialistisch zwar als ‚akzidentiell‘ rahmen und daraus negative Zuschreibungen ableiten, aber mit

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welchen tiefergehenden Einordnungen? Positivistisch können räumliche Schwerpunkte und analytisch durchaus vielleicht Faktoren für ‚Abstiegsprozesse‘ synthetisiert werden, aber individuelle Bewertungen durch Bewohner*innen bleiben so außen vor. Letzteren können sich konstruktivistische Landschaftstheorien annähern, wie in Abgrenzung nachfolgend erläutert wird.

2.2 Landschaft als soziales Konstrukt Bereits in den 1980er und 1990er Jahren entwickelten sich im angloamerikanischen Sprachraum Zugänge zu Landschaft, die – ausgehend von einem stärker ästhetisch und weniger gegenständlich geprägten Landschaftsverständnis als im Deutschen (Drexler 2010) – nicht von einer Wesenhaftigkeit oder spezifischen Abgrenzbarkeit ausgingen, sondern auf deren Konstruktionscharakter abhoben (Cosgrove 1984, 1985; Daniels und Cosgrove 1993; Duncan 1995). Für Cosgrove (1984, S. 13) wird Landschaft zum „way of seeing“ und damit der Vorstellung inhärent gegebener Eigenschaften entrückt. Mit unterschiedlicher theoretischer Fundierung lassen sich verschiedene konstruktivistische Ansätze unterscheiden, darunter sozialkonstruktivistische, diskurstheoretische und radikalkonstruktivistische (Abb. 1), aber auch weitere, die wir unter dem Dach einer ‚neuen Landschaftsgeographie‘ subsumieren (Kühne et al. 2018). Konstruktivistische Perspektiven stimmen darin überein, dass ‚Landschaft‘ nicht als Realobjekt zu betrachten ist und somit nicht nach der ‚Landschaft als Objekt‘ geforscht wird. Vor diesem Hintergrund wird untersucht, wie Menschen in welchem Kontext auf welcher Grundlage von ‚Landschaft‘ sprechen und mit welchen Bedeutungen und Interpretationen sie diese versehen – Landschaft wird damit explizit als ein ‚soziales Konstrukt‘ verstanden. In unseren Forschungsarbeiten näherten und nähern wir uns vorrangig sozialkonstruktivistisch und diskurstheoretisch ‚Landschaft‘ an. Übergreifend setzt ‚Landschaftsforschung‘ dabei insbesondere auf der Meta-Ebene an, d. h. es wird untersucht, „was Menschen meinen, wenn sie ‚Landschaft‘ sagen“ (Haber 2001, S. 20). Wie wird ‚Landschaft‘ hergestellt, welche Vorstellungen werden verankert, welche Bedeutungen etabliert, welche alternativen Deutungen werden eher zurückgewiesen? Entsprechend richten sich Kernfragen auf ‚Landschaftskonstruktionsprozesse‘ und spezifische, an Bedeutung gewinnende Zuschreibungen (dazu ausführlich Fontaine 2017b; Kühne 2018b, 2018d; Leibenath 2014; Stotten 2015; Weber 2018). Sozialkonstruktivistische Landschaftsforschung orientiert sich stark an gesellschaftlichen Wissensbeständen, sozialen Konventionen und individuellen wie gesellschaftlichen Prozessen der

Landschaft und Architektur

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sozialwissenschaftliche Grundlagen

sozialkonstruktivistische Landschaftsforschung

sprachwissenschaftliche Grundlagen

diskurstheoretische Landschaftsforschung

Landschaft

kein physischer Gegenstand, sondern eine Konstruktion

radikalkonstruktivistische Landschaftsforschung

naturwissenschaftliche Grundlagen

Abb. 1   Übersicht unterschiedlicher Spielarten konstruktivistischer Landschaftsforschung. (Quelle: Eigene Darstellung)

Landschaftskonstruktionen und -sozialisationen (im Überblick Textbox 1). Insbesondere der letztgenannte Prozess erhält eine herausragende Bedeutung, denn das in Bezug auf Landschaft handlungsfähige Individuum muss in die gesellschaftlichen Wissensbestände, Deutungs- und Bewertungsmuster eingeführt werden. Dabei sind diese nicht gesellschaftlich gleich verteilt. Neben ‚common sense‘ Wissensbeständen finden sich die expert*innenhaften Sonderwissensbestände jener, die eine landschaftsbezogene (hier ließe sich ‚landschafts‘ auch durch ‚architektur‘ ersetzen), zumeist akademische Ausbildung absolviert haben (Kühne 2018a). Sozialkonstruktivistische Landschaftsforschung fokussiert dabei, wie die unterschiedlichen Wissensbestände verbreitet werden, wie sie sich voneinander abgrenzen und wie sie sich – häufig unter dem Einfluss einzelner Personen (mit i. d. R. expert*innenhaftem Sonderwissensbestand) – wandeln (Kühne 2008).

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F. Weber und O. Kühne

Übersicht

Textbox 1: Sozialkonstruktivistische Landschaftsforschung (Quelle: Eigene Zusammenstellung, veröffentlicht in Kühne et al. 2018, S. 18–19) • Grundlagen – Wirklichkeit als gesellschaftlich konstruiert (Berger und Luckmann 2016 [engl. Original 1966]) – Phänomenologische Soziologie (Schütz 1960 [1932]) – Symbolischer Interaktionismus (Blumer 1969; Mead 1975 [1968]) • Landschaftsverständnis – ,Landschaft‘ als individuelle Konstruktion, die durch soziale Konventionen gesteuert wird – gewisse Vorstellungen finden gesellschaftliche Verankerung und Verfestigung in Form ‚heimatlicher Normallandschaften‘ und ‚stereotyper Landschaften‘ • Schwerpunkte der Forschungsperspektive – Analyse der sozialen Konstruktion von ‚Landschaft‘ – Untersuchung gesellschaftlicher und individueller Prozesse der Konstruktion, Deutung und Zuschreibungen von ‚Landschaft‘ • Zentrale Fragen – Wie wird ‚Landschaft‘ konstruiert? – Wie vollzieht sich die Sozialisation von ‚Landschaft‘? – Wie werden gesellschaftliche Stereotype von ‚Landschaft‘ gebildet? – Wie erlangen gesellschaftliche Verständnisse von ‚Landschaft‘ Verbindlichkeit? – Wie schreiben sich gesellschaftliche Normen von ‚Landschaft‘ in physische Räume ein? • Methoden – sowohl quantitative (standardisierte Befragungen) wie qualitative Methoden (Leitfaden-gestützte Interviews, biografische Methode, Photo-Voice) – häufig in Triangulation • Weiterführende Literatur – Kühne (2018d): ein ausführlicher Überblick zu ‚Landschaft‘ aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Perspektiven mit einer umfänglichen Erläuterung sozialkonstruktivistischer Landschaftsforschung

Landschaft und Architektur

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– Kühne (2006, 2018c): Landschaftswandel am Beispiel des Saarlandes – als Trendstudie – Fontaine (2017a): Sozialkonstruktivistischer ‚Landschafts‘-Zugang im Hinblick auf postmoderne Veränderungen unter anderem am Beispiel von Disneyland und virtuellen Welten – Schönwald (2017): Eine Analyse ‚hybrider Landschaften‘ am Beispiel des Chicano Parks in San Diego, des Jakobswegs und des ‚Urwalds‘ vor den Toren der Stadt Saarbrücken

Diskurstheoretische Landschaftsforschung, spezifisch in Anlehnung an die ­Diskurs- und Hegemonietheorie von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe (Laclau 1990, 2002 [engl. Original 1996], 2007; Laclau und Mouffe 2015 [engl. Orig. 1985]), abstrahiert von der Vorstellung intentional handelnder Subjekte und rückt Diskurse als temporäre Verfestigung von Differenzbeziehungen – in sprachwissenschaftlichem Rückgriff (dazu bspw. Glasze 2013; Mattissek 2008; Weber 2013) – in den Fokus. Entsprechend wird analysiert, welche Bedeutungen sich zu ‚Landschaft‘ verfestigen, welche Termini zu zentralen Knotenpunkten werden, an die sich Begrifflichkeiten ‚anketten‘, und wovon gerade auch eine Abgrenzung erfolgt. Identitätskonstruktionen setzen Äquivalenzierungen nach innen, insbesondere aber auch aktive Differenzierungen nach außen voraus, wobei Bedeutungen nie endgültig feststehen. Neben machtvollen Verfestigungsprozessen – Hegemonien – wird damit dezidiert auch auf Hinweise für Umbrüche und Veränderungen geblickt (dazu im Überblick Textbox 2). Hier zeigt sich auch ein inhaltlicher Anknüpfungspunkt an die sozialkonstruktivistische Landschaftsforschung, indem etwa der Frage nachgegangen wird, wie sich expert*innenhafte Sonderwissensbestände gegeneinander abgrenzen und ihr distinktives Potenzial gegenüber common-sense-Verständnissen von Landschaft erhalten (Bruns und Kühne 2013).

Übersicht

Textbox 2: Poststrukturalistisch-diskurstheoretische Landschaftsforschung in Anschluss an Laclau und Mouffe (Quelle: Eigene Zusammenstellung, veröffentlicht in Kühne et al. 2018, S. 23–24)

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F. Weber und O. Kühne

• Grundlagen – Strukturalismus und Poststrukturalismus, d. h. sprachwissenschaftlich orientierte Zugänge, die die Bedeutung von Sprache bei der Herstellung ‚sozialer Wirklichkeiten‘ betonen (Barthes 2007 [frz. Original 1970]; Derrida 1999 [frz. Original 1972]; Saussure 1997 [1916]) – Überlegungen Michel Foucaults zu diskursiven Formationen und Machtaspekten (Foucault 1981 [frz. Original 1969], 2007 [frz. Original 1971]) – Diskurstheorie in Anschluss an Ernesto Laclau und Chantal Mouffe (Laclau 2002 [engl. Original 1996]; Laclau und Mouffe 2015 [engl. Orig. 1985]) • Landschaftsverständnis – ,Landschaftsvorstellungen‘ als temporäre Fixierung spezifischer Bedeutungszuschreibungen – ,Landschaft‘ kein physischer Gegenstand, sondern ein diskursiv verankertes, wandelbares Konstrukt • Schwerpunkte der Forschungsperspektive – Analyse von Bedeutungsfixierungen und Bedeutungsverschiebungen – Fokus auf Machtprozesse um Interpretations- und Deutungshoheit um ‚Landschaft‘, Bezug zu materiellen Objekten schwindet • Zentrale Fragen – Wie konstituieren sich Diskurse um ‚Landschaft‘? – Welche Deutungen von ‚Landschaft‘ werden in spezifischen Diskursen hegemonial und welche alternativen Diskurse werden ausgeschlossen? – Welche Machtkämpfe vollziehen sich innerhalb der Aushandlungsprozesse? • Methoden – quantitative Annäherung: lexikometrische Verfahren, Quantifizierung diskursiver Sprecherpositionen – qualitative Annäherung: kodierende Verfahren wie die Analyse narrativer Muster, diskurstheoretische Bildanalysen – darüber hinaus adaptierte quantitativ und qualitativ ansetzende Methoden, die den Prämissen der Diskurstheorie Laclaus und Mouffes entsprechen

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• Weiterführende Literatur – Glasze und Mattissek (2009): allgemeiner Überblick über theoretische Zugänge sowie methodische Konzeptualisierungen – Weber (2015): Einführung und methodischer Überblick im Hinblick auf diskurstheoretische Landschaftsforschung – Leibenath (2014), Otto und Leibenath (2013), Kühne et al. (2013), Weber und Kühne (2016) sowie Weber (2018): Verdeutlichung der Perspektive anhand der Fallkontexte ‚Windenergielandschaften‘, ‚Almenlandschaften‘ und ‚Stromnetzlandschaften‘

Wie dargestellt, setzen sozialkonstruktivistische und diskurstheoretische Landschaftszugänge insbesondere auf der Meta-Ebene an, also gerade an abstrahierenden und übergreifenden Vorstellungen zu gesellschaftlichen Landschaftsvorstellungen. Mit Rückgriffen auf die Biografieforschung (Jakob 1997, 2013; Kühne und Schönwald 2015; Rosenthal und Fischer-Rosenthal 2007; Schütze 1983) und in Verknüpfung mit Methoden wie narrative walks und photovoice (Carpiano 2009; Castleden et al. 2016; Dean 2016; Wang 1999; Wang et al. 2003) werden nun aber auch Möglichkeiten ausgelotet, individuellen Landschaftskonstrukten und deren Entwicklung in Rückkopplung mit gesellschaftlichen Vorstellungen noch stärker ‚nachzuspüren‘. Im Hinblick auf eine interdisziplinäre Architektur-Wissenschaft bieten in einem Zusammenspiel aus makro-, meso- und mikroperspektivischen Annäherungen konstruktivistische Landschaftstheorien Chancen einer interdisziplinären Bereicherung. Verdeutlichen möchten wir dies abschließend mit einem Fokus auf Stadtlandhybride im Großraum Paris (Frankreich) sowie San Diego (Kalifornien, USA).

2.3 Stadtlandhybride und Architekturen Im Zuge der Postmodernisierung brechen ‚klassische dichotome‘ Gegensätze beziehungsweise ‚einfache‘ Gradienten auf (Hofmeister 2008; Kühne 2012b; Sloterdijk 1987; Vester 1993; Welsch 1987). Raumbezogen schlägt sich dies in einem Übergang zu Raumpastiches nieder, wobei mit dem Wort ‚Pastiche‘ „nicht einfach Entdifferenzierung“ gemeint ist, sondern letztere „setzt Differenzbildung voraus, um dann zu Hybridkreuzungen, Rekombinationen, Reintegrationen zu führen“ (Vester 1993, S. 29; mehr zum Begriff des Pastiches siehe z. B. Hoesterey 2001). Funktionstrennungen und vordefinierte räumliche Strukturen brechen

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auf, lösen sich auf – und damit räumliche Organisationsparadigmen, wie sie von der modernen räumlichen Planung präferiert wurden. Funktionsdurchmischungen und raumstrukturelle Wandlungen, wie etwa Nutzungsaufgaben, Neunutzungen, Neustrukturierungen von Nutzungen, neue Verbindungen von Funktionen wie auch durch symbolische und ästhetische Aufladungen und Inszenierungen etc. unterschiedlicher Valenzgrade werden zum Programm. Mit Stadt-Land-Fokus kommt es zu ‚Hybridisierungen‘, die wir mit dem Terminus der Stadtlandhybride fassen (Kühne 2012a, 2016; Weber 2017, 2019), das heißt, es ergeben sich intensivierende Differenzierungen, Fragmentierungen, Komplexisierungen, aber auch Vermischungen, die unsere ‚klassischen‘ Vorstellungen klarer Unterscheidbarkeiten zwischen Stadt und Land herausfordern. Urbane Lebensstile und Formen ‚dringen ein‘ in vormals eher ländlich geprägte Räume, umgekehrt findet sich Ländlich-rurales im Urbanen, wie urban gardening. Das markant ‚Hybride‘ besteht in Vermischungen, Überlagerungen, Durchkreuzungen auf ‚engstem Raum‘, worin Differenzierungen beispielsweise nach Einfamilienhausgebieten versus Industriegebieten versus Parkanlagen etc. an Prägekraft verlieren. Markant lässt sich dies beispielhaft – so unterschiedlich Frankreich und die USA historisch, politisch, planerisch etc. auch sein mögen – im Großraum Paris (konkret auf der Achse Pantin-Romainville-Bobigny-Bondy im Osten der Hauptstadt) und San Diego (konkret im East Village) beobachten. In hoher Dynamik kommt es zu Urbanisierungsprozessen in Gebieten in ­Stadtzentrums-/Downtown-Randlage, bei denen zwischen Ein- und Mehrfamilienhausbebauung und Brachflächen postmoderne Hochhausarchitekturen mit Wohn-Gewerbe-Einzelhandelmischnutzung entstehen (vgl. Abb. 2). In explorativen Interviews mit planerisch Verantwortlichen und Bewohner*innen zeigt sich, dass bisherige und neu entstehende Bausubstanz – und damit Architekturen – mit spezifischen Bedeutungen aufgeladen werden, die sich gleichzeitig im Zeitverlauf wandeln. Ein allgemeineres markantes Beispiel für massive Umbrüche architektonischer Art stellen Großwohnsiedlungen dar, die zunächst in funktionalistischer Perspektive (Le Corbusier 2011 [1925]) für Fortschritt, moderne infrastrukturelle Ausstattung und Freiraumerleben standen, im Laufe der Zeit aber stark negative Konnotationen erfuhren, was keineswegs einzig und allein über unzureichende Bausubstanz erklärt werden kann (dazu bspw. Neef und Keim 2007; Vieillard-Baron 2011, 2016; Weber et al. 2012). Gesellschaftliche Umbrüche und sich verändernde Präferenzen sind analytisch zu berücksichtigen, was sich in sich wandelnden sozialen (­Stadt-)Landschafts-Konstrukten niederschlagen kann. Konstruktivistische Landschaftstheorien können entsprechend architekturbezogenen Bedeutungswandel, sich verankernde und ebenso wieder aufbrechende temporäre Bedeutungsfixierungen beleuchten und anwendungsbezogen Hinweise für

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Abb. 2   Raumpastiches – Urbanisierung im Suburbanen (oben La Plaine de l’Ourcq im Großraum Paris, unten East Village in San Diego) (Quelle: Eigene Aufnahmen 2018)

die ‚Architekturpraxis‘ bieten. Sie können zudem dazu dienen, die Machtdiskurse innerhalb der Architekt*innenschaft ebenso wie deren Distinktionsverhalten gegenüber Personen ohne (oder mit nicht-institutionalisierten, also nicht-akademisch attestierten) expert*innenhaften Sonderwissensbeständen zu reflektieren.

3 Fazit und Ausblick Materialitäten haben, wie wir in unserem Beitrag herausgearbeitet haben, aus einer konstruktivistischen Perspektive keine Bedeutung ‚an sich‘, sondern ihnen wird individuell oder sozial Bedeutung zugeschrieben. Physische Manifestationen und damit auch konkret bauliche Objekte sind im physischen Raum vorhanden, doch können gesellschaftliche wie individuelle Zuschreibungen differieren oder umbrechen, aber auch Funktionen können sich im Zeitverlauf wandeln. Beispielhaft mag für ersteres moderne Funktionsarchitektur stehen, die keineswegs übergreifend auf Zustimmung und Gefallen stößt. Für letzteres können um- und neugenutzte ehemalige Industriegebäude stehen, die ihrer ehemals klaren funktionalen Zuordnung entrückt und mit neuen Nutzungen gefüllt, aber auch neuen Bedeutungen aufgeladen werden. Konstruktivistische Theorien betrachten Raum, konkret in alltagsweltlicher Annäherung häufig als ‚Landschaft‘ gefasst,

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F. Weber und O. Kühne

nicht als fixe ‚wesenhafte‘ Gegenstände, sondern als soziale Konstrukte, die mit Bedeutungen ‚angefüllt‘ werden. Die von uns herausgestellten sozialkonstruktivistischen und diskurstheoretischen Landschaftszugänge bieten aus unserer Sicht in multiperspektivischer Makro-Meso-Mikro-Annäherung Chancen, auch Architekturen (mit) zu erforschen und so zu einer Konturierung einer interdisziplinären Architektur-Wissenschaft beizutragen. Gleichzeitig kann die Landschaftsforschung von architekturbezogenen Perspektiven profitieren, um gestalteter baulich-technischer ‚Lebensumwelt‘ stärker als bisher Rechnung zu tragen. Inter- und auch Transdisziplinarität gehören in diesem Schnittfeld bisher eher noch nicht zum etablierten Zugriff – an einer ‚gemeinsamen Sprache‘ gilt es im Austausch als Grundlage zu arbeiten.

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Teil III Architektur und Architektur-Wissenschaft

Zur Architektur der Architekturwissenschaft Eduard Führ

Zur Fragestellung Ich möchte die Frage aufwerfen, ob der vielfach geäußerte Wunsch nach Interdisziplinarität, also nach einer die Grenzen der wissenschaftlichen Disziplinen überschreitenden Forschung, wirklich weiterführt, denn letztlich wird damit die Figurierung einer Einzeldisziplin und die Konfigurierung der Disziplinen zu einem festen Wissenschaftskomplex affirmiert. Muss nicht das aus ­Disziplin-Modulen aufgebaute Wissenschaftsgebilde und seine Logik infrage gestellt werden? Vor allem, wenn es um Architektur geht? Ich möchte damit beginnen, diese bisher sehr wissenschaftstheoretisch formulierten Fragen mit einem anschaulichen Beispiel zu beantworten. Da ich momentan in Bielefeld lebe, bietet es sich an, bei der Frage der Interdisziplinarität von Architektur das vorbildlich gedachte und vor nun 50 Jahren gegründete ‚Zentrum für interdisziplinäre Forschung‘ (ZIF) vorzustellen. Das Zentrum ist eine Einrichtung der Universität Bielefeld und wohl die erste Forschungseinrichtung, die sich Interdisziplinarität zum Ziel gesetzt hat, lange bevor der Begriff Allgemeingut wurde. Man sieht im Lageplan (Abb. 1), dass das ZIF nicht nur von der Universität getrennt ist und in den Hang des Teutoburger Waldes ‚verlegt‘ wurde – in der Vieldeutigkeit des Verbs ‚verlegen‘: hingelegt, weggelegt, momentan unauffindbar, fast so als ob es verlegen macht -, in deutlicher Distanz zur Universität, zur Fachhochschule und zur Stadt Bielefeld, quasi als Flucht aus Universität und Wirklichkeit. E. Führ (*)  Brandenburgische Technische Universität (BTU) Cottbus-Senftenberg, LS Theorie der Architektur, Deutschland © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Berr und A. Hahn (Hrsg.), Interdisziplinäre Architektur-Wissenschaft, Interdisziplinäre Architektur-Wissenschaft: Praxis – Theorie – Methodologie – Forschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29634-6_10

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E. Führ

Abb. 1   Lageplan von Universität, Zentrum für interdisziplinäre Forschung und erweiterter Innenstadt Bielefeld. (Quelle: Eduard Führ)

Das ZIF zeigt sich in seiner baulichen Anlage an den Hängen des Teutoburger Waldes von der Welt isoliert, fast wie ein Kloster (Abb. 2): die ‚Kirche‘ der Wissenschaftlichkeit (Seminarräume, Bibliothek) in der Mitte und die Wohnungen der ‚Wissenschaftsnonnen und –mönche‘ in einem Kreis um dieses Zentrum herum gelegt, zugleich eine Art Klostermauer zu Natur und Gesellschaft bildend. Die Hügel in Ostwestfalen sind sanft, das ZIF liegt nicht einmal auf halber Höhe, trotzdem führt eine dreimal eng gekehrte Straße zum Zentrum, als sei man in der Anfahrt auf ein Alpenkloster. Die Parkplätze liegen vor dem Gebäude, nicht daneben, so dass man zu Fuß noch vier Plateaus mit insgesamt fast 20 Stufen hoch-‚pilgern‘ muss. Das ZIF besteht aus einem Hauptgebäude mit Plenums- und mehreren Seminarräumen, aus einer Bibliothek und einer Lounge mit Klavier. Zudem gibt es neun Apartments (Ein-Raum-Wohnungen mit Bad und Pantry) und elf Wohnungen mit zwei bis vier Zimmern, ferner Schwimmbad, Sauna, Fitnessraum, Kinderspielplatz und Cafeteria. Es ist Utopia im wörtlichen Sinn, als nach innen orientiertes Nirgendwo.

Zur Architektur der Architekturwissenschaft

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Abb. 2   Bauten des ZIF. (Quelle: Eduard Führ)

Die interdisziplinären Forscher*innen sind in ihrer Arbeit von der Universität getrennt, sie haben eine kleine Handbibliothek mit wissenschaftstheoretischer Fachliteratur. Wünschen sie Bücher aus der Universitätsbibliothek, so werden sie ihnen gebracht. Zentrum ist es, weil Wissenschaftler zusammengebracht werden aus unterschiedlichen Disziplinen. Die Interdisziplinarität des ZIF ist somit, wenn man die städtebauliche Lage architekturwissenschaftlich ernst nimmt, ein Oxymoron (ein in sich Widersprüchliches), ein ausgegrenzter Ort für grenzüberschreitendes Forschen. Das ZIF – folgt man der städtebaulichen Sicht – zeigt keine Neigung zur Transdisziplinarität; es liegt im Teutoburger Wald, weit außerhalb des urbanen Alltags. Die oben erfolgte architektonische Beschreibung der Trennung der interdisziplinär arbeitenden Wissenschaftler*innen von der Universität und dem naheliegenden urbanen Kern einer Großstadt könnte man auch wissenschaftssoziologisch formulieren: Die bauliche Trennung hindert formelle und vor allem informelle Kontakte sowie die Wahrnehmung des konkreten regionalen Alltags durch die interdisziplinär arbeitenden Wissenschaftler*innen und die akzidentelle empirische Evaluation ihrer Fragestellung und ihrer Forschungsergebnisse. Forschung ist intellektueller Diskurs unter Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen und Aneignung und Austausch von Bücherwissen; jede ‚Ablenkung‘ vom reinen Diskurs durch die Außenwelt ist, soweit möglich, vermieden.

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Architektur einer Universität ist nicht nur ein Abbild der Art und Ordnung der in ihr gelehrten und studierten Wissenschaft, sondern bestimmt gerade auch durch den architektonischen Entwurf die Ordnung der Wissenschaften mit. Wie eine genauere Schilderung der einzelnen Leistungsphasen eines Architekturbüros zeigt1, bilden die Situierung der unterschiedlichen Innenräume in einzelnen Gebäuden, die Anordnung der Bauten auf dem Campus sowie die Verortungen von Universität, eines ZIF und einer urbanen Agglomeration zum Alltag der Menschen in der Stadt und auf dem Land nicht nur das Verständnis ihrer Bauherren und der beauftragten architektonischen Entwerfer ab, sie steuern und organisieren auch den kontextuellen (synchronen) und diachronen Prozess des Gebrauchens. In diesem Sinne gibt es nicht nur eine Wissenssoziologie (die untersucht, wer wie mitwirkt an der Genese des Wissens und der Wissenschaften), sondern parallel dazu auch eine Wissensarchitektur (die untersucht, was wie mitwirkt an der Genese des Wissens und der Wissenschaften). Wenn man im klassischen antiken Sinne – etwa im Bezug zu Vitruvs erstem Buch seiner de architectura libri decem – architectura als Gesetze und System kosmischer Wahrheiten versteht, die auf die Erde gebracht werden sollen, um etwa aus arbiträren baulichen Anlagen eine systematisierte Architektur zu machen, so kann man auch in einem zweiten Sinne von ‚architectura der Wissenschaft‘ sprechen: als spezielle Konfiguration und Systematisierung des gesamten Wissens (also in dem Sinne, wie man heute von ‚Architektur eines PC‘ spricht oder vom Politiker Egon Bahr als ‚Architekten der Ostverträge‘). Als Architektur, also als gebaute architectura – und eben nicht als vertextlichtes oder verbildlichtes Schema – gibt sie der architecturalen Ordnung des Wissens einen speziellen, einen architektonischen Sinn.

1Die

architectura der Wissenschaft schlägt sich nieder in der Beschreibung des Bauauftrags durch den Bauherrn und durch das Raumprogramm (Art und Anzahl spezieller Räume, bei einer Universität beispielhaft: 80 Seminarräume a 65 m², Dekanate für 7 Fakultäten, Büros für 70 Hochschullehrer*innen, Büros für 140 Assistent*innen, 40 Labore usw. 1 Cafeteria a 230 m² usw.) und speziellen funktionalen Anforderungen usw. Aus diesen Anforderungen entwirft ein Architekturbüro die bauliche Anlage der Universität. Diese deduziert sich nicht aus den Vorgaben des Auftraggebers, vielmehr konfiguriert und systematisiert das Büro die Vorgaben und führt so in schöpferischer Weise die quantitativen Vorgaben zu einem substanziierten und verräumlichten Sinn mit einem speziellen Verständnis vom Zueinander der Wissenschaften und von Universität (wenn denn der Entwurf gelingt) – etwa indem Linguistik mit Mathematik und mit einem Rechenzentrum in einen gemeinsamen Trakt gelegt wird oder Literaturwissenschaft mit Kunstgeschichte, Musik und einem Restaurierungslabor.

Zur Architektur der Architekturwissenschaft

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Die Frage zu Wissenschaft, architectura und Architektur wird noch komplexer, wenn es um ein wissenschaftliches Verständnis von Architektur, wenn es gar um Architekturwissenschaft geht. Denn ich habe bisher unterstellt, dass allgemein nicht infrage steht, was denn Architektur ist, aber ich habe bislang auch nur über Bauen gesprochen. Es muss bewusst sein und in eine Reflektion über Architekturwissenschaft einbezogen werden, dass in Architektur als poietisches (herstellendes) Tun darüber hinaus auch die Praxis etwa als ästhetisches Wahrnehmen und funktionales Gebrauchen einbezogen ist und auch diese Aktivitäten kreativ sein können. Zugleich muss man nicht oder nur schwach baubezogene Aktivitäten und Produkte, wie etwa Raumplanung, Landschaftsarchitektur, Städtebau, Flächennutzungs- und Bebauungsplanung, technische, soziale, analoge und digitale kommunikative Infrastrukturplanung und -realisierung bedenken, die seit Jahrhunderten wichtige Bereiche der Architektur bilden. Wenn man über die Disziplinarität bzw. die Interdisziplinarität der Architektur diskutieren will, sollte man sich also in einem ersten kritischen Ansatz klar machen, was das ist, die ‚Architektur‘. Grundlegend wäre auch zu fragen, ob denn Architektur überhaupt eine Wissenschaft sei oder Kunst oder Handwerk.

1 Die Breite der Definitionen von Architektur 1.1 Architektur als Bau(kunst)werk denken Architektur ist das Produkt eines herstellenden Tuns (poiesis); es ist ein Tun, dessen Sinn nach dem Ende des Tuns liegt. So sind Entwerfen und Bauen ein Tun, dessen Sinn Entwurf und Gebäude sind. Dabei ist allerdings noch ungeklärt, wie dieses Tun gelungen ist, ob es ein Bau-Werk oder gar ein Bau-Kunstwerk ist. Um zu unterscheiden: Ein Werk hat in irgendeiner Weise eine innere funktionale oder formale Ordnung (concinnitas). Ein Bau-Kunstwerk verweist auf einen höheren Sinn. Für uns wäre die Frage, ob Architektur einfach ein Produkt ist, ob es ­Bau-Werk oder ob es Bau-Kunstwerk ist. Aber haben nicht Produkt, Werk oder Baukunstwerk wiederum ein außerhalb von ihnen liegendes Ziel, nämlich praxis, nämlich zu einem Tun zu werden, das seinen Sinn in sich hat, so wie das Spazierengehen, das Tanzen, das Zuschauen (bei einem Fußballspiel, einer Theateraufführung) und eben das Bewohnen, und nicht in einem Werk? Müsste dann nicht die praxis bereits das erste herstellende Tun (poiesis) bestimmen?

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E. Führ

1.2 Architektur von den Architekten2 her denken Kann man die Architektur von ihrem Autor her bestimmen als das, was ein Architekt macht? Das könnte man vielleicht, wenn denn über die Jahrhunderte hinweg eine Kontinuität darin bestanden hätte, was ein Architekt sei. In der Antike – nehmen wir da nur die Darstellung bei Vitruv – war ‚Architekt‘ die Instanz, die den Bauwerken eine kosmische und rational einsichtige Ordnung gegeben und sie damit dem Kosmos etwas nähergebracht hat. Im Frühund Hochmittelalter war bei den entsprechenden öffentlichen Bauten der sapiens architectus ein hochrangiger adeliger oder kirchlicher Bauherr (siehe Binding 1988). Bis 1934 konnte man auch ohne Studium Architekt sein, denn der Berufsname war nicht geschützt. So erst konnten etwa Le Corbusier, Ludwig Mies van der Rohe oder Walter Gropius Architekten sein, wie manche Maurermeister oder Bauunternehmer auch. Seit der nationalsozialistischen Erfindung der Reichskulturkammer (im September 1933) war das sogenannte Arische Blut eine conditio sine qua non für den nunmehr geschützten Begriff des Architekten, sodass man dieses Verständnis von ‚Architekt‘ und ‚Architektur‘ nicht ernst nehmen konnte. Zugleich wurde der Bauingenieur der DAF, der Deutschen Arbeitsfront, zugeordnet, somit als Techniker angesehen und klar vom Bereich der Architektur getrennt. Man hat in den Jahren nach dem 2. Weltkrieg erkannt, dass es nicht reicht, einen Entwurf zu machen und ihn einem Ingenieur ‚zum Rechnen‘ zu geben. Es reicht auch nicht, den baumeisterlichen Umgang mit dem Material im Nachgang zum Entwurf einem Handwerker zu überlassen. Ein Architekt muss auch Bauingenieur und Baumeister sein. Ist ein Architekt dann ein Individuum, das – selbdritt3 – aus Entwerfer, Bauingenieur und Baumeister besteht?

2Ich

benutze hier bewusst die maskuline Form des Berufsinhabers. Die genderneutrale Schreibweise als Architekt*in wäre in heutiger Zeit zwar angemessener, für die Zeiten bis ins späte 19. Jahrhundert hätten wir aber einen Euphemismus, der die historische Wahrheit übertünchen würde. 3Ich benutze dieses Wort im Sinne kunsthistorischer Ikonographie, etwa wie es als Titel eines Bildes von Leonardo da Vinci auftritt.

Zur Architektur der Architekturwissenschaft

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Was tut ein Architekt selbdritt? Wenn man Architektur als entwerfendes Handeln begreift, wie verläuft das Handeln? Wir hatten bereits gerade die Kontingenzreihe von „Entwerfen → ‚Rechnen‘ → Bauen → Bewohnen“ infrage gestellt. Aber liegt der Beginn, der erste Grund der Wirkungskette im typischen Tun, dem Entwerfen, des Architekten? Ist er das ‚Genie‘, im Sinne der Romantik oder eines Fountainhead (Ayn Rand 2005), also eines Subjekts, das sich selbst die Regeln setzt und aus dem es sprudelt, wie aus einer Quelle? Das glaubt man so bis heute, allerdings nur dann mit Recht, wenn man die geniale Kreativität eines guten Architekten als einen Teil seines Wirkens sieht, das zusätzlich durch die simplen oder auch kreativen typologischen, ästhetischen und funktionalen Wünsche des Bauherren, durch Baugesetze und -verordnungen, durch Baunutzungs- und Bebauungspläne, durch möglicherweise kreativen Einsatz aktueller Bautechnik und Bauverfahren und durch das bisweilen sehr kreative Einrichten und Wohnen der Nutzer beeinflusst und gelenkt wird. Die Ereigniskette beginnt also nicht mit dem Architekten, er ist vielmehr ein weiteres kreatives Glied in der Reihe, die mit einem affirmativen oder kreativen Alltag beginnt.

1.3 Architektur ohne Architekten denken Der quantitativ weitaus größte Teil der Architektur ist Architecture without Architects, ein Begriff, den der in die USA emigrierte österreichische Architekt Bernard Rudofsky durch eine Buchpublikation zu der gleichnamigen Ausstellung im MoMA in New York prägte (Rudofsky 1965). Alternative Begriffe dazu sind ‚traditionelle Architektur‘, ‚non-pedigreed architecture‘, ‚anonyme Architektur‘ oder ‚indigene Architektur‘. Dabei ging es ihm zum einen vordergründig darum, im wörtlichen Sinne des Titels Architekturen ohne Architekten vorzustellen. Er zeigt den Lesern ferner die Fülle von außereuropäischen Vorstellungen der Gestaltung immobilen und mobilen Wohnens, so mehrere Arten von Zelten (von Nomaden in Nordafrika) und Wohnbooten (in Shanghai). Es geht ihm aber drittens auch darum, die hohe künstlerische Qualität der Wohn- und Lebenskulturen nicht-europäisierter Gesellschaften herauszuheben. Die architektenlos erzielte – sicherlich nicht immer hohe – architektonische Qualität ist nicht das Ergebnis individueller Entwurfsleistung einer Person, sondern ein eventuell jahrhundertelanger interaktiver und typologisierender Vorgang, an dem die ganze Ethnie mitwirkt. Es mag Spezialisten geben für das Errichten dieser Wohnorte, aber sie entwerfen sie nicht. Sie sind Handwerker, weder Künstler noch Wissenschaftler.

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E. Führ

Die Qualitäten der Wohnorte bilden sich heraus in der diachronen und synchronen Interaktion der Ethnien, sie formen so ihre Praxis.

1.4 Architektur von den Nutzern her denken Muss man die Architektur also vom Nutzer her denken? Man ist geneigt, Martin Heidegger zu bemühen, der in seinem Darmstädter Vortrag über Bauen Wohnen Denken (1951) sich für den Vorrang des Wohnens eingesetzt und dabei seine phänomenologische Sicht des Seins in der Welt deutlich gemacht hat.4 Heidegger macht aber lediglich eine grundsätzliche Aussage über das Wohnen als Sein in der Welt, ohne die Mikropraxis des Wohnens und ohne die Mikrointeraktion zwischen den Dingen und den Menschen zu untersuchen und zu bewerten. Es bleibt allein der Hinweis, dass es nicht reicht, rückwärtsgerichtet den Herrgottswinkel in alten Schwarzwaldhäusern zum Vorbild zu nehmen. Die Dinglichkeit zu einem mit den handelnden Menschen gleichrangigen Akteur zu erklären, wie es die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) tut, hilft auch nicht viel weiter. Sie ist schlüssig, wenn – wie bei der Untersuchung des Berliner Schlüssels durch Bruno Latour (1991) – ein eindimensionales Werkzeug gegeben ist, das ein Mensch spezifisch5 nur so und nicht anders benutzen kann. Die Untersuchung von Dingen mit komplexen und vagen Bestimmungen, die Interpretations- und Handlungsspielräume enthalten, steht eigentlich noch aus. Sie ist ohne eine Werkanalyse (siehe oben) nicht zu leisten. Es gibt ferner Ansätze zur Theorie des Gebrauchens, die die Materialität/ Widerständigkeit der Dinglichkeit der Architektur und die daraus resultierende Einflussnahme auf das Handeln ganz infrage stellen oder zumindest aus ihren Erläuterungen ausklammern. Das aneignende Verhalten von Architektur wird durch textliche und bildhafte Narrationen erklärt. Dieser Ansatz hebt die Notwendigkeit von Architektur auf und macht sie eigentlich überflüssig. Er kann

4Siehe

http://www.cloud-cuckoo.net/openarchive/wolke/deu/Themen/themen982.html. Berliner Schlüssel wurde erfunden, um abzusichern, dass die Hauseingangstüren von Miethäusern des Nachts abgeschlossen werden. Er ist ein doppelbartiger Schlüssel, den man von seiner einen Seite in das Schloss der Haustür einführt, den man aber von der Innenseite nur herausholen kann, wenn man mit dem zweiten Bart die Tür wieder abschließt. Die Tür muss abgeschlossen werden, wenn man seinen Schlüssel mitnehmen will. Natürlich kann man den Schlüssel auch im Schloss lassen, dann aber ist er bestimmt nach kurzer Zeit weg.

5Der

Zur Architektur der Architekturwissenschaft

217

jedenfalls nicht die Basis einer Wissenschaft der Architektur sein (dazu siehe Führ 2012).

1.5 Architektur vom Studium der Architektur her denken Seit geraumer Zeit wird Architektur an den Universitäten unterrichtet und studiert. Im durch die Anzahl der Unterrichtsstunden ausgewiesenen Zentrum des Studiums steht das Erlernen des Entwerfens von Bauten, von Ensembles, des urbanistischen, dörflichen oder landschaftlichen Umfeldes. Dazu sind praktische Fähigkeiten, wie z. B. Vermessen, Zeichnen von Hand und Umgang mit entsprechender Software zu erwerben. Vor allem aber ist bauingenieurliches, baujuristisches, bauhistorisches und breites gesellschaftswissenschaftliches Kontextwissen erforderlich. Zum Hereinholen der Wirklichkeit und zur Vorbereitung auf die Praxis nach dem Abschluss sind Exkursionen und Praktika wichtig. Hinzu kommt die Theorie der Architektur als Reflexion über das, was man in der Lehre und im Beruf der Architektur konkret tut, und als kritische Untersuchung, was denn Architektur außerhalb von willkürlichen und allein punktuell-historisch angewandten Haltungen tatsächlich ist. Vergleicht man die Studiengänge in nur einem Staat oder auch international, so erkennt man, wie unterschiedlich Architektur definiert wird. Das liegt zum einen in den unterschiedlichen Agglomerationen von Fächern. Je nach Zeitgeist gibt es das Fach Soziologie oder Architekturtheorie oder auch nicht, gibt es eine Integration mit dem Bauingenieurwesen oder auch nicht, gibt es einen Bezug zu den anderen bildenden Künsten oder auch nicht. Der Zeitgeist zeigt sich aber auch in den unterschiedlichen Verständnissen der Einzelfächer. Mal liegt der Schwerpunkt im kreativen Entwerfen, mal in der Anwendung von gelernten Regeln (die DDR hatte dazu die Bezeichnung ‚Belegarbeit‘) mal beim Abzeichnen und Nachzeichnen vorgegebener Bauformen und Ornamente, mal im Erlernen des Zeichnens. Die Architekturtheorie wird manchmal als Geschichte der Architekturtheorien verstanden, manchmal als Erlernen kreativen ‚Wordings‘ und Marketings, mal als Interpretation von Gebäuden im Kontext einer Kunstgeschichte, mal als Entwurfstheorie, mal als Philosophie über der Architektur oder als Philosophie über die Architektur, mal als Wissenschaftstheorie oder als kritische Sicht in die Praxis.

218

E. Führ

Was heißt aber ‚Zeitgeist‘? Der Begriff bezeichnet den Einfluss außeruniversitärer gesellschaftlicher, politischer und kultureller Haltungen und der Verständnisse und Praxen von Architektur im jeweiligen Alltag. Bedenkt man all dies, so wird verständlich, dass man auch nach dem erfolgreichen Abschluss des Studiums der Architektur noch kein Architekt ist. Man ist Bachelor, Master, Diplomingenieur; Architekt wird man erst, wenn man nach langjähriger erfolgreicher Praxiserfahrung von den Peers in der Architektenkammer als Architekt anerkannt wird. Das Studium der Architektur allein legitimiert nicht zum Machen von Architektur, jedenfalls nicht in eigener Verantwortung. Also nicht das Studium der Architektur macht eine Person zum Architekten, das Studium ist – zumindest in Deutschland – allein eine conditio sine qua non, Architekt wird man folglich erst durch die Praxis nach dem Studium und in der Entscheidung über die darin gewonnenen Erkenntnisse und deren Umsetzungen durch die Peers der Architektenkammer. Es gibt also einerseits gute Gründe, die Architektur vom Werk, vom Architekten, von einer traditionellen Baukultur, vom Nutzer oder vom Studium her zu denken. Es gibt aber auch gute Gründe zu erkennen, dass die jeweiligen spezifischen Verständnisse nicht isolierbar, sondern miteinander verschränkt sind.

2 Architektur ist und wird Wissenschaft Gleichwohl zeigt die Ansiedlung der Architektur in den Universitäten, dass Architektur als Wissenschaft verstanden werden soll, wenn die Wissenschaft heute auch von der Praxis und nicht von der Wissenschaft her definiert zu sein scheint. Im Gegensatz zur bildenden Kunst, bei der die Wissenschaft erst nach dem Produkt kommt, geht sie in der Architektur dem Machenkönnen voraus, sie ist die notwendig vorhergehende Basis für den Erwerb von Erfahrungen in der Praxis. Das Ziel der bildenden Kunst ist, sich durch ein Werk in der imaginären Welt der Bilder zu verorten, bzw. sie zu überwinden und zu erneuern. Das Ziel der Architektur ist es, in die reale Welt einzugreifen und sie und ihre Praxen zu verändern. Wie hat sich die Architektur zu einer Wissenschaft und als Wissenschaft entwickelt6? Wie geht sie mit der Bivalenz von Wissenschaft und Praxis um?

6Ich

kann hier nicht der Frage nachgehen, ob Architektur nicht eher an eine Kunstschule gehört.

Zur Architektur der Architekturwissenschaft

219

2.1 Vitruv In den jeweils ersten Kapiteln des ersten und des zweiten Buchs der de architectura libri decem (um 33 v. Chr) erläutert Marcus Vitruvius Pollio (Vitruv), (80–70 v. Chr. – ca. 15 v. Chr.) die Entstehung der Architektur in Abgrenzung zur bloßen aedificatio. Er geht zur Begründung zurück an den Beginn der Menschheitsgeschichte. Die sich am Feuer zusammenfindenden Menschen begännen zunächst, die Behausungen der Tiere nachzuahmen. Vom gelingenden Hausbau (aedificio) schritten sie zu anderen Künsten (artes) und Wissenschaften (disciplinas) fort. Sie sähen dann in die Zukunft und rationalisierten die Ordnung der Bauten (Vitruv Buch II, Kap. 1; nach Fensterbusch7 1976, S. 79–85). Dabei stiegen sie die Stufenleiter der Wissenschaften bis zur höchsten Stufe empor, wie Fensterbusch übersetzt (1976, S. 30 (Latein)/S. 31 (Deutsch)). Letztlich gelangten sie ad summum templum architecturae (Vitruv bei Fensterbusch 1976, S. 30), könnten aber durch Kenntnis von Geometrie, Astrologie und Musik noch eine weitere Stufe hinaufsteigen und Mathematiker werden (Vitruv Kap. 1, Buch I; nach Fensterbusch 1976, S. 34/35). Damit wird klar, dass architectura eine Vorstufe der Mathematik ist. Für Vitruv gilt: „architectura est scientia pluribus disciplinis…“ (Vitruv, Buch I, Kap. 1, erster Satz, Ausgabe von 15118). Die Aussage architectura=scientia ist allerdings nicht als Subsumtion zu verstehen (wie etwa bei der Aussage ‚Die Erle ist ein Baum‘), sondern als Gleichsetzung, die man auch umkehren kann (scientia = architectura). Die architectura erwächst aus fabrica (Handwerk) und ratiocinatio (Rode 1796 übersetzt diesen

7Ich

zitiere hier nach Fensterbusch 1976, weil es die am meisten verbreitete Übersetzung Vitruvs ins Deutsche ist. Dabei muss zum einen bedacht werden, dass die Übersetzung eine spezifische Interpretation ist, auf die ich hier nicht weiter eingehen kann. Hilfreich ist die Nebeneinanderstellung des lateinischen und des deutschen Textes, weil man so die lateinischen Begriffe finden kann. Bedauerlicherweise ist der lateinische Text philologisch nicht immer gesichert (siehe nächste Anmerkung). 8Fensterbusch 1976, S. 22 gibt an dieser Stelle eine auf den Architekten bezogene Proposition wieder: „architecti est scientia pluribus disciplinis“, was er so übersetzt: „Des Architekten Wissen umfaßt mehrfache wissenschaftliche und mannigfaltige elementare Kenntnisse“ Fensterbusch 1976, S. 23). Werner Oechslin hat Oechslin 2012 ohne genaue Angabe darauf hingewiesen, dass die Stelle auch als ‚architectura est scientia … gedruckt zu finden ist. Und in der Tat findet man im Druck der de architectura de libri decem von 1511 Oechslins Aussage bestätigt. Auch vom Verständnis der architectura im gesamten

220

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Begriff als ‚Theorie‘, Fensterbusch 1976 als ‚geistige Arbeit‘, Fischer 2009 als das, „was den Anteil an Einsicht und planender Berechnung in den hergestellten Dingen auszuarbeiten und darzustellen vermag“ (Fischer 2009, S. 194). architectura ist die Ratio-nalisierung, die Anwendung einer Ratio, die nicht aus der Arbitrarität der Welt stammt, Vitruv versteht sie weitgehend als Mathematik. Aus einem Gebäude, das so oder auch anders errichtet werden könnte (aedificatio), wird durch Anwendung der Mathematik architectura. Der architectus ist nicht Handwerker, sondern derjenige, der um die idealen Ordnungen weiß und sie vererdet; er ist, wie man im Mittelalter deutlicher sagt, ein saper architectus (dazu siehe Binding 1998 oder Fischer 2014). Liest man Vitruv mit dem mittelalterlichen Konzept der artes liberales, so findet man eine Fülle von Aussagen zur fabrica (aedificare) und zur armatura (Buch X). Zugleich erkennt man an den jeweiligen Inhalten die Zuordnung zu dem Quadrivium der liberales artes, vor allem zur arithmetica und zur Harmonie (musica) (vor allem Buch III) sowie zur astronomia (Buch IX). Scientia/architectura ist kosmische Ordnung a priori, die sich die Erdenmenschen durch ratiocinatio kognitiv aneignen und in der armatura anwenden, damit eine bauliche Anlage Architektur wird. scientia/architectura ist empirisch-explorativ aus der Wirklichkeit nicht zu gewinnen. Damit ist ­ architectura est scientia eine Aussage, die für die Architektur heute nicht sehr hilfreich ist.

2.2 Artes liberales Die artes liberales spielten erst im Mittelalter eine herausragende Rolle beim Verständnis und bei der Vermittlung von Wissen, das bis ins 13. Jahrhundert vor allem in Klosterschulen und im freien Unterricht bei einzelnen Meistern vermittelt wurde.

Werk Vitruvs ist dieses Verständnis schlüssig. In der deutschen Übersetzung von August Rode von 1796 findet man den ersten Satz des Kap. 1 des Ersten Buches zwar architectura mit ‚Baukunst‘ übersetzt;, die Aussage ist aber „Die Baukunst … ist eine Wissenschaft“ Vitruv/Rode 1796, S, 14 (https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/vitruvius1796a) Fischer geht in seiner Neuübersetzung der Sätze von dem bei Fensterbusch abgedruckten lateinischen Text „architecti est scientia“ aus, ohne ihn an anderen Quellen zu prüfen.

Zur Architektur der Architekturwissenschaft

221

Im 13. Jahrhundert taten sich Lehrer und Studenten9 von Schulen zusammen und gründeten Universitäten, zuerst in Bologna, Paris und Oxford. Der Begriff der Universität wurde dabei von ‚universitas‘ abgeleitet, was in Bologna die Gemeinschaft der landsmannschaftlich definierten Scholarengruppen, in Oxford die Gemeinschaft der Lehrenden war. In Paris wurde die Universität durch die von Philipp II. gewährte Immunität von der weltlichen Gerichtsbarkeit bestimmt. Die Universitäten nahmen die Orientierung an den artes liberales auf. Gemeinsame Curricula und Standardwerke wurden festgelegt, ein Verschriftlichungs‚turn‘ (wie man heute sagen würde) löste mündlichen Unterricht und Diskurs ab. Ausgehend von Paris gliederten sich die Universitäten in Fakultäten: Dabei standen die artes liberales, deshalb in Deutsch auch ‚Artistenfakultät‘ genannt, als studium generale am Anfang eines universitären Studiums. Es folgten facultas sacra (Theologie), decreta et leges, ius canonicum et civile (Jurisprudenz) und physica, chirurgica ars (Medizin)10. Die artes liberales bilden das studium generale, sie werden bisweilen als ‚Lehrstoff der Unterrichtsfächer‘ (Binding 1988, S. 165), mit denen die Schüler sich zu beschäftigen haben, oder als ‚scientia‘ (Binding 1988, S. 165) verstanden. Sie verallgemeinern, verregeln, sind verpflichtend und stehen damit höher als konkrete Materialität, Empfindlichkeit und vereinzelte Erfahrungen; das Höhersein ist dabei verstanden als Durchgeistigung und als Nähersein zu Gott.

2.3 Die bildliche Darstellung der artes liberales Die artes liberales werden als Frauenfiguren dargestellt, die sehr oft statuarisch sitzend und nebeneinander gereiht visualisiert sind, sie werden in trivium (grammatica, dialectica, rhetorica) und quadrivium (arithmetica, geometria, musica, astronomia) getrennt. Ich möchte eine Abbildung herausgreifen (Abb. 3), das Bild der artes liberales in Herrad von Landsbergs Hortus Deliciarum (Ende des 12. Jahrhunderts). Es handelt sich um ein Bild mit vier männlichen poete vel magi, voneinander isoliert, aber an dem Rand eines über ihnen befindlichen Tondo orientiert. Das Tondo hat einen inneren Kreis, in dem sich die philosophia befindet, frontal gezeigt in der statuarischen Pose einer königlichen Herrscherin, deren

9Auch

hier verzichte ich aus bekannten Gründen auf den gendergerechten Begriff.

10http://www.rdklabor.de/wiki/Fakult%C3%A4ten,_die_vier

222

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Abb. 3    Allegorie der Philosophie (Faksimile des verbrannten Originals). (Quelle: Allegorie der Philosophie CC Wikipedia)

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Krone aber aus drei Köpfen besteht. Von ihr gehen drei (Trivium) und vier (Quadrivium) Flüsse aus. Im gleichen Kreis unter ihr sitzen dem Betrachter des Bildes zugewandt die jeweils an einem Buch schreibenden Sokrates und Plato. Außerhalb des inneren Kreises stehen die mit ihren Attributen ausgestatteten artes liberales in sieben ‚Arkaden‘, deren Reihe genau den Ring innerhalb des Tondo ausfüllen. Hier ist durch die Visualisierung der Versuch unternommen, eine Ganzheit herzustellen. Während die vier poete vel magi, die philosophia und die beiden antiken Philosophen aus einem einzigen Blick auf das hochrechteckige Blatt gesehen sind und also auf den Ort des Betrachters bezogen sind, stehen die artes rundum auf dem Ring des inneren Kreises und können aus der vorgegebenen Richtung des Blicks nicht erkannt werden. Da die Bögen der ‚Arkaden‘ zudem noch beschriftet sind, bleibt einem Betrachter nichts anderes übrig, als zunächst den Kopf zu drehen (das reicht zur Erkenntnis und zum Lesen der bildlichen Informationen am rechten und linken Rand). Um die oben und vollständig auf dem Kopf stehenden schriftlichen und bildlichen Information verstehen zu können, muss man um das Blatt herumgehen oder es drehen. Wie man in der detaillierten Beschreibung der Visualisierung der artes liberales erkennen kann, vermitteln sie in ihrem Aussehen, in ihrer bildlichen Anordnung und in den Anforderungen an eine betrachtende Person einen Sinn weit über die begrifflich-sprachliche Aussage hinaus (etwa: ‚hier gibt es philosophia, sieben artes liberales und vier poete vel magi). Die bildlichen Informationen sind ikonografisch, ikonologisch und ikonisch11 bedeutsam. Den Betrachter*innen der ‚Allegorie der Philosophie‘ wird vermittelt, dass die artes liberales eine geschlossene Einheit bilden, deren Kern die Philosophie ist. Diese Einheit ist durch das geometrische Muster der ‚Arkaden‘ ohne weiteres visuell wahrnehmbar, wie auch die Philosophie in ihrem statuarischen Herrscherhabitus

11Es

handelt sich hier um Begriffe der kunstgeschichtlichen Forschung. ‚Ikonographie‘ ist ein Verfahren, allgemein die Identität der dargestellten Personen und Gegenstände im Bild und ihrer Situation (an überkreuzte Holzbalken genagelter Mann=Christus am Kreuz) herauszufinden. Ikonologie richtet sich auf die spezifische Aussage eines einzelnen Werkes und seiner spezifischen Darstellungen im kulturhistorischen Werdegang des Motivs und in seinem kulturellen Kontext (Christus am Kreuz wird in dem einen Werk als leidender und elendig sterbender Mensch gezeigt in einem anderen Werk als triumphierender Held). ‚Ikonik‘ geht darüber hinaus und untersucht den Wahrnehmungsprozess der auf oder in einem spezifisch valenten Medium sinnhaft verorteten abbildenden und ikonologisch bestimmbaren oder nur sie selbst seienden Elemente zueinander und zu den Betrachtern.

224

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Abb. 4   Sieben freien Künste. Rechte Seite des Freskos in der Spanischen Kapelle von Santa Maria Novella in Florenz (Andrea da Firenze, ca. 1368). (Quelle: http://www.fineartchina.com/upload1/file-dmin/images/ANDREA%20DA%20FIRENZE11.jpg)

und die dem Betrachter teilweise zugewandten Poeten bei der Arbeit. Nicht mit einem einzigen Blick zu erkennen von einem perspektivisch gerichteten Menschen sind alle artes zugleich. Sie entziehen sich in ihrer Gesamtheit der Wahrnehmung der Menschen. Die bildliche und – wie wir bei der Analyse des ZIF in Bielefeld gesehen haben – die landschaftlich und städtebaulich verortete architektonische Ordnung definieren das, was sie abbilden und das, wofür sie gebaut wurden; mal nur in der Wahrnehmung, mal in Wahrnehmung und Gebrauch. Nehmen wir – weil gut erhalten12 – zur Klärung der Eigenmacht einer bildlichen Darstellung in Abgrenzung zu einer schriftlichen Erläuterung als weiteres Beispiel die sogenannte Spanische Kapelle (Kapitelsaal eines Klosters der Dominikaner; Ausmalung von Andrea da Firenze/Andrea da Bonaiuto 1366–68) im Gebäudekomplex von S. Maria Novella in Florenz (Abb. 4). In dieser Allegorie des Wissens, der Wissenschaft und der Weisheit sitzen auf der rechten Seite (Betrachterperspektive) auf der unteren Ebene des Bildes die sieben artes liberales in einer additiven Reihe mit den ihnen immer

Es geht um Entdeckung der in bildlicher Weise zugewiesenen Identität des Bildes, der Beziehung einer Person im Prozess des Sehens zum abbildenden oder konkreten Bildinhalt und einer Bestimmung des Betrachters durch das Bild. 12Vorläufer und weitere Darstellungen siehe Hansen 1955, S. 101.

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Abb. 5   Linke Seite des Freskos in der Spanischen Kapelle von Santa Maria Novella in Florenz (Andrea da Firenze, ca. 1368). (Quelle: http://nibiryukov.narod.ru/nb_pinacoteca/ nb_pinacoteca_painting/nb_pinacoteca_andrea_da_firenze_triumph_of_st_thomas_sacred_ sciences.jpg)

wieder zugeschriebenen Attributen und mit realen, irdischen und männlichen Repräsentanten. Auf der linken Seite befinden sich weitere sieben Allegorien, deren Verständnis in einigen Punkten aber umstritten ist13. Sie stehen für die vier Fakultäten der neuen Universitäten (Abb. 5). Die Frauen sitzen in übergiebelten aediculae, wobei die Reihen der artes liberales und die der vier Fakultäten voneinander getrennt sind. Über diesen aediculae gibt es eine zweite Ebene (Abb. 6), in deren Mitte Thomas von Aquin auf einem Thron residiert, über ihm in einem Medaillon Christus, der sich nach unten zu Thomas wendet, an seinen beiden Seiten zehn Vertreter des Alten und des Neuen Testaments. Vor ihm, untere und obere Ebene vermittelnd, kauern drei Häretiker. In der Sphäre darüber schweben die sieben Tugenden. (Hansen 1955, S. 106). Sicherlich hätte man noch auf die Gesten der Figuren, auf ihre Attribute und auf die Farbigkeiten ihrer Kleidung eingehen können. Die hier vorgelegte Schilderung des Freskos kann demnach recht klar seinen Aufbau und den Sinn der Zuordnungen deutlich machen. Warum dann hielten es Auftraggeber und

13Hansen

1955, S. 105, Anm. 16 und Schlosser 1896, S. 48–50.

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Abb. 6   Spanische Kapelle. Fresken beginnen ca. 2 m Höhe. Vor der Wand steht eine Sitzbank. (Aufnahme von 2003, als die Kapelle eingerüstet war.) (Quelle: Eduard Führ)

Künstler in einer Phase zwischen Spätmittelalter und Frührenaissance für erforderlich und für sinnvoll, das sprachlich und begrifflich zu Erfassende bildlich, d. h. sinnlich erfahrbar darzustellen? Die erste Idee aus heutiger Sicht ist es, an eine Kommunikation für Illiteraten und an eine Demokratisierung des Wissens zu denken. Dafür sind aber sowohl der Ort des Bildes, eine öffentlich nicht zugängliche Kapelle, wie auch der Inhalt des Bildes ungeeignet. Denn ohne das ikonographische Wissen, wer denn wer ist, kann man das Bild nicht verstehen. Was man unabhängig davon versteht, ist die Bedeutung von Unten und Oben, ist die Zuordnung der männlichen Repräsentanten zu den weiblichen Figuren durch Nähe – niemand käme auf die Idee, den ganz links in der Reihe der Fakultäten sitzenden Justinian der in der Mitte der artes liberales sitzenden musica zuzuordnen –, ist ferner die additive Zuordnung der Frauenfiguren zueinander und die Trennung der unteren und der oberen Ebene. Die visuelle Ordnung – besser gesagt: die visuell vermittelte Ordnung der architektonischen Elemente – in der unteren Ebene, die räumliche Zuordnung von Unten und Oben zueinander, von Nähe und Ferne, vom Sein im gleichen Raum oder von der Ausgrenzung, die antike und christliche Bedeutung von unten und oben, die Rahmungen durch aedicula oder Thron sowie der durchgehende gelbliche Fußboden der zweiten Ebene geben sprachlich-begrifflichen Aussagen und Zuordnungen, geben der ikonographischen Identität der Figuren eine zusätzliche Ordnung und ein Surplus von Bedeutung. Die vorab gewussten semantischen Beziehungen der Figuren werden zu einer Architektur des Wissens ausgebaut.

Zur Architektur der Architekturwissenschaft

227

Das wird besonders deutlich an den Abbildungen des Freskos. Bis auf wenige Ausnahmen wird dieses Bild in der Fachliteratur unten abgeschnitten abgebildet. Zum Bild, das vielleicht in 1 m Höhe vom Boden beginnt, gehört ein ornamentaler Streifen mit vierzehn gleichmäßig gereihten Tondi, die in ihrer Gleichmäßigkeit die Trennung zwischen artes liberales und den 4 Fakultäten übergreifen und sie verbinden. Die Aufnahme der realen Situation zeigt, dass die dominikanischen Mönche sich mit ihrem Augpunkt unterhalb der Darstellung der artes und der Fakultäten befinden. Damit werden die realen Betrachter zwar auf die abgebildete Wissenswelt bezogen, aber in einer Weise, die sie aus ihr ausschließt. Eine spätere artes-Darstellung (Manuskript Ms. M III 36 in der Universitätsbibliothek Salzburg, 1436 und 1451; siehe Stolz 2004, Bd. 1, S. 267–330 und Bd. 2 Abb. 47–54) macht den instrumentalen Charakter der sieben artes liberales in einer notwendigen Abfolge deutlich (Abb. 7): Auf jeweils einem Blatt befinden sich übereinander zwei Tondi; in den unteren Tondi sind männliche Repräsentanten der artes liberales gezeigt, in den oberen die artes liberales bei der Arbeit, die darin besteht, einen Baum zu fällen (grammatica), ihn zu entrinden und zuzurichten (rhetorica), daraus die Teile eines Rades herzustellen (logica), sie zum Rad zusammenzufügen (arithmetica), die Rundung des Rades durch einen Zirkel zu perfektionieren (geometria), durch das Anschlagen von an dem Reifen angebrachte Glocken ihren (irdischen?) Klang zu prüfen (musica) und das so konkret hergestellte Rad an einem kosmischen Rad zu messen (astronomia). Das achte Bild zeigt dann, wie der so hergestellte Wagen mit der theologia und dem Kopf von Johannes dem Täufer von dem (weiblichen) Trivium gezogen, vom (weiblichen) Quadrivium geschoben und von (dem männlichen) Petrus mit der Geißel angetrieben in den Himmel fährt (Abb. 8). Hier zeigt sich deutlich, dass die artes liberales als performative Mittel verstanden werden, in den Himmel zu gelangen und dass ihre Kenntnis die sie anwendenden Menschen zu diesem Weg kompetent macht. Es ist zudem bemerkenswert, dass die Funktionen der im Mittelalter deutlich von den nicht freien artes mechanicae abgegrenzten artes liberales durch eine fabrica (Fahrzeugbau) dargestellt werden. Es zeigt daran die neue Offenheit für die Alltagswelt.

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Abb. 7   rhetorica, artes-Darstellung (Manuskript Ms. M III 36 in der Universitätsbibliothek Salzburg). (Quelle: Stolz 2004)

2.4  architectura wird Architektur Seit dem späten Mittelalter gibt es immer wieder Ansätze, neben die artes liberales die artes mechanicae zu stellen. Es wäre nun die Frage, ob mit dem Bewusstwerden der in der komplexen Lebenspraxis ausgebildeten artes mechanicae die mit den artes liberales durchgeführte Zerlegung des Wissens in einzelne isolierte und nach einem intellektuellen Prinzip neu organisierten Disziplinen imitiert oder ob die praxisferne und artifizielle Ordnung aufgehoben wurde. Zuerst vereinzelt und vorübergehend, seit dem Didascalion (ca 1120/30) des Hugo von St. Viktor (1097–1141) aber nachhaltig, werden sie den artes liberales zugeordnet. Hugo benutzt dabei nicht den ‚artes‘-Begriff; er spricht von

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Abb. 8   Himmelswagen, artes-Darstellung (Manuskript Ms. M III 36 in der Universitätsbibliothek Salzburg). (Quelle: Stolz 2004)

230

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‚scientiae mechanicae‘ und meint damit Regeln, die durch Manipulation eines materialen Gegenstandes in diesem Gestalt annehmen. Wissenschaft (disciplina) ist das, was durch Nachdenken in den Gedanken Gestalt annimmt (Buch II, Kap. 1). Scientiae mechanicae und discipline sind also nur aufgrund ihres Gegenstandes unterschieden. Hugo unterscheidet lanificium, armatura, navigatio, agricultura, venatio (Jagd), medicina und theatrica. Für Hugo geht es dabei nicht um die artes mechanicae als produzierendes und ausübendes Handwerk, sondern um die Beschreitung eines Weges zur Gewinnung von Erkenntnis über die Natur, die die Menschen Gott näherbringt. Dieser Auflistung schließt sich Vinzenz von Beauvais (ca. 1190–1264) an. Ein weiteres Konzept wurde etwas später von Dominicus Gundissalinus (ca 1110–1181), einem Erzdiakon von Sevilla, in seiner Schrift ‚de divisione philosophiae‘ (1140–1150) entwickelt. Er stellt die dem Lebensunterhalt dienenden Künste der ‚artes fabriles‘ oder ‚artes mechanicae‘ den ‚artes liberales‘ gleichwertig an die Seite und gliedert sie nach dem Material, das bei ihrer Ausübung bearbeitet wird. Mit diesem Bezug auf das Material wird ein Unterschied im Verständnis der mechanica deutlich. Während Hugo sie weitgehend als ein wissenschaftstheoretisches Instrument zur14 Gewinnung von Wahrheit ansieht, versteht Gundissalinus sie als handwerkliche Durchführung. Hugos mechanica ist theoretisierend, Gundissalinus‘ ist fabrizierend. Der mechanicus benötigt deshalb auch mehr als Einsicht und Erkenntnis in das, was ist, er braucht ein ingenium in das, was sein soll. Albertus Magnus (ca. 1200–1280) erläutert die mechanischen Künste in Bezug auf Aristoteles‘ Unterscheidung von theoria, praxis und poiesis. Er untersucht zudem die Zusammenhänge zwischen diesen Bereichen, etwa indem er am Beispiel einer Waffe (eines Schwertes) den Bezug zum Krieger und zum Schmied analysiert. Nach Albertus ist das Kriegshandwerk der Schmiedekunst übergeordnet, da der Schmied sein herstellendes Tun an dem praktischen Tun des Kriegers orientieren muss. Insofern – so sagt Albertus – ist die Kriegskunst der Schmiedekunst gegenüber die architectonica ars.15 Aus dieser Zuordnung und Rangordnung der Tätigkeitsfelder macht Albertus eine umfassende Hierarchie, an deren Spitze der Bürger steht, für den produziert wird und dessen Bedürfnisse den artes die Zwecke geben. Wenn Albertus über

14Michalsky 15Albertus

Bd. 3.

bezeichnet diese Tafel als ‚Baukunst‘. Das halte ich für falsch. Magnus: 'architectonica, id est, principalis operatio'; II Phys I, 11; ed Borgnet

Zur Architektur der Architekturwissenschaft

231

die mechanischen Künste schreibt, so sieht er eine enge Verbindung zur Vermessung.16 Architektur ist aber auch Staatslehre. Der Staat bestehe aus unterschiedlichen Elementen, den Bauern, dem Militär und den Staatslenkern. Sie sind in eine architectura zu bringen17. Architecura ist sowohl eine Führungswissenschaft, wie es eben auch eine Wissenschaft ist18. Architectura wird dennoch nicht zu den artes liberales gerechnet; denn in ihr geht es um einen korrigierenden Eingriff in die Wirklichkeit; sie ist eine scientia-ähnliche ars mechanica, die aber zugleich allen anderen artes mechanicae überlegen ist. Ebenso wie Albertus geht Thomas von Aquin (ca. 1226–1274) vor. Die artes mechanicae werden den artes liberales untergeordnet. Jede ars mechanica besteht aus der ars architectonica (imperans, principalis, superior), d. h. Aus leitenden und aus ars famulans (subministrativa, subserviens, exsequens, subalterna inferior), also dienenden und ausführenden Bereichen19. Architectura ist also Leitungswissen und in jeder ars mechanica, nicht nur im Bauwesen, gefragt. Ein Leiter etwa in der Landwirtschaft wäre somit auch als architector zu bezeichnen. Der architector ist der praeceptor, gleich in welcher ars (In II sentiarium, ds 9, qu1, ar 3/co, S. 150). Er ist es nur insofern, als er „ultimam et universalissimam causam considerat et cognoscit“20. Der architector kennt ratio und Grund des Tuns.

16„Sed

non sequitur propter hoc quod demonstrationi conveniat descendere de uno genere in aliud genus omnino diversum.Sed si descendit, non descendit nisi aut, hoc est, solum, sicut dictum est, a subalternante in subalternatum et communi in propriam, sicut geometricae descendunt in mechanicas, quae sunt manuales, ut cosmimetria, altrimetria et profundimetria; vel sicut geometricae descendunt in mechanicas, quae dicuntur scientiae de ingeniis; aut sicut descendunt geometricae in speculativas, quae dicuntur perspectivae scientiae.“(Albertus; I Post Anal II, 17; ed Borgnet Bd. 2, S. 67). 17Unde etiam Tullius in libro de Republica, et Vitruvius in libro de Architectura dicunt instituisse Socratem et Platonem, quod civitas ad modum corporis humani aedificaretur. In corpore enim humano primo fundatur cor et munitur ossibus pectoralibus et officialibus membris in circuitu positis, et in extremo ponuntur membra motiva, sicut manus et pedes quibus reppellantur contraria et amahantur convenientia. Albertus Magnus, Commentarii in octo libros politicorum Aristotelis 2,3, S. 122–123. 18Albertus Magnus, Super ethica commentum et quaestiones 6,6,502 (Bd 14.2) S. 431, 67–78. 19Th.v.A.; In librum Boethii de trinitate; ps 1 qu2, ar2,ra1; S. 524 und Th.v.A.; summa contra gentiles, 1,1,2, S. 1. 20Th. v. A.; Reportationes ineditae leoninae; n3, cp12, vs8; S. 371.

232

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Eine wichtige – weil öffentliche – Quelle der unterschiedlichen Verständnisse und Zuordnungen von architectura bzw. von Architektur findet sich an ganz prominenter Stelle, dem Campanile des Doms von Florenz. Der von Giotto weitaus höher (110–115 m) entworfene als dann von Andrea Pisano und Francesco Talent realisierte (85 m) zentrierte Turm die Stadt und macht ihn – bevor Brunelleschi dann die Kuppel der Kirche noch höher baute – zum Zeichen der christlich geprägten civitas der Stadt Florenz. Der Turm besteht aus mehreren Scheiben, über dem Sockel befindet sich eine eingeschossige Scheibe mit hochrechteckigem Rahmen, in den sich auf einer Ecke stehende sechseckige Tafeln mit artes-liberales- und ­artes-mechanicae-Darstellungen befinden, die Giotto und Andrea Pisano entworfen haben21. Darüber befindet sich eine zweigeschossige Scheibe mit Skulpturen und darüber eine zweigeschossige Scheibe mit jeweils zwei Fensteröffnungen, bevor der Turm durch eine letzte in der Fassade eingeschossig gezeigte, aber tatsächlich zweigeschossig hohe Scheibe mit einem großen Fenster abgeschlossen wird. In einer Reihe mit den artes liberales (Ostseite)22 gibt es heute ein Relief mit einer architectura. In einer Reihe mit anderen artes mechanicae (Südseite) hängt ein Relief mit einem Bauwesen. Die architectura ist auf dem ersten Relief durch einen saper architectus dargestellt (Abb.  9). Das noch von mittelalterlicher Bedeutungsperspektive23 geprägte Bauwesen des zweiten Reliefs zeigt das Mauern als Tätigkeit und einen vielleicht Anweisung gebenden Baumeister. Michalsky bezeichnet die Tafel als ‚Baukunst‘ (Michalsky 1999, S. 343); man kann hier mitgehen, wenn unter ‚Kunst‘ techne im antiken Sinne verstanden ist (Abb. 10). Von ‚Kunst‘ im modernen Sinne kann man m. E. hier noch nicht sprechen. Denn am Campanile ist die ‚Architektur‘ getrennt von der Skulptur und der Malerei, die sich heute an der Nordwand und früher wohl an der Ostwand befanden, aber nicht an der Südwand, wo die Architektur angebracht ist. Architektur steht also mit Medizin, dem Weben und dem Reiten in einer Reihe, nicht aber mit den Bildenden Künsten.

21Sternagel schreibt die Darstellung der artes nach Hugo dem Pisano zu und die Darstellung der Bildenden Künste (um einen modernen Begriff zu nehmen) dem Giotto; Sternagel 1966, S. 121. 22Die Tafeln mit den artes scheinen im Laufe der Jahrhunderte umgehängt worden zu sein (Michalsky 1999). 23Die Größe der dargestellten Personen hängt nicht von ihrer Lebensgröße ab, sondern von ihrer Bedeutung, etwa innerhalb der christlichen Theologie oder in einer politischen oder sozialen Hierarchie.

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Abb. 9   architectura, Florenz, Campanile des Doms. (Quelle: Eduard Führ)

Die Tafeln des Campanile wenden sich – wegen ihrer Anbringung in der untersten Scheibe des Turms – besonders an die Bewohner von Florenz. Sie machen aus dem Zeichen der Stadt einen Ort und ein Monument für die Bewohner, genauer gesagt: einen Turm für Handwerker und für literati. Durch die Ordnung der Tafeln am Turm wird ein System konfiguriert, das man im vierfachen Sinne als Architektur bezeichnen kann: Es wird als Fassade zur Identität eines Gebäudes, es wird zum Zentrum und dadurch zur Bedeutungs-

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Abb. 10   Bauwesen, Florenz, Campanile des Doms. (Quelle: Eduard Führ)

achse des Stadtraums, beides entspricht dem heutigen Verständnis von Architektur. Es wird zudem – im antiken Verständnis des Begriffs – als konfiguriertes System zur architectura des Wissens und es verweist auf die Wertung der sozialen architectura der civitas von Florenz. Das Verständnis der ‚Baukunst‘ als eine als Mauern dargestellte Aktivität tritt Anfang des 15. Jahrhunderts an der Fassade von Orsanmichele in Florenz auf. Ein entsprechendes Relief findet sich im Sockel einer Nische, in der Skulpturen

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Abb. 11   Nanni di Banco, Architektur und Skulptur, Orsanmichele, Florenz. (Quelle: Eduard Führ)

von vier Bildhauern christlichen Glaubens stehen, die sich zur Zeit Diocletians geweigert hatten, eine Statue für den römischen Gott Aesculap herzustellen (Abb. 11). Die Zuordnung des Bauwesens zu den vier Skulpturen und zur Bildhauerei lässt mit Recht von ‚Baukunst‘ sprechen. Damit ist auch ein Schritt gemacht, Architektur aus der Sphäre der Wissenschaften heraus in die Sphäre der Kunst zu verschieben. Diese Zuordnung geschieht wiederum im öffentlichen Raum.

3 Architektur als Wissenschaft Ein erster Weg der Entwicklung der Architektur zu einer Wissenschaft führt zur Ingenieurwissenschaft und zugleich zur Spaltung der Architektur in Kunst und Wissenschaft, die besonders in Frankreich – im Zusammenhang mit der Französischen Revolution – durch Gründung einer École polytechnique neben den Kunstakademien forciert wird. Da dieser Vorgang gut erforscht ist24, werde ich dem hier nicht weiter nachgehen. Ein zweiter Weg in die Wissenschaftlichkeit der Architektur, die demgegenüber Kunst und Wissenschaft versöhnt, führt in die Geisteswissenschaften. Hier geht es nicht um das Herstellen von Architektur (Gebäuden), sondern um

24Dieser

Prozess ist recht gut erforscht; siehe etwa Pfammatter 1997.

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ihre Analyse, ihren Gebrauch und ihr Verständnis. Man kann hier zurückgehen bis zu Winckelmann, der die Beschreibung, d. h. die Versprachlichung und Verbegrifflichung über die sinnliche Wahrnehmung der Bausubstanz, stellt und von dort aus über die Stilgeschichte, der nur die von der Substanz abgezogene Form und deren Merkmale – wie bei Linné – wichtig ist, über die unterschiedlichen Verständnisse des symbolischen Charakters der Architektur und die Semiotik bis hin zum heutigen Verständnis, dass nicht die Bausubstanz, sondern eine Narration darüber die eigentliche Identität der Architektur ausmache. Diese Verständnisse entmaterialisieren die Architektur und machen sie zu einem kognitiven Vorgang. Ich kann hier diesen Entwicklungen nicht im Detail nachgehen, möchte stattdessen aber Tendenzen herausstellen, aus der Architektur eine Naturwissenschaft zu machen.

3.1 Architektur als Naturwissenschaft Erste Ansätze einer Theorie der Architektur als Naturwissenschaft findet man im 18. Jahrhundert, etwa bei Marc-Antoine Laugier (1713–1769) und in seinem Essai sur l’architecture. Als Vorblatt seines Textes von 1755 findet sich das Bild einer ‚Urhütte‘, die die Menschen aus schlechten Erfahrungen mit anderen Unterkünften gegen die Unbilden des Wetters aus ihren Erkenntnissen über die Natur errichtet haben (Abb. 12). „Il en est de l’Architecture comme de tous les autres Arts: ses principes sont fondés sur la simple nature, […] Telle est la marche de la simple nature: c’est à l’imitation de ses procédés que l’art doit sa naissance.“ (Laugier 1755, S. 8, 9)/deutsch im Anhang25). Im Band 27 der Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers26 von Denise Diderot und Jean-Baptiste le Rond, genannt d’Alembert, ist Natur – in Form eines Baumes, an dessen Ästen und Zweigen die

25„Es

ist mit der Baukunst wie mit allen anderen Künsten beschaffen: ihre Grundsätze sind auf die bloßen Natur gegründet… So ist der Lauf der Natur beschaffen. Die Nachahmung ist die Mutter der Kunst.“ 26Die einzelnen Bände der Encyclopédie erschienen von 1751–1772. Im ersten Band findet sich ein hierarchisch und abstrakt geordnetes Wissenschaftsschema, auf das ich hier nicht eingehe.

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Abb. 12   Bild aus Laugiers Traktat. (Quelle: https://www.e-rara.ch/zut/content/pageview/31389)

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Abb. 13   a und b Zwei Ausschnitte aus der Beilage der Enclycopédie in Bd. 27. (Quelle: Beilage in Bd. 27 der Enclycopédie)

Wissenschaften wie Früchte hängen27 – als Ordnungssystem aller Wissenschaften und auch der Architektur benutzt (Abb. 13a und b). Architektur ist an zwei Stellen zu finden. Ganz unten am Stamm – also historisch gesehen früh gewachsen – gibt es einen kurzen Ast, der sich an einer als Imagination bezeichneten Stelle dreifach, in Musik, Poesie und Architektur, verzweigt. Letztere verzweigt sich dann wiederum in architecture civile28, architecture militaire und architecture navale. An einem zweiten Ast, der an höherer Stelle des Stammes ansetzt, und sich in der Mathematik noch einmal verzweigt, gibt es die architecture militaire (Kunst, Plätze zu befestigen) und architecture navale (Schiffsbau und Bau der Hafenanlagen etc.) zusammen mit der architecture hydraulique und im Umfeld von Taktik und Navigation. Ohne es zu versprachlichen, unterscheidet die Encyclopédie in dieser Trennung inhaltlich zwischen Rationalität und Kunstcharakter der Architektur, zwischen Funktionalität (innerer Ordnung und Bestimmung) und

27Das

Bild eines ‚Baums‘ für das System der Wissenschaften hat eine Fülle von Vorläufern, bei denen allerdings die Architektur noch nicht vorkommt, und geht letztlich auf den Baum der Erkenntnis in der Schöpfungsgeschichte zurück. Heute findet man vor allem Bäume esoterischer Art. 28In der Blase steht: C’est l’art de construire des Bâtimens pour la commodité et les différens usages de la vie, tels que sont les édifices sacrés, les Palais pour les Rois, pour les Princes, les maisons des particuliers, les Ponta (sic); siehe Abbildung. In Deutsch: Architektur ist die Kunst, Bauten zu konstruieren, die der Bequemlichkeit und diversem Gebrauch im Alltagsleben dienen, wie religiöse Gebäude, Paläste für den König und die Prinzen, Privathäuser und Brücken.

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Zweckmäßigkeit (auf einen außerhalb liegenden Zweck gerichtet), und zwischen Werk und Werkzeug, die jeweils voneinander getrennt sind. Was früher kosmische Ordnung war, ist nun Natürlichkeit. Im 19.  Jahrhundert ging es der Architektur weniger um die – als biologisch-natürlich erachtete – Fortsetzung der Zuordnung ins Gewächs der ­ anderen Wissenschaften, also um eine wissenschaftssystematische Frage, als vielmehr um eine praktische Umsetzung des Verständnisses als prolongierte Natur. Unter anderen versuchte Viollet-Le-Duc (1814–1879), Untersuchungen Cuviers zum Knochenbau und zum Funktionieren von Gelenken (siehe Picon 1999, S. 315) aufzunehmen und das baukonstruktiv orientierte Entwerfen zu einer Art an der Biologie orientierten Naturwissenschaft zu machen. Das bis vor einigen Jahrzehnten noch übliche Aktzeichnen im Studium der Architektur war eine daran orientierte Lehrveranstaltung. Ende des 20. Jahrhunderts gibt es weitere biologistische Versuche, Baukunst zur Wissenschaft auszuweiten, etwa indem man sie durch Einzelergebnisse anderer Wissenschaften bereichert, wie etwa die Übernahme des Begriffs der ‚circulation‘ aus William Harveys Arbeit über den Blutkreislauf (siehe Forty 1999, S. 213 ff.) zeigt. Diese einzelnen Übernahmen sind teilweise sinnvoll, manchmal schaden sie zumindest nicht. Oft erhalten sie bei der Übernahme eine neue, genuin architektonische Bedeutung; z. B. führt die Übernahme und Umwandlung von Konzept und Begriff der ‚circulation‘ in der Architektur letztlich zum Konzept des ‚Fließenden Raums‘, bei dem Raum eben nicht fließt wie Blut im Kreislauf.

3.2 Architekturwissenschaft als Mathematik Die Mathematisierung der Architektur hatte sich bereits bei Vitruv (s. o.) gezeigt; allerdings war Mathematik hier als transzendente kosmische Ordnung der Welt verstanden. Zudem standen Zahlen nicht allein für Quantitäten, sondern auch für die Identitäten der Dinge. Mit der Mathematisierung ging es um eine ­top-down-Führung der transzendenten, kosmischen Wesenheiten und Wahrheiten auf die Erde und in die Werke zur Überwindung ihrer Arbitrarität. In der Renaissance wird diese mathematisch-kosmische Ordnung zur ästhetischen Proportion eines einzelnen Werkes (concinnitas-Begriff Albertis), was sich noch bis heute findet (etwa in Le Corbusiers Modulor, 1942–1955, oder in den Forschungen bei Naredi-Rainer 1982). Einen weiteren bis heute wirkenden Ansatz zur erhofften mathematisierten Verwissenschaftlichung entwickelte 1873 der US-amerikanische Biblio-

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Abb. 14   Dritte Übersichtsebene. (Quelle: https://www.ddc-deutsch. de/Subsites/ddcdeutsch/ DE/DDCprodukte/ DDCuebersichten/ dritteUebersicht. html#Anker7003)

thekar Melville Dewey (veröffentlicht 1876). Er gab allen Wissenschaften eine eindeutige dezimalklassifikatorische Architektur; auch der Architektur. Die ­ Dewey Decimal Classification (DDC) wurde bis heute mehr als zwanzig Mal überarbeitet und wird heute in 220.000 Bibliotheken in 135 Staaten – auch in der Deutschen Nationalbibliothek – umgesetzt29 Die deutsche Nationalbibliothek hat eine ebenfalls dezimal und hierarchisch geordnete Wissenschaft. Die Klasse 600 enthält die Technik, Medizin und angewandten Wissenschaften, die Klasse 700 die Künste und die Unterhaltung30. In 620 finden sich die Ingenieurwissenschaften mit der Infrastruktur (Sanitärund Kommunaltechnik, allerdings ohne die kommunikative Infrastruktur, sowie Telefon, Radio, Fernsehen, aber ohne die neue digitale Infrastruktur). In 630 folgt die Landwirtschaft, in 640 dann Hauswirtschaft und Familie. 643 ist Wohnen und Haushaltsausstattung vorbehalten, 690 schließlich umfasst den Hausbau mit allen Unterbereichen (Abb. 14). In 700 sind – man möchte ‚hingegen‘ sagen, aber es ist ja eine Dezimalklassifizierung – die Künste zu finden, hier unter 701 Kunstphilosophie und Kunsttheorie der bildenden und angewandten Kunst; also – so muss man im Nachhinein sagen, wenn man alle Klassifizierungen angesehen hat – auch die Baukunsttheorie. 710 beinhalten ‚Städtebau, Raumplanung, Landschaftsgestaltung‘, artig von der Technik und der Landwirtschaft getrennt. So auch dann die Architektur (720), die in das enigmatische ‚Architektonische Struktur‘, in drei historisch orientierte Klassifizierungen (721–724), in Öffentliche

29Die

US-amerikanische Library of Congress hat übrigens ein eigenes System, auf das ich hier nicht näher eingehen werde. 30https://www.ddc-deutsch.de/Subsites/ddcdeutsch/DE/DDCprodukte/DDCuebersichten/ dritteUebersicht.html#Anker7003.

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­ auwerke (725), im weitesten Sinne religiöse Gebäude, in Gebäude für LehrB und Forschungszwecke (727) in Wohnbauten und in Entwurf und Gestaltung und Innenarchitektur gegliedert sind. Einiges fehlt: Industriearchitektur, Verwaltungen und Geschäfte, Gärten, Parks, Landschaftsarchitekturen, Bauten des Sports, Infrastrukturen (Verkehrsstraßen, Fußwege, Plätze, Versorgungsleitungen jeder Art) und ihre baulichen Anlagen (Tankstellen, Raststätten, Parkplätze) und die Denkmalpflege. Wenn man die Theorie der Architektur sucht, so wird man sie in der Technikphilosophie (601), oder in der Kunstphilosophie und in der Kunsttheorie der bildenden und angewandten Kunst (701) suchen müssen. Die historische Klassifizierung ist wiederum unterteilt in die Klassifizierungsgrenzen ‚bis ca. 300‘, ‚von ca. 300 bis 1399‘ und ‚ab 1400‘, als müsse man die gut 600 Jahre von 1400 bis heute nicht mehr unterteilen, als gäbe es erst danach öffentliche Bauten. Man fegt mit diesen drei chronologischen Klassen zugleich die zwar auch problematische aber bis heute anerkannte Klassifizierung nach Kunstepochen beiseite. Die eigenartige Zusammenstellung der Innenarchitektur mit Entwurf und Gestaltung scheint der Not geschuldet zu sein, die sich nicht an die Zehnereinheit haltende Realität in ein Dezimalsystem packen zu müssen. Agglomerationen, Stadtrecht, Eigentumsentwicklung von Stadt und Parzelle, Städtebau, Urbanität, Entwicklung der Landschaft, Landwirtschaft, Landschaftseigentumsentwicklung und -nutzung, Landschaftsarchitektur und -besiedlung, sind ebenso voreinander getrennt wie Hausbau und Hauswirtschaft (und Wohnen) von Architektur. Die Technik ist von der Kunst, die alltagspraktischen Bereiche, Landwirtschaft und Hauswirtschaft von Städtebau, Landschaftsgestaltung und Architektur getrennt, Architektur selbst dann wieder von Städtebau, Raumplanung und Landschaftsgestaltung. Das macht die Architekturen zu von Raum, Landschaft und urbaner Agglomeration isolierten – wie man in der Architektur sagt – solitären baulichen Anlagen und zu einem wissenschaftlichen Gegenstand, der sich auf öffentliche, religiöse, schulische und universitäre Gebäude, sowie auf Wohnbauten reduziert und in dem man sich zudem mit dem subjektiven Aspekt des Entwerfens und dem objektiven der baulichen Gestalt, aber weder mit Aneignung noch mit Kritik beschäftigt. Es wird kulturübergreifend die klassische europäische Einteilung in ‚Antike‘, ‚Mittelalter‘ und ‚Neuzeit‘ unterstellt, wobei alle regionalen Unterschiede und damit ein differenziertes Verständnis von Geschichte verschwunden sind. Man scheint bis heute nicht gemerkt zu haben, dass es um 1910 mit der Moderne einen erneuten Epochenbruch gegeben hat. Vielleicht hat man es aber gemerkt und festgestellt, dass es nicht mehr in die Dezimalklassifikation passt und schweigt deshalb lieber, weil damit das ganze System infrage stehen würde.

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Wenn man etwas zum Wohnen erfahren möchte, müsste man unter ‚640 ­ auswirtschaft und Familie‘, ‚643 Wohnen und Haushaltsausstattung‘, ‚690 H Hausbau‘, sowie unter ‚728 Wohnbauten‘ nach Literatur suchen. Nun kann man gerade hier kritisieren, wie die einzelnen Disziplinen zerfleddert werden. Man könnte die Situation in den ‚Open-Stack‘-Bibliotheken aber auch als eine Chance zur Interdisziplinarität sehen. Denn man muss, um sich seine Bücher zu holen – wenn man sich etwa über die Geschichte der Küche informieren will, über die unterschiedlichen technischen, ästhetischen, sozialpsychologischen, familiensoziologischen Aspekte und für die Prüfung der Möglichkeiten, zukünftig im Bezahlbaren Wohnungsbau die Küche auf Kühlschrank und Mikrowelle zu reduzieren und im Wohnzimmer unter der Fernsehwand anzubringen – durch die ganze Bibliothek streifen. Man bringt dabei zusammen, was zusammengehört. Und man trifft zudem auf Kommiliton*innen aus der Soziologie und den Wirtschaftswissenschaften und stellt so heuristisch Interdisziplinarität her. Diese – nicht ernst gemeinte, aber in Hinsicht auf die destruktive Detaillierung der DDC als geeignet anzusehende Rettung der DDC – Gelegenheit wäre diskutabel, wenn die Ordnung – etwa in der Trennung von Kunst und Ingenieurwesen oder in der Trennung von architektonischer Grundrissorganisation und Familiensoziologie – nicht unbewusste Sedimente vergangener Kulturen enthielte und damit rückwärtige Lebens- und Wissenschaftskulturen aufbewahren würde und wenn sie zudem nicht wirklichkeitsflüchtig wäre. Als einen weiteren Versuch der Verwissenschaftlichung der Architektur über die Mathematik sehe ich auch die nach dem 2. Weltkrieg entwickelte Informationsästhetik an. Nach Bense etwa bestimmt sich gute Architektur, bzw. das Schöne, als MÄ = f(O/C), wobei sich das makroästhetische Maß (MÄ) ergibt aus einer Beziehung von ordnungsbestimmen (O) zu den erzeugungsbestimmenden Faktoren (Bense 1960, 1969, S. 55) oder als mikroästhetisches Maß (Mä) im Bezug von Redundanz (R) zu Komplexität (H) (Mä = f(R/H) (ebenda, S. 56) (ähnlich auch Moles 1971). Allerdings offenbart sich der Pseudocharakter der Wissenschaftlichkeit sofort darin, dass sich weder Redundanz noch Komplexität mathematisieren lässt. ‚R‘ und ‚H‘ können allein als Zeichen für Redundanz und Komplexität verstanden werden. Beide Werte resultieren allein aus subjektiven Einschätzungen. Man kann sie nicht quantifizieren, da sie vom stets wechselnden diachronen und synchronen Kontext und von den Stimmungen der Subjekte abhängig sind.

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3.3 Architekturwissenschaft als Kybernetik und Systemtheorie Zwischen Naturwissenschaft und Mathematik stehen die Computerwissenschaft, die Kybernetik, die unterstellten, dass Kunstwerke zukünftig auch durch Maschinen entworfen werden könnten, und die zeitlich eng damit im Zusammenhang stehende Systemtheorie. Den werk- und formbezogenen pseudokybernetischen Entwurfsmethoden gingen tatsächliche kybernetische Versuche voraus. So hatte es in London bereits 1962 eine Conference on Systematic and Intuitive Methods in Engineering, Industrial Design, Architecture and Communication gegeben (Jones 1962). Dabei ging es – wie ja auch schon der Begriff Kybernetik/Steuerkunst sagt – nicht um das Produkt, sondern um das Verfahren (Abb. 15). Mit der systemischen Rationalisierung des Prozesses des Planens und Entwerfens sollen die im Dunkeln liegenden Entscheidungen der Planer*innen und Entwerfer*innen ins Licht gestellt werden und durch Rationalisierung die subjektive Willkür und die daraus entstehenden Fehler bereits im Entwurf ausgeschlossen werden. Dazu sollen alle relevanten Faktoren aufgezeichnet, in eine Beziehung gebracht, einer schrittweisen Kontrolle der Zwischenziele unterzogen und gegebenenfalls durch Feedbackkreise modifiziert werden. Vor allem führte die Kybernetik zur Einführung des Pfeils, der zwischen verschiedenen Ereignissen, abgeschlossenen Geschehnissen, Einschätzungen

Abb. 15   Beispielhaftes kybernetisches Diagramm von Raymond G. Studer (Ausschnitt). (Quelle: Broadbent und Ward 1969)

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(‚Test‘), Interventionen (‚Modify‘) und Rückführungen verbindet. Sieht man sich die einzelnen Kästchen und vor allem die Pfeile genauer an, so erkennt man, dass sie die tatsächlich stattfindenden Vorgänge verdecken und auf den Generalnenner reduzieren, dass Irgendetwas wie auch immer geschieht und dass das Eine irgendwie mit einem Anderen zu tun hat. Auch hier handelt es sich um eine Pseudorationalisierung, da durch vorgebliches Ausschließen subjektiver Einschätzungen (ist das Zwischenziel erreicht oder nicht, bzw. in welchem Maß, und ist dies akzeptabel oder nicht) das Subjektive nur verdeckt und ins Dunkle eines Kästchens oder eines Pfeils verdrängt wird. Computer und Künstliche Intelligenz (KI) haben noch heute den Ruf, wissenschaftlich intelligenter zu sein als die Menschen. Aber da, wo Identitätsfeststellungen, Ausdifferenzierungen, Abwägungen und Entscheidungen in und aus der tatsächlichen komplexen Situation erforderlich sind, ist die KI zum Scheitern verurteilt. Man mag von künstlicher Intelligenz sprechen, wenn es um Rechengeschwindigkeit und Präzision geht, man mag von Intelligenz sprechen, wenn es den Menschen in kooperativen Teams gelungen ist, fehlerfreie Algorithmen zu programmieren. Wenn es aber um die Kreativität geht, unvorhersehbare komplexe Probleme zu lösen, so steht die KI im Moment noch weit unter der intellektuellen Kompetenz von Ameisen. 1965 gliedert sich Christopher Alexander31 mit seinem Aufsatz A City is not a Tree in die Reihe der Systemtheoretiker ein. Er kritisiert in seinem Text die Trennung von Funktionsbereichen innerhalb der modernen Stadtplanung und plädiert für die Vermischung von Elementen und Handlungskomplexen (Siehe Abb. 16 und 17). Alexander erläutert dies an mehreren Beispielen, so etwa an der New Town Columbia in Maryland. Hier würden (siehe Abb. 1) solitäre Wohnbauten zu isolierten Villages, diese wiederum durch Infrastruktur zu isolierten Loops und schlussendlich diese zur Stadt Columbia gruppiert. Er führt uns als weiteres Beispiel die typischen US-amerikanischen playgrounds vor Augen, asphaltiert und umzäunt, sodass Kinder nicht mehr in die Stadt ausschwärmen und sich zum Spielen aneignen, was sie interessant finden. Sein Urteil über moderne Stadtplanung ist: „they will cut our life within to pieces“ (Alexander 1965 II, S. 61). Als positives Beispiel beschreibt er eine ampelgesicherte Kreuzung in Berkeley, an der ein Zeitschriftenkiosk seine Zeitungen auslegt, sodass die Passanten in der ‚Rotphase‘ die Überschriften lesen und ein Exemplar kaufen können. Das

31Christopher

Alexander hatte Mathematik und Architektur studiert und war wohl von daher Garant für die Wissenschaftlichkeit seiner Aussagen zur Architektur.

Zur Architektur der Architekturwissenschaft Abb. 16   Columbia, Maryland, in Alexanders Analyse. (Quelle: Alexander 1965)

Abb. 17   Alexander, Beispiel für einen additiven Verband bzw. einen ‚Baum‘ aus 6 Elementen (farbige Markierungen von EF). (Quelle: Alexander 1965)

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alles ist nachvollziehbar und entspricht den Forderungen postfunktionalistischer ­Stadtplanung. Alexander diskutiert im Folgenden diese Feststellungen in einer verallgemeinernden Weise und stellt sie in zwei unterschiedlichen Weisen jeweils als Diagramm dar. So zeigt er zum einen in einer flächigen an der Karte von Columbia orientierten Darstellung an sechs Elementen (‚1‘,‚2‘,‚3‘,‚4‘,‚5‘ und ‚6‘ genannt, die nicht als Quantitäten sondern als Zeichen für Identitäten anzusehen sind) und deren Untergruppierungen, die wiederum durch jeweils eine Linie umrahmt sind, das Prinzip der Addition von isolierten Gruppen der New Towns (Abb. 18, Bild C) und das der Vermischung (Abb. 18 Bild A). Die Gesamtmenge der sechs Zahlen und die Untereinheiten werden durch Linien umrahmt und so als Gruppen markiert. (Siehe etwa in Abb. 18, Bild C, die Elemente ‚1‘ und ‚2‘ zu ‚12‘ und in Abb. 18, Bild A die Elemente ‚1‘, ‚2‘ und ‚3‘ zu ‚123‘). Zum anderen stellt er seine Aussage in Strukturen (‚Baum‘ und ‚Netz‘) dar, die seine sechs Elemente verbinden. Hier stammt auch der Titel seines Aufsatzes her (Abb. 18B und 18D). Man hat beim Lesen der abstrakt mathematisierten Darstellung den Eindruck, dass es Alexander mit der Verallgemeinerung und Mathematisierung darum geht, die Wissenschaftlichkeit seiner Aussagen zu begründen. Allerdings wird dabei das Verstehen der Aussagen Alexanders und eine mögliche Kritik daran erschwert. Was bedeutet eigentlich die flächige Darstellung und was die strukturelle? Was bedeuten die Umrahmungen, was die strukturierenden Linien? Was bedeuten sie bei Christopher Alexander und was bei dem obigen kybernetischen Beispiel oder was bei ähnlichen Darstellungen?

Abb. 18   Alexander, Beispiel für ‚Semilattice‘ bzw. ein ‚Netz‘ aus 6 Elementen (farbige Markierungen von EF). (Quelle: Alexander 1965)

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Zunächst lässt sich festhalten, dass sich der Zeitcharakter mit dem Wechsel zwischen den beiden Darstellungsarten verändert: Aus dem statischen Nebeneinandersein wird ein Verlauf des Auseinanderhervorgehens. Die flächigen Darstellungen gehen eher mengentheoretisch vor und zeigen Unter-, Schnitt- und Vereinigungsmengen der sechs Entitäten, ohne dass ein eventuelles Surplus dargestellt wird oder dargestellt werden könnte. In den Strukturdiagrammen hingegen kann gezeigt werden, dass etwas Neues entsteht (aus 1‘ und ‚2‘ wird ‚12‘). Es handelt sich also nicht nur um zwei unterschiedliche Darstellungsarten eines einzigen Sachverhalts, wie Alexander meint, sondern um zwei unterschiedliche Verständnisse von Wirklichkeit. Richtig verstehen – und dann eventuell auch kritisieren und weiterentwickeln – kann man die abstrakten Darstellungen nur, wenn man sie wieder ‚vererdet‘, also aus der Mathematik und abstrakten Systemtheorie in die konkrete Wirklichkeit zurückholt. So kann man in Bezug auf das Beispiel der Kreuzung in Berkeley herausstellen, dass ‚1‘ und ‚2‘ an einem gemeinsamen Ort mehr sind als ‚1‘ irgendwo und ‚2‘ anderswo. Man kann verstehen, dass die Zusammenführung von ‚1‘ und ‚2‘ ‚12‘ ist und nicht 3. Erst im Bezug auf den konkreten Alltag erkennt man das Surplus, nämlich Entertainment der Wartenden durch Angebot von Überschriften aus den Zeitungen und Erhöhung des Verkaufs von Zeitungen an Ampeln. ‚12‘ ist eine Gestalt im gestalttheoretischen Verständnis, die mehr ist als die Summe seiner Elemente (‚1‘ und ‚2‘). Übertragen wir aber die durch Zahlen anonymisierten Elemente wieder in das positive Beispiel (‚1‘= Ampel, ‚2‘= Auslage von Zeitungen) und geben den anderen Zahlen einen Inhalt (angenommen die Elemente ‚3‘, ‚4‘, ‚5‘ und ‚6‘ wären ein Bettler, die Abstellfläche für Einkaufswagen (in Deutschland), eine Verkaufsbude für frisch gestochenen Spargel und eine Tankstelle), so kann man sich die Kombinationen von ‚345‘ (‚4‘ und ‚5‘ sind Orte, an denen die Käufer ihre Geldbörse sowieso ziehen müssen und Kleingeld zurückerhalten, sodass der Bettler (‚3‘) eine bessere Chance auf ein Almosen hat) und von ‚3456‘ vorstellen und – wenn es einen ampelgesteuerten Zugang zum Supermarkt gibt – auch von ‚123456‘. Man versteht den Unterschied von der räumlichen Streuung der Elemente und einer bloß formalarchitektonischen Zusammenfassung – die zugleich wieder Solitärstellungen hervorbringt, die einer erneuten Zusammenfassung bedürfen – zu einer vermischten und interaktiven Situation. Damit müsste auch die Spitze des ‚Baums‘ (Abb. 17, Bild D) ‚12‘,3456‘ sein, nicht ‚123456‘, da ‚12‘ ja etwas Neues und Anderes ist als ‚1‘ und ‚2‘. Wäre bei dieser inhaltlichen Besetzung ‚123‘ sinnvoll? Für einen Bettler (‚3‘) hätte ein Fußgänger, der ja ‚Grün‘ herbeisehnt (‚1‘), keine Geduld, der

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Zeitschriftenhändler (‚2‘) sähe sein Geschäft mit den Passanten behindert und befürchtete wahrscheinlich Verschmutzung oder Diebstahl seiner Zeitschriften. Kombinationen sind also nicht beliebig. Haben die Kombinationen ‚12‘ und ‚3456‘ neue Surplus-Identitäten gewonnen, so müsste man {‚12‘‚3456‘} notieren, was etwas anderes wäre als {‚1‘‚23456‘}. Eigentlich schreibt Alexander auch die Spitze des ‚Netzes‘ (Abb. 18, Bild B) falsch. Bei Alexander steht ‚123456‘, sie müsste aber richtiger (und leider auch komplizierter) so geschrieben werden: {[‚123‘, (2‘34‘)] [(‚34‘,45‘)],6‘}. Vor allem stellt sich die Frage, was denn eigentlich die zwischen den Kreuzungspunkten angebrachten Linien, die in den meisten Strukturmodellen, seien es ‚Bäume‘, Netze‘ oder Fließmodelle wie bei der Kybernetik, benutzt werden, bedeuten. Meinen sie ‚Addition, ‚Zusammenführung‘, ‚Transformation‘ ‚Ursache und Wirkung‘, ‚Autopoiese im System‘, ‚Einwirken von Autor*innen‘ etc.? Stellen sie eine formale Beziehung, einen begrifflichen Abstraktionsvorgang, einen real ablaufenden Prozess, eine chronologische Reihenfolge, eine Rangfolge etc. dar? Müsste man die Beziehung in unserem Beispiel nicht richtiger so darstellen:

Man muss resümieren, dass der Versuch der Verwissenschaftlichung über eine abstrakte Mathematisierung schwierig ist und stets zu einer abstrakten Formalisierung sowie zu einer Ablösung von der alltäglichen Wirklichkeit und damit führt, und damit auch die Möglichkeit einer Überprüfung der Aussagen erschwert. Er leistet wegen der unnötigen Verkomplizierungen, der unklaren Definitionen und der Unreinheiten der Argumentationen und seines Schwebezustandes über dem Alltag einer Mystifizierung Vorschub. Gänzlich missverstanden wurde die Kybernetik als automatische Herstellung von Kunstwerken (siehe etwa die Ausstellung Cybernetic Serendipity, London 1968 32). Dabei wurde übersehen, dass nicht bereits der Output des programmierten Tuns einer Maschine Kunst ist, sondern erst der kreativ-kognitive Akt der Rezeption. Georg Vrachliotis merkt dazu kritisch an: „…ähnelten die Ausstellungsräume während der ‚Cybernetics Serendipity‘ eher einem überfüllten Gehege von selbstgebastelten Maschinen, abstrakten Graphiken und kryptischen

32Abbildungen

siehe http://dada.compart-bremen.de/item/exhibition/3.

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Schaltkreisen – fast so als hätte man in der Zwischenzeit damit begonnen, in den mathematischen Innenraum der Objekte vorzudringen.“ (Vrachliotis 2014, S. 147).

4 Architektur als Architektur Dieser sehr kurze und punktuelle Rückblick in die europäische Geschichte zeigt den permanenten Wandel der Verständnisse, die man heute ohne Bewusstsein für die Differenz zwischen Antike/Mittelalter und Neuzeit einheitlich als Architektur bezeichnet. Ich möchte hier in diesem Resümee keine detaillierte Lösung der herausgearbeiteten Fraglichkeiten einer Wissenschaft der Architektur vorstellen. Das ist auch nicht die Intention der vorliegenden Publikation. Aber ein erstes Ziel wissenschaftlicher Arbeit muss die Dekonstruktion der geschichtlichen Definitionsversuche, des Versuchens und Versagens sein. Als zweiter Schritt muss dann Forschung initiiert werden, die Wissenschaft der Architektur von der Architektur und nicht von der Wissenschaft her bestimmen (Abb. 19).

Abb. 19   Lageplan der Universität Bilefeld und Vorschlag für ein Zentrum für architektonische Forschung und Entwicklung. (Quelle: Eduard Führ)

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Um noch einmal auf die eingangs dargestellte Analyse des Bielefelder ZIF einzugehen: Wäre ein ZAFE eine sinnvolle Alternative? Dabei würde es sich um ein urbanes Zentrum handeln – um hier Fragen nach den gleichen Begriffen genau so zu stellen wie beim ZIF -, da im urbanen Kontext eines verdichteten Geschehens besonders gut die Komplexität der Wirkungszusammenhänge der Architektur des Alltags und ihrer Wahrnehmung und des interaktiven Gebrauchs zu erforschen sind. Dabei geht es nicht um Interdisziplinarität als Zusammenwirken von Disziplinen, sondern um die undisziplinierte Erforschung der Komplexität und Widersprüchlichkeit der architekturalisierten Wirklichkeit bottom up. Architektonische Forschung ist verstanden als Erkenntnisarbeit in der Wirklichkeit und als Überprüfung und Anwendung der Forschungsergebnisse in der Umgestaltung der Wirklichkeit. Bei vielen Diskussionen über Forschung in der Architektur wird vergessen, dass Forschen ein herstellendes Tun ist, poiesis und nicht praxis, dass es auf einen Output ankommt, der der Verifikation bedarf. Erst im Nachhinein, von der Verifikation der Forschungsergebnisse her, zeigt sich, ob das vergangene Tun ein Forschen gewesen war oder ein Gebaren. Bei der Verifikation geht es natürlich auch um Prüfung der Methoden und um Passung der Ergebnisse mit an anderer Stelle und in anderer Weise gefundenen Ergebnissen. In der Architektur kommt es in großem Maße aber darauf an, die gefundenen und verifizierten Forschungsergebnisse im Umbau der Umwelt umzusetzen, erneut zu erforschen und zu verifizieren. Diese ‚second-level‘ Forschung (post-occupancy evaluation, POE) findet allerdings in der Architektur äußerst selten statt. Ich hatte eingangs gefragt, ob nicht das aus Disziplin-Modulen aufgebaute Wissenschaftsgebilde und seine Logik infrage gestellt werden muss. Nun kann man ergänzen: Ist die Einhausung der Architektur (Bauwesen) in die langfristig aufgebaute architectura (struktureller Aufbau) der Wissenschaft eigentlich sinnvoll? Zerstört es nicht die Architektur? Ist Architektur eine delikate Zusammensetzung spezifischer Aspekte unterschiedlicher Disziplinen, die uns – uns Architekten, Architekturtheoretiker, Architekturinterpreten und Architekturnutzer – zur Interdisziplinarität verpflichtet? Überlagert, zerlegt und destruiert die ­logo-tektur der Wissenschaft nicht das, was Architektur eigentlich ausmacht: ihre Praxis? Das Ziel kann m. E. nicht sein, Architektur zu einer praxisfernen Wissenschaft zu machen, sondern vielmehr zu einer Theorie, wenn man denn Theorie im alten philosophischen Sinne als anschauende Teilhabe versteht (dazu Führ 2009).

Zur Architektur der Architekturwissenschaft

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Architektur und die Kreativität der Theorie Jörg H. Gleiter

Architekturtheorie ist keine Sache ausschließlich der Wissenschaft. Das wäre zu kurz gedacht und würde die Tätigkeit der Architektur grundsätzlich verkennen. Sicherlich, die Wissenschaften stellen Theorien auf, wo sie auf der Suche sind, wie Aristoteles formuliert, nach den „ersten Prinzipien“ (Aristoteles 1995a, 100b, S. 107) oder den Modellen des Denkens, die den Dingen zugrunde liegen. Da die Erfahrungen auf der Grundlage von Wahrnehmung gemacht werden, die Erfahrungen wiederum, nach Aristoteles, Grundlage für Erkenntnis sind, ist das wissenschaftliche Begehren auf die sinnliche Erscheinung der Dinge gerichtet und Theorie demnach nicht nur logisch, sondern immer zugleich auch ästhetisch. Die Aufgabe der Theorie als Wissenschaft ist es, die Prinzipien und Modelle des Denkens, die das menschliche Handeln leiten, zur Sichtbarkeit zu bringen und diese auf diese Weise dem Bewusstsein und der Erkenntnis zu öffnen. Das heißt umgekehrt aber auch, dass die Theorie keineswegs nur das Privileg der Wissenschaft ist. Denn die Architektur ist nicht naturgegeben, sondern nach Aristoteles eine hervorbringende poietische Kunst. Insofern die Architektur ein vom Menschen gemachtes, von Prinzipien und Modellen des Denkens geleitetes Artefakt ist, ist Theorie von Anfang an Teil der architektonischen Praxis. Architekturtheorie ist demnach eine Sache der Praxis wie auch der Wissenschaften. Die These ist, dass es für die Architektur eine vorwissenschaftliche Theorie gibt, aber keine vortheoretische Praxis, so unbewusst dies zuweilen auch sein mag. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass 1) eine vortheoretische Architektur ein Widerspruch in sich ist, dass 2) die Architektur nicht nur auf der J. H. Gleiter (*)  Technische Universität Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Berr und A. Hahn (Hrsg.), Interdisziplinäre Architektur-Wissenschaft, Interdisziplinäre Architektur-Wissenschaft: Praxis – Theorie – Methodologie – Forschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29634-6_11

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Grundlage von Theorien gebildet wird, sondern in ihren besten Fällen die Entwurfsprozesse immer auch Theoriebildungsprozesse sind, und dass darüber hinaus 3) Theorie der Architektur nicht aus dem Nichts kommt, sondern per se immer andere Theorien infrage stellt, transformiert oder ersetzt, und daher Architekturtheorie nur als kritische Theorie denkbar ist.

1 Erfahrung und Erkenntnis Für die Frage nach dem Status der Theorie in der Architektur ist es hilfreich, zuerst die Frage nach dem Verhältnis von Wissenschaft und Kunst zu klären. Dazu soll auf Aristoteles Wissenschaftstheorie rekurriert werden. Nach Aristoteles sind Wissenschaft und Kunst nicht grundsätzlich getrennt, sie gründen beide in der Erfahrung und zielen darauf, „aus vielen durch die Erfahrung gegebenen Gedanken eine allgemeine Annahme über das Ähnliche“ (Aristoteles 1995b, 981a, S. 2) zu bilden. Für beide, Wissenschaft und Kunst, stehen am Anfang einzelne Erfahrungen. Diese führen zu einzelnen Erkenntnissen, die unter Leitung der Wissenschaft dann zu allgemeinen Erkenntnissen zusammengeführt werden. Während Handlungen „auf das Einzelne gehen“ (Aristoteles 1995b, 981a, S. 2) und Erfahrung die Erkenntnis von Einzelnem ermöglicht, zielen Wissenschaft und Kunst auf die Erkenntnis des Allgemeinen, das heißt auf die leitenden Prinzipien und Modelle des Denkens, die den einzelnen Erfahrungen zugrunde liegen. Kunst und Wissenschaften schließen sich nicht notwendig aus. Besonders für die Kunst gilt es, die grundsätzliche Affinität zur Wissenschaft hervorzuheben. Es geht eben in der Kunst nicht um die Einzelerfahrung als solche. Kunst ist nicht Ausdruck des Künstlers in seiner Individualität oder Emotionalität, sondern, wie die Wissenschaft, eine Form der Erkenntnis, die auf das Allgemeine zielt. Die der Kunst zugrunde liegende Erfahrung ist wohl „Erkenntnis vom Einzelnen […], die Kunst hingegen vom Allgemeinen.“ (Aristoteles 1995b, 981a, S. 2) In ihrem Erkenntnisinteresse unterscheidet sich also die Kunst nicht grundsätzlich von der Wissenschaft, auch wenn sie ein anderes und eigenes Feld der Erfahrung hat. Im Unterschied zur Wissenschaft ist die Kunst das Medium, in dem der Mensch Erfahrungen mit sich in der Welt und nicht nur über die Dinge in der Welt machen kann. Aristoteles skizzierte ein Verständnis der Kunst, das heute wieder große Aktualität besitzt. Denn er erkannte der Kunst eine für den Menschen emanzipative, weil selbstkritische Disposition zu. Jede echte, durch die Kunst vermittelte Erkenntnis ist kritisch-emanzipative Erkenntnis, insofern sie Altes

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und allzu Wohlbekanntes neu wahrnehmen lässt, neue und bisher nicht wahrgenommene Beziehungen des Menschen zu sich und zur Welt sichtbar macht, sodass diese neu bewertet werden können. Kunst ist daher immer kritische Kunst, die nicht nur Neues erkennen lässt, sondern die gesicherten kulturellen, sozialen und individuellen Wissensbestände hinterfragt, im Bekannten das Unbekannte, im Sichtbaren die unsichtbaren Prinzipien aufzeigt und ins Bewusstsein bringt. Voraussetzung für Erkenntnis, insofern sie auf Erfahrung gründet, ist nach Aristoteles die Wahrnehmung und das, was sie erzeugt, die Wahrnehmungsbilder. Sie sind eine wichtige Instanz für den Übergang von der Erkenntnis des Einzelnen zur Erkenntnis des Allgemeinen. Dazu bedarf es des Gedächtnisses, in dem die Wahrnehmungsbilder speichert werden. Aristoteles beschreibt das Gedächtnis plastisch als ein „Beharren und Bleiben des sinnlichen Wahrnehmungsbildes.“ (Aristoteles 1995a, 99b, S. 105) Erfahrungen werden also momentan gemacht, es bedarf aber der Speicherung der Wahrnehmungsbilder, dass die aus den einzelnen Erfahrungen resultierenden einzelnen Erkenntnisse verglichen und bewertet werden können. Das Gedächtnis ist dann der Ort, an dem durch Vergleich die Analogien, sowohl die gemeinsamen wie auch trennenden Prinzipien, erkannt werden können. Aristoteles spricht auch von den im Gedächtnis gespeicherten Schemata, die wiederum modellhaft Grundlage für weitere Handlungen, Erfahrungen und Erkenntnisse sind.

2 Theorie und Kreativität Dennoch gibt es Unterschiede in den Wissenspraktiken von Wissenschaft und Kunst. Wohl gründen beide in der Erfahrung, Kunst ist aber, „wo es sich um das Werden, […] Wissenschaft, wo es sich um das Seiende handelt.“ (Aristoteles 1995a, 100a, S. 106) Der Unterschied ist, dass die Wissenschaft die Dinge als Seiendes betrachtet, so wie sie in der Natur vorliegen, während in der Kunst die Dinge ein Werdendes sind, die als Artefakte im Sinne von poiesis erst durch die Tätigkeit des Menschen hervorgebracht werden1. Die Architektur, besonders

1Es

gibt mit künstlicher Intelligenz oder Bio-Art auch verschiedene Kunstpraktiken, die in einem Übergangsbereich zwischen den aristotelischen Kategorien des Seienden und Werdenden bestehen. Mit diesen Praktiken, die sich nicht mehr ausschließlich der menschlichen, hervorbringenden Tätigkeit alleine verdanken, ist dann ein besonderer Bereich von Kunst und Wissenschaft bezeichnet. Dem begrenzten Rahmen dieses Aufsatzes geschuldet wird auf eine Diskussion dieses Sachverhalts verzichtet.

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als Baukunst, ist als ein von Menschen konzipiertes, gemachtes und erfahrenes Artefakte ein solches Werdendes und Gewordenes. Es zeichnet sich demnach die Architektur dadurch aus, dass in ihr verschiedene Materialien und Formen, einem Prinzip oder einem Modell des Denkens folgend, in einem Objekt zusammengeführt werden. Man kann hier an ganz konkrete Materialien wie Ziegelstein, Beton oder Holz oder konkrete Formen wie Wände, Decken, Treppen, Türen oder Fenster denken, aber auch an konzeptuelle Dinge wie die Relation von außen und innen, oben und unten oder Zeichen, Bilder oder Raumfiguren, die, bestimmten Prinzipien oder Modellen des Denkens folgend, so zueinander in Relation gesetzt werden, dass daraus ein Gebäude entsteht. Man könnte ja die Dinge immer auch anders zusammensetzen, sodass man nicht mehr von einem Gebäude oder von Architektur sprechen würde. In den besten Beispielen, in denen Architektur auf der Höhe ihrer Möglichkeiten ist, zeigt sich demnach der Entwurfsprozess als Erkenntnisprozess, in der ganzen konzeptuellen Tiefe, die den Begriff Erkenntnis auszeichnet. Es zeigt sich der Entwurfsprozess nicht nur als Prozess des Zusammenfügens von einzelnen Elementen, der auf Theorie gründet, sondern als Prozess, der selbst Theorie bildend ist. Sicherlich, in den meisten Fällen vollzieht sich der Entwurfsprozess auf der Grundlage bestehender Prinzipien und Modelle des Denkens, die dadurch aber nicht infrage gestellt werden. In den hervorragenden Beispielen geht er aber weit darüber hinaus. Dann bleibt der Entwurfsprozess nicht dabei stehen, einzelne Elemente lediglich nach festgelegten Modellen so zu kombinieren, dass daraus ein Gebäude oder eine architektonische Situation entsteht. Werden die Elemente entsprechend der besonderen Wünsche des Bauherren, der besonderen topografischen Lage oder des besonderen städtebaulichen Kontexts auf bisher unbekannte Art zu einer neuen Einheit kombiniert, dann wird der Entwurfsprozess selbst zu einem Theoriebildungsprozess. Kreativität zeigt sich in ihrem Kern als theoriegeleitet wie theoriebildend. Damit wird der Doppelcharakter der Architekturtheorie sichtbar. Sie ist einerseits empirische Wissenschaft, wenn sie die Architektur als Dingerfahrung und Artefakt, also als Seiendes, zur Anschauung hat. Mit der Architektur als Werdendes ist die Architekturtheorie aber auch (Kunst-)Praxis und dieses wiederum im doppelten Sinn: Als Voraussetzung wie auch Resultat des Entwurfsprozesses. Im ersten Fall, als Wissenschaft, befindet sich die Architekturtheorie in Distanz zum Artefakt als einem Seienden. In diesem Sinne ist sie analytische Wissenschaft. Im zweiten Fall ist sie Teil des kreativen Gestaltungsprozesses, nämlich einerseits als Voraussetzung, die das Zusammenfügen von einzelnen Elementen zu einer Einheit überhaupt erst ermöglicht. Im Falle, dass die Elemente zu einer neuen, nicht vorhersehbaren Einheit zusammengefügt werden, ist die Architekturtheorie

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andererseits Resultierende des Entwurfsprozesses und unterliegt dabei einem Prozess der Transformation ihrer Inhalte.

3 Kunst der Systeme Aristoteles unterschied Wissenschaft und Kunst über das Werdende und Seiende. Um der Architektur als Baukunst in ihrer Spezifik gerecht zu werden, bedarf es aber einer Unterscheidung und Differenzierung von Kunst und Baukunst. Wie die Kunst ist die Architektur zunächst immer ein Gewordenes, ein Gemachtes, sie zeichnet sich aber gegenüber Malerei und Bildhauerei dadurch aus, dass sie nicht auf Nachahmung der Natur basiert. Sie ist vorbildlos in der Natur. Ihre Prinzipien sind nicht der Natur nachgebildet. Mit Immanuel Kant (1724–1804) kann man feststellen, dass sie nicht „fremder Vernunft“ (Kant 1996a, A836, S. 698) ist. Was darunter zu verstehen ist, hat Kant in Transzendentale Methodenlehre unter dem Begriff der Architektonik definiert, dort schreibt er: „Ich verstehe unter einer Architektonik die Kunst der Systeme.“ (Kant 1996a, A832, S. 695) Architektonik ist diejenige Tätigkeit, die aus „einem bloßen Aggregat [von unterschiedlichen Materialien und Formen] ein System macht.“ (Kant 1996a, A832, S. 695) Wobei System, im Sinne Aristoteles, für das aus den Einzelerkenntnissen überführte Allgemeine steht, nach Kant besteht es in der „Einheit der mannigfaltigen Erkenntnisse.“ (Kant 1996a, A833, S. 696) Von ihrem Grundprinzip her unterscheidet sich demnach die Architektur von den klassischen künstlerischen Verfahren der Nachahmung. Dazu kann auf Johann Joachim Winckelmann, Begründer der Kunstgeschichte, Bezug genommen werden. Er stellte in seinen Schriften die „Nachahmung des Schönen der Natur“ (Winckelmann 1968a, S. 37) ins Zentrum seiner Betrachtungen zur Malerei. Dabei unterschied er zwei Techniken der Nachahmung. Sie sei „entweder auf einen einzelnen Vorwurf gerichtet, oder sie sammlet die Bemerckungen aus verschiedenen einzelnen, und bringt sie in eins.“ (Winckelmann 1968a, S. 37) Nachahmung kann also eine identische Kopie nach der Natur sein, sie kann aber mit Blick auf die idealische Schönheit auch die Summe von Einzelerfahrungen sein, die der Künstler zum Idealbild zusammensetzt. Daher unterscheidet Winckelmann Nachmachen von Nachahmen, wobei er unter dem ersten die „knechtische Folge“ versteht, während das Nachahmen, „wenn es mit Vernunft geführet wird, gleichsam eine andere Natur annehmen und etwas eigenes werden“ (Winckelmann 1968b, S. 151) kann. Winckelmann knüpft hier an Aristoteles’ Begriff der Mimesis an, jedoch in der Verkürzung des Konzeptes. Für Aristoteles verbindet sich mit der Mimesis

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ein Verfahren der Nachahmung, das „nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit“ (Aristoteles 1994, S. 29) eine Möglichkeit zur Sichtbarkeit bringt, wobei dies nicht die Einzelerfahrung, sondern das Allgemeine zum Ziel hat, das Aristoteles auch als Wahres bezeichnet. Das gilt fürwahr auch für Winckelmann, auch wenn er die nachahmende Praxis auf das Idealschöne reduzierte. Mit dem Idealschönen zeigt Winckelmann, dass er weniger in der Tradition Aristoteles’ als in der Tradition Platos steht. Im Gegensatz zu Aristoteles ist für Plato das Allgemeine ein Wahres, das nur als Schönes erscheinen kann. Die Schwierigkeit in Winckelmanns Begriff der Nachahmung besteht in der Verengung auf das Schöne. Winckelmanns Nachahmungsbegriff kennt kein anderes Wahres als ein schönes Wahres. Als Idealschönes bleibt die Nachahmung aber dem Vorbild der Natur verhaftet.2 Selbst als ein Werdendes ist die Kunst bei Winckelmann nicht ganz frei, weil an die Natur als Seiendes gebunden. Hier macht sich dann der Unterschied zwischen Kunst und Baukunst fest, denn die Architektur verfolgt weder das Idealschöne, wo sie nicht der Natur nachgebildet ist, noch ist sie im fiktiven Rahmen der Kunst nur die Sache der Möglichkeit nach. Sie ist die Sache selbst, die Wand ist eben die konkrete Wand und nicht nur das Zeichen, also Stellvertreter der Wand, wie auch das Fenster das konkrete Fenster ist und nicht nur gemalt. Architektur ist Kunst der Systeme, „deren Form nicht die Natur, sondern einen willkürlichen Zweck zum Bestimmungsgrunde hat.“ (Kant 1996b, § 51, A205, S. 260) Wobei unter Zweck alles verstanden werden muss, was die Forderung nach Angemessenheit an die menschlichen Bedürfnisse erfüllt, das deswegen nicht nur auf Funktion oder Konstruktion reduziert werden kann, sondern Atmosphäre oder emotionale Stimmung einschließt und allgemein das, was in einem Verhältnis von Ursache und Wirkung in Hinblick auf die Bedürfnisse steht. Im Zentrum der Architekturtheorie steht die Frage nach der Angemessenheit und nicht die nach der Wahrheit. Angemessenheit ist kontextabhängig und damit ort- und zeitgebunden. So kann ein Bambushaus in Indonesien oder ein Iglu aus Eis in Grönland den jeweiligen Lebensbedingungen angemessen sein, oder auch ein Zeilenbau, selbst ein Bunker oder ein Erdloch können für das Überleben ihre Angemessenheit unter Beweis stellen. Es ist die Angemessenheit, also die Architektur in Hinblick auf

2Mit

der Aufgabe des Idealschönen verändert sich im Laufe des 19. Jahrhunderts die Konzeption der Nachahmung, die Malerei löst sich aus der Bindung an die Natur und gewinnt konzeptuelle Freiheit. Diese nähert sich dann in ihrer Konzeption dem Konzept der Architektonik als der Kunst der Systeme und als Grundlage für die kreative Praxis an.

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die Bedürfnisse, durch die die Erweiterung der reinen Architektonik zur Architektur und der Kunst der Systeme zur Baukunst möglich wird. Als eine solche erfordert die Architektur, wie Kant schreibt, „zweier Vorstellungskräfte Zusammenstimmung: nämlich der Einbildungskraft (für die Anschauung und die Zusammensetzung des Mannigfaltigen derselben), und des Verstandes (für den Begriff als Vorstellung der Einheit dieser Zusammensetzung).“ (Kant 1996b, §35, A144, S. 217) Im freien Spiel von Einbildungskraft und Verstand liegt das kreative Moment, durch das der Entwurfsprozess zum Theoriebildungsprozess wird.

4 Stoff und Form Als Kunst der Systeme ist die Architektur vorbildlos in der Natur. So haben die Fundamente kein Vorbild in der Natur, wie auch die Wand, die als vertikale Fläche ein Vorn und ein Hinten trennt, kein Äquivalent in der Natur kennt. Ebenso wie vier Wände, die so zueinander aufgestellt sind, dass sie ein Außen von einem Innen trennen. Dass die Architektur nicht der Natur nachgebildet ist, das gilt auch dann, wenn die Grundformen in Einzelfällen in der Natur vorkommen, wie zum Beispiel im Fall des rechten Winkels. Er kann in der Natur vorkommen, aber nicht als System, mit dem unterschiedliche Materialien wie Stein, Holz, Stahl oder Klinker variantenreich und mit dem Potenzial des Neuen zu dreidimensionalen Formen und Volumen kombiniert werden können. Wie auch Stütze und Balken, die als System von Tragen und Lasten eine Erfindung sind, auch wenn es vorkommt, dass im Wald ein Baum über eine Schlucht fällt und so eine Brücke bildet, oder ein Baum in die Astgabel eines anderen fällt und dadurch eine Art Stützen-Balken-Verbindung entsteht. Eine Einzelerfahrung zu einem System zu machen, das ist die eigentliche Leistung. Das meint der Begriff Erfindung. Was das bedeutet, das kann am Beispiel des Backsteins gezeigt werden. Als eine quaderförmige, rechtwinklige Form ist der Backstein weniger ein Objekt, als ein aus sich heraus dreidimensional erweiterbares System, das architektonische Möglichkeitspotenziale enthält, zum Beispiel, dass er mit anderen zu einem Verbundmauerwerk zusammengefügt werden kann, dass daraus Wände entstehen können, die dann systematisch zu Raumzellen und diese wiederum zu Häusern zusammengesetzt werden können. Im System des rechten Winkels des Backsteins liegt der Möglichkeit nach die Wand angelegt, in der Wand liegt die Raumzelle und in der Raumzelle das Haus angelegt. Aristoteles’ Begriff dafür ist Hylemorphismus. Hylemorphismus beschreibt die Tatsache, dass jenseits von Nachahmung und Mimesis die Dinge als ­Stoff-Form-Relationen beschrieben werden können. Grundlage dafür ist, dass kein

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Material ohne Form möglich ist. Unter Stoff versteht Aristoteles dann das, „was, ohne der Wirklichkeit nach ein bestimmtes Etwas zu sein, doch der Möglichkeit nach ein bestimmtes Etwas ist.“ (Aristoteles 1995b, 1042a, S. 170) Der Lehm ist Stoff, der dem Möglichkeitspotenzial nach ein Backstein ist, der Backstein ist seinem Möglichkeitspotenzial nach eine Wand, der Stahl seinem Möglichkeitspotenzial nach ein Fachwerkträger. Form dagegen bezeichnet die Dinge der Wirklichkeit nach wie der Backstein, der aus Lehm gebrannt ist, wie die Wand, die aus Backstein gebaut ist, oder der Fachwerkträger, der aus Stahl gefertigt ist. Charakteristisch ist, dass der Hylemorphismus kein starres Prinzip, sondern dynamisch und vom Umschlag der Stoff-Form-Relation geprägt ist. Der Backstein ist demnach Stoff für die Wand als Form, aber ihrem Möglichkeitspotenzial nach ist die Wand wiederum Stoff für die Raumzelle der Wirklichkeit nach, während die Raumzelle dem Vermögen nach Stoff ist in Bezug auf das Haus. Architektonik als Kunst der Systeme ist demnach nicht Architektur, oder noch nicht Architektur. Die Architektonik enthält die Architektur nur dem Vermögen und der Möglichkeit nach. Wie die Serie von Backstein, Wand, Raumzelle und Haus zeigt, entsteht die Architektur erst aus einer Reihe von ­Stoff-Form-Transformationen. Architektur ist eine Resultierende, das, „was aus beiden, Stoff und Form, zusammengesetzt ist,“ (Aristoteles 1995b, 1043b, S. 174) und, wie Aristoteles schreibt, das Wesen des Dings oder des Gebäudes ist. Nach Aristoteles wird erst im Backstein das Wesen, d. h. die Qualitäten des Lehms sichtbar, der Backstein zeigt sein Wesen erst durch die Wand, die Wand erst durch die Raumzelle und diese erst durch das Haus. Aus dieser Perspektive wird man dann auch die Obsession der Architekten mit Urhütten verstehen können. Sie sind nämlich nicht das, für was man sie immer hält. Sie sind weniger Phantasien über die Ursprünge der Architektur, also über das erste Haus, als dass sie Versuche sind, die Architektur, im Sinne von Aristoteles, in ihrem Wesen zu bestimmen. Die Urhütten zeigen die Architektur als in der Hervorbringung der architektonischen Idee vorbildlose Erfindung im Übergang von Architektonik zu Architektur: Das Indianerzelt (Viollet-le-Duc) und das System des Einraums, der Salomonische Tempel (Villalpandos) und das Zellenprinzip, die karaibische Hütte (Semper) und das Bekleidungsprinzip, das Baumhaus (Laugier) und das System von Tragen und Lasten. Die Aufzählung kann erweitert werden um Urhütten der Moderne und der unmittelbaren Vergangenheit wie das Maison Domino (Le Corbusier) und der freie Grundriss, die experimentellen Pavillons von Achim Menges und digital fabrication oder die Bruder Klaus Kapelle (Zumthor) und die materiellphänomenale Präsenz.

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5 Schlussbetrachtung Es lässt sich feststellen, dass es keine Möglichkeit gibt, eine vortheoretische Architektur zu denken. Das widerspräche der Architektur als Erfindung und Kunst der Systeme, die ein von der Natur verschiedenes Werdendes oder Gewordenes ist. Als Wissenschaft zeigt sich Architekturtheorie einerseits als die Reflexion über die Dinge mit dem Ziel, die unbewussten Prinzipien, Schemata und Modelle des Denkens sichtbar, erkennbar und bewertbar zu machen. Sie zeigt sich hier als Aufklärung der Architektur über sich selbst. Als eine solche ist sie von ihrer Anlage her kritisch. Andererseits bleibt die Theorie nicht bei der Analyse stehen, sondern ist selbst Teil der kreativen Praxis, insofern sie sowohl notwendige Voraussetzung für jeden kreativen Prozess ist, wie auch Resultierende der auf das Neue zielenden Entwurfsprozesse3. Unabhängig ob analytisch oder kreativ, es öffnet die Architekturtheorie die Praxis für die architektonischen Möglichkeitspotenziale. Theorie entwickelt die Prinzipien oder die Modelle des Denkens, wodurch ein Material, eine Figur und selbst ein Gebäude in Beziehung zu anderem treten und so bedeutungsvoll werden kann. Sie ist die Instanz, die die auf dem Papier oder im Modell entstehenden Formen und Figuren als ein Neues identifizieren und bewerten kann. Ohne Theorie blieben diese sonst fremd, unverstanden und in ihren architektonischen Potenzialen unerkannt.

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3Der hier anhand von Aristoteles und Kant skizzierte Doppelcharakter der Architekturtheorie als analytisch und kreativ entspricht den drei logischen Operationen der Deduktion, Induktion und Abduktion. Als analytische Wissenschaft folgt die Theorie der induktiven Operation, als kreative Praxis entweder der Deduktion oder der Abduktion. Deduktiven Charakter besitzt sie als Voraussetzung für den Entwurfsprozess, das heißt der Theorie als Modell des Denkens für die Überführung der allgemeinen Regeln in die besondere Gestalt des entsprechenden Entwurfs in seiner Kontextspezifik. In die Kategorie der Abduktion fällt die Theorie, wo die Theorie als neue Theorie Resultierende des Entwurfsprozesses ist.

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J. H. Gleiter

Kant, I. (1996a). Transzendentale Methodenlehre. In I. Kant, Kritik der reinen Vernunft (Bd. 2). Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Kant, I. (1996b). Deduktion der reinen ästhetischen Urteile. In I. Kant, Kritik der Urteilskraft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Winckelmann, J. J. (1968a). Gedanken über die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Malerey und Bildhauer-Kunst. In J. J. Winckelmann, Kleine Schriften. Vorreden. Entwürfe. Berlin: De Gruyter. Winckelmann, J. J. (1968b). Erinnerung über die Betrachtung der Werke der Kunst. In J. J. Winckelmann, Kleine Schriften. Vorreden. Entwürfe. Berlin: De Gruyter.

Ästhetische Praxis und Poiesis. Architektenwettbewerbe als Paradigma der Architekturrezeption Marcus van Reimersdahl Architekturfachzeitschriften richten ihren Blick auf Gebäude, die sie einem Fachdiskurs unterziehen. Im Ergebnis der Kritik wird bestimmt, welche Qualitäten ein Bauwerk aufweist. Dabei hat sich der Begriff der Qualität in der Architekturbewertung leitmotivisch durchgesetzt, sodass der Eindruck entsteht, die Güte eines Bauwerks ließe sich abschließend objektiv ermitteln, wie die Materialeigenschaften eines Handelsgutes. Dieses Phänomen der zeitgenössischen Architekturrezeption soll als empirischer Anfangspunkt genutzt werden im Sinne einer Architektur-Wissenschaft, die diese Selbstgewissheit der Architekturkritik ­hinterfragt. Methodisch wird der Blick auf ein empirisches Untersuchungsfeld gelenkt, in dem sich eine Praxis der Interpretation von Architektur vollzieht. Aus einem hermeneutisch-phänomenologischen Wissenschaftsverständnis heraus erscheinen genau diejenigen Handlungssituationen aufschlussreich, in denen eine Entscheidung für oder gegen einen Entwurf getroffen wird. Diese Situationen gibt es bei der Tätigkeit des Entwerfens und – in spiegelbildlicher Entsprechung – bei der Beurteilung von Architektur, etwa in der Handlungssituation eines Preisgerichtes. In einem Preisgericht zeigen sich zum einen die Erwartungen des Bauherrn, der für eine Bauaufgabe das Bauprogramm und die inhaltlichen Zusammenhänge definiert, zum anderen kann beobachtet werden, inwieweit eine Jury die zeichnerisch präsentierten Lösungsvorschläge überhaupt als eine „sinnvolle“ Konzeption zu erkennen vermag. Preisgerichtssitzungen von Architektenwettbewerben sind daher für eine Architektur-Wissenschaft ein höchst M. van Reimersdahl (*)  Technische Universität Dresden, Dresden, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Berr und A. Hahn (Hrsg.), Interdisziplinäre Architektur-Wissenschaft, Interdisziplinäre Architektur-Wissenschaft: Praxis – Theorie – Methodologie – Forschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29634-6_12

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a­ ufschlussreiches Untersuchungsfeld, das paradigmatisch grundsätzliche Aspekte der Architekturrezeption offenlegt. Der Artikel stellt eine hermeneutisch-empirische Untersuchung vor zu Preisgerichtssitzungen bei Architektenwettbewerben (van Reimersdahl 2019). Die Untersuchung rekonstruiert über teilnehmende Beobachtung und über Experteninterviews, wie die Teilnehmer verschiedener Bewertungsgremien „Worte“ und „Beschreibungen“ suchen, um den „Sinn“ oder die „Aussage“ der architektonischen Entwürfe zu verstehen und darüber zu sprechen. In den Beschreibungen zeigen sich die Absichten und Wünsche der Juroren. Unvermutet entwickelt sich eine schöpferische Tätigkeit der Preisrichter, die sich als Poiesis, im Sinne einer kreativen, hervorbringenden Praxis, beschreiben lässt – als eine spezifische Weise, wie sich Architektur zur Anschauung bringt. Unter Berücksichtigung verschiedener wissenschaftlicher Zugänge konnte bei der Analyse verschiedener Preisgerichtssitzungen dieses Phänomen als eine „ästhetische Praxis“ identifiziert werden und seine Relevanz für eine Architekturwissenschaft herausgestellt werden. Auf diesen Aspekt der „Ästhetischen Praxis“ soll in diesem Artikel eingangen werden.

1 Empirisches Feld Preisgerichtssitzungen Zum Verständnis der Besonderheit des empirischen Untersuchungsfeldes der Preisgerichtssitzungen wird nachfolgend zunächst der formale Rahmen vorgestellt, in den Architektenwettbewerbe eingelassen sind. Architektenwettbewerbe unterliegen sowohl dem Aspekt des Urheberrechtes als auch dem Gebot der Vertraulichkeit, wie es sich aus der Richtlinie zur Durchführung von Wettbewerben (RPW 2013) ergibt. Eine wissenschaftliche Untersuchung, die sich auf empirische Studien aus dem Gebiet stützt, muss diese Voraussetzungen beachten. Nach der RPW 2013 (§ 8 Abschluss des Wettbewerbs. Nummer 1: Ergebnis und Öffentlichkeit) sind alle eingereichten Wettbewerbsarbeiten innerhalb eines Monats nach der Entscheidung des Preisgerichts öffentlich auszustellen. Der Inhalt der Wettbewerbsarbeiten ist damit jedem Interessierten zugänglich. Bestandteil der Wettbewerbsarbeit ist der Erläuterungsbericht der Verfasser, der damit ebenfalls ohne Einschränkungen zitiert und ausgewertet werden kann. Die Wettbewerbsteilnehmer erhalten das Protokoll der Preisgerichtssitzung zugesandt, damit unterliegt auch dieses Dokument keiner Vertraulichkeit. In der Regel veröffentlicht darüber hinaus der Auslober nach Abschluss des Verfahrens das Protokoll im Internet in den einschlägigen Wettbewerbsdokumentationsportalen wie z. B. competitionline (Wettbewerbsplattform www.competitionline.de). Der

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Verlauf der Preisgerichtssitzung und insbesondere der Zeitpunkt, wann welche Arbeit aus dem Verfahren ausgeschieden ist, kann dadurch von jedermann nachvollzogen werden. Auch die schriftliche Bewertung der Arbeiten der engeren Wahl durch die Preisrichtergruppen ist Inhalt des Protokolls und unterliegt keiner Geheimhaltung. Die eigenen Beobachtungen bei der Mitwirkung im Preisgericht wurden vor Ort in kurzen stichpunktartigen Notizen festgehalten. Das Interesse der Untersuchung besteht darin, die Preisgerichtssitzungen als situative und kommunikative Geschehnisse und damit als Phänomene der Lebenswelt verstehen zu wollen. Die Aufgabe des Forschers ist es, die konkrete Vollzugspraxis der Jury so konkret wie möglich nachzuvollziehen und die Konstitution von Sinn anhand der Beschreibungen, die an die Entwürfe im Verlauf der Bewertungsrunden herangetragen werden, zu rekonstruieren. Die gewählten Methoden sind dieser Sinnexplikation angepasst.

1.1 Formale Grundlage: Prinzip der Negativauslese Der Ablauf einer Preisgerichtssitzung unterliegt strengen Regularien und ist in der Anlage VII RPW 2013 (BMVBS 2013) festgelegt. Grundlage für die Beurteilung der Juroren sind zum einen die auf Stellwänden präsentierten Wettbewerbsarbeiten und zum anderen die Vorprüfberichte zu den einzelnen Arbeiten. Bei letzteren handelt es sich um tabellarische Auswertungen zu den Arbeiten, die – zur Erleichterung der Tätigkeit der Juroren im Preisgericht – ein vom Auslober beauftragtes Architekturbüro im Vorfeld des Jurytermins erstellt hat.1 Entscheidend für die Auswahl des Siegerentwurfes ist die in der Anlage VII RPW 2013 im Punkt 4 „Bewertung“ dargestellte Vorgehensweise: Bewertung der zugelassenen Arbeiten Wertende Rundgänge je nach Zahl der Arbeiten mit schriftlicher Festlegung der auszuscheidenden Arbeiten, Angabe der Stimmenverhältnisse und zusammenfassender schriftlichen Begründung unter Heranziehung der Erläuterungsberichte

1Die

Vorprüfung umfasst die Prüfung der formalen Voraussetzungen für eine Teilnahme der Arbeiten, etwa den fristgerechten Eingang und die Wahrung der Anonymität. Weiterhin wird die Erfüllung der fachlichen Anforderungen untersucht und das Ergebnis in einem Bericht festgehalten. Die Wettbewerbsrichtlinie sieht in der Vorprüfung eine objektive, nicht-wertende Analyse der wesentlichen funktionalen und wirtschaftlichen Merkmale der Wettbewerbsarbeiten.

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der Verfasser und der Stellungnahme der Vorprüfung sowie der Sachverständigen, Ausschluss im 1. Rundgang nur bei einstimmigem Beschluss Bestimmung der in der engeren Wahl verbleibenden Wettbewerbsarbeiten mit individueller schriftlicher Beurteilung (a) Festlegung der Rangfolge der Arbeiten (b) Festlegung der Preise und Anerkennungen (c) Beschlussfassung über Empfehlungen für die weitere Bearbeitung und zu sonstigen vom Auslober zu berücksichtigenden Fragen (evt. nach Beschlussfassung über Empfehlungen für eine Überarbeitungsphase, nach Überarbeitung und erneuten Bericht der Vorprüfung) Die Beurteilung der zugelassenen Wettbewerbsarbeiten erfolgt in mehreren Runden. Zunächst wählen die Preisrichter eine ausreichende Zahl an Arbeiten aus, die für eine Preisverleihung in Betracht kommt (engere Wahl).2 Diese Auswahl erfolgt nach dem Prinzip der Negativ-Auslese, die Juroren entscheiden in mehreren wertenden Rundgängen schrittweise über den weiteren Ausschluss von Arbeiten. Die Arbeiten der engeren Wahl werden von den Preisrichtern schriftlich bewertet. Dazu bildet man Preisrichtergruppen, wobei die Gruppen nach unterschiedlichen Kriterien ihre Arbeiten durchführen können. Die Vorgabe der Wettbewerbsrichtlinie, dass sich die Preisrichter in den Preisrichtergruppen eine eigene Beschreibung der Entwürfe erarbeiten müssen, ist der wesentliche Punkt im Geschehen des Auswahlverfahrens. Dabei muss am Ende ein Text zustandekommen, der von allen Mitgliedern der Preisrichtergruppe mitgetragen wird und der dann gegenüber der gesamten Jury zur Diskussion gestellt wird. In der Preisrichtergruppe befinden sich sowohl Fachpreisrichter – also Architekten als Experten für die Beurteilung von Architektur – als auch Sachpreisrichter. Letztere sind die Vertreter des Nutzers, die das Gebäude später in Gebrauch nehmen werden, sie gelten in dieser Handlungssituation als „Laien“, da sie in der Regel zum ersten Male einer solchen Situation beiwohnen. Laien und Experten treffen mit ihren unterschiedlichen Anschauungen in der Preisrichtergruppe zusammen und ringen um eine passende Beschreibung des ihnen vorgelegten Entwurfs. In

2Unter

einer ausreichenden Zahl ist etwa das 1 ½-fache der Anzahl der ausgelobten Preise und Anerkennungen zu verstehen.

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diesem Moment zeigt sich brennpunktartig, wie Architektur von der Fachwelt und der nichtprofessionellen „Öffentlichkeit“ verstanden und bewertet wird. Die Präambeln der Richtlinien und Verfahrensleitfäden betonen durchgehend, dass eine „objektive“ Auswahl sichergestellt werde. Dennoch gibt es in der Kommentarliteratur für nahezu jeden Verfahrensschritt im Preisgerichtsverfahren ergänzende Verfahrenshinweise. Die besondere Situation eines Preisgerichtes lässt sich offenbar nur unzureichend mithilfe von objektiv eingrenzbaren Wertungskriterien lenken.

1.2 Die Definition der Erwartungen: Die Auslobung Die Auslobungsunterlage, die den Teilnehmern zur Verfügung gestellt wird, beschreibt die Wettbewerbsaufgabe umfassend, sodass der Wettbewerbsteilnehmer einerseits die inhaltlichen Anforderungen an den Gebäudeentwurf kennenlernt (Wettbewerbsprogramm) und er sich andererseits ein Bild von der Erwartungshaltung des Bauherrn zu dieser Bauaufgabe (Beurteilungskriterien) machen kann.3, 4 Mit Veröffentlichung der Beurteilungskriterien bindet sich der Auslober selbst, da er die Kriterien im gesamten Verlauf des Verfahrens nicht mehr grundsätzlich verändern darf. Der Auslober ist sogar dazu verpflichtet, den Teilnehmern mitzuteilen, wie er bei seiner Bewertung die einzelnen Beurteilungskriterien gewichten wird. Die Wettbewerbsrichtlinien verweisen darauf, dass eine objektive, sach- und zielgerichtete Arbeit des Preisgerichtes sichergestellt werden soll (Vergaberecht 2016). Die Wettbewerbsrichtlinie RPW verwendet dabei den Begriff der Objektivität in dem Sinne, dass die Bewertung der Preisrichter sich ausschließlich an den in der Auslobung festgelegten Kriterien auszurichten habe. Diese Begriffsverwendung des Objektiven im Zusammenhang mit Wettbewerben findet sich leitmotivisch sowohl in der Fachwelt als auch in den Diskursen der Öffentlichkeit,

3„Der

Auslober muss die Beurteilungskriterien aus Gründen der Chancengleichheit, der Transparenz des Verfahrens und der Vergleichbarkeit der eingehenden Wettbewerbsbeiträge spätestens in der Auslobung konkret beschreiben“ (Müller-Wrede 2012, S. 77). 4„Im Interesse des Wettbewerbserfolges, einer zielgerichteten Arbeit der Teilnehmer und einer fairen, nachvollziehbaren Bewertung durch das Preisgericht sind alle Anforderungen an den Wettbewerbsentwurf klar zu beschreiben und die Hintergründe der Aufgabe offenzulegen“ (Weinbrenner et al. 1998, S. 126).

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etwa in der Berichterstattung der Medien zu Preisgerichtsentscheidungen. Der Bund Deutscher Architekten stellt in einem Leitfaden fest: „Aus einem größtmöglichen Spektrum an Vorschlägen ermittelt ein qualifiziertes Preisgericht anhand objektiver fachlicher Kriterien – etwa wirtschaftliche, funktionale, technische, ökologische und gestalterische Aspekte – das beste Lösungskonzept“ (BDA 2016, S. 21; kursiv durch mich).

Für eine architektur-wissenschaftliche Perspektive ist diese Homogenität der Begriffsverwendung bemerkenswert. Es besteht offenbar ein ­gesellschaftlich-historisches Verständnis zu dieser Verfahrensart, nach der Wettbewerbe mit „Qualität“ und „Objektivität“ in Verbindung gebracht werden. Der Charakter des Verfahrens als Konkurrenz hat sich nach der Kulturanthropologin Sabine Eggmann in das Wissen der Öffentlichkeit „eingeschrieben“. Es ist ein Sinnzusammenhang entstanden zwischen dem Verfahren und seiner vermuteten Eigenschaft „qualitätsvoll“ zu sein, der allgemein akzeptiert wird.5 Das steht im Widerspruch zu dem, was sich in den Preisgerichtssitzungen ereignet, da sich das Geschehen nicht abschließend unter den Begriff einer objektiven Qualitätsermittlung fassen lässt. Bei der Analyse der empirisch gewonnen Daten aus verschiedenen Wettbewerbsverfahren wird man vielmehr auf Phänomene aufmerksam, die die Theorie einer neu zu begründenden Architekturwissenschaft berühren. Offenbar besitzen vortheoretische-vorwissenschaftliche Erfahrungen der Preisrichter eine Wirk­ mächtigkeit, die sich innerhalb eines Preisgerichtes – gelenkt durch die Methodik der Bewertungsrundgänge – zum Ausdruck bringt. Es besteht ein Zusammenhang zwischen dem Eindruck der Wettbewerbsarbeiten, der sich den Juroren bei der Betrachtung vermittelt und den sprachlichen Bildern, die die Preisrichter in ihren Beschreibungen zu den Arbeiten verfassen. Das Urteil eines Preisgerichtes bezieht sich nicht auf die zeichnerisch präsentierten Wettbewerbsbeiträge, sondern auf die von den Preisrichtern selber verfassten sprachlichen Bildern. Ein Phänomen, das die konkreten theorie- und erfahrungsgestützten Lösungsansätze des architektonischen Entwerfens und Beurteilens verlässt und auf das Feld der ästhetischen Wahrnehmung verweist.

5„Das

Dispositiv des Wettbewerbs ordnet (kultur-) wissenschaftliches Wissen in diskursiver Weise. In anderer Formulierung: Der gesellschaftlich-historische Kontext prägt nicht nur das (kultur-) wissenschaftliche Wissen, sondern er schreibt sich in Form der Konkurrenz direkt in das Wissen mit ein und bringt erst so dessen Sinn hervor“ (Eggmann 2013, S. 48).

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2 Die Bewältigung der Unübersichtlichkeit: Schöpferisches Handeln Es ist zu beobachten, dass Preisrichter gezwungen sind, die enorme Informationsfülle zu den einzelnen Wettbewerbsarbeiten für sich sinnvoll einzugrenzen. Die Wettbewerbsarbeiten werden zunächst durch die Mitarbeiter der Vorprüfung dem Preisgericht vorgestellt. Die Juroren erhalten dazu die schriftliche Zusammenfassung, den unter Punkt 1.1 erwähnten Vorprüfbericht. In der Praxis zeigt es sich, dass selbst die Zusammenfassung der Kriterien nicht immer für die Juroren übersichtlich ist. Bei sehr anspruchsvollen Bauaufgaben, etwa bei einem Forschungsgebäude, entwickelt sich der Bericht je Wettbewerbsarbeit zu einem vierseitigen Konvolut mit insgesamt 107 Einzelkriterien. Bei der ersten Sichtung der Arbeiten stehen den Juroren nur wenige Minuten zur Verfügung, in denen sie die wesentlichen Merkmale der Arbeit überschauen müssen. Losgelöst von den Einzelkriterien, die im Vorprüfbericht im Detail für jede Arbeit aufgeführt werden, besteht in einem Preisgericht zunächst das Bedürfnis, die Arbeiten vor dem Hintergrund leicht fassbarer Merkmale zu „gruppieren“. Sehr häufig werden die Wettbewerbsbeiträge nach städtebaulichen Merkmalen sortiert, indem man Gruppen von „Riegeln“, „Atrien“, „Blöcken“, „Zeilen“ etc. bildet. Die städtebauliche Anordnungsform ist für ein Forschungsgebäude zunächst nicht die entscheidende Frage, dennoch wird genau dieser Aspekt in vielen Preisgerichten als – vorläufiges – Unterscheidungsmerkmal gewählt. Über die teilnehmende Beobachtung innerhalb der Preisgerichtssitzungen ist zu erkennen, dass die Herbeiführung einer vorläufigen – und oftmals auch etwas willkürlichen – Ordnung es den Preisrichtern erleichtert, einen eigenen Zugang zu den Arbeiten zu erhalten. Die Arbeiten innerhalb einer Kategorie werden dann zunächst miteinander verglichen und innerhalb dieser Gruppen erste Favoriten gekürt. Erst dann wechselt die Diskussion im Preisgericht auf die Gegenüberstellung der einzelnen Favoriten aus den Untergruppen. Es handelt sich um das selbstständige Setzen von Zwischenzielen, die den Juroren die Bewertung erleichtern. Zwischenziele werden nach Dietrich Dörner gesetzt, wenn es nicht gelingt, unmittelbar einen Weg zu finden, der zum endgültigen Ziel führt. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn der gesamte Handlungsraum unüberschaubar ist oder weil Zeitdruck besteht (Dörner 1985, S. 109). Auf diese Weise entwickeln Juroren innerhalb der normierten Wertungsrundgänge, die das Gebot der „Objektivität“ sicherstellen sollen, eigene Strategien, um der Unübersichtlichkeit der Datenmenge Herr zu werden. Offenbar ist dabei das Kriterium entscheidend, wie man eine gewisse „Anschaulichkeit“ der Entwürfe gewinnen kann, etwa über die städtebaulichen Anordnungsformen. Aus

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einem architekturwissenschaftlichen Standpunkt heraus ist es bemerkenswert, dass die von den Juroren selber erdachten Kategorien „unscharf“ sind. Die Zuordnungsmerkmale besitzen eine Unverbindlichkeit, oftmals widerspricht ein Juror der Eingruppierung einer Arbeit in diese oder jene Kategorie, da er offenbar mit dem Gesehenen eine ganz andere Vorstellung verbindet als sein Kollege. Auf eine „objektiv“ belastbare Eingruppierung kommt es aber in der Handlungssituation des Preisgerichtes nicht an. Es handelt sich nach Dietrich Dörner um ein Denken, das das weitere Handeln organisiert und dabei „schöpferisch“ angelegt ist. Es handelt sich um eine probeweise Synthese von neuen, bislang unbekannten Verhaltensweisen. Die „intuitive“ Eingruppierung der Entwürfe dient den Juroren zur ersten Ermittlung der Eigenschaften der Entwürfe und ihren Relationen wobei Analogieübertragungen entstehen und induktive Schlussfolgerungen. Es handelt sich nicht um ein gedankliches Probehandeln im Sinne einer Simulation von real durchführbaren Verhaltensweisen, sondern es sind Informationsverarbeitungsprozesse, die ein fiktives Handeln imaginieren, welches als „externes“ Verhalten nicht vorstellbar wäre (Dörner 1985, S. 108). Welche Vorgehensweise eine Jury angesichts der Arbeiten „spontan“ beschließt, etwa welche Kategorien gebildet werden zur Gruppierung der Arbeiten, ist unvorhersehbar. Insofern unterliegt es dem Zufall, welche Arbeit sich in welcher – gedanklich gebildeten – Untergruppe befindet und mit welchen Arbeiten sie zunächst verglichen wird. Die Unübersichtlichkeit, die mit einer Wettbewerbsaufgabe einhergeht, bezieht sich nicht nur auf die Menge der Informationen im Preisgericht, sondern besitzt ihren Ausgangspunkt bereits viel früher, nämlich in der Zielformulierung durch den Auslober. Die Wettbewerbsaufgabe umfasst u. a. das Raumprogramm, die genauen Anforderungen an die einzelnen Räume und die Darstellung der funktionalen Beziehungen zwischen den einzelnen Bereichen. Von Interesse für die am Wettbewerb teilnehmenden Architekten sind aber regelmäßig genau diejenigen Textpassagen, die sich von einer „objektiven“ Auflistung der Erfüllungskriterien lösen. Meist in Form einer Präambel formuliert der Auslober seine Erwartungshaltung an das neue Gebäude. Diese Textpassagen zeichnen sich durch eine abweichende „Textart“ aus. Sie verlassen eine rein „objektive“ Benennung der Kriterien und verwenden metaphorische Beschreibungen. Die Erwartungshaltung des Nutzers, also derjenigen Personen, die das Gebäude später in Gebrauch nehmen, lässt sich aber offenbar nicht mit Kriterien in Worte fassen die dann – vermeintlich objektiv – etwa in Form von Tabellenübersichten dargestellt werden. Nicht immer sind diese sprachlichen Formulierungen zueinander schlüssig. Insbesondere in der Konzeptphase der Antragsunterlagen zeigt sich das Ringen der nutzenden Einrichtung um eine passende Beschreibung. Verdeutlicht wird

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dieses über einen Textauszug einer Universität, die gegenüber dem Wissenschaftsressort in der Bedarfsanmeldung die Notwendigkeit eines Neubaus für ein geisteswissenschaftliches Forschungsgebäude begründet. Dabei geht die antragstellende Universität explizit auf ihre Erwartungen ein, die sie mit der baulichen Gestaltung des Neubaus verbindet: „Der zu konzipierende Neubau muss nicht nur die definierten funktionalen Vorgaben erfüllen, sondern soll mit seiner Architektur den Forschungsgegenstand selber aufnehmen und für Mitarbeiter sowie für Besucher wahrnehmbar in der Gebäudestruktur widerspiegeln.“6

Die Universität verwendet ein sprachliches Bild, um den Gedanken zu veranschaulichen: „Das passende Bild bietet die Natur in Form der Amöbe als Organismus, der sich an fast jede Umwelt anpassen kann, da er nach innen äußerst stabil und nach außen extrem flexibel ist.“7

Auf die Nachfrage des Ministeriums, was damit gemeint sei, begründet die Universität ihr Selbstverständnis mit dem Stoffwechselvorgang einer Amöbe. Nicht Passendes werde ausgeschieden, ähnlich sei die räumliche Anordnung der Forschungsbereiche im Gebäude vorzusehen, die – je nach Erfolg der Wissenschaftler – ständig im Fluss sei. Offenbar hat der immense Anforderungsdruck, der auf den Forschungseinrichtungen lastet, implizit zu diesem ungewöhnlichen sprachlichen Bild geführt. In der Überarbeitung der Bedarfsanmeldung ist die Universität von diesem Vergleich dann wieder abgerückt. Weiterhin weist die Bedarfsanmeldung auf die vielfältige Verknüpfung zwischen den Fachbereichen hin, die die Architektur mit „Offenheit“ ermöglichen soll. Allerdings wird derzeit bei nahezu jedem Instituts- oder Forschungsgebäude die Notwendigkeit „offener“ Strukturen hervorgehoben, die die verschiedenen Funktionsbereiche miteinander verschränken sollen und dadurch den Wissenschaftlern Gelegenheit zur „informellen“ Kommunikation bieten. In ähnlicher Weise taucht in den Bedarfsbegründungen der Universitäten der Aspekt der

6Konzept

Bedarfsanmeldung Forschungsbebäude „Global Hub“ der Universität Leipzig gegenüber dem Sächsischen Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst 2018. 7Konzept Bedarfsanmeldung Forschungsbebäude „Global Hub“ der Universität Leipzig gegenüber dem Sächsischen Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst 2018.

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Digitalisierung auf, so auch beim Wettbewerb für die geplante Erweiterung der Universität St. Gallen, dessen Ergebnis in verschiedenen Fachzeitschriften publiziert ist: „Die Universität St. Gallen möchte eine innovative Denk- und Lernumgebung schaffen, die den Herausforderungen der Digitalisierung gerecht wird und der Förderung der Sozial- und Technologiekompetenzen der Studierenden dient.“8

Worin sich das Gebäude explizit mit den „Herausforderungen der Digitalisierung“ auseinandersetzt, wird in der Beschreibung der Wettbewerbsentwürfe nicht deutlich. Den Siegerentwurf zeichnet aber eine veränderbare Struktur aus, die dazu geeignet wäre, „dynamische Zonen“ bereitzustellen. „… ein Gebäude in Form einer clusterartigen, wandelbaren Struktur aus mehreren Würfeln (…), die über einem Raster angeordnet sind. Die modularen, miteinander akustisch und visuell verbundenen Gebäudeelemente verschränken sich zu dynamischen Zonen und ermöglichen eine Anpassung an die jeweiligen didaktischen Bedürfnisse wie Podiumsdiskussionen, Lehrveranstaltungen oder Prüfungen.“9

Gesellschaftlich etablierte Metaphern werden hinzugezogen, um einen Entwurf gut dastehen zu lassen und ihn – im Idealfall – mit übergeordneten Idealen in Verbindung zu bringen. Zu dieser Kategorie zählt im Instituts- und Forschungsbau die wiederkehrende Forderung nach „wandelbaren Strukturen“. Eventuell in Ermangelung anderer Leitbilder wird das Prinzip eines räumlich veränderbaren Gebäudes postuliert, um auf die nicht vorhersehbaren Änderungen der wissenschaftlichen Forschungsausrichtung in den nächsten Jahrzehnten reagieren zu können. War es beim Neubau für das Geisteswissenschaftliche Forschungszentrum das sprachlich unkonventionelle Bild der Amöbe, das sehr direkt die Erwartungen oder Befürchtungen der Universität zum Ausdruck bringt, ist es hier der Begriff der „dynamischen Zonen“. Diese Formulierung findet sich sehr häufig in den Bedarfsbegründungen für Forschungsbauten. Einerseits verbinden die Universitäten damit offenbar eine hohe Nutzungsflexiblität, andererseits wird die Dynamik und Veränderbarkeit auch als Argument in Feld geführt, um

8www.baunetz.de/meldungen-Sou_Fujimoto_baut_in_St._Gallen_5338060.html. Zugegriffen am 5. März 2018. 9www.baunetz.de/meldungen-Sou_Fujimoto_baut_in_St._Gallen_5338060.html. Zugegriffen am 5. März 2018, kursiv durch mich.

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g­ egenüber den antragprüfenden Ressorts die Wirtschaftlichkeit und Langlebigkeit der Maßnahme zu verdeutlichen. Die Homogenität der Formulierungen innerhalb der Auslobungen führt zu einer spiegelbildlichen Entsprechung bei den Wettbewerbsarbeiten und deren Rezeption. Die Kulturwissenschaftlerin Elisabeth Tostrup bemerkt eine „Rhetorik“ der Wettbewerbsbeiträge, die sich an geltenden Werten und Ideologien orientieren, um die Zustimmung des Preisgerichtes zu erhalten. Dabei sei eine Entwicklung in Richtung von „hegemonialen“ architektonischen Aussagen festzustellen, die sich auf die Erwartungshaltung der führenden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Gruppen beziehe. Ein bestimmter Architekturstil werde heutzutage nicht durch Zwang durchgesetzt, wie in einer Diktatur, sondern durch die Willfährigkeit der Architekten, sich vorbehaltlos nach der Meinung gesellschaftlich bestimmender Gruppen auszurichten. Sie spricht von einem immergleichen metaphorischen Sprachstil zur Beschreibung von Siegerentwürfen bei Architektenwettbewerben, einer undifferenzierten „stenografischen Metaphersprache“.10 Es entstehen Leitbauten, die für diese Anforderungen markante Architekturlösungen entwickelt haben. Aufgrund ihrer häufigen Publizierung in den Fachmedien wirken sie fortan als Vorbilder. Sowohl bei den entwerfenden Architekten als auch bei künftigen Bauherren wecken diese Leitbauten eine Erwartungshaltung. Ein – trotz seiner erst wenige Jahre zurückliegenden Fertigstellung – in der Architekturausbildung bereits ikonisch aufgefasstes Gebäude im Sinne einer vorbildlichen Lösung ist das Center for Free-Electron Laser Science (CFEL) in Hamburg (Abb. 1). Oberhalb eines Hallenkörpers liegen vertikal miteinander verflochtene Ringe, die die Büros und Besprechungsräume aufnehmen. Diese Art der Raumanordnung findet sich derzeit in einer Reihe von Neubauten im Forschungsbau sodass man den Eindruck gewinnen kann, dass sich „signature architectures“ fortwährend wechselseitig zitieren. Das Prinzip der ineinander verschlungenen Foyerflächen findet sich beispielsweise auch im Merck Innovation Center für den Pharmakonzern Merck in Darmstadt. „Ein dynamisches Raumkontinuum unterscheidet und verbindet die einzelnen Arbeitsorte zu einem räumlichen

10“A

kind of poetic and metaphoric language runs like a connecting thread through the publication of the competition result. Metaphors have been especially popular und useful for a very long time in architecture. However, during the last ten to twenty years it is arguable that a m ­ etaphoric-shorthand has exploded not only in architecture, but in mass media as well – replacing the specifics with platidudes” (Tostrup 2010, S. 88).

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Abb. 1  Grundriss Center for Free-Electron Laser Science (CFEL) Hamburg, 2013, hammeskrause architekten Stuttgart

Netzwerk“ beschreiben die Verfasser HENN Architekten ihren Entwurf.11 Der Begriff der Dynamik wird verwendet, genau wie bei der eingangs schon zitierten Beschreibung des Wettbewerbsentwurfes von Sou Fujimoto zur Erweiterung der Universität St. Gallen. Das Center for Free-Electron Laser Science (CFEL) besitzt eine Wegeführung über Rampen und Podesten, die Sichtbeziehungen ermöglicht und die Mitarbeiter dazu ermuntern soll, in den Aufenthaltsbereichen der Verkehrsflächen

11HENN

Architekten. http://www.henn.com/de/projects/office/merck-innovation-center. Zugegriffen am 28. März 2019, kursiv durch mich.

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miteinander zu sprechen. Dadurch soll den Wissenstransfer über unterschiedliche Fachbereiche hinweg befördert werden. Aus dem Blickwinkel der Architekturwissenschaft ist dieses ein Phänomen, das geradezu dazu auffordert, es genauer auf seine Ursprünge hin zu untersuchen. Wie genau hat sich diese Anordnungsform aus dem Bedarf des Bauherrn entwickelt, auf welche – auch impliziten – Bedürfnisse des Auftraggebers antwortetet sie. Oder handelt es sich eher um Vermarktungstechniken, bei denen – wie von Tostrup beschrieben, gesellschaftlich etablierte Metaphern herangezogen werden, um einen Entwurf gut dastehen zu lassen und ihn – im Idealfall – mit übergeordneten Idealen in Verbindung zu bringen?12 Forschungsgebäude sind nicht zuletzt auch Teil der Marketingstrategie des Unternehmens oder der Universität. Mit einer besonderen Formensprache will sich die Einrichtung – im Kampf um die besten Wissenschaftler – von der Konkurrenz abheben. In welchem Zusammenhang steht die Aufgabenbeschreibung des Nutzers mit der vom Architekten entwickelten Form, die er für diese Bauaufgabe für „passend“ hält? Und wie vermittelt sich diese vom Architekten gefundene Form einer Jury im Preisgericht? Spielt bei der Bewertung im Preisgericht die Erwartungshaltung des Bauherrn noch eine Rolle oder entwickelt die Bewertung ein Eigenleben? Mit Blick auf die Beschreibungen der Juroren im Preisgericht lassen sich diese Fragen beantworten. Die sprachlichen Äußerungen verweisen auf die Überzeugungen der Juroren und sind somit für eine phänomenologisch-hermeneutisch begründete Architektur-Wissenschaft von Interesse. Es zeigt sich, dass die Wirkung der Wettbewerbsarbeiten auf die Juroren eine Eigendynamik hervorruft, die sich als ein Phänomen einer „ästhetischen Praxis“ bezeichnen lässt. Auf diesen Aspekt soll nachfolgend genauer eingegangen werden.

12Riklef

Rambow bemerkt in ähnlicher Weise wie Tostrup eine Rhetorik der Architektur, die auf Stereotypen gesellschaftlicher Erwartungen reagiert. Rambow spricht von einer Rhetorik der Entgrenzung: „Spätestens seit Beginn der Moderne ist aber zu beobachten, dass sich die Rhetorik der Entgrenzung auch auf völlig andere Bereiche ausdehnt: Wohnungen, Büroräume, Museen, Flughäfen, Bahnhöfe, Kaufhäuser usw. Es scheint keinen Bereich des architektonisch gestaltbaren Lebens zu geben, wo etwas Entgrenzung nicht nützlich sein könnte. Dabei wird Entgrenzung einseitig und oft äußerst undifferenziert mit Befreiung, Erweiterung der Erlebnismöglichkeiten, Kommunikation und anderen positiv besetzten Aspekten von „Modernität“ gleichgesetzt“ (Rambow und Rambow 2007).

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2.1 Ästhetische Praxis In der Handlungssituationen der Preisgerichte zeigt sich eine Suchbewegung, in der sich der Juror das Gesehene erklärt, indem er versuchsweise einen Sinn formuliert. Dabei hat er die spielerische Freiheit zu entscheiden, welchen Aspekten er sich zuwendet und welche er – zunächst – unberücksichtigt lässt. Dieses Phänomen soll mit einem empirischen Beispiel aus einer Preisgerichtssitzung verdeutlicht werden. Es handelt sich um den Architektenwettbewerb für ein internationales Schulungszentrum, das in einen denkmalgeschützten Landschaftspark integriert werden soll (Abb. 2). Im ersten Wertungsrundgang beschreibt ein Fachpreisrichter den zur Diskussion stehenden Wettbewerbsbeitrag:

Abb. 2  Lageplan und Grundrisse Erdgeschoss, Wettbewerbsbeitrag und Erster Preisträger Baulicher Realisierungswettbewerb Erneuerung und Erweiterung des Internationalen Weiterbildungs- und Entwicklungszentrums (InWEnt) in Zschortau bei Leipzig, dd1 architekten, Dresden 2009

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„Der Verfasser bietet uns drei verschiedene Gebäude an (…) warum eigentlich (…) das ist nicht so einfach zu verstehen (…) wo ist denn der Haupteingang frage ich mich bei so einer Anordnung (…) doch wohl da (…) und auch dort (…) frage ich mich (…) also hier im Seminargebäude, der Besucher kommt hier ins Foyer (…) das ist gar nicht so uninteressant gemacht, über zwei Etagen, mit einem Aufgang nach oben (…) und man gelangt dann hier in die Halle (…) das ist die Lernlandschaft“13

Anders als bei der systematischen und wertungsfreien Analyse der Wettbewerbsarbeiten durch die Vorprüfung, ist den Juroren die Vorgehensweise der Bewertung in den Wertungsrundgängen völlig freigestellt. Das o.a. Zitat macht deutlich, dass der Preisrichter in einer „spielerischen“ Art und Weise vorgeht. Das „Umhergehen“ im Lageplan bereitet ihm keine Schwierigkeiten und bereitet ihm „Genuss“: „das ist gar nicht so uninteressant gemacht (…)“14

Sein Interesse ist einerseits darauf gerichtet, in möglichst kurzer Zeit den Sinn des Entwurfes zu erfassen und eine vorläufige Bewertung abzugeben, andererseits lässt er sich von dem Eindruck, den er von dem Entwurf gewinnt, treiben. Dieses spielerische Moment besitzt eine Verwandtschaft zu Kants Begriff der „Interesselosigkeit“, von der sich ein Betrachter bei der ästhetischen Erfassung eines Werkes leiten lässt. Interesse nennt Kant das Wohlgefallen, das wir mit der Vorstellung der Existenz eines Gegenstandes verbinden. Ein interesseloses Wohlgefallen ist demnach ein Wohlgefallen, das unabhängig von der physischen Existenz eines Gegenstandes ist.15 Es richtet sich auf die bloße Form

13Entwurfsbeschreibung

eines Fachpreisrichters im Wertungsrundgang Realisierungswettbewerb Erneuerung und Erweiterung des Internationalen Weiterbildungs- und Entwicklungszentrums (InWEnt) in Zschortau bei Leipzig. 14Zitat eines Fachpreisrichters im Wertungsrundgang Realisierungswettbewerb Erneuerung und Erweiterung des Internationalen Weiterbildungs- und Entwicklungszentrums (InWEnt) in Zschortau bei Leipzig. 15Gerhard Plumpe bemerkt zum „interesselosen Wohlgefallen“: „Kants Formulierung der Qualität der ästhetischen Einstellung ist vielleicht nicht ganz glücklich gewählt, da wir ein Interesse an der Existenz von Phänomenen haben müssen, die unser Wohlgefallen hervorrufen – sonst käme eine ästhetische Reaktion gar nicht zustande; diese Reaktion selber aber, wenn sie einmal eingetreten ist, nimmt an dem Gegenstand, der sie motiviert hat, in seinem So-Sein kein Interesse“ (Plumpe 1993, S. 53).

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des Gegenstandes, seine Zusammensetzung oder Struktur. Diese Art von Wohlgefallen lässt sich am Beispiel der selbstgenügsamen Entdeckerfreude bzw. der bloßen Erkenntnislust veranschaulichen. Untersucht man vor diesem Hintergrund die Ausführungen des Preisrichters, wird deutlich, dass dieser in seinen Beschreibungen das Werk begrifflich umreißt, so wie es sich ihm in der konkreten Situation des Preisgerichtes zeigt. Was sich ihm im Entwurf zeigt, kann ihn sogar dazu veranlassen, erste Vermutungen wieder zu revidieren: „(…) das wirkt so niedrig? (…) ist es aber innen nicht – hier im Schnitt kann man das sehen.“16

Der Preisrichter spricht nicht von einer „zu geringen Deckenhöhe“ im Sinne eines objektiv zu bestimmenden Sachverhaltes, sondern von der Gestaltung, die auf ihn einen Eindruck macht und die seine Argumentation ausrichtet. Auf einmal stehen keine baufachlichen Fakten im Mittelpunkt seines Interesses, sondern die ästhetische Wirkung, die er über das Dargestellte verspürt. Der Juror kann in diesem Moment gar nicht anders, als sich „mitreißen“ zu lassen von dem ­Bildeindruck. Vielleicht kann man sich das Phänomen im Preisgericht entsprechend erklären, wie es Gadamer für den Umgang mit Kunstwerken vorgeschlagen hat: Mit Gadamer gesprochen entsteht in der Beschreibung des Gesehenen eine Selbstdarstellung des Architekturentwurfs, ähnlich eines Spiels, das den Spielenden in seinen Bann schlägt. Es entwickelt sich das „Primat des Spiels über den Spielenden“, was Gadamer als Wesen des Spiels erkennt (Fornet-Ponse 2000, S. 45). Das empirische Beispiel zeigt das „Sich-Hereinbegeben“ eines Betrachters in den Entwurf. Damit veranschaulicht sich Gadamers Auffassung zur Seinsweise des Werkes, das sich über das Spiel bestimmt. Anders als bei einem handelnden Subjekt und einem wahrgenommenen Objekt dreht sich im Spiel das Verhältnis um. Das Werk ruft nach Gadamer eine Wirkung beim Betrachter hervor und „handelt“ – nicht der Betrachter, der ansonsten etwas mehr oder minder Beliebiges hineininterpretieren könnte. In der Erfassung des Werkes macht der Betrachter eine Erfahrung, die ihn „verwandelt“ (Fornet-Ponse 2000, S. 42). „Das »Subjekt« der Erfahrung der Kunst ist nicht die Subjektivität dessen, der sie erfährt, sondern das Kunstwerk selbst. (…) Auch im Spiel sind nicht die

16Zitat

eines Fachpreisrichters im Wertungsrundgang Realisierungswettbewerb Erneuerung und Erweiterung des Internationalen Weiterbildungs- und Entwicklungszentrums (InWEnt) in Zschortau bei Leipzig.

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Spielenden die Subjekte, sondern das Spielgeschehen selbst“ (Gadamer 2010, S. 108). Dieser Vorgang kann eine Eigendynamik entwickeln, im Sinne eines eigenen Entwerfens. Das Abrücken vom Wahrnehmungsobjekt erfolgt dabei so radikal, dass die Juroren bewusst das „Sosein“ eines Wettbewerbsbeitrags negieren. Der Entwurf wird als etwas aufgefasst, von dem die Preisrichter wissen, dass es nicht so ist, wie sie es wahrnehmen. Dennoch lassen sie sich auf die ästhetische Wirkung des Entwurfes ein, mit den Worten von Seel „verweilen“ sie bei dem unter anderem so erscheinenden Gegenstand (vgl. Seel 2003, S. 106–107). Dieses Phänomen zeigt sich im Preisgericht für eine Universitätsbibliothek im Zusammenhang mit dem Ausschluss von Wettbewerbsarbeiten, die gegen zwingende Vorgaben der Auslobung verstoßen.17 Große Beachtung erhält eine Arbeit, die anstelle einer Rekonstruktion der historischen Dachform einen gläsernen Dachaufsatz vorschlägt (Abb. 3). Die Innenraumperspektive zeigt den zentralen Lesesaal im gläsernen Dachaufsatz. Eine umlaufende Galerie ermöglicht dem Besucher Ausblicke auf die Stadt und setzt die Universitätsbibliothek mit ihrem Umfeld in Beziehung. Trotz Ausschluss dieser Arbeit nehmen die Juroren im Verlauf des Preisgerichtes auf sie Bezug, wenn sie die Besonderheit anderer Arbeiten in Worte fassen: „(…) so wie die »Glasgalerie« heute morgen (…) nach außen zeigt sich das modern, trotz Rekonstruktion (…) das hier ist ganz ähnlich, sehr klar und elegant.“18

Die Wirkung, die sich den Preisrichtern beim Entwurf mit dem gläsernen Dachaufsatz vermittelt, führt über die Beschreibungen „elegant“, „klar“ und „modern“ zur Erfahrung der Juroren, wie eine gelungene Lösung für diese Bauaufgabe aussehen könnte. Der nachfolgend zur Bewertung anstehende Entwurf, der auf diese Weise beschrieben wird, besitzt weder den gläsernen Dachaufsatz noch

17Die

Wettbewerbsrichtlinie sieht aus Gründen der Chancengleichheit der Teilnehmer den Ausschluss derjenigen Arbeiten von der Bewertung im Preisgericht vor, die sich über bindende Vorgaben der Auslobung hinwegsetzen. Mit dieser Vorgehensweise möchte der Auslober weiterhin die Sicherheit erhalten, eine Auswahl von tatsächlich realisierbaren Vorschlägen zu erhalten. Häufig vorgegeben sind die Einhaltung planungsrechtlicher Vorgaben, wie Baugrenzen, Abstandsflächen oder die maximal zulässige Geschosshöhe. 18Entwurfsbeschreibung eines Fachpreisrichters im Wertungsrundgang Architektenwettbewerb als nicht offener städtebaulicher Ideen- und baulicher Realisierungswettbewerb nach RPW 2008 mit vorgeschaltetem offenen Bewerbungsverfahren, Zentralbibliothek der Technischen Universität Chemnitz.

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Abb. 3  Ausschluss von Wettbewerbsarbeiten beim Architektenwettbewerb als nicht offener städtebaulicher Ideen- und baulicher Realisierungswettbewerb nach RPW 2008 mit vorgeschaltetem offenen Bewerbungsverfahren, Zentralbibliothek der Technischen Universität Chemnitz, Wettbewerbsbeitrag AFF architekten, Berlin 2012

die umlaufende Galerie. Dennoch nehmen die Preisrichter Bezug auf den ausgeschlossenen Entwurf, der zwar nicht als Lösung zur Verfügung steht, der aber sichtbar gemacht hat, wonach zu suchen ist. Die Ähnlichkeit, die zwischen den beiden Entwürfen erkannt wird, vermittelt sich spontan und wird mit dem Begriff „Glasgalerie“ auf den Punkt gebracht, obwohl der nachfolgende Entwurf nichts „Glasgaleriehaftes“ darstellt. Gleichwohl zeigt die teilnehmende Beobachtung, dass die Preisrichter dennoch etwas „Glasgaleriehaftes“ erkennen, sonst hätten sie nicht genau diese Beschreibung gewählt. Offenbar besteht bei den Juroren eine Bereitschaft dahin gehend, eine Ähnlichkeit zu dem „Referenzentwurf“ zu entdecken, die so stark ist, dass Eigenschaften imaginiert werden. Die Preisrichter haben sich – eingestimmt von den Qualitäten des Referenzentwurfes, der den Glasaufsatz oberhalb des Lesesaals mit einer Bezugnahme auf das städtische Umfeld begründet – dazu verleiten lassen, für die phänomenale Gegebenheit anderer Arbeiten unter dieser ­Hinsicht

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aufmerksam zu sein. Bei der Beurteilung eines Entwurfes im Preisgericht beziehen sich die Juroren nicht nur auf die jeweilige zeichnerische Darstellung des zur Bewertung anstehenden Entwurfes, sondern sie bringen auch Aspekte ins Spiel, die in der Entwurfszeichnung nicht dargestellt sind, gleichwohl aber von den Juroren in diesem Moment „erkannt“ werden. Dieser Umstand verdeutlicht sehr genau, auf was sich das ästhetische Interesse richtet. Eine ästhetische Wahrnehmungsbereitschaft, in die die Juroren angesichts der Bilddarstellungen der Entwürfe hineingeraten, hat nicht das Ziel, die exakten funktionalen und wirtschaftlichen Kenndaten eines Entwurfes zu bestimmen. Auch stellt sich in dem Moment für den Juror nicht die Frage, was der Entwurfsverfasser als das eigentliche Ziel seines Entwurfes beabsichtigt hat. Martin Seel spricht im Zusammenhang mit Werken der Kunst von der Bestimmung des Seienden, das mit einem Kunstwerk zum Ausdruck gebracht werden kann, das aber für ein ästhetisch gelenktes Interesse irrelevant sei. Vielmehr zeigt sich eine Parallele zwischen der Bewertung im Preisgericht und der ästhetischen Wahrnehmungsbereitschaft im Bereich der Kunst, bei der auch eine „Gleichgültigkeit gegenüber dem Sosein“ der Gegenstände vorherrschen kann.19 Wichtiger als das „Sosein“ des zu bewertenden Entwurfes scheint dasjenige zu sein, das ein Preisgericht selber kreativ hervorbringt, etwa die im Beispiel beschriebene Imagination des gläsernen Bibliotheksumgangs bei einem Konkurrentenentwurf, der diese gläsernen Dachaufsatz ausdrücklich nicht vorgeschlagen hat. Wie kann man dieses Phänomen zutreffend charakterisieren, zumal die Wettbewerbsrichtlinie in keiner Weise auf diese Eigengesetzlichkeit innerhalb der Preisgerichte Bezug nimmt? Mit einem weiteren empirischen Beispiel aus einem Preisgericht soll nachfolgend der Moment der Entwurfsbewertung vor diesem Hintergrund noch genauer analysiert werden.

2.2 Ästhetische Wirkung als Poiesis Bei einem Wettbewerb für ein Forschungsgebäude für Mikroelektronik schlägt ein Wettbewerbsbeitrag um die Labore in Reinraumqualität herum einen umlaufenden verglasten Gang vor (Abb. 4). Die unregelmäßige Breite des

19„Darin

liegt eine wichtige Auskunft über das ästhetische Interesse. Es zeichnet sich durch eine potentielle Indifferenz gegenüber dem Sosein aus. Bisher war nur davon die Rede, daß die ästhetische Wahrnehmung ein anderes Telos als das der Bestimmung des Seienden hat. Jetzt wird deutlich, daß zu dieser Ausrichtung auch eine Gleichgültigkeit gegenüber dem Sosein ihrer Gegenstände gehören kann“ (Seel 2003, S. 107).

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Abb. 4   Grundriss 1. Obergeschoss, Wettbewerbsbeitrag und Zweiter Preisträger, Baulicher Realisierungswettbewerb – Interdisziplinäres Verfahren für Gebäudeplanung und Technische Ausrüstung als VOF-Verfahren mit integriertem nichtoffenen Wettbewerb nach RPW 2008, Neubau Technikum Nöthnitzer Straße, Technische Universität Dresden, Fritsch + Tschaidse Architekten GmbH, München mit Krebs Ingenieure GmbH, Ditzingen und Dr. Heinekamp Labor- und Institutsplanung GmbH, Karlsfeld 2009

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Ganges, der zudem in eine Sachgasse mündet, irritiert die Fachpreisrichter, die Sachpreisrichter erkennen aber eine besondere Qualität: „Dieser hier … hat hier den Graugang einmal rundherum gelegt. Das ist eine Art begehbare Fassade … ein thermischer Puffer … eine Doppelfassade als Graugang. Das ist sehr schön gemacht, so eine Lösung … ist genau richtig … man sieht, dass sich da einer auskennt, was da abläuft … Die Demonstrationspraktika können in den Aufweitungen stattfinden, da ist Platz genug … die Studenten müssen dann gar nicht den Reinraum betreten. Auch das Einbringen von neuen Geräten und die Wartung: Dafür brauchen wir dann nicht in die Reinraumzone rein, das geht alles vom Graugang aus.“20

Eine Eigenschaft des Entwurfes wird entdeckt, auf die die Entwurfsverfasser überhaupt nicht aufmerksam gemacht haben. Dennoch ist auf einmal die Besonderheit der mäandrierenden Graugänge „in der Welt“ und verändert den Maßstab, der an die anderen Wettbewerbsarbeiten angelegt wird. Dieses zeigt sich daran, dass sich die Beschreibungen des Gesehenen im weiteren Verlauf kategorial verändern: Galt das Interesse der Jury zunächst den „technischen“ Parametern – wie die Möglichkeit der Wartung der Reinräume von den Graugangbereichen aus – so wechselt auf einmal mit einer Bemerkung eines Jurors zu dem Fassadenschnitt „… so soll das ja von außen auch wirken insgesamt, dass man sieht, was hier geschieht: Hier ist Forschung und die Menschen sind ganz nah drum herum.“21

das Erkennen die Richtung. Erkannt wird nicht ein weiterer „technischer“ Einzelaspekt, sondern ein „Wesenszug“ des Entwurfs, der den Entwurf insgesamt in einem anderen Licht erscheinen lässt. Die gläserne Außenhaut verbindet der Preisrichter spontan mit normativen Erwartungen der Gesellschaft, für die er versucht, eine passende Beschreibung zu finden. Vermutlich gelangt in seiner Formulierung seine Erwartung zum Ausdruck, dass Forschung für die

20Entwurfsbeschreibung

eines Fachpreisrichters im Wertungsrundgang Baulicher Realisierungswettbewerb – Interdisziplinäres Verfahren für Gebäudeplanung und Technische Ausrüstung als VOF-Verfahren mit integriertem nichtoffenen Wettbewerb nach RPW 2008, Neubau Technikum Nöthnitzer Straße, Technische Universität Dresden. 21Entwurfsbeschreibung eines Fachpreisrichters im Wertungsrundgang Baulicher Realisierungswettbewerb – Interdisziplinäres Verfahren für Gebäudeplanung und Technische Ausrüstung als VOF-Verfahren mit integriertem nichtoffenen Wettbewerb nach RPW 2008, Neubau Technikum Nöthnitzer Straße, Technische Universität Dresden.

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Öffentlichkeit begreifbar und anschaulich werden solle und dass man dieses – wohl utopische Ziel – in den Institutsneubauten stärker berücksichtigen solle. Es ist auffällig, dass die Beschreibung des Gesehenen an diesem Punkt abbricht: Was sich dem Juror in diesem Augenblick in dem Entwurf spontan zeigt, wird nur schlaglichtartig angedeutet. Die Schnittansicht verdeutlicht mit den Sehstrahlen an den Köpfen der Mitarbeiter in Reinraumkleidung, dass es eine Sichtverbindung durch die transparenten Graugänge hindurch nach außen gibt (Abb. 5). Der Eindruck „Sichtbarmachung der Forschung umgeben von Menschen“, der sich dem Preisrichter in der Schnittdarstellung vermittelt, löst sich also vom explizit Dargestellten. Gleichwohl ist der Eindruck darauf angewiesen, von der Zeichnung des Entwurfes „initiiert“ zu werden; ohne die Zeichnung wäre der Gedanke „Forschung umgeben von Menschen“ nicht aufgekommen. Mit dem Philosophen Luigi Pareyson gesprochen, hat sich der Entwurf in diesem Moment selber „zur Aufführung“ gebracht (Weiß 2004, S. 79). Zur

Abb. 5   Schnittansicht, Wettbewerbsbeitrag und Zweiter Preisträger, Baulicher Realisierungswettbewerb – Interdisziplinäres Verfahren für Gebäudeplanung und Technische Ausrüstung als VOF-Verfahren mit integriertem nichtoffenen Wettbewerb nach RPW 2008, Neubau Technikum Nöthnitzer Straße, Technische Universität Dresden, Fritsch + Tschaidse Architekten GmbH, München mit Krebs Ingenieure GmbH, Ditzingen und Dr. Heinekamp Labor- und Institutsplanung GmbH, Karlsfeld 2009

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Anschauung wiederum komme es nur, wenn der Gegenstand das „Gemüt auf gewisse Weise affiziere“, so beschreibt es Michaela Ott mit Bezugnahme auf Kants Kritik der reinen Vernunft (Ott 2010, S. 268). „Die Fähigkeit (Rezeptivität), Vorstellungen zu bekommen durch die Art, wie wir von Gegenständen affiziert werden, heißt Sinnlichkeit“ (Kant 1975; zitiert nach Ott 2010, S. 268). Der Vorgang der Anschauung erscheint nach Ott als zwiefältiges Zusammenspiel passiver Rezeption und quasi-aktiver Vorstellung. Der Sinn, der sich einem Betrachter vermittelt, ist – so beschreibt es Ott mit Verweis auf Kant – nicht auf etwas, z. B. das Schöne gerichtet, sondern ist eine „Anschauung seiner selbst“.22 Das Darstellte „widerfährt“ dem Rezipienten in dem Augenblick und veranlasst ihn, seinen spontanen Eindruck in Worte zu fassen. Der Wettbewerbsbeitrag gelangt auf diese Weise in eine andere Darstellungsform. Aber – mit Josef König gesprochen – „was für eine Beschreibung ist dieser Satz, da sie doch keine ist, die das wahrnehmbare Ding beschreibt? (W)as er beschreibt, ist (…) nicht das wahrnehmbare Ding, sondern dessen ästhetische Wirkung. Wir empfinden sie unmittelbar als treffend“ (König 1978, S. 259; Hvh. durch mich). Erst in der ästhetischen Beschreibung wird nach König ein Ausdruck hervorgebracht, „der als eine treffende Beschreibung dessen, wovon der Eindruck ein Eindruck ist, empfunden wird. (…) Erst in der Beschreibung hat auch der sie Beschreibende selber die ästhetische Wirkung vor sich“ (König 1978, S. 266 ff.). Das Handeln der Juroren lässt sich als eine Form der „dichterischen“ Vergegenwärtigung verstehen ohne feste Regeln. Es handelt sich um das „Einüben“ einer treffenden Beschreibung, bei der sich die Juroren erst im Vollzug ihrer Beschreibungen die Regeln aneignen, nach denen sie vorgehen. Ihre Beschreibungen werden im Preisgericht zur Diskussion gestellt und „verhandelt“. In diesem Sinne lässt sich das ästhetische Urteilen als etwas Gemeinsames im Preisgericht verstehen. Es vollzieht sich im Wesentlichen aus einem Nachahmen und Wiederholen des im Wettbewerbsentwurf Erkannten und dem im Preisgericht Verhandelten. Das ästhetische Urteil ist damit weder „objektiv“ – etwa im Sinne einer physikalischen Messung – zu nennen, noch „subjektiv“ im Sinne von „auf ein einziges Individuum beschränkt“. Es ist vielmehr „interindividuell“

22„Nun

ist das, was, als Vorstellung, vor aller Handlung (…) vorhergehen kann, die Anschauung, welche, da sie nichts vorstellt, außer so fern etwas im Gemüte gesetzt wird, nichts anders sein kann, als die Art, wie das Gemüt durch eigene Tätigkeit, nämlich dieses Setzen ihrer Vorstellung, mithin durch sich selbst affiziert wird, d. h. ein innerer Sinn seiner Form nach“ (Kant 1975; zitiert nach Ott 2010, S. 269).

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nach Maßgabe der jeweiligen Beispiele. Die „dichterische“ Beschreibung der ästhetischen Wirkung zielt auf das Werk, sodass man davon sprechen kann, dass das Werk seine Interpretation selbst ausrichtet. Diese von Gadamer als ästhetische Wahrheit bezeichnete Aussagewahrheit gehört einer anderen logischen Kategorie an, als ein propositional angelegter „objektiver Vergleich“, wie ihn die Wettbewerbsrichtlinie vorsieht.

2.3 Fazit Preisgerichte bieten die seltene Gelegenheit, Aushandlungsprozesse zu Architekturentwürfen mitzuerleben, wie sie zwischen den Experten – den als Fachpreisrichter teilnehmenden Architekten und den architektonischen „Laien“ – den als Sachpreisrichter teilnehmenden Vertreter des Auslobers und der späteren Nutzer des Gebäudes – ablaufen. Aufgrund der verschiedenen Akteure mit ihren jeweils verschiedenen Lebensumwelten, Fertigkeiten und Kenntnissen lässt sich die Handlungssituation eines Preisgerichtes als Paradigma verstehen, wie Architektur in der Öffentlichkeit verstanden wird. Brennpunktartig wird man als teilnehmender Beobachter in den Jurysitzungen dem Phänomen ansichtig, wie sich spontan aus dem Gesehenen Sinn- und Wertezuschreibungen entwickeln, die unvorhergesehen und nahezu unkontrolliert ablaufen. Eine Architektur-Wissenschaft, die auf die v­ ortheoretisch-vorwissenschaftlichen Erfahrungen der Lebenswelt zu sprechen zu kommt, ist daran interessiert, die Eigenart dieses Erkenntnisprozesses zu bestimmen. Die Analyse der in den Preisgerichten gewonnen empirischen Phänomene lässt den Schluss zu, dass Architektur erst im Zuge eines „poietischen“ Handelns aufgefasst und erst dadurch „sinnvoll“ erkannt wird. Gegenstand des Vergleiches und der Bewertung sind für ein Preisgericht die sprachlichen Bilder, die die Juroren spontan in ihren Beschreibungen zu den Entwürfen verfassen. Das Preisgericht agiert „poietisch“, nämlich als „Entwerfer“ der versprachlichten Entwürfe und kürt schlussendlich gewissermaßen seinen „eigenen“ Entwurf zum Sieger. Das Ergebnis einer weiteren Beschäftigung mit diesem Phänomen bestünde darin, dass man die Parameter der Architekturrezeption in Hinblick auf ihre zukünftige Entwicklung zu interpretieren lernt. Diese Erkenntnis könnte einerseits dazu beitragen, eine neue Sichtweise auf das Urteilen zu Werken der Architektur zu erlangen. Andererseits bietet sie den Studierenden einen neuen Zugang, um das eigene Entwerfen insgesamt orientierter und begründeter vollziehen zu können.

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Architektur muss brennen, aber darf Architekturwissenschaft brennen? Zur Frage der Legitimität normativer Aussagen in der Architekturwissenschaft Martin Düchs 1 Intro: Architektur muss brennen! – Darf Architekturwissenschaft brennen? „Architektur muss brennen!“ Dieser Satz des österreichischen Architekturbüros Coop Himmelb(l)au (1980)1 schreibt unmissverständlich und kompromisslos ein Sollen vor. Es ist eine normative Aussage, mit der die Architekten auf metaphorische Weise klarmachen, wie Architektur ihrer Meinung nach verfasst sein sollte. Ebenso können normative Urteile vorschreiben wie Sachverhalte oder Handlungen zu sein haben. Sie können implizit oder explizit sein, in jedem Fall aber sind sie wertsetzend insofern sie eine bestimmte Alternative bevor-

1Das

Büro Coop Himmelb(l)au wurde bereits Ende der 1960er Jahre in Wien von 1968 von Wolf D. Prix, Helmut Swiczinsky und Michael Holzer gegründet. 1980 veröffentlichte das mittlerweile nur noch aus dem Duo Prix und Swiczinsky bestehende Büro das Manifest „Architektur muss brennen“ und gilt heute als einer der Begründer einer dekonstruktivistischen Architektur.

M. Düchs (*)  Otto-Friedrich-Universität Bamberg, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Berr und A. Hahn (Hrsg.), Interdisziplinäre Architektur-Wissenschaft, Interdisziplinäre Architektur-Wissenschaft: Praxis – Theorie – Methodologie – Forschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29634-6_13

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zugen, ablehnen oder empfehlen. Der Satz von Coop Himmelb(l)au ist als Metapher und in seiner Absolutheit ein zwar extremes, aber dennoch typisches Beispiel für das, was gemeinhin unter „Architekturtheorie“ verstanden wird, nämlich die theoretischen Äußerungen von praktizierenden Architektinnen2 darüber wie Architektur sein sollte. Architekturtheorie ist in diesem Sinn also ein normativ gehaltvolles Unterfangen; sie zielt auf ein Ideal der Architektur, sagt wie sie sein soll. Es werden Werturteile hinsichtlich bestimmter Architekturen und/oder deren Teilbereichen gefällt. Die Architekturtheorie unterscheidet sich damit fundamental von jeder Wissenschaft, da die sich – zumindest nach einer populären und auch in der „Architekturszene“ (immer noch) herrschenden Meinung – genau dadurch auszeichnet, dass sie wertfrei ist. In der Wissenschaft, vor allem Naturwissenschaft sollen gerade keine Werturteile gefällt werden. Eine wissenschaftliche Beschäftigung mit Architektur würde sich dann an einem Ideal der Naturwissenschaft orientieren und Werturteilsfreiheit fordern – sie muss neutral beobachten, deskriptiv beschreiben und sich jeder eigenen Wertung enthalten. (Erst die Ergebnisse einer wissenschaftlichen Untersuchung können und sollen dann einem Bewertungsprozess unterzogen werden, bei dem es aber ausschließlich um wissenschaftliche Qualität gehen darf.) Für den Fall der Architektur und einer ihr zugeordneten Wissenschaft würde das – metaphorisch gesprochen – bedeuten: Architekturtheorie darf gerne „brennen“ und normative Aussagen enthalten, eine Architekturwissenschaft dagegen muss neutral und deskriptiv sein – sie darf nicht brennen. Aber ist diese Annahme gerechtfertigt? Können normative Aussagen in einer (noch zu definierenden und zu begründenden) Architekturwissenschaft als einer Wissenschaft von der Architektur nicht doch manchmal gerechtfertigt sein? Genau das soll hier behauptet werden: Auch eine Architekturwissenschaft darf brennen! Um dieser Frage nachzugehen werde ich im Folgenden nach einem einleitenden Abschnitt zur Begriffsklärung (2) zunächst in einer Art Exposition noch einmal ausführlicher das Ideal bzw. das Problem der Werturteilsfreiheit in einer Architekturwissenschaft rekapitulieren (3). Ich werde dann zunächst darlegen, dass man Werten und einer damit gegebenen Normativität bei jeglicher Beschäftigung mit Architektur – praktisch oder theoretisch, aktiv oder

2Ich

verwende im Folgenden das generische Femininum für Gattungsnamen. Wenn es um eindeutig identifizierbare männliche Personen geht verwende ich die männliche Form. Den Terminus Bauherr verwende ich als eingeführten Terminus Technicus für Menschen jedweden Geschlechts aber auch für Institutionen die als Bauherr auftreten.

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passiv – nicht sinnvoll entkommen kann (4). Wenn dem aber so ist, dann muss sich auch jegliche Architekturwissenschaft in irgendeiner Form dazu verhalten. Denkbar wäre dieses Verhalten zum einen als ein (vermeintlich) wissenschaftlich korrektes, neutral deskriptives. Wertungen würden also nur beschrieben, aber nicht selbst gewertet (5). Zum anderen ist auch ein urteilendes Verhältnis zu einem von der Architektur verfolgten Ziel möglich, wobei dieses in unterschiedlichen Formen denkbar ist (6). Eine davon wird hier vertreten werden, bevor abschließend gezeigt werden soll, dass es legitim und sinnvoll ist, auch im Rahmen einer Architekturwissenschaft explizit normative Aussagen zu treffen, wenn diese bestimmten Anforderungen entsprechen (7).

2 Begriffe Architektur3 „Architektur“ wird im Folgenden verstanden als flexibles und offenes System von Antworten auf das basale menschliche Bedürfnis nach Behausung für verschiedenen Tätigkeiten. Um als Architektur zu gelten müssen die Behausungen dabei in der Regel funktional, ästhetisch-atmosphärisch und symbolisch wirksam sein. Dabei sind die genannten drei Merkmale weit zu verstehen, nicht exklusiv und nicht-essentialistisch. Die Antworten, die auf das menschliche Bedürfnis nach Behausungen gegeben werden, stammen aus der ­gestalterisch(künstlerisch)-technischen Praxis und erfolgen entweder durch den Bau oder durch die Planung der Behausung in Zeichnungen bzw. im Modell, ggf. mit zusätzlichen begrifflichen Erläuterungen. Eine Antwort auf ein spezifisches Behausungsproblem, d.h. der Vorschlag wie eine bestimmte Behausung beschaffen sein könnte, wird Entwurf genannt.4 Theorie der Architektur Den Ausdruck, „Theorie der Architektur“ verwende ich als Oberbegriff für alle verschiedenen Arten der theoretischen (und überwiegend begrifflichen)

3Die

Überlegungen zum Architekturbegriff habe ich an diversen anderen Stellen in der eigentlich gebotenen Ausführlichkeit vorgelegt; sie basieren auf Norberg-Schulz (1980). Vgl. z. B. Düchs (2011, 2015). 4Wenn begriffliche Erörterungen dabei den überwiegenden Teil ausmachen und wenn diese zusätzlich dazu tendieren einen allgemeinen und umfassenden Charakter anzunehmen, dann fällt dieser Entwurf in den Grenzbereich zur Theorie der Architektur.

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Beschäftigung mit Architektur. Sie kann verschiedene Aspekte von Architektur betreffen und/oder durch ein bestimmtes fachliches Interesse geprägt sein, also z. B. Architekturtheorie, aber auch Architekturkritik, Architektur- Kunst und Kulturgeschichte, Architektursoziologie, Architekturpsychologie, Architekturphilosophie, Medientheorie, Semiotik, Politikwissenschaft, etc.5 Architekturtheorie Mit „Architekturtheorie“ bezeichne ich diejenige Art von theoretischer Auseinandersetzung mit Architektur wie sie häufig von in der Praxis tätigen Architektinnen betrieben wird. Es geht hier (in der Regel) um eine theoretische Fundierung oder (Selbst-)Rechtfertigung der eigenen Arbeit hinsichtlich bestimmter ästhetischer und/oder sozialer und/oder moralischer und/oder konstruktiver und/oder sonstiger Aspekte. Die Architekturtheorie folgt keinen einheitlichen Standards hinsichtlich der Methode. Nicht selten haben die Arbeiten dezidiert keinen wissenschaftlichen Anspruch oder lösen einen solchen nicht ein. Vielfach tendieren sie dazu persuasiv und appellativ Manifest-artig für die eigene Position zu werben. Die Architekturtheorie ist damit ein kleiner Teil der Theorie der Architektur und keineswegs mit dieser identisch. Architekturwissenschaft Ebenso ist die Architekturwissenschaft (bzw. synonym Wissenschaft(en) der Architektur) ein Teil der Theorie der Architektur und nicht mit dieser gleichzusetzen. Unter Architekturwissenschaft verstehe ich zunächst nur alle theoretischen Auseinandersetzungen mit Architektur, die bestimmten wissenschaftlichen Kriterien genügen, wobei noch zu klären ist, welche das sind.6 Unter

5In

diesem Sinn auch Baumberger (2013, S. 9). kann an dieser Stelle zunächst offenbleiben, ob man die Ausdrücke „Architekturwissenschaft“ bzw. „Wissenschaft der Architektur“ und „Architekturwissenschaften“ synonym gebrauchen kann oder ob sie Unterschiedliches bezeichnen. Dies hängt davon ab, ob man einer Architekturwissenschaft ein integrierendes Spezifikum zuschreiben kann, das darüber hinausgeht, dass der Untersuchungsgegenstand Architektur von verschiedenen Wissenschaften geteilt wird. Ist die Architekturwissenschaft nur die Bezeichnung für die wissenschaftliche Methode der Untersuchung von Architektur dann könnte man synonym von Architekturwissenschaften sprechen. Wenn man aber davon ausgeht, dass eine Architekturwissenschaft mehr ist, als die Summe der beteiligten Einzelwissenschaften, dann wäre die Architekturwissenschaft eine eigenständige Disziplin neben den Architekturwissenschaften als Sammelbezeichnung für bestimmte Einzeldisziplinen, die sich mit Architektur (oder bestimmten Teilaspekten) beschäftigen. 6Es

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die Architekturwissenschaft(en) fallen also z. B. die Architekturpsychologie, die Architektursoziologie, die Architekturgeschichte oder die Architekturphilosophie, nicht aber die Architekturtheorie oder die Architekturkritik. Die Architekturwissenschaft(en) sind insofern immer sekundär, d. h. sind Reaktionen auf vorhandene Bauwerke, als es ihre Aufgabe ist, die existierende oder geplante Architektur mit den jeweils gültigen Methoden der Disziplin zu untersuchen, nicht aber selbst Entwürfe zu erstellen (also Architektur zu machen).

3 Situation: Architekturwissenschaft und das Ideal der Werturteilsfreiheit Wie bereits eingangs skizziert, besteht ein Problem zwischen dem Ideal der Werturteilsfreiheit in der Wissenschaft auf der einen und der Omnipräsenz von Werturteilen in unserem Umgang mit Architektur auf der anderen Seite. Um dieses genau zu verstehen ist zunächst ein Verständnis von Wissenschaft im Allgemeinen darzulegen. Wissenschaft(en) und das Ideal der Werturteilsfreiheit7 Wissenschaften verstehe ich mit Illies (2010b, S. 139) als den „[…] Versuch, die Welt und uns selbst in ihr zu erklären und verstehen, indem systematisch Erkenntnisse darüber gewonnen und in einen Zusammenhang gestellt werden. Dieser Erkenntnisprozess setzt Wahrnehmungen und Erfahrungen voraus, aber auch das Denken, mit dem allein Erfahrungen sinnvoll gedeutet und geordnet werden können.“ Die Art und Weise wie die Erkenntnisse über die „Welt und uns selbst in ihr“ gewonnen werden, soll allgemein, reflexiv, systematisch und neutral sein (Baumberger 2013). Während die ersten drei Kriterien relativ unstrittig sind, ist in der Literatur nicht eindeutig, wie das Kriterium der Neutralität genau zu verstehen ist. Schließt es normative Aussagen generell aus oder lässt es bestimmte Formen zu? Dazu ist zunächst eine Unterscheidung zwischen normativen Aussagen in einem engen und einem weiten Sinn zu treffen. Normative Aussagen in einem engen Sinn schreiben explizit vor, wie eine bestimmte Handlung erfolgen soll („Baue nicht malerisch.“)8 bzw. wie eine Sache zu sein hat („In der Architectur muss alles wahr sein, […]“).9 Sie finden sich insbesondere in der Moral bzw.

7Ich

folge in diesem Abschnitt Illies (2010). (1997 [1913], S. 120). 9Schinkel (2002 [ca. 1830], S. 222). 8Loos

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Ethik, aber auch in allgemeinen Regeln, Gesetzen, Vorschriften, etc. Wie die Zitate, die von Adolf Loos und Karl Friedrich Schinkel stammen, zeigen, sind sie aber auch typisch für die Architekturtheorie. Normative Aussagen in einem weiten Sinn beinhalten lediglich eine Wertung. Diese kann auch implizit erfolgen oder in einzelnen Begriffen „versteckt“ sein. Bernard Williams bezeichnet solche normativ gehaltvollen Begriffe als thick concepts. Ein Begriff wie „Lüge“ enthält ein deskriptives Element, nämlich, dass man absichtsvoll eine Falschaussage macht, welches aber mehr oder weniger untrennbar mit einer normativen Bewertung verbunden ist, nämlich, dass man so etwas nicht tun soll. Ein enges Verständnis von Neutralität in der Wissenschaft Zurück zum Kriterium der Neutralität. Nach einem klassischen Wissenschaftsverständnis haben es die Naturwissenschaften mit einer Welt zu tun, in der es keine Werte gibt, sondern diese ein Netzwerk kausaler Ereignisse darstellt. Einzige Aufgabe der Naturwissenschaften ist es daher, die Welt bzw. dieses Netzwerk nüchtern und neutral zu beschreiben und Erklärungen für das Zustandekommen bestimmter natürlicher Phänomene zu liefern. Demgegenüber haben es die Geistes- und Sozialwissenschaften mit der Lebenswelt der Menschen zu tun. Sie wollen Phänomene der Lebenswelt nachvollziehen und verstehen. In dieser Lebenswelt kommen aber offensichtlich Wertungen vor; daher ist eine Beschäftigung mit ihnen offensichtlich unerlässlich. Aber auch hier gilt das Ideal der wissenschaftlichen Werturteilsfreiheit: die Wertungen in der Lebenswelt werden lediglich erfasst und beschrieben, aber sie werden nicht geteilt oder abgelehnt. die Geistes- bzw. Sozialwissenschaften haben sich jeder eigenen Wertung zu enthalten; ihre Aufgabe ist es zu beschreiben und zu verstehen, nicht aber das Beobachtete, selbst wenn es sich um Werte bzw. Wertungen handelt, in irgendeiner Form zu bewerten.10 Das Neutralitätsgebot gilt also sowohl für Natur- als auch Geisteswissenschaften. Ihre Aussagen müssen rein deskriptiv sein. Nicht nur normative Ausdrücke im engeren sondern auch im weiteren Sinn (also auch „dicke Begriffe“ im Sinne von

10Um

genau zu sein, müsste man also zwischen Wertfreiheit und Werturteilsfreiheit unterscheiden. Die Geistes- und Sozialwissenschaften haben es mit der Lebenswelt der Menschen zu tun und damit zwangsläufig auch mit den darin zu findenden Werten. In diesem Sinn sind sie nicht wertfrei wie die Naturwissenschaften, die es mit einer Welt zu tun haben, in der es (zumindest nach einem modernen Verständnis der Natur) eben keine Werte gibt. Vgl. dazu auch Patzig (1996).

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B. Williams) sind für ein solcherart „klassisches“ Verständnis von Wissenschaft, wonach diese eben rein objektiv und neutral zu sein hat, unbrauchbar.11 Ein weites Verständnis von Neutralität in der Wissenschaft Demgegenüber kann man das Gebot der Neutralität allerdings auch in dem Sinne verstehen, dass normative Aussagen auch in der Wissenschaft dann „erlaubt“ sind, wenn sie hinreichend allgemein sind. Baumberger äußert sich dahingehend, wenn er die Möglichkeit normativer Aussagen in der Architekturphilosophie, die er als eine Wissenschaft versteht, explizit nicht ausschließt: „Zudem ist sie [i.e. die Architekturphilosophie] typischerweise neutral, da sie nicht für oder gegen die Architektur einzelner Architekten, Richtungen oder Stile Partei ergreift und keine konkreten Regeln oder Maximen formuliert. Dies heißt jedoch nicht, dass sie nicht normativ wäre. Ihre Normen sind aber viel allgemeinerer Art als die der Architekturtheorie, beispielsweise, wenn sie fordert, dass Bauwerke eine bestimmte Art ästhetischer Erfahrung ermöglichen sollten. Damit tendiert das Charakteristikum der Neutralität mit dem der Allgemeinheit zusammenzufallen.“ (Baumberger 2013, S. 9).

Transparenz der guten Gründe Nehmen wir das Neutralitätsgebot im engen Sinne, dann droht den Geisteswissenschaften ein besonderes Problem. Sie sind dann zunehmend belanglos für alle praktischen gesellschaftlichen Entscheidungen. Denn sie können ja keine Empfehlungen mehr aussprechen, sondern im Grunde nur wie ein kaltblütiger Pathologe im Nachhinein feststellen, was passiert ist oder warum etwas scheiterte oder vielleicht auch Erfolg hatte. Die Wissenschaften, vor allem die Geisteswissenschaften würden uns keinerlei Orientierungen mehr geben können. Schon in dem ersten großen Werturteilsstreit vor dem 1. Weltkrieg hatte so der Ökonom und Sozialpolitiker Gustav Schmoller gefordert, Werte wie Gerechtigkeit müssten wissenschaftliche Fragestellungen begleiten, eine Diskussion, die in den 1960er Jahren wieder aufgegriffen wurde. Auch für unsere Frage nach einer Architekturwissenschaft ließe sich ähnlich argumentieren: Ohne alle Wertungen droht sie zu einer reinen Bestandsaufnahme des Gegebenen zu werden, die jedenfalls der

11Als

paradigmatischen Vertreter dieses „klassischen“ Verständnisses könnte man Dilthey anführen, der Ende des 19. Jahrhunderts zwischen erklärenden Naturwissenschaften und verstehenden Geistes- und Sozialwissenschaften unterschied. Daneben ist auch Max Weber zu nennen, der nach wie vor gerne als Gewährsmann für das Postulat der Werturteilsfreiheit herangezogen wird.

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Architektur und Architekturtheorie, aber auch etwa der Politik oder dem einzelnen Bauherrn nichts mehr anzubieten hätte. Eine Lösung scheint das weitere Verständnis von Neutralität zuzulassen, weil es ja grundlegende Werturteile einschlösse. In der vorgeschlagenen Gestalt kann es aber nicht überzeugen: Im weiten Verständnis ist unklar, wie sich das Gebot der Neutralität mit der Erlaubnis dieser allgemeinen normativen Aussagen vereinbaren lässt. Baumberger selbst scheint das Kriterium der Allgemeinheit als entscheidend anzusehen, so als ließe sich damit die Neutralitätsforderung irgendwie abmildern oder aushebeln. Aber es bleibt auch eine allgemeine normative Aussage eine normative Aussage, die mit einem Werturteil verbunden ist, also behauptet, dass hier in einem bestimmten (wenngleich allgemeinen) Fall einer Alternative der Vorzug gegeben werden solle (und sie also als „besser“ beurteilt wird). Aber ob allgemein oder konkreter, genau das soll ja nach dem Neutralitätsgebot ausgeschlossen sein. Wenn man sich neutral verhält heißt das, dass man keiner Alternative den Vorzug gibt und kein Werturteil fällt. Um dieses Problem zu vermeiden, aber dennoch dem Gebot einer Relevanz der Wissenschaften auch für praktische Entscheidungen gerecht zu werden, schlage ich vor, das Kriterium der „Transparenz der guten Gründe“ einzuführen. Diesem Kriterium liegt die Annahme zugrunde, dass das Problem der Wissenschaftlichkeit nicht mit normativen Aussagen an sich besteht, sondern nur mit solchen, die entweder irrational sind, oder unbegründet bzw. rein subjektiv, oder schließlich implizit eine Wertung sozusagen „unter der Hand“ in eine Studie „einschmuggeln“. Solange Werturteile transparent, auf intersubjektiv nachvollziehbare Weise und mit nachvollziehbaren Gründen getroffen werden, widersprechen sie gemäß der Annahme der Transparenz der guten Gründe nicht der Wissenschaftlichkeit einer Arbeit. Eine Gerechtigkeitsforderung der Ökonomie zugrunde zu legen, dürfte dieser Transparenzforderung genügen, wie sich auch die Ethik in diesem Sinne als Wissenschaft verstehen lässt (womit ich einem zwar etablierten aber bisweilen doch umstrittenen Verständnis folge).12

12Für das erwähnte Verständnis, wonach Ethik als Wissenschaft zu verstehen ist argumentiert z. B. Nida-Rümelin (2005, S. 56-57): „Generell gilt: Theorien stützen sich auf gemeinsame Überzeugungen und sind von diesen abhängig, auch wenn sie, auf diese rückwirkend, sie am Ende modifizieren. Dies gilt für jede Theorie, auch für ethische Theorien. Erfolgreiche wissenschaftliche Theorien dienen nicht nur dazu, neues Wissen zu ermöglichen, sondern verknüpfen Überzeugungen miteinander, die zuvor nichts miteinander zu tun zu haben schienen. Theorien können nur in begrenztem Maße mit lebensweltlichen Überzeugungen in Konflikt geraten. Vielmehr bewähren sich Theorien gerade darin, dass sie Überzeugungen systematisieren, die selbst nicht begründungsbedürftig erschienen,

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Werturteile in der Architektur Wie verhält es sich nun mit der Frage nach Werturteilen in der Architektur? Zunächst muss man feststellen, dass normative Urteile in weiter und enger Form wie in allen Bereichen der menschlichen Lebenswelt auch in der Architektur omnipräsent sind. Erstens gilt das für unseren alltäglichen Umgang mit Architektur. Wenn wir uns im Alltag über sie unterhalten, dann fließen ganz automatisch Werturteile in unsere Gespräche ein. Eine bewusste Vermeidung jeglicher normativer Aussagen würde als „künstlich“ und befremdlich wahrgenommen. Allerdings ist der Alltag in diesem Punkt nicht der Maßstab einer Wissenschaft. Zweitens finden sich auch – wie eingangs schon beispielhaft erläutert – viele explizite und implizite Werturteile in der Architekturtheorie. Sie ist geradezu dadurch charakterisiert, dass in ihr Werturteile gefällt werden. Das ist nur dann ein Problem, wenn mit einer Theorie der Anspruch erhoben wird eine systematische, objektive, werturteilsfreie und in diesem Sinn wissenschaftliche Theorie vorgelegt zu haben. Drittens finden sich de facto viele Werturteile (impliziter und expliziter Art) in den Einzelwissenschaften, die sich mit Architektur befassen. Die Architekturpsychologie beispielsweise kann gar nicht anders als normative Urteile zu fällen, wenn sie bestimmte Räume hinsichtlich ihrer Wirkung auf Menschen miteinander vergleicht, auch wenn es sich vielfach um wenn-dann-Aussagen handelt. Offensichtlich sind normative Aussagen in den verschiedenen Bereichen der Welt der Architektur (Alltag, Architektur-Praxis, -theorie und -wissenschaft) omnipräsent. Andererseits trifft man in den Vorstellungen von einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Architektur aber auf das Ideal der Werturteilsfreiheit.

sondern nun der (reduktiven) Stützung von Theorien dienen. Die Begründungsleistung wissenschaftlicher Theorien beruht darauf, dass sie einen systematischen Zusammenhang zwischen zuvor isolierten Propositionen herstellt. Dies erlaubt erst Begründungen von unsicheren Überzeugungen durch sicherere. ein Gefälle der Gewissheit ist Voraussetzung für Begründung und Begründung ist erfolgreich, wenn diese Gefälle durch Systematisierung überwunden werden kann. Diese zentralen Merkmale sind im Bereich unserer moralischen Überzeugungen und der ethischen Theoriebildung, die sich auf diese bezieht, fraglos erfüllt. In diesem schwachen Sinn ist Ethik eine Wissenschaft. Wer bei einer wissenschaftlichen Theorie zusätzlich einen von der betreffenden wissenschaftlichen Gemeinschaft geteilten paradigmatischen Kern und eine etablierte Methodik voraussetzt oder gar experimentelle Prüfungsverfahren, der kann die Ethik guten Gewissens aus dem Bereich der Wissenschaft ausschließen, mit ihr zusammen dann allerdings auch andere systematisierende Bemühungen, die gemeinhin als Wissenschaft gelten.“

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Drei Indizien legen diese Annahme nahe. Das erste Indiz ist kursorischer Art, nämlich eine von vielen Architektinnen geteilte Erfahrung. Letztere ist, dass das Fach Architekturtheorie an der Universität oder der Hochschule, also in einem wissenschaftlichen Kontext, zumeist als Architekturgeschichte oder Geschichte der Architekturtheorie gelehrt wird (was nicht dasselbe ist). Es erfolgt kein systematisches Nachdenken über (richtige oder falsche Ziele und Methoden in der) Architektur, sondern eine Lehre über historische Tatsachen. Es werden normative Aussagen vermieden und man möchte sich auf den vermeintlich sicheren Grund neutraler Darstellung der historischen Fakten zurückziehen. Insgesamt hat sich so eine Situation ergeben, in der kaum mehr systematische Abhandlungen mit normativen Thesen über das Entwerfen mit wissenschaftlichem Anspruch veröffentlicht werden. Die letzten Jahre haben stattdessen eine Flut an architekturtheoretischen Anthologien erlebt.13 Es ist zu vermuten, dass es den Herausgeberinnen „wissenschaftlicher“ erschien eine (vermeintlich rein) deskriptive Sammlung von Positionen aus der Vergangenheit zu veröffentlichen als ein normativ aufgeladenes systematisches Nachdenken über Architektur. Die Veröffentlichung einer Anthologie ist dahingehend „praktisch“, weil man mit ihr wissenschaftliche Produktivität zeigen, aber die mühevolle eigene Positionierung mit rationalen Argumenten weitgehend „umschiffen“ kann. Offenkundige normative Aussagen werden also vermieden, wobei man konstatieren muss, dass sie implizit trotzdem getroffen werden, denn schon die Auswahl von Texten, die für besonders wichtig gehalten werden, stellt ein implizites Werturteil dar. Dass darüber hinaus auch die Einführungen zu den ausgewählten Texten häufig mit expliziten Werturteilen durchsetzt sind, scheint nicht mehr weiter aufzufallen oder gar zu stören. Dieses Verständnis findet sich explizit zweitens auch in der wissenschaftlichen Selbstreflexion. Hanno Walter Kruft (1995, S. 13), einer der Klassiker der Geschichtsschreibung der Architekturtheorie, versteht Architekturtheorie in sehr enger Weise als „[…] System der Architektur, das auf ästhetischen Kategorien basiert.“ Im Weiteren stellt er fest, dass eine wissenschaftliche Beurteilung von Architekturtheorien nur sinnvoll sein kann, wenn sie den historischen Rahmen

13Einige

willkürlich ausgewählte Beispiele an Anthologien auf Deutsch: Neumeyer und Cepl (2002), Hauser et al. (2013), Lampugnani et al. (2004), Moravansky und Gyöngy (2003) und auf Englisch: Ballantyne (2005). Geschichten der Architekturtheorie Mallgrave and Goodman (2011), Jormakka (2003). Es gibt allerdings auch (die, die Regel eher bestätigenden) Ausnahmen. Zu nennen wären hier z. B. die diversen Arbeiten von Achim Hahn (z. B. 2017).

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berücksichtigt. Apodiktisch stellt er dann fest: „Ein Gedanke ist nicht an sich wichtig, sondern wann, unter welchen Umständen und in welchem Zusammenhang er gedacht worden ist.“ (1995, S. 17) Ein Nachdenken über Architektur, das systematisch erfolgt und normative Aussagen beinhaltet, in denen Kriterien zur Qualitätsunterscheidung entwickelt werden kann es als wissenschaftliche Betätigung demnach nicht geben. Drittens ist einer der wesentlichen Teile von Architektur zweifellos das ganze Gebiet des Technisch-Ingenieursmäßigen, das insbesondere mit den Fragen der Konstruktion verbunden ist. Und dieser Teil wiederum ist geprägt durch ein naturwissenschaftliches Vorgehen und ebensolche Mittel und Methoden. Ein großer Teil der Architektur ist also naturwissenschaftlich geprägt. Das mag mit dazu beitragen, dass die Forderung nach Werturteilsfreiheit in den wissenschaftlichen Bemühungen um die Architektur stark präsent ist. Insgesamt betrachtet steht man also vor dem Problem, dass einerseits auch in den wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit der Architektur die Forderung nach Neutralität in einem engen Sinne ausgelegt wird, andererseits kommt man nicht umhin festzustellen, dass Werturteile in unserem Umgang mit Architektur omnipräsent sind und sie auch notwendig sein dürften, wenn Architekturwissenschaft eine konkrete Relevanz behalten soll Denn dass Architektur immer auf Normativität angewiesen ist, scheint offensichtlich:

4 Die (inhärente) Normativität von Architektur Die Omnipräsenz von Werturteilen in unserem Umgang mit Architektur ist insofern nicht verwunderlich als man die Architektur als eine inhärent normative Praxis bezeichnen muss und zwar sozusagen auf zwei Ebenen bzw. in zwei Stufen. Vorauszusetzen ist in einem ersten Schritt die Tatsache, dass es in der Architektur darum geht einen bestehenden Zustand durch einen räumlichen Eingriff (in der Regel ein Bauwerk) zu verändern. Architektur ist eine Praxis, die als solche sozusagen darauf zielt praktisch tätig zu werden, „die Dinge anzupacken“ und die Welt zu verändern. Insofern aber nun diese „Veränderung der Welt“ kein selbstgenügsames Spiel ist, sondern zielgerichtet abläuft, kommen notwendigerweise Wertungen ins Spiel. Der vorliegende Zustand wird mit einem intendierten verglichen und beurteilt. Damit aber befindet man sich bereits in der Sphäre der Werturteile. In einem zweiten Schritt kann man aber auch die plausible Annahme voraussetzen, dass es in der Architektur nicht nur um eine Veränderung geht, sondern darum, einen bestehenden Zustand durch einen architektonischen

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Eingriff zu verbessern. Um aber das Vorliegen einer Verbesserung beurteilen zu können ist ein Maßstab nötig. Dieser ist – ein gängiges Verständnis von Architektur vorausgesetzt – letztlich immer das gute Leben des und/oder der Menschen.14 Das letzte Ziel von Architektur muss es sein das gute Leben des Menschen in einem umfassenden Sinn zu ermöglichen und zu diesem beizutragen. Architektur ist eine notwendige, wenn auch eine (bei weitem nicht) hinreichende Bedingung der Möglichkeit des guten Lebens. Erläuternd muss man an dieser Stelle hinzufügen, dass es allerdings oft der Fall ist, dass entweder ein „Zwischenziel“ oder ein Teilbereich des guten Lebens im Vordergrund steht. Zudem ist es bei bestimmten, relativ speziellen Verständnissen von Architektur (z. B. als Kunst oder als reines Konsumprodukt) wenig sinnvoll von einer Orientierung am guten Leben zu sprechen. In der Regel aber ist Architektur eine künstlerisch-technische Praxis, die prinzipiell am guten Leben interessiert und orientiert sein muss. Somit ist sie kein neutrales Unternehmen, sondern ein Werthaftes und somit inhärent normativ. Jedes Gebäude ist eine normative Antwort auf

14Das

ist wie gesagt zumindest dann der Fall, wenn Architektur in einem alltagsweltlichen Gebrauch verwendet wird. Einschränkend muss man aber hinzufügen, dass dies in zwei Fällen nicht der Fall ist. Zum einen, wenn Architektur als Kunst und einzelne Bauwerke als Kunstwerke verstanden werden. Hier ist das Interesse an der Verbesserung einer räumlichen Situation nicht direkt vorhanden, höchstens vermittelt. Ein konkretes Beispiel wäre Peter Eisenmans House VI, das als Kunstwerk funktionieren soll und den Bewohnern letztlich eine „Botschaft“ vermitteln soll. Dass Peter Eisenman der Meinung ist durch ein solches Architekturverständnis auch einen Beitrag zum guten Leben qua Orientierung am gesellschaftlichen Nutzen zu leisten, macht die Sache zwar komplizierter, dennoch kann man sagen, dass hier kein unmittelbares Interesse am guten Leben bestimmend ist. (Vgl. dazu Eisenman und Drobnick 1995) Ein zweiter Fall wäre ein Verständnis von Architektur als reines Konsumprodukt bzw. als Produkt der Arbeit und nicht des Herstellens im Sinne von Arendt (2016 [1960]). Das Interesse der Architektin und/oder des (häufig institutionellen) Bauherren wäre in diesem Fall ein rein ökonomisches. Es geht dem Bauherrn darum möglichst viel Geld zu verdienen. Wie es dem Nutzer der Architektur mit einem Gebäude geht ist nicht von Interesse oder aber nur unter ökonomischen Aspekten. Dieses Verständnis ist nicht nur denkbar, sondern vermutlich vielfach Wirklichkeit. Allerdings geht mit dem hier angedeuteten Verständnis von Architektur als reinem Konsumprodukt eine existenzielle Dimension verloren, die ihr traditionellerweise zugeschrieben wird. (vgl. dazu z. B. ausführlich Harries 1997). Bei beiden genannten Architekturverständnissen handelt es sich aber um Sonderfälle, die an dieser Stelle nicht weiter beachtet werden. Im Normalfall ist Architektur als künstlerisch-technische Praxis prinzipiell interessiert am guten Leben und damit auf zweifache Weise inhärent normativ.

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die Fragen des Lebens und die Frage nach dem guten Leben.15 Als Architektin muss man in einem Entwurf eine Vielzahl von Entscheidungen treffen, die alle auf einem normativen Urteil beruhen und diese wiederum orientieren sich in ihrer Gesamtheit letztlich am guten Leben oder sollten es aus Sicht der Ethik – wie ich in einem anderen Zusammenhang (Düchs 2011) ausführlich gezeigt habe – zumindest tun. Architektur ist eine Praxis, die immer mit wertsetzenden Entscheidungen verbunden ist. Das unterscheidet sie von anderen menschlichen Tätigkeiten und auch von vielen Wissenschaften. In der Architektur sind eo ipso normative Entscheidungen gefragt, sie ist inhärent normativ. Eine Wissenschaft, die Architektur untersucht, und ihrem Gegenstand in seiner Gänze gerecht werden will, muss diese inhärente Normativität berücksichtigen und sich in irgendeiner Form dazu verhalten. Sie muss sich in ein Verhältnis setzen zu einem Ideal der Veränderung oder einer Idee des guten Lebens, die einer Architektur oder eine Architekturtheorie explizit oder implizit zugrunde liegt. Theoretisch kann sie das erstens in einer neutralen, ­beobachtend-deskriptiven Art und Weise tun. Zweitens kann sie aber auch ein Urteil hinsichtlich der Erreichung des angestrebten Ziels bzw. der Erreichung des Ziels des guten Lebens fällen.16 Schauen wir zunächst, wie weit eine rein beobachtende Herangehensweise kommt.

5 Schwierigkeiten eines rein beobachtenden Verhältnisses zur Architektur Zumindest theoretisch ist es denkbar, dass eine Architekturwissenschaft ihren Gegenstand rein deskriptiv beschreibt und so dem Wissenschaftsideal der Werturteilsfreiheit genügt. Im Bereich einer Architekturwissenschaft erscheint das – wie oben bereits angedeutet – u. a. deswegen attraktiv, weil Architektur wesentlich auch

15Ich

verstehe Ludger Schwarte und Christian Illies auch in diesem Sinne, wenn sie beide auf ähnliche Weise feststellen: „[…] jedes Gebäude [verkörpert] eine Deutung der Welt. Man könnte von der Architektur als Philosophie sprechen“ (Illies 2009, S. 3) oder auf gesellschaftlicher Ebene: „[…] Architektur ist ein öffentlicher und offensichtlicher Ausdruck dessen, wie sich eine Gesellschaft versteht; wie wir bauen, zeigt, was uns wichtig ist und was wir wollen“ (Illies 2010). Und bei Schwarte (2009, S. 48): „[…] Architektur zeigt, was die Philosophie meint. Die Architektur verwirklicht Philosophie.“ 16Im Folgenden werde ich von Ziel (des guten Lebens) sprechen, um mit der Klammer die zwei Stufen der inhärenten Normativität anzudeuten.

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durch ihren Technik- bzw. Ingenieurs-Anteil geprägt ist. Dies legt eine naturwissenschaftliche Herangehensweise zumindest nahe, auch wenn ein wesentlicher Unterschied zwischen Natur- und Ingenieurswissenschaft auch darin liegt, dass letztere anwendungsorientiert und damit sehr viel stärker auf normative Urteile angewiesen ist. Allerdings tauchen eine Reihe von Problemen auf, wenn ein deskriptiv beobachtendes Verhältnis zur inhärenten Normativität in der Architektur eingenommen wird. Erstens verliert eine solche Architekturwissenschaft das, was man als ihren „Sitz im Leben“ bezeichnen könnte. Wertfreie Beobachtung und Beurteilung von Architektur entspricht nicht dem, wie wir im normalen Leben mit Architektur umgehen. Salopp ausgedrückt ist es so, dass wir wertend durch die Welt gehen und ein guter Teil unserer Werturteile entfällt auf die gebaute Umwelt. Das Ideal einer neutralen Beobachtung mag für die Naturwissenschaften auch deshalb akzeptabel sein, weil z. B. die Physik nur einen Sitz im Leben hat, der nicht als Physik erfahren wird, sondern als Alltagswissen und als nicht zu ändernde Tatsachen. In der Regel fragen wir uns nicht, warum der Apfel vom Ast nach unten fällt, sondern nehmen es einfach wahr, urteilen nicht darüber und wollen es auch nicht ändern. Architektur dagegen wird auch im Alltag ständig wertend beurteilt („schönes Haus“; „toller Raum“, „Welcher blöde Architekt hat das geplant, das funktioniert überhaupt nicht so“ etc.). Und selbst bei den Sozialwissenschaften mag eine neutrale Beobachtung im Hinblick auf den Sitz im Leben noch funktionieren, weil z. B. „die Gesellschaft“ ein zu abstraktes Konstrukt ist, als dass man hier von einem Sitz im Leben sprechen könnte. Für die Architektur gilt das nicht in gleichem Maße. Sie nur neutral zu beschreiben wäre hochgradig artifiziell und hätte mit dem, wie wir sie normalerweise „im Leben“ erfahren und mit ihr umgehen wenig zu tun. Das allein wäre aber lediglich ein Indiz für die Unangemessenheit der deskriptiv-neutralen Methode, aber noch kein zwingender Grund auf sie zu verzichten. Zweitens aber dürfte ein beobachtendes Vorgehen deshalb schwierig werden, weil schlicht das Vokabular weitgehend fehlt und erst definiert werden müsste. Die Begriffe, mit denen wir Architektur beschreiben, sind in aller Regel explizit oder implizit wertend. Es sind in der Regel zumindest „dicke Begriffe“ im Sinne von Williams (1995), wenn es nicht sogar explizit normative Begriffe sind. Ausdrücke wie „eine Treppe schwingt sich empor“, „ein lichtdurchfluteter, heller Raum“ oder „eine sich vornehm-zurückhaltende Fassade“ sind positiv konnotiert genauso wie Begriffe wie „düster“, „drückend“, „langweilig“ im Zusammenhang mit der Beschreibung von Gebäuden negativ besetzt sind. Wenn wir Gebäude im normalen Umgang beschreiben, dann tun wir das so, dass bestimmte Assoziationen unvermeidlich sind, und zumindest implizit sind die von uns

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gebrauchten Begriffe und Wendungen wertend und Ausdruck bestimmter Überzeugungen hinsichtlich Ästhetik, Funktion oder Ökonomie aber auch hinsichtlich sekundärer Aspekte wie z. B. von Machtverhältnissen. Der erste Schritt einer Architekturwissenschaft, die nur beobachtend sein will, müsste also die Entwicklung einer neutralen Sprache sein und angesichts der Tatsache, dass wir mit Architektur wertend umgehen und unsere Sprache in diesem Bereich dementsprechend (zumindest) implizit weitgehend normativ verfasst ist, darf bezweifelt werden, dass das ohne Weiteres gelingen kann. Als erstes Zwischenfazit wäre somit festzuhalten, dass eine neutral beobachtende Architekturwissenschaft zumindest momentan aufgrund unserer „Sprachlosigkeit“ (hinsichtlich eines neutralen sprachlichen Umgangs mit Architektur) nicht unmittelbar möglich erscheint. Und selbst wenn dieses Problem gelöst wäre, wäre sie nur bedingt sinnvoll, weil sie durch eine dann notwendigerweise hochartifizielle Sprache ihren Sitz im Leben verlieren würde.

6 Möglichkeiten eines urteilenden Verhältnisses zur Architektur Wenn Architekturwissenschaft so konzipiert ist, dass sie ein urteilendes Verhältnis zur Architektur beinhaltet, gibt es zwei Möglichkeiten. In einer schwächeren Variante beurteilt die Architekturwissenschaft lediglich, ob eine jeweilige Architektur den sich selbst gesteckten Zielen gerecht wird, enthält sich aber jeden Urteils darüber, wie diese Ziele zu bewerten sind. (Z. B.: Ist es gelungen, eine funktionierende 20 m2 Wohnung für 5 Personen zu entwerfen?) In einer stärkeren Variante werden die vorgegebenen Ziele selbst einer Prüfung unterworfen, indem von außen Maßstäbe herangezogen werden, etwa gute Lebensmöglichkeiten, die zuvor transparent mit guten Gründen abgesichert wurden. In diesem Fall gibt es eine doppelte Prüfung, einerseits der Bauziele selbst, andererseits, ob das Bauwerk dem von außen angelegten Maßstab gerecht wird.

6.1 Schwächere Variante: Bewerten auf Basis der Bauziele Die Beurteilung kann im ersten Fall so erfolgen, dass das Urteil nur im Hinblick auf die jeweils für ein Bauwerk formulierten oder vorgegebenen Bauziele erfolgt. Dieses Bauziel wird hier also lediglich zur Kenntnis genommen, bzw. akzeptiert, aber nicht weiter beurteilt. Nur die Erreichung des Ziels und die Adäquatheit der

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angestrebten Mittel wird bewertet. Ein solches Vorgehen ähnelt dem der Metaethik, wenn sie die logisch-formale „Zulässigkeit“ von ethischen Urteilen und Theorien untersucht, nicht aber zu deren Inhalten Stellung nimmt. Gemäß der Forderung nach Werturteilsfreiheit in der Wissenschaft wird dieses Vorgehen im Allgemeinen für unproblematisch gehalten. Es geht hier vor allem darum eine Architektur(theorie) zu verstehen, und dazu ist es erforderlich die einer Architektur(theorie) inhärenten Werturteile hinsichtlich ihrer eigenen Logik zu beurteilen. Es drohen aber mindestens drei Probleme: Erstens droht eine solche Architekturwissenschaft ihre allgemein-praktische Relevanz zu verlieren. Wenn nur die formale Richtigkeit einer Theorie oder der Erfolg einer Architektur im Hinblick auf die selbstformulierten Ziele beurteilt wird, wird nur ein kleiner Ausschnitt untersucht und noch dazu einer, der in unserem alltäglichen Umgang mit Architektur keine große Rolle spielt. (Die Massenunterkunft mag menschlichen Bedürfnissen Hohn sprechen, aber den vorgegebenen Bauzielen entsprechen.) Die Ergebnisse einer solchen Architekturwissenschaft sind in erster Linie historisch interessant. Das macht sie nicht falsch, entfernt sie aber von unserem alltäglichen Umgang mit Architektur. Es droht die praktische Irrelevanz. Zweitens droht bei einer Überprüfung von Theorien auf Konsistenz mit ihren eigenen Grundlagen eine gewisse Banalität der Ergebnisse, vor allem wegen der Probleme, die intendierten Bauziele zu ermitteln, Und selbst wenn dies schriftlich fixiert wurden, erheben sie in der Regel gar nicht den Anspruch logisch und stringent für irgendein bestimmtes Architekturverständnis zu argumentieren. Bauziele, wie sie oft in Gestalt von Architekturtheorien formuliert werden, sind (zumindest häufig) plakativ, appellativ und persuasiv. Der Erkenntnisgewinn einer Analyse, ob sie in dem Bauwerk erreicht wurden, ist dann oft eher banal und geht am Ziel vorbei. Man kann beispielsweise feststellen, dass ein Architekt wie Le Corbusier sich einerseits in seinen theoretischen Äußerungen oft widerspricht, und dass andererseits seine Bauten seinen theoretisch formulierten Idealen oft nicht genügen. Diese Erkenntnis wäre allerdings relativ wenig ergiebig und die Architektur Le Corbusiers wäre so nicht adäquat beurteilt. Drittens droht die Architekturwissenschaft in diesem Fall auch deswegen defizitär zu werden, weil sich die künstlerischen Intuitionen einer solchen Bewertung entziehen würden und somit nur noch, wie in der Metaethik, zur Kenntnis genommen, aber nicht eingeordnet werden könnten. Aber genau wie in der Moral spielen die Intuitionen auch in der Architektur eine große Rolle. In der Architektur hängt Qualität nur zu einem mehr oder weniger kleinen Teil von der schlüssigen Verfolgung irgendwelcher Ziele ab und vielmehr von Intuition, Kreativität und einem Können, was kaum artikulierbar ist. Selbst wenn es nicht ganz schlüssig ist, kann es sein, dass das Ergebnis trotzdem qualitätsvoll ist.

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Wenn nun aber die Intuitionen, die für einen bestimmten Bereich eine große Rolle spielen, von einer Untersuchung ausgeschlossen werden, dann ist eine Beurteilung dieses Bereiches defizitär. Das führt zum Zwischenfazit, dass eine Architekturwissenschaft in diesem schwächeren Sinne, die sich ganz im Sinne einer Metaethik neutral zu den Bauzielen verhält, die ihrem Untersuchungsgegenstand zugrunde liegt, zwar durchaus interessante Dinge über Architektur in Erfahrung bringen kann. Angesichts der genannten Probleme entsprechen diese Erkenntnisse aber nicht dem, was wir vordringlich erfahren möchten, wenn wir uns Aussagen zur Rolle von Architektur im Leben der Menschen erwarten. Architekturwissenschaft soll einen Bezug haben zu dem, was für Menschen relevant ist. Wenden wir uns daher der stärkeren Variante zu.

6.2 Stärkere Variante: Bewerten der Umsetzung und der Bauziele Im zweiten Fall erfolgt die Beurteilung einer Architektur(theorie) auch im Hinblick auf ein allgemein geteiltes oder ein rational begründetes Ideal (des guten Lebens), das nicht notwendigerweise das Bauziel des Bauwerks ist. In dieser Variante wird also das von der Architektin formulierte oder auf andere Weise angenommene Bauziel ebenfalls beurteilt, ebenso wie dessen „Umsetzung“. Eine solche Architekturwissenschaft wäre von der grundlegenden Konzeption mit der Ethik als gehaltvoller normativer Theorie zu vergleichen. Wenn die Beurteilung einer Architekturtheorie im Hinblick auf ein ihr externes Ideal bzw. Maßstab für akzeptabel gehalten wird, dann muss dieses bzw. dieser irgendwoher übernommen werden. Dies kann freilich, im Sinne eines wissenschaftlichen Vorgehens, nicht unbegründet willkürlich geschehen. Es handelt sich dann um eine „Verschleierung“ der Voraussetzungen der Beurteilung und das birgt die Gefahr, dass Menschen im Namen der Wissenschaft bewusst oder unbewusst in die Irre geführt und zumindest indirekt zu einem bestimmten Verhalten gedrängt werden können. Es ergäbe sich das Problem, dass sozusagen das ganze Theoriegebäude vom Einsturz bedroht wäre, weil das Fundament fehlt. Im Unterschied dazu ist es aber auch möglich, dass das Ideal, das als Vergleichsmaßstab dient, auf a) transparente Weise, b) mit rationalen und c) mit intersubjektiv nachvollziehbaren Argumenten begründet oder zumindest plausibel gemacht wird. Die Argumentation für das Ideal muss konsistent (widerspruchsfrei) und kohärent (tatsächlich relevant für das Thema) sein, ebenso wie die Prüfung der

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Architektur(theorie) dann logisch konsistent erfolgen muss. Dieses Vorgehen ist nicht nur legitim, sondern meiner Ansicht nach aus zwei Gründen ideal. Zum einen bewegt man sich mit der begründeten Berufung auf ein Ideal in der menschlichen Lebenswelt und verbleibt trotzdem im Reich der guten Gründe. Eine solcherart konzipierte Architekturwissenschaft behält ihren Sitz im Leben. Sie kann kohärent und umfassend Aussagen zur Architektur treffen, also genau die Relevanz haben, die wir schon oben einklagten. Dadurch entgeht sie der Gefahr artifiziell und damit bis zu einem gewissen Grad irrelevant für das Leben der Menschen zu werden. Zum anderen ermöglichen Transparenz, intersubjektive Nachvollziehbarkeit und Rationalität der Einführung des Ideals (des guten Lebens) allererst eine valide Gegenargumentation. Selbstverständlich müssen die vorgetragenen Argumente, mit denen das Ideal eingeführt wird, nicht immer schlüssig und richtig sein, aber nur, wenn sie transparent, rational und intersubjektiv nachvollziehbar sind können sie sinnvoll wissenschaftlich angezweifelt und mit guten Gründen angegriffen werden. Eine explizite und transparente Wertsetzung mit intersubjektiv nachvollziehbaren und rationalen Argumenten ist also eine Bedingung der Möglichkeit wissenschaftlicher Auseinandersetzung. Letztlich ist nur so Kritik überhaupt möglich- und Kritik ist ihrerseits Teil des plausiblen Ideals von Wissenschaftlichkeit und vom guten Leben. Das Gesagte hat freilich einen eher programmatischen Charakter. Wie genau gute Begründungen eines architektonischen Ideals (des guten Lebens) auszusehen haben, wäre in einem der ersten Schritte der Ausformulierung des angesprochenen Programms einer Architekturwissenschaft zu klären.

7 Outro: Architekturwissenschaft soll brennen! Architektur brennt – so oder so. Man kann der Normativität in der Architektur de facto nicht sinnvoll entkommen und es ist wissenschaftstheoretisch auch gar nicht wünschenswert. Deswegen ist es nicht nur legitim, sondern vielfach wünschenswert, dass die (normativ gehaltvolle) Grundlage einer Argumentation explizit und transparent mit rationalen und intersubjektiv nachvollziehbaren Gründen deutlich gemacht wird. Normative Aussagen in der Architekturwissenschaft sind vor diesem Hintergrund zum einen nicht nur möglich, sondern systematisch gerechtfertigt. Und zum anderen sind Werturteile nicht nur zu rechtfertigen, sie sind auch notwendig, wenn die Architekturwissenschaft Aussagen treffen will, die einen Bezug zur Lebenswelt der Menschen haben und in diesem Sinne relevant und nicht-banal sind.

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Oder, mit Bezug auf das eingangs eingeführte Zitat von Coop Himmelb(l)au: Architekturwissenschaft darf nicht nur, sondern sollte sogar „brennen“, aber nur, wenn sie dies kontrolliert und offen tut und wenn der Betrachter verstehen kann, warum sie es tut. Danksagung  Ich danke den Teilnehmern des Rundgesprächs Architekturwissenschaft für wertvolle Hinweise und Anregungen, insbesondere danke ich aber Christian Illies für seine unschätzbar wertvolle Hilfe.

Literatur Arendt, H. (2016). Vita activa oder Vom tätigen Leben. Ungekürzte Taschenbuchausgabe (18. Aufl.). München: Piper. (Erstveröffentlichung 1960). Ballantyne, A. (Hrsg.). (2005). Architecture theory: A reader in philosophy and culture. London: Continuum. Baumberger, Ch. (2013). Architekturphilosophie. Eine Einleitung. In Ch. Baumberger (Hrsg.), Architekturphilosophie. Grundlagentexte (S. 7–29). Münster: Mentis. Dilthey, W. (1883). Einleitung in die Geisteswissenschaften. Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte. Leipzig: Duncker & Humblot. Düchs, M. (2011). Architektur für ein gutes Leben Über Verantwortung, Moral und Ethik des Architekten. Münster: Waxmann. Düchs, M. (2015). Architekturphilosophie. Eine Kartierung. Information Philosophie, 2, 26–35. Eisenman, P. & Drobnick, J. (1995). Das Wilde und das Zivilisierende in der Architektur – Ein Gespräch anläßlich der Ausstellung Cities of Artificial Excavation. The Works of Peter Eisenman, 1978–1988 in Montreal (1994). In P. Eisenman: Aura und Exzeß. Zur Überwindung der Metaphysik der Architektur (S. 307–328). Hrsg. v. Ulrich Schwarz. Wien: Passagen-Verl. (Aura und Exzeß). Hahn, A. (2017). Architektur und Lebenspraxis: Für eine phänomenologischhermeneutische Architekturtheorie. Bielefeld: Transcript. Harries, K. (1997). The Ethical Function of Architecture. London: MIT Press. Hauser, S., Kamleithner, Ch. & Meyer, R. (Hrsg.). (2013). Architekturwissen. Grundlagentexte aus den Kulturwissenschaften: Bd. 2: Zur Logistik des sozialen Raumes. Bielefeld: Transcript. Himmelb(l)au, C. (1980). Architektur muss brennen. Hrsg. vom Institut für Entwerfen und Gebäudelehre der TU Graz. Graz: Eigenverlag. Illies, C. (2009). Architektur als Philosophie – Philosophie der Architektur. Aus Politik und Zeitgeschichte (25/2009), S. 3–6. Illies, C. (2010a). Hauptbahnhof Heidegger. Hat das technisch Machbare noch einen Sinn oder wird es zum Selbstzweck? Der Streit um “Stuttgart 21” ist ein Kampf und die Zukunft unserer Gesellschaft. In: Süddeutsche Zeitung, Donnerstag, 02.09.2010 (Nr. 202), S. 11. Illies, C. (2010b). Wertfreiheit und Wertgebundenheit der Wissenschaft. In D. Horster & W. Jantzen (Hrsg.), Wissenschaftstheorie (S. 139–148). Stuttgart: Kohlhammer.

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Teil IV Theoriebildung und Theorien zu Landschaft, Landschaftsforschung und Landschaftsarchitektur

Das Schweizer Haus: landschaftsbezogen entwickelt, als Symbol verbreitet Hansjörg Küster 1 Einleitung Das Schweizer Haus in seiner charakteristischen, dem Chalet nachempfundenen Gestalt ist als Teil einer Landschaft aufzufassen, die von einer speziellen Natur und einer speziellen Form von Landnutzung geprägt ist sowie mit speziellen Ideen verbunden wird. Allgemein ist jede Landschaft durch eine Durchdringung von Natur, (gestaltender) Kultur und Ideen charakterisiert. Das gilt auch für das Haus als Teil der Landschaft. Alles dies sieht der Betrachter im gleichen Augenblick vor sich und reflektiert darüber. Die Landschaft entsteht dabei gewissermaßen „im Kopf“, wie es von den Malern des 18. Jahrhunderts aufgefasst wurde. Aus wissenschaftlicher Sicht ist es allerdings notwendig, dieses Miteinander von Natur, Kultur und Idee zu decodieren und festzustellen, was in einer Landschaft wirklich natürlicherweise entstanden ist, was durch den Menschen geformt wurde und welche Ideen jeder einzelnen Landschaft beigegeben wurden (Küster 2012). Am ursprünglichen Standort eines Hauses besteht vor allem der Zusammenhang zwischen den natürlichen Grundlagen und der Bauform des Hauses. Wird diese Bauform auch an anderen Orten gewählt, besteht dieser Zusammenhang nicht mehr unbedingt; aber die mit dem Bau des Hauses verbundene Idee tritt in den Vordergrund. Das soll am Beispiel des Schweizer Hauses gezeigt werden.

H. Küster (*)  Institut für Geobotanik, Leibniz Universität Hannover, Hannover, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Berr und A. Hahn (Hrsg.), Interdisziplinäre Architektur-Wissenschaft, Interdisziplinäre Architektur-Wissenschaft: Praxis – Theorie – Methodologie – Forschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29634-6_14

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2 Laub- und Nadelholzregionen in Europa und deren Häuser In Südeuropa errichtete man bereits in früher Zeit Gebäude aus Stein und Lehmziegeln. Holzbauten sind dort nicht verbreitet. Denn seit der Antike kam es bereits zu Holzmangel. Der Rohstoff Holz musste zum Schiffbau, zu technischen Zwecken und zum Heizen zur Verfügung stehen, auch zum Schmelzen von Erzen wurden große Mengen an Holz gebraucht. Weiter nordwärts in Europa baute man in prähistorischer Zeit hölzerne Häuser, die nur in rekonstruierter Form in Freilichtmuseen heute noch sichtbar gemacht werden können. Die Einzelheiten der Konstruktion lassen sich aus den Funden von Gruben und Pfostenlöchern bei archäologischen Ausgrabungen ermitteln. Zunächst gab es offenbar sowohl in den Laubholzregionen wie in den Nadelholzgebieten massive Holzhäuser. In den Laubholzregionen Europas, in Frankreich und großen Teilen Deutschlands und deren Nachbarländern, auf den Britischen Inseln, in Dänemark und Südschweden verwendete man vor allem Eichen zum Hausbau. Eichenholz ist stabil und enthält eine große Menge an Gerbstoffen, die das Holz konservieren, es also lange Zeit vor Insekten- und Pilzbefall schützen. Man kann einen Eichenwald so bewirtschaften, dass nach der Entnahme eines Stammes ein neuer Trieb aus dem Baumstumpf in die Höhe kommt, den man als Sekundärtrieb bezeichnet. Ein solcher Sekundärtrieb wächst allerdings nicht gerade in die Höhe, sondern gebogen. Das hat zur Folge, dass bei einer fortgesetzten Nutzung eines Waldstückes nach einiger Zeit nur noch gebogene Stämme zur Verfügung stehen, die man zum Bau eines Blockhauses oder auch zur Verbretterung eines Hauses nicht verwenden kann. Leicht gebogene und unregelmäßig gewachsene Hölzer sind aber zum Bau von Fachwerkhäusern geeignet (Abb. 1). Bei ihnen kommt es nicht auf die Verwendung gerade gewachsener Stämme an, denn zwischen den Balken befinden sich Gefache, die mit unterschiedlichen Materialien ausgefüllt werden können, unter anderem mit Weiden- oder Haselgeflecht, Spreu, Lehm oder Ziegeln, sodass die Wand eines Fachwerkhauses auch dann dicht wird, wenn man unregelmäßig gewachsene Hölzer verwendet (vgl. zur Holznutzung ausführlicher: Küster 2013). In den Regionen der Fachwerkbauten gibt es seit dem Ende des ersten Jahrtausends nach Chr. ortsfeste Siedlungen, in deren Umgebung Nutzungsbereiche in Kontinuität bewirtschaftet wurden: Man nutzte dauerhaft die gleichen Felder, die gleichen Grünlandbereiche und die gleichen Allmenden, in denen das Vieh weidete und Holz gemacht wurde. Vor allem in den lichten Teilen der ­Allmenden wuchsen immer weniger Bäume gerade in die Höhe, die meisten dagegen

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Abb. 1   Krumm gewachsene, für den Fachwerkbau geeignete Eichen vor Hof Borg bei Quakenbrück im Artland, Niedersachsen. (Quelle: Hansjörg Küster)

hatten weit ausladende Seitenäste; Sekundärtriebe und auch Seitenäste waren unregelmäßig, mit mancherlei Biegungen des Holzes gewachsen. Gebogene Hölzer gaben den Fachwerkhäusern Stabilität, und besonders begehrt waren sie bei den Schiffbauern, die sie so, wie sie gewachsen waren, zur Konstruktion von Spanten und anderen Schiffbauteilen verwenden konnten. Besonders bekannt waren die Krummhölzer, krumm gewachsene Sekundärtriebe aus rheinischen Niederwäldern, die als Oblast auf Rheinflößen mit in die Niederlande genommen wurden (Schmithüsen 1934). Neben nemoralen Laubwäldern mit Eichen gibt es in weiten Teilen Europas Nadelwälder, in denen Fichten, Tannen und Kiefern dominieren, manchenorts auch Arven und Lärchen. Sogenannte boreale (nördliche) Nadelwälder sind im größten Teil Skandinaviens, in Finnland, dem Baltikum und in Russland verbreitet. Wälder mit einem hohen Anteil oder gar einer Dominanz an Nadelbäumen gibt es auch in einigen Hoch- und Mittelgebirgen anderer Teile Europas, vor allem in den Alpen und Karpaten, aber auch in den östlichen Mittelgebirgen Böhmerwald, Erzgebirge und Riesengebirge, auch im Fichtelgebirge, das nach dem dort wachsenden charakteristischen Nadelbaum benannt ist, im Schwarzwald, der seinen Namen daher bekam, weil dort Schwarzholz wuchs, womit in

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einer anderen Bezeichnung das Nadelholz gemeint war, ferner im Thüringer Wald und im Harz (zur Verbreitung von Laub- und Nadelwäldern in Europa siehe: Bohn et al. 2003). Nadelholz eignet sich ebenso vorzüglich zum Bau von Häusern. Wegen seines geringeren Gewichtes lässt es sich leichter transportieren; es schwimmt auf Wasser. Aber nach dem Fällen eines Stammes wächst kein Sekundärtrieb nach. Man musste daher schon frühzeitig damit beginnen, junge Nadelbäume nachzuziehen, die man dann an die Waldstandorte verpflanzen konnte, oder man brachte Saatgut aus. „Erfinder“ der Forstsaat ist Peter Stromer (oder Stromeir) aus Nürnberg, der 1368 begann, in den Wäldern um Nürnberg Nadelbaumsaat auszubringen (Kühnel 1996). Alle Nadelbäume entwickeln sich aus der Saat oder aus Pflanzungen als Einzeltriebe. Die Stämme wachsen auch bei intensiver Nutzung stets gerade in die Höhe. Man kann aus Nadelholz selbstverständlich auch Fachwerkgebäude aufführen; man kann aber sogar nach langer Nutzung eines Nadelwaldes aus ihm gerade gewachsenes Holz zum Bau von Blockhäusern entnehmen (Abb. 2). Ferner lässt sich im Nadelholzforst Holz für Schindeln und Bretter gewinnen, mit denen man Fassaden verkleiden und Dächer decken kann. Aus der Tatsache, dass in diversen Regionen Europas unterschiedliche Hölzer zur Verfügung stehen, resultiert, dass sich auch die Häuser dieser Gebiete unterscheiden (Ellenberg 1990). Bei der Entwicklung der verschiedenen Typen von Häusern spielten aber nicht nur die regional verfügbaren Hölzer eine große Rolle, sondern auch Aspekte unterschiedlicher Nutzungen. Doch lässt sich an der Verbreitung traditioneller Haustypen oft bis heute gut erschließen, wo Laubwälder und wo Nadelwälder ursprünglich vorhanden waren, bevor durch Aufforstungen der letzten Jahrhunderte die Verbreitung von Nadelwäldern weit in den Westen ausgeweitet wurde: Beispielsweise gibt es in der Eifel und im Westerwald heute zwar ausgedehnte (künstlich geschaffene) Nadelholzforsten, aber keine Blockbauten. Fachwerkbauweise blieb typisch, und dafür verwendete man keine

Abb. 2   Dorf mit Blockhäusern im Oberwallis vor Nadelwald. (Quelle: Hansjörg Küster)

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Nadelhölzer, sondern Eichen. Die Naturausstattung bedingte also den Charakter der Häuser, die in den einzelnen Regionen gebaut wurde. Dies ist ein realer Zusammenhang in der Landschaft, der nicht durch Ideen geprägt wurde.

3 Die Schweiz: Höhenstufen und Freiheit Die Schweiz gehört zu den Gebieten in Europa, in denen Nadelhölzer zum Hausbau verwendet wurden: vor allem Tannen, weithin auch Fichten, seltener Arven und Lärchen. Darin unterschied sich die Schweiz nicht von anderen Alpenländern, also Österreich, Frankreich, Italien oder auch im äußersten Süden Deutschland. Das Schweizer Haus als Bautyp wurde besonders beliebt, weil es mit Ideen verbunden wurde. Die Schweiz ist seit dem 18. Jahrhundert ein sehr bekanntes Reiseziel. Das hatte einerseits damit zu tun, dass das Land immer wieder in wissenschaftlichen Abhandlungen als Hochgebirgsregion beschrieben wurde, seitdem Johann Jakob Scheuchzer im Jahr 1699 eine Schrift verfasst hatte, die 189 Fragen enthielt, welche bei einer Untersuchung und Darstellung der Schweiz beantwortet werden sollten. Damit hatte Scheuchzer gewissermaßen die Grundlage für zahlreiche heimatkundliche Werke über die Schweiz gelegt (Scheuchzer 1997 [1699]). Unter diesen Werken war unter anderem das Alpengedicht von Albrecht von Haller, das immer wieder gerühmt und Vorbild für zahlreiche andere Dichtungen des 18. Jahrhundert wurde (von Haller 1732 [1729]). Haller, der keineswegs nur Dichter, sondern auch ein angesehener Arzt und Naturwissenschaftler war, erkannte, dass es Höhenstufen der Alpen gab (von Haller 1772). Andererseits ging das Faszinosum Schweiz davon aus, dass die Schweizer sich schon früh vom Joch der Habsburger befreit hatten und daher die Schweiz als Symbol für die Freiheit galt. Gegen die Habsburger als Repräsentanten des „Ancien Regime“ wandte man sich in der Zeit nach der Französischen Revolution; sie waren damals immer noch die Kaiser, die über Deutschland und weite Teile Norditaliens sowie andere Länder im Südosten Europas herrschten. Man reiste in die Schweiz, begeisterte sich für die erhabene Landschaft, bestieg die hohen Berge des Landes, interessierte sich für das Leben der Schweizer Landleute. Unmittelbar nach dem Ende des Siebenjährigen Krieges (1756–1763) kamen Schweizer Maler an die Dresdner Akademie, von wo aus sie die spektakuläre Landschaft an der Elbe erkundeten. Vor allem Adrian Zingg malte zahlreiche Ansichten vom Elbtal und dessen Umgebung, die von den Schweizer Malern als „Sächsische Schweiz“ bezeichnet wurde (Götzinger 1804). Hört man diese Bezeichnung, denkt man natürlich daran, dass die Maler eine Verbindung zwischen der Elblandschaft und den Alpen gesehen haben. Aber

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dem ist nicht so: Sie erinnerten sich vielmehr an die tief eingeschnittenen Täler im Schweizer Jura, die sie zuvor gesehen hatten (Liebe und Kempe 1974). Mit ihrer Benennung einer „Schweiz“ wollten die Maler darauf verweisen, dass die von ihnen gesehene Landschaft ebenso malerisch war wie ihre Heimat. Und es wurden weitere Landschaften zu „Schweizen“, etwa die Holsteinische, die Mecklenburgische und die Fränkische Schweiz. Friedrich von Schiller hatte sich vor allem von Johann Wolfgang von Goethe von der Schweiz erzählen lassen. Auf der Grundlage dieser Erzählungen schrieb er am Ende des 18. Jahrhunderts sein Drama „Wilhelm Tell“: Diese Figur stand für die Befreiung von den Habsburgern, und dies trug zum großen Erfolg des Theaterstückes bei. Tell wurde zum Motiv der bildenden Kunst, es entstanden weitere Schauspiele und Opern über Tell und die Schweiz, unter anderem von Gioachino Rossini und Joseph Weigl (Landau 2000). Der junge Franz Schubert hörte Weigls Singspiel „Die Schweizerfamilie“; dies regte ihn zur Komposition seiner kleinen Kantate „Der Hirt auf dem Felsen“ an, die nur wenige Wochen vor seinem Tod im Jahr 1828 entstand.

4 Das Schweizer Haus: außerhalb von Park und Zivilisation Zur gleichen Zeit wurden außerhalb der Schweiz Häuser beliebt, die Vorbildern in dem Alpenland nachempfunden waren und in einer seltsamen Situation gebaut wurden: als Teile von Parks, aber dennoch außerhalb davon. Dies soll hier an drei Beispielen erläutert werden. In Frankfurt-Rödelheim war die Kaufmannsfamilie Brentano ansässig. Georg Brentano, der Bruder von Clemens und Bettina, hatte dort am Flüsschen Nidda einen Park gestalten lassen. Dazu erwarb er das sogenannte Petrihaus am anderen Ufer der Nidda. Dieses Haus wurde unter anderem nach Plänen von Karl Friedrich Schinkel zu einem Schweizer Haus umgestaltet. Wenn man vom Park zum Schweizer Haus gelangen wollte, musste man einen Zaun durchqueren und die Nidda auf einer Brücke überschreiten. Gewissermaßen außerhalb der fest gefügten Ordnung des Parks hatte man dann das „in der Freiheit“ liegende Schweizer Haus erreicht (Küster 2017). In der Umgebung von Dessau baute man 1830 auf dem Leiner Berg ein Schweizer Haus; es steht auf einer Erhöhung in der Nähe der Elbe, auf der es nicht überflutet werden kann. Aber das Haus befindet sich außerhalb des von einem Deich geschützten Landes des Gartenreichs Dessau-Wörlitz, also auch außerhalb der „Zivilisation“ der gestalteten und geschützten Landschaft in der

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Freiheit – oder in einer Form von Wildnis, die vom Hochwasser erreicht werden kann, ohne das Haus selbst zu überfluten. Es liegt bei Hochwasser gewissermaßen auf einer Insel inmitten der Wildnis (Küster und Hoppe 2010). Auch beim Bau eines Schweizer Hauses in Norditalien hatte man die Idee, es außerhalb des Parks, aber als einen Teil von ihm zu bauen. Die Familie Mylius, die aus Frankfurt stammte, legte in den Jahren um 1830 einen Park rings um eine Villa an, die heute als Villa Vigoni bekannt ist. Von ihr aus blickt man auf den Comer See. Das Schweizer Haus entstand oberhalb und außerhalb des eingezäunten Parks. Man muss ihn durch ein Tor verlassen, um auf einen kunstvoll mit zahlreichen Serpentinen angelegten Bergsteig zu kommen (Abb. 3), der zum Schweizer Haus führt. Um dessen Lage im Gebirge zu betonen, hatte man es auf einem künstlichen Hügel errichtet (Abb. 4). Zur gleichen Zeit, in der das Haus gebaut wurde, kam es im nahen Mailand zu Unruhen gegen die Habsburger, und es wurde die Oper „Guillaume Tell/Guglielmo Tell“ von Gioachino Rossini dort erstmals aufgeführt (Küster 2008).

5 Nachwirkungen des Themas „Schweizer Haus“ Auch in späterer Zeit wurden Schweizer Häuser gebaut. Man verband mit ihnen dann sicher nicht mehr den Willen, sich von Habsburg loszusagen. Aber die Freiheit symbolisieren diese Häuser auch dann, wenn sie in späterer Zeit errichtet wurden. Schweizer Architektur war das Vorbild für zahlreiche Hotels, in denen man seine Ferien verbrachte, etwa für das Schwarzwaldhotel in Bonndorf (Abb. 5). Die Bäderarchitektur vieler Ferienstätten an den Küsten wurden ebenfalls dem Bautyp eines Schweizer Chalets nachempfunden; ein Beispiel dafür ist das älteste dieser Häuser im sogenannten Kaiserbad Bansin auf Usedom, das 1898 gebaute Haus Asgard (Abb. 6). Interessanterweise wurde bei der Benennung dieses Hauses ein Name gewählt, der auf nordische Länder verweist. In Skandinavien nutzte man ebenfalls wie in der Schweiz Nadelholz zum Bauen, Haus Asgard erinnert also an beide Regionen der Nadelholzarchitektur. Wo es kein Nadelholz zum Bauen gab, ahmte man die Blockbauweise nach; aus Eichenholz entstanden klinkerähnlich übereinander gelegte Bretter. Das lässt sich am Forsthaus im Wald von Wytham in der Nähe von Oxford erkennen (Abb. 7). Und bis in jüngste Zeit sind Schweizer Häuser „en miniature“ beliebt, und zwar in den Landschaften elektrischer Eisenbahnen. Dort verbindet oft eine Bahnlinie eine symbolisch gestaltete Stadt aus ein paar Gebäuden der „Zivilisation“ mit dem Schweizer Bergdorf in der „Freiheit“. Oder man

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Abb. 3   Steiler Alpenweg zum Schweizer Haus an der Villa Vigoni (Comer See) von 1829/1830. (Quelle: Hansjörg Küster)

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Abb. 4   Schweizer Haus oberhalb von der Villa Vigoni am Comer See auf künstlichem Hügel. (Quelle: Hansjörg Küster)

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Abb. 5   Das 1905 im Schweizer Stil gebaute „Schwarzwaldhotel“ in Bonndorf, Landkreis Waldshut. (Quelle: Hansjörg Küster)

Abb. 6   Haus Asgard in Bansin auf Usedom, erbaut 1898. (Quelle: Hansjörg Küster)

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Abb. 7   Forsthaus im Wald von Wytham bei Oxford. Der Eindruck einer verbretterten Fassaden wird durch übereinander genagelte Eichenplanken vorgetäuscht. (Quelle: Hansjörg Küster)

konstruierte Häuser im Schweizer Stil für das Federvieh auf kleinen Inseln im Teich, also auch in der Wildnis, zum Beispiel in Rot an der Rot in Oberschwaben (Abb. 8). All dies mag skurril wirken. Aber es sind damit Symbole und Ideen von Landschaft aufgegriffen, die schon seit Jahrhunderten verstanden werden. Das Schweizer Haus entstand als Symbiose aus Natur und Kultur in einem Land, das von Nadelwäldern des Gebirges geprägt ist. Und es verband sich damit eine Idee von Freiheit, nicht nur die Idee der Befreiung von der Herrschaft der Habsburger, sondern auch die kleine persönliche Freiheit in Haus und Garten. Jeder versteht das, wenn auch vielleicht nur im Unterbewusstsein. Für große und kleine Landschaften haben derartige Ideen aber eine erhebliche Bedeutung. Auf ähnliche Weise lässt sich in Landschaften beispielsweise auch die Idee von Italien oder der Toskana, von Arkadien, von England oder von Norwegen ausdrücken. Es scheint besonders charakteristisch für das Erkennen von Landschaften zu sein, dass deren Benennungen von einem Ort auf den anderen übertragen werden, womit man deutlich zu machen versucht, dass man Ziele der eigenen Sehnsucht auch weit entfernt von den landschaftlichen Vorbildern finden kann.

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Abb. 8   Schweizer Haus im Ententeich (Garten der Barone von Finck in Rot an der Rot in Oberschwaben). (Quelle: Hansjörg Küster)

Das Haus vor allem ist ein Symbol für die ersehnte Gegend und die man mit bestimmten Empfindungen verbindet. Dort war der Typ des Hauses einmal aus sachlichen oder praktischen Gründen entwickelt worden. Wichtig ist es also, bei der Analyse eines Haustyps zwischen Realien und Ideen zu unterscheiden. Landschaftstypisch ist der Zusammenhang zwischen Natur und Bauform im Herkunftsgebiet des Hauses. Wird der Typ von dieser Gegend auf eine andere übertragen, bekommt eine damit verbundene Idee mehr Bedeutung, eine Empfindung, ein Statusgefühl, eine Sehnsucht. Von wissenschaftlicher Sicht ist es erforderlich, sich mit beiden Aspekten von Haus und Landschaft auseinanderzusetzen, mit Realien, die sich aus Natur und Kultur und deren Zusammenwirken ergeben, und Ideen, die auf dieser Grundlage entwickelt wurden. Zwischen beiden Kategorien muss deutlich unterschieden werden. Die Aufdeckung dieser Unterschiede ist eine Aufgabe, der sich Wissenschaft stellen muss: Das Schweizer Haus steht nicht unbedingt in der Schweiz. Dort ist sein Bautyp entstanden. Baut man es anderenorts, tut man dies in einer bestimmten Absicht, aber nicht um der Beziehung zwischen Haus und Natur wegen, sondern auf der Grundlage einer Idee.

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Erlebte, Konzipierte und Verhandelte Bilder – Wegbereiter einer transformativen Landschaftsforschung? Henrik Schultz In komplexen, landschaftlichen Transformationsprozessen, in denen Akteure mit unterschiedlichen fachlichen Hintergründen ko-kreativ Wege in eine nachhaltige Zukunft suchen, stellt sich die Frage: Wie lässt sich Komplexität so ausdrücken und darstellen, dass sie von möglichst vielen verstanden und als Herausforderung angenommen wird? Diese Frage steht vor allem in transdisziplinären Forschungssettings wie etwa Reallaboren im Mittelpunkt. Unterschiedliche bildliche Darstellungen können dabei, so die These dieses Beitrags, implizites Wissen versammeln und niedrigschwellige Zugänge zu komplexen Diskussionen schaffen. Anders als etwa lange textliche Darstellungen und Tabellen fungieren Bilder als Anker der Erinnerung, mit denen sich Akteure auch in länger andauernden Prozessen immer wieder verorten können.

1 Transdisziplinarität und Ko-Kreativität in komplexen räumlichen Transformationsprozessen Der Landschaftsforscher Martin Prominski sieht Komplexität als zentrale Eigenschaft von Landschaften. Laut Prominski sind Landschaften durch Unvorhersehbarkeit, Prozessualität und Relationalität gekennzeichnet (Prominski 2004, S. 16). Beim Entwickeln und Entwerfen von Landschaften, die durch Aneignung, Zusammenleben, Diversität, Verbundenheit und Porosität bestimmt sind (Nielsen H. Schultz (*)  Hochschule Osnabrück, Fakultät Agrarwissenschaften und Landschaftsarchitektur, Osnabrück, Deutschland © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Berr und A. Hahn (Hrsg.), Interdisziplinäre Architektur-Wissenschaft, Interdisziplinäre Architektur-Wissenschaft: Praxis – Theorie – Methodologie – Forschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29634-6_15

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et al. 2010), kann es jedoch nicht um die Reduktion dieser Komplexität gehen. Die Reduktion von Komplexität wäre laut Richard Sennett ein dezivilisierender Prozess (Süddeutsche Zeitung 2019). Vielmehr ist den wicked problems (Rittel 1972, S. 390 f) nur mit einer entwurflichen und transformativen Herangehensweise erfolgreich zu begegnen, da die relevanten Fragestellungen nicht linear abgeleitet, sondern nur in iterativen Suchprozessen identifiziert und konkretisiert werden können (Seggern 2019). Um was für komplexe Transformationsprozesse handelt es sich? Das Forschungsprojekt „Den Landschaftswandel gestalten“ (BfN et al. 2014) zeigt den starken Transformationsdruck, unter dem Landschaften in Deutschland durch die Energiewende stehen. Das Tempo, in dem gesetzliche Änderungen und technische Innovationen die Energiewende justieren und in dem Bürgerinnen und Bürger ihre sich wandelnde Wahrnehmung der Transformation artikulieren, ist ein zentraler Aspekt der Komplexität (Clean Energy Wire 2017). So ein Landschaftswandel lässt sich nur gemeinsam mit vielen gesellschaftlichen Akteuren und Fachleuten sehr unterschiedlicher Disziplinen, also transdisziplinär, gestalten. Und es braucht Prozesse, die weniger linear als mit dem Wechselspiel langfristiger Planungen und kurzfristiger, auch experimenteller Interventionen operieren (Schultz 2007). Neben dem Landschaftswandel im Zuge der Energiewende haben Migrationsbewegungen tiefgreifende Veränderungen zur Folge. Heute sind weltweit so viele Menschen außerhalb der Länder, in denen sie geboren sind, unterwegs wie nie zuvor. Nach Schätzung der Population Division der UN verlassen über 230 Mio. Menschen weltweit ihr Heimatland freiwillig oder notgedrungen, über 60 Mio. waren 2014 weltweit auf der Flucht, die meisten von ihnen sind Binnenflüchtlinge (United Nations 2013). Unter diesen weltweiten Nomaden sind aber bei weitem nicht nur Flüchtlinge: Millionen lassen sich für ein paar Jahre in einem neuen Land nieder, um zu arbeiten oder zu studieren, Millionen sind für kurze Zeit als Touristen in anderen Ländern unterwegs. Die Komplexität liegt hier nicht nur in der Unvorhersehbarkeit der Wanderungs-Dynamiken sondern auch in den Folgen für neue Formen der Verortung, Teilhabe und Mobilität. Mobile Menschen mit Wanderungsbiografie nehmen Landschaften anders wahr und nutzen sie anders als sesshafte (Saunders 2010). Ein drittes Beispiel für einen tiefgreifenden Transformationsprozess ist der Umgang mit Fließgewässern und Hochwasserschutz. Die formelle Planung hat erfolgreich die Sicherung von Überschwemmungsgebieten (HQ 100) in formellen Plänen etabliert. Vorranggebiete für Hochwasserschutz beantworten jedoch noch nicht die Frage, wie sich transdisziplinäre Prozesse gestalten lassen, die die Verständigung der am Fluss lebenden und wirtschaftenden Menschen unterstützen.

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Wie kann etwa die Wasserrahmenrichtlinie dazu genutzt werden, auch andere Ziele z. B. beim Umbau der Landwirtschaft in den Auen zu erreichen, um die Biodiversität und den Freizeitwert von Auenlandschaften zu erhöhen? Transdisziplinäre Prozesse in diesem Arbeitsfeld sind komplex und profitieren von informellen Formaten der gemeinsamen Raumerkundung und Visionssuche (Schultz 2014a). Energiewende, Migration und Hochwasser sind nur drei von vielen dynamischen Elementen der Landschaftstransformation – und somit Gegenstand der Landschaftsforschung. Einige Entwicklungen lassen sich antizipieren, aber an vielen Stellen sind schnelle Anpassungen und ein kreativer Umgang mit dem Unvorhersehbaren gefragt. Dabei helfen gut eingespielte, interdisziplinär besetzte Arbeitsgruppen und Prozesse der Verständigung, wie sie für informelle Verfahren typisch sind. Unter dem von Uwe Schneidewind geprägten Begriff der Reallabore (Schneidewind und Singer-Brodowski 2014) wird aktuell mit neuen Formen der Modus3-Wissenschaft experimentiert. In diesen informellen Verfahren gilt es die Ideen unterschiedlicher Akteure, auch der Flächeneigentümer, engagierter Bürgergruppen und Entscheider, zusammenzubringen, in eine an die Fachplanungen anschlussfähige Sprache zu übersetzen und auf diese Weise nutzbar für die Entscheidungen rund um die Transformationsprozesse zu machen. Welche Rolle kann dabei die Bildsprache spielen?

2 Erlebte, Konzipierte und Verhandelte Bilder in Wissenschaft und Praxis Bilder spielen in der Wissenschaft oft nur als Schaubilder eine Rolle. Ihre Rolle ist es, Bezüge und Bedingungen zwischen herausgearbeiteten Faktoren sichtbar zu machen. Schaut man deutlich weiter zurück, gibt es jedoch Beispiele für Wissenschaftler, die poetische Bilder angefertigt und eingesetzt haben, um ihre Erkenntnisse auszudrücken und in den Fachdiskurs zu bringen. Der wohl bekannteste Protagonist in diesem Feld ist Alexander von Humboldt, der unter anderem mit seinen Tableaux physiques seine Interpretation der Migrationsbewegungen von Pflanzen, Tieren und Menschen darstellte. Hierbei ging es Humboldt weniger um die realitätsgetreue Wiedergabe geografischer Bedingungen als vielmehr um die Abbildung des Zusammenwirkens, so wie er es vor Ort auf seinen Erkundungen erlebt hatte. Humboldt erlebte Landschaften, Bilder entstanden in seinem Kopf. Er und sein Mitreisender Aimé Bonpland zeichneten und konzipierten Bilder, die schließlich im Diskurs mit seinen Wissenschaftlern als Medium der Verständigung dienten (Ette 2009).

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Inspiriert durch Humboldt und meine Erfahrungen mit Bildern in Projekten landschaftsarchitektonischer Praxis, unterscheide ich in Erlebte Bilder, Konzipierte Bilder und Verhandelte Bilder. Alle drei Typen von Bildern spielen nicht nur in der Wissenschaft, sondern auch in der Praxis des Gestaltens von komplexen landschaftlichen Transformationsprozessen eine zentrale Rolle. Untersucht man aktuell laufende Projekte zur räumlichen Transformation, so fällt auf, dass es sich oft um informelle Projekte handelt, die sich Bildern als Kommunikationsmittel bedienen (Schultz und Stein 2012). Während formelle Prozesse ihren Erfolg in der Erstellung eines (im besten Fall rechtlich wirksamen) Plans bemessen, versuchen informelle Prozesse Projekte zu initiieren und umzusetzen. Dabei gehen die Akteure weniger analytisch und deduktiv als iterativ vor (Schultz 2018a). In Wechselspiel intuitiver, rationaler und diskursiver Strategien können Bilder entstehen (Schultz 2018b). Diese Bilder können als Medium der Verständigung eine wichtige Rolle spielen, denn informelle Prozesse sind auf Überzeugung angewiesen. Ihr Erfolg bemisst sich daran, ob die beteiligten Akteure die gemeinsam gewonnenen Erkenntnisse in ihre alltägliche Projektarbeit einbringen und zur Grundlage ihrer Entscheidungen machen. In den im Folgenden beschriebenen informellen Verfahren haben Bilder geholfen, Diskussionen über komplexe Transformationsthemen zu strukturieren und die Verständigung auf mögliche Entwicklungsrichtungen zu unterstützen.

3 Studien zu transdisziplinärer Landschaftsentwicklung Um eine Landschaft in Balance zu entwickeln, in der Landwirtschaft, Naturschutz und Freizeitnutzer aus dem angrenzenden Ruhrgebiet alle ihren Platz finden, haben die Münsterländer Städte Olfen, Haltern am See und Datteln sowie die Partner Lippeverband, Gelsenwasser AG und Landschaftsagentur+ das Projekt 2Stromland entwickelt. Das 2Stromland ist ein 8000 ha großer landschaftlicher Experimentierraum zwischen den Flüssen Stever und Lippe, in dem Akteure mit Experimenten erforschen, wie innovative Bewirtschaftungs-, Nutzungs- und Gestaltungskonzepte in Wald und Feld, in der Aue und am See eine ganzheitliche Landschaftsentwicklung vorantreiben können. Es gibt Experimente zur Umgestaltung der Lippe zu einer biodiversen Flusslandlandschaft mit Flussstränden, zur Überarbeitung des landwirtschaftlichen Wegenetzes mit weniger und breiteren Wegen und zur Nutzung des artenarmen Stangenwaldes für ökologische Ausgleichsmaßnahmen (Abb. 1). Zentrales Element ist die extensive Beweidung der Auen und Wälder.

Erlebte, Konzipierte und Verhandelte Bilder …

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Abb. 1   Konzipierte Bilder: Experimente Flussstrand, Hutewald © Stein+Schultz

Um so ein Projekt Wirklichkeit werden zu lassen, braucht es neben einer engagierten Gruppe an Projektträgern und Landbesitzern vor allem einen Prozess, der unterschiedliche Akteure zur richtigen Zeit zur Mitarbeit und Kooperation bewegt. Die Landwirte müssen davon überzeugt werden, ihr Land zu tauschen. Die Umweltverbände müssen ins Boot geholt werden und es gilt das Projekt so aufzuziehen, dass es relevant für unterschiedliche Förderzugänge ist. Ein klassischer Plan nützt da erst mal gar nichts, weil er in den seltensten Fällen zu den unterschiedlichen Akteuren spricht. Weil er nicht inspirierend genug ist, um Menschen dazu zu bewegen, sich überdurchschnittlich, auch ehrenamtlich, für das Projekt einzusetzen. Ein Erfolgsbaustein des Projektes ist der jährliche „Tag im 2Stromland“, bei dem sich alle beteiligten Akteure und Interessierte aus der

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ganzen Region vor Ort – draußen! – treffen und sich dort auf Spaziergängen und Besichtigungen über aktuelle Fragen austauschen (Abb. 2, 3). Diese Erlebnisse bleiben als Erlebte Bilder im Gedächtnis, man kann sich später in den harten Diskussionen auf diese als Bilder gespeicherten Erinnerungen beziehen. Die Kulturtheoretikerin Elke Krasny schreibt „Über das Herstellen von gemeinsamen ‚Orten‘, im realen wie im übertragenen Sinne, entstehen neue Räume, Denkräume, Vorstellungsräume, Erfahrungsräume, konkrete physisch fassliche Räume“ (Krasny 2006, S. 96). Diese Räume sind mit unterschiedlichen Bildern verknüpft. Wenn die Akteure in direkten körperlichen Kontakt mit den physischen Räumen und den Atmosphären kommen, sammeln sie Erlebte Bilder. Wenn Experten dann im ständigen Austausch mit den Gruppen Bilder zeichnen, collagieren oder mappen, entstehen Konzipierte Bilder. Wenn sich die unterschiedlichen Akteure schließlich über ihre Erlebten und die Konzipierten Bilder austauschen, entwickeln sich beide Bildtypen weiter und es entstehen Verhandelte Bilder.

Abb. 2   Erlebte Bilder: Tag im 2Stromland, Datteln © Stein+Schultz

Erlebte, Konzipierte und Verhandelte Bilder …

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Abb. 3   Erlebte Bilder: Ein Tag im 2Stromland, Teststrecke Wirtschaftswege, Olfen © Stein+Schultz

Die Erfahrungen aus den Projekten zeigen, dass ein Tag gemeinsam draußen und im Angesicht der komplexen Herausforderungen unterwegs zu sein, Projekte deutlich weiterbringt als (in Summe ähnlich zeitaufwendige) Treffen im Sitzungsraum (Stein und Schultz 2008), eben weil Erlebte Bilder im Wechselspiel aus Entdecken und gemeinsamem Reflektieren entstehen (Schultz 2014b). Führt man sich die unterschiedlichen Akteure an Flüssen, ihre sich teilweise widersprechenden Interessen und all die Gesetze und Vorschriften vor Augen, stellt sich die Frage: Wie kann man in einer derart komplexen Situation zu einem gemeinsamen, strategischen Vorgehen kommen? Das Projekt Gesamtperspektive Flusslandschaften hat das für das Gebiet der Regionale 2016 im Münsterland versucht. Zentral bei dieser informellen, transdisziplinären Konzeptentwicklung für die Flusssysteme der Region war neben Flussreisen die Identifikation von acht Flussraumtypen (Abb. 4, 5). Die Flussraumtypen erfüllen die Anforderungen der Wasserrahmenrichtlinie und zeigen in Konzipierten Bildern, wie zusätzlich die Interessen einer

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Abb. 4   Konzipiertes Bild: Wilder Fluss © Stein+Schultz, koenzen, farwick+grote, landinsicht

integrativen Landschaftsentwicklung einfließen können. Extensive Beweidung, Besucherlenkung, Multifunktionale Brücken, Einbringen von Totholz, Energiepflanzen in der Aue, Einstiegstellen für Kanuten und viele weitere Qualifizierungsansätze sind dargestellt. Trotzdem zeigen die Flussraumtypen keine konkreten Orte und sind so auf alle Flüsse der Region übertragbar. Die Erfahrungen in den Projekten zeigen, dass sich die beteiligten Akteure stark an ihnen orientieren, wenn sie gemeinsam über mögliche Strategien und Projekte für ihre „Flussabschnitte“ diskutieren. In diesen Diskussionen werden aus den Konzipierten Bildern Verhandelte Bilder.

4 Bilder in komplexen Transformationsprozessen Da Originalität, Reflexion und Übertragbarkeit wichtige Ziele bei der Konzeptentwicklung waren, weisen die oben kurz portraitierten Projekte Schnittstellen mit transformativer Landschaftsforschung auf (vgl. Prominski 2019).

Erlebte, Konzipierte und Verhandelte Bilder …

Abb. 5    Konzipiertes Bild: farwick+grote, landinsicht

Repräsentativer

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Fluss

©

Stein+Schultz,

koenzen,

Anders als in den Modus 1 Wissenschaft geht es weniger um die Generierung von Faktenwissen, das auf kausalanalytischen Prinzipien basiert, sondern vielmehr um Erfahrungswissen und „Working Knowledges“, wie es Helga Nowotny als Ziel von Modus 2 Forschung benennt (Nowotny et al. 2001; Nowotny 2008). Schneidewind ergänzt diese offenere, dynamischere und prozesshaftere Erzeugung von Wissen im Modus 2 um das Transformative der Wissenschaft im institutionellen Gefüge und spricht von Modus-3-Wissenschaft (Schneidewind und Singer-Brodowski 2014, S. 121 ff.). Zentrale Anforderung an Modus 2 wie Modus 3 Wissenschaft ist Anschlussfähigkeit jenseits der Fachdisziplinen. Die Beispiele zeigen, dass Erlebte, Konzipierte und Verhandelte Bilder dazu in der Lage sind, implizite Erkenntnisse komplexer Transformationsprozesse auszudrücken. Dabei knüpfen sie an Alltagstechniken der Bildproduktion an, die wir jenseits unseres fachlichen Hintergrunds beherrschen. Bilder entstehen in unseren Köpfen als Produkt alltagskultureller Praktiken wie Film, Werbung und Fotografie. Sie zeigen Vergangenes, Gegenwart und Zukunft und beeinflussen Wahrnehmung, Erinnerung und Haltung des

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Betrachtenden (Franzen und Krebs 2005). Sie sind gleichermaßen nachvollziehbarer Ausdruck und Medium der Speicherung als Erlebte und Konzipierte Bilder sowie Mittel zur Verständigung und zum Transfer als Verhandelte Bilder. Das in diesen drei Bildtypen gespeicherte implizite Bildwissen zeigt Verbindungen und oft auch eine Idee vom Ganzen (der Landschaft) auf. Damit ist es im besten Fall ein Wegbereiter für einen konstruktiven Umgang mit Komplexität. Dabei reduzieren diese Bilder nicht die Komplexität sondern schaffen vielmehr einen Zugang zu ihr, bilden sie ab, weil sie disziplinen-übergreifend und – anders als viele wissenschaftliche und fachpraktische Texte – auch für Laien verständlich sind.

5 Bilder in transdisziplinären Settings In transdisziplinären Settings transformativer Landschaftsforschung stehen oft die Fragen „Welche Landschaften erkennen wir aktuell? In welcher Landschaft wollen wir leben?“ im Zentrum der Verständigungen zwischen unterschiedlichen Akteursgruppen. Dabei geht es um Richtungsentscheidungen, die nicht allein die Erkenntnisse einer wissenschaftlichen Disziplin zur Grundlage machen können, sondern sich einem ganzen Netz an Begründungszusammenhängen als Referenz bedienen – eben weil es um komplexe Fragestellungen geht. Wie Berr und Kühne betonen, bestimmen dabei wissenschaftsexterne Fragestellungen und Personen aktiv die Forschung mit (Kühne 2018; Berr 2018a, b). Bei der Beantwortung der grundlegenden Frage „In welcher Landschaft wollen wir leben?“ kann der gesellschaftliche Diskurs durch Bilder angeregt (und sicherlich auch manipuliert werden). Durch das Betonen, Weglassen, Überzeichnen von landschaftlichen Elementen und Strukturen kitzeln Landschaftsforscher entwurflich das heraus, was prägend für die Zukunft sein könnte – und stellen es in Form der Konzipierten Bilder zur Diskussion. Die Erfahrungen aus den oben geschilderten Projekten zeigen, dass diese Konzipierten Bilder immer auf Erlebten Bildern aufbauen. Werden Gelegenheiten geschaffen, sich im Angesicht des Themas, Raums oder Problems über Wahrnehmungen und individuelle Bilder auszutauschen, können spätere Diskussionen komplexer Themen anhand von Konzipierten Bildern konkreter werden, da an persönliche, bildlich gespeicherte Erlebnisse angeknüpft werden kann. Konzipierte Bilder machen erste Visionen und Ideen nachvollziehbar. Erfinderische Karten und Bilder etwa zeigen unscharfe Visionen und Zusammenhänge. Oft erlauben Sie ein Gefühl für das Ganze zu bekommen und können erste Ideen verorteten und konkretisieren. Diese Konzipierten Bilder stehen

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zwischen Bestandsaufnahme und Konzept-/Visionsentwicklung. Sie sind weder ausschließlich – und schon gar nicht objektive – Visualisierung des Bestands. Sie sind aber auch noch nicht ausgearbeitetes Konzept oder präziser Entwurf. In dieser Zwischenposition liegt eine Offenheit, die in transdisziplinären Prozessen dringend nötig ist. Gegen eine abgeschlossene und fertig wirkende Bildsprache würden Akteursgruppen womöglich aufbegehren. Es bieten sich kaum Gelegenheiten an, die Bilder in den notwendigen intensiven Verhandlungen mitzuprägen und sie ein Stück zu den eigenen Bildern zu machen. Erst wenn das möglich ist und eine Ownership bei vielen in der transdisziplinären Forschung beteiligten Gruppen entsteht, handelt es sich um Verhandelte Bilder. Sie sind dann geeignetes Kommunikationsmittel, um Raum zum Sprechen zu bringen (Schultz und Stein 2012). Sie drücken gemeinsam erkannte Eigenschaften des Raumes aus und halten dabei auch Zwischenergebnisse quasi als wachsendes Bildprotokoll fest. Um „die Landschaftsforschung anschlussfähig an den Erwartungs-, Erfahrungs-, Wissens- und Überzeugungshorizont betroffener Menschen zu machen (Berr 2018b, S. 4), können Bilder somit zentrales Verhandlungs-Medium sein. Die Arbeit mit Bildern in transdisziplinären Settings macht zudem deutlich, dass transformative Wissenschaft und Praxis Seiten ein und derselben Medaille sind. Befinden sie sich im konstruktiven Dialog, profitiert davon die Praxis, weil sie die am konkreten Beispiel gewonnenen Erkenntnisse in einen übergeordneten Rahmen stellen kann, und die transformative Wissenschaft, weil Praxisprojekte Anknüpfungspunkte für Reallabore und andere Formen der Modus-3 Wissenschaft bieten. In großräumigen, landschaftlichen, komplexen Transformationsprozessen, beispielsweise im Kontext der tiefgreifenden Wenden in den Bereichen Energie, Verkehr, Landwirtschaft und Wohnen können Erlebte, Konzipierte und Verhandelte Bilder helfen, relevante Fragestellungen und Ideen zu finden, Strategien und Projektideen zu formulieren und eine Form von Wissen zu generieren, die zugänglich ist für Akteure mit sehr unterschiedlichem Erfahrungshintergrund.

Literatur Berr, K. (2018a). Überlegungen zum proto-theoretischen Unterbau der Landschaftsarchitektur. In K. Berr (Hrsg.), Landschaftsarchitekturtheorie Aktuelle Zugänge, Perspektiven und Positionen (S. 123–146). Wiesbaden: Springer VS. Berr, K. (2018b). Einführung. In K. Berr (Hrsg.), Transdisziplinäre Landschaftsforschung Grundlagen und Perspektiven (S. 1–21). Wiesbaden: Springer VS. Bundesamt für Naturschutz (BFN) et al. (2014). Den Landschaftswandel gestalten! Potenziale der Landschafts- und Raumplanung zur modellhaften Entwicklung und

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Gestaltung von Kulturlandschaften vor dem Hintergrund aktueller Transformationsprozesse. Band 3: Energiewende als Herausforderung für die Regionen. Clean Energy Wire (2017). https://www.cleanenergywire.org/factsheets/bioenergys-publicacceptance-problem. Zugegriffen: 31. März 2017. Ette, O. (2009). Alexander von Humboldt und die Globalisierung. Frankfurt a. M.: Insel Verlag. Franzen, B., & Krebs, S. (Hrsg.). (2005). Landschaftstheorie. Texte der Cultural Landscape Studies. Köln: Walther König. Kühne, O. (2018). Landschaftstheorie und Landschaftspraxis. Eine Einführung aus sozialkonstruktivistischer Perspektive. Wiesbaden: Springer VS. Krasny, E. (2006). Räume zum Handeln und zum Lachen auch. Von der öffentlichen Wirkung der Partizipation in urbanen Räumen. In F. Haydn & R. Temel (Hrsg.), Temporäre Räume (S. 87–97). Basel: Birkhäuser. Nowotny, H. (2008). Designing as working knowledge. In H. Von Seggern, et al. (Hrsg.), Creating knowledge: Innovationsstrategien im Entwerfen urbaner Landschaften – Innovation strategies for designing urban landscapes (S. 12–15). Berlin: Jovis. Nowotny, H., et al. (2001). Re-Thinking science: Knowledge and the public in an age of uncertainty. Cambridge: Polity. Prominski, M. (2004). Landschaft entwerfen. Zur Theorie aktueller Landschaftsarchitektur. Berlin: Reimer. Prominski, M. (2019). Design research as a non-linear interplay of five moments. In M. Prominski & H. von Seggern (Hrsg.), Design research for urban Landscapes. Theories and methods (S. 33–49). New York: Routlegde. Rittel, H.W.J. (1972). On the planning crisis. Systems analysis of the first and second generations. University of California at Berkeley. Reprinted from: Bedrifts Ökonomen, No. 8 Saunders, D. (2010). Arrival city. How the largest migration in history is reshaping our world. London: Windmill. Schneidewind, U., & Singer-Brodowski, M. (2014). Transformative Wissenschaft – Klimawandel im deutschen Wissenschafts- und Hochschulsystem. Marburg: Metropolis. Schultz, H. (2007). Landschaft und Region – Maßstabssprünge in der Landschaftsarchitektur. Planerin, 1(2007), 10–11. Schultz, H. (2014a). Landschaften auf den Grund gehen. Wandern als Erkenntnismethode beim Großräumigen Landschaftsentwerfen. Berlin: Jovis. Schultz, H. (2014b). Designing large-scale landscapes through walking. Journal of Landscape Architecture, 2014/2, 6–15. Schultz, H. (2018a). Informelle Landschaftsentwicklung. In: Landschaftsplanung im Prozess und Dialog (S. 98–113). Herausgegeben von Ilke Marschall, BfN-Skripten 498. Schultz, H. (2018b). Landluft macht frei? Informell verhandeln mit Raumbildern. In S. Langner & M. Frölich-Kulik (Hrsg.), Rurbane Landschaften. Perspektiven des Ruralen in einer urbanisierten Welt (S. 321–340). Bielefeld: transcript. Schultz, H., & Stein, U. (2012). Raum zum Sprechen bringen. Metaphern in kommunikativen Entwurfsprozessen. disP, 188, 59–67. Stein, U., & Schultz, H. (2008). Experiencing urban regions. Visualizing through experiments. In A. Thierstein & A. Förster (Hrsg.), The image and the region – Making ­mega-city regions visible! (S. 141–153). Baden: Lars Müller Publishers.

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Süddeutsche Zeitung 2019. https://www.sueddeutsche.de/leben/richard-sennett-iminterview-staedte-richten-sich-nicht-nach-den-menschen-aus-1.4266655?reduced=true. Zugegriffen: 3. Nov. 2019. United Nations, Department of Economic and Social Affairs (2013). http://esa.un.org/ unmigration/documents/the_number_of_international_migrants.pdf. Zugegriffen: 31. März 2017. von Seggern, H. (2019). Crossing fields. Designung and researching Raumgeschehen. In M. Prominski & H. Seggern (Hrsg.), Design research for urban landscapes. Theories and methods (S. 8–32). New York: Routlegde.

Theoriebildung in Landschaftsarchitektur und Freiraumplanung Stefan Körner Der folgende Vorschlag zur Theoriebildung in der Landschaftsarchitektur und Freiraumplanung ist nicht originell. Das liegt daran, dass der weltanschaulich mit ‚Landschaft‘ verbundene paradigmatische Kern sehr stabil ist. Deshalb soll im Folgenden nicht versucht werden – wie so oft – eine theoretische Innovation zu präsentieren, die sich bei näherem Hinsehen als altbekannt entpuppt. Ein derartiges Vorgehen ist ein Hauptproblem landschaftsarchitektonischer ‚Theoriebildung‘. Daher agiert der vorliegende Text in weiten Teilen rekonstruktiv. Verschiedene Ansätze innerhalb dieses Paradigmas werden im Rahmen ihres Entstehungskontextes besprochen, um die sie jeweils vorantreibenden Differenzen darzulegen und dann ihre Gemeinsamkeiten herauszuarbeiten. Jener paradigmatische Kern geht davon aus, dass ‚Völker‘ ihre Siedlungsräume entsprechend der jeweils konkret vorliegenden Naturmöglichkeiten entwickeln, sodass Eigenart und Vielfalt entstehen. Diese länderkundliche ‚Erzählung‘ wird immer wieder neu ausgelegt und kann sich z. B. in die Nutzung des städtischen Freiraums durch die ‚Leute‘ transformieren. Der Hauptgrund hierfür ist ein politischer: Im NS wurde die Fähigkeit zur einfühlsamen

Der Begriff Landschaftsarchitektur wird im Folgenden nicht als Oberbegriff für Landschaftsplanung, Naturschutz, Landschaftsarchitektur und Freiraumplanung verstanden, sondern als Bezeichnung für eine gestalterisch orientierte Teildisziplin, die im Gegensatz zu den anderen der Ausarbeitung eines theoretischen Fundaments weitgehend widerstanden hat. S. Körner (*)  Universität Kassel, Kassel, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 K. Berr und A. Hahn (Hrsg.), Interdisziplinäre Architektur-Wissenschaft, Interdisziplinäre Architektur-Wissenschaft: Praxis – Theorie – Methodologie – Forschung, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29634-6_16

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Kultivierung der Natur nur noch der ‚nordischen Rasse‘ zugeschrieben. Die sich damals erstmals professionalisierende großräumige Landschaftsgestaltung hatte dabei die Aufgabe, neu eroberte Siedlungsräume physiognomisch ‚einzudeutschen‘. Nach dem Zeiten Weltkrieg wurden daher erhebliche Anstrengungen unternommen, um sich von diesem politischen Erbe abzuwenden, ohne den paradigmatischen Kern aufzugeben, denn das hätte die disziplinäre Selbstaufgabe zur Folge gehabt. Man distanzierte sich sukzessive vom Modell der durch Abstammung bestimmten (Volks-)Gemeinschaft und bezog sich – zumindest im Grundsatz – auf die rational verfasste, d. h. durch einen gemeinsamen politischen Willen konstituierte und auf Ausgleich heterogener Interessen bezogene Gesellschaft. Dabei kam es zu einer Ausdifferenzierung des Fachs in drei wesentliche Subdisziplinen: 1. Naturschutz und Landschaftsplanung wandten sich entschlossen der Natur zu und entwickelten ein instrumentelles, d. h. zweckrationales Planungsverständnis auf naturwissenschaftlich-ökologischer Basis mit dem Hauptziel der Erhaltung der Nutzungsfähigkeit der Natur. Man erklärte endgültig Naturund Landschaftsschutz zur Aufgabe staatlicher Daseinsvorsorge und stellte sich auf die Seite der Verwaltung. Je nach theoretischer Konjunktur waren der Naturhaushalt mit bestimmten Naturpotenzialen, der Biotop als Ort standorttypischer Lebensformen oder das maschinenhafte Ökosystem, das bestimmte Dienstleistungen erbringt, Bezugspunkte. Diese utilitaristische Grundhaltung ist dominant, obwohl im Bundesnaturschutzgesetz auch der Schutz der Natur um ihrer selbst willen erwähnt wird. 2. Die Freiraumplanung thematisierte im Gegenzug einen soziologisch gestützten Ansatz und trat gegenüber dem zweckrationalen und eher technokratischen Verständnis von Planung für eine weitergehende Demokratisierung im Sinne einer vollen menschlichen Emanzipation der Individuen ein. Gegenüber der ‚Landschaft‘ als Symbol völkisch-organischer Lebensverhältnisse erklärte sie den unbebauten Raum, den Freiraum, zu ihrem Hauptgegenstand. In der Kasseler Variante dieser Planungsauffassung spielten auch – im Rahmen eines gesellschaftlich orientieren Ansatzes zunächst erstaunlich – vegetationskundliche Methoden eine wichtige Rolle. Der grundsätzlich mögliche sozialtechnische Charakter soziologisch gestützter Planung sollte durch eine intensive Befassung mit konkreten Lebenswelten vermieden werden und die Vegetation war Ausdruck dieser Welten. Man stellte sich also nicht auf die Seite der abstrakt, d. h. juristisch geregelten Verwaltung, sondern auf die des konkreten Lebens der Menschen. Sowohl in der naturwissenschaftlich als

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auch in der sozialwissenschaftlich ausgerichteten Variante von Planung hat die theoretische Legitimation des eigenen Ansatzes einen bedeutenden Stellenwert. 3. Ganz anders die Landschaftsarchitektur. Sie opponierte gegen die Demokratisierung, weil sie die Politisierung und die damit verbundene Verwissenschaftlichung als Negation der ‚eigentlichen Aufgabe‘ verstand – der kulturell bewusst entwerfenden und bauenden Landschaftsgestaltung. Ihre Distanzierung vom politischen Erbe vollzog sich dann vor allem symbolisch, nämlich durch den Austausch des kulturellen Repräsentanten der eigenen Werte. Die Stadt trat an die Stelle der Landschaft, die für das organisch wachsende Leben von Gemeinschaften in vorzugsweise ländlich geprägten Räumen steht. Damit wurde aber auch nicht der zunächst begrifflich abstrakt gefasste Freiraum zum bevorzugten Objekt von Gestaltung, sondern der öffentliche Raum als Ort von Urbanität, d. h. als ‚Bühne‘ des städtischen Lebens. Dies bewirkte eine Verstärkung des künstlerischen Aufgabenverständnisses und damit des Entwurfsanspruchs sowie eine grundsätzliche Wissenschaftsfeindlichkeit, weil die Ergebnisse e­ rfahrungswissenschaftlich-empirischer Forschung nachvollziehbar und überprüfbar sein und universelle Gesetze darstellen müssen. Der Einzelfall wird unter diese Gesetze subsumiert und dadurch ‚erklärt‘. Entwerfen zielt hingegen nicht auf erfahrungswissenschaftliche Verallgemeinerung, sondern auf das Gegenteil ab, auf die Zur-Geltungbringung des Einzelfalls. Dieser muss als individueller Ort mit spezifischen Lebensverhältnissen ‚verstanden‘ und ausgestaltet werden. Da ein Individuum ein Original ist, müssen im Entwurf originelle Problemlösungen, d. h. charaktervolle Gestaltungen gefunden werden. Das kann in Verbindung mit dem methodologisch zentralen Individuum des Gestalters zu einem Originalitäts- und Persönlichkeitskult führen, der nur noch die Außergewöhnlichkeit der gestalteten Form und den visionären ‚Mut‘ des Entwerfers im Blick hat. Zwar kann auch Wissenschaft originell sein, nur anders, d. h. vor allem im context of discovery, doch erscheint sie aus der Perspektive von Entwerfern oft als schematische – da ja auch je nach wissenschaftlicher Kultur regelgeleitete und klassifizierende – ‚Erbsenzählerei‘; zumindest in den dominanten empirischen Disziplinen. Die anderen, meist pauschal als ‚Philosophie‘ bezeichnet, kennt man i. d. R. nicht und meint sie auch nicht zu benötigen, während empirische Disziplinen wie Bodenkunde, Klimatologie oder Ökologie technisch brauchbar sind. Sie müsse sich dann aber dem Primat des Entwurfs unterordnen. Diese von profunder Unkenntnis und großem Sendungsbewusstsein getragene Wissenschaftsverweigerung hat erhebliche Auswirkungen auf die Fähigkeit der Landschaftsarchitektur, ihr gesellschaftliches Tun zu begründen.

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1 Mythos des Lebens: Das theoretische Elend der Landschaftsarchitektur1 Die ursprüngliche, aus dem Heimatschutz stammende Aufgabe der Gestaltung bestand darin, die ‚gewachsene‘ kulturlandschaftliche Eigenart gegen die Industrialisierung zu schützen, indem sie nicht einfach konserviert, sondern weiter ausgestaltet wurde, z. B. durch die Einbindung neuer Infrastrukturen in das traditionelle Landschaftsbild (vgl. Körner und Eisel 2003). Der Landschaftsgestalter ‚diente‘ der Landschaft und damit dem Volk, dessen Identität sie repräsentierte, sodass ihre Eigenart vor der abstrakten Überformung durch die universelle Industrie zu bewahren war. Das hieß nicht, dass man sich dem Neuen verweigerte, das wäre auch keine realistische Option gewesen, sondern man hatte es durch Gestaltung individuell in das Landschaftsbild einzupassen. Aufgrund dieser völkischen Grundierung der Landschaftsgestaltung wird sie nach dem Zweiten Weltkrieg als „vorbildloses Schaffen“ (Mattern 1950) bestimmt, um mit der Verstärkung des Entwurfsanspruchs den Dienst am Volk zu eliminieren, ohne aber den Auftrag der Einbindung in die Natur zu negieren. Durch diese nur vordergründige Aufhebung der politischen Bindung der Gestaltung kann sich die angelegte innere Dynamik des Entwerfens zu jenem Originalitätskult entwickeln. Der Entwerfer ist nun ein genialer Schaffender, der vermeintlich ganz aus sich schöpft, sodass jene Dynamik einsetzt, Landschaftsarchitekten zunehmend als visionäre Künstler anzusehen. Dennoch bleibt die Bindung an den ‚Geist der Landschaft‘, die nun vor allem für Natur steht, als Ideal zunächst aufrechterhalten. Aber es muss der Anschein eines Neubeginns erweckt und zugleich die Abgrenzung zur parallel entstehenden Landschaftsplanung hergestellt werden. Die traditionelle Kulturlandschaft wird daher als moderne „Wohnlandschaft“ (Mattern 1950) umbenannt. Zwar sollte dem zivilisatorischen Abbau der Natur, der durch das Wirtschaftswunder an Fahrt aufgenommen hatte, begegnet werden, dies aber nicht einfach nur durch bloß verteidigenden und damit alte Landschaftszustände konservierenden (Umwelt und Natur-)Schutz, den man deshalb als ‚tot‘ betrachtete, sondern durch eine Kultur und Natur produktiv entwickelnde „Landschaftsaufbauplanung“ (Mattern 1971). Da aber diese Aktion letztlich politisch motiviert war, blieb die Landschaftsaufbauplanung weiterhin dem traditionellen Kulturverständnis verhaftet, d. h. der Tradition der antiken cultura.

1Vgl.

zum gesamten fachhistorischen Kontext Körner 2001.

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Die ‚theoretische‘ Neuerung bestand also lediglich in einer semantischen Operation; eine Methode, die die Landschaftsarchitektur auch künftig beibehalten wird, ebenso wie die Neigung, möglichst allgemeine Formeln für das eigene Tun zu finden. So führte Mattern aus: „Kultur ist Arbeit am Boden – ist das Tätigwerden des Menschen in dieser Welt schlechthin.“ (Mattern 1964, S. 8) ‚Kultur‘ ist somit in antiker Tradition zunächst Landwirtschaft, um dann auf jede andere menschliche Aktivität ausgedehnt zu werden. Mit ihr richtet man sich in der Welt ein, macht sie sich wohnlich und zur Heimat, ohne sie jedoch als solche zu bezeichnen, denn dann wäre die nahe Verwandtschaft zum nationalsozialistischen Heimatschutz zu deutlich. Doch ist Kultur ein zweischneidiger Wert und so wird das Fach erst notwendig: „Mit dem Sündenfall beginnt die Arbeit, die cultura2 – und damit die Ausbeutung.“ (Mattern 1964, S. 17) Es entsteht, wenn bei der Schaffung einer wohnlichen Welt die natürlichen Möglichkeiten überstrapaziert werden und das ‚rechte Maß‘ verloren geht, Raubbau. Dieses Maß wird weiterhin durch die – allerdings meist nicht mehr so bezeichnete – landschaftliche Eigenart als Ausdruck des erreichten Kulturstandes vorgegeben, sodass individuell gestaltete Räume der Ausweis kultivierter Lebensverhältnisse sind, die dem Schöpfungsplan folgen. Raubbau ist hingegen Nutzung der Natur zugunsten kurzsichtiger wirtschaftlicher Interessen und kommt dem Sündenfall gleich. Er wird mit Gleichförmigkeit und Monotonie, also dem Gegenteil vielfältiger Eigenart, bestraft. Mattern beruft sich daher auf die antike Tradition von cultura, deren Wortstamm mit colere verwandt ist und wohnen, sich aufhalten, pflegen und bebauen bedeutet. Zwar ringt der Mensch der Natur seinen ‚Lebensraum‘ ab (vgl. Bollenbeck 1996, S. 34–36), doch ist dieser nicht nur das Ergebnis eines Überlebenskampfes, sondern muss einfühlsam, d. h. auf seine individuellen Möglichkeiten eingehend genutzt, bewohnt und gepflegt werden, um Ausdruck von Humanität sein zu können.3 Dann fallen Kultur und Natur konkret zusammen, sodass die in immer unterschiedlichen Gestalten auftretende Kulturlandschaft zum umfassenden Raum für das Leben wird. In der nun so benannten Wohnlandschaft, d. h. in Gärten, Parks und Landschaften, muss dann die Schöpfung gestalterisch vollendet werden.4 2Im

Original nicht kursiv. Bollenbeck 1996, S. 34–36, 38; eine Denkfigur, die sich schon bei Herder findet. 4Wenn die Kultur aus dieser Konstruktion eliminiert wird und die Wertschätzung urwüchsiger Natur übrigbleibt, wird die Kulturlandschaft als zentrales Symbol durch das der Wildnis ersetzt. Alles gestalterische Potenzial wird in die Natur projiziert, die nun endlich zu sich selbst kommen soll. Daher sind jetzt Verwilderungsprozesse zu schützen. Es 3Vgl.

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Gestalten ist aber bei allem Streben nach Individualität und Originalität und trotz neuer Terminologie durch die Bindung an das natürliche und kulturelle Ganze keineswegs per se progressiv. Daher beschreibt Mattern in einer Broschüre auch das erwünschte Leben mit „Freiheit in Grenzen“ (Mattern 1936) und breitet ein nahezu archetypisch konservatives Weltbild aus. Diese konservative Grundorientierung, die in der bewussten Annahme von Bindungen besteht, wird später auch dann noch beibehalten, wenn ein weiterer ‚neuer‘ Landschaftsbegriff ins Spiel gebracht wird. Trotzdem gilt Entwerfen gewöhnlich als per se zukunftsgerichtet, weil es, wie Sieverts im Nachwort zur dritten Auflage seines Buches über die Zwischenstadt schreibt, „eine bestimmte Form des professionell geprägten kreativen Denkens, des gedanklichen und gleichzeitig z­eichnerisch-bildhaften Auskundschaftens neuer Welten“ (Sieverts 2001, S. 183) sei. Zwar müssen immer funktionale Gesichtspunkte bei der Anlage von Freiräumen beachtet werden, weil nutzbare Räume entstehen müssen, sodass Landschaftsarchitektur keine zweckfreie Kunst sein kann, doch äußert sich der künstlerische Anspruch nicht nur darin, dass Neues ausgekundschaftet, sondern dass auch Lebenssinn vermittelt wird: Es sind Raumbilder zu entwickeln, die mit „inhaltlich sinnvollen Zusammenhängen“ (Weilacher 2007, S. 17) angereichert sind. Ohnehin ist in der Landschaftsarchitektur viel von ‚Bildern‘ die Rede, nicht nur wenn visuelle Raumeindrücke beschrieben werden, sondern auch wenn Wahrnehmungsmuster (‚Bilder im Kopf‘) gemeint sind. Aber es sollen dann nicht ‚alte Bilder‘ bedient, d. h. traditionelle landschaftliche Szenerien erhalten werden, sondern wenigstens im Kleinen neue, meist urban geprägte, Welten geschaffen werden. Der über die Ausgestaltung von charaktervollen Orten transportierte Sinn ist dabei letztlich christlichen Ursprungs und beinhaltet, dass insofern die Schöpfung weiter zu entwickeln ist (vgl. auch Eisel 1992, 1997). Der Gestalter ist somit ein alter deus (vgl. Bappert und Wenzel 1987), dessen Rolle keinesfalls nur darin bestehen kann, räumliche Funktionen zu optimieren. Vielmehr müssen in genialen Gestaltungsakten die im Raum vorliegenden Potenziale verwirklicht werden, um ihn zu einem ‚Ort‘ mit eigenem Genius zu machen. Daher können die Gestaltungsmaterialien auch nicht bedeutungslose, letztlich wissenschaftlich zu fassende Objekte für rationale Zwecke sein, also ‚tote‘ Ressourcen, sondern sie gelten als (göttlich) beseelt: „Lebendige Medien wie Erde, Wasser und Luft, aber auch Pflanze, Stein und Holz, werden von Landschaftsarchi-

entsteht der sog. Prozessschutz. Die Wertschätzung des Typischen und die Forderung nach schonendem Umgang bleiben erhalten; vgl. Körner 2019.

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tektinnen und -architekten im Idealfall nicht einfach nur als genormte Werkstoffe, Baumaterialien, also formbare Mittel benutzt, sondern vielmehr als Träger immanenter Inhalte mit eigener Geschichte und eigener Mythologie betrachtet.“ (Weilacher 2007, S. 17) Landschaftsarchitektonische ‚Theoriebildung‘ heißt dann, diesen christlichen Mythos des ‚guten Lebens‘ zu verbreiten. Er findet sich in politisierter Form auch in der Freiraumplanung und in ökologisierter in der Landschaftsplanung.

1.1 Die Stadt als Lebensort Der Alltag der Landschaftsarchitektur besteht allerdings in einer meist sehr profanen Praxis, in der man sich z. B. damit beschäftigt, wo man den Müll unterbringt und wo Feuerwehrzufahrten und Kabeltrassen noch Gestaltungsspielraum lassen. Da man dazu auch keine ausdifferenzierte Theorie braucht, sondern eher Ideale, die einen durchhalten lassen, richtet sich die deshalb stark entwurfsorientierte und von profanen Notwendigkeiten oft abstrahierende universitäre Ausbildung letztlich an den persönlichen Vorlieben, d. h. an den Privatmeinungen und dem Geschmack der jeweils Lehrenden aus. Auf methodologischer Ebene führt dann das unreflektiert vor sich hin werkelnde Entwurfsparadigma zu einer oberflächlichen Designattitüde, in der sich die Visionen – weil ja vorrangig ‚Bilder‘ entwickelt werden sollen – in der bloßen Form erschöpfen. Wenn theoretisiert wird, dann dient dies nicht dazu, über das eigene Tun nachzudenken und die Ziele und Aufgaben der Landschaftsarchitektur nachvollziehbar zu begründen, sondern es werden vor allem universitätspolitische und berufsständische Vermarktungszwecke verfolgt. Dies wurde nicht nur in Matterns Anbiederung an das neue Regime 19365 und in seinem Kampf gegen die entstehende Landschaftsplanung in den 1950er und 1960er Jahren deutlich, sondern auch in den 1980er und 1990er Jahren, als an den Universitäten die Trennung der Landschaftsarchitektur von der Landschaftsplanung betrieben wurde. Inspiriert von Sennett (1990) sowie Habermas (1991) wurde damals die ‚eigentliche‘ moderne menschliche Lebenswelt endgültig in der Stadt lokalisiert und diese fachpolitische Positionierung bis auf die Tradition der antiken polis als

5Dabei

ist zu bedenken, dass die Proklamation einer ‚gebundenen Freiheit‘ zu diesem Zeitpunkt opportun erscheinen mochte, dass aber Mattern kein Nazi war. Vielmehr war er zwar Konservativer aber kein Rassist.

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ein aus der umgebenden Natur ausgegrenzter Kulturraum zurückgeführt. Der öffentliche Charakter der agora, auf der die Bürger ihre Angelegenheiten regelten, führte zum Aufruf der Verteidigung des öffentlichen Raums gegen allerlei Versuche seiner privaten Aneignung.6 Da die konzentriert gebaute und von Mauern umgebene Stadt traditionell als aus der Natur ausgegrenzte menschliche Sphäre verstanden wird, verlor die Landschaft gegenüber (gebauter) Urbanität an Stellenwert. Das wurde zusätzlich noch dadurch verstärkt, dass man der zeitgenössischen Grünplanung als landschaftsplanerisches Instrument im Siedlungsraum vorwarf, aus einer kulturell ignoranten Schutzhaltung heraus die Stadt mit einer Art defizitärer Landschaft zu verwechseln und daher mit zu viel nutzloser Natur, d. h. mit sich aus dem Ideal der funktional gegliederten und aufgelockerten Stadt ergebendem bedeutungslosem Abstands- und Verkehrsgrün ‚heilen‘ zu wollen.7 So werde eher ein Beitrag zur Verödung der Stadt geleistet als einer zu deren stimulierender Gestaltung (vgl. Bappert und Wenzel 1987, S. 50; zum gesamten universitätspolitischen Kontext Körner 1991). Obwohl die Landschaft als Symbol einer Einheit von Kultur und Natur nahezu völlig aus dem Blickwinkel der Landschaftsarchitektur verschwand, blieb man so der christlichen Kultur des Lebens und dem großen Bedeutungshorizont demokratischer Kultur verbunden. Das bedeutete aber nicht, weil das alles symbolisch gemeint war, dass man etwa für die Demokratisierung der Planung war, denn das hätte Verwissenschaftlichung zur Folge gehabt. Ein angemessenes Urteil über die Lebens-, d. h. Stadtentwürfe wurde vielmehr nur einer kulturell und geschmacklich gebildeten Elite als Kundschafter in vermeintlich neuen Welten zugetraut. Das schien auch berufspolitisch vorteilhaft zu sein: Als Stadtgestalter zehrte man vom Nimbus der ‚richtigen‘ Architekten und war nicht einfach der Gärtner, der lediglich die Außenräume – häufig genug die übrig gebliebenen Restflächen – begrünen durfte. Dabei folgte man dem Ideal der räumlich konzentrierten alten europäischen Stadt. Diese Distanzierung von landschaftlicher Natur und vom gärtnerischen Erbe hatte langfristig zur Folge, dass der professionelle Umgang mit Pflanzen als wesentliche disziplinäre Fertigkeit, die die Landschaftsarchitektur von der Hochbauarchitektur unterscheidet, an den Universitäten nahezu völlig abgeschafft wurde.

6Aus

dieser Haltung heraus war für Wenzel das Konzept der Freiraumplanung, das auf der individuellen Aneignung von Räumen basiert, nichts anderes als ein kulturell gefährlicher Aufruf einer politisch gescheiterten Linken zur Konzentration auf die Wohnumwelt und zu dilettantischer Selbsthilfe; vgl. Wenzel 1986, S. 56. 7Diese Position teilt die Freiraumplanung Kasseler Prägung, zieht aber, wie wir sehen werden, daraus gänzlich andere Schlüsse.

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Sie lebte lediglich als Vegetationskunde im naturschützerischen Kontext weiter. Eine Ausnahme stellte, wie wir noch sehen werden, die Kasseler Schule dar. Obwohl vor allem Wenzel einem einseitigen künstlerischen Anspruch und einer einseitigen städtischen Orientierung der Landschaftsarchitektur den Boden bereitete, ist er doch einer der wenigen Universitätsprofessoren für Landschaftsarchitektur, der Texte verfasste und sich bei allem strategischen Interesse um nachvollziehbare Argumente und damit um Theoriebildung bemühte. Paradoxerweise wurde dadurch aber das Theoriedefizit der Landschaftsarchitektur forciert. Die Abwendung von der Natur hätte zudem letztlich dazu geführt, dass sich die Landschaftsarchitektur, die ja ‚Landschaft‘ im Namen trägt, selbst aufgegeben hätte. Das durfte nicht sein und da dennoch die städtische Orientierung grundsätzlich weiter aufrechterhalten werden sollte, musste der Versuch unternommen werden, ‚Landschaft‘ als Ausdruck von Kultur und Natur nicht mehr ländlich, sondern urban zu verstehen. Das hatte zur Folge, dass man sich der industriellen Produktionsweise zuwandte, die mit ihren universellen Prinzipien der Massenproduktion gemeinhin als das Gegenteil landschaftlicher Eigenart galt.

1.2 Neue alte Landschaften Der Umgang mit urban-industriellen Landschaften sah aber nicht etwa vor, das ausbeuterische Potenzial der Industrie zu begrenzen, vielmehr nahm man eine weitere semantische Operation vor: Zum einen wandte man sich den Brachen der alten Schwerindustrie zu. Hier hatte sich nicht nur eine neue u­ rban-industriell geprägte wilde Natur mit eigener Artenvielfalt etabliert, sondern die alten Industriezonen ließen sich auch als eine neue Art von Kulturlandschaft interpretieren. Deren Eigenart war aber nicht etwa von Landschaftsarchitekten entdeckt worden, sondern von einem Stadtplaner, der wiederum auf die künstlerischen Entdeckungen von Industriefotografen bauen konnte (vgl. differenziert Ganser 1995). Auch die Erkenntnis, dass es auf den urban-industriellen Brachen besondere Naturbestände gibt, war schon seit den 1960er Jahren Gegenstand der Berliner Stadtökologie, schlichtweg deshalb, weil sie seit dem Mauerbau vom ländlichen Umland abgeschnitten war und aus der Not eine Tugend gemacht hatte (dazu Körner 2005). Diese speziell urban-industrielle Natur, die später in den 1980er und 1990er Jahren als spontane Vegetation auf den Stadtbrachen auch in der Freiraumplanung und im Naturschutz Konjunktur hatte, sollte, wie Latz in einem Interview sagte, der Landschaftsarchitektur helfen, eine neue Diskussion über Natur in der Stadt zu erzwingen und das zeitgenössische, noch an ländlichen Idyllen orientierte Naturverständnis zu verändern (vgl. Latz 1999, S. 14). Auch

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hier galt die Maxime, die Stadt als neuen Ort des ‚guten Lebens‘ zu propagieren, zu der notwendig eine spezifische Form von Natur gehören muss, wenn sie großräumig als neue Art von Kulturlandschaft wahrgenommen werden soll. Und auch hier wurde ein künstlerischer Anspruch vertreten, weil durch symbolische landschaftsarchitektonische Projekte ein gesellschaftlicher Wertewandel bezüglich des Naturverständnisses erzwungen werden sollte.8 Doch waren die entsprechenden Gestaltungen nur bedingt so revolutionär, wie suggeriert wurde, denn schon der ‚alte‘ Heimatschutz hatte sich mit den zu seiner Zeit noch neuen Industrien beschäftigt. In den 1990er Jahren bezog man sich dann aber im Gegensatz dazu auf eine ökonomische untergegangene Epoche, deren Artefakte deshalb auch für den Denkmalschutz interessant wurden. Die Landschaftsarchitektur beteiligte sich somit im weitesten Sinne an denkmalschützerischen Strategien und blieb damit, wie man aus ihrer Perspektive sagen müsste, einer rückwärtsgewandten Sichtweise verhaftet. Der ‚alte‘ Landschaftsbegriff blieb in Geltung und wurde lediglich auf urban-industrielle Gebiete ausgeweitet (vgl. Körner 2013, 2016). Deshalb war es nur konsequent, Landschaft theoretisch neu definieren zu wollen. Gesucht war ein endlich fortschrittlicher Landschaftsbegriff, der sich offen zeigt für alle Formen moderner Nutzungen. Er wurde „Landschaft Drei“ (Prominski 2004) genannt.9 Da die konservative Einbindung von Gestaltung in eine vorgegebene kulturelle und natürliche Eigenart, wie sie im traditionellen Verständnis von (Kultur-)Landschaft zentral ist, überwunden werden sollte, wurden die Begriffe Eigenart und Vielfalt durch den Begriff Komplexität ersetzt – moderne Lebensverhältnisse sind ja zweifellos komplex und Komplexität ist nicht einfältig. Damit schien eine Anbindungsfähigkeit an die traditionelle Landschaftstheorie gegeben. Jedoch wurde die Bedeutung von Landschaft umgedreht: Sie wurde möglichst abstrakt definiert, um offen für alles sein zu können. Eine derartige ‚liberale‘ Haltung war vormals gerade zu vermeiden, weil Eigenart das Gegenteil von Beliebigkeit ist. Aber nun wurde Landschaft abstrakt zum

8Latz

würde dies bestreiten. Er hat den Landschaftsarchitekten immer als einen Fachdisziplinen koordinierenden Ingenieur verstanden, was an Alwin Seifert erinnert, der im Landschaftsgestalter eine Art Künstler-Ingenieur sah; vgl. Körner 2001, S. 51–53. 9Unter „Landschaft Eins“ wurde die ursprüngliche Naturlandschaft verstanden, „Landschaft Zwei“ war die herkömmliche Kulturlandschaft und „Landschaft Drei“ die Landschaft der amerikanischen Moderne, von der die Landschaftsgestaltung ähnlich viel lernen sollte wie die Architektur von Las Vegas.

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„System menschgemachter Räume“ und ‚Kultur‘ schien – wie schon bei Mattern – jede menschliche Tätigkeit zu sein. Das klang entschieden modern. Doch war das strategische Interesse, die Landschaftsarchitektur als visionäre Disziplin darzustellen, letztlich so zentral, dass man u. a.10 bei der ‚Theoriearbeit‘ die maßgebliche Quelle, auf die man sich berief, nur oberflächlich studiert hatte: Angesichts der ideologischen Belastung des ‚deutschen‘ Landschaftsbegriffs schienen die Ausführungen des US-Amerikaners J. B. Jackson, der in den 1950er bis 1980er Jahren die Zeitschrift Landscape herausgegeben hatte, angenehm angelsächsisch-pragmatisch und international zu sein. Sein Landschaftsverständnis entpuppte sich aber als geradezu idealtypische Verkörperung des amerikanischen Pioniermythos.11 In Jacksons Lesart von Landschaftsgestaltung brechen die Pioniere zu immer neuen unbekannten Räumen auf und schaffen durch ihre Landnutzungen charaktervolle Räume. Diese müssen aber nicht notwendig vielfältig sein, weil zur amerikanischen Eigenart die eigentlich Raubbau signalisierende Monotonie gehören kann, wie im Corn Belt des Mittleren Westens, der quasi in intensiv genutzter Form eine Wiederauflage der Grasländer der Prärie ist, oder wie im Rastersystem amerikanischer Städte. Da historisch mit dem Erreichen der Westküste die frontier räumlich nicht weiter verschoben werden konnte, wurde die für den Pioniergeist wichtige Grenzverschiebung in die Entwicklung immer weiterer Technologien der Landnutzung durch den Kapitalismus verlagert: Wirtschaftlicher Fortschritt schuf neue Nutzungsformen und damit eine neue Kultur. Die prinzipielle länderkundliche Orientierung der Landschaftsgestaltung blieb aber erhalten. In Landscape wurden daher immer wieder geografische Einheiten von ‚Land und Leuten‘ beschrieben, die zeigten, wie die Menschen weltweit die Erde bewohnten und nutzten. Wegen des länderkundlichen Ansatzes nannte Jackson diese Form von Weltbeschreibung auch Human Geography. Wie für Mattern war ‚Wohnen‘ eine zentrale Kulturhandlung, weil ausgehend von den jeweils immer kulturell typischen Behausungen die Landschaft erschlossen wird. Bei aller Offenheit für andere Kulturen bestand aber für Jackson kein Zweifel

10Der

ganze Umfang der Kritik an dieser ‚neuen‘ Theorie kann hier nicht resümiert werden; siehe die über mehrere Jahre vor allem in der Zeitschrift Stadt und Grün geführte Debatte in Prominski 2006, 2009; kritisch Körner 2005, S. 104–120, 2006, 2009, Eisel 2007, 2008, 2011, auch Eisel und Körner 2009. 11Zentral sind Jackson 1951, 1952a und b, 1984.

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daran, dass der von den weißen Angelsachsen getragene American Way of Life die neue Hochkultur war. (vgl. ausführlich Körner 2010).12 Damit aber war die Landschaftsarchitektur wieder von den alten Geistern eingeholt: Aus dem Norden stammende Pioniere13 schaffen im harten (kapitalistischen) Konkurrenzkampf14 eine typische Kultur. Jackson gelang es somit, die bislang als kapitalistischer Raubbau interpretierte Landnutzung als kulturbildend in das überkommene Paradigma zu integrieren. Das aber übersah die deutsche Landschaftsarchitektur, die damit eine Ideologie der 1950er Jahre als neuesten Schrei der Theoriebildung verkaufte. Es kann daher nicht verwundern, dass – nach starker Kritik – diese angeblich völlig neue Landschaftstheorie wieder in der Versenkung verschwand, auch wenn sich Prominski unlängst, wenn auch rein proklamierend, noch einmal zu Wort gemeldet hat (vgl. Prominski 2019)

1.3 Unerfüllbare Träume und Akzeptanzdefizite Die Tristesse landschaftsarchitektonischer Theoriebildung ist nicht nur intellektuell unbefriedigend und universitätspolitisch untragbar, sondern ihr kulturpädagogischer Ansatz sowie ihre elitäre Konzentration auf Urbanität führte auch dazu, dass man ihr sowohl im Fachdiskurs als auch in den Feuilletons vorwarf, an den Wahrnehmungs- und Gebrauchserwartungen von Freiraumnutzern vorbei zu arbeiten. Während diese oft mehr ‚Grün‘ erwarteten, um sich wohlfühlen zu können und an traditionellen Wahrnehmungsmustern festhielten, leiste Landschaftsarchitektur selbst einen erheblichen Beitrag zur Verödung der Städte (obwohl sie ja das Gegenteil für sich beansprucht) (vgl. Tessin 2008). Dieser Vorwurf wurde auch in einem Interview der Wochenzeitung Die Zeit mit Weilacher laut: „Zeit: Sind Architekten und Landschaftsarchitekten nicht selbst schuld, dass ihr Einfluss schwindet? Man muss doch Angst haben, dass da ein arroganter Kerl kommt, von den Wünschen seiner Kunden nichts hören will – und am Ende ist alles Beton. Weilacher: Ja, dieser Hang zum Overdesign hat viel Vertrauen zer-

12Die

amerikanischen Ureinwohner spielten in dieser Kulturtheorie konsequenterweise allenfalls dann eine Rolle, wenn sie Häuser, also Pueblos, bauten. Keine Rede war hingegen von den Wohnverhältnissen der schwarzen Bevölkerung. 13Im NS waren es die völkischen Wehrbauern, die den Osten kolonisieren sollten. 14Das ist das spezifisch L ­ iberal-amerikanische an dieser Konstruktion. Der Kampf um Lebensraum verlagert sich in den Kampf der Pioniere, die sich als Individuen in einem kapitalistisch geprägten Konkurrenzverhältnis befinden.

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stört. Allzu lange hat sich meine Profession darin gefallen, fast ohne Pflanzen auszukommen. Klingt verrückt, aber: Hier ein Bäumchen, da ein Blümchen, das schien so was Kleinbürgerliches zu haben. Am Ende hatten die Menschen dann das Gefühl: Das ist kein Garten geworden, sondern ein spärlich begrünter Parkplatz.“ (Weilacher 2013, S. 15)15 Dieses „Overdesign“, das mit dem Versiegeln von Flächen die baulichen Bedingungen von Urbanität herstellen will, verwechselt Funktionalität als gelungene Reduktion der Form auf das Notwendige mit einer oberflächlichen gestalterischen Attitüde: Gestalterische Kargheit simuliert dann eine funktionalistische Reduktion der Form und damit gute Nutzbarkeit. Davon ist man aber oft weit entfernt (vgl. Körner 1999). Mit seiner Wortwahl knüpft Weilacher daran an, dass der Begriff Design im Deutschen im Gegensatz zum angelsächsischen Sprachgebrauch den Ruf der Oberflächlichkeit hat, sodass „Overdesign“ wohl eine Art überspannter Substanzlosigkeit bezeichnen soll. Ferner wird deutlich, dass man soziale Distinktion anstrebt: Man will kein kleingeistiger Spießer sein und sich nicht mit ‚Blümchen‘ beschäftigen, sondern mit den ganz großen Fragen des Lebens. Weilachers vorgetragene Demut wird dadurch konterkariert, dass gerade auch er einer derjenigen ist, die von der Landschaftsarchitektur verlangen, sie solle analog zur Kunst durch ‚sperrige‘ Gestaltungen die Wahrnehmungsgewohnheiten der Bevölkerung provozieren. Das gelte auch um den Preis des Scheiterns, weil sich nur so Visionen durchsetzen ließen (Weilacher 2013). Allerdings ist dieser rigorose Anspruch erstens in der Kunst hoch umstritten, weil er allzu oft bloße Attitüde und Marketingstrategie ist, was die Landschaftsarchitektur wohl nicht stören würde (vgl. Demand 2012). Doch zweitens verweigert sich moderne Kunst gerade dem Wunsch nach gesellschaftlicher Sinnstiftung, die Landschaftsarchitektur hingegen nicht. Schon allein deshalb kann sie keine Avantgarde sein. Wegen des Festhaltens an tradierten kulturellen Mustern scheint das Reden über Visionen zur distinktiven Selbstvermarktung geradezu eine Notwendigkeit zu sein, denn sonst müsste man zugeben, dass es letztlich nur geringe Fortschritte gibt. Doch das Ergebnis dieses Redens ist fatal: Die Landschaftsarchitektur stilisiert sich zur besserwisserischen Avantgarde, bleibt aber semantisch den an ‚Landschaft‘ gebundenen traditionellen Wahrnehmungserwartungen und Sinnangeboten verhaftet. Diese werden aber wieder bei den Bürgern als rückständig kritisiert. Man redet also völlig an der sozialen Wirklichkeit, deren Teil man ist, vorbei. Und so versucht man immer wieder, den Widerspruch von

15Es

war tatsächlich eine Weile schick, sich der Ästhetik von Parkplätzen anzunähern.

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a­lltagsweltlicher Nutzbarkeit (im weitesten Sinne) und avantgardistischem Anspruch mit modischen Allgemeinplätzen zu überdecken: „Richtungsweisende Landschaftsarchitektur entwickelt sich heute im Spannungsfeld zwischen Natur und Kultur, zwischen Ordnung und Chaos, sie generiert Gärten und Parks als dynamische räumliche Gefüge. Es sind lebendige Räume, Lebenswelten, welche das jeweils vorherrschende Weltbild, ein zeitgenössisches Lebensgefühl widerspiegeln. Unser Weltbild hat sich jedoch gerade in den letzten Jahrzehnten entscheidend verändert, und so sind auch die Interpretationen der Beziehung zwischen Kultur und Natur vielfältiger und komplexer geworden.“ (Weilacher 2013, S. 16). Diese Formulierungen sollen lediglich den Eindruck zu erwecken, man sei am Puls der Zeit. Auf ihrer Basis proklamiert man umfassende Zuständigkeit, weil solche ‚Positionsbestimmungen‘ zuvorderst fachpolitische Interessen vertreten. Weilacher ahnt zwar die ‚Kosten‘ mangelnder Theoriebildung, wenn er sagt, dass die Frage nach dem Verhältnis von Kultur und Natur, von Gestaltung und Erhaltung, die Frage nach dem fundamentalen Natur- und Umweltverständnis der Menschen nichts Neues sei – gleichzeitig wird aber das Gegenteil suggeriert. Die Schlussfolgerungen aus diesem Widerspruch bleiben nichtssagend: Diese Frage stelle sich eben immer wieder je nach gesellschaftlichen Verhältnissen unter modifizierten Gesichtspunkten (vgl. Weilacher 2013, S. 16). Das kann nicht falsch sein, allerdings ist völlig unklar, was das nun genau bedeutet. Da ‚Theoriearbeit‘ die Aufgabe hat, fachpolitische Ansprüche zu untermauern, muss nicht nur umfassende kulturelle Kompetenz suggeriert werden, sondern es müssen auch alle zustimmen können, obwohl gleichzeitig Distinktion hergestellt werden muss, damit man als „ästhetischer Erzieher des Menschen“ (Schiller) auftreten kann. Das heißt, „dass Grundbegriffe weniger designierende und heuristische Funktionen haben (wenn überhaupt) als vielmehr strategische. Und die erfüllen sie am besten, wenn jeder mit dem, was er schon immer gemacht hat, zustimmen kann. Denn es soll ja jeder mitmachen können. Dafür müssen sie möglichst inhaltsleer sein. Das ist wissenschaftstheoretisch und logisch inakzeptabel. (…) Die Leerformel wird nicht als bedenklich empfunden, sondern als Offenheit (und Wagemut) einer Einstellung zur Welt und zum Fach.“ (Eisel 2011, S. 41)16 So wird Substanzlosigkeit mit visionärer Kraft verwechselt und obwohl

16Eisel

äußert sich hier zu der vermeintlich neuen Landschaftstheorie von Prominski 2004.

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der Anschein geweckt wird, Kühnes zu wagen, steht schon von vornherein fest, was bei den Verlautbarungen am Schluss herauskommen soll, nämlich nichts Neues.17 Da gleichzeitig subdisziplinäre Geschlossenheit und Distinktion hergestellt werden müssen, müssen es die Begriffe gleichzeitig auch erlauben, eine Grenze zwischen uneinsichtigen Kritikern und wohlmeinender Fachgemeinde zu ziehen, sonst gibt es ja keinen ‚Fortschritt‘. Die Leerformeln müssen also paradoxerweise im hohen Maße sowohl umfassende Inklusion als auch Exklusion bewerkstelligen. Das geht nur, wenn das herkömmliche Glaubenssystem der Disziplin so dargestellt wird, als sei es etwas völlig Neues. Das Mitmachen bei der vermeintlichen Modernisierung wird dann zu einer Frage des guten Willens des Einzelnen und entsprechend, wie man in der Debatte über den Begriff Landschaft Drei gesehen hat, Kritik an inhaltlichen Widersprüchen oft sehr persönlich genommen. Da auf einer solchen Basis schwer aufzubauen ist, bleibt Weilacher nur, mehr fachhistorische Forschung und eine entsprechende Untermauerung der Ausbildung zu fordern. Auch das ist sicherlich nicht falsch, denn „ohne Geschichtsbewusstsein wird es keine tragfähige Weiterentwicklung der Landschaftsarchitektur geben“. (Weilacher 2013, S.  15) Allerdings reicht Geschichtsbewusstsein alleine nicht, denn sonst wäre die Theoriearbeit lediglich retrospektiv. Etwas politische Theorie, Philosophie, Planungstheorie, ökologische Theorie, Naturschutztheorie, Gestaltungs- und Kunsttheorie, Wissenschaftstheorie sowie soziologische Wissensbestandteile, wie z. B. Lebensstiltypisierungen oder Milieustudien usw., könnten daher nicht schaden.18

17Ohnehin

besteht die Neigung, ‚alles nicht so eng zu sehen‘. Unabhängig von solch landschaftsarchitektonischen Wagenburgen trifft sich die Kritik an der Kritik solcher Wortblasen auch mit neuerdings an den Universitäten zunehmend aufkommenden Anforderungen an die Form solcher Auseinandersetzungen, also an den Stil, die sich allerdings in keiner wissenschaftlichen Propädeutik finden lassen. Man soll nun ‚wertschätzend‘ auftreten. Wie man wertschätzend kritisiert, was man nicht wertschätzt und deshalb kritisiert, bleibt unklar. Offenbar sind hiermit, da es ja nicht um die Inhalte der Kritik geht, rhetorische Ranken gemeint, die vielleicht die Auseinandersetzung angenehmer machen, aber schnell die nötige Klarheit missen lassen. 18Konsequenterweise sorgte Weilacher daher zur Behebung dieses Defizits an zwei Universitäten für die Einrichtung von Juniorprofessuren, die den Auftrag haben, zur Theoriebildung beizutragen.

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2 Typisches Leben im Freiraum Die Selbstüberhöhung der Landschaftsarchitektur in Form ihres künstlerischen Anspruchs blieb nicht unkritisiert. Jene, die bezichtigt wurden, den Selbsthilfedilletantismus der Menschen zu fördern und damit die Kultur des öffentlichen Raums zu zerstörten, formulierten eine freiraumplanerische Alternative, die einige der bisher behandelten Elemente aufwies. Sie gingen damit aber anders um. Demnach repräsentiert 1. städtisches Leben die aktuelle Technologie menschlichen Zusammenlebens. Der Freiraum wird hierbei durch historische und aktuelle Nutzungstätigkeiten geprägt. 2. Freiraum als Begriff für das professionelle Objekt wird bewusst abstrakt gefasst. Er beinhaltet das konkrete Leben im Raum, ohne es metaphysisch zu überhöhen. Dennoch wird er mit politischer Bedeutung aufgeladen: Er ist dann kein ‚Lebensraum‘, sondern Lebenswelt, die nicht ‚geschaffen‘, sondern in der für Emanzipation ‚der Leute‘ gekämpft wird. 3. Daraus ergibt sich, dass keine ‚hohe Kunst‘ zu betreiben, sondern das ‚normales Leben‘ mit seinen Routinen, den Praxen des Wohnens und Arbeitens, zu unterstützen ist. 4. Das kreative Potenzial von Gestaltung wird in die jeweils individuellen Freiraumaneignungen der Menschen verlagert, die ihren Alltag bewältigen müssen. Damit wird der Wert professioneller Ästhetik relativiert bzw. als überzogene Designorientierung abgelehnt. 5. Der Planer ist kein Kundschafter in vermeintlich neuen Welten, sondern Erforscher von Alltagsnutzungen, d. h. er kartiert typische bauliche Nutzungsstrukturen und Vegetationsbestände, die sich entsprechend dieser Strukturen einstellen. Auf dieser ‚geografischen‘ Wissensbasis agiert er als sparsamer Organisator verbesserter Raumnutzung. 6. Die Begriffe Eigenart und Vielfalt werden in den Wert der Typik transformiert. Ein Typ bezeichnet etwas Individuelles und gleichzeitig ist er eine allgemeine Klassifikation; Pflanzengesellschaften sind z. B. durch Charakterarten bestimmte universelle Einheiten, die aber an verschiedenen Standorten variieren, Industrietypen sind massenhaft reproduzierbar aber individuell abwandelbar. 7. Obwohl mit dem baulichen und natürlichen Bestand schonend umgegangen werden soll, spielt ‚Kultur‘ als Argument keine Rolle, weil Planung keine paternalistische Erziehung ‚von oben‘ herab sein soll, sondern Hilfe zur Selbsthilfe. Der Planer ist dann ein Experte für Sachlösungen.

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2.1 Oikos statt Agora: Die Kasseler Schule Diese idealtypische Position richtet sich nicht per se gegen die ländliche Existenz oder gar gegen das Programm der pfleglichen Behandlung der Kulturlandschaft wie die Landschaftsarchitektur. Fachhistorisch wurde sie von der Kasseler Schule in der Freiraumplanung vertreten, die allerdings auch ihre ‚blinden Flecken‘ hatte. Diese beziehen sich vor allem auf die ästhetisch-symbolische Ebene von Gestaltung. Wie die Landschaftsarchitektur war die Kasseler Schule zwar der Auffassung, dass die städtische Existenz die aktuelle Form der Vergesellschaftung repräsentiert, zog daraus aber nicht die Schlussfolgerung, dass der Freiraum ausschließlich als öffentlicher Raum zu verstehen ist. Das erklärt sich dadurch, dass der Kern der Gesellschaft mit dem oikos19 als Ort der häuslichen Ökonomie des Familienlebens identifiziert wurde (vgl. I. M. Hülbusch 1978, S. 1–70). Von ihm aus erschießt sich die Familie bei ihren Alltagsverrichtungen den Raum, der in privaten, halböffentlichen als ‚Puffer‘ und öffentlichen Raum differenziert wurde. Als wissenschaftliche Basis für die planerische Verbesserung von Freiräumen dienten, neben dem qualitativ zu erforschenden Alltagswissen der Menschen, Wissensbestände, die in der Landschaftsökologie entwickelt wurden, d. h. vorzugsweise in der Vegetationskunde. In Anwendung der Theorie Tüxens wurden Vegetationsbestände als mit Gebrauchsbedeutungen aufgeladene materielle ‚Spur‘ historischer und aktueller Nutzungen sowie als untrüglicher Indikator für die jeweiligen Standortpotenziale gelesen (vgl. Hard 1995).20 Ziel war aber keinesfalls Naturschutz in der Stadt zu betreiben, weil dieser als obrigkeitsstaatliche Aktivität verstanden wurde, die durch Nutzungs-, meist Betretungsverbote, letztlich die Aneignung von Räumen unterbindet. So wurden gewissermaßen typische Einheiten von ‚Land‘ (Freiraumstrukturen und Pflanzengesellschaften) und ‚Leuten‘ (Nutzerverhalten) kartiert, mit dem Ziel, praktisch bewährte architektonische und städtebauliche Typologien herauszuarbeiten, um von ihnen zu lernen. Heraus kam eine Art planungspraktisch relevante ‚Geografie des Alltagslebens‘, die das menschliche Wohnen und Produzieren im Zusammenhang mit seinen räumlichen Kontexten beschrieb.21

19Obwohl

sie den Haushalt nicht so nannte. ist kein Mitglied der Kasseler Schule aber engagierter Sympathisant, der als einziger in der Schriftenreihe der AG Freiraum und Vegetation publizieren durfte. 21Daher ist Hard als Geograf von diesem Ansatz fasziniert. 20Hard

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Das aus den bewährten Vorbildern abgeleitete städtebauliche Ideal war nicht das Einfamilienhaus mit seinem oft schlecht nutzbaren Abstandsgrün, sondern das Reihenhaus, da es nach Ansicht der Kasseler Schule am besten die „Autonomie des Wohnens“ (Bellin-Harder 2017) gewährleistet, weil hier die Zonierung des Wohnens klar ist: Der Übergang von öffentlichem Straßenraum zu den privaten Wohnräumen wird durch den halböffentlichen Vorgarten organisiert und rückwärtig ist jeder Wohnung ein eigener Garten zugeordnet. Als gelungen galten auch gründerzeitliche Quartiere mit ihren durch Alleen und Vorgärten zonierten Straßenräumen, der klaren Trennung von öffentlichen und privaten Räumen und mit ihrer im Laufe der Zeit entstandenen Vegetationsausstattung, der ‚grünen Patina‘, die die Räume gut lesbar macht. Da auch für die Kasseler Schule das Wohnen eine basale menschliche Tätigkeit ist, gehen die aus ihm abgeleiteten Metaphern so weit, dass der Garten als „Außenhaus“, dem das „Innenhaus“ zugeordnet ist, bezeichnet wird (I. M. Hülbusch 1978). Seine zentralen Elemente sind entsprechend das (Baum-)Dach, die (Hecken-)Wand und der Bodenbelag als ‚Fußboden‘ (vgl. Bellin-Harder 2017). Die gesellschaftliche Orientierung der Freiraumplanung hatte das Ziel der Verwirklichung von Emanzipation in Form jener „Autonomie des Wohnens“. Das implizierte weitgehende Selbsthilfe und -versorgung. Daher konnte die Rolle der Planung nur eine unterstützende sein, sodass die Freiräume mit sparsamen Mitteln behutsam zu verbessern waren. Verbesserungen sollten mit „minimalen Eingriffen“ (Burckhardt 1985) in die Lebenswelt vorgenommen werden, womit nicht gestalterische Originalität, sondern das Anknüpfen an das alltäglich Brauchbare, oft das historisch Bewährte und lebensweltlich Gewohnte, mithin Gewöhnliche, gemeint war (vgl. Körner 1997). Dem Wert visionären Gestaltens wurde keinerlei Bedeutung zugemessen, es galt als oberflächlicher ‚schöner Schein‘. Trotz des politischen Eintretens für Emanzipation wies dieser Ansatz konservative Elemente auf, nicht nur, was das Familienbild und das Wohnen auf der (eigenen) Scholle betraf, sondern vor allem, weil Nutzungstraditionen ein hoher Stellenwert beigemessen wurde. Da der oikos zentral war, galt Urbanität als Lebensform nichts. Die Stadt ist im Grundsatz eine Ansammlung autonomer Selbstversorger, die aber in einer arbeitsteiligen Gesellschaft die Dienstleistungen anderer nutzen. Sie wird nicht als räumlicher Gegensatz zur Natur aufgefasst, vielmehr zeigte die Kasseler Schule parallel zur Berliner Stadtökologie (vgl. Körner 2005, S. 63–77), dass die Stadt eigene Naturformen aufweist (vgl. Kienast 1978). Da sich die gestalterische Attitüde durch möglichst versteinerte Räume Urbanität zu symbolisieren verbot, weil das lebensweltliche Spuren gelöscht hätte und der Primat des sparsamen Mitteleinsatzes galt, wurde der Einsatz von kostengünstigen und im Grund-

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satz vegetationsfähigen wassergebundenen Platz- und Wegebelägen aus lokalen Materialien präferiert. Die Verwendung lokaler Materialien leitete sich nicht aus einem Interesse an der Erhaltung einer Eigenart ab, sondern war praktisch begründet: Transportkosten konnten so gering gehalten werden. Da die Flächen nur teilversiegelt waren, konnten sich auf diesen Belägen nicht nur Gebrauchsspuren als Abnutzungen abbilden, sondern auch in nichtgenutzten Bereichen sukzessive von selbst Vegetation aufkommen. Beides diente der Orientierung im Freiraum, weil man seine Funktionen ablesen konnte. Zudem reduzierten die verwendeten Schottermaterialien die Produktivität der Standorte, weil die bei der Pflege anfallende Biomasse in der Stadt nicht genutzt wird, sondern letztlich teuer zu entsorgender Abfall ist. Es wurde daher nicht zwischen gärtnerischer Vegetationsfläche mit nährstoffhaltigem Substrat und mineralischem Wegebelag unterschieden, sondern grundsätzlich überall Begehbarkeit und die Möglichkeit von Zonierungen durch den Gebrauch hergestellt. Um die Vegetation im alltäglichen Gebrauch der Freiräume zu lesen, musste man kein Fachmann sein, denn bestimmte Formen bilden Physiognomien aus, die auch Laien erkennen, wie Trittrasen, Brachefluren, und Gehölze. Die Vegetation sollte daher nicht ‚geschützt‘ werden, weil sie nutzungsangepasst war, aber dennoch wurde dem pfleglichen Umgang mit ihr – insbesondere auch mit der gepflanzten Vegetation – zur Erhaltung der Investition ein hoher Stellenwert beigemessen. Auch hier galt das Prinzip des einfachen Mitteeinsatzes, sodass Pflege auf ein notwendiges Maß zu reduzieren war. ‚Gestaltet‘ wurde daher nur sehr bedingt, nämlich in der Auswahl der Wegematerialien, der Anordnung von Bäumen und Hecken und in der Pflegetechnik, weil man die Stadtbäume nach historischen Vorbildern hoch aufastete, damit sie städtische Nutzungen nicht behinderten. Sie unterschieden sich dann deutlich von Landschaftsbäumen mit niedrig angesetzten Kronen, die z. B. als Weidebäume dienten. Da sich die Gestalt eines Freiraums und seiner Elemente aus seiner Funktion oder Nichtfunktion ergeben sollte, sollte nichts ‚verschönert‘ werden. Im Umgang mit der Vegetation hieß das grundsätzlich, dass sie sich je nach Nutzung oder Nichtnutzung einstellen sollte.22

22Entsprechend

sieht auch der Reihenhausgarten von Hard aus: Eine umgebende Hainbuchenhecke bildet den Rahmen, ein Fliederwildling steht auf der stirnseitigen Grenze. Ihn überwuchert ein Schlingknöterich unbekannter Herkunft. Dort, wo normalerweise Rasen ist, wachsen spontan gekommene Kanadische Goldruten und zwei Weidenbüsche. Dazwischen rankt noch Wilder Wein. Die Pflege reduziert sich auf den einjährigen Schnitt der toten Stängel der Goldruten und auf das aus der traditionellen Heckenpflege bekannte Auf-den-Stock-Setzen der Weiden im Frühjahr sowie einen nicht sehr engagierten Heckenschnitt von Zeit zu Zeit.

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2.2 Schöne ‚Blumen‘ So ganz hielt man diesen Purismus aber nicht durch. In den öffentlichen Flächen der damaligen Gesamthochschule Kassel wurden in die spontanen Staudenfluren verwilderungsfähige und schön blühende Wildarten von Trockenrasen aus dem Kasseler Umland sowie robuste Gartenstauden eingebracht. Offenbar sollte ästhetisch signalisiert werden, dass es sich bei den Flächen nicht um Brachen handelte, auf denen z. B. Müll entsorgt werden konnte. Die Technik des Abmagerns mit Schotter und der Rückschnitt der spontan gekommenen und künstlich angesiedelten verwilderungsfähigen Pflanzen im Spätwinter bis Frühjahr nahm die Kasseler Schule auch viel von der aktuellen naturalistischen Pflanzenverwendung vorweg, die zwar häufig mit praktischen Gesichtspunkten von Pflegeleichtigkeit argumentiert, vorrangig aber ästhetisch motiviert ist, d. h. naturnahe Bilder von Pflanzenbeständen entwerfen will. Die Kasseler Schule entwarf zwar nicht, konnte aber bei aller gestalterischen Zurückhaltung nicht verhehlen, dass es erstens doch darauf ankommt, dass Ansaaten und Pflanzungen ‚schön‘ sind, um die Verwechslung mit Brache und damit unliebsame Nutzungen dadurch zu vermeiden, dass signalisiert wird, dass ein gewisser, wenn auch sparsamer, Aufwand getrieben wird, und dass zweitens auch ihre Art der Pflanzenverwendung eine symbolische Ebene hatte, die durch ihre weltanschaulichen Präferenzen geprägt war: Die von selbst kommende Vegetation wurde als natürliches Äquivalent der selbstbestimmten Aneignungstätigkeiten der Menschen angesehen, sodass sich die städtische „Spontankultur“ (Sauerwein 1995a) in der spontanen Natur der Stadt spiegelte. Wenn also aus praktischen Gründen nicht einfach bei möglichst minimaler Pflege der Natur freien Lauf gelassen wurde, dann musste aber auch die geplante spontan wirken, d. h. ‚wild‘ und ‚schön‘ sein. Das trifft auf die Arten des Trockenrasens und auf verwilderungsfähige Gartenpflanzen zu. Pflanzenverwendung ist dann ebenfalls sparsame Gestaltung, weil die Verschönerung nicht so weit getrieben werden darf, dass der Charakter der Spontanvegetation verloren geht. Zudem sorgte die Verwilderungsfähigkeit der eingesetzten Arten auch dafür, dass sich die Pflanzungen und Ansaaten von selbst regenerieren konnten. Allerdings war es für die Kasseler Schule ein Tabu zuzugeben, dass die Pflanzenverwendung, wie auch Planung allgemein, eine ästhetische und symbolische Ebene hat (vgl. Körner et al. 2002). Insofern nahm auch diese Position bei aller Lebensnähe ideologischen Charakter an, der mit einem erheblichen Konformitätsdruck innerhalb der Schule einherging. Dieser allein stellte

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schon die Idee des autonomen Subjekts infrage und führte dazu, dass die Kasseler Schule zunehmend einer Sekte glich.23

3 Theorie und Ästhetik des Gebrauchs und ihre Erforschung Aktuell scheint die Freiraumplanung als Tätigkeitsfeld in der Landschaftsarchitektur aufzugehen, sieht man vielleicht davon ab, dass soziale Phänomene wie Urban Gardening die klassische Landschaftsarchitektur wenig interessiert. Denn mit der in den 1990er Jahren einsetzenden Diskussionsmüdigkeit und Abwehr übertriebener Politisierung von Planung verschwimmen die Grenzen zwischen beiden Subdisziplinen. Die entschiedene politische Opposition zur Gestaltung verschwand damit ebenfalls. Das führte dazu, dass Theoriebildung auch in der Freiraumplanung Mangelware wurde. Auch hier gibt es Anzeichen, dass diese nur noch simuliert wird. So bezieht sich Hennecke auf den von Bellin-Harder (2017) dargelegten Widerspruch zwischen dem mit dem Begriff Freiraum verbundenen metaphorischen Versprechen einer Autonomie der ‚Betroffenen‘ und normierender Planung durch professionelle Planer und führt aus: „Das mit Robert Musils Mann ohne Eigenschaften zu durchdenkende dialektische Potential des Begriffs, der das Assoziationsfeld von ‚Freiraum‘ – als Raum der Freiheit und der nicht begrenzten Möglichkeiten – an ‚Planung‘ – als rationaler, auf Zielerreichung in der Wirklichkeit orientierter Tätigkeit – koppelt, harrt bisher noch der Thematisierung.“ (Hennecke 2019, S. 226) Wenn hier mehr als eine rhetorische Girlande geflochten wird, dann fragt sich, was das eigentlich heißen soll. Ulrich, die Hauptfigur des angesprochenen Romans, scheut jede Festlegung und nimmt bei seiner erfolglosen Suche nach dem Sinn des eigenen Lebens in der in sich kreisenden k. u. k. Monarchie ‚Urlaub vom Leben‘, um sich treiben lassen zu können. Treibenlassen kann aber wohl kaum ein guter Rat für Forschung und Freiraumplanung sein, auch wenn die Vermeidung von Festlegungen zum Netzwerken und zum Anhängen an allerlei modische Themen und Projekte befähigen mag, somit also in der heutigen universitären Landschaft durchaus Erfolg versprechend sein kann. Eine solche ‚Wissenschaft ohne Eigenschaften‘ wäre aber ganz offensichtlich Humbug, weil Wissenschaft u. a. Streit identifizierbarer Positionen sowie Erarbeitung methodisch gesicherten und damit verallgemeinerungsfähigen, in anwendungsbezogenen Disziplinen auch kontextualisierten Wissens ist. Da solcherart verallgemeinertes Wissen überprüfbar und kritisierbar ist, bedingt es Nachvollziehbarkeit und Trans23Sie

hält heute zwar gelegentlich noch Veteranentreffen ab, hat sich im akademischen Diskurs aber selbst marginalisiert; vgl. Körner 2015.

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parenz. Dagegen führt zu purer Willkür, wenn ‚alles geht‘, denn das, um was es dann eigentlich geht, hat, wie Frankfurt in seiner philosophischen Annäherung an den Bullshit erklärt, „nichts damit zu tun, wie die Dinge, über die er (der Bullshitter; S. K.) spricht, in Wahrheit sind“. (...) „Es ist ihm gleichgültig, ob seine Behauptungen die Realität korrekt beschreiben. Er wählt sie einfach so aus oder legt sie sich so zurecht, daß (sic!) sie seinen Zielsetzungen entsprechen.“ (Frankfurt 2019, S. 41) Und das heißt Fachpropaganda und Selbstvermarktung als gedanklichen Tiefgang auszugeben, wobei die Freiraumplanung einen Verstoß gegen ihre originären politischen Werte weit weniger gut als geniales Wirken avantgardistischer Geister tarnen kann als die Landschaftsarchitektur. Daher sollte man sich bei aller Kritik am Sektencharakter der Kasseler Schule wieder daran erinnern, dass diese, ohne die Landschaft oder die Stadt als Lebensorte zu überhöhen, eine weitgehend konsistente Alternative zu einer überzogen avantgardistisch auftretenden Landschaftsarchitektur vorgelegt hat und daher ein guter Anknüpfungspunkt für ein Gestaltungsverständnis ist, das alltägliche Praxen und Raumidentitäten gerade dort empirisch erfasst, wo andere nur grauen Alltag sehen. Da für die Kasseler Schule die Gestalt von Freiräumen und Freiraumelementen vom Gebrauch her bestimmt werden soll, könnte man sie für einen Ableger des Funktionalismus halten, zumal sie sich auf Migge berief. Dies geschah allerdings nicht wegen dessen Theorie architektonischer Gartengestaltung24 als Ausdruck bewährter Typik im Zeitalter industrieller Massenfertigung, sondern wegen dessen Lob des lebensweltlich kompetenten Laien und der darauf fußenden Kritik an den Gartenämtern, die staatlicherseits ‚von oben herab‘ planten (vgl. Migge 1913). Da aber der Funktionalismus nach dem Zweiten Weltkrieg einen ausschließlich technisch-ökonomischen, d. h. utilitaristischen Charakter annahm und brauchbare Formen standardisierte, indem isolierte Funktionen optimiert wurden, sodass im Städtebau z. B. Produktion und Reproduktion getrennt und damit die ‚Einheit der Lebenswelt‘ auseinander gerissen wurde, hätte die Kasseler Schule eine entsprechende Einschätzung ihrer Arbeit vehement abgelehnt. Und doch steht sie dem Funktionalismus näher als sie denkt, und zwar nicht der utilitaristischen, sondern – horribile dictu – der gestalterisch individualisierenden Variante, wie sie in den 1920er Jahren – auch von Migge – noch vertreten wurde. Da aber Gestaltung als elitär galt und man daher offenbar entsprechende Passagen in Migges Buch überlesen hatte, wo ausführlich vom Wesen verschiedener Gärten und ihrer Erstellung als Bauaufgabe

24Den

Beruf des Landschaftsarchitekten gab es damals noch nicht.

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die Rede ist, wobei die Typen dann Verallgemeinerungen dieses Wesens sind, setzte man lediglich auf die handwerklich solide Ausführung von Planungen.25 Jenseits der Debatte über Funktionalismus bietet sich aber als gemeinsamer Nenner der Theoriebildung von Landschaftsarchitektur und Freiraumplanung eine noch viel ältere Tradition an, nämlich die der Landesverschönerung, die eine Verbindung von Schönheit und Zweckmäßigkeit vorsah (vgl. Däumel 1961). In der Summe ist Gestaltung dann Gebrauchsdesign für städtische und ländliche Lebenswelten, ohne metaphysische Überhöhung des Lebens.26 Die Erforschung der lebensweltlichen Praxis kann dann nicht erfahrungswissenschaftlich-verallgemeinernd geschehen, sondern muss, da ja immer wieder individuelle Verhältnisse studiert werden, in einem hermeneutischen Interpretationsakt erfolgen, weil diese Verhältnisse immer nicht nur materielle Sachverhalte repräsentieren (Nutzungsstrukturen und Vegetationstypen), sondern auch mit (politisch beeinflussten) Sinnangeboten verbunden sind. Das zentrale und immer wieder neu ausgelegte Motiv von Gestaltung bleibt aber cultura als pflegliche, heute würde man auch sagen ‚nachhaltige‘ Beheimatung in der Welt.

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25Pflanzenverwendung

wurde daher auch Vegetationshandwerk genannt; vgl. Sauerwein 1995b/96. 26Die freilich bei Migge aufgrund seiner lebensphilosophischen Prägung ebenfalls eine große Rolle spielt. Das Leben entäußert sich dann im Gartenleben der Menschen und in der wachsenden Entfaltung der Pflanzen.

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