Architektur und Philosophie: Grundlagen. Standpunkte. Perspektiven. [1. Aufl.] 9783839424643

As a metaphor for logical and constructive activity, architecture has always played a central role in philosophy. Ever s

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German Pages 292 Year 2015

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Architektur und Philosophie: Grundlagen. Standpunkte. Perspektiven. [1. Aufl.]
 9783839424643

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Architektur und Philosophie
Grundlagen
Gründen und Abreißen. Der Platz der Architektur im System der Philosophie
Condicio architectonica: Zum Verhältnis von Philosophie und Theorie der Architektur
Architekturphilosophie: Ihre Abgrenzung von der Architekturtheorie und Verortung in der Philosophie
Architektur mit dem Körper denken. Zu einer kritischen Anthropologie der Architektur
Überlegungen zu Architekturphilosophie und Erkenntnistheorie
Standpunkte
Die Aufgabe der Architektur in der Zeit des Weltbildes. Eine unzeitgemäße Betrachtung
In welchem Style sollen wir philosophieren? Ziel und Methode der Architekturphilosophie
Konzepte des Selbstbewusstseins in Architekturtheorie und Philosophie. Die Fichte-Rezeption des frühen Schinkel
Neopositivismus und Neues Bauen: Zur Entdeckung einer „inneren Verwandtschaft“
Perspektiven
Das Geländer
Perspektiven architekturphilosophischer Entwurfsforschung
Grundrisse einer Architekturontologie
Palimpseste in der Architektur. Ein symboltheoretischer Zugang
Improvisation in der Architektur. Einige philosophische Überlegungen
Anmerkungen
Anmerkungen Jörg H. Gleiter, Ludger Schwarte
Autoren
Architektur Denken

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Jörg H. Gleiter, Ludger Schwarte (Hg.) Architektur und Philosophie

Architektur Denken 8



Architektur Denken

Architekturtheorie und Ästhetik

Herausgeber: Jörg H. Gleiter, Berlin Beirat: Gerd de Bruyn, Stuttgart

Kurt W. Forster, Como / New Haven Matthias Sauerbruch, Berlin Philip Ursprung, Zürich

Jörg H. Gleiter, Ludger Schwarte (Hg.)

Architektur und Philosophie Grundlagen. Standpunkte. Perspektiven.

Unter Mitarbeit von Sandra Meireis

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elek­ tronischen Systemen. Umschlaggestaltung & Innenlayout: Philipp Heinlein, München Printed in Germany ISBN 978-3-8376-2464-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: www.transcript-verlag.de. Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected].

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Inhalt

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Einleitung Jörg H. Gleiter, Ludger Schwarte Architektur und Philosophie

Grundlagen 21 Ludger Schwarte Gründen und Abreißen. Der Platz der Architektur im System der Philosophie

39 Jörg H. Gleiter Condicio architectonica: Zum Verhältnis von Philosophie und Theorie der Architektur

58 Christoph Baumberger

Architekturphilosophie: Ihre Abgrenzung von der Architektur­ theorie und Verortung in der Philosophie

74 Kirsten Wagner Architektur mit dem Körper denken. Zu einer kritischen Anthropologie der Architektur

93 Jan Bovelet Überlegungen zu Architekturphilosophie und Erkenntnistheorie Standpunkte 105 Karsten Harries

Die Aufgabe der Architektur in der Zeit des Weltbildes. Eine unzeitgemäße Betrachtung

128 Christian Illies

In welchem Style sollen wir philosophieren? Ziel und Methode der Architekturphilosophie

151 Petra Lohmann Konzepte des Selbstbewusstseins in Architekturtheorie und Philosophie. Die Fichte-Rezeption des frühen Schinkel

162 Peter Bernhard Neopositivismus und Neues Bauen: Zur Entdeckung einer „inneren Verwandtschaft“

Perspektiven 177 Hannes Böhringer Das Geländer 185 Sabine Ammon Perspektiven architekturphilosophischer Entwurfsforschung 196 Christian Kremer Grundrisse einer Architekturontologie 207 Remei Capdevila-Werning Palimpseste in der Architektur. Ein symboltheoretischer Zugang 218 Alessandro Bertinetto Improvisation in der Architektur. Einige philosophische Überlegungen

237 Anmerkungen 285 Autoren

Einleitung

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Jörg H. Gleiter, Ludger Schwarte

Architektur und Philosophie In der Geschichte der Philosophie spielt die Architektur als Metapher planmäßigen Handelns und logisch-konstruktiver Tätigkeit schon immer eine zentrale Rolle. Aristoteles verwies für seine Erklärung des Handelns auf die Tätigkeit des Baumeisters und bezeichnete in der Nikomachischen Ethik ein „architektonisches, leitendes Vermögen“1 als grundlegend für die Staatskunst. Immanuel Kant bezog sich in seiner transzendentalen Methodenlehre auf die „Architektonik der reinen Vernunft“ und beschrieb die Architektonik als „Kunst der Systeme“.2 Auch Friedrich Nietzsche bediente sich vielfältiger architektonischer Metaphern und sprach vom „große[n] Bau der Begriffe“,3 vom „unendlich complicirte[n] Begriffsdom“4 und vom „Turmbau der Wissenschaft“,5 bis 1888 die Stadt Turin und ihre Architektur ins Zentrum seiner Aufmerksamkeit traten und als Teil seiner leibphänomenologischen Wende6 selbst zum Thema der Philosophie wurden. Seit der Krise der modernen Architektur in den 1960er Jahren sind verstärkt Ansätze zu erkennen, die jenseits von Architekturund Kunstgeschichte die Frage nach der kulturellen Funktion der Architektur unter philosophischen Gesichtspunkten kulturkritisch zu erweitern versuchen. Dazu gehören phänomenologische Ansätze bei Christian Norberg-Schulz (Intentions in Architecture, 1963), anthropologische Ansätze bei Christopher Alexander (Notes on the Synthesis of Form, 1967) und neo-marxistische Ansätze bei Manfredo Tafuri (Teorie e storia dell’architettura, 1968), aber auch sprachphilosophische Ansätze bei Charles Jencks (The Language of Post-modern Architecture, 1977) sowie ästhetische Ansätze bei Roger Scruton (The Aesthetics of Architecture, 1979).7 Mit dem Aufkommen der digitalen Technologien zu Beginn der 1990er

Jörg H. Gleiter, Ludger Schwarte – Architektur und Philosophie

Jahre wurde die Architektur zunehmend im Kontext erkenntnisund wissenschaftstheoretischer Ansätze untersucht. Seither hat sich in der Philosophie wie auch in den benachbarten Disziplinen der Soziologie (Delitz, Fischer, Löw)8 und der Literatur- und Kulturwissenschaft (Wirth, Weigel, Günzel)9 – in Absetzung zu den verschiedenen medientheoretischen Ansätzen – das Interesse an der Architektur intensiviert. Deren Verhältnis zum fachwissenschaftlichen Diskurs der Architekturtheorie wie auch zur Architekturgeschichte ist bislang aber nicht hinreichend geklärt. Es muss festgestellt werden, dass bisher eine integrale Form der architekturphilosophischen Reflexion oder auch nur eine gemeinsame Diskussionsebene fehlt, die der Rolle der Architektur als jener zentralen Kulturtechnik gerecht würde, mit der sich der Mensch eine ihm je angemessene, von der Natur verschiedene Lebenswelt schafft. Die verschiedenen philosophischen Ansätze scheinen aber oft gerade zu Positionen zu führen, die mit den künstlerischen und praktisch architektonischen Konzepten unversöhnlich sind. Ähnliches lässt sich bereits an den verschiedenen sprachphilosophischen Ansätzen der Postmoderne und des Dekonstruktivismus beobachten, die zu so unterschiedlichen Positionen in der Architektur führten wie denjenigen von James Stirling und Robert Venturi, Peter Eisenman und Aldo Rossi. Hier setzt Architektur und Philosophie an. Die im Band 8 der Reihe ArchitekturDenken versammelten Aufsätze wollen die vorhandenen architekturphilosophischen Ansätze mit der Architekturtheorie wie auch mit den soziologischen, kultur-, kunst- und literaturwissenschaftlichen Forschungsrichtungen ins Gespräch bringen. Sie tun dies auch vor dem Hintergrund der These, dass architekturphilosophische Fragestellungen angeblich nur in Zeiten krisenhafter Zuspitzung ins Bewusstsein der Architektur treten würden. Das aber wird dem Stellenwert der Architektur im kulturellen Ganzen nicht gerecht. Gerade der philosophische Diskurs der Moderne zeigt, dass die Architektur konstant eine bedeutende Rolle in der Neuausrichtung des philosophischen Denkens im 20. Jahrhundert spielte, wie auch umgekehrt, die Philosophie wesentlichen Anteil an der Rekonzeptualisierung der Architektur in der Moderne hatte. Als Leitkunst der frühen Moderne und als eine die menschliche Lebenswelt konstituierende kulturelle Praxis gehen seit Ende des 19. Jahrhunderts von der Architektur entscheidende Impulse

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für die Philosophie aus wie zum Beispiel für die Phänomenologie, die Anthropologie, die Epistemologie wie auch für die analy­ tische Philosophie. So ist Edmund Husserls „Analyse der Wahrnehmung“10 ohne Einsicht in die Bedeutung des architektonischen Raums für die Stellung des Menschen in der Welt nicht vorstellbar. Husserls Phänomenologie knüpfte unmittelbar an die Vorarbeiten der Kunstgeschichte und Ästhetik und hier besonders an die verschiedenen Einfühlungstheorien von Robert Vischer, Heinrich Wölfflin, Theodor Lipps und Wilhelm Worringer an, jedoch in bewusster Absetzung von deren physiologischen wie psychologischen Konzeptionen.11 Auch Ernst Blochs „Grundrisse einer besseren Welt“,12 Karlfried Graf von Dürckheims Untersuchungen zum gelebten Raum,13 Helmuth Plessners Anthropologie der Sinne,14 Friedrich Bollnows Mensch und Raum15 und Erwin Straus’ Psychologie der menschlichen Welt16 sind nur vor dem Hintergrund der architektonisch-konzeptuellen Transformationen verständlich, die sich im Zuge des Neuen Bauens, von Bauhaus und Sachlichkeit im 20. Jahrhundert in der Architektur vollzogen. Ähnliches gilt für die analytische Philosophie, die der Beschäftigung Ludwig Wittgensteins mit der modernen Architektur, allem voran mit dem Entwurf und Bau des Hauses seiner Schwester Margarethe Stonborough-Wittgenstein, wichtige Einsichten verdankt. Die Bedeutung der Architektur als Ausgangspunkt philosophischer Fragestellungen zeigt sich bei Friedrich Nietzsche. 1888 wandelte sich Nietzsche vom Spaziergänger in den Wäldern und Wiesen des Oberengadins um Sils-Maria zu einem unter den Arkaden Turins spazierengehenden und philosophierenden Städter – nicht unähnlich Sokrates und damit jenem Philosophen, der bevorzugt auf dem Marktplatz und in der Stoa Athens philosophierte. In leibphänomenologischer Wende, wie sie sich später auch bei Martin Heidegger oder Ludwig Klages zeigte, berichtete Nietzsche, dass er „nirgendswo mit so viel Vergnügen spazieren gegangen [sei] als in diesen vornehmen unbeschreiblich würdigen Straßen“.17 Er war von sich selbst überrascht, den „einen Ort zu haben, wo man nicht heraus will, nicht einmal in die Landschaft, wo man sich freut, in den Straßen zu gehen! – früher hätte ich’s für unmöglich gehalten“.18 An Nietzsche schließen die phänomenologischen und anthropologischen Ansätze von Maurice MerleauPonty, Friedrich Bollnow, Elisabeth Ströcker, Lenelis Kruse und Walter Benjamin an. Deren Werk, besonders aber Benjamins

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Passagenwerk, lassen sich als architekturphilosophische Projekte rekonstruieren. Gerade die Moderne ist durch die wechselseitige Öffnung von Philosophie und Architektur geprägt. Mit der Aufgabe metaphy­ sischer Letztbegründungen in der Philosophie und mit der Entstehung der Großstadtkultur der modernen Metropole wurden im 19. Jahrhundert Philosophie und Architektur füreinander durchlässig. Seitdem stellen Architektur, Städtebau und Landschaft – insofern sie den materiell-räumlichen Hintergrund für die Alltagspraktiken bilden – den Fluchtpunkt des philosophischen Erkenntnisdrangs dar. Die in diesem Band versammelten Aufsätze werden aus wechselnden Perspektiven die verschiedenen architekturphilosophischen Ansätze sondieren und ihre Stellung im allgemeinen, kulturellen Kräftefeld untersuchen. Es geht sowohl um die Rolle der Architektur im philosophischen Diskurs der Moderne, wie umgekehrt um die Architektur als Medium philosophischer Reflexion. Bislang lassen sich in dieser Hinsicht für die architekturphilosophische Reflexion eine (a) ästhetische, (b) sprachanalytische, (c) phänomenologisch-anthropologische, (d) politische und (e) erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Ausrichtung unterscheiden. (a) Der ästhetische Ansatz spricht von der Architektur als einer besonderen, weil räumlichen und materiellen Objektklasse sinn­ licher Wahrnehmung. Es geht nicht darum, wie gebaut werden soll oder kann, sondern wie Architektur mittels unserer Sinne wahrnehmend erfahren wird.19 Sinnliche Wahrnehmung meint damit nicht allein das Sehen, sondern geht darüber hinaus im Sinne einer polyästhetischen Erfahrung, die alle Sinne wie den Tast-, Hör-, Geruchsund Gleichgewichtssinn einschließt. Gerade die Kombination von funk­tionalen, konstruktiven und künstlerischen Elementen kennzeichnet das, worauf sich traditionell die ästhe­ tische Anerkennung von architektonischem Erfolg richtet.20 Dabei ist es kein Zufall, dass mit den funktionalen, konstruktiven und künstlerischen Elementen die vitruvianische Trias von utilitas (Funktion), firmitas (Konstruktion) und venustas (Schönheit) bezeichnet wird. Gottfried Semper spricht daher mit Bezug auf die Architektur von einer „praktischen Ästhetik“.21 Allgemein gilt, dass der ästheti­sche Ansatz der Architekturphilosophie die Architektur, die Stadt und die gebaute Umwelt als Ganzes aus der eingeschränkten Perspektive der Ästhetik als Wissenschaft von der sinnlichen Erkenntnis betrachtet. Aus

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heutiger Perspektive stellt sich dann einmal mehr die Frage, wie mit Expressionismus, Konstruktivismus, Surrealismus und Neue Sachlichkeit im Kontext des Wandels der Konzeption der Kunst in der Moderne sich auch die Konzeption der Architektur als schöne Baukunst sich veränderte. Im Sinne von Alexander Gottlieb Baumgarten gilt: „Aes­thetica (theoria liberalium artium, gnoseologia inferior, ars pulcre cogitandi, ars analogi rationis,) est scientia cognitionis sensitivae.“22 Ästhetik ist demnach erstens eine Theorie der (Bau-) Kunst (theoria liberalium artium), zweitens eine Reflexion über das Schöne (ars pulcre cogitandi) und drittens eine Reflexion über die sinnliche Erkenntnis (ars analogi rationis). Als Wissenschaft ist sie dabei eine gnoseologia inferior, also im Gegensatz zu Philosophie und Naturwissenschaften eine niedere Erkenntnisform. In die Kategorie der niederen Erkenntniswissenschaft gehören für Baumgarten Oper und Roman, Witz und Karikatur, aber auch Malerei und Architektur. (b) Dem sprachanalytischen Ansatz zufolge können Gebäude als Formen sprachlicher Äußerungen, das heißt zeichenhafter Erscheinungen angesehen werden. Der sprachanalytische Ansatz geht von einer Sprachähnlichkeit der Architektur aus. Dem sprach­ analytischen Ansatz nach besitzt die Architektur wie die Sprache auch eine semantische, syntaktische und pragmatistische Ebene. Architektur vermittelt Bedeutung, sie ist strukturbildend und ruft Wirkungen hervor. Diese Wirkungen sind durchaus ethischer Natur.23 Dies war auch die zentrale Aussage von Charles Jencks’ Buch Die Sprache der postmodernen Architektur (1979). Jencks führte den Begriff der Doppel- oder Mehrfachkodierung in die Architektur der Postmoderne ein, wobei er in vielen Aspekten noch vor die Semiotik zurückging und auf die Rhetorik rekurrierte. Der sprachanalytische Ansatz geht davon aus, dass Bauwerke analog zu sprachlichen Äußerungen analysierbar sind. Wobei jedoch unterschlagen wird, dass sich die architektonischen Zeichen von den sprachlichen Zeichen unterscheiden. Während sprachliche Zeichen im Sinne von Augustinus’ aliquid stat pro aliquo in der Regel immer auf etwas Abwesendes verweisen, was sie selbst nicht sind, verweisen architektonische Zeichen immer zuerst auf sich selbst und erst nachgeordnet auf anderes. Im Unterschied zu jenen sind sie keine arbiträren Zeichen.24 In der materiellen und situativen Präsenz bezeichnen Tür, Fenster, Dach oder Korridor

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in erster Linie sich und damit die Sache selbst. Über ihre materielle Präsenz als Zeichen verweisen sie, in diesem Falle den sprach­ lichen Zeichen durchaus ähnlich, aber auch auf Abwesendes. Man kann vom doppelten Anzeichencharakter der architektonischen Zeichen sprechen, wo diese einerseits ihre Funktion oder die Möglichkeit ihres Gebraucht-werdens anzeigen, wie andererseits in ihnen in der Regel auch ihr materielles und konstruktives Gemacht-sein sich zeigt. Das ist mit dem doppelten Anzeichencharakter der Architektur gemeint,25 denn die architektonischen Zeichen haben, wie Nelson Goodman zu versuchen zeigt, nicht nur Ausdruck, bei dem die konkrete Materialität relevant ist.26 Wo jede Architektur einerseits ihr Gemacht-sein in Bezug auf den vergangenen materiellen Herstellungsprozess anzeigt, wie auch andererseits ihr Gebraucht-werden im Sinne der Möglichkeit zukünftigen Benutzt-werdens anzeigt, muss eine Theorie der architektonischen Zeichen auch die architektonische Funktion und den Kontext als Zeichenfunktion in sich aufnehmen. Wo die materielle Präsenz und die konkrete Situation des Zeichens ein wesentliches Merkmal für das Zeichenverständnis der Architektur sind, zeigt sich der Architekt als Entwerfer von Anzeichen. (c) Die phänomenologisch-anthropologische Reflexion der Architektur hat die phänomenologische Erfahrung des Menschen im Raum zu ihrem Thema. Seit Heinrich Wölfflin und August Schmarsow27 wurde die Architektur – in der Abkehr ihrer Konzeption als Objekt – als eine Praxis der Produktion von Raum verstanden, mit der Reflexion über die raum-leibliche Erfahrung des Menschen darin als ihrem Zentrum. Gegenüber der Ikonographie und der Stilgeschichte stellte dies eine Wende in der Konzeption der Architektur dar. Schmarsow beispielsweise verstand den architektonischen Raum als Entwurf in Analogie zum mensch­ lichen Körper. Auf ihn geht der Begriff der Architektur als Raumbildnerin zurück. Wie später auch Paul Klopfer verstand er den architektonischen Raum als Tast-, Geh- oder Sehraum.28 Es war Husserl, der die Impulse für eine räumliche Konzeption der Architektur aus der Kunstgeschichte und der Ästhetik aufnahm und sie in begrifflicher und philosophischer Präzisierung zur Grundlage der Phänomenologie machte. Wie Wal­ter Gropius, der in der Raumkonzeption das künstlerische Gestaltungsmittel der Archi­tek­tur schlechthin sah, begriff auch Otto Ernst Schweizer das Räumliche als das „einigende Gestal­tungsmittel“ einer neuen

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Ordnung, auch der Städtepla­nung.29 Sigfried Giedion beschrieb unter dem Eindruck der Einstein’schen Relativitätstheorie sowie der Simultani­tätsexperimente der Kubisten die „opti­sche Revolu­ tion“ zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die „den einen festgelegten Blickpunkt der Perspektive aufhob.“30 Der Raum wird nun nicht mehr statisch, sondern dynamisch konzipiert. Die Architektur gestaltet auf vielfältige Weise einen dynamischen, performativen Raum,31 wobei die ästhetischen Objekte Spuren, Produkte oder auch Dokumente dieses Prozesses sind, doch geht der Prozess ebenso durch sie hindurch wie er über die Erfahrung von Gebäuden darüber hinausgeht. (d) Der politische Ansatz wurde zuerst und mit unterschiedlichen Akzenten von Henri Lefebvre und Michel Foucault entwickelt. Lefebvre zeigt, dass der Raum nicht nur ein Ob­ jekt ist, sondern Ursprung und Grund einer sozia­len Logik. Der soziale Raum reguliert die Lebens- und Produktionsweisen einer Gesellschaft; er bestimmt die Transporte, den Fluss der Materialien und Energien, die Netzwerke der Produktverteilung. Er akkumuliert Massen, Produkte, Medien, Akte und Symbole und generiert so das Potential menschlicher Akteure.32 Räumliche Praxis im Sinne der pratique spatiale verkörpert gesellschaftliche Beziehungen in den Modalitäten der Übersetzung, der Transformation und der Erfahrung. Die räumliche Praxis modifiziert auf diese Weise die Reproduktion sozialer Beziehungen, die Interaktion zwischen verschiedenen Gruppen, sowie die biologische und die politische Seite des täglichen Lebens. Der moderne soziale Raum ist in Par­zellen fragmentiert. Seine anscheinende Homogenität kaschiert tatsächlich eine Hegemo­nie, die bestimmte Orte über andere ausüben. So sind Ghettos von bürgerlichen Stadtvierteln getrennt, gehobene Wohngegenden von kommerziellen Zentren und Erholungsgebieten, margi­ nale von produktiven Räumen usw. Homogenität existiert nur in der Administration dieser Orte, im Dienste der Raumakkumulation. Die räumliche Praxis ist auf diese Weise in die Geschichte sozialer Widersprüche verstrickt. Lefebvres zentrale Beobachtung ist, dass der Stadtraum als eine Funktion der Produkti­onsrationalität und der Beherrschung geformt wird. Für ihn ist auch der urbane Raum zunächst das Produkt koordinierten Handelns; sodann kann der Raum jedoch selbst in der Art einer Handlung in Erscheinung treten, er kann das Potential sozialer Praxis bilden.33 Macht hat,

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wer diesen Raum besitzt. Mächtige sind vor allem Raumakkumulatoren. Daraus leitet Lefebvre die These ab, dass die Reappropriation der Urbanität das beste Mittel zur Subversion kapitalistischer Gesellschaften sei. Michel Foucault hat mit seinen Arbeiten über die Psychiatrie, über das Gefängnis und über die Klinik seine Theorie der Macht34 geschärft: Die Architektur ist das wichtigste Instrument einer Machttechnologie, die es immer besser versteht, Massen von Individuen zu subjektivieren und zu steuern. Architektur ist umso effektiver, je weniger sie abwehren, sanktionieren oder einschließen muss wie ein Kerker, sondern je besser es ihr durch die Andeutung von Kontrolle gelingt, dass sich die Menschen im Sinne der Herrschaftsordnung verhalten. Architektur kann im Gegenteil aber auch Befreiungsbewegungen ermöglichen.35 (e) Mit den neuen Medientechnologien und ihrem Einsatz in der Architektur, besonders in der Entwurfsphase – das macht den Unterschied zum Beginn des 20. Jahrhunderts aus, als die neuen Technologien noch wesentlich auf die Baustelle beschränkt waren – , tritt zunehmend die Frage nach der Architektur als Objekt komplexer Wissensprozesse ins Zentrum der Debatten.36 Mit dem Aufkommen der digitalen Medientechnologien Anfang der 1990er Jahre schien es allerdings noch, als ob die Bildwissenschaften auch für die Architektur zur neuen Leitwissenschaft würden (Sachs-Hombach, Belting, Wiesing, Mitchell, Boehm).37 Doch hat die Euphorie für den pictorial turn (W.T.C. Mitchell) oder den iconic turn (Gottfried Boehm) übersehen lassen, dass die digitalen Medientechnologien keineswegs in der „Macht der Bilder“38 aufgehen. Die digitalen Technologien sind nicht nur, wie lange behauptet, Oberflächen- oder Bildtechniken, ihre Besonderheit besteht dagegen darin, dass sie mehr als andere Technologien unmittelbar in die Konzeption und Konstitution der Dingwelt eingreifen und diese quasi von innen aus dem Prozess heraus verändern und umbauen.39 Wie immer deutlicher in den Vordergrund tritt, partizipieren in der Architektur verschiedene Wissenspraktiken und -formen. Neben dem Alltagswissen und dem praktischen Wissen sind es auch das theoretische Wissen und das Orientierungswissen,40 welche die Architektur zum Gegenstand komplexer Wissensformen machen. Mit Günter Abel kann man das architektonische Wissen in der räumlichen Matrix von Gegensatzpaaren darstellen:

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„knowing-that vs. knowing-how“, „conceptual vs. non-conceptual knowledge“ und „implicit vs. explicit knowledge“. Damit tritt der epistemische Charakter der Architektur hervor, und es rückt das Konzept des epistemischen Objekts als ein bevorzugtes Wissensobjekt ins Zentrum der Debatten. Mit den epistemischen Objekten sind Phänomene benannt, die seit einiger Zeit in der Philosophie großes Interesse erfahren. Epistemische Objekte sind das, worauf sich, so Abel, „unsere wissens- und erkenntnisorientierte Aufmerksamkeit und Neugierde, unsere Wissens- und Denkanstrengungen richten. Sie sind Objekte der Begierde in Theorie und Praxis.“41 Ihre herausragende Bedeutung verdanken die epistemischen Objekte der Tatsache, dass in sie in exemplarischer Weise die kulturelle Logik einer Zeit eingeht und diese durch sie erst sinnlich erfahrbar wird. Sie unterscheiden sich dadurch, dass in ihnen die abstrakte kulturelle Logik einer Zeit in ihrer ganzen Fülle und Komplexität ihre Übertragung in die Alltagswelt erfährt, die durch sie in Material, Form und Funktion erst zur Sichtbarkeit und sinn­ lichen Erfahrbarkeit kommt. Es ist mehr als eine Vermutung, dass der Ziegelstein, die Säulenordnung und das Ornament, aber auch der Dreigelenkbogen, Le Corbusiers maison-domino oder die Vorhangfassade als epistemische Objekte neu bestimmt werden können.42 Trotzdem werden die epistemischen Objekte bisher in der Architektur so gut wie nicht wahrgenommen, während sich andererseits auch die Philosophie mit den phänomenalen Aspekten der epistemischen Objekte sich schwertut, obwohl die Leistungsfähigkeit der epistemischen Objekte gerade darin besteht, dass in ihnen lebensweltliche Erfahrung, epistemische Zeichenfunktion und materielle Wirklichkeit in komplexer Form ineinander wirken. Die Herausbildung ihrer Gegenständlichkeit muss, im Sinne Abels erweiterter Epistemologie, verstanden werden als „Grundvorgang auf der ganzen Skala vom sinnlichen Empfinden über das Wahrnehmen, Sprechen und Handeln ins verstandes- und ins vernunftorientierte Denken“.43 Es stellt sich die Frage nach dem epistemischen Status der Architektur,44 es stellt sich die Frage nach den epistemischen Objekten bzw. den epistemischen Dingen in der Architektur – den Raum zwischen den Objekten und den öffent­ lichen Stadtraum eingeschlossen.45 An was erkennt man sie, und wie zeigen sie sich? Die hier skizzierten ästhetischen, sprachanalytischen, phänomenologischen, politischen und epistemologischen Ausrichtungen

Jörg H. Gleiter, Ludger Schwarte – Architektur und Philosophie

werden in den folgenden Beiträgen aufgegriffen und diskutiert, begrifflich geschärft und philosophisch vertieft und darüber hinaus um weitere Bereiche wie Ethik, Anthropologie, Existenzontologie und Geschichts- und Wissenschaftstheorie ergänzt. Der vorliegende Band möchte den Dialog zwischen Architektur und Philosophie fördern. Er möchte der jungen Disziplin Architekturphilosophie zur Sichtbarkeit verhelfen, sie systematisieren und ihr Impulse für weitergehende Forschungen geben. Unser besonderer Dank gilt der Direktorin der Villa Vigoni Frau Prof. Immacolata Amodeo für die Gastfreundschaft, mit der die Autoren dieses Bandes im Herbst 2012 anlässlich der Tagung Architektur und Philosophie in Menaggio empfangen wurden. Berlin, Juli 2014 Jörg H. Gleiter, Ludger Schwarte

Grundlagen

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Ludger Schwarte

Gründen und Abreißen. Der Platz der Architektur im System der Philosophie Architekturphilosophie – Theorie der Grundlegung Arché

be­ deutet im Griechischen Anfang, Ursprung oder Quelle; dann auch Ursache, Grund, Prinzip und schließlich Anführung, Herrschaft, Regierung. Es rührt vom Verb archein her, das das Anfangen, Veranlassen, Vorangehen und Versuchen bezeichnet. Versteht man das Gründen – dem Verb tektainomai entsprechend, aus dem jedwede „Archi-Tektur“ hervorgeht – als ein Bauen von Grundlagen, so ist einerseits zu fragen, worin dieses Bauen – vor jeder Planbarkeit und Zwecksetzung – überhaupt besteht, was seine Voraussetzungen, seine Bedingungen, seine Begriffe, seine Medien und Instrumente sind. Andererseits muss die Philosophie der Architektur auch zu klären versuchen, was ein Grund ist, wie wir dazu kommen, etwas zu ergründen oder zu begründen, welche Eigenschaften eine Grundlage auszeichnet und wie es gelingen kann, etwas zu gründen. Gibt es neben physischen (Kausalität) und moralischen (Begründung) Gründen noch spezielle, architektonische? Das Bauen eines Grundes operiert in einer Zone der Ungewissheit, in einer Leere vor allem Anfang. Die Notwendigkeit des Gründens rührt aus dieser Grundlosigkeit, die zu begreifen die dritte Aufgabe ausmacht. Architekturphilosophie ist aus meiner Sicht eine transversale Disziplin, die die traditionellen Felder der Philosophie nicht nur um eine völlig neue Fragestellung bereichert, sondern auch auf neue Weise durchquert und miteinander verknüpft. Wie im Folgenden zu zeigen sein wird, lässt sich Architektur genau als Bindeglied zwischen physischen, ästhetischen und moralischen Gründen auffassen. Das Architektonische ist das Ensemble aus

Ludger Schwarte – Gründen und Abreißen

physischen, ästhetischen, moralischen, politischen und ähnlichen Anlässen, etwas zu tun. Eine Philosophie der Architektur wird daher auf verschiedene etablierte Teilbereiche der Philosophie zurückzugreifen haben. Darüber hinaus ist zu konstatieren, dass architekturphiloso­ phische Untersuchungen, die sich mit systematischem Interesse auf eine einzelne philosophische Teildisziplin beziehen, von großem Gewinn sowohl für diese wie für die Architekturphilosophie sind. Dies ist innerhalb der praktischen Philosophie durch Arbeiten jeweils zur Ästhetik und zur Ethik der Architektur gezeigt worden, ergänzt durch Positionen, die ihren Fokus eher auf den Bereich der Politik oder der Handlungstheorie legen. Ähnliches ist zu erwarten, wenn Forschungen nun daran gehen, systematisch die Felder der theoretischen Philosophie unter die architekturphilosophische Lupe zu nehmen – vor allem die Ontologie, die Epistemologie oder die Wahrnehmungslehre. Architekturphilosophie wird aber vor allem dann relevant – und dies erklärt vielleicht ihr Auftauchen in jüngerer Zeit – , wenn nicht mehr wie selbstverständlich davon auszugehen ist, dass alles, was vorhanden ist, einen zureichenden Grund haben muss, warum es ist. Wenn Gründe gegeben sein müssen, damit Notwendigkeiten auftreten, so wird der Zustand, in dem diese Gründe nicht gegeben sind, fraglich. Architektur kann unterschiedliche Arten von Gründen, physische Zwänge ebenso wie Motivationen, erschaffen oder eben auch unwirksam machen beziehungsweise zerstören. Dies scheint schon bei Arthur Schopenhauers Reflexion über die Wurzel der Gründe auf: „Der Satz vom zureichenden Grunde, in allen seinen Gestalten, ist das alleinige Princip und der alleinige Träger aller und jeder Nothwendigkeit. Denn Nothwendigkeit hat keinen andern wahren und deutlichen Sinn, als den der Unausbleiblichkeit der Folge, wenn der Grund gesetzt ist. Demnach ist jede Notwendigkeit bedingt; absolute, d. h. unbedingte, Nothwendigkeit also eine contradictio in adjecto. Denn Nothwendig-Seyn kann nie etwas Anderes besagen, als aus einem gegebenen Grunde erfolgen.“1 Die Art der Gründe, die gesetzt werden, etablieren folglich jeweils andere, womöglich konfligierende Notwendigkeiten: „Demnach giebt es […] eine vierfache Nothwendigkeit. 1) Die logische, nach dem Satz vom Erkenntnißgründe […]. 2) Die physische, nach dem Gesetz der Kausalität […]. 3) Die mathematische,

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nach dem Satz vom Grunde des Seyns […]. 4) Die moralische, vermöge welcher jeder Mensch, auch jedes Thier, nach eingetretenem Motiv, die Handlung vollziehen MUSS […], wenn sie gleich nicht so leicht, wie jede andere, vorherzusagen ist […].“2 Dem Setzen eines Grundes geht etwas voraus, das man nicht unbedingt als Nichts oder Chaos bezeichnen muss, sondern vielleicht besser als die Kontingenz materieller Prozesse denkt, deren Ereignishaftigkeit potentiell gebändigt und in die zeitlichen Entwicklungslinien und gewöhnlichen Folgebeziehungen überführt werden kann. Was muss vorausgesetzt werden, damit es Gründe geben kann? Von den Gründen, die jemanden veranlassen, etwas zu tun, ist in der praktischen Philosophie mit großer Selbstverständlichkeit die Rede. Oft wird Grund dabei auch als Übersetzung des Latei­­nischen ratio, des Englischen reason beziehungsweise des Französischen raison gebraucht – „for what reason?“ beziehungsweise „par quelle raison?“ wird übertragen als „aus welchem Grund?“ Dass Vernunft und Grund sprachliche Äquivalente sind, mag erstaunen, denn auf Gründe stößt man nur bei der Analyse des Funktionierens praktischer Vernunft; sie sind darin ein Teilbereich. Im Unterschied zu Ursachen, die nicht nur die notwendige Voraussetzung von etwas sind, sondern bewirken, dass etwas Bestimmtes aus ihnen folgt, können bekanntlich objektive Gründe vorliegen, die ein Ereignis notwendig machen, und doch geschieht nichts. Gründe bestehen nicht einfach so – und zwar nicht, weil sie erst reflexiv und analytisch aufgefunden werden müssten, sondern weil nur dort Gründe das Handeln bestimmen können, wo es Freiheit gibt. Das ist alles andere als selbstverständlich. Denn es impliziert nicht nur, dass das Haben von Gründen zugelassen beziehungsweise zugestanden werden muss, sondern dass Gründe in der Freiheit und durch die Freiheit gegründet werden müssen. Denn das Geben von Gründen ist dem diskursiven Spiel des wechselseitigen Erklärens von Gründen für Aussagen, Überzeugungen oder Handlungen als einem Rekurrieren auf eben diese Gründe vorgelagert. Auf die Abhängigkeit der Gründe vom Akt des Gründens hat unter anderen Martin Heidegger hingewiesen. Zunächst betont Heidegger, dass der Boden, auf dem wir stehen, der Ort, an dem wir zur Welt kommen, nicht einfach Naturprodukte sind. Die Welt, in der das Dasein sich entfaltet, wird entworfen und zugleich erschließt sie sich in diesem Entwurf. „Das

Ludger Schwarte – Gründen und Abreißen

entwerfend-überwerfende Waltenlassen von Welt ist die Freiheit […]. Die Auslegung der Freiheit als ‚Kausalität‘ bewegt sich aber vor allem schon in einem bestimmten Verständnis von Grund. Die Freiheit als Transzendenz ist jedoch nicht nur eine eigene ‚Art‘ von Grund, sondern der Ursprung von Grund überhaupt. Freiheit ist Freiheit zum Grunde. Die ursprüngliche Beziehung der Freiheit zu Grund nennen wir das Gründen. Gründend gibt Freiheit und nimmt sie Grund. Dieses in der Transzendenz gewurzelte Gründen ist aber in eine Mannigfaltigkeit von Weisen gestreut. Es sind deren drei: 1. Das Gründen als Stiften; 2. Das Gründen als Bodennehmen; 3. Das Gründen als Begründen.“3 Freiheit geschieht folglich in diesen drei Arten des Gründens. Das stiftende Gründen bestimmt Heidegger als „Entwurf des Umwillen“ beziehungsweise „der Möglichkeit seiner Selbst“, das bodennehmende Gründen als „Eingenommenheit“ beziehungsweise „gestimmt durchwaltetes Befinden in einem Spielraum“, das Begründen als „Ermöglichung der Intentionalität“ beziehungsweise des „Offenbarmachens von Seiendem an ihm selbst“, die eine Antwort auf das Warum liefert.4 „Der Weltentwurf ermöglicht zwar […] vorgängiges Verständnis des Seins von Seiendem, ist aber selbst kein Daseinsbezug zu Seiendem. Die Eingenommenheit wiederum, die das Dasein inmitten von Seiendem (und zwar nie ohne Weltenthüllung), von ihm durchstimmt, sich befinden läßt, ist kein Verhalten zu Seiendem. Wohl aber sind beide – in ihrer gekennzeichneten Einheit – die transzendentale Ermöglichung der Intentionalität, so zwar, daß sie dabei als Weisen des Gründens eine dritte mitzeitigen: das Gründen als Be-gründen […]. Dieses Begründen liegt allem Verhalten zu Seiendem ‚zugrunde‘ […]. Alles ontische Entdecken und Erschließen [muß] in seiner Weise ‚begründend‘ sein, d. h. es muß sich ausweisen. In der Ausweisung vollzieht sich die […] Anführung des Seienden, das sich dann z. B. als ‚Ursache‘ oder als ‚Beweggrund‘ (Motiv) für einen schon offenbaren Zusammenhang von Seiendem bekundet […]. Demnach besagt Grund: Möglichkeit, Boden, Ausweis. Das dreifach gestreute Gründen der Transzendenz erwirkt ursprünglich einigend erst das Ganze, in dem je ein Dasein soll existieren können. Freiheit ist in dieser drei­ fachen Weise Freiheit zum Grunde.“5 Wer oder was auch immer hier mit „Dasein“ gemeint ist: Heidegger macht nicht nur die Artifizialität der Welt der Gründe hinreichend deutlich, sondern unterstreicht die Gleichursprünglich-

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keit von handlungsleitendem Entwurf, Selbsterfindung und Welterschließung im Gründen, das alle Akte, alle vernünftige Zwecksetzung, allererst ermöglicht. Architekturphilosophie, wie ich sie verstehe, sollte diesen Hinweis aufnehmen und es sich zur Aufgabe machen, dem Gründen, das allem Planen, Konstruieren, Herstellen und Bezwecken vorausgeht, in seiner Freiheit und in seinen Vollzugsformen genauer auf die Spur zu kommen. Wenn unter der Voraussetzung von Freiheit von den jeweiligen Gründen die Rede ist, das heißt von situativen Anreizen, Neigungen und negativen Dispositionen, oder von den individuellen Gründen („his/her reasons“/ „sa raison“), die jemanden zu einer bestimmten Handlung veranlassen, ist keine Ursache, keine Konditionierung und keine allgemeine Vernunft gemeint, die jeweils am Werke ist, sondern eine je spezifische Konstellation oder Einstellung. Diese jeweiligen Gründe, die ein tatsächliches Handeln so oder so bestimmen, sind keine Räsonnements auf der Basis der Allgemeingültigkeit (derartiges bildet lediglich eine hypothetische Voraussetzung prima facie oder kommt beim Abwägen secunda facie ins Spiel), sondern Kräfte, die einen Überschuss der Gründe erzeugen, indem sie sie dekonditionalisieren und damit ein Handeln aus Gründen effektiv bewirken.6 Wie gelingt es den Kräften, Gründe zu dekonditionalisieren und handlungswirksam werden zu lassen, so dass wir tatsächlich das tun, was wir wollen? Physische, biologische, anthropologische Grundlegung Als Beispiel für die Reichweite des architekturphilosophischen Ansatzes am Schnittpunkt von Handlungstheorie und Ontologie soll im Folgenden erörtert werden, was die Lebenswelten und Horizonte eigentlich hervorbringt und strukturiert, im Rahmen derer sich unsere Bewegungen als Handlungen qualifizieren und von konditionierten Reflexen abheben. Der Zustand vor dem Setzen eines Grundes lässt sich veranschaulichen, wenn man sich vor Augen hält, was gegeben sein muss, bevor sich ein Mensch orientierten, die Glieder seines Körpers koordiniert gebrauchen, die Dinge um sich herum kontinuierlich wahrnehmen und seinerseits absichtlich beeinflussen kann. Betrachten wir das Bauen von Umwelten deshalb als eine Art der Möglich­ keitskonstruktion. Durch die Konstruktion von Umwelten heben sich Lebensformen aus universellen physischen

Ludger Schwarte – Gründen und Abreißen

Wirkungszusammenhängen heraus, ohne dass diese dadurch unwirksam würden. Biologische Systeme konfigurieren sich einer Umgebung und einem Milieu entsprechend und beeinflussen diese wiederum durch die Interaktionsskalen, die sie produ­zieren. Die Form, die Bewegung und die Transformation von Organismen sind durch ihre Umwelt bedingt, zugleich verändern sie diese Bedingungen aber auch durch Selbstgestaltung. Diese Interdepen­denz formt Wirkungssphären. Aufgrund ihrer heterogenen Architektur herrschen innerhalb dieser Sphären eigene Gesetzmäßigkeiten, die stark voneinander abweichen können: So ist in einer ersten Sphäre die Schwerkraft und die Erdoberfläche ausschlaggebend. Diese prägen bei­spielsweise die menschliche Köpergröße und -gestalt. Wasserkäfer leben in einer zweiten, komplett anderen physischen Sphäre: Sie können auf dem Wasser laufen, weil sie die Spannung der Was­ seroberfläche als eine Bewegungs­ quelle zu nutzen gelernt haben. In einer dritten Sphäre erschaffen die Größe und die Gestalt eines Bazillus eine Welt jenseits des Gewichts: Er nutzt die Viskosität des Mediums, in dem er sich befindet. Er steht in der Luft, schwebt durch das Wasser.7 In ei­ner vierten Sphäre, die auf einigen physikalischen Experimentalfeldern simuliert wird, spielt selbst der Zeitpfeil keine Rolle mehr, da er umgekehrt werden kann. Physische Gesetzmäßigkeiten sind daher lokal, auf die Architektur derartiger Sphären bezogen. Die Architektur der Lebensformen prägt die Sinnesorgane aus. Darauf hat bereits Helmut Plessner hingewiesen: Seerose und Seestern leben im gleichen Milieu. „Eine festsitzende Seerose muß ihre Nahrung herbeistrudeln […]. Sie reagiert auf Strömung im wesentlichen taktisch und chemisch, während der Seestern suchen kann und über zwei Lichtsinne verfügt, einen Richtungssinn und einen Hautlichtsinn, der ihm Beschattung durch größere Objekte anzeigt, die ihm gefährlich werden können […]. Bauplan, Funktionsplan und Umwelt passen zueinander, d. h. sie legen einen gewissen Rahmen fest, in den sich die Sinnesorgane einfügen. So werden lichtempfindliche Organe der vorwegnehmenden Orientierung als Fernsinne dienen, Tast- und Druck-Rezeptoren Nahsinne sein, Riech- und Schmeck-Apparate eine gewisse Mittelstellung zwischen beiden einnehmen, wichtig für Nahrungssuche und Sexualprozesse […]. Sensorik und Motorik sind aufeinander abgestimmt […].“8

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Architektur erschafft die Bedingungen der Bewegung und der Wirksamkeit ebenso wie die Bedingungen der Wahrnehmung und Verarbeitung dieser Wirkungen. Diese umfasst die Erfahrung ebenso wie die Möglichkeit, sich auf etwas zu richten (Aufmerksamkeit) und sich etwas vorzunehmen (Intentionalität). Wenn deren Bedingtheit nicht als Erzwingung oder Konditionierung misszuverstehen ist, so gilt es, einen Begriff der Architektur zu erarbeiten, welcher der grundlegenden Bedeutung der Architektur für die Strukturierung von Lebensformen gerecht wird. Denn Aufmerksamkeit, Intentionalität und Erfahrung sind, im Unterschied zum Widerfahrnis, spontan und doch angewiesen auf Strukturen, innerhalb derer Impulse, Schematisierungen und Gedächtnisbildung erfolgen können. So prägt eine spezifische Architektur die Lebensbedingungen der Men­schen, die Plastizität ihrer Körper, das Funktionieren ihrer Organe und beeinflusst, welchen Um­welteinflüssen sie überhaupt ausgesetzt sind. Umwelten, Lebensmöglichkeiten und Lebensweisen hängen voneinander ab. Für John Dewey basiert Erfahrung auf der Produktion eines Rhythmus. Dieser Rhythmus resultiert aus einer Phase, in der, so Dewey, der Organismus zuerst aus dem Gleichschritt mit seiner Umgebung herausfällt, um dann erst die Einigkeit wieder zu erlangen. Der Rhythmus stabilisiert Interaktionen und dehnt die Balance der Energien zwischen dem Organismus und seiner Umwelt immer weiter aus. „Alle Interaktionen, die Auswirkungen auf die Stabilität und die Ordnung in der wirbelnden Strömung des Wandels haben, sind Rhythmen.“9 Dewey beschreibt dieses Anreichern von Lebensressourcen als subtil abgestuft in eine Vielfalt von Sub-Rhythmen. Der Raum des Lebendigen umfasst daher mehr als nur eine Leerstel­le, an der es sich umherbewegt und die hier und dort mit gefährlichen oder mit Appetit anre­genden Dingen gesprenkelt ist, denn er bildet sich aus als „eine umfassende und eingeschlossene Szene, in der eine Vielzahl von Tätigkeiten und Vorgängen geordnet sind, auf die der Mensch sich einläßt.“10 Ist die Zeit nun das Medium dieser rhythmischen Muster, so besteht die Aufgabe architektonischer Strukturen darin, „einen Schatz aus aufbereiteten Erinnerungen und monumentalem Registrieren gehegter Zukunftserwartungen“ aufzubauen. Architektur organisiert Gemeinschaften zunächst durch Mächte des Dauerns,

Ludger Schwarte – Gründen und Abreißen

durch Rhythmen, an denen sich chronobiologische Muster, ein kollektives Gedächtnis und eine kollektive Erwartung ausbilden können: „Aufgrund ihrer inhärenten Macht zu überdauern, erfasst und feiert die Architektur mehr als jede andere Kunst die generischen Eigenschaften unseres gemeinsamen menschlichen Lebens.“11 Architektur bildet davon ausgehend Erfahrungsgemeinschaften. Diese Gemeinschaften gehen aus dem zeitlichen Unterschied zum räumlichen Wiederholen objektivierter Erfahrungsmuster her­ vor. Die Architektur bestimmt Dewey deshalb als evolu­tionäre Kraft; sie ist beteiligt am Prozess der Ausbildung, Verknüpfung und Transforma­tion von Orten. Alle natürlichen Orte sind in dieser Perspektive aufgeladen mit Energien, mo­mentaner Aufklärung über Kontinuitäten; sie sind erlebbar als Ansammlung von Eindrücken aus der Vergan­genheit und der Zukunft. Diese Orte sind insofern entscheidend für die Erfahrung, als diese zwar durch Versuche, Proben und auch durch Scheitern vorgeht, jedoch nicht auf die plötzliche Empfindung reduziert werden kann.12 Erfahrungen bestehen in der Wahrnehmung des Zusammenhanges zwischen dem Tun und dem Erleiden, sie müssen ein Ganzes bilden.13 Architektur ermöglicht es Subjekten sowohl individuell als auch kollektiv Erfahrungen zu sammeln, auf die Abfolge von Ereignissen Einfluss zu nehmen und die Anordnung von natürlichen Kräften so anzuordnen, dass daraus neue Potentialitäten entstehen.14 Mit Dewey lässt sich diese Ermöglichung auch als quasi-biologische Druckregulation deuten: „Die Kunst wird von den Prozessen des Lebens selbst präfiguriert. Ein Vogel baut sein Nest und ein Biber seinen Damm, sobald interne organische Druckverhältnisse mit externen materiellen kooperieren, so dass die Ersteren erfüllt und die Letzteren transformiert werden in einer befriedigenden Kulmination.“15 Architektur transformiert den natürlichen Raum, und ersetzt ihn nicht durch einen künstlichen. Sie ändert dabei vor allem die Relationen und Folgebeziehungen: „Wissen oder Wissenschaft überträgt, als ein Kunstwerk, ebenso wie jedes andere Kunstwerk, Züge und Potentialitäten auf Dinge, die diese zuvor nicht besessen haben. Einwände seitens eines angeblichen Realismus gegen diese Auffassung rühren aus einer Konfusion der Zeitformen. Wissen ist keine Verzerrung oder Perversion, welche auf ihren Gegenstand Züge überträgt, die zu diesem jetzt nicht gehören, sondern ist ein

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Akt, welcher auf nicht-kognitives Material Züge überträgt, die zu diesem zuvor nicht gehört haben. Er markiert einen Wandel, durch den physische Ereignisse, die Eigenschaften mechanischer Energie ausstellen, verbunden mit Beziehungen von Druck und Zug, Schlagen, Zurückspringen, Aufteilen und Konsolidieren, Eigenschaften verwirklichen, Bedeutungen und Bedeutungsrelationen, die diese zuvor nicht besessen haben. Die Architektur fügt Stein und Holz nichts hinzu, das nicht zu diesen gehört, sondern ergänzt sie um Eigenschaften und Wirksamkeiten, die sie in einem vorigen Zustand noch nicht besaßen. Sie fügt diese hinzu, indem sie ihre Gegenstände in neue Interaktionsformen mit einer neuen Ordnung von Konsequenzen einfügt.“16 Für Dewey ist Architektur deshalb – vermittels intelligenter Selektion und zukunftsträchtigen Arrangments – die Verlängerung der Tendenzen natürlicher Ereignisse.17 Doch die Eigenschaf­ten von Stein und Holz, die ‚Außenwelt‘ und die Tendenzen natür­ licher Ereignisse hängen ebenso von der architektonischen Organisierung ab. Der Grund, warum die Gestaltung von Landschaften von ihm gerade mit dem Gedächtnis (Dauer, Ausdehnung) und dem Zeitbewusstsein in Verbindung gebracht wird, liegt an der ar­chitektonischen Programmierung der Umwelt auf eben diesen Erfahrungsmodus hin; und nicht an biologischen Erfordernissen, die sich auf die Ebene von Nervenzellen oder Gen-Codes reduzieren ließen. Wir kön­ nen uns neue Gestaltungen vorstellen, die ganz andere Qualitäten in den Vordergrund stellen, neuartige Verknüpfungen von auditorischen, olfaktorischen, taktilen, visuellen und proprio­zeptiven Aspekten,18 wenn nicht gar neu­artige Sinne. Die Interaktion mit der Umwelt muss keineswegs die Rhythmen und Intervalle enthalten, von denen Dewey ausgeht. Doch kann mit Dewey festgehalten werden, dass Architektur menschliches Leben in derselben Art konstituiert, wie der Nestbau den Vögeln und der Dammbau dem Bieber das Leben ermöglichen. Mit Rückgriff auf Deweys Einsichten gälte es deshalb, sowohl eine Biologie wie auch eine Anthropologie der Architektur zu entwickeln. Wenn Sinnesorgane und Verhaltensmöglichkeiten auf Architekturen zurückzuführen sind,19 so ist mit dieser Rückführung doch keine konkretistische Variante des Konstruktivismus gemeint: Als Architektur ist gerade nicht der Plan oder das Gemachtsein, sondern

Ludger Schwarte – Gründen und Abreißen

die gegensei­tige Abhängigkeit von Umwelt, Milieu und Aktionsraum hinsichtlich ihrer Emergenz und ihrer Ge­staltungsfaktoren zu analysieren. Viele phänome­nologische Arbeiten unterstreichen, dass die Grenzen unserer menschlichen Empfindungen und Äuße­ rungen durch den Horizont der alltäglichen Welt markiert werden. Sie betonen, dass sich dieser Horizont durch unsere Bauten und unsere Sprache überhaupt erst entfal­tet.20 Unsere Möglichkeiten des Benen­nens, des Entwerfens und der Erfahrung hängen von einer Lebenswelt ab, die uns voraus liegt, die die Dinge er­scheinen lässt und in der wir uns im Dialog mit anderen entwickeln, die aber ihrerseits nicht ursprünglich, ewig und unveränderlich wäre. Diese Lebenswelt bleibt fragil und dynamisch. Sie verdichtet sich, worauf Gernot Böhme hingewiesen hat, in konkreten architektonischen Atmosphären eher als in massiven Gebäuden oder imposanten Infrastrukturen. Das Bauen mit Stein, Zement, Beton, Asphalt und so weiter, das Überbrücken großer Distanzen durch Licht, Kabel oder elektromagnetische Wellen, das Beherrschen von Kräften und kleinsten Partikeln setzt die Strukturierung einer Lebenswelt innerhalb einer spezifischen Umwelt bereits voraus. Die Grundlage lebensweltlicher Strukturen Die musterbildende

Verbindung zwischen der Gestaltung der Dinge und dem SichEinlassen des Kör­pers im architektonischen Akt erläutert ein weite Bereiche des Städtebaus bis heute prägendes Paradigma: Plinius berichtet von einer einfachen Orientierungsmethode, die nicht für die Divination, sondern für die alltägliche land­wirtschaftliche Vorhersage gedacht war. Die Orientierung ist das erste architektonische In­strument, das für eine Vorhersage landwirtschaftlicher Ereignisse erforderlich ist.21 Um zu einer solchen Ausrichtung zu gelangen, empfiehlt Plinius, am Mittag den eigenen Schatten zu werfen, mit Blick nach Süden, dann nordwärts zu blicken, auf den eigenen Schatten. Sodann wird man eine Furche mit einer Hacke schlagen oder eine Linie mit Asche auslegen und im Zentrum dieser Linie einen schmalen Kreis zeichnen, welcher umbilicus oder Nabel genannt wird. Der Teil der Linie in Richtung auf den Kopf des Schattens wird die Richtung des Nordwindes sein. Eine weitere Linie soll transversal durch die Mitte des umbilicus laufen; diese Linie wird von Osten nach Westen verlaufen, und der Pfad, der durch das Land an dieser Linie entlangführt, wird decumanus heißen.

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Die Architek­tur der Orientierung rührt hier aus einem komplexen Handlungsprogramm, bei dem ursprünglich die Sonne ebenso eine Rolle spielt wie der Körper und die Erdoberfläche. Es ist etwas da, bevor der Mensch seine Welt gründet. Was dieser Welt Platz macht, ist nicht der Weg des Menschen selbst, weder seine Bewegungen noch sein Denken, sondern die freie Stelle, das Leere, die Brache, die ihn trägt und seinen Schatten reflektiert und die ihm, als Nullpunkt, den Anstoß gibt, seine Unbehaustheit zu überwinden. Der Weg, den die Sinne und das Denken sich bahnen, ist ein Medium, eine Welt zu organisieren und Eigenschaften über Distanzen hinweg verfügbar zu machen. Wenn in diesem architektonischen Akt eine räumliche Struktur hervorgebracht wird, die den unmit­ telbaren Bewegungs- und Erfahrungsraum, das Klima und die Zeit an der Planetenum­laufbahn ausrichtet, so geschieht dies nur dort, wo sich eine freie Stelle für einen solchen Akt der Strukturierung und Bezugnahme auftut. In diesem Akt lässt sich der Körper auf die von ihm selbst hervorgebrachte Raumstruktur ein, löst sich aber zugleich auch aus der (vorherigen) ört­lichen Einbettung heraus. Wie im architektonischen Akt Freistellung und Konstruktion ineinandergreifen, zeigt analog dazu die römische Stadtgründungszeremonie: Der augurale Bezirk (templum – die Einkreisung und Weihung des Ortes) ist zugleich das Gründen und Voraussehen guter Lebensbedingungen. Er konnte an einer gewählten Stelle abgesteckt werden und benötigte noch nicht einmal eine phy­ sische Umzäunung. Umweltgegebenheiten konnten in die Wahl mit einbezogen werden, er konnte an einigen Stellen sichtbare und permanente physische Grenzen haben, doch seine wirklichen Grenzen waren nicht dadurch fixiert. Der Bezirk wurde durch die Inkarnationssprü­che (verba concepta) gebannt, die ein magisches Netz um die Landmarken auswarfen, die der Augur benannte. Dieses Benennen, und nicht das Zeichnen eines Grundes mit dem Stock, fi­xierte die wirksamen Grenzen des templum. Gleichwohl konnte es dieses Benennen nur dort geben, wo bereits Landmarken und Orientierungen die Sicht prägten, so dass die Benennungsgeste ihre Worte von den Dingen empfing und sich mit einer Marke, die sie indizierte, ver­knüpfen konnte. Die Geste vollzieht eine Verknüpfung innerhalb vorbereiteter Raumorientie­rungen. Die sprachliche und gestische Performanz, die eine symbolische Welt hervorbringt, beruht auf der räumlichen Gliederung, nämlich den latenten Linien, die von dem zuvor fixier­ten Ausgangsstern (stella) ausgehen und

Ludger Schwarte – Gründen und Abreißen

in der Zeremonie insofern eine Rolle spielen, als sie die materielle Einheit der Landschaft zusammenhalten, während sich daneben ein Aktionsraum auftut, der auf diese Landschaft insgesamt als auf einen Bedeutungsraum Bezug nehmen kann. Wie die Sprache werden die Wege durch ein Ritual verfestigt, beispielsweise durch das Ritual des Gehens. Doch das Ritual kann nicht von sich aus die Orientierung hervor­bringen, die es aufführt, das heißt aktualisiert, verschiebt und fixiert. Dieses Sich-Einlassen auf eine Orientierung beruht auf einem Aktionsraum. Die Architektur muss zunächst die Bedingungen freistellen, auf denen die Möglichkeit der Performanz beruht. Die Möglichkeit, dass etwas geschieht, was erzählt werden kann, liegt folglich an der Konfi­guration von Präsenz. Sie ist nicht einfach durch die schiere Existenz der Welt gegeben. Es gibt viele Dinge, von denen wir wissen, die wir uns aber nicht zu vergegenwärtigen vermögen, und noch mehr Dinge, von deren Existenz wir nicht im Geringsten Notiz nehmen. Präsenz wird als solche nur innerhalb einer Szene erfahren, in der sich etwas jemandem präsentiert. Diese wiederum beruht auf einer Architektur, die Kräfte, Wirkungen und Wahrnehmungen ausprägt und vermittelt. Dass sich die Lebenswelt stellenweise stabilisiert und die Grundlagen gelingenden Lebens zur Verfügung stellen kann, hängt allerdings auch von der Umwelt und vom Klima ab, dem wir ausgeliefert sind und das wir zugleich auch erzeugen. Der gebaute Raum strukturiert und gestaltet diese Welt, in der wir leben. Ebenso wie sie von dem Draußen, das sie ausschließt und ignoriert, vielfältig profitiert, kann sie von dessen plötzlicher Transformation zerstört werden. Umweltkatastrophen sind Anlass für neue architektonische Anstrengungen, oft aber auch schon deren Resultat. Architektur ist nicht nur die Errichtung einer menschlichen Lebenswelt durch die vergleichsweise harmlosen chirurgischen Interventionen des Li­ nienziehens und der Orientierung, sondern oft ein massiver Eingriff in ökologische Kreisläufe. Aus welchen Gründen aber wird uns die Gründlichkeit der Architektur verdächtig, wenn nicht so ungeheuer, dass wir sie abreißen? Wenn wir schon nicht generell auf Architekturen verzichten können, um aufrecht gehen und perspektivisch sehen zu können, so wäre doch eine grundsätzliche Temporalität, wenn nicht Ephemeralität des Gebauten aus dieser Warte ein Gewinn. Bauten mit gravierenden ökologischen Folgen

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sind sicherlich zu verwerfen, und nicht nur deshalb erscheint es sinnvoll, Architekturphilosophie auch als Teilbereich der Umwelt­ ethik zu betrachten. Welchen Kriterien muss ein Bau genügen, um als unbedingt erhaltenswert (wenn nicht gar als unbedingt wiederaufzubauend) zu gelten? Könnte es nicht sein, dass Architektur, als Baukunst begriffen, Werke hervorbringt, die aufgrund ihrer ästhetischen Eigenschaften als künstlerisch wertvoll und allein deshalb als erhaltenswert gelten, auch wenn sie von üblen Schurken unter ausbeuterischen Bedingungen zu miesen Zwecken und mit partiell desaströsen Konsequenzen errichtet worden sind? Die Kombination funk­ tionaler und künstlerischer Elemente wurde zuweilen als dasjenige kennzeichnet, worauf sich die ästheti­ sche Anerkennung von architektonischem Erfolg richtet. Wenn man die Architektur als einen Modus der Skulptur betrachtete, so würde man Gebäude lediglich als anspruchsvoll geformte Dinge ansehen, deren ästhetische Gestaltung überzeugen muss. Im skulpturalen Blick tendierten die Oberfläche, die Textur, die Form, die Repräsentation und der Ausdruck von Bauwerken dazu, diejenigen äs­thetischen Ziele zu dominieren, die vielleicht spezifischer für die Architektur sind, wenn man ihren alltäglichen Gebrauch berücksichtigt. Der ästhetische Wert der Architektur kann dann nicht unabhängig von konzeptuellen und funktionalen Qualitäten wie Gehen, Ruhen oder Le­ben ermittelt werden. Zudem ist Architektur von ihrer Lokalität gekennzeichnet, da die ästheti­sche Erfahrung eines Bauwerkes wesentlich mit seiner Lage zusammenhängt. Gebäude kon­struieren wichtige Aspekte ihrer eigenen Umwelt. Die Umwelt wiederum bestimmt Züge der Erfahrung und die Entwicklungsmöglichkeiten des Gebäudes. Die Aufgabe des Architekten wäre es, wie Roger Scruton sogar behauptet, eine öffentliche Sprache in die Welt zu setzen, so dass das Gebäude nicht als seine individuelle Intention, son­dern als Ausdruck einer höheren Ordnung verstanden werden müsste,22 deren Legitimität sich aus der Dauer ihrer Gültigkeit ableitet: „Gut zu bauen bedeutet, die angemessene Form zu finden, und dies heißt die Form, die auf das, was andauert, antwortet, nicht auf das, was endet.“23 Warum muss die Form dauern? Um Freiheit zu begrenzen und um als Notwendigkeit zu erscheinen: „Zum Beispiel die Strasse. Unser ästhetisches Verständnis der Straße umfaßt eine Relation zwischen Innen und Außen, zwischen Inhalt und Fassade

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[…]. In allen Fällen muß die Straße den Wunsch nach einer allgemeinen öffentlichen Ordnung widerspiegeln, wobei die Fassade die Anerkennung dieser Ordnung ist […]. Denn die öffentliche Ordnung […] ist nicht gegeben: sie ist eine Errungenschaft, eine Errungenschaft, die davon abhängt, anerkannt zu werden. Es gibt keine öffentliche Ordnung, solange die Menschen sie nicht sehen können. Aber diese Anerkennung setzt so etwas wie ein wiederholbares Vokabular voraus, erkennbare Formen, interessante Details […]. Niemand bezweifelt, daß ästhetisches Verständnis eine besondere Art von Freiheit erfordert. Aber Freiheit hat nur Sinn, in den treffenden Worten Spinozas, als ‚Bewußtsein der Notwendigkeit‘. Der Architekt muß von einer Regel des Gehorsams beschränkt werden.“25 So scheint denn die Argumentation ästhetischer Gültigkeit bei Scruton in der Darstellung einer höheren Ordnung, letztlich auf einer ethisch-politischen Norm zu beruhen, die nicht jeder für selbstverständlich erachten wird. Karsten Harries vertritt einen komplementären Ansatz. Harries zufolge liegt der Unterschied von Architektur und bloßem Bauen darin, dass „Werke der Architektur als öffentliche Figuren auf dem Grund vergleichsweise privater Gebäude verstanden werden können.“25 Den Bauten des Alltags gegenüber nimmt sich Architektur in diesem emphatischen Sinne aus wie dasjenige, was das Gemeinsame, die Beziehungsgefüge und Orientierungsmaßstäbe überhaupt erst greifbar und gestaltbar werden lässt (wie die Figur auf einem Grund). Architektur besteht daher weniger in Gebautem, als vielmehr in realen oder imaginären Strukturen, die das Bauen re-präsentieren. Das Bindestrichwort Re-Präsentieren heißt bei Harries: Architekturen stellen das Ideal gemeinschaft­ lichen Wohnens vor Augen, vergegenwärtigen es, machen es wirklich. Damit ist nicht gesagt, dass sie dieses Ideal erfinden und tyrannisch durchsetzen sollen: Harries’ Argumentation zielt vielmehr darauf, dass sie die vorhandenen, Sozialität ermöglichenden Strukturen manifest werden lassen und verstärken sollen. Diese Gemeinschaft artikulierende und das Gemeinsame zu Bewusstsein bringende Funktion der Architektur kann daher am Besten von der Kirche her verstanden werden. Die Kirche ist die Gemeinde, die sich zum Feiern der Gemeinschaft, zur Feier des Sakramentes versammelt. Die Kirche ist das, was das Kirchengebäude immer nur re-präsentieren kann. Nur abhängig von dieser Ausstellung des

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Gemeinsamen gibt es die Möglichkeit für den Einzelnen, (räumlich und zeitlich) Sinn zu erfahren: „Die ethische Funktion der Architektur ist unausweichlich auch eine öffentliche Funktion. Sakrale und öffentliche Architektur verleiht der Gemeinschaft ein Zentrum oder Zentren. Individuen erwerben einen Sinn für ihren Ort in der Geschichte, in der Gemeinschaft, indem sie ihr Wohnen zu diesem Zentrum in Beziehung setzen.“26 Diese architektonischen Präsentationen sind zugleich „Wiederholungen paradigmatischer Ereignisse.“27 Eine Autorität muss die Freiheit binden. Seit der Aufklärung kann jedoch keine Autorität eine herrschende Erzählung etablieren, die eine ganze Gesellschaft zu binden vermöchte. Daher rührt aus Harries Sicht die tiefere philosophische Bedeutung der Architektur heute: Mangels transzendentaler oder traditioneller Verankerung muss die Architektur in der Moderne der Freiheit, den Erfahrungen und Bedeutungszuschreibungen jedes Einzelnen vorläufig sein. Ohne einen überzeitlichen Maßstab sind wir, so fürchtet Harries, den Wechselfällen der leidenschaftlichen Stimmungen ausgeliefert. Dieser höhere Maßstab muss eine ideale Existenz vorstellen. Um die Menschen in eine höhere Ordnung einzubinden, muss die Architektur eine dynamische Form aufstellen, die das Irdische, Tierische ebenso wie das Himmlische, Geistige vor Augen führt und so den ganzen Menschen anspricht.28 So kann Architektur nie mehr sein als ein wiederholtes Ereignis, Antizipation des Utopischen, als „prekäre Konjekturen über ein ideales Wohnen.“29 Die höchste Funktion der Architektur aus Sicht von Harries ist es, einen Ort zu bieten, an dem die Menschen zusammen kommen und sich als Mitglieder einer Gemeinschaft einsetzen. Architektur muss zu solchen Festen, zur Gemeinschaftsbildung, einladen.30 Sie muss Gelegenheiten zur sinnlichen Vereinigung der Gegensätze bieten, Schauplätze der Vergegenwärtigung einer idealen Gemeinschaft. Diese kursorische Untersuchung der Ansätze von Roger Scruton und Karsten Harries zeigt, dass Architektur, aufgrund ihrer funktionalen Einbindung, ihrer Lokalität, ihrer Publizität und ihrer Bedeutung für die Hervorbringung von Gemeinschaft letztlich nur dort ästhetisch überzeugt, wo es ihr gelingt, ethische Normen ästhetisch zu vermitteln. Erstaunlich genug läuft nun die Architekturästhetik Scrutons auf eine ethische Forderung hinaus, wohingegen Harries Architekturethik vor allem an ästhetischem Können,

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nämlich der Fähigkeit zur Re-Präsentation, zur Bestimmung eines Grundes durch das Herausstellen einer Form, orientiert ist. Bei Scruton ist diejenige ästhetische Form überzeugender, die sich auf längere Sicht bewährt, wohingegen Harries genau die entgegengesetzte temporale Perspektive auf Architektur einnimmt und eher singuläre, ephemere Eingriffe, das Preliminarische und nicht das Permantente, Antizipation und nicht Präskription betont. Versuchen wir einen genaueren Blick auf die Konsequenzen dieser Positionen zu erarbeiten, die auf die eine oder andere Weise das ästhetische Gelingen eines architektonischen Entwurfes von einer ethischen Norm, nämlich der Gemeinschaftsstiftung, abhängig machen. Dazu werde ich mich dem Gegenteil des architektonischen Entwurfes, nämlich dem Abriss, zuwenden. Denn kurioserweise scheinen beide Autoren davon auszugehen, dass Baukunst das Werk eines Architekten ist, der einer Gemeinschaft die Ordnung vor Augen zu stellen hat. Der Abriss stellt hier ein wichtiges Gegenbeispiel dar, denn er zeigt, dass großartige Architektur nicht notwendig durch Bauen, sondern zuweilen auch durch Abreißen, und nicht notwendig durch einen professionellen Architekten, sondern durch ein Kollektiv realisiert werden kann. Es zeigt auch, dass Gesellschaftsbildung kein Fundament voraussetzt:31 Der Abriss ist ein Musterbeispiel für die konstituierende Gewalt. Mit keineswegs desaströsen Resultaten: Die Piazza della Signoria gilt als einer der schönsten Plätze Italiens. Diese Gestaltung der Leere im Zentrum der Stadt Florenz geht zurück auf einen Abrissbeschluss des dortigen Stadtrates aus dem Jahr 1296. Außer der Zerstörung eines alten Hospizes bedeutete dies den Abriss kleiner Häuser und Läden und die Verlegung von Grabsteinen. Auch Dante soll für diese Entscheidung gestimmt haben. Welche Gebäude darf man abreißen? Welche sind erhaltenswert, welche müssen unbedingt wieder aufgebaut werden? Zur Zeit scheint es so zu sein, dass ein Bau nicht mit Investoreninteressen kollidieren sollte, um erhalten zu bleiben. Generell aber könnte man vermuten: Ein besonders gelungenes, wenn nicht gar schönes Gebäude reißt man nicht ab. Ein politisch oder gar ethisch besonders wertvolles Gebäude reißt man nicht ab. Im Gegenteil, wo es fehlt oder gar zerstört wurde, muss man es wieder errichten.

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Ein historisch bedeutsames Gebäude, gleich ob aus einer glorio­sen oder schrecklichen Vergangenheit herrührend, sollte man, als Gedächtnis- oder Lernort aufbereitet, konservieren. Dass ein Gebäude aus rein ästhetischen Erwägungen abgerissen worden wäre, ist unwahrscheinlich. Unglaublich hässliche Städte verunzieren diesen Planeten unbehelligt. Das Niederreißen von Gebäuden erfolgt meist entweder aus militärischen Gründen, aus wirtschaftlichen Interessen, oder aus machtpolitischen Erwägungen. Andere Gründe, wie zum Beispiel hygienische, werden oft vorgeschoben, so beim Abriss des „Hôtel-Dieu“ (1865 durch Hausmann) oder des „Hôpital de la Charité“ (1935) in Paris. Folterbaracken, Verliese und Prunkschlösser werden oft aufwendig erhalten. Die Forderung, dass etwas, aber nicht alles, als Gedächtnisoder Lernort erhalten oder gar wiederaufgebaut werden muss, ist biologistisch (Merkraum), kognitivistisch (Gedächtnisraum), romantisch (Fragment/Ruine), historistisch, rassistisch oder auch theologisch begründet worden. Im Gegenzug schafft man auch in hoch verdichteten Kulturräumen Platz für Neues, oder um noch Älteres freizulegen. Wann genügen Dokumente und Hinweistafeln? Wann muss es das Original sein oder wann reicht, wie bei den Höhlen von Lascaux, eine Replik? Wenn „Geschichte erleben“ etwas punktuell didaktisches ist, und kein erbärmlicher gesellschaftlicher Zustand, dann bedarf es Kriterien, die außerhalb rein geschichtswissenschaftlicher oder archäologischer Diskurse liegen, die sich prinzipiell auf Alles richten könnten, das gestern schon bestanden hatte; und hier auch nur auf das Wissbare, auf Daten und Quellen, die, einmal vollständig ausgewertet, nicht mehr in situ aufbewahrt werden müssen. Ähnlich sieht es mit dem ethischen Kriterium aus: Selbstverständlich kann man ein ethisch wertvolles Gebäude abreißen, wenn man dafür ein ethisch identisches oder noch Wertvolleres wieder errichtet. Oder wenn kein Bedarf mehr dafür besteht. Nur bei einem baukünstlerisch wertvollen Gebäude zählt am Ende dieses spezi­ fische materielle Ensemble und nicht die wahrnehmungsmäßig identische Kopie. Aus meiner Sicht ist Architektur die ontologische Kunst par excellence; sie bringt Welten hervor und prägt die Entscheidung darüber, ob etwas (ein Reservat, eine Kulturlandschaft oder eine Altstadt) Bestand haben soll. Von ihr hängt ab, was etwas ist, wie etwas existieren kann und was als Grundlage dieses Seinkönnens

Ludger Schwarte – Gründen und Abreißen

zählt. Architektur zieht auch die Grenze zum Nichts, zum Unmöglichen, zum bloßen Schein. Die Qualifizierung von etwas als dieses, hier und jetzt, vor den Sinnen Stehende wird von den architekto­ nischen Parametern der Präsenz und der Wirkung bedingt und diese wiederum hängen von der Wahrnehmbarkeit ab, die etwas gewinnt, von Bedingungen des Erscheinens und Existierens, die ergründet werden müssen. Wenn dies richtig ist, brauchen wir andere als die üblichen, kunsthistorisch, evolutionär oder kulturtheoretisch unterfütterten Kriterien für Gelingen in der Architektur, wie sich im Falle des Abreißens zeigt. Es gibt rein symbolische Abrissmaßnahmen, wie den Abriss der Bastille (1789–90). Aber es gibt auch politisch bedeutsame Abrissarbeiten: Hierzu zählt die Schaffung von Stadtplätzen, ohne die, jedenfalls in der Frührenaissance, keine Republik zu haben ist. Den Abriss als kollektive Architektur, das Schaffen von Freiflächen und die Gestalt von Stadtplätzen kann nur wertschätzen, wer deren physische und politische Tragweite in einer Formkonstellation mitzureflektieren vermag. Der Abriss ist nicht zwangsläufig nur als Vorbereitung auf das Gründen gültig, sondern womöglich als Herstellung einer völlig neuen Situation erforderlich. Wenn wir daran gehen, die Wechselwirkung ontologischer, ästhetischer, ethischer und politischer Planungsprozesse in der Architektur zu untersuchen, sollten wir versuchen, die Bandbreite architektonischer Akte umfassender zu ermessen. Es muss kein imposantes Gebäude sein. Architektur impliziert eine Neubegründung dessen, was es heißt, ein Mensch zu sein, einen Körper zu haben, seine Sinne zu gebrauchen, in der Welt zu leben, frei zu sein.

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Jörg H. Gleiter

Condicio architectonica: Zum Verhältnis von Philosophie und Theorie der Architektur Die Frage nach der Philosophie der Architektur und ihrem Verhältnis zur Theorie ist mit der paradoxen Situation konfrontiert, dass zu Beginn begrifflich präzisiert werden muss, was zu klären gerade Inhalt und Ziel der Philosophie der Architektur ist, nämlich die Architektur. Dennoch, eine Definition der Architektur auf empirischer Grundlage ist notwendige Voraussetzung, insofern durch sie eine Einstellung vorgezeichnet wird, die erst ermöglicht, das Spezifische der Architektur in den Fokus zu bekommen. Architektur ist, so lässt sich konstatieren, jene kulturelle Praxis, mit der der Mensch sich eine vom Zustand reiner Naturhaftigkeit verschiedene, seinen sich gleichbleibenden wie verändernden Bedürfnissen einzig zuträgliche Umwelt schafft. Während Philosophie nach Immanuel Kant die „Wissenschaft von der Beziehung aller Erkenntnis auf die wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft“1 ist, ist die Philosophie der Architektur dies in Bezug auf die Architektur, wobei der Philosophie der Architektur – auf Grundlage und in Erweiterung von Kant – die Klärung der Frage zufällt, inwieweit gerade die Architektur einer der wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft ist. Architektonik Um das Spezifische der Architektur in den Fokus zu

bekommen, muss sich jede Form der Reflexion über Architektur der Erkenntnis stellen, dass die Architektur eine Kulturtechnik ist, die ihre Prinzipien nicht mimetisch nachahmend der Natur entlehnt. Die Architektur ist nicht „fremder Vernunft“2 nachgebildet, wie man mit Kant sagen könnte, sie folgt einer eigenen Wissenslogik. Kant spricht hier von Architektonik, wobei für ihn Architektonik

Jörg H. Gleiter – Condicio architectonica

überhaupt, aber am Vorbild der Architektur orientiert, für das Prinzip systematischen, philosophischen Denkens steht. Kant definiert Architektonik als „die Kunst der Systeme“3 und damit als diejenige Tätigkeit, die aus „einem bloßen Aggregat [von unterschiedlichen Erkenntnissen] ein System macht“,4 wobei der Begriff System für Kant eine andere Bezeichnung für „architektonische Einheit“5 ist. Unter System versteht er die Vereinigung der „mannigfaltigen Erkenntnisse unter einer Idee“6 und damit das Gegenteil zu einer „rhapsodistisch[en]“7 Konzeption der Erkenntnis. Orientiert am Rhapsoden, dem griechischen Wandersänger, und am musikalischen Instrumental- oder Vokalwerk der Rhapsodie steht für Kant „rhapsodistisch“ für die Art und Weise, Themen ohne übergreifenden formalen Zusammenhang und innere Notwendigkeit zu verknüpfen. Was unter der Kunst der Systeme zu verstehen ist, präzisiert Kant in einem weiteren Schritt. System heißt, dass die Dinge nicht in formaler, abbildender Ähnlichkeitsbeziehung oder aufgrund „zufällig sich darbietenden Absichten“8 zueinander in Beziehung stehen, sondern in relationalen Beziehungen oder Verwandtschaftsbeziehungen. Abbildhaftigkeit spiegelt eine Sache äußerlich in ihr formales Spiegelbild, aufgrund von formalen Ähnlichkeiten erkennt man im Bild eine Landschaft, in der Skulptur eine menschliche Figur und im Piktogramm eines Verkehrszeichens die Gefahr von Steinschlag. Beziehungen aufgrund von formalen Ähnlichkeiten gründen für Kant im zufälligen Gebrauch der „Erkenntnis in concreto“. Diese Art der Einheit bezeichnet Kant als tech­nische Einheit. Dagegen ermöglicht relationale Bezugnahme, Dinge aufgrund innerer Eigenschaften, auch ohne äußere Ähnlichkeit, zueinander in Beziehung zu setzen, dabei einer Idee oder „einigen obersten und inneren Zwecke“9 folgend. Dies bezeichnet Kant als „architektonische Einheit“. Wie er weiter ausführt, kann durch sie „dasjenige entspringen, was wir Wissenschaft nennen.“10 Damit ist der Architektur, insofern an ihr das Prinzip der Architektonik abgeleitet ist, ein wissenschaftliches Moment eingeschrieben. Die Architektonik findet ihre Erweiterung zur Architektur, wenn die Architektonik als Kunst der Systeme nicht nur dem Zweck der Vernunfterkenntnis dient, sondern der Schaffung einer vom Zustand reiner Naturhaftigkeit verschiedenen, den sich gleichbleibenden wie verändernden Bedürfnissen der Menschen einzig zuträglichen Umwelt. Architektur entsteht demnach, wenn die

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verschiedenen Wissensformen, die die Architektur auszeichnen, wie Kontext, Material und Konstruktion oder Körper, Atmosphäre und kulturelle Codes unter einer Idee in sinnfällige Beziehung zueinander gesetzt werden. So verbindet die Architektur unterschiedliche Materialien wie Holz, Stein oder Glas in einer Art und Weise zu Bauteilen wie Fundament, Wand, Decke und Dach, die wiederum so miteinander in Relation gesetzt werden, dass – einer Idee folgend – ein Haus entsteht, das nicht in formaler Nachahmung der Natur seine Gestalt erhält, sondern auf Grundlage des Wissens um die Materialeigenschaften, die konstruktiven Methoden und die kulturellen Zwecke. Wobei unter Konstruktion die Verfahren bezeichnet werden, mit denen die Elemente in sinnvoller Weise zueinander in Beziehung gesetzt werden. Die zentrale Stellung der Architektonik im System des Wissens macht aus, dass in ihr ganz ursprünglich Kunst und Wissenschaft in eine Einheit gebunden sind. Architektonik ist als „Kunst der Systeme“ eine Kunst, wo sie nicht in der Natur nach ihren formalen Gesetzen sucht, und sie ist als „Kunst der Systeme“ eine Wissenschaft, wo es ihr nicht um den „zufälligen Gebrauch der Erkenntnis in concreto zu allerlei beliebigen äußeren Zwecken“ geht. Architektonische Einheit heißt, die „mannigfaltigen Erkenntnisse unter einer Idee“11 zusammenzuführen. Während die Philosophie das System des Wissens zur Wissenschaft hin öffnet, tut dies die Architektur zur Kunst hin. Die Architektonik macht die Architektur zu einer Wissenspraxis aus eigenem Recht, also zu einer Kulturtechnik, die ihre Prinzipien systematisch aus dem ihr zur Verfügung stehenden Material, den konstruktiven Methoden und den kulturellen Zwecken heraus entwickelt. Das heißt aber, dass das architektonische Wissen eine besondere Beziehung zur Geschichte besitzt, insofern dieses, im Gegensatz zur reinen Vernunfterkenntnis, immer in einer Traditionslinie der eigenen Wissenspraxis steht. Sie ist, wie man Kant folgend postulieren kann, rational und historisch. „Aus allgemeinen Quellen der Vernunft, woraus auch die Kritik, ja selbst die Verwerfung des Gelerneten entspringen kann, d. h. aus Prinzipien geschöpft“12, ist architektonische Erkenntnis Vernunfterkenntnis. „Durch unmittelbare Erfahrung oder Erzählung, oder auch Belehrung (allgemeiner Erkenntnisse) gegeben“13, ist das Wissen der Architektur historische Erkenntnis. Als historische Erkenntnis ist

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das Wissen der Architektur cognitio ex datis, als rationale cognitio ex principiis. Die Erkenntnis, dass die Architektur als Wissenspraxis aus eigenem Recht ihre Prinzipien nicht der Natur nachahmend entlehnt, ist schon im ältesten überlieferten Architekturtraktat formuliert. Exemplarisch beschreibt dies Marcus Vitruvius Pollio (80–70 v. Chr. – 15 n. Chr.), auch Vitruv genannt, in De architectura libri decem anhand der Entdeckung des korinthischen Kapitells durch den griechischen Architekten Kallimachos. Vitruv erzählt die Geschichte, dass einst die Amme eines früh verstorbenen korin­thischen Mädchens einen Korb mit Spielzeug auf dessen Grab stellte. Zum Schutz vor dem Wetter bedeckte sie diesen mit einer Steinplatte. Zufällig stand der Korb auf einer Bärenklau- oder Akanthuswurzel, die im Frühjahr ausschlug und den Korb nach und nach überwucherte.14 Kallimachos erkannte in dem von der Pflanze umrankten menschlichen Artefakt die besondere symbolische Kraft für die Symbiose von Natur und Kultur und machte dieses Motiv zum Thema jenes Kapitells, das mit Bezug auf seinen Entstehungsort als korinthisches Kapitell bezeichnet wird. Als Kapitell thematisiert es jene Stelle eines Gebäudes, an der der Grundgedanke der Architektur zur Sichtbarkeit kommt: das konstruktive System von Lasten und Tragen. Das Kapitell markiert den Punkt der Umlenkung der in einem Gebäude wirkenden Kräfte aus der Horizontale in die Vertikale d. h. vom Balken zur Stütze oder vom Architrav zur Säule. Die Säule selbst zeigt, wie der nach unten wirkenden Kraft eine Gegenkraft entgegengesetzt wird. Druck und Gegendruck wird in der Säule plastisch durch die Entasis, die Schwellung des Säulenumfangs in der Mitte, visuell verdeutlicht. Vitruvs Erzählung von der Entdeckung des korinthischen Kapitells verdeutlicht die erkenntnistheoretische Grunddisposition der Architektur: Zuerst war der Korb, ein von Menschen aus dem Wissen um die konstruktiven Möglichkeiten des Materials und die Zweckmäßigkeit der Form gemachtes Artefakt, dann erst nimmt die Natur in Form der Akanthuspflanze Besitz von ihm. Erst kommt das Artefakt, dann die Wiederaneignung durch die Natur. Dasselbe gilt pars pro toto für die Architektur. Die Architektur entsteht zunächst ohne Anleihe an die Natur als cognitio ex principiis von Lasten und Tragen, was im Laufe der Zeit als historische Erkenntnis und damit als cognitio ex datis von Generation zu Generation weitergegeben wird. Erst in einem zweiten Schritt

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findet mit dem Ziel eines symbolischen Ausgleichs die Vermittlung von Artefakt und Natur durch das naturalistisch-organische Ornament statt. Gerade das konstruktive System von Architrav und Säule ist nicht, wie oft angenommen, mimetisch der Natur entlehnt. Die Ableitung der Säule vom Baum gehört zu den Ursprungsfantasien der Architekten, wie zum Beispiel Philibert Delormes Darstellung des Ursprungs der Säule im Baumstamm oder Abbé Laugiers Spekulation über die Urhütte als Baumhaus. Lasten und Tragen als architektonisches System, also nicht nur als singuläres, zufälliges Ereignis, ist dagegen mit Kant eine Vernunfterkenntnis. Ähnliches gilt für die Idee des Fundaments, für das Verbundmauerwerk, für den Dreigelenkträger und selbst für den rechten Winkel in seiner systematischen Anwendung. Sie besitzen keine Vorbilder in der Natur. Wie die empirische Betrachtung der Architektur gezeigt hat, hat das Nachdenken über Architektur eine erkenntnistheoretische Ausrichtung. Da nach Kant die Erkenntnis historisch und rational ist, besitzt das Nachdenken über Architektur eine doppelte Perspektive. In Hinblick auf die historische Erkenntnis zeigt sie sich als historische Epistemologie, während sie sich in Erweiterung von Kant in Hinblick auf die Vernunfterkenntnis als erweiterte Epistemologie15 zeigt. In der erweiterten Epistemologie kommt zum Tragen, dass es in der Architektur sowohl in Bezug auf die historische wie rationale Erkenntnis nicht allein um Vernunfterkenntnis geht. Kants „Lehre von der bloß passiven Sinnlichkeit und dem aktiven Verstand“16 reduziert das Erkenntnisvermögen allein auf die kognitive Erkenntnis. Der Erweiterung der Epistemologie bedarf es, wo besonders im Alltag immer verschiedene Wahrnehmungs- und damit Erkenntnisformen wie Orientierungs-, Alltags- oder Erfahrungswissen zusammenspielen. Nach Günter Abel ist zu unterscheiden nach „knowing-how vs. knowing-that“ und „conceptual vs. non-conceptual knowledge“.17 Die erweiterte Epistemologie bringt in den Fokus, dass im Prozess der Konzeption wie im Prozess des Gebrauchs der Architektur immer theoretisches, prak­tisches und implizites Wissen zusammenspielen. Für die Frage nach dem Verhältnis von Philosophie und Theorie der Architektur ist darüber hinaus die empirische Erkenntnis von Bedeutung, dass die Architektur nicht nur eine konstruktive Wissenspraxis ist, sondern dass sie immer eine konstruktive Wissenspraxis für etwas

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ist und damit in Hinblick auf einen bestimmten Gebrauch, unabhängig ob intentional oder beiläufig. Dialektik architektonischer Erkenntnis Die spezifische Wissenslogik und damit die Eigenlogik der Architektur zeigt sich jedoch erst in der dialektischen Brechung ihrer gesellschaftlichen Bestimmung. Zum ersten Mal beschrieben, vorsichtig tastend, wurde dies von Leon Battista Alberti (1404–72). In seinem zehnbändigen Werk De re aedificatoria formulierte Alberti Zweifel daran, ob es tatsächlich die wichtigste Aufgabe der Architektur sei, die Menschen „vor dem schlechten Wetter zu schützen.“18 Es gebe tatsächlich Leute, wie er mit Blick auf Vitruv anmerkt, die meinten, dass „das Wasser oder das Feuer die Anfänge boten, auf Grund deren sich die menschliche Gesellschaft“ gebildet habe. Er selbst sei angesichts der Nützlichkeit und Notwendigkeit von Decke und Wand zu ganz anderen Überzeugungen gekommen, dass nämlich „diese [Wände und Decken] in viel höherem Grade dazu beigetragen haben, die Menschen zu vereinigen und zusammenzuführen“19 – als Feuer und Wasser, wie man ergänzen muss. Alberti hob damit die Vergesellschaftungsfunktion der Architektur hervor und stellte sie zumindest auf die gleiche Stufe wie die Schutzfunktion. Damit widersprach er Vitruvs Darstellung der Ursprünge der Menschen. Diese seien, wie Vitruv meint, „in der Urzeit, wie die wilden Tiere, in Wäldern und Höhlen geboren“ worden. Erst nachdem sie gelernt hatten, das Feuer zu beherrschen, formierten sie sich zu größeren Gruppen. Um das Feuer vereinigt lernten sie sprechen und wurden dadurch zu sozialen Wesen. Dann erst begannen die einen, „von Laub Dächer zu machen, die anderen unter den Bergen Höhlen zu graben, einige, die Nester der Schwalben und deren Bau nachahmend, aus Lehm und Zweigen Stätten zu bereiten, wo sie unterkommen konnten.“20 Nach Vitruvs großer Erzählung der Anfänge der menschlichen Gesellschaft waren es also die schon vergesellschafteten Menschen, die zum Schutz vor der Natur wie gleichsam in Nachahmung der Natur anfingen, Architektur zu betreiben und Gebäude zu bauen. Das stellte Alberti auf den Kopf. Da die Wände und Decken in viel höherem Grade dazu beigetragen hätten, die Menschen zu vereinigen und zusammenzuführen, sei der architektonische Raum Voraussetzung für die Bildung der menschlichen Gemeinschaft. Damit leitete Alberti einen grundsätzlichen Wechsel in der

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Konzeption der Architektur ein. Wo sie durch den materiellen wie räumlichen Rahmen die Möglichkeitsbedingungen für das Zusammenkommen der Menschen schafft, ist Architektur einerseits Voraussetzung für die Vergemeinschaftung der Menschen. Wo aber aufgrund ihrer Komplexität die Architektur nur in gemeinschaftlicher Tätigkeit erschaffen werden kann, was auch Vitruvs Intention war, ist die Architektur andererseits Resultat der dem Bauprozess vorausgehenden Vergemeinschaftung der Menschen. Es zeigt sich die dialektische Konstitution der Architektur, wo Architektur sowohl Voraussetzung wie auch Resultat der menschlichen Sozia­ lisierungsprozesse ist, und umgekehrt die menschliche Gemeinschaft Voraussetzung für und Resultat der Architektur ist. Mit Alberti deutete sich eine weitreichende Veränderung im Nachdenken über Architektur an. Die Frage nach den Ursprüngen der Architektur kann nicht mehr gestellt werden, sie ist in der doppelten dialektischen Konstitution aufgehoben. Gefragt werden kann nur nach der Architektur als eine auf die konkrete Gestaltung der Umwelt zielende Wissenspraxis. Mit dem Hervortreten der dialektischen Konstitution der Architektur beginnt mit der albertianischen Wende ein langer Prozess der Neuausrichtung des Nachdenkens über Architektur. Es treten nach und nach die älteren kosmologischen und ontologischen Modelle der architektonischen Wissensordnung in den Hintergrund. Es erfährt das Nachdenken über Architektur eine Öffnung hin zu ihren erkenntnistheoretischen Grundlagen. Erkenntnistheorie der Architektur Mit der albertianischen Wende

zeigt sich, dass die condicio humana eine condicio architectonica ist. Architektur als Wissenspraxis ist eine der anthropologischen Grundvoraussetzung für die Herausbildung menschlicher Gemeinschaft. Die gesellschaftlichen Tatbestände können demnach nicht als ein nur soziales oder soziopolitisches Gemachtes hinreichend konzeptualisiert werden, vielmehr sind sie immer auch durch die Architektur determiniert, insofern sie durch die gebaute Umwelt und damit die Möglichkeit des Gebraucht-werdens von Wohnung, Haus, Straße, Stadt und Landschaft in ihrem Charakter definiert werden. Es sind die materiell-räumlichen Bedingungen, die die individuelle und gesellschaftliche Entwicklung zulassen, unterstützen oder auch verhindern. Das Nachdenken über Gesellschaft

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in ihren Voraussetzungen ist nicht vom Nachdenken über Architektur ablösbar. Defizitär ist demnach jede ideenmäßige Konstitution menschlicher Gesellschaft, die nicht die materiell-räumlichen Bedingungen als deren Voraussetzung benennt und analysiert. Wo die condicio humana immer condicio architectonica ist, ist die Idee von Gesellschaft ohne den Modellierungsbereich der Architektur und die materiell-räumliche Exemplifikation im konkret Gebauten nicht denkbar, während umgekehrt auch gilt, dass Architektur, da von ihrer zweckmäßigen Bestimmung her gemeinschaftsbildend, ohne ein Modell der Gesellschaft nur unzureichend in ihrer kulturellen Funktion verstanden und konzipiert werden kann. Die dialektische Verschränkung von Architektur und Gesellschaft zeigt sich in Folge von Alberti und der Renaissanceaufklärung in den großen Utopien von Thomas Morus (1478–1535), Tommaso Campanella (1568–1639) oder Francis Bacon (1561– 1626). Trotz der programmatischen Ortlosigkeit als U-topie und damit Nicht-Ort kommen die Utopieentwürfe der genannten Autoren nicht ohne Beschreibung von Gebäuden, Städten und Landschaften als Grundlage aus, auf der die ideenmäßige Konstitution der utopischen Gesellschaft gründet. So beschreibt Morus, wie als Voraussetzung für die Realisierung der utopischen Gesellschaft die Insel Utopos als Insel erst gemacht werden musste. Unmittelbar nach der Landung im verheißenen Land ließ Utopos, der Führer der Utopiker, „die Erde dort, wo sie mit dem Festland zusammenhing, auf fünfzehn Meilen ausheben und umgab das Land so ringsum mit Wasser.“21 Die Insel ist ein Artefakt, die utopische Idee gründet nicht in der natürlichen Ordnung. Es ist die künstlich geschaffene Insel Voraussetzung für die Entwicklung der utopischen Gesellschaft. Selbst die Utopie als ein imaginäres Gesellschaftsmodell bedarf der Verortung und der architektonischen Konkretion, ohne die sie als Gesellschaftmodell – selbst als U-topie und damit NichtOrt – nicht möglich wäre. Es zeigt sich, dass das Nachdenken über die Grundlagen der Kultur nicht von der Architektur und das Nachdenken über Architektur nicht von ihrem materiell-räumlichen Gemacht-werden abgelöst werden können. Damit wird das Nachdenken über Architektur als Theorie der Architektur sichtbar. Theorie ist es, weil die Erkenntnis über die kulturelle Dimension der Architektur – ihr Gebraucht-werden – nur in Bezug auf die konkrete mate­rielle

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wie räumliche Realität – ihr Gemacht-sein oder Gemacht-werden – möglich ist. Das unterscheidet Theorie von der reinen Vernunft­ erkenntnis oder der Philosophie. Die Theorie der Architektur ist nicht und kann nicht Metaphysik sei, wo die Praxis des Wissens in materieller wie räumlicher Hinsicht Grundlage für die architekto­ nische Erkenntnis ist. In der dialektischen Konzeption von Gemacht-werden und Gebraucht-werden – Alberti hatte es schon thematisiert – zeigt sich das Nachdenken über Architektur als Erkenntnistheorie, die die Architektur in der Fülle ihrer Möglichkeiten zum Gegenstand ihrer philosophischen Erörterung hat. Je nachdem ob der Fokus auf dem Gemacht-werden oder dem Gebraucht-werden liegt, lässt sich die Theorie der Architektur dennoch in zwei Teilbereiche differenzieren. Wo das Nachdenken in analytischer Beschränkung den Aspekten des praktischen Gemacht-werdens und damit der Architektur in ihrer materiellräumlichen Konzeption gilt, lässt sich dies als Architekturtheorie im engeren Sinne bezeichnen. Wo dagegen das Nachdenken in analytischer Beschränkung auf das Gebraucht-werden der Architektur und damit auf die allgemein kulturelle Funktion fokussiert, lässt sich dies als Architekturphilosophie bezeichnen. In der notwendigen Synthese gehen beide in die Architekturtheorie im weiteren Sinne ein. Da die Erkenntnis in der Architektur aber nicht nur rational sondern auch historisch ist, lässt sich für die Theorie der Architektur im weiteren Sinne eine historische Entwicklungslinie aufzeigen einschließlich einer eigenen Taxonomie. Entsprechend des Reflexionsgrades und der Stellung zur Erkenntnistheorie können für die Architekturtheorie im weiteren Sinne vier Entwicklungsstufen unterschieden werden. Es lässt sich ein einfaches Nachdenken über Architektur von der Traditionellen Theorie der Architektur und der Kritischen Theorie der Architektur und diese wiederum von einer kritischen Erkenntnistheorie der Architektur unterscheiden. Wenn hier von einer Entwicklungslinie gesprochen wird, so soll darunter nicht verstanden werden, dass etwa die Theorie der Architektur einer teleologischen oder immanenten Entwicklungslogik folgen würde. Die Veränderungen in der Konzeption der Theorie der Architektur sind Reaktion auf die Veränderungen der kulturellen Logik auf je unterschiedlichen Ebenen. Die Veränderung der Konzeption der Theorie der Architektur lassen sich erstens zurückführen auf Veränderungen der Stellung der Architektur

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innerhalb der Gesellschaft, ausgelöst durch die sich verändernde Konzeption von Gesellschaft. Beispielhaft stehen dafür die Rekonzeptualisierung der Architektur im Übergang von der feudalen zur industriellen Gesellschaftsordnung, von der industriellen zur postindustriellen Gesellschaftsordnung oder vom analogen zum digitalen Zeitalter. Die Veränderungen in der Konzeption der Architekturtheorie lassen sich zweitens auch zurückführen auf die Veränderungen innerhalb des Systems der Architektur wie zum Beispiel seit Mitte des 19. Jahrhunderts durch die Einführung neuer Materialien wie Stahl, Glas und Beton und neuer Produktionsverfahren wie Vorfertigung, Standardisierung oder Elementierung; sie lassen sich darüber hinaus drittens auch zurückführen auf die Veränderung der Stellung des Architekten innerhalb des Prozesses der Architektur. So verändert sich in der Renaissance die Stellung des Architekten durch die Überführung der Architektur von einer autographischen, allein durch die Person des Autors vermittelten, zu einer allographischen Kunst. Dies geschieht durch die Einführung von verbindlichen Notationsverfahren wie maßstäbliche Grundriss-, Aufriss- und Schnittzeichnungen, so dass einerseits der Architekt unmissverständlich zum Autor seiner jetzt in der Zeichnung fixierten Ideen wird, während andererseits die Präsenz des Autors für die Ausführung seiner Ideen auf der Baustelle nicht mehr vonnöten ist. Dadurch änderte sich die Stellung des Architekten vom bauleitenden Architekten, der vor Ort durch Anweisung der Handwerker seine architektonischen Vorstellungen kommuniziert, zum entwerfenden Architekten und Autor, der seine Vorstellungen in verbindlichen Zeichnungen fixiert, dokumentiert und autorisiert und die Bauleitung Vorort an andere Personen delegiert. Mit der Einführung von Zeichnungen ist ein Prozess der Intellektualisierung der Arbeit des Architekten zu beobachten. Es ist Resultat der Verschiebung der Position des Architekten in Richtung Anfang des Architekturprozesses und damit hin zum Entwerfen. Eine Fortsetzung dieses Prozesses lässt sich für die Rolle des Architekten im Maschinenzeitalter wie wiederum an der Schwelle zum digitalen Zeitalter beobachten. Die Digitalisierung der Entwurfsund Produktionsprozesse verschiebt die Stellung des Architekten relativ zum Architekturprozess weiter in Richtung Konzeption und Entwurf und damit an den Anfang des Architekturprozesses. Damit

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wird das Augenmerk verstärkt auf Fragen einer Epistemologie des Entwerfens gelenkt. Genealogie der Theorie der Architektur Für die Theorie der Archi-

tektur im weiteren Sinne lassen sich aus heutiger Sicht vier Stadien bestimmen, die in Bezug auf die architektonischen Wissens­ praktiken jeweils von einem eigenen Erkenntnisinteresse geprägt sind. Die Übergänge zwischen den einzelnen Modi der Reflexion vollziehen sich dabei über lange Zeiträume und keineswegs in Form von Paradigmenwechseln, wie dies oft – mangels historischer Distanz und der Aktualität der Phänomene geschuldet – beschrieben wird. Wobei die unterschiedlichen Formen der Theorie nebeneinander existieren, und gerade die Spannung zwischen diesen zur Stabilisierung der Architekturpraxis in den Übergangszeiten beiträgt. Die langen Zeiträume der Ablösung lassen sich mit Reinhart Kosselleck als Sattelzeit beschreiben. Mit Nachdenken über Architektur lässt sich die Reflexion über das Gemacht-werden und Gebraucht-werden der Architektur bis ins 19. Jahrhundert beschreiben. Es ist geprägt von einer kosmologischen Ausrichtung, der die erkenntnistheoretischen Aspekte untergeordnet werden. Ziel des Nachdenkens über Architektur ist die Reflexion über Architektur als Abbild und Repräsentation einer prästabilierten, kosmologischen Ordnung. Dafür scheint die Architektur geradezu prädestiniert, da sie im Sinne der condicio architectonica in totalisierender Weise das ganze Leben umfasst und mit der Architektonik als Kunst der Systeme, das ihr zugrunde liegt, nicht abbildhaft-mimetisch der Natur nachgebildet ist, sondern auf einem System relationaler Ordnungen besteht. In welchem anderen Medium könnte es denn sonst sein. Das fand seit der Renaissance seinen Niederschlag in den Versuchen, über Proportionssysteme jedes einzelne Element der Architektur in ein übergeordnetes System von bedeutungsvollen Ordnungsbeziehungen einzubinden. Exemplarisch zeigt sich das, ganz im Sinne der Architektonik als Kunst der Systeme, in der vitruvianischen Figur. Deren suggestivste Darstellung stammt von Leonardo da Vinci. Sie zeigt eine menschliche Figur, die mit ausgestreckten Armen und Beinen im Zentrum eines mit einem Quadrat überlagerten Kreises steht. Die Arme messen das Quadrat aus, die Füße definieren den Umfang des Kreises. Die menschliche Figur wird gezeigt als eingebunden in ein präzise definiertes geometrisches und gleichsam kosmolo­

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gisches Ordnungssystem, wobei Kreis und Quadrat nicht nur für die Ordnung des Ganzen stehen, sondern im kleineren, menschlichen Maßstab auch repräsentativ für die Architektur. Doch schon seit Albertis erst zögerlich vorgebrachter Feststellung einer dialektischen Konstitution der Architektur ist das Nachdenken über Architektur mit Zweifel durchsetzt. Der lange Ablöseprozess zeigt sich unter anderem in dem im 17. Jahrhundert ausgetragenen französischen Akademiestreit, der sogenannten Querelle des Anciens et des Modernes oder dem Streit der Alten und Modernen. Im Zentrum stand die epistemologische Fragestellung nach der Struktur des Wissens von Architektur und Kunst. Die Frage war, ob es wie in Wissenschaft und Technik auch in der Kunst die Idee von Fortschritt und Perfektionierung geben könne. Es betraf unmittelbar die Frage nach der Unumstößlichkeit der Antike als Vorbild für die zeitgenössische Architektur und Kunst. Die Idee von Fortschritt stand offen im Widerspruch mit der Idee der Architektur als Repräsentation einer prästabilierten, kosmologischen Ordnung. Im französischen Akademiestreit vertrat der Architekt François Blondel (1617–1686) die Seite der Alten und die Meinung, dass trotz gewisser Mängel die Architektur in der Antike ihren Höhepunkt erreicht habe. Höchste Vollendung der Architektur sei seither nur durch Nachahmung der Antike möglich. Damit war eine dynamische Entwicklung der Architektur ausgeschlossen. Als Vertreter der Neuen führte Claude Perrault (1613–1688) dagegen an, dass Architektur und Kunst immer auch durch die Sitten und den Geschmack der jeweiligen Epoche geprägt seien. Es gälten daher für jede Zeit eigene Begriffe von architektonischer Schönheit und Idealität. Perrault sah für die Architektur eine Dynamik am Werk, die einerseits dem sich stetig ändernden kulturellen Kräftefeld entsprach, andererseits sich von der Idee von Fortschritt in den Wissenschaften unterschied. Dass jede Epoche ihre eigenen Sitten und ihren eigenen Geschmack habe, mündete dann in der Forderung nach mehr Varianz in der Gestaltung. Über das von Alberti schon avisierte Maß rückte damit die Persönlichkeit des Architekten weiter in den Fokus. Es wird der Architekt zum Medium der Übertragung des je kulturellen Spezifischen in die Architektur, das heißt von Geschmack und Sitte. Perrault sprach von den principes arbitraires,22 von den individuellen Entscheidungsfreiheiten. Im

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Rahmen der Vorbildlichkeit der Antike müsse der Architekt seinem Genie und dem Zeitgeschmack folgen dürfen. Bernard le Bouvier de Fontenelle (1657–1757) war es jedoch, der 1688 in seiner Schrift Digression sur les anciens et les modernes entschieden die erkenntnistheoretische Dimension über die kosmologische stellte und feststellte, dass mit jedem Anwachsen der Erkenntnis immer auch eine gewisse Unvernunft am Werk sei. Er artikulierte damit erstmals eine moderne Konzeption des Wissens, indem er ein Entwicklungsmodell konzipierte, das die immanente Widersprüchlichkeit der Kultur aufnahm. Auf der Grundlage der Idee der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen formulierte Fontenelle eine in sich gebrochene dialektische und daher plurale, moderne Konzeption von Fortschritt. Aber erst mit der Industrialisierung zeichnete sich im Laufe des 19. Jahrhunderts eine Verschiebung innerhalb der Theorie der Architektur ab. Mit der Systematisierung des Architekturentwurfes23 bei Jean-NicolasLouis Durand (1760–1834), mit der Technik architektonischer Motive24 bei Karl Friedrich Schinkel (1781–1841) oder der auf erkenntnistheoretischer Basis neukonzipierten Ornamenttheo­ rie25 bei Gottfried Semper (1803–1879) begann die Ablösung vom Nachdenken über Architektur und der Übergang zur Traditionellen Theorie der Architektur. Mit der durch die Industrialisierung ausgelösten „gewaltigen Erschütterung des Tradierten“,26 wie Walter Benjamin anmerkte, verschiebt sich im Laufe des 19. Jahrhunderts das Erkenntnisinteresse in der Architektur. Wo mit der beschleunigten Entwicklungsdynamik alles ständig neu geordnet, umgebaut und umgedeutet wird, findet eine Verlagerung hin zu Fragen der Wissenspraxis statt. Unter dem Einfluss neuer Technologien und Materialien rückt einerseits das Gemacht-werden der Architektur in den Fokus des erkenntnistheoretischen Interesses, andererseits findet mit dem Verlust der „geschichtlichen Zeugenschaft“27 im schwierig gewordenen kulturellen Ganzen eine Verschiebung der Perspektive von kosmologischen zu ontologischen Fragestellungen statt. Die Architekten beklagten dabei keineswegs den Verlust der geschichtlichen Zeugenschaft, sowenig wie Benjamin den Verlust der Aura durch die technische Reproduzierbarkeit des Kunstwerks. Sie sahen darin ein Moment der Emanzipation der eigenen Zeit vom dogmatisch verhärteten Historismus.

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„Im modernen Leben kommt der Prozess der konsequenten stilistischen Entwicklung zum Stillstand. Die Architektur löst sich von der Tradition [und ihren kosmologischen Begründungszusammenhängen] und beginnt notgedrungen von vorn“,28 so der Architekt des italienischen Futurismus Antonio Sant’Elia (1888–1916). Es ging aber den Protagonisten der Moderne nicht vordergründig um einen Bruch mit der Geschichte, sondern unter den aktuellen Bedingungen der neuesten Technologien, Produktionsverfahren und Materialien um Bestimmung der Architektur aus ihrem eigenen Recht. In den theoretischen Diskursen rückten die Wesensbestimmung der Architektur und damit Fragen einer Ontologie der Architektur ins Zentrum. So sprach Hermann Sörgel von der „Vervollständigung der Wesensbestimmung“29 und vom „Wesen der Architektur als raummäßige Kunst“.30 Adolf Behne sprach von der Notwendigkeit zur „Besinnung auf die Wurzel“.31 Er forderte eine „Anpassung an die technischen und ökonomischen Funktionen“32 der Zeit. „Das Wesen der architektonischen Schöpfung“33 hieß August Schmarsows Aufsatz, der schon am Ende des 19. Jahrhunderts die Wesensfrage ins Zentrum der theore­tischen Reflexion über Architektur stellte. Das war von der Hoffnung getrieben, durch die verschiedenen Schichten kultureller Konnotationen hindurch auf den Boden der Dinge vorzudringen. Im Sinne von Edmund Husserls Forderung „Zurück zu den Dingen“ hoffte man auf die Möglichkeit zur Neukonzeption der Dinge im Kontext der Wissenspraktiken der aktuellen Zeit, das heißt unter dem Einfluss der aktuellen Materialien, Techniken und Produktionsverfahren. Die für die Moderne charakteristische Verknüpfung von erkenntnistheoretischen mit ontologischen Einstellungen zeigt sich exemplarisch bei Walter Gropius. „Das Ding ist bestimmt durch sein Wesen“,34 heißt es in Grundsätze der Bauhausproduktion. Wo die Fragen nach dem Wesen sich in Hinblick auf die „gegenwartsgebundenen Gesetze“35 stellte, war die Grundlage dafür eine erkenntnistheoretische. Nur die „entschlossene Berücksichtigung aller modernen Herstellungsmethoden, Konstruktionen und Materialien“36 mache es möglich, im sich verändernden kulturellen Kräftefeld das Wesen der Dinge zu bestimmen. Und dann weiter: „Nur durch dauernde Berührung mit der fortschreitenden Technik, mit der Erfindung neuer Materialien und neuer Konstruktionen gewinnt das gestaltende Individuum die Fähigkeit, die Gegenstände in lebendige Beziehung zur Überlieferung zu bringen.“37

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Wiederholt verwies Gropius darauf, dass nur durch zukunftsorientierte Aufnahme der avancierten technisch-materiellen Verfahren es gelingen könne, die veränderten kulturellen Inhalte in architektonische Gehalte zu überführen und dadurch die aktuelle Wissens­praxis in die Architektur aufzunehmen. Diese Art der theoretischen Reflexion, in der sich erkenntnistheoretische mit ontologischen Fragestellungen verschränkten, kann mit Max Horkheimer als Traditionelle Theorie der Architektur bezeichnet werden. Traditionell deswegen, weil die Protagonisten der modernen Architektur nicht erkannt hatten, dass selbst die Wissenspraktiken – und nicht nur Ästhetik und Stil – gesellschaftlich bedingt sind. Eine kritische Reflexion der Praxis der modernen Architektur in Hinsicht auf ihre gesellschaftliche Konstruktion fand nicht statt. Als diejenige kulturelle Praxis, mit der sich der Mensch eine ihm einzig angemessene, von der Natur verschiedene Umwelt schafft, ist gerade die Architektur „von dem gesellschaftlichen Lebensprozess, wie er in den Jahrtausenden sich entwickelt hat, nicht abzulösen“.38 Nach Horkheimer gilt es zu erkennen, dass die Tatsachen, wozu auch die Architektur gehört, „in doppelter Weise gesellschaftlich präformiert [sind]: durch den geschichtlichen Charakter des wahrgenommenen Gegenstands und den geschichtlichen Charakter des wahrnehmenden Organs.“39 Gerade die in diesem Sinne nicht minder historische Konstellation der frühen Moderne entging der Aufmerksamkeit der Protagonisten der Moderne. Im Weg stand die ontologische Perspektive auf Wiedergewinnung der Tradition. Dieses Defizit der Reflexion über Architektur führte dann in den 1950er und 1960er Jahren unmittelbar in die instrumentelle Wissenspraxis des Bauwirtschaftsfunktionalismus der Nachkriegsmoderne. Als Reaktion darauf fand im Laufe der 1960er Jahre eine abermalige Verschiebung der Reflexion über Architektur statt von der Traditionellen Theorie der Architektur zur Kritischen Theorie der Architektur. Es zeichnet die Kritische Theorie der Architektur aus, dass die erkenntnistheoretische Perspektive, über die Seite des Gemachtwerdens hinaus, nun auch die Seite des Gebraucht-werdens in den Fokus nimmt und damit die gesellschaftlichen Bedingungen der Architektur. Die ontologischen Fragestellungen nach dem Wesen der Architektur werden in den Hintergrund gedrängt. Konsequent forderte Manfredo Tafuri: „Architecture must model itself on tech-

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nological reality, so intimately as to become an epistemological metaphor.“40 Der Übergang zur Kritischen Theorie der Architektur vollzog sich, als in den 1960er Jahren die Defizite der Modernisierungspraktiken ins Bewusstsein traten. Die Kritik galt der instrumentellen Vernunft des Bauwirtschaftsfunktionalismus, der Unwirtlichkeit der Städte, den anonymen Großbauten, dem Verlust von Geschichtlichkeit, Sprachlichkeit und sinnlicher Anmut der Architektur. Unübersehbar waren die fortschreitende Zerstörung der europäischen Stadt und damit die Zerstörung gerade jener Umwelt, die sich der Mensch über Jahrhunderte mittels Architektur als einzig angemessene Lebenswelt geschaffen hatte. Angesichts ihres Versagens stellte sich, mit Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, die Frage, warum die Architektur der Moderne, „anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt.“41 Im Stadium der Krise der Moderne bedurfte es nun nicht nur der Reflexion des Traditionsverlusts, sondern der doppelten Reflexion der Architektur. Es wuchs das Bewusstsein für die Unauflöslichkeit von Kultur und Kulturkritik, dass modern im eigent­lichen Sinne Kultur nur ist, wenn sie die gesellschaftliche Wirkung ihrer vorbildlosen Praxis kritisch reflektiert, das heißt wenn sie das Bewusstsein gewonnen hat, „dass die Kriterien und Maßstäbe, denen sie folgt, im kulturkritischen Diskurs selbst gerechtfertigt werden müssen.“42 Während für die Traditionelle Theorie, so Hermann Schnädelbach, Kulturkritik noch ein „breiter Strom besorgten Räsonnements über die Mechanisierung und Technisierung, Vermassung und Entindividualisierung, Kommerzialisierung und Bürokratisierung des Lebens in der industriellen Zivilisation“43 gewesen war, kalkuliert die Kritische Theorie der Architektur immer mit der Möglichkeit des Versagens des humanistisch-aufklärerischen Programms der Moderne. Sie muss die architektonische Praxis radikal auf ihre gesellschaftlichen Defizite befragen. Es kann ihr nicht mehr darum gehen, den Traditionsverlust zu beklagen und in ontologischen Fragestellungen auszublenden und damit zu verharmlosen. Es bedarf der kritischen Reflexion der eigenen Praxis in Hinblick auf ihre gesellschaftliche Wirkung. Im Sinne von Fontenelle ist dies vom Bewusstsein getragen, dass mit jedem Anwachsen der Erkenntnis immer auch eine gewisse Unvernunft am Werk ist.

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Kritische Theorie bedeutet dann, dass durch die doppelte kritische Reflexion die in der frühen Moderne vernachlässigten oder unterdrückten Themen wieder in die Architekturdebatten zurückkehren, aber nicht als bloßes Wiederanknüpfen an Tradition, sondern in reflektierter, verwissenschaftlichter Form. So kehrte zum Beispiel die Ornamentfrage44 in erkenntnis- wie auch zeichentheoretischer Perspektive in die Debatten der Architektur zurück, ebenso wie im Allgemeinen Geschichte und sinnliche Wirkung. Mit dem linguistic turn der 1960er Jahre wurde die Semiotik zur Grundlagenwissenschaft der Kritischen Theorie der Architektur, zum Teil auch im bewussten Wiederanknüpfen an die älteren Verfahren der Rhetorik, wie in Manfredo Tafuris „ideological criticism“,45 in Charles Jencks The Language of Post-modern Architecture46 und in Jacques Derridas Supplementaritätsästhetik47. Erfolgreich war die Kritische Theorie der Architektur, wo ihr die Öffnung für die verdrängten Themen gerade in Hinblick auf die gesellschaftliche Funktion der Architektur gelang. Die Demokratisierung der Planungsprozesse und die Einführung von partizipatorischer Bürgerbeteiligung sind Erfolge der Kritischen Theorie der Architektur. Mit der Wende zum 21. Jahrhundert wurde jedoch sichtbar, dass die neuen digitalen Technologien einen tiefgreifenden Wandel in der Wissensstruktur und -praxis der Architektur auslösen, für die es einer Neufokussierung der Reflexion über Architektur bedarf. Denn die digitalen Technologien sind keineswegs nur Bildschirmwelten, wie man zu Beginn noch glaubte, sondern Verfahren, die in besonderer Weise in die entwerferische Praxis, das heißt in den Prozess der Konzeption und damit in das Denken der Architektur eingreifen. Sie verändern die Architektur quasi von innen heraus nach ihrem Maß. Die Fragen der gesellschaftlichen Funktion von Architektur, die der Kritischen Theorie der Architektur zugrunde liegen, finden dann unter dem Einfluss der neuen Technologien ihre Erweiterung zur Kritischen Epistemologie der Architektur. Auf die Herausforderungen, vor die die Gesellschaft durch die neuen Technologien heute gestellt ist, hat Hans-Ulrich Gumbrecht hingewiesen, als er von der „veränderten Epistemologie der elektronischen Zeit“48 sprach. Beständig forme die Technik unsere Epistemologien um und damit eben „nicht nur die Strukturen des Wissens, sondern auch die Modalitäten seines Entstehens“.49 Wo die technischen Innovationen im digitalen Zeitalter oft hinter

Jörg H. Gleiter – Condicio architectonica

unserem Rücken und gegen unsere Absichten das Denken und über das Denken die „Welt und die Art, wie wir uns erleben“, veränderten, müsse das Denken den Daten folgen. Die Geisteswissenschaften müssten endlich ihrer Aufgabe nachkommen und Begriffe und Gesten des Denkens entwickeln, die anders als die kognitiven Strukturen des analogen Maschinenzeitalters Teil einer veränderten Epistemologie des digitalen Zeitalters werden könnten. Das Denken im Allgemeinen und das Denken der Architektur im Besonderen müssten die Modellbereiche schaffen, in denen die neuen Phänomene gedacht, d. h. präzise beschrieben, analysiert und wertend in Relation gesetzt werden können. Die Forderung gilt einer erweiterten Form der Reflexion und dem, was hier für die Architektur als eine Kritische Epistemologie der Architektur bezeichnet werden soll. Aktuell lassen sich drei Ansätze für eine Erneuerung der theoretischen Grundlagen der Architektur benennen. Mit dem Ziel, die durch die digitale Vernunft verursachten Verwerfungen und Transformationsprozesse in ihren Ursachen, Verfahren und Wirkungen in die theoretische Reflexion über Architektur aufzunehmen, verfolgen sie eine Strategie der Ausweitung des Geltungsbereichs der Begriffe Architektur, Architekturtheorie und architektonisches Wissen. Die drei Strategien lassen sich benennen als 1) kulturwissenschaftliche Neuausrichtung der Architektur durch einen „erweiterten Architekturbegriff“50 im Sinne der Architektur als sozia­ler Raum, 2) Rekonzeptualisierung der Architekturtheorie durch Erweiterung der Architekturtheorie zur Architekturwissenschaft51 mit Bezug auf die Pluralität wissenschaftlicher Methoden; sowie 3) Rettung des architektonischen Wissensbegriff durch Erweiterung des klassischen enzyklopädischen Wissens zu einer „Enzyklopädik des Netzes“.52 Wo die Strategien sich als Weitung der Grundbegriffe der Architektur zeigen, zeigen sich die drei Ansätze im Kern als Aktua­ lisierungen älterer Theoriemodelle. Der Preis für die begriffliche Weitung ist, dass mit den Begriffen auch die Reflexion über Architektur an analytischer Schärfe verliert. Es besteht so wenig Anlass anzunehmen, dass es damit gelingen könnte, die veränderten Epistemologien im digitalen Zeitalter in den Fokus zu bekommen, gerade weil es heute, wie Gumbrecht zeigte, nicht nur um veränderte Strukturen des Wissens geht, sondern in besonderer Weise um die veränderten Modalitäten seines Entstehens. Es zeigen sich

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die drei Ansätze eher als Versuche der Rettung der Architektur in ihrer älteren Konzeption. Sie sind aber zu unterscheiden von jenen Ansätzen, die die Fragen des digitalen Zeitalters mit den älteren Fragestellungen des mechanischen Zeitalters zu beantworten suchen, indem sie jenseits ihrer gesellschaftlichen Dimension die Architektur in ihrem Wesen und damit ontologisch zu bestimmen suchen. Mit Nietzsche und gegen Heidegger – seine Apologeten wie Karikaturisten53 eingeschlossen – kann es keine Lösung geben in der „Dimension eines vorintellektuellen, gerade wegen seiner Unterkomplexität zu feiernden Denkens“.54 Im Spannungsfeld der sich verändernden Modalitäten des Entstehens des architekto­ nischen Wissens und den sich verändernden Wissenspraktiken gilt die Forderung nach einer Kritischen Erkenntnistheorie der Architektur als systematische Reflexion über die Architektur als jene kulturelle Praxis, mit der der Mensch – mit mehr oder weniger Erfolg – versucht, sich eine ihm und den aktuellen Umständen angemessene, von der Natur verschiedene Umwelt zu schaffen.

Christoph Baumberger

Architekturphilosophie: Ihre Abgrenzung von der Architekturtheorie und Verortung in der Philosophie In den letzten Jahren ist verschiedentlich vorgeschlagen worden, die philosophischen Ansätze zur Architektur in einer eigenständigen Disziplin der Architekturphilosophie zusammenzufassen.1 Im vorliegenden Beitrag gebe ich eine allgemeine Charakterisierung der Architekturphilosophie, indem ich sie einerseits von der Architekturtheorie abgrenze und andererseits in der Philosophie verorte. Im ersten Teil diskutiere ich verschiedene Ideen, die Abgrenzung von der Architekturtheorie über autorbezogene oder über inhaltliche Kriterien zu leisten, und mache einen Vorschlag, der mit stärker formalen Kriterien operiert. Im zweiten Teil wende ich mich der Architekturästhetik und der Architekturethik als den beiden bisher am besten etablierten Zweigen der Architekturphilosophie zu. Ich charakterisiere diese, indem ich eine Liste von Fragen vorschlage, mit denen sie sich jeweils beschäftigen und diskutiere, ob die Architektur eine eigene Bereichsästhetik und Bereichsethik erfordert. Abschließend zeige ich, weshalb es sinnvoll ist, für beide Zweige eine eigenständige philosophische Disziplin der Architekturphilosophie zu postulieren. Abgrenzung von der Architekturtheorie

Insbesondere Architekten tendieren dazu, die Architekturtheorie so weit zu bestimmen, dass sie jede theoretische Auseinandersetzung mit Architektur umfasst und damit auch die Architekturphilosophie (sowie zum Beispiel die Architekturpsychologie und -soziologie) enthält. Eine derart weite Auffassung hat aber den Nachteil, dass man über keinen Ausdruck mehr verfügt, um die theoretischen Auseinandersetzungen in typischen Architekturtheorie-Anthologien2 zu bezeichnen. Ich reserviere deshalb den Ausdruck Archi-

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tekturtheorie für diese Art der Auseinandersetzung mit Architektur und spreche im Sinn der weiten Auffassung, nach der die theoretische Auseinandersetzung mit Architektur eine ganze Reihe von Disziplinen (wie Philosophie, Psychologie, Soziologie, Kunstgeschichte, Medientheorie, Semiotik und Politikwissenschaft) berührt, von Theorie der Architektur.3 Der Ausdruck Theorie ist dabei anspruchslos zu verstehen; er dient lediglich zur Abgrenzung von rein historischen Untersuchungen (Architekturgeschichte) und von einzelfallbezogenen Interpretationen und Beurteilungen von Bauwerken (Architekturkritik). Zudem ist der Ausdruck Architektur in drei Hinsichten weiter als üblich zu fassen. Erstens wird Architektur traditionell mit Kunstarchitektur identifiziert und vom bloßen Bauen unterschieden. Zum Gegenstand der Theorie der Architektur gehört aber auch das, was man Alltagsarchitektur nennen kann. Zweitens geht es, wenn von Architektur die Rede ist, meist um einzelne Gebäude, was daran liegt, dass Architektur als Kunstarchitektur verstanden und diese nach dem Modell paradigmatischer Künste wie der Malerei betrachtet wird. Dabei wird außer Acht gelassen, dass unsere gebaute Umwelt eine Vielzahl anderer Bauten (wie Straßen, Brücken und Gleisanlagen) umfasst und Bauten in Ensembles (wie Siedlungen, Quartieren und Städten) vorkommen. Gegenstand der Theorie der Architektur ist die gebaute Umwelt mit all ihren Elementen und Aspekten. Drittens wird Architektur oft mit architektonischen Produkten identifiziert. Zum Gegenstand der Theorie der Architektur gehören aber neben Bauwerken und unserem Umgang mit ihnen auch die architektonischen Praktiken des Entwerfens, Planens und Bauens. Über autorbezogene Kriterien Manchmal werden Architektur­

theo­rie und -philosophie danach unterschieden, wer sich mit Architektur theoretisch auseinandersetzt: Architekturtheorie wird von professionellen Architekten betrieben, Architekturphilosophie von professionellen Philosophen.4 Aber abgesehen davon, dass es sowohl architekturphilosophische Arbeiten von Architekten ohne philosophische Ausbildung als auch architekturtheoretische Arbeiten von Kunsthistorikern ohne Ausbildung als Architekten gibt, bleibt diese Abgrenzung selbst da, wo sie zutrifft, unbefriedigend, weil sie außer Betracht lässt, was wie über Architektur geäußert wird. Es liegt deshalb nahe, die Architekturphilosophie von

Christoph Baumberger – Architekturphilosophie

der Architekturtheorie durch inhaltliche Kriterien abzugrenzen, die angeben, mit welchen Aspekten sie sich jeweils beschäftigen. Über inhaltliche Kriterien Jörg Gleiter entwickelt einen sehr weiten Begriff der Architekturtheorie, der in etwa meinem Begriff der Theorie der Architektur entspricht. Innerhalb dieser unterscheidet er die Philosophie der Architektur von einer prak­tischen Ästhetik und damit der Architekturtheorie im engeren Sinn. Diese betreffe die Reflexion der Architektur „in Hinblick auf ihr Gemachtwerden und Gemachtsein, also auf die praktische Umsetzung und Materialisierung architektonischer Ideen“; die Architekturphilosophie betreffe dagegen „das kritische Nachdenken über die kulturelle Funktion der Architektur“.5 Aber auch architekturtheoretische Arbeiten thematisieren die kulturelle Funktion von Architektur. Achim Hahns Architekturtheorie zum Beispiel will „dem Architekten ein Verständnis dafür eröffnen, welche Bedeutung Architektur für den Lebensprozess innerhalb unserer sozialen Lebenswelt hat“.6 Vor allem aber behandelt die Architekturphilosophie nicht nur die kulturelle Funktion von Architektur, wie gleich deutlich werden wird. Roger Scruton präsentiert einen anderen Vorschlag, der mit inhaltlichen Kriterien operiert. Er versteht die Architekturtheorie als Versuch, Vorsätze, Maximen und Regeln zu formulieren, die die architektonische Praxis leiten und rechtfertigen sollen. Scruton erwähnt die klassische Theorie der Säulenordnungen, die Regeln für die Gliederung von Gebäuden aufstellt. Solche Regeln setzen ihm zufolge voraus, dass man bereits weiß, was erreicht werden soll. Die Architekturphilosophie stelle dagegen gerade die Frage, was architektonischer Erfolg ist; ihre primäre Aufgabe bestehe darin, die Natur der ästhetischen Erfahrung von und der ästhe­ tischen Urteile über Architektur zu erklären.7 Scruton bestimmt die Architekturtheorie wie Gleiter als eine praktische Ästhetik, ohne ihr aber die Behandlung der kulturellen Funktion von Architektur abzusprechen. Diese Bestimmung scheint zumindest die Texte in typischen Anthologien zu erfassen. Seine Charakterisierung der Architekturphilosophie dagegen ist schon für paradigmatische Beispiele nicht adäquat. Scruton behauptet zwar nicht, dass die Architekturphilosophie nur die Natur ästhetischer Erfahrung und Urteile behandelt, aber dass dies ihre primäre Aufgabe ist. Das setzt voraus, dass weitere Fragen zur Architektur als Kunst,

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die auch Scruton selbst diskutiert, auf der Grundlage einer Theorie ästhe­tischer Erfahrungen und Urteile beantwortet werden müssen und der Begriff des Ästhetischen also grundlegender ist als der Begriff der Kunst. Damit ist seine Charakterisierung tendenziös, weil sie eine substanzielle Behauptung über Kunst beinhaltet, die keineswegs alle Philosophen teilen, die sich mit Architektur befassen. Aber selbst wenn man diese Behauptung akzeptiert oder wie Edward Winters die Behandlung der Frage, was Architektur ist, als eine weitere primäre Aufgabe der Architekturphilosophie hinzufügt,8 ist der Vorschlag zu eng. Er schließt beispielsweise ontologische Fragen, die zwar zur Philosophie der Kunst gehören, aber wenig mit ästhetischen Erfahrungen oder Urteilen zu tun haben, ebenso aus wie ethische und sozialpolitische Fragen, die weder zur Kunstphilosophie gehören, noch ästhetische Erfahrungen oder Urteile betreffen. Ludger Schwarte reduziert die Architekturphilosophie im Gegensatz zu Scruton und Winters nicht auf die Architekturästhetik und rückt gerade sozialpolitische Fragen in den Vordergrund. Von der Architekturtheorie, in deren Charakterisierung er Scruton folgt, unterscheidet er die Architekturphilosophie dadurch, dass sie von einem „umfangreicheren und ungewisseren Architekturbegriff“ ausgehe und nicht ohne weiteres unterstelle, „dass das Wesentliche an der Architektur das Planen und Ausführen von Gebäuden ist“. Dies sei notwendig, um „die Gestaltung der Lebenswelt durch Architektur begreifen zu können“.9 Wenn Schwarte mit dieser Charakterisierung nicht nur eine Voraussetzung seiner Untersuchung zur Architektur des öffentlichen Raumes benennt, sondern Architekturphilosophie als solche zu bestimmen sucht, liegen zwei Interpretationen nahe. Entweder charakterisiert er diese dadurch, dass sie den Architekturbegriff zur Debatte stellt und sich der Frage widmet, was Architektur ist, oder (ähnlich wie Gleiter) dadurch, dass es ihre primäre Aufgabe sei, die Gestaltung der Lebenswelt durch Architektur zu untersuchen. Beide Vorschläge sind aber zu eng. In der Architekturphilosophie geht es nicht nur um die Natur von Architektur, und die Frage nach der Gestaltung der Lebenswelt durch Architektur ist weder ihre einzige Frage, noch lassen sich die anderen Fragen, denen sie sich stellt, darauf zurückführen. Die Diskussion der Vorschläge von Gleiter, Scruton, Winters und Schwarte legt die Vermutung nahe, dass man die Architekturphilosophie und die Architekturtheorie nicht scharf vonein-

Christoph Baumberger – Architekturphilosophie

ander abgrenzen kann, indem man inhaltliche Kriterien angibt, die abschließend festlegen, mit welchen Aspekten von oder Fragen zur Architektur sie sich jeweils beschäftigen. Man sollte deshalb anerkennen, dass die beiden Begriffe vage sind, und ausgehend von paradigmatischen Beispielen nach allgemeineren Charakteristika suchen, die sich aber dennoch darauf beziehen, was wie über Architektur geäußert wird. Über formale Kriterien Nach meinem Vorschlag kann die Architekturphilosophie innerhalb der Theorie der Architektur durch die Charakteristika der Allgemeinheit, Reflexivität, Systematizität und Neutralität von der Architekturtheorie abgegrenzt werden. Die Architekturtheorie verfährt (im Gegensatz zur Architekturkritik) zwar nicht rein einzelfallbezogen, aber sie beschäftigt sich häufig mit Bauwerken eines Typs oder den Werken respektive Prinzipien, Haltungen und Präferenzen einzelner Architekten, Richtungen oder Stile. Die Architekturphilosophie ist dagegen in der Regel insofern allgemein, als sie sich weder mit einer bestimmten Klasse von Bauwerken noch mit einzelnen Architekten, Richtungen oder Stilen befasst. Sie fragt beispielsweise ganz allgemein, ob die Architektur eine Kunstform ist, in welcher Weise Bauwerke bedeuten und ob ihre ethische Beurteilung einen Einfluss auf ihren ästhetischen Wert hat. Nun mag man einwenden, dass auch klassische Architekturtheoretiker von Vitruv über Le Corbusier bis zu Rem Koolhaas für ihre Aussagen Allgemeingültigkeit beanspruchen. Das ist zwar richtig, aber dieser Anspruch wird kaum eingelöst; zumeist ergibt er sich aus ungerechtfertigten Generalisierungen beim Versuch, die bevorzugten Bauformen zu legitimieren.10 Mit der Allgemeinheit geht die Reflexivität einher: Die Architekturphilosophie wendet sich Begriffen zu, welche die Architekturtheorie voraussetzt. Während diese zum Beispiel oft konkrete ästhetische Werturteile verteidigt, fragt die Architekturphilosophie nach der Natur des ästhetischen Werts und ästhetischer Werturteile: Was heißt es für ein Bauwerk, einen ästhetischen Wert zu haben? Was ist die Bedeutung ästhetischer Werturteile? Sind sie Behauptungen über objektiv vorliegende Qualitäten oder bloß Ausdruck der Befindlichkeit der Sprecher oder eher Empfehlungen, ein Bauwerk auf eine bestimmte Weise wahrzunehmen? Während die Architekturtheorie fragt, was Bauwerke eines Stils ausdrücken (sollen),

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fragt die Architekturphilosophie, was architektonischer Ausdruck ist. Während die Architekturtheorie Erfahrungen beschreibt, die wir mit den Werken eines Architekten machen können, fragt die Architekturphilosophie, was architektonische Erfahrung ist. Die Architekturphilosophie ist im Unterschied zur Architekturtheorie in der Regel auch systematisch angelegt und im Hinblick auf die Evaluation von Baustilen und Bauweisen neutral. Die Architekturtheorie verfährt (im Gegensatz zur Architekturgeschichte) zwar nicht rein historisch, aber sie kommt sehr häufig narrativ oder manifestartig daher und erhebt (trotz der Bezeichnung Architekturtheorie) oft kaum theoretische Ansprüche. Zudem ergreift sie meist für oder gegen die Architektur bestimmter Architekten, Richtungen oder Stile Partei und formuliert Regeln oder Maximen, die gebaute Architektur retrospektiv rechtfertigen oder prospektiv von erst noch zu realisierender Architektur erfüllt werden sollen. Die Architekturphilosophie ist dagegen in der Regel in dem Sinn systematisch, dass sie der Klärung von Begriffen und der Begründung von Thesen eine zentrale Rolle zuspricht und Theorien vorschlägt, die diesen Namen verdienen. Zudem ist sie typischerweise insofern neutral, als sie nicht für oder gegen die Architektur einzelner Architekten, Richtungen oder Stile Partei ergreift. Das heißt jedoch nicht, dass sie nicht normativ ist. Ihre Normen sind aber viel allgemeinerer Art; beispielsweise wenn sie fordert, dass Bauwerke eine bestimmte Art ästhetischer Erfahrung ermöglichen sollten, oder wenn sie für positive Pflichten des Architekten argumentiert. Damit tendiert das Charakteristikum der Neutralität dazu, mit dem der Allgemeinheit zusammenzufallen. Die vier Charakteristika sind keine individuell notwendigen und hinreichenden Bedingungen dafür, dass eine Arbeit über Architektur zur Architekturphilosophie gehört. Sie funktionieren eher wie Symptome. Wie ein Patient viele Symptome einer Krankheit ohne die Krankheit oder die Krankheit ohne alle Symptome haben kann, kann eine Arbeit zur Architektur einige der Charakteristika aufweisen, ohne zur Architekturphilosophie zu gehören, oder sie kann zur Architekturphilosophie gehören, ohne alle Charakteristika aufzuweisen. Und wie ein Patient die einzelnen Symptome in unterschiedlichem Ausmaß haben kann, kann eine Arbeit mehr oder weniger allgemein, reflexiv, systematisch und neutral sein.

Christoph Baumberger – Architekturphilosophie

Zweige der Architekturphilosophie

Der bisher am besten etablierte Zweig der Architekturphilosophie ist die Architekturästhetik. Wie die Architekturphilosophie als Ganze galt sie lange ausschließlich als Teil der Philosophie der Kunst, aber insbesondere umweltästhetische Ansätze betonen seit einiger Zeit, dass auch die Alltagsarchitektur ästhetische Fragen aufwirft.11 Die Architekturästhetik ist deshalb in einem weiten Sinn zu verstehen. Einerseits behandelt sie nicht nur ästhetische Einstellungen, Wertschätzungen, Erfahrungen und Eigenschaften und damit ästhetische Fragen im engen Sinn, sondern auch weitere kunstphilosophische Fragen zur Architektur, wie beispielweise kunstontologische Fragen. Andererseits beschäftigt sie sich nicht nur mit Kunstarchitektur, sondern auch mit Alltagsarchitektur. Da Bauwerke tiefgreifende und langanhaltende Wirkungen auf uns und unsere Umwelt haben, stellen sich in der Architektur auch ethische Fragen. In jüngerer Zeit ist deshalb vorgeschlagen worden, die Architekturästhetik durch eine Architekturethik zu ergänzen. Karsten Harries hat sogar dafür plädiert, dass sich die Architekturphilosophie von einem ästhetischen Ansatz befreien und einem ethischen Ansatz zuwenden sollte, nach dem die eigentliche Funktion von Architektur darin besteht, ein gemeinsames Ethos zu artikulieren und echtes Wohnen zu ermöglichen. Harries’ Verwendung von ethisch hat damit mehr mit dem durch Heidegger verstandenen Begriff Ethos zu tun, als mit dem, was man heute üblicherweise als Ethik bezeichnet, wenn man zum Beispiel von Bioethik spricht. Verschiedene Autoren haben dagegen auf die Notwendigkeit einer Architekturethik im üblichen Sinn von Ethik hingewiesen.12 Ich folge der üblichen Verwendung und verstehe unter Ethik – genauer: normativer Ethik – die philosophische Disziplin, die sich mit der systematischen Begründung und Kritik faktisch vorfindlicher Moral beschäftigt. Auch die Architekturethik ist in einem weiten Sinn zu verstehen. Sie behandelt nicht nur normative Fragen des moralisch Richtigen, sondern auch evaluative Fragen des guten Lebens. Neben ästhetischen und ethischen Fragen wirft die Architektur zum Beispiel auch epistemologische und anthropologische Fragen auf. Die Architekturphilosophie sollte deshalb weitere Zweige enthalten, auf die ich in diesem Beitrag aber nicht eingehen kann.

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Architekturästhetik Meist wird davon ausgegangen, dass die Architektur, die traditionell als eine der fünf schönen Künste gilt, wie jede andere Kunstform eine eigene Bereichsästhetik erfordert. Einschlägige Handbücher zur Ästhetik enthalten denn auch ein Kapitel zur Architektur.13 Die Architektur scheint auch deshalb eine eigene Bereichsästhetik zu erfordern, weil sie ästhetische Fragen aufwirft, die in der allgemeinen Ästhetik nicht beantwortet werden, da sich die Architektur durch einige Merkmale von den paradigmatischen Künsten der Musik, der Literatur und der Malerei unterscheidet, die man in der allgemeinen Ästhetik normalerweise im Blick hat. Bauwerke unterscheiden sich von typischen Werken dieser Künste dadurch, dass sie an einen Ort gebunden sind, eine Vielzahl von Funktionen erfüllen müssen, typischerweise betretbare Innenräume haben, in denen verschiedenen Tätigkeiten nachgegangen werden kann, und in dem Sinn wesentlich öffentlich sind, dass sie uns nicht die Wahl lassen, sie zu beachten oder zu ignorieren, da wir den größten Teil unseres Lebens in und um Bauwerke herum verbringen; zudem sind Bauwerke meist größer als paradigmatische Kunstwerke und haben – was insbesondere für städtebauliche Grundstrukturen gilt – oft eine längere Lebensdauer. Ob ästhetische Fragen zur Architektur aufgrund dieser Merkmale tatsächlich nicht durch die allgemeine Ästhetik beantwortet werden, hängt davon ab, welche ästhetischen Fragen die Architektur aufwirft. Um einen Eindruck solcher Fragen und einiger Antworten darauf zu geben, ordne ich sie drei Themen zu. Das erste Thema betrifft kunstphilosophische Fragen, die keine ästhetischen Fragen im engen Sinn sind. Während weitgehend unbestritten ist, dass einige Bauwerke Kunstwerke sind, ist umstritten, was sie zu solchen macht. Eine weiterverbreitete Strategie besteht darin, diese Frage mit Rekurs auf die ästhetische Erfahrung oder Bedeutung zu beantworten. Nach Michael Mitias beispielsweise ist ein Bauwerk ein Kunstwerk, wenn es eine bestimmte Art ästhetischer Erfahrung ermöglicht;14 nach Nelson Goodman, wenn es in einer bestimmten Weise symbolisch funktioniert.15 Die Tatsache, dass einige Bauwerke Kunstwerke sind, lässt offen, ob die Architektur eine Kunst ist, da nicht jedes Kunstwerk zu einer Kunstform gehört. Manche Geschichtswerke sind Kunstwerke, aber die Geschichtsschreibung ist keine Kunstform. Eine zweite Frage ist deshalb, ob die Architektur eine Kunstform ist. Stephen Davies verneint dies, da die meisten Bauwerke keine

Christoph Baumberger – Architekturphilosophie

Kunstwerke und die Architektur damit keine Praxis ist, die typischerweise Kunstwerke hervorbringt.16 Robert Stecker wendet ein, dass dies eine Kunstform der Architektur nicht ausschließt. Die Fotografie ist eine Kunstform, auch wenn die meisten Fotografien keine Kunstwerke sind. Die Architektur kann ihm zufolge als Kunstform anerkannt werden, wenn man diese vom Medium der Architektur unterscheidet.17 Drittens stellt sich die ontolo­gische Frage, was für eine Art von Gegenständen architektonische Werke sind. Einerseits betrifft sie die ontologischen Merkmale solcher Werke:18 Sind sie temporal oder a-temporal: Werden sie aufgrund ihrer Struktur in einer bestimmten zeitlichen Ordnung erfahren oder nicht? Sind sie singulär oder multipel: Lassen sie nur einen oder mehrere Einzelfälle zu? Gehören sie zu einer ein- oder zu einer zweiphasigen Kunst: Bestehen sie in den Plänen oder in den Bauwerken, die aufgrund der Pläne errichtet werden? Andererseits wird diskutiert, ob architektonische Werke konkrete physische oder abstrakte oder gar mentale Objekte sind.19 Schließlich werden ihre Identitäts- und Persistenzkriterien behandelt. Oft geschieht dies vermittels der Frage, ob Pläne analog zu Partituren als Zeichen eines Notationssystems fungieren können, die Bauwerke unabhängig von ihrem Kontext und ihrer Entstehungsgeschichte individuieren.20 Das zweite Thema betrifft die im engeren Sinn ästhetischen Fragen nach der ästhetischen Erfahrung und Wertschätzung von Architektur und ihren ästhetischen Eigenschaften. In der analy­ tischen Tradition sind inzwischen eine Reihe von Theorien zur ästhetischen Erfahrung und Wertschätzung von Kunstarchitektur entwickelt worden. Nach dem gewichtigsten Vorschlag, der von Scruton stammt, ist die ästhetische Architekturerfahrung begrifflicher und imaginativer Art. Dies besagt, dass wir Bauwerke und ihre Teile anhand von Begriffen erfahren, von denen wir überzeugt sind, dass sie nicht buchstäblich darauf zutreffen, beispielsweise wenn uns eine Fassade bewegt oder eine Säule männlich erscheint.21 Winters modifiziert Scrutons Konzeption imaginativer Erfahrung zur Idee, dass wir beim Wertschätzen eines Bauwerks eine bestimmte Lebensform auf dieses projizieren.22 Andere Autoren haben sich aus phänomenologischer Perspektive mit der Architekturerfahrung beschäftigt. Während Gernot Böhme auf Hermann Schmitz’ Phänomenologie und seinen Begriff der Atmosphäre zurückgreift, um das Spüren von Raum durch leibliche Anwe-

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senheit zu charakterisieren,23 basiert Fred Rushs Ansatz, der auch haptische, synästhetische und kinästhetische Erfahrungen behandelt, auf der Phänomenologie von Maurice Merleau-Ponty.24 Eine dritte Gruppe bilden umweltästhetische Ansätze wie derjenige von Allen Carlson, der den Fokus von der Kunst- auf die Alltagsarchitektur verlagert und dafür einen ökologischen Ansatz entwickelt, in dessen Zentrum die funktionale Angepasstheit von Bauwerken an ihre Umwelt steht.25 Das dritte Thema ist die architektonische Bedeutung. In Texten zur Architektur werden zahlreiche Ausdrücke verwendet, um anzugeben, was Bauwerke bedeuten; es ist zum Beispiel die Rede davon, dass sie etwas ausdrücken, repräsentieren, zitieren oder auf etwas anspielen. Aus philosophischer Perspektive stellt sich die Frage, wie Bauwerke bedeuten. Diese Frage wurde insbesondere in semiotischen Theorien behandelt; besondere Aufmerksamkeit hat in den letzten Jahren der Ansatz von Goodman erfahren.26 Nichtsemiotische Theorien architektonischer Bedeutung sind meist Ausdrucks- oder Anspielungstheorien, die auf Konzeptionen architektonischer Erfahrung basieren. Solche Theorien sind von Scruton und Winters auf der Grundlage ihrer Theorien imaginativer Erfahrung vorgebracht worden.27 Um auf die Frage nach einer Bereichsästhetik für die Architektur zurückzukommen, greife ich die architektonische Erfahrung heraus. Eine Theorie derselben muss zeigen, was an der Erfahrung von Architektur spezifisch ist. Damit muss sie die Merkmale berücksichtigen, durch die sich Bauwerke von den Werken paradigmatischer Künste unterscheiden. Die Merkmale der Ortsbindung, der Funktionalität und der Betretbarkeit beispielsweise erfordern, dass die Erfahrung eines Bauwerks einbeziehen muss, wie sich dieses zu seiner Umgebung verhält, welche Funktionen es hat, ob und wie es sie erfüllt und in welcher Beziehung das Äußere und das Innere des Bauwerks zu einander stehen. Dies hat Konsequenzen für eine Konzeption architekto­ nischer Erfahrung. Aufgrund der Funktionalität von Architektur ist die traditionelle Bestimmung ästhetischer Erfahrung über eine spezifische ästhetische Einstellung, die sich durch Interesselosigkeit auszeichnet, unangemessen für eine Konzeption architektonischer Erfahrung.28 Zudem umfasst die architektonische Erfahrung in zwei Hinsichten mehr als die Betrachtung visueller Formen. Die Merkmale der Betretbarkeit und der Ortsbindung legen nahe,

Christoph Baumberger – Architekturphilosophie

dass sie auch haptische, akustische, synästhetische und kinästhetische Erfahrungen umfasst, was insbesondere phänomenolo­ gische Ansätze betonen.29 Das Merkmal der Funktionalität macht klar, dass die architektonische Erfahrung neben phänomenologischen auch kognitive Aspekte hat, was umweltästhetische Ansätze betonen. Einerseits erkennt man die Funktionen eines Bauwerks und ihre Erfüllung oder Nichterfüllung nicht einfach, indem man es wahrnimmt. Die architektonische Erfahrung muss deshalb mehr als die bloße Wahrnehmung von Bauwerken beinhalten, wie multisensoriell, syn- und kinästhetisch diese auch verstanden wird. Andererseits reicht es aber auch nicht, die Funktionen bloß zu kennen; ihre Kenntnis muss vielmehr Teil der Erfahrung des Bauwerks werden. Eine Konzeption architektonischer Erfahrung muss deshalb auch zeigen, wie die Kenntnis der Funktionen eines Bauwerks die Wahrnehmung seiner ästhetischen Qualitäten beeinflussen kann.30 Was bedeutet das für die Frage nach einer Bereichsästhetik für die Architektur? Es scheint plausibel, dass die architektonische Erfahrung sich aufgrund der erwähnten Merkmale von der ästhe­ tischen Erfahrung in den paradigmatischen Künsten unterscheidet. Weil man in der allgemeinen Ästhetik (und ihren Konzeptionen ästhe­tischer Erfahrung) die paradigmatischen Künste im Blick hat, zeigt dies, dass die Architektur eine Bereichsästhetik erfordert. Es zeigt aber nicht, dass sie eine eigene Bereichsästhetik verlangt. Die Architekturästhetik beschäftigt sich gemäß dem weiten Architekturbegriff mit der gebauten Umwelt als Ganzer. Damit kann sie als Teil der Umweltästhetik verstanden werden, wenn man anerkennt, dass zur Umwelt des Menschen neben der natürlichen auch die gebaute Umwelt gehört. In diesem weiten Sinn wird der Begriff der Umwelt in der Umweltpsychologie verstanden; für ihn spricht auch, dass der Übergang von natürlicher zu gebauter Umwelt fließend ist. Die Umweltästhetik enthält demnach zumindest zwei nicht scharf abgegrenzte Teile: die Ästhetik der natürlichen Umwelt (Naturästhetik) und die Ästhetik der gebauten Umwelt (Architekturästhetik). Architekturethik Ob die Architektur eine eigene Bereichsethik

erfordert, ist umstritten. Die Architekturethik hat sich zumindest bisher nicht als eigene Bereichsethik etabliert, was sich auch daran zeigt, dass Handbücher zur angewandten Ethik keine Architekturethik aufführen. Maurice Lagueux hat argumentiert, dass die Archi-

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tektur im Gegensatz beispielsweise zu den Biowissenschaften auch keine eigene Bereichsethik erfordert, da die ethischen Probleme, die die Architektur aufwirft, ihr intern seien, jene, welche die Biowissenschaften (zum Beispiel zu Geburtenregelung oder Sterbehilfe) aufwerfen, dagegen extern. Während ein Biowissenschaftler, der völlig inkompetent in der Lösung solcher ethischer Probleme ist, gleichwohl ein guter Wissenschaftler sein könne, gilt dies Lagueux zufolge für einen Architekten nicht, da die ethischen Probleme in der Architektur nichts anderes als die normalen Probleme seien, die Architekten lösen müssen.31 Lagueux’ Argument zeigt aber nicht, dass die Architektur keine Bereichsethik erfordert. Seine These, dass die ethischen Probleme im Zusammenhang mit den Biowissenschaften extern sind, beruht auf einem falschen Wissenschaftsverständnis, nach dem wissenschaftliche Forschung einzig auf epistemische Werte (wie empirische Adäquatheit, Einfachheit und Erklärungskraft) bezogen und völlig unabhängig von moralischen Werten ist. Wenn aber die ethischen Probleme im Zusammenhang mit den Biowissenschaften zumindest zum Teil ebenfalls intern sind und diese dennoch nach einer Bioethik verlangen, spricht der interne Charakter der ethischen Probleme in der Architektur nicht gegen eine Architekturethik. Dass diese Probleme intern sind, bedeutet ja nur, dass Architekten ein Know-how im Umgang mit ihnen erwerben, aber natürlich nicht, dass sie ­ethische Theorien entwickeln müssen. Dies ist vielmehr Aufgabe der Ethik. Ein zweites Argument gegen eine eigene Bereichsethik geht von der Feststellung aus, dass die ethischen Fragen, die sich in den paradigmatischen Künsten wie der Literatur und der Malerei stellen, innerhalb der Ästhetik behandelt werden und behauptet, dass dies auch in der Architektur möglich ist. Dagegen lässt sich einwenden, dass die ethischen Probleme in der Architektur aufgrund der Funktionalität, Dauerhaftigkeit und des öffentlichen Charakters von Bauwerken besonders dringlich sind und sich im Gegensatz zu den ethischen Fragen zu Literatur und Malerei nicht nur auf das beziehen, was die Werke symbolisieren. Damit sind sie gewichtig und umfassend genug, um in einer Ethik behandelt zu werden, was die Frage aber noch offen lässt, ob ihre Behandlung nach einer eigenen Bereichsethik verlangt. Verschiedene Autoren haben argumentiert, dass dem tatsächlich so ist, weil die ethischen Fragen zur Architektur so spezifisch sind, dass sie nicht durch die allgemeine Ethik oder eine der bestehenden Bereichsethiken wie

Christoph Baumberger – Architekturphilosophie

die Wirtschafts- oder die Umweltethik abgedeckt werden.32 Ob dem so ist, hängt davon ab, welche ethischen Fragen die Architektur aufwirft. Wenn wir einen Vorschlag von Christian Illies zur Strukturierung der Architekturethik modifizieren, lassen sich die ethischen Fragen zur Architektur vier ethisch relevanten Aspekten zuordnen, von denen der erste den Planungs- und Bauprozess und die rest­ lichen primär die errichteten Bauwerke betreffen.33 Der am besten untersuchte Aspekt, mit dem sich insbesondere die Berufskodizes beschäftigen, ist das professionelle Verhalten während der Entwurfs-, Planungs- und Bauphase. Zu ihm gehören zum Beispiel Fragen danach, wie der Architekt seine Geschäftspartner und seine Mitarbeiter behandeln soll und ob es für Architekten moralisch erlaubt ist, für totalitäre Regime zu bauen. Ein zweiter ethisch relevanter Aspekt betrifft den Einfluss von Bauwerken auf die Natur durch direkten und indirekten Verbrauch natürlicher Ressourcen sowie durch Schadstoffemissionen. In diesem Zusammenhang stellt sich zum Beispiel die Frage nach den Anforderungen an nachhaltige Architektur, auf die sich der Weltkongress der Vereinigung internationaler Architekten (UIA) bereits 1993 verpflichtet hat. Der UIA hat zur Umsetzung dieser abstrakten Verpflichtung konkrete Leitlinien, Prinzipien und Handlungsregeln entwickelt. Auch Philosophen haben sich bereits mit der inhalt­ lichen Spezifizierung des Nachhaltigkeitsbegriffs in seiner Anwendung auf die Architektur beschäftigt.34 Bauwerke beeinflussen aber auch Individuen und Gesellschaften. Aufgrund ihres öffentlichen Charakters beeinflussen sie selbst das Wohlbefinden von Personen, die weder an ihrem Bau noch an ihrer Nutzung direkt beteiligt sind; aufgrund ihrer Dauerhaftigkeit tun sie das über lange Zeit, nicht selten über viele Generationen. Solche Einflüsse werden von der Architekturpsychologie untersucht; die ethischen Fragen dazu betreffen ihre moralische Bewertung. Es ist unbestritten, dass Architekten negative Pflichten zur Vermeidung der Schädigung der körperlichen Unversehrtheit und der Beeinträchtigung des körperlichen und psychischen Wohlbefindens der von ihrer Architektur Betroffenen haben. Umstritten ist dagegen, ob sie zudem moralisch verpflichtet sind, deren Wohlergehen aktiv zu befördern. Es stellt sich deshalb die Frage, ob Architekten neben den negativen Pflichten zur Schadensvermeidung auch positive Pflichten zur Förderung des guten Lebens der

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Betroffenen haben.35 Falls dem so ist, fragt sich erstens, ob Architekten damit alle Wünsche und Bedürfnisse ihrer Bauherren befriedigen sollen. Aber selbst abgesehen davon, dass die Autonomie des Bauherrn dort ihre Grenzen findet, wo die Freiheit anderer tangiert wird, ist das unplausibel. Martin Düchs beispielsweise argumentiert für einen Mittelweg zwischen der unhinterfragten Erfüllung von Bauherrenwünschen und dem paternalistischen Diktat dessen, was Architekten als gut für die Menschen erkannt haben.36 Zweitens stellt sich die Frage, wem gegenüber Architekten solche Pflichten haben. Einerseits sicherlich gegenüber Individuen und zwar – aus Gründen der Gerechtigkeit – gegenüber allen, die von ihrem architektonischen Handeln betroffen sind; dazu gehören neben Bauherren und Nutzern beispielsweise auch Nachbarn und Passanten. Andererseits aber auch gegenüber der Gesellschaft, da wir als soziale Wesen für ein gutes Leben auf eine Gesellschaft angewiesen sind. Das Handeln von Architekten ist deshalb auch danach zu beurteilen, welchen Beitrag sie zur Lösung gesellschaftlicher Probleme und zur Formulierung gesellschaftlicher Ideale leisten, was zur politischen Philosophie der Architektur überleitet. Aspekte von Bauwerken wie ihre Funktionen, symbolischen Bedeutungen und Formen können hinsichtlich ihres Einflusses auf Individuen, Gesellschaft oder Natur ethisch bewertet werden. Die funktionale Tauglichkeit eines Bauwerks kann beispielsweise Gesundheit und Wohlergehen der Benutzer positiv oder negativ beeinflussen und ist entsprechend ethisch zu beurteilen. Aber gibt es nicht Gründe, solche Aspekte von Bauwerken auch unabhängig von ihrem Einfluss auf Individuen, Gesellschaft und Natur ethisch zu bewerten? Es scheint plausibel, dass die symbolische Bedeutung eines Bauwerks, das moralisch verwerfliche Einstellungen zum Ausdruck bringt, ethisch negativ zu beurteilen ist, unabhängig davon, ob sie das Wohlergehen von Personen tatsächlich negativ beeinflusst, was eine empirische Frage ist. Nigel Taylor hat dafür argumentiert, dass die Form eines Bauwerks ethisch negativ zu beurteilen ist, wenn ihr offensichtlich nicht die nötige Sorgfalt gewidmet wurde, unabhängig davon, welche Einflüsse sie auf das Wohlergehen der Betroffenen hat.37 Was all dies nun für die Frage nach einer eigenen Bereichs­ ethik bedeutet, hängt davon ab, ob die erwähnten Fragen zu den ethisch relevanten Aspekten von Architektur in der allgemeinen Ethik oder einer der bestehenden Bereichsethiken behan-

Christoph Baumberger – Architekturphilosophie

delt werden können. Die ethischen Fragen zum professionellen Verhalten während der Entwurfs-, Planungs- und Bauphase sind nicht architekturspezifisch: Die Fragen, wie man seine Geschäftspartner und Mitarbeiter behandeln soll und ob man seine Dienste Despoten anbieten darf, stellen sich für alle Unternehmer. Solche Fragen werden in der allgemeinen Ethik und der Wirtschaftsethik behandelt. Die ethischen Fragen zum Einfluss von Bauwerken auf die Natur sind Gegenstand der Umweltethik, die sich nach einer gängigen Bestimmung mit dem moralisch richtigen Umgang mit der Natur beschäftigt und damit als Naturethik verstanden wird.38 Die ethischen Fragen zum Einfluss von Bauwerken auf Individuen und Gesellschaften sowie zu den erwähnten Aspekten von Bauwerken werden dagegen weder von der allgemeinen Ethik noch von der Wirtschafts- oder der Naturethik behandelt. Dennoch verlangt die Architektur keine eigene Bereichsethik. Die Architekturethik kann vielmehr als Teil der Umweltethik angesehen werden, da zur Umwelt des Menschen neben der natürlichen auch die gebaute Umwelt gehört. Analog zur Umweltästhetik besteht die Umweltethik demnach aus mindestens zwei nicht scharf abgegrenzten Teilen: der Ethik der natürlichen Umwelt (Naturethik) und der Ethik der gebauten Umwelt (Architekturethik). Illies und Ray haben zwei Gründe dafür aufgeführt, dass die ethischen Fragen im Zusammenhang mit Architektur nicht vollständig von der allgemeinen Ethik und bestehenden Bereichsethiken abgedeckt werden. Beide haben damit zu tun, dass e­ thische Überlegungen zur Architektur nicht von ästhetischen abgelöst werden können. Erstens seien die ethischen Probleme in der Architektur – sie führen als Beispiel Konflikte zwischen ästhetischen und ökologischen Anforderungen auf – zu komplex, um in der Wirtschafts- oder der Umweltethik abgehandelt werden zu können. Zweitens seien manche ethische Probleme architekturspezifisch. Sie erwähnen die Frage, ob ein Bauwerk in gestalterischer Hinsicht zu seiner natürlichen, sozialen und gebauten Umgebung passt.39 Beides scheint mir aber nicht gegen eine Verortung der Architekturethik in der Umweltethik zu sprechen, wenn diese im weiten Sinn verstanden wird. Die Ethik der gebauten Umwelt kann sich auch mit komplexen Problemen beschäftigen und die Frage nach dem design fit gehört – soweit sie überhaupt eine ethische Frage ist – sicherlich zu deren Gegenstand.

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Architekturphilosophie als philosophische Disziplin Ich habe dafür argumentiert, die Architekturästhetik als Ästhetik der gebauten Umwelt zu verstehen und der Umweltästhetik zuzuordnen und die Architekturethik als Ethik der gebauten Umwelt zu verstehen und der Umweltethik zuzuordnen. Damit erweisen sich die beiden Hauptzweige der Architekturphilosophie jeweils als Teil einer etablierten Bereichsästhetik respektive -ethik. In der Architekturphilosophie wird oft betont, dass ästhetische und ethische Fragen zur Architektur eng zusammenhängen. Aus ästhetischer Perspektive wird darauf hingewiesen, dass ästhetische Überlegungen zur Architektur aufgrund ihres funktionalen und öffentlichen Charakters nicht von ethischen Überlegungen ablösbar seien, was eine Herausforderung für die Architekturästhetik bedeutet.40 Eine Folge davon scheint zu sein, dass die ethische Beurteilung von Bauwerken einen Einfluss auf ihren ästhetischen Wert hat, eine Position, die als Ethizismus bezeichnet wird.41 Aus ethischer Perspektive wird darauf hingewiesen, dass ethische Überlegungen zur Architektur nicht von ästhetischen Überlegungen ablösbar seien, was eine Herausforderung für die Architektur­ethik bedeutet.42 Die Idee scheint zu sein, dass in der Architektur in gewisser Weise ästhetische Antworten auf ethische Fragen gegeben werden, zum Beispiel wenn Architekten gestalterische Lösungen funktionaler Probleme vorschlagen. Dass ethische und ästhetische Fragen zur Architektur eng zusammenhängen, zeigt zwar nicht, dass solche ethischen Fragen nicht in der Umweltethik behandelt werden können. Aber es spricht dafür, die Architekturästhetik und die Architekturethik zur eigenständigen philosophischen Disziplin der Architekturphilosophie zusammenzufassen, die weitere Zweige enthalten wird. Die Architekturphilosophie steht demnach gewissermassen quer zur Einteilung in die klassischen philosophischen Teildisziplinen wie Sprachphilosophie, Erkenntnistheorie, Wissenschaftstheorie, Ästhetik und Ethik. Das stuft sie aber keineswegs herab; es zeigt vielmehr, wie vielschichtig sie ist.

Kirsten Wagner

Architektur mit dem Körper denken. Zu einer kritischen Anthropologie der Architektur Dezentrierungen des Subjektes Mit dem Bild eines in den Sand gemalten Gesichtes, das von einer Meereswelle hinfort gespült wird, verabschiedet Michel Foucault in Les mots et les choses bekanntermaßen den Menschen von der Schriftfläche zukünftiger Diskursformationen.1 Nicht irgendeinen oder alle Menschen, sondern das „Subjekt als Ursprung und Grundlage des Wissens, der Freiheit, der Sprache und der Geschichte“2, als das sich der Mensch seit der Aufklärung zu verstehen gegeben hat. Nahezu zeitgleich nimmt Peter Eisenman seine Serie der Houses auf, Architekturen, die auf generativen Formexperimenten beruhen. Kuben erscheinen so transformiert, dass ihre geometrischen Elemente von Linie und Fläche – beziehungsweise die tragenden Elemente von Stütze, Balken und Wand – vielfältige Beziehungen eingehen und darüber jeweils neu definiert werden. Aus den Transformationsprozessen, die sich über Reihen axonometrischer Diagramme vollziehen, gehen komplexe räumliche Strukturen hervor. Zu Beginn dieser frühen Entwurfsserien steht im Vordergrund, die der Wahrnehmung voraus liegende innere Logik des architektonischen Raumes sichtbar zu machen, seine grammatikalische „Tiefenstruktur“.3 Sie basiert auf den Oppositionen von Masse und Leere, Zentralität und Linearität, Fläche und Volumen.4 Um diese Tiefenstruktur offenzulegen, muss die Form selbst von allem Akzidentiellen wie Bedeutung und Funktion entkleidet werden. Damit wendet sich Eisenman zugleich gegen einen von der Funktion her bestimmten Formbegriff, wie er für die moderne Architektur insgesamt kennzeichnend ist. Gleichwohl stellen die ersten Houses noch bewohnbare Strukturen dar.5

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House VI aus dem Jahr 1972 lässt die Geschlossenheit des Ausgangskubus hinter sich und verfolgt gleichzeitig eine stärkere Thematisierung der Zentralität von Architektur.6 Es setzt mit einer Durchschneidung von jeweils zwei parallel laufenden Wandscheiben ein. Der Raum, der dadurch entsteht, bildet aufgrund fehlender Öffnungen ein nicht nutzbares, leeres Zentrum aus. Im weiteren Transformationsprozess wird dieser Raum zwar wieder geöffnet, bleibt jedoch durch eine an seiner Stelle in die Decke führende Treppe in seiner Dysfunktionalität erhalten. Mit der Negation des Zentrums, die in House X ihre Vollendung erfährt, bereitet House VI Eisenmans spätere Kritik am Anthropozentrismus in der Architektur vor. Wie das Gesicht im Sand, so verschwindet mit der Serie der Houses der Mensch als Ursprung und Grundlage der Architektur. In seinem theoretischen Beitrag Post-Functionalism von 1976 spricht Eisenman – nunmehr nach der Lektüre von Foucault – von einer Verschiebung des Menschen aus seinem Zentrum.7 Mit dieser Relativierung des Menschen als originating agent geht gleichsam eine Befreiung der Dinge und entsprechend der Architektur einher, die in ihrer materiellen und formalen Dimension als vom Menschen unabhängig zu denken ist. Eisenmans Kritik richtet sich gegen ein historisches Subjekt, das die Architektur aus sich heraus setzt und sie einer Funktion und Bedeutung unterwirft. Wie er weiterhin zu zeigen unternimmt, gilt das nicht erst für die vermeintliche Moderne. Bereits für die Frühe Neuzeit setzt Eisenman voraus, dass die Architektur nicht auf sich selbst bezogen ist, sondern auf eine normativ verstandene antike Architektur. Die Architektur der Frühen Neuzeit wäre demnach ebenso wie die der Moderne Zeichen für einen ihr äußerlichen Referenten. Zum einen stellt sie ein anderes architektonisches Objekt dar, eben die antike Architektur, zum anderen ein funktionales Objekt: D. h. entweder Gebäude, die sich auf andere Gebäude beziehen, oder Gebäude, die ausdrücken, zu welchem Zweck sie wie gebaut sind. In dem einen wie in dem anderen Fall wird Architektur auf eine Repräsentation verkürzt, was Eisenman zufolge die moderne mit der klassischen Architektur verbindet. Das sich modern Gebende gehört damit faktisch noch der klassischen Architektur an, was zugleich bedeutet, dass die eigentliche Moderne in der Architektur im Sinne eines selbstreferentiellen Gebauten erst noch zu vollziehen ist.

Kirsten Wagner – Architektur mit dem Körper denken

Obwohl Eisenman neben architekturalem und funktionalem Objekt auch den Menschen und die Natur anführt, spielen beide als Referenten eine untergeordnete beziehungsweise eine vor allem historische Rolle. Die Repräsentation des Menschen durch Architektur beschränkt Eisenman auf die Vitruvianische Tradition. Er folgt hier einer Architekturgeschichtsschreibung, die von einem durch Claude Perrault Ende des 17. Jahrhunderts eingeleiteten und durch die Moderne besiegelten Bedeutungsverlust des Menschen als anthropomorphe und anthropometrische Grundlage von Architektur ausgeht.8 Auch dieser Bruch ist für Eisenman jedoch nur ein scheinbarer. Frühe Neuzeit und Moderne verbindet gleichermaßen die Suche nach einem rationalen Ursprung von Architektur. Dieser wurde zunächst in einer „kosmologischen oder anthropomorphen Geometrie“9 gefunden, wovon die Abbildungen der Vitruvianischen Figur in den frühneuzeitlichen Architekturtraktaten Zeugnis ablegen. Die Moderne geht ebenfalls von einem rationalen Ursprung des Gebauten aus, begründet ihn allerdings nicht mehr über eine im Menschen sich spiegelnde natürliche oder göttliche Ordnung, sondern setzt dafür eine zu sich selbst kommende Vernunft ein. Eisenmans Ausräumung des Menschen aus dem Mittelpunkt der Architektur hat, um das hier festzuhalten, vor allem das neuzeitliche Erkenntnissubjekt zum Gegenstand. Das körperliche, das Leibsubjekt, das den gebauten Raum vermenschlicht, indem es seine Gestalt, seine Handlungen, seine Gefühle auf jenen überträgt, ist in seiner Argumentation vor allem historisch auszumachen, insofern die anthropomorphe Begründung von Architektur im 17. Jahrhundert einer funktionalen zu weichen beginnt. Wie nun im Folgenden gezeigt werden soll, unterliegt diese Annahme selbst einer Fiktion, nämlich der historischen Fiktion einer fortschreitenden, zu sich selbst kommenden Vernunft. Im Gegensatz zu den zahlreichen Versuchen innerhalb der Architekturgeschichte, gerade das Anthropomorphe, das der Form nach Menschengesichtige und Menschengestaltige, als ein Historisches, bereits Überwundenes darzustellen, das einer früheren, zugleich niedrigeren Entwicklungsstufe angehört, behauptet es nach wie vor Aktualität. Ein Beispiel dafür geben die Kompendien zoomorpher und anthro­pomorpher Architekturen der Gegenwart von Günther Feuerstein, an denen nicht zuletzt deutlich wird, inwieweit über die im Raum vergegenständlichten Körper, Körperteile und Körperfunk-

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tionen Geschlechterordnungen weitgehend unkritisch reproduziert werden.10 Dass anthropomorphe Denkfiguren in Moderne und Postmoderne sich nicht auf eine Nachahmung der äußerlichen Gestalt und Physiognomie des Menschen beschränken, sondern sich in struktureller Hinsicht für die Herausbildung der Moderne als konstitutiv erweisen, kann an den Körper- und Architekturdiskursen in Ästhetik und Kunstwissenschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts nachvollzogen werden. Hierbei kommt der ihrem Ursprung nach anthropistischen Definition der Architektur als einer Raumgestalterin durch August Schmarsow eine Schlüsselfunktion zu. An der Einfühlungsästhetik, die an geometrischen Figuren und architektonischen Elementen wie der Säule verhandelt wird, wird des Weiteren ersichtlich, dass die Übertragung des Leibsubjektes auf das ästhetische Objekt mit dessen Verlebendigung einhergeht. Animistische Aspekte von Architektur, bis in die Moderne hinein insbesondere durch das Ornament und eine figürliche Bauplastik verkörpert, gehen auf diese Weise auf die abstrakte Form über. Das zentrale Problem des Anthropomorphismus in der Moderne liegt dabei, wie abschließend auszuführen sein wird, nicht darin, die Architektur auf den Körper zurückzuführen, weil dieses etwa eine archaische Denkfigur wäre oder die Architektur in ihrer Autonomie verfehlte. Es besteht vielmehr darin, dass der Körper, der als Ursprung von Architektur erscheint, als ein natürlicher, transhistorischer Körper vorausgesetzt wird. Das lässt sich bis in die jüngste Entwicklung, die Neuroarthistory und ihre Rezeption in der Architektur,11 hinein verfolgen. War bei Theodor Lipps, Heinrich Wölfflin und August Schmarsow der physiologische Körper die anthropologische Konstante, über welche die Produktion und Rezeption von Architektur erklärt worden ist, so ist es jetzt ein cerebraler Körper. Wie der Körper selbst, unterliegen auch die auf den gebauten Raum übertragenen Körperbilder indessen einer Geschichte, die es im Sinne einer kritischen Anthropologie der Architektur zu reflektieren gilt. Zur Geschichte des Anthropismus in der Architektur Die Übertragungen zwischen dem menschlichen Körper und der Architektur sind mit Vitruv erstmals für die griechisch-römische Antike dokumentiert, gehen jedoch sowohl historisch als auch kulturell weit darüber hinaus.12 An mehreren zentralen Stellen innerhalb

Kirsten Wagner – Architektur mit dem Körper denken

seiner im ersten Jahrhundert v. Chr. verfassten Zehn Bücher über Architektur13 werden auf unterschiedlichen Ebenen die entsprechenden Bezüge hergestellt. Im ersten Buch, nach einleitenden Ausführungen zur universalen Ausbildung des Architekten, kommt Vitruv auf die Grundlagen der Architektur zu sprechen. Von diesen sind hier relevant ordinatio, symmetria und eurythmia.14 Vitruv bezeichnet mit ihnen die Gestaltung eines Gebäudes auf Basis einer Maßeinheit, eines Moduls, das als fakturaler Teil in allen anderen Teilen des Gebäudes aufgeht. Dadurch stehen im Sinne der symmetria alle Teile des Gebäudes in einem bestimmten Maßverhältnis zueinander. Zum Vergleich zieht Vitruv das Bild eines Menschen heran, dessen Elle, Fuß, Hand, Finger und andere Teile symme­ trisch sind, d. h. von ihren Längenmaßen ineinander aufgehen, und sich in der Betrachtung zu einem wohlproportionierten Gesamtanblick (eurythmia) fügen.15 Als dieses proportionale System wird der menschliche Körper in Zusammenhang mit dem Tempelbau, der gleichermaßen auf Proportion und Symmetrie zu beruhen hat, im dritten Buch ausbuchstabiert.16 Vitruv schließt dabei zum einen an die griechische Metrologie sowie die darauf aufbauenden Kanones der klassischen grie­ chischen Plastik an, unter anderem an Polyklet, dessen Proportionsregel Fuß = 1/6 der Körperhöhe sowie Gesicht = 1/10 der Körperhöhe auch Vitruv nennt.17 Explizit weist er zudem daraufhin, dass die Rechenmaße wie Finger (digitus), Hand (palmus), Fuß (pes) und Elle (cubitus) den menschlichen Gliedern entlehnt sind, und, insofern der Mensch zehn Finger hat, die Zehn, wie schon die Alten glaubten, die vollkommene Zahl sei. Die zahlenmystische Spekulation, die sich diesem Abschnitt anschließt, dient der Einführung anderer in Erwägung zu ziehender vollkommener Zahlen wie der sechs, die ebenfalls in Beziehung zum Körperbau gesetzt wird. Der Vollkommenheit der Zehn entspricht dabei ein Werk in zehn Büchern respektive Rollen, das, so Indra Kagis McEwen, sich selbst als ideales corpus dem Leser empfiehlt.18 Die in den griechischen Kanones festgelegten Teilungsverhältnisse der einzelnen Körperglieder sind aus der Beobachtung beziehungsweise Messung abgeleitete Mittelwerte. Sie beschreiben nicht einen konkreten, sondern einen gleichermaßen idealisierten Körper.19 Einen geometrisch idealisierten Körper stellt auch die von Vitruv an derselben Stelle beschriebene so genannte Vitruvianische Figur dar: ein mit gespreizten Armen und Beinen auf dem

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Rücken liegender Mensch, der qua Zirkelschlag und Winkelmaß in einen Kreis und ein Quadrat eingeschrieben ist. Im ausgehenden 15. Jahrhundert durch Francesco di Giorgio Martini und Leonardo da Vinci visualisiert, hat sie in den frühneuzeitlichen Architekturtraktaten wiederholt Abbildung gefunden; wobei die auf sie angewendeten Posituren und Maßverhältnisse durchaus von der antiken Textvorlage abweichen konnten. Rudolf Wittkower hat die besondere Rezeption der Vitruvianischen Figur in der Frühen Neuzeit darauf zurückgeführt, dass sie zu einem magisch aufgeladenen Symbol für die Korrelation zwischen Makrokosmos und Mikrokosmos geworden ist; ein Symbol, das mit seinen Erde und Himmel zugeordneten geome­ trischen Urformen Quadrat und Kreis zugleich dem frühneuzeitlichen Zentralbau zugrunde liegt.20 Demgegenüber haben jüngere Ansätze die von der Vitruvianischen Figur ursprünglich verkörperte techné betont: Zirkel und Winkelmaß bei Vitruv sind in dieser Hinsicht als Instrumente des Architekten zu lesen, die sich in ihrem praktischen Nutzen selbst ausstellen. Die in Beziehung zu Kreis und Quadrat, d. h. zur Geometrie, gesetzte Proportionsfigur verweist hingegen auf die beiden Möglichkeiten anthropomorpher und geometrischer Längen-, Flächen- und Körperberechnungen. Die rechtwinklig vom Körper gestreckten Arme, aus denen das Maß des Klafters bezogen wurde, in Beziehung zur Körperlänge zu setzen und aus beidem ein Quadrat abzuleiten, entsprach ebenfalls metrologisch-geometrischer Praxis. Der Kreis und insbesondere das Quadrat, als wenn auch kosmologisch interpretierte geometrische Formen, haben in der Antike schließlich die Gründung von Tempeln, militärischen Lagern und Städten bestimmt und beziehen wohl auch aus diesen rituellen Praktiken einen wesentlichen Teil ihrer Bedeutung.21 Dem entspricht die Dekonstruktion der frühneuzeitlichen Darstellungen der Vitruvianischen Figur. Frank Zöllner zufolge gehen sie auf eine Fehlinterpretation der entsprechenden Textstelle bei Vitruv zurück. Größere Plausibilität in Bezug auf die Umzirkelung eines mit gespreizten Gliedern liegenden beziehungsweise stehenden Menschen hätten demnach nach oben gestreckte Arme. Diese Körperhaltung wäre zugleich mit einem anderen gängigen antiken Maß konform, einer fünf Ellen langen Messlatte, kalamos genannt.22 Die Vitruvianische Figur zeigt sich demzufolge als eine pro­ teische Figur, die in ihren theoretischen und praktischen

Kirsten Wagner – Architektur mit dem Körper denken

Bezügen gleichermaßen „metaphysical proposition“, „ritual formula“ und „architect’s template“ ist;23 und in die sich in der Frühen Neuzeit von Vitruv unabhängige Vorstellungs- und Bildtraditionen eines anthropomorph aufgefassten Weltengebäudes eingeschrieben haben.24 Als Verkörperung einer unmittelbaren Beziehung zwischen dem Makrokosmos und dem Mikrokosmos in Form sowohl des Körpers als auch der auf ihn bezogenen Architektur ist die Vitruvianische Figur vor allem in den phänomenologischen und anthropologischen Ansätzen aktuell geblieben.25 Jedoch wird auch hier vorausgesetzt, dass diese Beziehung mit dem Aufkündigen der Vitruvianischen Tradition seit dem 17. Jahrhundert brüchig geworden ist, die Architektur mit dem entsprechenden Bedeutungsverlust ihrer anthropomorphen Begründung in keinem substanziellen Verhältnis mehr zum Menschen steht.26 Für die anthropomorphe Begründung von Architektur steht auch Vitruvs Ableitung der regional spezifischen Säulenordnungen aus dem menschlichen Körper beziehungsweise dem Geschlecht im vierten Buch.27 Die dorische Ordnung geht aus der Übertragung des Teilungsverhältnisses eines männlichen Fußes zur Körperlänge hervor, so dass der Säulenschaft in seiner Dicke ein Sechstel der Säulenhöhe beträgt. Die Abtragung der Maße des Menschen, des Mannes, seiner symmetria, auf die Säule ist zunächst rein anthropometrisch bestimmt, schlägt jedoch unmittelbar in eine anthropomorphe Figur um, wenn der Säule zugesprochen wird, neben den Maßverhältnissen die Stärke und Anmut des männlichen Körpers zu zeigen. Ähnliches gilt für die ionische Ordnung mit ihrem Teilungsverhältnis eins zu acht, die von der Säulendicke und -höhe über die Kanneluren bis in das Kapitell hinein dem weiblichen bekleideten Körper und seinem Haarschmuck entlehnt sein soll. Lediglich die korinthische Ordnung weicht von diesem Schema ab, insofern ihr Kapitell einer vegetabilen Form nachempfunden ist; allerdings einer vegetabilen Form, die aus dem Grabmal einer Jungfrau entwachsen ist, so dass deren Körper über die Säule gleichsam petrifiziert erscheint. Bei Vitruv ist es demnach zum einen die metrologische Praxis, das Messen, das in der Antike über Körpermaße und anhand geometrischer Messinstrumente erfolgt, welche die Bezüge zwischen Architektur und Körper herstellt. Das entspricht der anthro­ pometrischen Tradition in der Architektur. Zum anderen ist es ein Denken des Gebauten in Begriffen und Bildern des menschlichen

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Körpers, seiner äußerlichen Gestalt, seiner Anatomie und seiner physiologischen Funktionen.28 Das bezeichnet die anthropomorphe Tradition, für die bis in die Frühe Neuzeit hinein gilt, dass der als Mikrokosmos verstandene Körper des Menschen selbst nur Abbild einer transzendentalen Ordnung ist. Die Relativierung dieser trans­ zendentalen Ordnung hat jedoch weder das Ende anthropomorpher Übertragungen und anthropometrischer Praktiken herbeigeführt noch dazu beigetragen, dass der Mensch ohne Bezugssystem geblieben wäre. Im anthropologischen 19. Jahrhundert rückt er vielmehr selbst in dieses ein, zunächst nur als kategoriales und anschauendes Subjekt, mit der experimentellen Physiologie dann als körperliches Subjekt, auf dessen anatomische Strukturbedingungen die Erkenntnis von Welt zurückgeführt wird. Das lässt sich auch an der Architektur der Moderne nachvollziehen. Anthropismus und Moderne. Der re-zentrierte Körper in der Architektur Die historischen Proportionslehren, darunter auch die

bei Vitruv zu findende, gehen im 16. Jahrhundert eine enge Verbindung mit der frühneuzeitlichen Anatomie ein, in der Aufbau und Funktion des Körpers über Sektionen offengelegt werden.29 Unter dem Eindruck von Physiognomie,30 physischer Anthropologie und Experimentalphysiologie werden sie im 18. und vor allem im 19. Jahrhundert einer weiteren Revision unterzogen und gleichzeitig auf Feldern wie der Kriminalistik und der Statistik fortgesetzt,31 so dass es am Ende des 19. Jahrhunderts kaum einen Bereich des menschlichen Körpers gibt, der nicht vermessen ist: vom Gesicht, der Haut über die anderen Sinnesorgane und den Bewegungsapparat bis hin zur Lokalisation kognitiver Funktionen. Entsprechende Handbücher zur plastischen oder künstlerischen Anatomie, in die zugleich die Proportionslehren Eingang finden, kursieren auch an den Akademien, an denen sie die Künstler- und Architektenausbildung bis in das 20. Jahrhundert hinein bestimmen.32 Kennzeichen dieser Literatur im 19. Jahrhundert ist nicht nur das ihr zugrunde gelegte Arsenal an neuen Messinstrumenten zur Abtragung der Körpermaße33 oder die Ausdehnung ihres Gegenstandes bis in die feinsten subkutanen Schichten des Körpers hinein. Der grafischen Darstellung treten umfangreiche Beschreibungen des Körpers zur Seite. Im Froriep, einer gebräuchlichen Anatomie für Künstler aus dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, gehen den anatomischen und Proportionstafeln am Ende des Buches über

Kirsten Wagner – Architektur mit dem Körper denken

hundert Seiten einer akribischen Auseinandersetzung von Aufbau, Knochen- und Muskelstellung des sich in Ruhe und Bewegung befindenden Körpers voraus.34 Dienten in den künstlerischen Anatomien und Proportionslehren antike Skulpturen beziehungsweise ihre Modellkörper als eine wesentliche Maßvorlage, aus denen seit der Frühen Neuzeit nicht zuletzt die nur fragmentarisch überlieferten griechischrömischen Kanones rekonstruiert werden sollten, ändert sich das im 19. Jahrhundert. Unter dem Eindruck der Naturgeschichte des Menschen und physischen Anthropologie treten nicht einfach nur lebende Modelle an ihre Stelle, sondern nach Art, Varietät und Geschlecht klassifizierte. Exemplarisch in dieser Hinsicht ist der Polyclet Johann Gottfried Schadows, ein Proportionsatlas aus dem Jahr 1834, in dem zu den bereits durch das Metermaß erfassten antiken Skulpturen anthropometrische Tafeln zum Körperwachstum vom Kleinkind bis zum Mann oder eine vergleichende Synopsis ‚abnormer‘ Körper, zweier ‚Riesen‘ und eines kleinen Menschen, hinzutreten.35 Ungleich mehr Raum nimmt auch der bewegte Körper ein. Hatten Leonardo da Vinci und Albrecht Dürer in ihren auf den Körper bezogenen anatomischen und Proportionsstudien bereits Bewegungsabläufe berücksichtigt, so werden im auf Bewegung fixierten 19. Jahrhundert die verschiedenen Körperstellungen und ihre sich aus den Dehnungen und Stauchungen der Muskeln und Gelenke ergebenden veränderten Proportionen zum zentralen Thema. Im Froriep ist im Anschluss an die biomechanischen und lokomotorischen Studien der Brüder Wilhelm und Eduard Weber36 oder des in der Kunstgeschichte debüttierenden Anatomen Wilhelm Henke37 ein längerer Abschnitt der menschlichen Fortbewegung und ihren anatomischen Bedingungen gewidmet.38 Dies alles wäre nicht erwähnenswert oder als kurzer Exkurs in die Geschichte der Proportionslehre abzutun, wenn das auf den Feldern von Physiologie, Anthropologie und plastischer Anatomie beschriebene und illustrierte Körperbild nicht im Zentrum einer Architekturtheorie der Moderne stünde, welche die Architektur als Raumgestalterin zu bestimmen unternimmt. Gemeint ist die Architekturtheorie August Schmarsows, die in Zusammenhang mit dem gegenwärtigen raum- und leibphänomenologischen Interesse an der Architektur eine besondere Rezeption erfahren hat.39 In Abgrenzung zu anderen im 19. Jahrhundert kursierenden Auffas-

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sungen von Architektur, etwa der einer Bekleidungskunst, einer tektonischen oder einer Massenkunst,40 vollzieht Schmarsow ein Denken der Architektur vom Raum her, um genau zu sein, vom dreidimensionalen Raum. Da dieser Raum seinerseits im Körper des Menschen, in seiner Axialität und Gerichtetheit, verankert ist, lässt sich in der Tat, wie Beatrix Zug dies getan hat, in Bezug auf Schmarsows Architekturtheorie von einem „anthropologischen Raum“ sprechen.41 Schmarsow schließt damit an die von Kant vollzogene anthropologische Wende des Raumes an, wenn es auch erst der Sinnesphysiologie des 19. Jahrhunderts zukommt, die Wahrnehmung des Raumes nicht als transzendentale Anschauungsform dem Subjekt zuzuschreiben,42 sondern sie auf die anatomischen Strukturbedingungen seiner Sinnesorgane und seines Bewegungsapparates zurückzuführen.43 Schmarsows Idee, dass der Mensch den architektonischen Raum gleichsam aus seinem axialen Leib heraus setzt, verweist ferner auf die in der Einfühlungsästhetik formulierte Projektionstheorie, nach der sich das wahrnehmende Subjekt mit seinem Körper und seinen Körpergefühlen dem wahrgenommenen Objekt anverleiht.44 Die erste systematische Bestimmung der Architektur als Raumgestalterin findet sich in Schmarsows Leipziger Antrittsvorlesung aus dem Jahr 1893.45 Darin ist bereits angelegt, was seine späteren Schriften kennzeichnen wird: die Rückführung nicht nur der Architektur, sondern auch der anderen Künste auf das Leibsubjekt, das gleichermaßen in den Fokus seiner Studien rückt. In mehreren Schriften, insbesondere in den Grundbegriffen der Kunstwissenschaft, tauchen längere Abschnitte, wenn nicht gesamte Kapitel auf, die der propädeutischen Beschreibung der „mensch­ lichen Organisation“ im Sinne einer Anatomie und physiologischen Psychologie des Körpers dienen. Sie lesen sich als Zusammenfassungen dessen, was in den humanwissenschaftlichen Handbüchern und künstlerischen Anatomien an experimentellem Wissen über den Menschen ausgebreitet ist; und gehen in ihren leibphänomenologischen Schlussfolgerungen zugleich schon darüber hinaus. Schmarsow selbst hat die Rückführung der Architektur wie auch der anderen Künste auf den menschlichen Körper als „Anthro­ pismus“ verstanden und zugleich deutlich gemacht, dass die „Auffassung des Menschen nach Analogie seiner eigenen Natur und nach der Besonderheit seiner angeborenen Organisation“, die sich „von den gleichorganisierten Wesen, seinen Mitmenschen,

Kirsten Wagner – Architektur mit dem Körper denken

auf alle Außendinge sonst [erstreckt]“, nicht nur dem „naiven Menschen“ entspricht, hingegen die ästhetische Haltung generell bestimmt.46 Architektonischer Raum zwischen Anthropologie, ballistischer Trajektorie und animierter Form Welches Leibsubjekt steht nun aber im Zentrum des gebauten Raumes? In der Antrittsvorlesung von 1893 ist es ein sowohl physiologischer als auch anatomischer Körper. Auf seinen Bau, seine Muskelgefühle und seine Hautempfindungen führt Schmarsow – darin vollkommen der Sinnesphysiologie des 19. Jahrhunderts entsprechend – die räumliche Anschauung zurück.47 Wesentlich an diesem Körper sind ferner seine Axialität48 und Gerichtetheit, einerseits seine Gerichtetheit nach oben durch die den Menschen kennzeichnende aufrechte Haltung, andererseits die Gerichtetheit nach vorne durch die Anordnung der beweglichen Sinnes- und Tastorgane, vor allem der Augen, Hände und Füße. Und es ist dieser Körper, der sich in jeder Umschließung seiner selbst gleichermaßen nach außen projiziert und objektiviert. Als Koordinatennullpunkt der drei räum­ lichen Achsen, die sich in ihm schneiden, und damit Ursprung aller Raumgebilde, die von diesem Ursprung ausgehen, ist das Leibsubjekt, ob real oder virtuell anwesend, in jeder architektonischen Setzung präsent: „Die Architektur als unsere Raumgestalterin schafft als ihr Eigenstes, das keine andre Kunst zu leisten vermag, Umschließungen unserer selbst, in denen die senkrechte Mittelaxe nicht körperlich hingestellt wird, sondern leer bleibt, nur idealiter wirkt und bestimmt ist als Ort des Subjektes.“49 Fällt die Vertikalachse mit dem „Höhenlot vom Scheitel an die Sohlen“ zusammen, dann die Horizontalachse und Breitendimension mit der „Ausspannung unserer Arme nach links und rechts“50. Die dritte Dimension wird durch die senkrecht zur Vertikalachse stehende, den Körper durchlaufende Achse gebildet. Sie bezeichnet die Ausdehnung des Raumes in die Tiefe hinein und ist durch gerichtete Bewegung charakterisiert. Das im menschlichen Körper verankerte Koordinatensystem eines dreidimensionalen, geometrischen Raumes legt Schmarsow in den sich anschließenden Beiträgen zur Geschichte und Systematik der Künste fernerhin den stereometrischen Körpern, den Gestaltungsprinzipien sowie den Künsten selbst zugrunde.51 Daraus ergibt sich das folgende Schema:

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Vertikalachse oder

Horizontalachse oder

Höhendimension

Breitendimension

Richtungsachse oder Tiefendimension

Proportion

Symmetrie

Rhythmus

Plastik

Malerei

Architektur

Zylinder

Kugel- bzw. Eiform

Sequenzierte Zylinder- und Eiform mit apsidialem und konchoidem Abschluss

Hervorgehend aus der

Hervorgehend aus

Heraustreibung

Rotation des Körpers

der Bewegung der

von Zylinder- und

mit geschlossenen

gespreizten Arme

Eiform in den Raum

Beinen und nach

nach oben, zur Seite,

durch Geh- und

unten anliegenden

nach unten und nach

Tastbewegung.

Armen um seine

vorne.

eigene Achse.

Schmarsow übernimmt das axiale System in seiner Zuordnung zu den drei Raumdimensionen und „Gestaltungsmomenten“ Proportion, Symmetrie und Rhythmus respektive Richtung wesentlich von Gottfried Semper,52 worauf bereits mehrfach hingewiesen worden ist.53 Allerdings ist es bei Semper in keiner Weise – wie dann später bei Schmarsow – durch ein leibliches Subjekt ausgezeichnet. Lediglich im Vergleich mit Pflanzen und anderen tie­rischen Spezies kommt dem Menschen der besondere Status zu, dass „alle drei Axen der Gestaltung […] prinzipiell getrennt und rechtwinklich auf einander, nach den Koordinatenaxen der räumlichen Ausdehnung, hervortreten“.54 Animalische, vegetabile und mineralogische Natur sind in zwar unterschiedlichen Ausprägungen, so doch durch dieselben Gestaltungsmomente determiniert, die ihrerseits in ein Spiel von in der Natur waltenden Kräften eingebunden sind. Es sind dies auf der einen Seite die mechanischen Kräfte der Massenwirkung und des Massenwiderstandes. So wirken sich Schwere und Reibung insbesondere auf die Proportion und die Richtung aus, indem sie dem, was aufgrund einer „Lebenskraft“ wachsend nach oben strebt oder aber aufgrund einer „Willenskraft“ sich bewegend nach vorne dringt, entgegenstehen. Von einem vergleichbaren Spiel mechanischer Kräfte, auf das jeder Formbildungsprozess verwiesen ist, geht später auch Theodor Lipps aus.55 Sempers Klassifikation verläuft damit insofern quer zu Schmarsows System, als er die Dinge der belebten und unbelebten Natur anhand einer

Kirsten Wagner – Architektur mit dem Körper denken

Taxonomie räumlicher Entwicklungsachsen und ihnen zugeordneter Gestaltungsmerkmale erfasst. Die Betonung der Richtungsautorität oder „direktionellen Gliederung“ als „d[em] hervorragende[n] Prinzip“ der tech­ nischen Künste und der Architektur56 durch Semper wird ebenfalls von Schmarsow übernommen und verselbstständigt sich in späteren Schriften Schmarsows zum Konzept eines Gehraumes, der zwischen Tastraum und Sehraum rangiert.57 Der Richtungsbegriff wie auch die Idee einander widerstrebender formbildender Kräfte sind bei Semper der Mechanik entlehnt.58 Mitte der 1850er Jahre, kurz vor Erscheinen von Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten, oder praktische Ästhetik, arbeitet Semper an einer kleinen Studie Über die bleiernen Schleudergeschosse der Alten59, in der er die Mandelform solcher Geschosse aus den Kräften erklärt, die während des Fluges auf sie einwirken. Mit dieser Studie tritt Semper zugleich gegen ein normatives Schönheitsideal an, wie es sich in den auf die Architektur übertragenen menschlichen oder musikalischen Proportionslehren ausdrückt. Ideale Kunstform ist vielmehr diejenige, die auf zweifache Weise den Gesetzen der Natur entspricht: zum einen den mechanischen Gesetzen von Statik und Dynamik und zum anderen der in der Natur waltenden Lebenskraft, deren Übertragung auf die Kunstform zu einer organischen Belebung derselben führt. Dabei gilt es nicht, die aus diesen Gesetzen resultierenden Naturformen in ihrer äußerlichen Gestalt nachzuahmen, sondern die ihnen zugrunde liegenden Gesetze anzuwenden. Der durch Richtungsachsen und Kraftvektoren bestimmte dynamische Raum von Wurf-, Flug- und Schwimmkörpern nimmt das für die Architektur wesentliche Gestaltungsmoment der Richtungsautorität vorweg. Die Einführung von Bewegung in die Architekturtheorie erweist sich damit zunächst als ein Problem der „ballistischen Trajectorie“,60 bevor sie bei Schmarsow zu einer Frage der menschlichen Lokomotion wird. Die bereits genannten Bewegungsstudien aus dem 19. Jahrhundert dürften entscheidend dazu beigetragen haben, dass Schmarsow einen gehenden Betrachter, der die rhythmische Pendelbewegung seiner Extremitäten auf den architektonischen Raum abträgt, an die Stelle sich durch den Raum bewegender animalischer und physikalischer Körper setzen kann. Und auch die bei Semper vorgezeichnete Axialität findet in ihrer Engführung auf den menschlichen Körper eine Vorlage: die Proportionsfiguren, die seit ihrer Visua-

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lisierung in der Frühen Neuzeit auf ein System sie definierender Achsen bezogen sind; und bei Dürer auch schon auf stereome­ trische Körper. In den Grundbegriffen der Kunstwissenschaft führt Schmarsow neben der horizontalen Achse, die sich aus den nach links und rechts ausgestreckten Armen ergibt, weitere den Körper durchlaufende waagerechte Achsen an: Auf Ebene der Fußsohlen, der Kniegelenke, des Beckens, der Taille und der Schulter.61 Sie entsprechen den gängigen Messpunkten und Körperachsen von Proportionsfiguren, wie sie auch in den künstlerischen Anatomien des 19. Jahrhunderts zuhauf zu finden gewesen sind.62 Lässt sich im Hinblick auf Schmarsows Architekturtheorie wie auf die Ästhetik- und Architekturdiskurse des späten 19. Jahrhunderts insgesamt sagen, dass sie den Körper erneut ins Zentrum des gebauten Raumes stellen, ihn zum Ursprung von Produktion und Rezeption der Architektur machen, wirft das die Frage auf, inwieweit sie sich damit von der Vitruvianischen Tradition mit ihren anthropometrischen und anthropomorphen Grundlagen unterscheiden. Vier wesentliche Unterschiede sind hier benannt worden: Erstens fällt mit der Einführung des Metermaßes im späten 18. Jahrhundert in Frankreich und in Folge zahlreicher anderer Länder die anthropometrische Grundlage von Architektur in Form der Körpermaße weg. Hierbei wird jedoch übersehen, dass Vermessungen des Körpers auch im dezimalmetrischen System weiterhin für die Architektur von Bedeutung sind und im 20. Jahrhundert zur Formulierung von räumlichen Mindestmaßen in der Bauentwurfslehre führen.63 Ein zweiter Unterschied ist hinsichtlich des Körpers selbst zu machen. Ist dieser Körper bis in die Frühe Neuzeit hinein als Mikrokosmos Ausdruck einer transzendentalen Ordnung, die auf idealen Zahlen und Maßverhältnissen gründet, fällt dieser Zusammenhang in der Moderne weg; wenn es auch immer wieder Anknüpfungen an diese Tradition gegeben hat, etwa mit Adolf Zeisings auf dem Goldenen Schnitt aufgebauter Proportionslehre aus der Mitte des 19. Jahrhunderts.64 Tatsächlich kann für die Moderne von einer Subjektivierung der Maßverhältnisse in der Architektur gesprochen werden, insofern diese seit Perrault auf historisch und kulturell variable Wahrnehmungs- und Geschmacksurteile zurückgeführt worden sind. Dem steht im ausgehenden 19. Jahrhundert in den Ästhetik- und Architekturdiskursen jedoch ein normativer Körper entgegen, dessen Anatomie und Physiologie die Formen und ihre

Kirsten Wagner – Architektur mit dem Körper denken

ästhetische Wirkung bedingen. Er stellt die unhintergehbare Instanz jedweden Kunstwollens oder Raumgefühls dar. Drittens: während der bei Vitruv hergestellte Bezug zwischen Körper und Architektur auf eine Übertragung der äußerlichen Gestalt und ihrer sichtbaren Proportionen, ihrer eurythmia, hinausläuft, sind es im 19. Jahrhundert eher Strukturhomologien zwischen Körper und Bauwerk, die wirksam werden: Was seine Entsprechung in Architektur findet, sind gleichsam innere Strukturen des Körpers, seine Anatomie, seine axiale Ausrichtung und Orientiertheit, aber auch seine Körpergefühle, unter die im 19. Jahrhundert ein noch kaum ausdifferenziertes Spektrum an Tast-, Haut-, Organ-, Schmerz- und Lustempfindungen fällt. Dass zur selben Zeit auch noch die äußere Gestalt des Menschen auf Architektur übertragen wurde, zeigt hingegen die Rezeption der Physiognomik in der Architekturtheorie des 19. Jahrhunderts.65 Zum Vierten ist angeführt worden, dass die Übertragungen zwischen Körper und Architektur im 19. Jahrhundert insbesondere durch die Einfühlungstheorie erstmals eine psychologische Erklärung finden.66 Das heißt, dass sie nicht einfach Fortsetzung finden, sondern gleichzeitig als Übertragungen benannt werden. Man könnte diesbezüglich von einem Reflexivwerden des Anthropomorphismus in der Architektur sprechen. Diese These gewinnt vor der Diskussion des Anthropomorphismus oder Anthropismus im 19. Jahrhundert an Plausibilität, hat jedoch dort ihre Grenzen, wo sie einer fortschreitenden Vernunft zugeschrieben wird. Anthropismus in Ästhetik und Architekturtheorie des 19. Jahrhunderts Auffallend an dem Begriffsfeld, das sich um das griechische Wort ánthropos (für Mensch: aus anér für Mann und óps für Sehen oder Gesicht)67 anlagert, ist seine Ausdifferenzierung im 19. Jahrhundert. Kennen die etymologischen Lexika und Enzyklopädien bis Ende des 18. Jahrhunderts wesentlich die Begriffe der Anthropologie und der Anthropometrie, dann ändert sich das sprunghaft mit der Verwissenschaftlichung des Menschen als Subjekt und Objekt der Erkenntnis. Jetzt ist eine Reihe weiterer, den Menschen adressierender Begriffe zu finden, darunter: Anthropinisch, Anthropismus, Anthropochemie, Anthropodämon, Anthro­ pogenie, Anthropoglyphen, Anthropographie, Anthropolatrie, Anthropolepsie, Anthropomantie, Anthropomorphismus, Anthropomorphologie, Anthroponomie, Anthropopathismus und derglei-

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chen mehr.68 Ebenso auffallend ist, dass die Begriffe der Anthropologie, des Anthropomorphismus und des Anthropismus im 19. Jahrhundert vielfach noch synonym verwendet werden. Alle drei bezeichnen ebenso gut die allgemeine Lehre vom Menschen wie die Übertragung der Gestalt, der Handlungen und der Affekte des Menschen auf die Götter beziehungsweise auf Gott. In letzterer Bedeutung werden sie insbesondere an der Mythologie, aber auch an den monotheistischen Religionen diskutiert. Der Anthropomorphismus ist damit bis weit in das 19. Jahrhundert auf die Religionsgeschichte und -philosophie beschränkt. Hierbei kommt es Ludwig Feuerbach zu, den Anthropomorphismus als Wesenszug der christlichen Religion, überhaupt als Kennzeichen des religiösen Bewusstseins herauszustellen und so bereits zu verallgemeinern.69 Einige wenige Ausnahmen, so in der von Johann Samuel Ersch und Johann Gottfried Gruber 1818 herausgegebenen Allgemeinen Encyclopädie der Wissenschaften und Künste zu finden, sprechen den Anthropomorphismus darüber hinaus als Grundtatsache des Menschen und seines Denkens an:70 „Es ist jedoch jene Vorstellungsart keineswegs auf das göttliche, ja nicht einmal auf übersinnliche Wesen allein beschränkt, und der Begriff wäre also schon darum von weiterem Umfang zu nehmen, wenn auch nicht hinzukäme, daß er nicht allein das Vorstellen unter menschlicher Gestalt, sondern auch unter menschlichen Eigenschaften aller Art unter sich befaßt. Wir werden ihn also am richtigsten erklären als Vorstellung nicht menschlicher Dinge nach Art der menschlichen Natur. Diese Vorstellungsweise ist dann keine andre als die der Analogie, nach welcher man ein Unbekanntes durch ein bekanntes Ähnliches sich zu erklären sucht. Da dem Menschen nichts bekannter war als Er sich selbst, so wurde ihm bald jeder Gegenstand der Natur ein Analogon seines eigenen Lebens.“71 Als ein ästhetischer Begriff taucht der Anthropomorphismus beziehungsweise Anthropismus bei Friedrich Theodor Vischer auf. Vischer benennt in seiner Ästhetik mit dem „Pan-Anthropismus“72 jene ästhetische Haltung, die noch im untersten Naturgebilde „Persönlichkeit“ erkennt. In späteren Schriften Vischers wird diese ästhetische Haltung insoweit präzisiert, als das betrachtende Subjekt seine Seele der betrachteten Natur leiht, seine Stimmungen in sie hinein projiziert. Ohne dass der Begriff des Anthropismus in der aus Vischers Symboltheorie und der Sinnesphysiologie hervor-

Kirsten Wagner – Architektur mit dem Körper denken

gehenden Einfühlungsästhetik eine besondere Rolle spielen würde, zeigt die kleine Schrift Alfred Bieses Das Associationsprinzip und der Anthropomorphismus in der Ästhetik73 aus dem Jahr 1890, dass der Akt der Einfühlung mit dem Anthropomorphismus später gleichgesetzt werden konnte; dass sogar weiterführend der Anthro­ pomorphismus zu einem ebenso der Einfühlung übergeordneten wie universalen Begriff und einer Übertragungsleistung wurde, auf der zu weiten Teilen das menschliche Denken beruht. Auch Schmarsow enthistorisiert den Begriff des Anthropismus, den er offensichtlich von Alois Riegl74 übernimmt, der ihm aber auch aus dem Bereich archäologischer Studien über archaische Kultobjekte geläufig gewesen sein könnte. In diesen stellte sich das Problem eines anthropomorphen und damit zugleich ikonischen Kultobjektes in seiner genetischen Entwicklung. Sah die eine Entwicklungslinie das statuarische Werk in Menschengestalt über Prototypen wie die Hermen aus den ursprünglich anikonischen Kultobjekten hervorgehen, nahm man von anderer Seite an, dass das vergleichsweise spontane Auftreten ikonischer Kultobjekte durch die Poesie vermittelt worden ist. Erst die Anthropomorphisierung der antiken Götterwelt in den Epen Homers und Hesiods hat demnach zum Ikonismus innerhalb des Kultus geführt.75 Mit der Anthropomorphisierung der die Natur durchwaltenden Kräfte wurde zugleich eine Verbildlichung menschlicher Praktiken und ihrer techné verbunden.76 Wichtig erscheint hier, dass aus der Einrichtung sowohl der anikonischen als auch dann der ikonischen Kultstätten im 19. Jahrhundert Rückschlüsse auf den Ursprung der sakralen Architektur gezogen wurden. So beschreibt Johannes Overbeck in seiner Studie über Das Cultusobject bei den Griechen in seinen ältesten Gattungen,77 wie zunächst als Sitz einer Naturkraft und Heiligtum verehrte Bäume, an deren Stelle erst anikonische, später anthropomorph ausgestaltete Pfähle und schließlich statuarische Werke treten, wie also diese Verkörperungen eines Numinosen räumlich abgegrenzt wurden, indem um sie ein Bereich markiert und zum Teil durch Mauern eingefriedet worden ist. Auf diesem Hintergrund gewinnt Schmarsows architektonischer Raumbegriff eine neue Bedeutung. Lässt sich doch sagen, dass das axiale Leibsubjekt, das bei Schmarsow im Zentrum jeder architektonischen Setzung steht, eben jenen Platz einnimmt, den ehedem das verkörperte Kultobjekt, das in Menschengestalt verkörperte Kultobjekt, innehatte. Es

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wird zur sakralen Mitte, um die herum Raum eingerichtet erscheint. Zu einer vergleichbaren Deutung kommt Zug-Rosenblatt, wenn sie über die Rezeption Hegels durch Schmarsow herausstellt, dass bei Schmarsow an die Stelle des von der Architektur umschlossenen Hegelschen Geist-Subjektes, welches sich im menschengestaltigen Götterbild objektiviert, ein körperliches Subjekt tritt.78 Und es sind gerade solche Bezüge, an denen das Reflexivwerden des Anthropismus uneindeutig wird. Zumindest ist eine sowohl räumliche wie symbolische Distanzierung zwischen statuarischem Werk und Leibsubjekt, die sich beide als konstitutiv für den architektonischen Raum erweisen, nicht mehr ohne Weiteres möglich.79 Gerade jene Distanzierung aber wäre im Sinne Vischers die Voraussetzung für den Anthropismus als ästhetische Haltung. Dem liegt Vischers im Rahmen seiner Ästhetik entwickelte Symboltheorie zugrunde, nach der das ästhetische Bewusstsein im Gegensatz zum mythischen Bild und Bedeutung nicht mehr verwechselt, sondern um die Übertragung der Bedeutung auf das Bild weiß, sich also des „als ob“ symbolischer Praxis und ästhetischer Erfahrung bewusst ist.80 Dieses reflexive Moment des „als ob“ fällt nicht nur bei Schmarsow immer wieder hinter sich selbst zurück, wie er denn zwischen einem naiven und einem ästhetischen Anthropismus auch keine klare Grenze zieht.81 In vielen einfühlungstheoretischen, ästhetischen und kunstwissenschaftlichen Schriften aus dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entfalten die abstrakten Formen und architektonischen Elemente, die sich krümmen und beugen, sich der Schwere widersetzen, aufstreben und vieles Körperliche mehr vollziehen, ein Eigenleben. Von hier aus ergeben sich mehrere Aufgaben für eine kri­tische Anthropologie der Architektur: Zunächst eine über die historischen Studien hinausgehende systematische Beschäftigung mit dem Anthropomorphismus in der Architektur, dem Denken des Gebauten in Begriffen und Bildern des Körpers, das vielleicht die einzige anthropologische Konstante ist und eine Konstante, die zugleich die Möglichkeit bietet, den jeweils übertragenen Körper in seiner Historizität zu erfassen. Denn auch das zeigt die Geschichte des Anthropomorphismus in der Architektur: Es wurde und wird auf die Architektur bei Weitem kein natürlicher Körper bezogen, auch wenn sich das auf dem jeweiligen Kenntnisstand des Körpers, der immer wieder bei dessen wahrer Natur angekommen zu sein scheint, anders darstellen mag. Der in der Antike vorausgesetzte

Kirsten Wagner – Architektur mit dem Körper denken

Körper war ein geometrisch-metrologischer, in der Frühen Neuzeit ein anatomischer und mechanischer, in der Moderne ein physiologischer, jetzt ist es ein neurobiologischer, cerebraler, uneingedenk all der anderen Bestimmungen des Körpers und seiner Funktionen, die zwischen diesen großen Körperparadigmen liegen. Ebenso unausgelotet erweisen sich die spezifischen Körperbilder und auf sie bezogenen Architekturen, die über die physische Anthropologie als historische Wissenschaft im 18. und 19. Jahrhundert Einzug in die Architektur halten.

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Jan Bovelet

Überlegungen zu Architekturphilosophie und Erkenntnistheorie Einleitung Eine der zentralen Fragen, die im Laufe der Villa Vigoni-Gespräche immer wieder aufgetaucht ist, war die Frage danach, wie sich die Architekturphilosophie von Architekturtheorie und -kritik abgrenzen lässt und wie sich überhaupt eine Architekturphilosophie als Wissenschaft konstituieren kann und sollte. Die Herausforderung besteht dabei darin, die Frage nach dem Verhältnis von Architektur und Wissenschaft als eine offene und wechselseitige zu begreifen: Für die Architekturphilosophie kann es nicht darum gehen, Architektur in ein vorgefundenes Wissenschaftsschema einzupassen und sie unkritisch zu ‚verwissenschaftlichen‘. Sie muss immer auch den verwendeten Wissenschaftsbegriff selbst und den Umstand im Auge behalten, dass die Architektur eine besondere Herausforderung für die Erkenntnisfrage darstellt, und damit auch, wie sich eine Wissenschaft konstituiert. Zur Architekturphilosophie gehört, die Architektur aus erkenntnistheoretischer Perspektive zu thematisieren. In diesem Essay geht es dabei nicht um eine abschließende Definition der Architektur aus erkenntnistheoretischer Perspektive, sondern darum, zuerst einmal die Problemstellung überhaupt zu konturieren: Wie stellt sich Architektur aus Sicht der Erkenntnistheorie dar? Wie unterscheidet sie sich von anderen ‚Objektbereichen‘ der Erkenntnistheorie? Gibt es vielleicht Aspekte oder Momente der Architektur, die zu weitergehenden Revisionen der Kategorien und Konzepte der Erkenntnistheorie führen müssten? Diesen Unterschieden und Bezügen versucht dieser Essay nachzugehen und anhand einiger erkenntnistheoretischer topoi zu konturieren. Zum Schluss werde ich versuchen zu charakterisieren, was einen Architekten als epistemischen Akteur auszeichnet; d. h. zu charakterisieren, was in der

Jan Bovelet – Überlegungen zu Architekturphilosophie und Erkenntnistheorie

Architektur ein ‚narratives Äquivalent‘ beispielsweise zum Ideal des objektiven Beobachters der Wissenschaft oder des Genies in der Kunst sein könnte: wie spielt sich architektonische Erkenntnis ab und welcher Akteur macht sie? Dies ist ein Hauptanliegen einer architekturphilosophischen Erkenntnistheorie in praktischer Hinsicht: Die Architektur und die Architekten müssen ein Selbstbild erarbeiten, um eine Position in den Gestaltungen der Gegenwart einnehmen zu können. Und eine Architekturphilosophie muss darauf zielen, sie in die Lage zu versetzen, qualifiziert an diesem Ziel arbeiten zu können. Erkenntnistheorie und Architektur Wenn man sich erkenntnistheo­

retische Positionen in der Geschichte anschaut, stößt man überall darauf, dass die Protagonisten dieser Richtung immer bestimmte Wissensbereiche oder -disziplinen hatten, auf die sie sich in besonderer Weise bezogen haben – sie alle hatten ihre Steckenpferde, auf denen sie ihre Erkenntnistheorien entwickelt haben. Für Charles Sanders Peirces Konzeption der Kategorien und seine Präferenz für einen diagrammatischen Logik-Kalkül ist es beispielsweise wichtig zu wissen, dass er Chemie studiert hat. Oder man betrachte das Programm des logischen Positivismus im Wiener Kreis: dieses Programm lässt sich nur vor dem Hintergrund des Bezuges zur Physik als Leitwissenschaft dieser Kreise angemessen historisch rekonstruieren und verstehen. Ließen sich diese Beispiele auch fast beliebig erweitern – ein Punkt, dem sich die Historisierung der Epistemologie systematisch verschrieben hat – , ist hier aber lediglich der allgemeine Punkt wichtig, dass Erkenntnistheorien nie im luftleeren Raum entstehen. Sie entstehen immer in bestimmten materiellen und historischen Kontexten und unter bestimmten Per­spektiven. Trotz des auffällig häufigen Vorkommens von architekto­ nischen Metaphern in Philosophie und Erkenntnistheorie gibt es bisher keine erkenntnistheoretische Position, die systematisch von der Architektur ausgeht und sich systematisch an der Architektur entwickelt. Vielmehr ist es zumeist so, dass der Import von erkenntnistheoretischen Konzepten in die Architektur als keiner besonderen Begründung bedürftig angesehen wird. Und umgekehrt wird auch der Rückgriff auf architektonische Metaphern in der Erkenntnistheorie meist als selbst-explikativ betrachtet: Wenn z. B. René Descartes die Figur der Gründung oder des Funda-

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mentes heranzieht, um sein methodisches Vorgehen zu verdeut­ lichen,1 dann geht er stillschweigend davon aus, dass diese architektonischen Begriffe klar und einleuchtend sind, ohne weiter erklärt werden zu müssen. Oder wenn Gottfried Wilhelm Leibniz seine Monaden als fensterlose Entitäten beschreibt,2 dann bezieht er sich dabei auf die architektonische Entität Fenster im Vertrauen darauf, dass klar ist, was diese Entität ist. Und ähnlich verhält es sich auch mit Immanuel Kants bekannter Rede von der Architektonik als „Kunst der Systeme“, die durch „systematische Einheit“ die „gemeine Erkenntnis allererst zur Wissenschaft“ macht.3 Obwohl das eine interessante und nützliche Zusammenstellung wäre, geht es hier aber nicht darum, die Bezüge zur Architektur in der Philosophie historisch zu überblicken. Was ich herausarbeiten möchte ist die Aufgabe der Architekturphilosophie, die Erkenntnistheorie der Architektur von der Architektur her zu denken. Zu dem Phänomen, dass Architektur oft als selbst-evidente explikative Metapher in der Erkenntnistheorie verwendet wird, kommt ein zweites Phänomen, das allerdings nicht nur die erkenntnistheoretische Perspektive, sondern das Verhältnis zwischen Architektur und anderen Disziplinen generell betrifft: Architektur ist eine Integrationsdisziplin,4 die beständig externe Methoden, empirische Ergebnisse, kulturelle Imperative etc. aufnimmt und umarbeitet. Ähnlich ist auch die jüngere Architekturtheorie verfahren: erkenntnistheoretische Konzeptionen und operativ-methodische Dispositive wurden zumeist von außen in die Architekturtheorie injiziert. Man denke etwa an die semiotischen Konzeptualisierungen der Architektur und die dekonstruktivistischen Ansätze in der Postmoderne oder die Versuche, Architektur mit linguistischen Mitteln und Methoden zu interpretieren. All diese Ansätze sind nicht mit Perspektive auf die Architektur entstanden; historiographisch gesehen sie sind vielmehr in einem zweiten Schritt auf die Architektur ‚angewendet‘ – und manchmal sogar auch adaptiert worden. Gerade dieser unbefriedigende Zustand der Architekturtheorie war einer der Auslöser der Organisation der Villa Vigoni-Gespräche zur Architekturphilosophie. Aus erkenntnistheoretischer Perspektive ist es bezeichnend, dass alles, was in der Erkenntnis als Architektur auftaucht, gemacht und nicht gegeben ist. „Der Architekt baut objekthafte Umwelt und ist insofern“, so hat Christian Posthofen es formuliert, „das Modellsubjekt in Auseinandersetzung mit seiner Objektumwelt

Jan Bovelet – Überlegungen zu Architekturphilosophie und Erkenntnistheorie

schlechthin.“5 Dieses Gemacht-sein der Architektur, ihr artefak­ tischer Charakter und ihre Bezogenheit auf die Erkenntnis ist ihre epistemologische Signatur. Deshalb kann eine Ontologie der Architektur nur eine gemachte Ontologie sein; oder mit anderen Worten: eine Ontologie der Architektur ist nur über den Weg der Epistemologie zu erreichen. Architektonische Erkenntnis unterscheidet sich vom Ideal der Erkenntnis in den empirischen Wissenschaften dadurch, dass sie sich nicht auf etwas von der Erkenntnis kategorial verschieden Gedachtes richtet, sondern immer auf etwas, das auf sein Erkennen hin angelegt ist. Dieses Verhältnis zwischen der Architektur und ihren Adressaten könnte man vielleicht als so etwas wie eine epistemische Komplizenschaft bezeichnen. Natürlich kann auch Architektur erratisch sein, und darauf ausgerichtet, sich der Erkenntnis versperren, aber diese negative Versperrung gehört dann zum positiven Programm dieser Architektur. Architektur und die in ihr verwendeten operativen epistemischen Dispositive sind der architektonischen Erkenntnis zugewendet und auf sie bezogen. In die ideale Erkenntnissituation der Architektur ist immer die Beziehung zum Erkennenden eingeschrieben – anders als im idealty­ pischen Bild der empirischen Wissenschaften, die darauf abzielen, den Beobachter aus der konkreten Erkenntnissituation heraus zu kürzen. Die kategoriale Dichotomie zwischen Subjekt und Objekt, die die Wissenschaft anstrebt und zu kultivieren trachtet, steht daher quer zum Gemacht-sein der Architektur. Die epistemische Figur des Gegebenen, das korrekt abgebildet/repräsentiert werden müsse, führt in der architektonischen Erkenntnis ins Leere, denn ohne die architektonische Tat gibt es nichts, was Objekt der architektonischen Erkenntnis sein könnte; diese zielt gerade auf die Gestaltung der Relation von Subjekt und Objekt als dem zentralen Moment ihrer praktischen und theoretischen Bemühungen. Diesen grundsätzlichen Unterschied in der epistemischen Ausrichtung der Architektur gilt es in einer architekturphilosophischen Erkenntnistheorie herauszuarbeiten und operativ zu machen. Dabei führt das unhintergehbare Faktum der Erkenntis-Tat, auf das wir in der erkenntnistheoretischen Perspektive auf die Architektur stoßen, zu Fragen, die über die Architektur hinausgehen. Hier kann die architekturphilosophische Erkenntnistheorie ihren Beitrag zu Fragen der Erkenntnistheorie im Ganzen leisten: Ein Hinweis auf das Inter-

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esse an dieser Perspektive auf die Erkenntnisfrage mag der bereits erwähnte häufige wie selbstverständliche Rückgriff auf architektonische Metaphern in erkenntnistheoretischen Konzep­ tionen sein. Die Aufgabe, die sich hier für eine architekturphiloso­phische Erkenntnistheorie ergibt, ist es, der Figur des Gegebenen eine eigene epistemische Figur entgegenzustellen. Neben dem Gemacht-sein der Architektur ist aus erkenntnistheoretischer Sicht auch ihre räumliche und zeitliche Persistenz als gebaute Umwelt wichtig. Wenn man Architektur weit fasst, wie das seit Vitruvs Zehn Bücher über Architektur immer wieder getan worden ist, dann nimmt Architektur, als Gestaltung der menschlichen Lebenswelt, eine sehr umfassende Rolle in der praktischen Lebenswirklichkeit ein. Diese praktische Allgegenwärtigkeit der Architektur ist sicherlich ein Faktor in der Erklärung der besonderen Evidenz von architektonischen Bezügen in erkenntnistheoretischen Kontexten. Wir alle erwerben in unserem Umgang mit Architektur Vertrautheiten und Gewohnheiten, die architektonischen Dispositiven wie Fenster oder Fundament ihre epistemologische Evidenz verleihen. Wenn das so wäre, dann hätte die architekturphiloso­ phische Erkenntnistheorie die Aufgabe, das Zustandekommen dieser Evidenz zu erforschen. Sie kann Begriffe wie Fundament nicht metaphorisch gebrauchen; sie steht in der Pflicht, diese epistemisch zu stratifizieren, indem sie andere Metaphern benutzt. Die Frage, die für sie dann entscheidend wird, ist, welche metaphorischen Prämissen gegenwärtig die richtigen für eine Epistemologie der Architektur sind. Ein weiterer erkenntnistheoretisch wichtiger Punkt für eine architekturphilosophische Erkenntnistheorie ist die Aufgabe der Theorie als Praxis. In der oben angesprochenen wechselseitigen Perspektive bei der Frage nach der Konstitution einer Architekturphilosophie als Wissenschaft ist es für eine architekturphiloso­ phische Erkenntnistheorie wichtig, das Entwerfen als epistemisches Herzstück in die Theorie einzubeziehen. Architektur richtet sich immer auf etwas Zukünftiges; deshalb ist es aus erkenntnis­ theoretischer Sicht zentral, die epistemischen Praktiken zu verstehen, kraft derer konkrete Architektur gemacht wird. Aus der Sicht des Theoriedesigns bedeutet das für eine architekturphilosophische Erkenntnistheorie, dass sie nicht nur darauf zugeschnitten werden darf, vorgefundene epistemische Praktiken zu analysieren. Dies wäre die Aufgabe einer Geschichte der Architektur-Erkennt-

Jan Bovelet – Überlegungen zu Architekturphilosophie und Erkenntnistheorie

nistheorie. Wenn Architekturphilosophie praktisch relevant sein will, dann muss sie auch spekulativ-experimentell ausgerichtet sein. In einer Erkenntnistheorie der Architektur geht es nicht nur darum, wie bestimmte Architektur erkannt wurde oder werden sollte, sondern auch darum, wie und mit welchen epistemischen Praktiken Architektur in der aktuellen Architekturpraxis gemacht wird. Merkmale architektonischer Erkenntnisprozesse

Oben wurden drei Punkte im Verhältnis zwischen Architektur und Erkenntnistheorie akzentuiert: die besondere Evidenz, die in und durch Architektur erreicht werden kann und sie als Explikation erkenntnistheoretischer Konzeptionen prädestiniert; die integrative Natur architektonischer Erkenntnisprozesse, die sich nicht als bloßes Aggregieren externer Erkenntnis- und Wissenspraktiken verstehen lässt; und die Aufgabe der Theorie als Praxis. Wie lassen sich nun diese drei Punkte aus erkenntnistheoretischer Perspektive genauer konturieren? Fünf Aspekte scheinen mir für Überlegungen in Richtung einer architekturphilosophischen Erkenntnistheorie besonders wichtig zu sein. 1 Medialität der Erkenntnis Neben dem Blick auf die Archi-

tektur als Medium, der auch seine Wichtigkeit hat, sind aus Sicht der architekturphilosophischen Erkenntnistheorie besonders die Medien der architektonischen Erkenntnis bzw. die Erkenntniswerkzeuge von Interesse. Eine besondere Rolle scheint für die Architektur das Zeichnen zu spielen, und das sowohl in den alten als auch in den neuen Medien. Hier ließe sich gewinnbringend an Ergebnisse und Stränge in der Zeichen- und Medienphilosophie anschließen. Beispielsweise ist von Seiten der Diagrammatik unter dem Stichwort des linguistischen Imperialismus6 das Problem der engen Verbindung von sprachlichen Formen und der Institutionalisierung der Wissenschaft herausgestellt worden, das sich auch für die Architektur stellt: Welche Aspekte der Architektur können sprachlich modelliert werden bzw. wie können sprachliche Kulturtechniken überhaupt auf die Architektur angewandt werden? Der Blickwechsel in der Beziehung zwischen Architektur und textorientierter Wissenschaft führt zu der Frage, was geeignete mediale Formate für eine medienkritische architekturphilosophische Erkenntnistheorie sein könnten.

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2 Offenheit, Pluralität und Kollektivität der Erkenntnis In der

Sprachphilosophie ist von verschiedenen Seiten die Einsicht formuliert worden, dass die Bedeutung von sprachlichen Gebilden nicht alleine durch interne Eigenschaften eines Sprechers geklärt werden kann: in seinem berühmten Privatsprachenargument hat Ludwig Wittgenstein – auch gegen Positionen, die er in seiner frühen Phase im Tractatus Logico-Philosophicus7 vertreten hat – gezeigt, dass die Bedeutung eines Wortes nur unter Bezug auf seinen fortlaufenden intersubjektiven Gebrauch und durch Ähnlichkeit, die im Vergleich zu verwandtem Wortgebrauch besteht,8 geklärt werden kann. Dieser sogenannten Gebrauchstheorie der Bedeutung hat Hilary Putnam in seiner Position des semantischen Externalismus die berühmte Wendung gegeben: „‚meanings‘ just ain’t in the head.“9 Hinzu kommt Willard Van Orman Quines Konzeption des Bedeutungsholismus: Sprachliche Einheiten tragen Bedeutung nicht isoliert für sich, sondern nur innerhalb eines sprachlichen Systems.10 Diesen öffentlichen und kontextuellen Charakter hat die Architektur mit der Sprache gemein. Erkenntnisprozesse in der Architektur sind durch Pluralität und Offenheit gekennzeichnet: Sie richten sich auf sehr heterogene Aufgaben und Projekte, und integrieren unterschiedliche Akteure, Methoden, Technologien, Instrumente und Strategien. Für eine architekturphilosophische Erkenntnistheorie wäre es von zentraler Wichtigkeit, zu taxieren, welche Wissensgebiete und Wissensformen eine Rolle in der Architekturpraxis spielen und wie sie sich zueinander verhalten. Sodann ist es gerade für die Architektur als Integrationsdisziplin wichtig, architektonische Erkenntnis als eine Erkenntispraxis in Relation zu anderen zu begreifen und zu konzeptualisieren; von der Architektur her geht es für die Architekturphilosophie darum, architektonische Erkenntnis in ihrer Beziehung zu anderen Wissensformationen zu verorten und gegen andere zu konturieren. Sie sollte nicht darauf abzielen, architektonische Erkenntnis zu verabsolutieren, oder ihre fundamentale Inkommensurabilität mit anderen Wissensformationen herauszustellen, sondern darauf, ihr Verhältnis zu anderen Wissensformationen zu bestimmen. Die Architektur ist Expertin darin, Imperative, die in anderen, externen epistemischen Praktiken verwurzelt sind, zu internalisieren – diese Expertise muss die Erkenntnistheorie für eine Architekturphilosophie erforschen und positiv formulieren.

Jan Bovelet – Überlegungen zu Architekturphilosophie und Erkenntnistheorie

3 Materialität der Erkenntnis Ein Punkt, der in der aktuellen

Erkenntnistheorie von verschiedenen Seiten hervorgehoben wird, ist die Materialität der Erkenntnis. Die Erkenntnismedien und epistemischen Objekte der Architektur bringen immer eine ihnen eigene Materialität mit sich. In der Wissenschaftsgeschichte und -theorie sind daher in letzter Zeit besonders Konjekturen von Dingen und materiale Erkenntispraktiken in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt.11 So werden konkrete Dinge und materielle Prozesse – nicht Ideen – zum Zentrierpunkt der erkenntnistheoretischen Überlegungen. Hier kann auch eine architekturphilosophische Erkenntnistheorie ansetzen: Sie muss konkrete Planungs- und Entwurfsinstrumente untersuchen und konkrete Stücke und Episoden der Architektur thematisieren, um von da aus die historisch-materiale Präsenz als epistemisches Spezifikum der Architektur und ihrer Erkenntnismedien ins Spiel zu bringen. 4 Kreativität der Erkenntnis Das Ziel der Architektur, die Rela-

tion zwischen Objekt und Subjekt zu gestalten, führt dazu, dass die entwerferisch-kreativen Aspekte der Erkenntnis direkt in die gebauten Manifestationen, die Techniken und Mittel und die begrifflichen Instrumente der Architektur einfließen. Dagegen klammern die auf Produktion von Objektivität hin ausgerichteten empirischen Wissenschaften diesen kreativen Aspekt weitestgehend aus. Der klassische Lokus für diese Problematik ist die Debatte um das Verhältnis von Entdeckungs- und Rechtfertigungskontext. In Karl Poppers Position des kritischen Rationalismus beispielsweise gehört der kreative Aspekt der Erkenntnis – die Entdeckung – nicht in den Bereich der allgemeinen Erkenntnislogik, sondern zu einer empirischen Erkenntnispsychologie und kann insofern nicht zum Thema der Erkenntnistheorie werden. Hier muss sich eine architekturphilosophische Erkenntnistheorie so positionieren, dass sie dem für die Architektur zentralen Entwerfen eine angemessene Stellung im Theoriedesign einräumt. Ansatzpunkt hierfür können Ergebnisse aus der sich seit einiger Zeit formierenden Entwurfswissenschaft sein. 5 Historizität der Erkenntnis Eine Architekturphilosophie muss

sich dem Problem der Historizität der Erkenntnis12 stellen. Sie braucht ein Geschichtsmodell, in dem sie ihre Objekte historisch konstituieren kann, denn Architektur wie architektonische

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Erkenntnis sind historische Phänomene. Nach den Debatten um das Verhältnis von Moderne und Postmoderne und um das Ende der Geschichte, die in der Architektur engagiert geführt worden sind, ist es für die Architekturphilosophie wichtig, zu bestimmen, was denn heute überhaupt die historischen Einheiten einer Erkenntnistheorie der Architektur sein können. Eine Architekturphilosophie müsste sich überlegen, ob sie eine epische oder eine episodische Perspektive einnimmt. Wenn es stimmt, dass die Geschichte sich beschleunigt,13 könnte eine auf architektonische Episoden gerichtete Per­spektive, die sich auf die historischen Brüche und Differenzen in der architektonischen Erkenntnis konzentriert – nicht auf die epischen Essenzen der Architektur – ein Ansatz sein, um die Architekturphilosophie in den Debatten der Architekturpraxis fruchtbar zu machen. Was sind heute Episoden der Architektur, an denen man eine architekturphilosophische Erkenntnistheorie entwickeln könnte? Und wie gewinnt aus ihrer Sicht überhaupt ein Stück Architektur, eine architektonische Episode historische Evidenz? Der Architekt als epistemischer Akteur Wie in der Einleitung angesprochen, bestand eine der persistentesten Fragen bei den Gesprächen in der Villa Vigoni darin, zu charakterisieren, was eine Architekturphilosophie überhaupt behandelt, und wie sie das tun kann und sollte. Nach den fünf oben aufgezählten kritischen Aspekten für eine architekturphilosophische Erkenntnistheorie geht es in diesem Schlussteil um die Frage, wie man diese Aspekte so diskutieren könnte, dass sie aus dem theoretischen Diskurs heraus praktische Relevanz entfalten. Eine architekturphilosophische Erkenntnistheorie, die architektonisch verfährt – und das heißt nach obigem Hinweis auf Kant, nach systematischer Einheit zu streben – , muss auch gestaltend in Bezug auf ihre Medienformate und Diskursstrategien sein. Vielleicht wäre es unter diesem Vorzeichen eine Möglichkeit, zu fragen, was unter heutigen Bedingungen einen Architekten als epistemischen Akteur ausmacht. Eine Strategie, auf die Selbstverständlichkeit des Bezugnehmens auf die Arbeitsweisen und die Ergebnisse der Architektur in erkenntnistheoretischen Konzeptionen zu reagieren, könnte es sein, die Richtung umzudrehen und den Architekten als epistemischen Akteur positiv zu charakterisieren und als epistemisches Modellsubjekt zu beschreiben. Welche Rolle nimmt heute der Architekt zwischen anderen Wissenschaftlern und Künst-

Jan Bovelet – Überlegungen zu Architekturphilosophie und Erkenntnistheorie

lern ein? Und in welche epistemische Beziehung setzt er sich zur Realität? Welche kulturellen Praktiken und epistemischen Strategien des Sichtbar-Machens14 bestimmen seine Erkenntnisprozesse und grenzen ihn von anderen epistemischen Akteuren ab? Wie sähe eine Erkenntnistheorie aus, die die Architektur als Modellwissenschaft nimmt? Zentral für eine solche Charakterisierung ist die Feststellung, dass Architektur keine angewandte Wissenschaft ist, ganz im Sinne Norbert Wieners, der 1969 für das Design formuliert hat: „The natural sciences are concerned with how things are. Design on the other hand, is concerned with how things ought to be.“15 Die Architektur verfolgt nur mittelbar analytische Erkenntnisziele; deshalb ist die Erkenntnisfrage in Bezug auf sie in erster Linie eine Frage nach der epistemischen Konstitution von Gestaltungspraktiken. Sicherlich sind in der Architektur immer auch analy­tische Methoden und Rechtfertigungsdiskurse involviert. Aber das erkenntnistheo­retisch relevante Spezifikum der architektonischen Erkenntnis machen Entwurfstechniken und erkennende Gestaltungsprozesse aus. Als epistemischer Akteur ist der Architekt ein Entwerfer, ein pragmatizistischer – um an Peirces Abgrenzung zum Vulgärpragmatismus anzuschließen16 – Entdecker, für den immer klar ist (oder sein sollte), dass jede analytische Kategorie von einer zweckgerichteten, kreativen Setzung abhängt. Die Verbindung von Analyse und Entwerfen in der Erkenntnis-Tat ist keineswegs auf die Architektur beschränkt, aber sie ist in der Architektur besonders sichtbar. Deshalb böte es sich für eine Architekturphilosophie an, hier anzusetzen und auf eine positive Charakterisierung des Architekten als epistemischen Akteur hinzuarbeiten. Auf diese Weise ließe sich ein theoretisches Narrativ entwickeln, an das verschiedene disziplinäre Zugänge und praktische Perspektiven anschließen und aufeinander bezogen werden können.

Standpunkte

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Karsten Harries

Die Aufgabe der Architektur in der Zeit des Weltbildes. Eine unzeitgemäße Betrachtung Einleitende Betrachtung Der Titel meines Aufsatzes bezieht sich auf Martin Heideggers Charakterisierung unserer Zeit als Die Zeit des Weltbildes.1 Bei der Wahl meines Titels dachte ich aber nicht nur an Heideggers Vortrag, sondern auch an Arbeiten der Herausgeber dieses Buches, Jörg Gleiter und Ludger Schwarte. Nun ist der Abstand, der sie und uns von Heideggers Weltbild-Aufsatz und der damaligen Situation trennt, nicht zu übersehen. Und dennoch, möchte ich meinen, lässt sich ihr Denken immer noch in den Rahmen des von Heidegger in Frage gestellten Weltbildes stellen. Aber eben diesen, unserer Zeit immer noch gemäßen Rahmen, gilt es zu sprengen. Das erklärt den auf Friedrich Nietzsches Unzeitgemäße Betrachtungen anspielenden Untertitel. Aber erst einmal zurück zu Heideggers Weltbild-Aufsatz. Liegt dieser 1938 gehaltene Vortrag auch heute ein dreiviertel Jahrhundert zurück, so scheint er mir doch immer noch eine treffende Karikatur zu bieten, die uns Wesentliches sehen lässt, allerdings auch Wesentliches außer Acht lässt. Uns stellt sich die Frage, welche Aufgabe der Architektur in der so verstandenen Zeit bleibt. Dass in der mit Heidegger verstandenen „Zeit des Weltbildes“ die Architektur ihre einstige ethische Funktion verlieren muss, wird dieser Aufsatz zeigen. Aber gerade deswegen gewinnt das Bedenken dieser Funktion eine neue Bedeutung, muss es doch die Voraussetzungen, auf denen unser Weltbild ruht, in Frage stellen. Das macht ein solches Denken unzeitgemäß: Ein Paradigmenwechsel tut Not! Unter Architektur verstehen wir die Baukunst. Nicht alles Gebaute verdient es, als solches schon ein Werk der Architektur genannt zu werden. Zwar ist jedes Werk der Architektur auch ein Gebäude, aber Architektur beansprucht mehr. Wie ist dieses mehr

Karsten Harries – Die Aufgabe der Architektur in der Zeit des Weltbildes

zu verstehen? Am Anfang seines Buches Europäische Architektur gibt Nikolaus Pevsner uns folgende scheinbar selbstverständliche Erklärung: „Ein Fahrradschuppen ist ein Gebäude; die Kathedrale in Lincoln ist ein Stück Architektur.“2 Was nach Pevsner Werke der Architektur von bloßen Gebäuden unterscheidet ist, dass sie einen ästhetischen Anspruch erheben. Wie wir in Immanuel Kants Kritik der Urteilskraft lesen, bei Werken der Architektur „ist ein gewisser Gebrauch des künstlichen Gegenstandes die Hauptsache, worauf als Bedingung die ästhetischen Ideen eingeschränkt werden.“3 So verstanden hätte die Frage: was ist „die Aufgabe der Architektur in der Zeit des Weltbildes“, das heißt in unserer heutigen Welt, eine einfache Antwort: bleibt diese Aufgabe nicht, was sie immer schon war: zweckmäßige Gebäude zu schaffen, die auch als ästhetische Objekte, als Kunstwerke überzeugen. Von einer ethischen Funktion ist hier erst einmal keine Rede. Das Architekturwerk als Decorated Shed Eine solche Antwort scheint auch Heideggers Aufsatz nahezulegen. Zwar wird Architektur in ihm nicht erwähnt. Heidegger versucht hier, die Gestalt unserer Welt zu skizzieren. Aber aus dieser Skizze lässt sich ein Architekturverständnis ableiten, das mit dem von Kant oder Pevsner übereinstimmt. Betrachten wir Heideggers fünffache Charakterisierung unserer Zeit als der „Zeit des Weltbildes“: 1. Unser Zeitalter hat seinen Grund in der Metaphysik. 2. Heute findet die Metaphysik ihren überzeugendsten Ausdruck in der Technik. Unsere Maschinentechnik kann als Vollendung der Metaphysik verstanden werden.4 Jörg Gleiter würde vielleicht hinzufügen wollen, dass das Wesen der technischen Rationalität heute im Wesen der „postindustriellen Bildproduktion und -konsumtion“ und letztlich der „totalen Medialisierung der Kultur“5 ihren für unsere heutige Zeit entscheidenden Ausdruck findet. Aber auch dies gründet im Wesen der neuzeitlichen Technik, das, so Hei­degger, mit dem Wesen der neuzeitlichen Metaphysik identisch ist. 3. Damit zusammen geht der Vorgang, dass die Kunst komplementär „in den Gesichtskreis des Ästhetischen rückt. Das bedeutet: Das Kunstwerk wird zum ästhetischen Objekt, das heißt zum auf das Subjekt bezogenen Gegenstand des Erlebens.“ 4. Damit zusammen geht ein Verstehen der Kultur als „Pflege der höchsten Güter des Menschen.“ 5. Und letztlich spricht Heidegger von „Entgötterung“. In unserem Weltbild haben Gott, Götter oder Göttliches keinen Platz. Nicht, dass es

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deshalb kein religiöses Erleben mehr gäbe. Aber solches Erleben wird, wie das ästhetische Erleben, als etwas Subjektives verstanden. Wie es sich im Laufe dieses Aufsatzes zeigen wird, finde ich Heideggers Charakterisierung unserer Zeit als die „Zeit des Weltbildes“ ungenügend. In unser aller Leben wird es hoffentlich so manches geben, das in dem von ihm entworfenen Weltbild keinen Platz findet, zum Beispiel Liebe. Was Heidegger uns bietet, ist ein zu viel vereinfachendes Denkmodell. Oder, wie ich eingangs sagte, was er uns bietet ist eine Karikatur. Aber wie jede gute Karikatur trifft sie Wesentliches und in diesem Fall zutiefst Beunruhigendes. Was beunruhigt ist, dass Heideggers Weltbild das, was allein unserem Leben einen Sinn geben kann, ausschließt. Voraussetzung solcher Beunruhigung ist, dass diese Karikatur Wesentliches trifft. Zunehmend scheint sich unsere Lebenswelt dieser Karikatur anzunähern, was es beispielsweise Gleiter erlaubte, in seiner Dissertation von der totalen Medialisierung unserer Kultur zu sprechen. Aber lassen Sie mich solche Besorgnisse erst einmal zurückstellen. Der Platz, den Heideggers Weltbild der Architektur anweisen würde, ist klar genug. Ist dies das Zeitalter der Wissenschaft und der Technik, so lässt sich erwarten, dass sich dies auch in der gebauten Umwelt spiegeln wird. Dem Fortschritt der Technik entspricht ein Wandel der Architektur, die sich zunehmend dem herrschenden zweckrationalen Denken unterwirft. Aber allein die Tatsache, dass wir an der Kunst festhalten, zeigt, dass uns ein solches Bauen und das ihm entsprechende Wohnen nicht genügt. Architektur soll auch als Kunst überzeugen. Ich erinnere an Nietzsches Spruch: „Wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zugrunde gehen.“6 Aber was heißt hier Kunst? In Die Zeit des Weltbildes gehört eine Auffassung des Kunstwerks als ästhetisches Objekt. Dem entspricht das eingangs schon angesprochene Verständnis eines Werks der Architektur als funktionales Gebäude mit einem ästhetischen Addendum, das es uns erlaubt, das Gebaute auch als ästhetisches Objekt zu erfahren, als decorated shed, als dekorierten Schuppen im weitesten Sinn, wobei Dekoration hier ganz allgemein einfach als ästhetisches Addendum zu verstehen ist. In Die Zeit des Weltbildes wird die Aufgabe der Architektur als Kunst zunehmend als ästhetisch wirksame Verpackung verstanden. Dem entspricht, was führende Architekten heute in Dubai und Schanghai, in Kuala Lumpur und New York in die Höhe steigen lassen. Und doch lässt uns eine solche Bestimmung der Aufgabe

Karsten Harries – Die Aufgabe der Architektur in der Zeit des Weltbildes

der Architektur unbefriedigt. Wir fordern mehr? Aber wie ist dieses mehr zu verstehen? Die Zeit des Weltbildes Noch einmal möchte ich zum Titel meines Aufsatzes zurückkehren: Die Aufgabe der Architektur in der Zeit des Weltbildes. Zuerst lautete der Titel von Heideggers Vortrag Die Begründung des neuzeitlichen Weltbildes durch die Metaphysik. Der ursprüngliche Titel lädt uns ein, das moderne Weltbild mit anderen, anders begründeten Weltbildern zu vergleichen. So können wir nach dem Weltbild des Mittelalters oder der Griechen fragen.7 Weltbild meint hier so etwas wie Weltanschauung. Aber der endgültige Titel behauptet anderes, behauptet, dass schon der Versuch, die Welt als Bild zu verstehen, das Wesen unseres Zeitalters bestimmt. Die Änderung des Titels verbindet diesen Versuch mit der Metaphysik. Das soll heißen: Während ein moderner Mensch das Weltbild zum Beispiel des Mittelalters zum Gegenstand seines Forschens machen kann, hätte es der Mensch des Mittelalters nicht getan. Er erfuhr seine Welt nicht als Bild? Um was geht es hier? Das Wort Bild gibt eine erste Antwort. Wir können uns Bilder ansehen, wir können vor ihnen stehen, aber wir können nicht in sie eintreten oder sie wieder verlassen, wir können nicht in ihnen wohnen. Bilder können Personen darstellen. So kann Leon Battista Alberti in Della pittura schreiben, dass Bilder uns ein Leben nach dem Tode erlauben. Aber es sind natürlich nicht wir, die im illusio­ nären Raum solcher Bilder leben. Was wir in ihnen finden, ist nur eine Darstellung, ein Simulacrum. In Bildern lässt sich nicht leben. Bilder sind nicht wie Gebäude. Sie sind wesentlich unbewohnbar. Wir fangen an, zu sehen, um was es Heidegger mit dem Titel Die Zeit des Weltbildes geht. In dem Maße, in dem wir die Welt als Bild verstehen, stehen wir vor dieser Welt, haben unseren Platz in ihr verloren. In einer solchen Welt lässt sich nicht wohnen. In einer solchen Welt ist jeder im Grunde heimatlos und kann auch nicht erwarten, dass Architektur ihm so etwas wie Heimat schenken könnte. So entspricht dem modernen Weltbild die zunehmende gnostische Grundstimmung der Unheimlichkeit. Diese Grundstimmung begleitet unsere Naturwissenschaft und Technik, auch die Medialisierung unserer Kultur, wie ein Schatten. Voraussetzung ist eine Selbsterhebung, die den Menschen in ein denkendes, betrachtendes Subjekt verwandelt und ihn von seinem

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Körper Abstand nehmen lässt. Meister Eckhart berief sich auf eine solche Selbsterhebung, als er in einer Predigt sagte, Jerusalem, ja ein Ort tausend Meilen hinter Jerusalem, sei seiner Seele so nahe, wie der Ort an dem er jetzt säße. Er wäre sich dessen so sicher, wie er sich seines Menschseins sicher wäre.8 Von unserem Menschsein ist die Möglichkeit einer solchen Selbsterhebung in der Tat nicht zu trennen. Sie gründet in unserer Freiheit und ist Voraussetzung aller Philosophie, Naturwissenschaft und Technik. Ihr entspricht eine immer noch zunehmende Ent-fernung der Ferne, wie sie uns täglich zahllose Bildschirme vor Augen führen. Nähe und Ferne verlieren heute zunehmend an Gewicht. Aber damit trägt unsere Technik nur in unsere Lebenswelt, was von der Objektivitätsforderung, die Voraussetzung unserer Wissenschaft und Technik ist, nicht zu trennen ist. Einem Wissenschaftler, der sich gerade mit Israel beschäftigt, ist Jerusalem geistig so nahe wie der Ort, an dem er sich eben befindet. Die Selbsterhebung des wesentlich an einen Körper gebundenen Selbsts in ein denkendes Subjekt gehört zum Ursprung der Philosophie und das heißt auch der Naturwissenschaft. Der Wissenschaftler will was ist verstehen, wie es eben ist. Um solcher Objektivität willen klammert er sich selbst aus – und seinen Platz in der Welt. Solches Verlangen zu sehen und zu verstehen, ließ schon Thales in seinen Brunnen stürzen. Weltabwesenheit gehört zum Ursprung von Philosophie und Wissenschaft. Sie ist nur die Kehrseite jener vorurteilslosen Objektivität, die wir von allen fordern, die Anspruch auf Wahrheit erheben. Aber eine cartesische res cogitans hat kein Haus, keine Platz-anweisende Architektur nötig. Und Menschen, die sich zunehmend als solch denkende Subjekte verstehen, die sich zwar auch in einem bestimmten Körper, an einem bestimmten Ort, zu einer bestimmten Zeit befinden, werden solche zufälligen Umstände nicht ihre Freiheit umschreiben lassen, sondern werden in solchen Umständen nur Material für den Aufbau eines erfolgreichen Lebens sehen. Solche Menschen brauchen natürlich auch Obdach und Gebäude, die ihren Ansprüchen entsprechen, aber sie werden kaum erwarten, dass diese auch ihrem Geist Obdach gewähren und werden jedem Sprechen von einer ethischen Funktion der Architektur kritisch gegenüber stehen. Mit einem genius loci, einer Architektur, die den Menschen an bestimmte Orte bindet, werden sie wenig anfangen können.

Karsten Harries – Die Aufgabe der Architektur in der Zeit des Weltbildes

Die Welt als Bild Aber lassen Sie mich zu dem Wort Bild zurückkehren. Wir denken dabei zuerst einmal an eine Abbildung. Bilder beziehen sich auf das, was sie darstellen. Das unterscheidet sie von Gebäuden. Gewöhnlich stellen Gebäude nichts dar. Natürlich gibt es viele Ausnahmen. Aber wesentlich ist anderes: Wir arbeiten und wohnen in ihnen. Wie anders wären die Erwartungen, die Hei­deggers Essay in uns erwecken würde, hätte er ihm den Titel Die Zeit des Weltgebäudes gegeben. Die Welt im Bilde eines Gebäudes, vielleicht eines Hauses verstehen, lässt uns an Gott als den Architekten denken, der dieses Haus schuf, so dass wir es genießen und in ihm wohnen möchten. Denken wir an den Kosmos in Platons Timaios. Oder an den Kosmos des Mittelalters, eine göttliche Architektur, die den Menschen ihren Platz nahe der Mitte anweist. Hier wird die Welt als ein wohl geordnetes, hausähnliches Ganzes gedacht, in dem alles den ihm gebührenden Platz hat. Aufgabe des Architekten wäre dann, so gut wie er es eben vermöchte, diesem göttlichen Vorbild mit seinem Bauen zu entsprechen. So würde er seinen Mitmenschen helfen, den ihnen gemäßen Ort in dieser Welt zu finden. Hier hat Architektur wesentlich eine ethische Funktion. Das Werk eines solchen Architekten wäre aber kein Bild. Nicht jede Abbildung ist ein Bild im heideggerschen Sinn. Ein Bühnenbild ist streng genommen kein Bild. Hätte Hei­degger seinen Essay eben so gut Die Zeit des Welttheaters nennen können? Mich würde ein solcher Titel einen Artikel über die Welt des Barock erwarten lassen. Das Barock fand im Theater eine Metapher, die seiner Auffassung dieser Welt, in die wir hineingeboren werden, in der wir die uns aufgegebene Rolle zu spielen haben, uns abmühen und zum Schluss sterben müssen, entsprach. Hierbei dürfen wir nicht vergessen, dass, wie das Wort Traum, das Wort Theater einen Kontrast fordert. Das Wort Traum wird sinnlos, wenn alles ein Traum genannt wird. Darum können wir auch das cartesische Gedankenexperiment nicht zu Ende denken, das alles zum Traum werden lässt. Und Gleiches gilt für das Wort Theater. Wir können nicht sagen, alles ist nur Theater, ohne den Sinn des Wortes zu verlieren. Und so können wir heute auch nicht sagen, alles wäre nur Bild, oder mit Jean Baudrillard, alles wäre heute nur Simulacrum, oder mit Jörg Gleiter von der „totalen Medialisierung der Kultur“9 sprechen. In all diesen Fällen muss, wie Gleiter wohl weiß, der Kontrast mit dem, was als Wirklichkeit verstanden wird, erhalten bleiben. Voraussetzung des barocken Welttheaters war so

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der Glaube an eine andere Welt, die wahre Wirklichkeit, zu der nur der Tod uns Zugang geben wird. Wenn wir von der barocken Theatermetapher sprechen, sollten wir nicht vergessen, dass das barocke Theater Produkt einer Entwicklung war, die auch unser Theater heute immer noch wesentlich bestimmt. Vereinfacht gesagt: das barocke Theater kam zunehmend unter die Hegemonie des Bildes. Aber Hegemonie des Bildes sagt zu wenig: Bild meint hier das der Regel der Perspektive unterworfene Bild. Albertis Della pittura half, die Vorherrschaft des so verstandenen Bildes zu etablieren, indem er zeigte, wie es mittels einer einfachen mathematischen Darstellungsform möglich ist, was sich unseren Augen zeigt, täuschend ähnlich darzustellen, vorausgesetzt die Fiktion eines an einen bestimmten Zeit- und Standpunkt gebundenen Auges. Was ein solches Bild darstellt, sind nicht die Dinge selbst, sondern immer schon per­spektivisch gesehene, momentane, in den Bildrahmen gezwungene Erscheinungen. Dem im Bild Dargestellten gibt das vorausgesetzte Rahmenwerk sein Maß. Wir dürfen die Künstlichkeit solcher Darstellung nicht außer Acht lassen, dürfen nicht übersehen, wie die gewählte Darstellungsform unserem alltäglichen Sehen Gewalt antut. Um die Geometrie in den Dienst seiner leicht anwendbaren Konstruktion stellen zu können, setzt Alberti nicht nur ein einziges, fest stehendes Auge, sondern auch eine flache Erde voraus. Unter diesen Voraussetzungen lässt sich die Korrektheit seiner Perspektivkonstruktion beweisen. Was hier wichtig ist, ist, dass die albertische Perspektive, um die getreue Wiedergabe des sich unseren Augen Zeigenden zu gewährleisten, das Bild einem mensch­lichen Maß unterwirft, das wiederum der Forderung einer möglichst leicht anzuwendenden Darstellungsform zu entsprechen hat. Ziel ist es, den im Bild kunstvoll erzeugten Schein der Wirklichkeit so täuschend ähnlich zu gestalten, dass sie uns den virtuellen Bildraum als wirklich verstehen und somit seine Unwirklichkeit vergessen lässt. So verstanden eröffnet die Kunst der Perspektive der Freiheit ungeahnte neue Räume; aber den Freiheitsgewinn begleitet ein Wirklichkeitsverlust, ein Geschehen, das sich heute in verwandelter Form, medienbedingt, mit noch nicht abzusehenden Folgen, in unserer Lebenswelt beängstigend wiederholt. Die Kunst lässt hier Simulacra an die Stelle der Wirklichkeit treten. Als ein zweiter Gott, wie Alberti ihn nennt, ersetzt der Künstler Gottes Schöpfung mit der eigenen. Mit dieser Auffas-

Karsten Harries – Die Aufgabe der Architektur in der Zeit des Weltbildes

sung überschreitet Alberti die Schwelle, die unsere anthropozentrische moderne Welt von der theozentrischen Welt des Mittelalters trennt. Das der Perspektive unterworfene Bild gibt uns einen Schlüssel zu diesem Geschehen. Dass Alberti wohl wusste, dass er die Schwelle, die seine und im Wesentlichen immer noch unsere Welt von der des Mittelalters trennt, überschritten hatte, zeigt sein Angriff auf den Gebrauch von Gold im Bild. Die metapho­ rische Bedeutung des Goldgrundes, der die Kunst des Mittelalters entscheidend bestimmen sollte, gilt es hier zu bedenken. Nur das Glasfenster hat eine ähnliche Bedeutung. Vielleicht können wir von kritischen Metaphern sprechen, kritisch weil sie uns einen Einblick in das Wesen der Kunst des Mittelalters gewähren. Der Goldgrund lädt uns ein, Darstellungen mundaner Ereignisse ins Zeitlose zu übersetzen, durch sie sozusagen hindurchzusehen, um ihre geistige Bedeutung zu erfassen. Sie gehorchen, so Friedrich Ohly, einer “geistigen Perspektive.“10 Auch Albertis Perspektive lädt uns ein, durch das Bild hindurch zu sehen, als gäbe es kein materielles Ding, das zwischen uns und dem im Bild Dargestellten stünde. Aber dies ist nun eine durch und durch menschliche Perspektive, die ihr Maß im Auge des Betrachters besitzt. Was wir sehen, ist eine auf uns bezogene Erscheinung, ist Simulacrum, Schein. So kann man sagen: In unserer Welt öffnet die so verstandene Kunst so etwas wie ein Fenster, aber ein Fenster nicht zu einer uns übersteigenden Wirklichkeit, sondern zu einer Scheinwelt, zu Fiktionen, die uns für das Ersatz bieten, was uns die Wirklichkeit versagt. Alberti und Descartes Albertis Della pittura kann uns helfen,

die Schwelle unseres modernen Wirklichkeitsverständnisses zu verstehen. Schon hier zeichnen sich die Konturen dessen ab, was Heidegger Die Zeit des Weltbildes nennen sollte. Heidegger allerdings dachte nicht an Alberti. Er wird in seinem Vortrag nicht erwähnt. Als der dieses Weltbild einleitende Denker wird Descartes genannt. Aber die perspectiva artficialis der Renaissance lässt sich als eine erste Vorwegnahme der Methode Descartes’ verstehen und bedingt einen analogen Wirklichkeitsverlust. Betrachten wir noch einmal die perspektivische Methode, die Alberti dem Maler an die Hand gibt, mit dem Versprechen, ihn zum Herren der Erscheinungen zu machen. Diese Methode der richtigen Naturdarstellung unterwirft, was sie uns vorstellt, einem menschlichen Maß, das wiederum dem Gebot einer möglichst verständlichen und

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deshalb leicht zu handhabenden Darstellungsform unterworfen wird. Dieses Gebot bedingt die Hinwendung zur Mathematik. Ganz ähnlich unterwirft Descartes’ „Methode des richtigen Vernunftgebrauchs“, mit dem Versprechen, uns zu „Herren und Eigentümern“ der Natur zu machen, die Natur einem menschlichen Maß, das dem Gebot der klar und deutlichen, unserer Vernunft gemäßen Darstellung entspricht. Wie das Bild Albertis ein Auge voraussetzt, das von diesem Bild Abstand hält, das also wesentlich aus diesem Bild herausfällt, so setzt das cartesische Weltbild ein Ich voraus, für das es in diesem Bild keinen Platz geben kann, das also wesentlich aus ihm herausfällt. In einer Natur, deren Wesen Descartes als res extensa bestimmt, lässt sich eine res cogitans nicht finden. In der so verstandenen Natur lässt sich ein denkendes und freies, das heißt verantwortlich handelndes Subjekt nicht finden. Und dabei ist es geblieben: Von einem denkenden Subjekt, einer res cogitans, kann unsere Naturwissenschaft prinzipiell nichts wissen. Sie kennt keine wesentlich Achtung gebietenden Personen oder eine Achtung gebietende Natur. Im wissenschaftlichen Weltbild haben sie keinen Platz. Wie Wittgenstein in seinem Tractatus von diesem Subjekt sagt: „5.631 Das denkende vorstellende Subjekt gibt es nicht. Wenn ich ein Buch schriebe ‚Die Welt wie ich sie vorfand‘, so wäre darin auch über meinen Leib zu berichten und zu sagen, welche Glieder meinem Willen unterstehen und welche nicht, etc., dies ist nämlich eine Methode, das Subjekt zu isolieren oder vielmehr zu zeigen, dass es in einem wichtigen Sinne kein Subjekt gibt: Von ihm allein nämlich könnte in diesem Buche nicht die Rede sein. 5.632 Das Subjekt gehört nicht zur Welt, sondern es ist eine Grenze der Welt.“11 Dass auch Wittgenstein vom Weltbild spricht (2.19), kann nicht überraschen. Aus diesem Weltbild ist das Subjekt herausgefallen. Was mir hier wichtig ist, ist weder Alberti noch Descartes, weder Heidegger noch Wittgenstein, sondern ein Weltbild in dem die Freiheit und das heißt der Mensch keinen Platz hat. Und dieses Weltbild bleibt Voraussetzung unserer Naturwissenschaft, ihrer Forderung nach einer objektiven Darstellung der Welt. Nun lässt sich leicht einwenden, dass dieses Weltbild nicht mit unserer Lebenswelt verwechselt werden darf. Aber die Richtigkeit dieses Einwandes sollte uns nicht vergessen lassen, wie die Technik unsere Lebenswelt und auch unser Bauen immer entschiedener

Karsten Harries – Die Aufgabe der Architektur in der Zeit des Weltbildes

verwandelt. Und eben in dem Maße verwandelt sie auch uns, lässt uns einerseits zunehmend als res extensa, als ein Ding verstehen, das wie alle Dinge ihren Platz in dem von der Naturwissenschaft entworfenen Weltbild besitzt, andererseits aber als res cogitans, als ein Subjekt, dem der Fortschritt von Naturwissenschaft und Technik ungeheure Freiheitsmöglichkeiten eröffnet hat, das aber in der Welt nichts findet, was ein solches Subjekt Heimat nennen könnte. Wir sind immer beweglicher geworden, aber auch wurzelloser, gespenstiger. Was für eine Architektur braucht ein solches Existieren? Damit kehre ich zum Titel meines Vortrags zurück: Die Aufgabe der Architektur in der Zeit des Weltbildes. Weltbild und Weltgebäude Ich nannte Alberti als einen Begründer unseres modernen Weltbildes, wies darauf hin, dass seine Methode der perspektivischen Darstellung die Methode Descartes’ vorwegnimmt. Aber dabei dürfen wir entscheidende Unterschiede nicht übersehen. Das Bild Albertis ist ein Kunstwerk. Es soll eine Erscheinung so vor Augen bringen, dass sie uns vergessen lässt, dass, was wir sehen, nicht Wirklichkeit, sondern nur ihr Simulacrum ist. Und es soll diese Erscheinung so gestalten, dass wir sie als ein in sich vollendetes Ganzes erfahren. So bietet das Kunstwerk unschuldiges Vergnügen, das uns von den Sorgen unseres alltäglichen Lebens Abstand nehmen lässt. Schon in Albertis Della pittura fängt solche Selbstgenügsamkeit an, sich abzuzeichnen, auf der die Ästhetik später bestehen sollte. So verstanden kehrt die Kunst der Wirklichkeit und der Wahrheit den Rücken. Ganz anders Heideggers Weltbild: dessen Ziel ist eine Darstellung der Welt, die alles umfasst, was verdient, wirklich genannt zu werden. So lädt es uns ein, das wissenschaftliche Weltbild mit der Welt zu verwechseln. In der Sprache von Wittgensteins Tractatus: dieses Weltbild versucht, die Welt so darzustellen, wie sie wirklich ist, wobei die Welt als „alles, was der Fall ist“ (1) oder als „Gesamtheit der Tatsachen“ (1.1) verstanden wird. Und es ist nicht die Kunst, sondern die Wissenschaft, die uns ein der Forderung unserer Vernunft entsprechendes und der Wirklichkeit genügendes Bild der Tatsachen gibt. Newton dient Wittgenstein als Beispiel: „6.341 Die Newtonsche Mechanik, z. B. bringt die Weltbeschreibung auf eine einheitliche Form. Denken wir uns eine weiße Fläche, auf der unregelmäßige schwarze Flecken wären. Wir sagen uns nun: Was für ein Bild immer hierdurch entsteht, immer kann ich seiner Beschreibung

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beliebig nahe kommen, indem ich die Fläche mit einem entsprechend feinen quadratischen Netzwerk bedecke und von jedem Quadrat sage, daß es weiß oder schwarz ist. Ich werde auf diese Weise die Beschreibung auf eine einheitliche Form gebracht haben. Diese Form ist beliebig, denn ich hätte mit dem gleichen Erfolge ein Netz aus dreieckigen oder sechseckigen Maschen verwenden können. Es kann sein, daß die Beschreibung mit Hilfe eines Dreiecks-Netzes einfacher geworden wäre. Das heißt, daß wir die Fläche mit einem gröberen Dreiecks-Netz genauer beschreiben könnten als mit einem feineren quadratischen (oder umgekehrt) usw. Den verschiedenen Netzen entsprechen verschiedene Systeme der Weltbeschreibung. Die Mechanik bestimmt eine Art der Weltbeschreibung, indem sie sagt: Alle Sätze der Weltbeschreibung müssen aus einer Anzahl gegebener Sätze – den mecha­nischen Axiomen – auf eine gegebene Art und Weise erhalten werden. Hierdurch liefert sie die Bausteine zum Bau des wissenschaftlichen Gebäudes und sagt: Welches Gebäude immer du aufführen willst, jedes musst du irgendwie mit diesen und nur diesen Bausteinen zusammenbringen.“ Am Anfang dieser Bestimmung des Wesens der Wissenschaft steht wieder die Metapher eines Bildes. Die Wirklichkeit wird mit schwarzen Flecken auf einer weißen Seite verglichen. Die Wissenschaft überdeckt diese mit einem Netz, füllt dann das Netz entsprechend aus und kommt so zu einer Darstellung des ursprünglichen Bildes. Dabei sollten wir nicht übersehen, was hier der wissenschaftlichen Darstellung geopfert wird: das Unregelmäßige der schwarzen Flecken, die für die darzustellende Wirklichkeit stehen. So verstanden muss die Wissenschaft das Wesen der Wirklichkeit verdecken, indem sie die Wirklichkeit mit ihrer Darstellung ersetzt. So hätte ein Descartes sagen können, was immer in der Natur es verdient wirklich genannt zu werden, lässt sich klar und deutlich denken. Unsere Fähigkeit, die Dinge klar und deutlich zu denken, wird hier zum Maß der Wirklichkeit. Und so verwischt auch Wittgenstein in seinem Tractatus den wesentlichen Unterschied zwischen der Wirklichkeit und ihrer wissenschaftlichen Darstellung, auf den sein Bild unsere Aufmerksamkeit lenkt, wenn er die Welt mit den „Tatsachen im logischen Raum“ identifiziert (1.13), so die Wirklichkeit der Logik unterwerfend, statt sich mit der bescheideneren Formulierung zu begnügen: Das wissenschaftliche Weltbild ist eine Vorstellung der Tatsachen im logischen Raum (2.1,

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2.11) oder „ein Modell der Wirklichkeit“ (2.12). Es ist dieses Überspringen der Wirklichkeit, das auch Heideggers „Zeit des Weltbildes“ kennzeichnet: „Bei dem Wort Bild denkt man zunächst an das Abbild von etwas. Demnach wäre das Weltbild gleichsam ein Gemälde vom Seienden im Ganzen. Doch Weltbild besagt mehr. Wir meinen damit die Welt selbst, sie, das Seiende im Ganzen, wie es für uns maßgebend und verbindlich ist.“12 Zur so verstandenen Welt gehören auch wir, nennt Welt hier doch das Seiende im Ganzen. So verwandelt sich das Weltbild in ein Gebäude. Ein Gebäude allerdings, das kein Außen kennt, ein Gebäude ohne Fenster und Türen. Ein Gefängnis vielleicht? So kann es kaum überraschen, dass Wittgenstein die Metapher eines Bildes an den Anfang seiner Beschreibung der newtonschen Mechanik stellt, nur um, ganz im Geiste Descartes’, mit einer architektonischen Metapher zu schließen, indem er den Wissenschaftler mit einem Architekten vergleicht. Diesem Wandel entspricht der Wandel in Heideggers Denken von der Bestimmung unserer Zeit als „Zeit des Weltbildes“ zu ihrer späteren Bestimmung als Zeit des Gestells, auch dies eine quasi-architektonische Metapher. Wittgensteins Wissenschaftler ist ein Architekt, dessen Bausteine Gedanken oder Sätze sind. Demgemäß ist seine Architektur wesentlich unsichtbar. Und so ist die Wirklichkeit unserer Naturwissenschaft. Dass eine solche Objektivierung der Wirklichkeit die Wirklichkeit unser Lebenswelt zurücklässt, bedarf kaum vieler Worte. Zunächst und zumeist ist unserer Zugang zur Wirklichkeit immer schon an bestimmte Perspektiven gebunden, vermittelt durch unseren Körper, gefärbt von unseren Sorgen und Interessen. Aber sobald wir eine Perspektive als eine solche erkennen, haben wir, wenigstens in Gedanken, die damit verbundenen Grenzen überschritten. Solche Überlegungen führen unumgänglich zur Idee eines Subjekts, das, frei von allen Perspektiven, die Dinge so sieht wie sie wirklich sind. Diese Idee muss zu einem Wirklichkeitsverständnis führen, das die Wirklichkeit, die sich unseren Augen oder allgemeiner unseren Sinnen eröffnet, nur als Erscheinung einer Wirklichkeit versteht, die kein Auge je sehen, kein Sinn je erfahren kann, die allein unsere Vernunft mit ihren Gedankenarchitekturen rekonstruieren kann. Diese werden nun zu unserer Wirklichkeit. Heideggers Weltbild muss sich, so sagte ich, in so etwas wie ein Weltgebäude verwandeln. Das soll aber nicht heißen, dass

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dieses Gebäude dem mittelalterlichen Kosmos ähnlich sieht. Dieses Gebäude oder Gestell bietet uns kein Zuhause. Dass dies so sein muss, hat seinen tiefsten Grund in dem Anspruch auf Wahrheit, den wissenschaftliches Denken erheben muss. Wahrheit fordert Objektivität. Und Objektivität wiederum fordert, dass wir es unseren unumgänglich persönlichen Interessen nicht erlauben, unser Verstehen der Tatsachen zu färben. So hatte Wittgenstein guten Gund, zu schreiben: „In der Welt ist alles wie es ist und geschieht alles wie es geschieht: es gibt in ihr keinen Wert – und wenn es ihn gäbe so hätte er keinen Wert“ (6.41). In der so verstandenen Welt kann es nichts geben, das es verdiente, ein Wert genannt zu werden. Um so etwas wie Werte zu finden, müssen wir aus dieser Welt heraustreten. Ich wies darauf hin, dass Heidegger als Grund unserer „Zeit des Weltbildes“ die Metaphysik nennt. Die Metaphysik sucht, das Sein alles Seienden zu begreifen. Aber was gleich verfliegt oder uns durch die Hände rinnt, lässt sich nicht greifen oder begreifen. So denkt die Metaphysik das Sein gegen die Zeit. Und wir können auch nicht begreifen, was wir nicht in einfache Elemente zerlegen und dann durch eine Zusammenstellung dieser Elemente darstellen können. Wirklich verstehen, in diesem Sinne, tun wir eigentlich nur, was wir wenigstens in Gedanken herstellen können. Und so verspricht uns Descartes „statt jener spekulativen Philosophie, die in den Schulen gelehrt wird, eine praktische […] die uns die Kraft und Wirkungsweise des Feuers, des Wassers, der Luft, der Sterne, der Himmelsmaterie und aller anderen Körper, die uns umgeben, ebenso genau kennen lehrt, wie wir die verschiedenen Techniken unsere Handwerker kennen, so dass wir wie sie auf ebendieselbe Weise zu allen Zwecken, für die sie geeignet sind, verwenden und uns so zu Herren und Eigentümern der Natur machen könnten.“13 Wir verstehen, was wir produzieren können. Kein Wunder, dass Heidegger die Metaphysik sich in der Technik vollenden lässt. Und diese Vollendung muss jene Selbsterhebung, die Voraussetzung der Metaphysik ist und den damit verbundenen Freiheitsgewinn, aber auch Wertverlust zurück in unsere Lebenswelt tragen. Wittgenstein und Heidegger wussten beide, dass das so verstandene Weltbild dem, was allein unserem Leben einen Sinn geben kann, keinen Platz gibt. Das müssen wir, wie Wittgenstein sagt, außerhalb der Welt suchen, außerhalb „allen Geschehens und So-seins […]. Denn alles Geschehen und So-sein ist zufällig.“ (6.41).

Karsten Harries – Die Aufgabe der Architektur in der Zeit des Weltbildes

Aber verspricht die Kunst uns nicht Werke, in denen nichts zufällig scheint? Der schöne Schein bietet Ersatz für die Sinnlosigkeit der Welt. Ich erinnere an Nietzsches Spruch: „Die Wahrheit ist häßlich: wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zu Grund gehen.“14 So lässt sich die „Zeit des Weltbildes“ auch als the age of the decorated shed verstehen, als die Zeit ästhetisch verkleideter Zweckbauten. Noch überzeugender als die moderne, ist die postmoderne Architektur Ausdruck der „Zeit des Weltbildes“. Ist uns Kultur mehr als ein geborgtes Ornament, mit dem wir eine im Grunde sinnlose Wirklichkeit verkleiden? Und wie steht es mit unserer Medienkultur? Den Rahmen des von Heidegger in Frage gestellten Weltbildes gilt es zu sprengen, sagte ich am Anfang dieses Vortrags. Warum tut dies Not? Weil der Mensch aus diesem Bild herausfallen muss. Prinzipiell lässt sich, was sich vom Menschen in diesem Weltbild finden lässt, von einem Roboter mit einem Computergehirn nicht mehr unterscheiden. Ein solches Objekt erfahren wir nicht als Achtung gebietende Person. Aber ohne solche Erfahrungen verliert jede Ethik ihren Boden. Ein Paradigmenwechsel tut Not. Aber vielleicht ist Paradigma hier nicht das richtige Wort, lässt es uns heute doch erst einmal an Thomas Kuhn denken, der in The Structure of Scientific Revolutions unter einem Paradigma eine umstürzende wissenschaftliche Leistung verstand, die für eine gewisse Zeit vorbildlich bleibt und wissenschaftlicher Arbeit die Richtung weist. So verstanden bleibt ein solcher Paradigmenwechsel dem Rahmen wissenschaftlicher Arbeit verpflichtet. Das heißt: So verstanden haben Paradigmen ihren Platz im modernen Weltbild und lassen dieses unangetastet. Was Not tut, ist ein anderes, aus diesem Weltbild ausbrechendes Denken. „Der architektonische Raum im Zeitalter seiner Virtuali­sie­rung“

Und damit komme ich auf meine eingangs gemachte Bemerkung zurück, dass ich bei der Wahl des Titels meines Vortrags nicht nur an Heidegger, sondern auch an die Organisatoren dieses Symposiums dachte. Beide, so behauptete ich, blieben mit ihrem Denken im Rahmen des heideggerschen Weltbildes, stellten dieses grundsätzlich nicht in Frage. Dass Jörg Gleiter Mario Carpos Alphabet und Algorithmus: Wie das Digitale die Architektur herausfordert mit übersetzt und herausgegeben hat, gibt einen Fingerzeig.15 „Wie das Digitale die

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Architektur herausfordert“ ist ein Problem, das Gleiter immer wieder beschäftigt. Und man braucht nur daran zu denken, wie in nur sehr wenigen Jahren der Computer Lehre und Praxis der Architektur verwandelt hat, um die Herausforderung des Digitalen zugeben zu müssen. Die Frage ist nur, wie ihr zu entsprechen, oder vielmehr, wie ihr zu begegnen ist. Für Gleiter leben wir im Zeitalter des digitalen Paradigmenwechsels. Medialisierung, Postmoderne und Dekonstruktivismus stehen im Mittelpunkt seines Interesses. Schon seine Dissertation (2002) zeigte die Richtung an, in der sich sein Denken bewegen sollte: „Zwischen Loos und Eisenman spannt sich also jener Bogen der Dynamisierung der architekto­nischen Praxis, der sich als Übergang von der traditionellen Objektfixierung zum Verfahrenscharakter und vom Dualismus-Prinzip zum Wiederholungsprinzip beschreiben lässt und letztlich vom Übergang von der modernistischen Objektproduktion zur postindustriellen Bildproduktion und -konsumtion und letztlich zur totalen Medialisierung der Kultur heute bestimmt ist. Alles andere wäre seelenlose Wissenschaft und ohne Relevanz für das Leben.“16 Das ist vielleicht etwas übertrieben gesagt, aber trifft Wesentliches. Immer wieder ringt Gleiter mit dem, was der Titel einer seiner Veröffentlichungen „Die Rekonzeptualisierung des architektonischen Raumes im Zeitalter seiner Virtualisierung“17 (2004) nennt, ringt um – ein weiterer Titel – eine neue [digitale] Werkgesinnung.18 Nun bin ich in einer anderen Welt groß geworden und kann nur neidvoll sehen, wie sehr meine Studenten und jüngeren Kollegen sich in dieser medialen Welt zuhause fühlen und mit ihr umgehen. Dass die Virtualisierung des Raumes immer entschiedener wird und auf vielfältige Art auch unsere Lebenswelt verwandelt, ist nicht zu leugnen. Denken wir nur an die vielen Stunden, die Menschen heute vor Fernseher oder Computer sitzen. Dass die Gesundheit darunter leidet, steht außer Frage. Bedenklicher aber sind die Folgen für die geistige Gesundheit. Mich interessiert hier besonders, wie Nähe und Ferne viel von ihrer einstigen Bedeutung und Aura verloren haben, wobei zu fragen wäre, ob die zunehmende Entfernung der Ferne nicht mit einem Verlust von Intimität einhergeht. Vor vielen Jahren, das heißt 1979, warb die amerikanische Telefongesellschaft AT&T mit dem bald berühmten Spruch “Reach Out and Touch Someone“. Aber kein Liebender wird sich mit einem solchen Berühren zufrieden geben. Und dass wir heute, zum Beispiel mit Skype, der Geliebten ganz anders auf unserem

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Computerschirm nahe sein können, hilft wenig. Der virtualisierte Raum ist ein Raum, der dem ganzen Menschen keinen Platz gibt. In diesem Raum können sich Menschen nicht wirklich begegnen. Was von Heideggers Weltbild gilt, gilt auch vom virtualisierten Raum: es droht der Verlust von dem, was letztlich allein unserem Leben einen Sinn geben kann. Für Gleiter „läuft die aktuelle Problematik des gebauten Raumes notwendigerweise und alternativlos auf einen Punkt hinaus: Auf die Frage nach der Architektur als symbolischer Form im Zeitalter des digitalen Paradigmenwechsels. Im Zentrum steht hierbei, ganz im Sinne von Ernst Cassirer, die Architektur als intersubjektiv gültige Form lebensweltlicher Vermittlung der herrschenden technischen Rationalität.“19 Aber wie haben wir diese Herrschaft zu verstehen? Und wie haben wir uns ihre Vermittlung zu denken? Lässt sich „die aktuelle Problematik des gebauten Raumes“ wirklich so, wie Gleiter hier meint, „notwendigerweise und alternativlos“ bestimmen oder verstehen? Mich will eine solche Bestimmung nicht so recht überzeugen. Meiner Ansicht nach wird sie den Anforderungen unseres heutigen und auch zukünftigen Wohnens und das heißt auch Bauens nicht gerecht. Auch Gleiter arbeitet hier mit einer Karikatur, die, wie schon gesagt, Wesentliches trifft und uns manche Entwicklungen besser verstehen lässt – das macht seinen Beitrag zur Architekturdiskussion bedeutsam – aber sie übersieht auch Wesentliches. Ich sehe diese Entwicklung mit kritischerem Blick. Dass wir der immer noch wachsenden Bedeutung der digitalen Technologien gerecht werden müssen, steht außer Frage. Aber das heißt auch: wir dürfen diese Bedeutung nicht überschätzen. Immer noch bleibt der Mensch an seinen Körper gebunden. Daran werden auch digitale Technologien nichts ändern, haben sie uns auch eine ungeahnte Beweglichkeit eröffnet, deren Folgen noch nicht absehbar sind. Aber nicht nur das Verlangen als ganzer Mensch ganzen Menschen zu begegnen, auch die immer gravierender an uns herantretenden Umweltprobleme werden unsere Körper- und Erdgebundenheit zunehmend unterstreichen. Sie fordern ein das Versprechen der digitalen Revolution in Frage stellendes Raumverstehen. Hat die digitale Revolution unseren geistigen Raum ungeheuer erweitert, so wird unsere Umwelt uns zwingen, ob wir es wollen oder nicht, mit dem Raum sparsamer umzugehen. Nun vermag es vielleicht die ungeheure Erweiterung des virtuellen Raums zu erreichen, dass

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wir uns mit der uns von der Natur aufgezwungenen Raumsparsamkeit leichter abfinden. Aufgabe der Architektur ist es heute, diesem in ganz entgegengesetzte Richtungen weisenden Raumverstehen zu entsprechen. In diesem Zusammenhang fand ich, was Gleiter über die Architektur des Japaners Jun Aoki zu sagen hatte, von besonderem Interesse. Einerseits dient sie ihm als Beispiel lebensweltlicher Vermittlung der heute herrschenden digitalen Rationalität. Aber in dieser Architektur kommt es nach Gleiter zu einem bedenkenswerten Umschlagen: „mit der Ephemerität und Momentanität der Erscheinung von Aokis Architektur stellt sich die Frage, ob für die Architektur heute nicht wieder ein auratisches Moment veranschlagt werden müsste, wo doch die singuläre und individuelle Erfahrung eines der entscheidenden Kriterien der Begegnung mit ihr ist.“20 Die Bewahrung dieses auratischen Moments scheint mir in der Tat von entscheidender Bedeutung. Aber, wie Walter Benjamin wohl wusste, lässt technische Rationalität und das heißt auch die digitale Revolution, solcher Erfahrung des Singulären und Individuellen wenig Raum. Ist eine solche Erfahrung ein entscheidendes Kriterium der Begegnung mit Architektur, muss sie uns auch die Bedeutung der digitalen Revolution fragwürdig werden lassen. Fragwürdig heißt hier nicht, das Befreiende dieser Revolution zu bestreiten. Aber Freiheit wird zur Willkür ohne Bindung. Und was bindet, gründet letzten Endes immer im Erleben des Anspruchs der Aura des Singulären und Individuellen. Und so fordern Jean Baudrillard und Jean Nouvel in ihrem Gespräch eine Architektur, die sich gegen eine Ästhetik stellt, die sich mit der „totalen Lesbarkeit“21 von allem abfindet und den Tod einer Kunst bedeutet, die es vermöchte, uns Singuläres erfahren zu lassen. „Ein Kunstwerk ist eine Singularität, und all diese Singularitäten öffnen ‚Löcher, Risse, Lücken, usw., in der metastatischen Fülle der Kultur.‘“22 Und jeder Mensch, dem wir als Menschen begegnen, ist eine solche Singularität. Wir würden in unserer heutigen Welt heimatlos, sollten wir die Technik nicht in unsere Lebenswelt hineinlassen. Aber, wie Heidegger immer wieder predigte, wir müssen auch lernen von der Technik, und das heißt heute besonders von den digitalen Medien Abstand zu halten, in unserem Wohnen und in unserem Bauen.

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Raum und Freiheit Die die „Zeit des Weltbildes“ gestaltende technische Rationalität ist wesentlich zweideutig: Einerseits eröffnet sie bisher ungeahnte Freiheitsmöglichkeiten, indem sie das diese Welt als Bild betrachtende Subjekt vor diese Welt stellt und so den uns von dieser Welt, von Natur und Gesellschaft angewiesenen Platz als unsere Freiheit nicht wesentlich bindend erfahren lässt. Die Möglichkeit, mit Hilfe von Chirurgie und Psychoanalyse eine andere Person zu werden, hat uns die französische Künstlerin Saint Orlan vorexerziert. Ist nicht auch der eigene Körper uns heute Material, natürliche, aber auch unnatürliche Verlangen zu befriedigen? Andererseits bleibt der Mensch aber doch Teil der Welt und als solcher von der Technik manipulierbares Material. So begleitet den Freiheitsgewinn, den uns die Technik und heute besonders die zunehmende Medialisierung unserer Kultur gebracht hat, zugleich ein immer bedrohlicherer Freiheitsverlust. Ludger Schwartes Denken kreist um den öffentlichen Raum verstanden als Raum der Freiheit. Aber wie ist Freiheit hier zu verstehen? Negativ, mit Jean-Paul Sartre oder Saint Orlan? Schwartes Bestimmung der Architektur als Konstruktion von Möglichkeiten, als Ermöglichung und so als in ihrem Wesen performativ, erinnert an Heidegger, obwohl Schwartes Denkstil ein ganz anderer ist. „Performativ“ lässt an Theater denken. In theatralen Situationen sieht Schwarte ein bevorzugtes Mittel, künstlerisch soziale und politische Grenzen zu überschreiten. Die Möglichkeit solcher Grenzüberschreitungen ist ihm Voraussetzung jedes wirklich freien Handelns. „Die Öffentlichkeit von Räumen scheint auf den ersten Blick fünf Kriterien zu defininieren: a) Zugänglichkeit, b) die Freiheit, verschiedenste, selbstbestimmte Handlungen im öffentlichen Raum auszuführen, c) die Möglichkeit, bestimmte Plätze im Raum einzunehmen und die dort befindlichen Ressourcen zu nutzen, d) die Möglichkeit, die Umwelt zu modifizieren, e) zur Kontrolle des öffentichen Raumes als dessen (Mit-)Eigentümer berechtigt zu sein.“ Öffentlichkeit ist also „nicht die Masse und auch nicht das Gemeinsame, sondern die Möglichkeit des Einzelnen, sich gegen die Masse oder in der Vielzahl zu behaupten.“23 Öffentliche Räume sind Voraussetzung der Demokratie. Sie haben die Funktion „eine Bresche in die politische Abgeschlossenheit zu schlagen. Der Ort der Macht bleibt nur so in einer demokratischen Gesellschaft ein leerer Ort.“24

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In Bauen Wohnen Denken spricht Heidegger von der einräumenden Funktion der Architektur. Ist es nicht Aufgabe der Architektur, dem in seinem Wesen unheimlichen Raum wohnliche Räume abzuringen? Zwei Raumbegriffe stoßen hier aufeinander: Der eine gründet in der Raumerfahrung unseres alltäglichen In-der-Welt-seins. Was uns Raum erschließt, ist unser Umgang mit Menschen und Dingen. So verstanden lässt uns jeder Raum immer schon irgendwohin gehören. Erst einmal sind wir in unserer Welt zuhause. Zunächst und zumeist ist Welt Umwelt, Raum Umraum, der uns Handlungsmöglichkeiten eröffnet, aber auch zugleich begrenzt. Raum hat sich uns immer schon irgendwie erschlossen, aber zunächst nicht als freie Weite, sondern als immer schon irgendwie eingeräumt und das heißt Menschen und Dingen ihre Plätze anweisend, sie immer schon irgendwie bindend. Erst „auf dem Boden der so entdeckten Räumlichkeit“, meint Heidegger, „wird der Raum selbst für das Erkennen zugänglich.“25 „Der Raum selbst“: damit sind wir bei einem anderen Raumbegriff. Der Weg, der uns von dem einen zum anderen Raumbegriff führt, ist ein Weg der immer entschiedeneren Befreiung von dem Platz und den Perspektiven, die unser körpergebundenes und das heißt auch Ortund Zeit-gebundenes, Natur- und Gesellschaft-gebundenes Sehen und Verstehen zunächst bedingen. Ist eine solche Befreiung nicht Forderung jeder Wahrheitssuche? Und ist sie nicht auch Forderung einer wirklich menschenwürdigen Politik? Aber eben diese Forderung droht, unsere Welt in die „Zeit des Weltbildes“ zu verwandeln. Schwarte verdankt Heidegger viel. Aber er entwickelt den Zug zum Anarchischen, der zwar in Bauen Wohnen Denken sehr zurücktritt, aber von Heideggers Begriff der Eigentlichkeit nicht zu trennen ist, entwickelt ihn auf eine Art, die ihn in die geistige Nachbarschaft von Guy Debords Situationismus und besonders der Anarchitektur von Robin Evans, Gordon Matta-Clark und Lebbeus Woods treten lässt.26 So träumt auch er von einer Architektur die „freistellt und nicht festlegt oder zwingt.“27 Gegen das Unheil der Zwangsherrschaft jeglicher Art zu kämpfen lohne sich doch immer, hieß es in seiner Habilitationsschrift Der öffentliche Raum. Studien zur Philosophie der Architektur.28 Aber ohne Bindung wird Freiheit Willkür. Was aber soll unserem heutigen Handeln und das heißt auch Wohnen und Bauen die Regel geben? Schwarte kennt nicht mehr Kants Glauben an die die Freiheit bindende Autorität einer reinen praktischen Vernunft. Und auch Habermas, der

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der Aufklärung verpflichtet die Macht der Vernunft überschätzt, vermag es nicht, ihn zu überzeugen. Schwarte fordert eine immer wieder Gesetze überschreitende Freiheit. Aber wie will Schwarte zwischen berechtigter Herrschaft und Zwangsherrschaft unterscheiden? Wird Freiheit nicht zur jede Gemeinschaft zerstörenden Willkür oder zum Spielball externer Mächte, wenn sie nichts mehr findet, was sie binden könnte? Wenn nicht die Vernunft, was dann? Schwartes radikaldemokratische Sympathien mit anarchischem Denken und Handeln setzen einen fast religiösen Glauben an eine körpergebundene, natürliche Gutartigkeit und Verträglichkeit der Menschen voraus, die ich nicht teilen kann. Nur solch ein Glaube ließ Schwarte in seiner Habilitationsschift die rhetorische Frage stellen: „Warum aber sollte sich der Mensch selbst gegebenen Gesetzen unterwerfen, was doch mit der Freiheit in Widerspruch steht? Steht nicht die systematische Gesetzhaftigkeit des Handelns im Widerspruch zur Möglichkeit, das freie Übereinstimmen mit andern, wenn auch nur aggregathaft zu erreichen?“29 Das tut sie in der Tat. Aber wie haben wir uns diese utopische Möglichkeit zu denken? Wie würde ein Nietzsche Schwartes rhetorische Frage beantworten? Der Begriff der Freiheit fordert eine tiefer gehende Untersuchung. Zurecht stellt Schwarte den Anspruch der reinen Vernunft, die Freiheit zu binden, in Frage. Aufgabe der Architektur ist es in der Tat, uns in dem Haus, das uns unsere allzu vernünftige Vernunft gebaut hat, Fenster und Türen zu öffnen. Aber was uns da draußen erwartet, ist nicht so sehr die offene Lichtung der Freiheit, sondern unsere immer beängstigender kleine, gefährdete Erde. Aber auch heute noch gilt: Nur die Natur kann der Kunst, und das heißt auch der Architektur, die gültige Regel geben. Der Mensch ohne Schatten Wenn auch, wie ich sagte, Heidegger unserer Zeit mit seiner Charakterisierung als der „Zeit des Weltbildes“ nicht gerecht wird, bietet er uns doch eine Karikatur, die Wesentliches trifft. Den Schlüssel zu dieser Karikatur liefert seine Auffassung unserer Naturwissenschaft und Technik als Vollendung des Anspruchs der Metaphysik, das Sein des Seienden zu begreifen und so in den Worten Descartes’ den Menschen zum „Herren und Eigentümer“ der Natur, auch der eigenen Natur zu machen. Gleiters Vorstellung von der totalen Medialisierung unserer Kultur scheint mir diesen Prozess zu unbefragt vorauszusetzen und ebenso scheint mir dies Schwarte zu tun, wenn er auf Freiheit besteht, aber

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das, was Freiheit zu binden vermag und die Voraussetzung verantwortlichen Handelns nicht genügend beachtet. Aber warum tut es Not, den uns von der „Zeit des Weltbildes“ gesteckten Rahmen zu sprengen? Zum Schluss hier noch eine metaphorische Antwort: um dem Menschen seinen Schatten zu erhalten.30 Die Metapher gab mir Adelbert von Chamissos Erzählung Peter Schlemihls wundersame Geschichte. Die Geschichte nimmt ihren Anfang in einem Gartenfest unter Menschen, denen Geld zum alleinigen Wertmaßstab geworden ist. Hat nicht alles seinen Preis? Lehren uns das nicht die Utilitarier? Wichtig ist hier die homogenisierende Macht des Geldes. Sie wirft ein Licht auf den Ursprung unserer „Zeit des Weltbildes“, wie es eine eingehendere Betrachtung des Florenz Albertis und der Bedeutung der Geldwirtschaft der Medici zeigen könnte. Auf diesem Fest macht der Teufel in der Gestalt eines kleinen grauen Mannes unserem Helden einen merkwürdigen Vorschlag: Für einen immer vollen Geldbeutel möchte er ihm seinen Schatten abkaufen. Es kann nicht überraschen, dass Peter Schlemihl auf den Handel eingeht. Was nützt uns denn so ein Schatten? Uns stellen sich die Fragen: Wie haben wir den Verlust des Schattens zu verstehen? Und wie hängen Geld und dieser Verlust zusammen – und immer wieder kommt Chamissos Teufel auf diesen Punkt zurück: Du hast mein Geld, ich habe deinen Schatten. Es dauert nicht lange bis Peter lernen muss, dass es sich ohne Schatten schwer leben lässt. Der Verlust des Schattens bedeutet auch den Verlust der menschlichen Mitwelt. So müssen Innenräume unserem Peter die freie Natur ersetzen. Der Verlust des Schattens wirft unseren Helden auf sich selbst zurück. Seine Beziehungen zu anderen werden asymmetrisch. Bald versucht Peter Schlemihl, den Handel rückgängig zu machen. Und wenn er dem Teufel noch einmal begegnet, ist dieser in der Tat bereit, ihm seinen Schatten zurückzugeben, nun aber um den Preis seiner Seele. Dieses Angebot setzt den Verlust des Schattens, das heißt die Selbsterhöhung des Menschen, die ihn in ein abstraktes Subjekt verwandelt, voraus. Ein solches Subjekt hat den immer an einen bestimmten Ort und eine bestimmte Zeit gebundenen und damit bestimmten Perspektiven unterworfenen Menschen unter sich gelassen. Und fordert die Wahrheitssuche nicht eine solche Selbstaufstufung des Geistes? Aber damit vergeistigt sich unsere Existenz. Der Köper verliert an Wichtigkeit.

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Schatten wurden schon lange als Zeichen eines vollen Körperdaseins verstanden. Geister werfen bekanntlich keine Schatten. Menschen ohne Schatten haben etwas Gespensterhaftes. Erst unsere Schatten lassen uns Menschen der Erde gehören. Werfen wir einen Schatten, wenn wir vor unserem Computer sitzen? Der Teufel will uns unsere Schatten nehmen, möchte uns von dem, was uns an die Erde bindet, befreien, verspricht ein freieres, bindungsloses Leben. Das Angebot des Teufels verspricht eine Existenz, die, weil nicht mehr an die Erde gebunden, kein Licht außer dem Licht der eigenen Vernunft nötig hat. Technik ersetzt Natur. Das Licht des Computer-Screens, so versucht uns der Teufel, ist Licht genug. Es bleibt die Frage: wie ist das Angebot des Teufels zu verstehen, Peter seinen Schatten und damit sein volles Körperdasein zurückzugeben, aber um den Preis seiner Seele? Eben weil die Selbsterhöhung des Geistes, die dem Menschen den Schatten kostet, den Körper entseelt. So kommt es bei Descartes zur Gegenüberstellung von schattenloser res cogitans und schattenwerfender, aber seelenloser, res extensa. Die so verstandene Natur hat keinen Platz mehr für so etwas wie eine Seele. Sich nur als eine solche res extensa zu verstehen, hieße das, was den Menschen zum Menschen macht, zu verlieren. Dieser Preis ist unserem Peter zu hoch. Seinen Schatten hat er verloren. Aber als Kompensation für den verlorenen Schatten findet er ein paar Siebenmeilenstiefel. Der Verlust des Schattens also führt zu einem veränderten Raumverständnis. Entfernungen verlieren ihre einstige Bedeutung. Wir mögen dabei daran denken, wie Wissenschaft und Technik unser Raumgefühl verändert haben. Wie haben uns doch solch technische Errungenschaften wie Automobil, Flugzug, Telefon oder Computer Menschen näher gebracht. Aber solche Nähe beschattet eine Distanz, die wirkliche Intimität verbietet. Schattenlose Geister begegnen hier schattenlosen Geistern. Der Teufel vertritt in der Geschichte das metaphysische Denken und so lässt Chamisso ihn in seiner Geschichte auch als Philosophen erscheinen. Er ist Metapher der Heideggers Weltbild entsprechenden Grundstimmung. Der Schatten steht für das, was uns Menschen an diese Erde und das heißt auch an unsere Mitmenschen bindet. Ihrem Anspruch müssen wir entsprechen. Was die Freiheit binden muss, was unserem Leben Maß und Richtung gibt, können wir Menschen nicht frei erfinden sondern müssen es empfangen und entdecken. So verstanden muss, wie schon gesagt,

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die Natur dem Menschen die Regel geben, das heißt seine auf ein Du, auf Mitmenschen angewiesene Natur. Natur meint hier aber auch diese durch den Fortschritt von Wissenschaft und Technik heute so gefährdete Erde. Der dem modernen Weltbild entsprechenden Grundstimmung der Unheimlichkeit können wir mit der Besinnung auf die Einmaligkeit dieser Erde begegnen. Geozentrik tut Not.

Christian Illies

In welchem Style sollen wir philosophieren? Ziel und Methode der Architekturphilosophie Um was es geht – eine erste Definition der Architekturphilo­ sophie Die Architekturphilosophie blüht. Bauwerke sind zu einem

beliebten Thema der Philosophie geworden. Bemerkungen über die Architektur oder auch Zeugnisse des philosophischen Nachdenkens finden sich freilich schon früher in der Geschichte. Aristoteles diente der Hausbau als Beispiel für die Poiesis, die schaffende und hervorbringende Tätigkeit des Menschen, der Deutsche Idealismus versucht eine Einordnung der Architektur in das System der Künste und Georg Wilhelm Friedrich Hegel interpretiert einzelne Bauwerke als Ausdruck eines Zeitgeistes.1 Aber dennoch wurde Architektur erst in den letzten Jahrzehnten zu einem breiteren philosophischen Anliegen. Als wichtiger Anstoß ist hier Martin Heidegger zu nennen, der 1951 nach der Bedeutung der Architektur fragt. In seinem Vortrag Bauen Wohnen Denken sieht er das Wesen des Menschen vom Wohnen her bestimmt. Die „eigentliche Not des Wohnens“, so sagt er im zerbombten Nachkriegsdeutschland, liege nicht im Mangel an Wohnungen, sondern darin, dass der moderne Mensch seine eigentliche „Heimatlosigkeit“ nicht „bedenkt“.2 Auch wenn zunächst nur einige Architekten ebenso gebannt wie ratlos zuhörten,3 wurde Heidegger schließlich zu einem der folgenreichsten Anreger der jüngeren Architekturphilosophie, der Autoren wie Michael Foucault, Karsten Harries oder Peter Sloterdijk inspirierte. Ein zweiter zentraler Anstoß ist das 1979 erschienene The Aesthetics of Architecture von Roger Scruton, der sich im Stil der analy­tischen Philosophie dem Thema zuwendet (Heidegger wird in dem 300-Seiten-Werk nur einmal beiläufig erwähnt). Dieses Buch avancierte zum Grundtext einer ganz anderen Architekturphilosophie, die gerade in jüngster Zeit

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einen starken Aufschwung erlebt und zu zahlreichen Tagungen, Büchern und Artikeln geführt hat (etwa einer Sondernummer des Journal of Aesthetics and Art Criticism). In beiden philosophischen Traditionen findet die Architektur ein großes philosophisches Interesse. Wenn ein Plural in der Philo­sophie sinnvoll wäre, so müsste man von einer Zeit blühender Architekturphilosophien sprechen. Aber natürlich ist er nicht wirklich sinnvoll, weswegen ich im Folgenden für einen Typ von Architekturphilosophie argumentieren werde.) Doch schauen wir zunächst auf den Unterschied zur „Architekturtheorie“, die schon eine sehr lange Geschichte hat. Die Abgrenzung wird nicht ganz trennscharf möglich sein, aber es scheint plausibel, dem Vorschlag Scrutons zu folgen, den Christoph Baumberger präzisiert hat:4 „Architekturtheorie“ ist eine theoretische, jedoch stärker auf praktische Orientierung ausgerichtete Auseinandersetzung mit der Architektur.5 Sie gibt eher allgemeine Richtlinien als konkrete Bauvorschläge (zum Beispiel Prinzipien des Entwerfens, Regeln für die Gliederung von Gebäuden). Diese Richtlinien müssen dann im Einzelfall kontextuell gedeutet und angewendet werden. Methodisch ist die Architekturtheorie keineswegs einheitlich und nicht unbedingt argumentativ; sie kann durchaus intuitiv vorgehen und auch ein bloßer Apell sein. (Man denke etwa an COOP Himmelb(l)aus „Architektur muss brennen!“)6 „Architekturphilosophie“ strebt dagegen nach einer Einordnung des Phänomens Architektur in den größeren philoso­phischen Zusammenhang, also etwa, wie sie sich als Kunst in einer allgemeinen Ästhetik verortet, in welcher Hinsicht sie ethisch relevant ist, oder wie sie sich als Ausdruck einer Zeit zu deren leitenden Ideen und Überzeugungen verhält.7 Die Architekturphilo­sophie sucht mit den spezifischen Methoden der Philosophie, die ihr auch in anderen Bereichen dienen, Antworten auf philos­ophische Fragen, die sich ihr angesichts architektonischer Phänomene stellen. Damit setzt eine Bestimmung der Aufgabe der Architekturphilosophie bereits ein Verständnis dessen voraus, wonach die Philosophie allgemein fragt, um dies dann auf den speziellen Phänomenbereich zuzuspitzen. Wenn die Philosophie reflektiert, was ihre Fragen sind, dann ist das bereits eine philosophische Aufgabe. Das ist nicht zirkulär, sondern liegt im selbstreflexiven Wesen der Philosophie: Sie ist die

Christian Illies – In welchem Style sollen wir philosophieren

Wissenschaft, die notwendigerweise zugleich ihr eigener Gegenstand des Nachdenkens sein muss. Und erst wenn sie sich selbst versteht, kann sie präzisieren, was sie leisten sollte. Das gilt für die Philosophie allgemein, aber auch für ihre Teilbereiche wie die Architekturphilosophie. (Denn nur, wenn geklärt ist, welche Fragen sie überhaupt angesichts der Architektur stellt, scheint es sinnvoll, das beste Vorgehen beziehungsweise den angemessenen Stil zu identifizieren.) Was ist nun das allgemeine Anliegen der Philosophie? Sie sei im Folgenden als das rationale Projekt verstanden, unsere Erkenntnisse, seien sie allgemeiner oder wissenschaftlicher Art, und unsere Überzeugungen, einschließlich unserer normativen Urteile, zu einem möglichst konsistenten Erklärungsganzen zusammenzufügen und dieses argumentativ zu begründen.8 Ob es der Philo­ sophie dabei gelingt, die ganze Wirklichkeit schlüssig zu erfassen, wie Hegel beanspruchte, oder ob sie das Ideal nicht ganz erreicht, sei dahingestellt. Ihr Ansinnen bleibt in jedem Fall, möglichst viele Teileinsichten konsistent zusammenzuführen.9 Als ihre Hauptmerkmale lassen sich daher nennen: Universalitätsanspruch, das Erheben von, beziehungsweise das Nachdenken über Geltungsansprüche (als einem wesentlichen Teil der Wirklichkeit), und die schon angeführte Selbstreflexivität. 10 Dieses Verständnis von Philosophie als einer sich selbst denkend einholenden Metawissenschaft stößt, wie alles in der Philosophie, bei manchen Philosophen auf heftige Ablehnung. Aber dieses Philosophieverständnis im Detail zu begründen, würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen. Es kann hier genügen, wenigstens ganz pragmatisch zu zeigen, warum die drei Merkmale nicht sinnvoll bestritten werden können, beziehungsweise vorausgesetzt werden müssen. Denn wer fordert, das vorgeschlagene Philo­sophieverständnis müsse selbst begründet werden, hat damit bereits zwei der drei Merkmale implizit zugestanden – verlangt er doch mit seiner Forderung von der Philosophie genau dies, nämlich über sich und ihre Merkmale nachzudenken (räumt also ihre Selbstreflexivität ein) und fragt nach deren Begründung (thematisiert also Geltungsansprüche). Aber auch der Universalitätsanspruch kann dadurch plausibel gemacht werden, dass dieser nicht ohne Selbstwiderspruch bestritten werden kann, wie die Postmoderne zeigt: Das Universitätsideal, also die Möglichkeit einer systematischen Vereinigung der unterschiedlichen Einsichten und Erkenntnisse, wurde

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etwa von der postmodernen Philosophie explizit verworfen. Diese setzt dagegen ein plurales Verständnis von Philosophie, nach dem sehr unterschiedliche Diskurse mit eigenen Regeln und Vernunftverständnissen nebeneinander bestehen können. Die Vorstellung einer (universalen) „großen Erzählung“ müsse aufgegeben wurde, schreibt etwa Jean-François Lyotard.11 Er steht damit in der skeptischen Tradition, die Friedrich Nietzsche erneuert hat, nach der auch widersprüchliche Antworten nebeneinander bestehen können, weil es ohnehin keine Wahrheit gäbe. Aber diese skep­tische Zurückweisung einer Wahrheit hebt sich selbst auf: Entweder sie tritt ihrerseits mit einem universalen Gültigkeitsanspruch auf (zum Beispiel dass es ganz allgemein keine Wahrheit, sondern nur Perspektivität gäbe) – dann ist sie selbstwidersprüchlich, weil sie selbst beansprucht, was sie ausdrücklich für unmöglich erklärt (sie verkündet ja eine allgemeine Wahrheit),12 oder die postmoderne Kritik verzichtet auf diesen allgemeinen Anspruch (sieht sich selbst nur als eine kleine und keine große Erzählung) – dann kann sie die große Vernunfterzählung auch nicht zurückweisen, weil ihre kri­tische Reichweite beschränkt bleibt. Wir können daher getrost weiter am Universalitätsanspruch wie den beiden anderen Merkmalen der Philosophie festhalten. Und, das sei hinzugefügt, nur dann hat ja auch die Frage nach einem richtigen oder angemessenen Stil der Philosophie einen Sinn, denn in einem postmodernen Methodenpluralismus kann es eigentlich keine richtigen oder falschen Stile des Denkens mehr geben, eben weil ein universaler Beurteilungsmaßstab ausgeschlossen wird. Dann aber stünde COOP Himmelsb(l)aus Manifest gleichberechtigt neben Texten von Hegel oder Heidegger. Bevor wir die architekturphilosophische Selbstreflexion über den angemessenen Stil weiter führen, muss eine kurze Klärung des Begriffs Stil eingeschoben werden. Ein philosophischer Stil kann sich einerseits auf die Ausdrucksweise beim Sprechen oder in Texten beziehen, also ob Einsichten allgemeinverständlich oder eher in technischer Sprache für Spezialisten dargestellt werden. In diesem Sinne wurde gelegentlich über den angemessenen philosophischen Stil nachgedacht.13 Hier könnte man vom Ausdrucksstil sprechen. Andererseits lässt sich der Begriff Stil für die methodische Vorgehensweise einer Architekturphilosophie verwenden. Vielleicht sollte man dies einen Denkstil nennen. Da geht es darum, ob zum Beispiel Bauwerke phänomenologisch erfasst werden,

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trans­ zendentalphilosophisch nach Bedingungen der Möglichkeit ästhetischer Wertschätzung gefragt, oder die Architektur als Machtform dekonstruiert wird. Zwischen beiden Arten von Stilen gibt es oft enge Verknüpfungen, zum Beispiel gibt es typische Ausdrucksstile für unterschiedliche Denkstile (oft als Jargon bezeichnet). Aber die Beziehung ist nicht zwingend; Heidegger wählt in seinem Vortrag Bauen Wohnen Denken für seinen Denkstil einen Ausdrucksstil, der so dunkel ist wie alte Schwarzwaldhütten, während Harries für einen sehr ähn­lichen Denkstil einen wesentlich klareren Ausdrucksstil findet.14 Im Folgenden soll es um beides gehen, um den angemessenen Denkstil und um den Ausdrucksstil der Architekturphilo­ sophie, denn beides berührt sich in der Frage, was ihr eigentliches Anliegen ist: Der Denkstil hängt von dem Typ der philo­sophischen Einsichten ab, die wir erhoffen, der Ausdrucksstil von den Adressaten dieser Einsichten. Und an wen man sich richtet, gehört zur Selbstreflexion der Architekturphilosophie: Ist sie primär eine ‚Philosophenphilosophie‘ oder sind ihre Ergebnisse für ein breites Publikum relevant? Drei Fragen an die Architekturphilosophie Mit dem gerade

Gesagten sind bereits zwei Fragen genannt, die uns helfen sollen, das Anliegen der Architekturphilosophie zu präzisieren. Als dritte Frage kommt hinzu, was sie als ihren Gegenstand nehmen soll. Damit haben wir drei Leitfragen: 1) Was ist der Gegenstand der Architekturphilosophie? 2) Mit welchem Denkstil (welcher Methode) sollte sie sich ihrem Gegenstand nähern? 3) Welchen Ausdrucksstil soll die Architekturphilosophie wählen? Schauen wir auf diese Fragen etwas genauer, bevor wir versuchen, jeweils eine Antwort zu geben: 1 Was ist der Gegenstand der Architekturphilosophie? Geht es um die Baukunst im umfassenden Sinne, die vom Entwerfen und Planen über das Bauen und die Fertigstellung bis zu Erhaltung und Veränderung im Lauf der Zeit reicht? Oder sollte man als ihren Gegenstand nur das gebaute Artefakt nehmen – woran sich die Frage anschließen würde, ob alle solche Artefakte eingeschlossen sind (von der Autobahn bis zum Fahrradschuppen),15 oder nur das

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qualitativ herausragende wie ein Tempel oder eine Kathe­ drale. Diese Frage ist durchaus unterschiedlich beantwortet worden. Während Ludger Schwarte jede „Konstruktion von Möglichkeiten“ zum Gegenstand der Architekturphilosophie macht, also den ganzen Bereich der materiellen und immateriellen Artefakte,16 spricht Arthur Schopenhauer nur über einzelne Bauwerke und deren Teile. Aber vielleicht sollten gar keine Artefakte im Zentrum stehen – Tom Spector denkt in seinem Buch zur Architekturethik primär deggers über die Architekten nach17 und die Bemerkungen Hei­ legen nahe, dass es bei der Architekturphilosophie eigentlich um den Menschen allgemein und ein richtiges Leben geht. 2 Mit welchem Denkstil (welcher Methode) sollte sich die Architekturphilosophie ihrem Gegenstand nähern? Selbst wenn wir den Gegenstand der Architekturphilosophie bestimmt haben, bleibt offen, wie wir uns diesem Gegenstand nähern sollen. Dieses komplexe Problem lässt sich dadurch besser fassen, dass wir es in drei Teilfragen gliedern: Wir können erstens abwägen, welche konkreten Fragen die Architekturphilosophie an ihren Gegenstand stellt. Viele Arbeiten sind vorrangig aus einem ästhetischen Interesse verfasst und erkunden, was gelungene Architektur ausmacht, was die ästhetische Erfahrung eines Bauwerks bedeutet (Gernot Böhme, Fred Rush)18 oder ob Architektur Kunst sein kann (Stephen Davies).19 Aber eine solche Annäherung ist nur eine Möglichkeit. Andere Philosophen fragen in ontologischer Hinsicht, was für eine Art von Gegenstand ein Bauwerk ist, ob ein konkretes physisches Objekt, ein Ereignis oder eher eine abstrakte Entität.20 Und auch sozialphilosophische oder anthropologische Herangehensweisen sind möglich (Heike Delitz),21 kulturphilosophische (Lewis Mumford)22 oder metaphysische (Hegel). Zu ermitteln ist auch, ob die Architekturphilosophie nur Verständnisfragen stellt oder nach Wertungen sucht. Soll sie allein dazu dienen, das Phänomen Bauen oder Bauwerke besser zu verstehen (Hegel will mit der Analyse des griechischen Tempels die Geisteshaltung einer vergangenen Epoche erfassen) – oder geht es um eine Orientierung (Nikolaus Pevsner fordert, dass man nur im Stil der eigenen Epoche bauen dürfe)? Sollen ethische Empfehlungen ausgesprochen (Harries) beziehungsweise ästhetische Ideale formuliert werden (Scruton)?23 Oder sollte sich die Archi-

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tekturphilosophie der Beurteilung enthalten (wie es etwa Richard Kraut ganz allgemein für jede philosophische Ästhetik fordert)?24 Kurzum, es gibt eine Fülle möglicher Fragen, die man philo­ sophisch an Architektur stellen kann (oder die man für ganz unpassend hält). Als zweite Teilfrage ließe sich nach den unterschied­ lichen Methoden fragen, die angewandt werden können. In ihrer Geschichte hat die Architekturphilosophie durchaus verschiedene Methoden verwandt, die zum Teil nebeneinander stehen oder einander sogar ausschließen. Um nur die wichtigsten beispielhaft zu nennen: Da ist die heideggersche Variante der Phänomenologie, bei der in besonderer Weise nach dem menschlichen Dasein (Existenzanalyse) und der Bedeutung des Raumes und der Architektur gefragt wird. Verschiedene Autoren wie zum Beispiel Harries, der spätere Christian Norberg-Schulz und Peter Carl wurden davon angeregt. Auch die Philosophische Anthropologie mit dem besonderen Augenmerk auf den Körper hat einen eigenen Denkstil entwickelt: Helmut Plessner sieht es als konstitutiv für den Menschen, sich Rollen, Masken, aber auch Gebäude zu schaffen, durch die er sich ausdrückt, aber auch versteht. Vor allem Heike Delitz und Joachim Fischer haben diesen Ansatz in jüngster Zeit weiter entfaltet. Um einen Brückenschlag von der Transzendentalphilosophie zur Architektur geht es dagegen Petra Lohmann. Ganz anders arbeitet Michel Foucault, den die Architektur primär als Machtform einer Disziplinargesellschaft interessiert. Seinen dispositivtheoretischen Ansatz greift etwa Schwarte auf und modifiziert ihn, indem er jenseits der Macht allgemein nach den Möglichkeiten fragt, die Architektur eröffnet. Mit Scruton entdeckte die analytische Philosophie die Architektur und wandte ihre Methoden und Klärungsideale auf sie an (etwa Michael Mitias, Nicholas Ray, Christoph Baumberger und Martin Düchs sind zu nennen). Kurzum, es gibt eine Fülle sehr unterschiedlicher Methoden, die man wählen könnte. Wenn wir nach dem angemessenen Denkstil suchen, so ist damit schließlich die (Teil-)Frage verbunden, was mit dem Ganzen eigentlich erreicht werden soll. Man könnte sagen, dass die Frage nach dem angemessenen Denkstil in die nach dem erhofften Ergebnis mündet: Was ist das Ziel der Architekturphilosophie? Gegen die Frage wird man vielleicht einwenden wollen, dass sie in doppeltem Sinne unbeantwortbar sein könnte: Zum einen

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betrifft sie ja die Philosophie als Ganze, denn wenn es ein Ziel der Architekturphilosophie gibt, muss dieses mit dem Ziel der Philosophie überhaupt korrespondieren. Zum zweiten dürfte die Philosophie wenigstens in absehbaren Zeiträumen unabschließbar sein: Gerade wenn die Philosophie alle unsere Erkenntnisse systematisch zusammenführt, dann wird sie fortgeführt werden müssen, solange wir neue Einzelerkenntnisse und Einsichten gewinnen. Und ein Ende dieses Fortschreitens ist nicht abzusehen. Wir könnten uns bei der Suche nach einem Ziel aber nicht nur überheben, sondern auch eine zirkuläre Antwort erhalten, weil jede Auffassung der richtigen Philosophie und Architekturphilosophie ihre jeweils eigenen Vorstellungen des Zieles (und eigenen Kriterien für das Erreichen dieses Zieles) mit sich bringt. Droht da nicht eine hermetische Selbstimmunisierung der verschiedenen philosophischen Denkstile? Wenn es zum Beispiel im heideggerschen Sinne darum geht, die Heimatlosigkeit des Menschen zu bedenken, dann ist die Architekturphilosophie erfolgreich am Ziel, wenn sie den Begriff Heimat ausbuchstabiert hat und erklären kann, wann eine Architektur für eine bestimmte Kultur diese Heimat bietet. Wenn es ihr dagegen um die Dekonstruktion falscher Wahrheitsansprüche geht, fände die Architekturphilosophie ihr Ziel darin, all die trügerischen Gewissheiten zu entlarven, die uns eine allzu harmonische Bauweise vorgaukelt.25 Sollte auf diese Weise jede Architekturphilosophie ihren eigenen Erfolgsmaßstab mit sich bringen, dann wäre in der Tat eine Selbstimmunisierung der jeweiligen Denkstile die Folge. Die Frage nach dem Ziel der Architekturphilosophie mag schwer sein, die Antwort muss sich vor einem Zirkelschluss hüten – und doch bleibt sie notwendig. Denn das Nachdenken über das Wohin ist für jede Philosophie (und damit auch die der Architektur) unverzichtbar. Philosophie ist selbstreflexiv, sie muss sich selbst denkend einholen, weil sie auch die Frage nach der eigenen Rechtfertigung aufwirft. Und wenn die Architekturphilosophie über sich selbst nachdenkt, dann gehört eben die Klärung dessen dazu, was sie ist und auf welchen Typ einer Antwort wir hoffen sollen. 3

Welchen

Ausdrucksstil

soll

die

Architekturphilosophie

wählen? Die Frage nach dem Ausdrucksstil kann hier angeschlossen werden. In welchem Stil soll die Architekturphilosophie schreiben oder vortragen? Es ist eine Frage, die engst mit

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einer anderen Frage zusammenhängt, deren Beantwortung eigentlich vorausgehen muss: An wen richtet sich eigentlich die Architekturphilosophie? Ist sie eine (Fach-)Philosophie für Philosophen, für Architekten oder für eine breite Öffentlichkeit? In der Tradition begegnen uns Texte für sehr unterschiedliche Adressaten: Hegels und Hei­deggers Texte sind für Fachphilosophen (auch wenn sie selbst diesen manchmal undurchdringlich erscheinen), Scrutons The Aes­thetics of Architecture ist zwar klar, aber doch wohl nur für Philosophen beziehungsweise Leser, die in der analytischen Philosophie geschult sind, während seine späteren Schriften (zum Beispiel die gesammelten Zeitschriftenbeiträge in The Classical Vernacular, 1995) sich allgemeiner an Nichtphilosophen und Verantwortliche richten. Was genau den Adressatenkreis der publizierten Texte zur Architekturphilosophie ausmacht, ist nicht einfach zu bestimmen. Wen der Philosoph und die Philosophin selbst erreichen wollen, ist nur ein erster Hinweis, da sie durchaus ihr angestrebtes Publikum verfehlen können – man denke nur an Hegel, der seine Enzyklopädie als Vorlesungskompendium zur Einführung schrieb. Zwar spiegelt sich der Adressatenkreis oft im Ausdrucksstil der Texte, so dass eine klare, voraussetzungslose Sprache eben dort gewählt wird, wo Nichtphilosophen als Leser dem Verfasser vor dem Auge stehen. Aber erstens ist nicht immer klar, was ein Philosoph für klar hält, und zweitens ist die Verbindung von Klarheit zu einem breiteren Publikum nicht zwingend: Peter Sloterdijk zum Beispiel schreibt ambivalent und schillernd, und manchmal durchaus trübe, und wird dennoch von vielen, vor allem Architekten, gerne gelesen. Nach diesem Versuch, die drei Fragen an die Architektur­ philosophie zu differenzieren, ist es an der Zeit, nach Antworten zu suchen. Der ideale Stil der Architekturphilosophie, für den ich im Folgenden eintreten will, ließe sich am besten als „Stil Descartes“ bezeichnen. Warum das so ist, wird deutlich werden, wenn jetzt Vorschläge kommen, wie sich die genannten drei Grundfragen beantworten ließen. Drei Antworten – Architekturphilosophie im Stile Descartes. Gebäude, deren Planen, Bauen, Verändern und Erleben als zen­­ traler Gegenstand der Architekturphilosophie Philosophie erhebt, jedenfalls traditionellerweise, einen universalen Anspruch und wirft letztlich einen Blick auf die ganze Wirklichkeit. So gibt es eigent-

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lich nichts, das nicht zum Objekt ihres Fragens werden könnte. Das betrifft auch alle im weitesten mit der Architektur verbundenen Phänomene – von der Kultur als Raum des Bauens, den ökonomischen Voraussetzungen oder der soziopolitischen Relevanz bis hin zum Architekten oder dem konkreten Bauwerk und den Menschen, die in ihm leben. Der Bereich mög­licher Objekte der Reflexion und entsprechend der Gegenstandsbereich der Architekturphilosophie scheinen zunächst grenzenlos. Fasste man jedoch den Bereich der Architekturphilosophie so weit, dann verlöre sie ihre spezifische Aufgabe. Unbegrenzt würde sie ins weite Feld der Philosophie übergehen und es hätte wenig Sinn, überhaupt von einer ‚Philosophie der Architektur‘ zu sprechen. Es gäbe nur die Kulturphilosophie, Ästhetik oder Ethik, die sich (unter anderem) mit architektonischen Phänomenen beschäftigten. Erst wo das Nachdenken ein eigenes, abgesondertes Objekt zum Gegenstand hat, kann man sinnvoll von einer eigenen Bereichsphilo­sophie sprechen. Und in der Tat lässt sich ein Gegenstandsbereich der Architekturphilosophie sinnvoll abgrenzen, denn wir können ty­pische Charakteristika identifizieren, welche nur oder in besonderer Weise der Architektur (oder einem ihrer Aspekte) zukommen und womit sie sich von anderen Phänomenen (etwa anderen Artefakten) abgrenzen lassen.26 Dieser Gegenstandsbereich sind Gebäude. Sie lassen sich von anderen Artefakten erstens dadurch unterscheiden, dass sie die besonders komplexe Schnittmenge sehr unterschiedlicher Anforderungen sind. Einerseits müssen sie gebäude­typische Nutzung erlauben (das Wohnen, das Sich-darin-Aufhalten etc.), andererseits stehen sie unter einer Fülle anderer Anforderungen, zum Beispiel rechtlichen, ästhetischen, statischen, hygienischen, ökologischen und kulturellen. Zudem müssen sie die Eigenschaften des verwendeten Materials ebenso beachten wie die örtlichen Erfordernisse der Geologie, des Klimas aber auch des konkreten Ortes. Denn im Unterschied zu nicht-baulichen Artefakten sind sie zweitens in besonderer Weise unbeweglich und ortsgebunden – weswegen sie auf den spezifischen Kontext Rücksicht nehmen sollten.27 Ein Gebäude ist viel tiefer in einen konkreten Zusammenhang eingebettet (in ein Ensemble, eine Stadt) als die meisten anderen Artefakte (etwa ein Auto, ein Satellit oder ein Gemälde). Ein drittes spezifisches Merkmal ist ihr Öffentlichkeits­charakter. In der Regel sind Gebäude allgemein wahrnehmbar, ja unübersehbar und das oft über Jahrhunderte. Anderen Artefakten kann man meist

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entgehen oder sie sind nur zu bestimmten Zeiten präsent, Häuser sind fast immer um uns oder wir in ihnen. Viertens wird man auch ihren künstlerischen Anspruch betonen müssen, den jedenfalls besondere Gebäude erheben. Architektur steht dem Design in dieser Hinsicht viel näher als der Technik.28 Komplexität, Eingebettetsein, Öffentlichkeit und künstlerischer Anspruch sind die entscheidenden vier Charakteristika, die Gebäude von anderen Phänomenen unterscheiden. (Der hier unterbreitete Spezifizierungsvorschlag ist offensichtlich stark von Scrutons Analyse geprägt, wie ihm mein Verständnis der Architekturphilosophie auch grundsätzlich sehr viel verdankt.)29 Natürlich sind zahlreiche Übergänge und Grenzphänomene zu finden, vor allem wenn bei einem Artefakt nur einige der Charakteristika gegeben sind. So sind amerikanische mobile homes Gebäude ohne dauerhaftes Eingebettetsein, während eine Raumstation ebenfalls ein höchst komplexer Wohnort ist, der aber weder eingebettet noch öffentlich ist und kaum einen genuin künstlerischen Anspruch erhebt. Oder man denke an die Berliner Siegessäule, die öffentlich, eingebettet und auch komplex ist – allerdings gehört zu ihrer Komplexität (trotz der Wendeltreppe im Innern) nicht die Nutzbarkeit im typischen Sinne eines Hauses. Man wird sie daher wohl eher als Kunstwerk denn als Haus betrachten. Aber trotz solcher Unschärfen erlauben die vier Charakteristika einen eigenen Phänomenbereich mit ihm eigenen Fragen für die Philosophie herauszustellen. Zu dem Phänomenbereich Gebäude kann man allerdings im weiteren Sinne auch all das rechnen, was eng zu Gebäuden gehört (als zeitlichen, von Menschen erschaffenen Artefakten). Deswegen sind Baupläne und Entwürfe (realisierte wie unverwirklichte) ebenso wie der Bauprozess Gegenstand der Architekturphilo­sophie – wie auch die Veränderungen von Gebäuden über die Zeit, von Umbauten bis zum Abriss (die Sprengung von Pruitt Igoe kann ein architekturphilosophisches Thema sein). Im weiteren Sinne gehört zu Gebäuden schließlich, wie wir sie erleben; ebenso wie die allgemeine Ästhetik den Blick vom Kunstwerk zur Rezeption erweiterte, so fragt auch die Architekturphilosophie, ob es eine bestimmte Weise gibt, Gebäude wahrzunehmen – und ob sich das von der Wahrnehmung anderer Kunstformen relevant unterscheidet (sofern man Architektur überhaupt als Kunst betrachtet, was innerhalb der Architekturphilosophie nicht unumstritten ist).

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Allerdings ist diese Erweiterung mit Vorsicht vorzunehmen: Auch wenn das Hervorbringen, Entwerfen und Bauen auf der einen und das Erleben auf der anderen Seite zweifellos in enger Beziehung zu Gebäuden stehen, sind diese Tätigkeiten nicht in jedem Fall hinreichend klar vom Hervorbringen oder Erleben anderer Artefakte unterscheidbar. Hier ist die Grenzziehung ungleich schwieriger als bei der Grenzziehung zwischen Gebäuden und anderen Artefakten. Oder sollte man den Gegenstandsbereich weiter einschränken? Man könnte geneigt sein, Pevsners klassischer Unterscheidung zu folgen, nach der ein Fahrradschuppen nur ein Gebäude („a building“) ist, die Kathedrale von Lincoln dagegen Architektur („architecture“).30 Sollte man nicht in diesem Sinne den Gegenstandsbereich der Architekturphilosophie auf das Besondere, die gelungene und bedeutende Architektur beschränken? Das scheint jedoch deswegen problematisch, weil eine solche qualitative Abgrenzung selbst eine Aufgabe der Architekturphilo­ sophie ist (wenn man ihr eine wertende Kompetenz zutraut). Wenn sie aber als Architekturphilosophie nach der Qualität des Fahrradschuppens fragt, dann gehört dieser bereits zu ihrem Gegenstandsbereich, selbst wenn die Architekturphilosophie ihm schließlich jede künstlerische Qualität abspricht. Daher scheint es sinnvoller, alle Gebäude zu ihrem Gegenstandsbereich zu zählen, welche die vier Charakteristika aufweisen. Es wäre dann eine anschließende Aufgabe der Architekturphilosophie, qualitative Unterschiede festzustellen. Der Phänomenbereich Gebäude darf in großzügiger Weite berücksichtigt werden, sollte aber der diese Bereichsphilosophie charakterisierende Gegenstand bleiben. Die Architekturphilosophie verlöre ihren spezifischen Charakter, wenn sie etwa den Menschen und sein Behaust- oder Unbehaustsein ins Zentrum stellte (dann würde die Architekturphilosophie in Anthropologie übergehen), oder den Architekten und sein Verhalten (die meisten Aspekte seines Verhaltens werden von anderen Disziplinen wie Handlungstheorie oder der allgemeinen Ethik abgedeckt). Ein weiterer Gegenstandsbereich sollte allerdings ebenfalls zur Architekturphilosophie gezählt werden, nämlich die Architekturphilosophie selbst. Da die Philosophie immer auch bedenken muss, was sie eigentlich tut, wie sie vorgeht und was sie erreichen kann, also, wie oben gesagt, selbstreflexiv ist, so wird auch die Archi-

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tekturphilosophie vor dieser Aufgabe stehen. Sie muss immer wieder innehalten und sich fragen, was ihr eigentliches Anliegen und Vorgehen ist. (Es ist genau dieser Bereich auch das Thema des vorliegenden Beitrags zur Architekturphilosophie.) Der Denkstil Descartes’ als Ideal der Architekturphilosophie

Nähern wir uns dem angemessenen Denkstil über die oben vorgeschlagene Differenzierung der Frage, indem wir zunächst klären, welche konkreten Fragen die Architekturphilosophie stellt, wenn sie nun vorrangig Gebäude als ihren Gegenstand wählt. Was lässt sich hier philosophisch sinnvoll fragen? Die offensichtliche Antwort ist, dass die Architekturphilosophie nach fast allem fragen kann, was sie auch sonst beschäftigt. Es geht schließlich nicht um eine (eingeschränkte) Architekturethik, Architekturästhetik oder Architekturontologie, sondern um eine im besten Sinne philo­sophische Annäherung, die deswegen auch das Merkmal der Universalität besitzt. Wenn wir die vier genannten Charakteristika von Gebäuden als Orientierung nehmen, dann lassen sich die philosophischen Fragen auch etwas bündeln: Fokussieren wir auf die Komplexität, dann geht es vor allem um Epistemologie und Ontologie. Denn die besondere Komplexität von Bauwerken ist durchaus auch eine epistemische: Wie lassen sich die verschiedenen Anforderungen an ein Bauwerk erkennen und wie feststellen, in welcher Weise es auf diese Anforderungen reagiert? Was unmittelbar mit einem ontologischen Problem verbunden ist: In welcher Weise findet die „Antwort“ eines Bauwerks (als die spezifische Vermittlung zwischen den unterschiedlichen Anforderungen) in der konkreten Baugestalt Ausdruck? Wie verbinden sich zum Beispiel quantitative Auflagen (etwa der Statik) mit qualitativen Bedürfnissen (zum Beispiel nach behaglichen Räumen)? Jedes Bauwerk ist darauf eine steinerne Antwort. Das Charakteristikum der Öffentlichkeit verweist vor allem auf die anthropologische, soziale und moralische Dimension von Gebäuden. Wir können Gebäuden nun mal nicht entgehen, sie haben einen Einfluss auf uns und gestalten unseren menschlichen Lebensraum. Gerade deswegen sind sie auch ethisch relevant, was die Architekturphilosophie reflektieren muss. Denn auf der einen Seite gibt das den Erbauern, den Architekten und Bauherren eine Verantwortung dafür, wie sie durch Gebäude Menschen beein-

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flussen. (Nicht zuletzt deswegen haben sich immer wieder Architekten berufen gefühlt, durch ein neues Bauen bessere Menschen zu formen (mit vielfach furchtbaren Folgen): „Es ging darum, in einer neuen Art und Weise Architektur zu machen, um eine andere Welt zu schaffen“).31 Auf der anderen Seite könnten wir ohne Gebäude gar nicht sein, wodurch sie gleichsam zur Bedingung der Möglichkeit jeder Ethik werden: „Die Fragen nach dem guten Leben, und damit das Nachdenken über Moral und Ethik sind als Bedingung ihrer Möglichkeit auf Architektur angewiesen.“32 Die Architekturphilosophie könnte hier durchaus Ideale des guten Bauens, beziehungsweise von Gebäuden beschreiben, also von solchen, die gut sind für Menschen.33 (Aber solche Ideale werden allgemeiner als bei der Architekturtheorie sein und aufwendiger begründet sein müssen, jedenfalls solange man am Verständnis der Philosophie als vernunftgelenktes Erkenntnisstreben festhält.) Das Eingebettetsein der Gebäude in größere Zusammenhänge berührt (umwelt-)ethische wie ästhetische Fragen. Der weitere Einbettungsrahmen ist ja die belebte Natur, die in besonderer Intensität von menschlichen Bauaktivitäten betroffen ist.34 Von Hei­degger inspiriert lässt sich hier etwa darüber nachdenken, inwieweit der Bau eine Einbettung des Menschen beziehungsweise eine Beziehung zur „Erde“ herstellt oder sich gegen diese, das heißt, die Natur richtet. Der engere Einbettungsrahmen ist die konkrete bauliche, meist städtebauliche Situation. Hier stellen sich ästhe­tische Fragen (wie sie dann natürlich im vierten Charakteristikum, dem künstlerischen Anspruch, ganz im Zentrum stehen): Scruton betont das Eingebettetsein in eine stilistische Tradition und jüngst hat Warwick Fox gefordert, dass Bauwerke nicht nur in sich stimmig sein, sondern sich zugleich ästhetisch in ihre jeweilige Umgebung lebendig einpassen sollen (er spricht von responsive cohesion, was bei ihm allerdings über die reine Ästhetik hinausgeht). 35 Mit dem künstlerischen Anspruch werden dann alle großen Fragen der Ästhetik aufgeworfen: Inwiefern können Bauwerke Kunstwerke sein? Was ist Träger eines (eventuellen) künstlerischen Anspruchs? Gibt es besondere Weisen der ästhetischen Wahrnehmung von Gebäuden? Was ist ein ästhetisch gelungenes Gebäude? Und so weiter. Es kommen also große Teildisziplinen der Philo­ sophie, von der Epistemologie bis zur Ästhetik, innerhalb der Architekturphilosophie zu Wort und tragen Wichtiges bei.

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Wenn es zutrifft, dass die Architekturphilosophie in diesem umfassenden Sinne fragen kann, dann wird dies auch für ihr Ziel entscheidend sein: Es ist dort erreicht, wo Gebäude in komplexer und umfassender Weise verstanden und bewertet werden können, wenn wir also Antworten auf die vielen Fragen finden, die wir an sie richten und die Antworten zu einem Ganzen zusammenfügen können. Traut man der Architekturphilo­sophie auch eine normative Kompetenz zu, so muss sie auch wohlbegründete Urteile darüber fällen können, was eine gute und gelungene Architektur ist und wie wir bauen sollten. (Also nicht nur, was die „Not des Wohnens“ ist, so es eine gibt, sondern mit welchen Gebäuden man sie beheben sollte.) Wir sind also am Ziel, wenn wir umfassend wissen, was ein Gebäude ist und was es sein soll. Es war bereits angeklungen, dass wenig für eine Pluralität der „Architekturphilosophien“ spricht. Wie auch sollte ein unüberbrückbares Nebeneinander des Unvereinbaren das letzte philosophische Ziel sein? Dagegen spricht schon ganz praktisch, dass dann Gespräche zwischen Philosophen unterschiedlicher Schulen eigentlich keinen tieferen Sinn hätten. Ein wirkliches Gespräch setzt ein Verstehen, und ein Verstehen eine Übersetzbarkeit voraus. Grundsätzlich wäre dieses plurale Verständnis von Ratio­ nalität widersinnig. Kein vernunftgelenktes Erkenntnisstreben kann sich wirklich mit unvermittelt gegeneinander stehenden Einsichten begnügen. Für das Denken gibt es nicht viele „Wahrheiten“, sondern nur eine. Das gilt auf der Ebene der Einzelwissenschaften, wie etwa der Physik, die gerade deswegen unbeirrt nach jener Grand Unified Theory oder sogar einer Theory of Everything sucht, welche die bekannten Grundkräfte vereinigt. Und das gilt für jede interdisziplinäre Arbeit, welche die Einsichten verschiedener Teilbereiche zusammendenkt (wie die synthetische Theorie der Evolutionsbiologie unter anderem Genetik, Embryologie und Tiergeographie zusammenführen will). Und dies ist auch das Ideal der Philosophie als Metawissenschaft: Sollte sie unterschiedliche Einsichten haben, die einander zu widersprechen scheinen, dann muss sie immer wieder versuchen, diese konsistent zu einer „Grand Philosophical Theory of Buildings“ miteinander zu verbinden.36 Ob dieses Ziel je ganz erreicht werden kann, ist freilich zweifelhaft. Wir hatten bereits die Einwände dagegen erwähnt, dass die Philosophie dieses Vorhaben irgendwann wird komplettieren können. Das gilt zweifellos auch für die Architekturphilo-

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sophie, nicht zuletzt weil ihr Gegenstand sich dynamisch verändert. Die Menschheit wird wohl immer künstlerisch und technisch weiterschreiten, neue Bauformen erdenken und kreativ gestalten. Die Architekturphilosophie müsste, um abgeschlossen zu sein, nicht nur alles bereits Bestehende erfassen, sondern auch das erst Kommende antizipieren können. Wie sollte das gelingen? Mehr soll hier nicht zum Ziel gesagt werden, auch wenn die wenigen Worte offensichtlich nicht genügen, Kritiker einer Einheitsvision des Denkens zu überzeugen. (Logozentrismus! werden viele entrüstet ausrufen, alles nur die wahnhafte Anmaßung einer bald restlos überwundenen Philosophie.) Das angemessene Verständnis der Philosophie ist eben eines der fundamentalsten Probleme der (wie oben gesagt: selbstreflexiven) Philosophie, an der sich buchstäblich die Geister scheiden. Hier in wenigen Absätzen eine Klärung zu erhoffen, ist unmöglich. Folgen wir daher am besten Kants Weisheit, der angesichts alternativer Philosophiekonzeptionen darauf vertraute, schließlich an die Reihe zu kommen, „zuletzt und so auch am besten zu lachen“. Irgendwann würden die alternativen Konzeptionen „nacheinander einstürzen und alle Anhänger derselben sich verlaufen.“37 Dieser „Probierstein“ Kants ist mehr als nur ein Bonmot, sondern trifft ins Zentrum: Die Richtigkeit des großen Ziels der Vernunftphilosophie mit ihrem Universalitätsanspruch wird sich gerade daran zeigen, ob sie sich langfristig ihrem Ziel tatsächlich nähert und mehr und mehr vernünftig erklären kann. Wenden wir den Blick nun ein Stück weiter und schauen auf den Weg, auf dem die Architekturphilosophie sich ihrem Ziel nähern könnte. Um diese Frage zu beantworten, sollten wir drei Schritte unterscheiden, die konstitutiv für das Erreichen des Ziels sind und sich vielleicht am besten mit (i) Wahrnehmen, (ii) Bedenken und (iii) Zusammenführung und Ausweitung bezeichnen lassen. Der erste Schritt ist es, Gebäude ganz genau wahrzunehmen. Die Architekturphilosophin wie der Architekturphilosoph muss seinen Gegenstand kennen, also Bauwerke genau anschauen, begehen, mit allen Sinnen erfahren. Zu der Wahrnehmung des Phänomens gehört aber auch, die Ergebnisse derjenigen Wissenschaften und Techniken zur Kenntnis zu nehmen, die sich mit Gebäuden beschäftigen, also etwa der Umweltpsychologie, Anthropologie, Soziologie (Architektursoziologie, Stadtsoziologie)

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oder der Kunst- und technischen Wissenschaften. Ein erweitertes Wissen kann helfen, mehr und besser wahrzunehmen. Harries spricht einmal treffend von dem „informed engagement with particular works of architecture“, das eine Architekturphilosophie erst zum Leben bringt.38 Im zweiten Schritt geht es um ein Bedenken beziehungsweise Reflektieren des Wahrgenommenen. Es muss das Relevante vom Nebensächlichen unterschieden und das Aufgenommene philosophisch bewertet werden, also vor allem ethisch und ästhetisch. Auch hierbei werden die Einsichten anderer Wissenschaften von großer Bedeutung sein. Hat man etwa das Fenster eines Gebäudes genau erfasst, so lässt sich ein ästhetisches Urteil fällen (stimmen seine Proportionen?) Auf die Wahrnehmung eines Fensters und dessen, was man durch es sieht, folgt zum Beispiel dessen ästhetische oder ethische Bewertung. Auch hier werden die Ergebnisse anderer Wissenschaften eine Rolle spielen: Von der Umweltpsychologie ist etwa zu lernen, welche Ausblicke aus Fenstern für das körperliche und seelische Wohlbefinden von Bedeutung sein können, und die Soziologie kann vielleicht ergänzen, was daran kulturspezifisch ist. Solche Erkenntnisse wird man berücksichtigen müssen, wenn man dann ein konkretes Fenster eines Gebäudes genauer bedenkt und bewertet.39 Hier tritt eine ethische Forderung, nämlich dass man dem Menschen eine Umgebung bereiten sollte, in der er gut wohnen kann (eine Heimat finden, würde Hei­degger sagen), zu einem Wissen um die dafür notwendigen Voraussetzungen, und erlaubt so ein konkretes Urteil über einen Aspekt des Gebäudes. So sollen im zweiten Schritt die Wahrnehmungsergebnisse des ersten philosophisch bedacht werden und zu einem tieferen Verstehen von Gebäuden, zu ihrer Einordnung in Zusammenhänge (anthropologische, soziale, geschichtliche, politische etc.) und zu ihrer Bewertung beitragen. Der letzte Schritt ist die Zusammenführung der Einzeleinsichten des zweiten Schritts. Das ganze Gebäude sollte als Einheit erfasst und die zunächst noch unverbundenen Erkenntnisse miteinander verbunden werden. Wie treffen zum Beispiel Anforderungen technischer, ethischer und ästhetischer Art zusammen, wird ein Ausgleich gefunden oder gibt es innere Brüche (wie sie etwa in Rays Architecture and Its Dilemmata diskutiert werden)?40 Oder wie werden die Leitgedanken einer Zeit (etwa Betonung der Autonomie und sozialer Gleichheit) in einem Gebäude ausge-

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drückt und vermittelt? So steht am Ende ein philosophischer Text zu einem Gebäude oder einer Gebäudegruppe, der diese „auf den Begriff“ bringt, wie es Hegel nennen würde. Sie werden dadurch im Idealfall umfassend verstanden und erklärt, zugleich aber auch als Einheit qualitativ bewertet. (Während die Bewertungen des zweiten Schrittes einzelne Aspekte betreffen, etwa die ethische Qualität eines Gebäudes, wird jetzt eine Gesamtwertung als gutes oder schlechtes Gebäude möglich sein.) In verschiedener Weise kann dann im dritten Schritt über das konkrete Gebäude noch hinausgegangen werden und es zu einer Ausweitung der Ergebnisse kommen. So lässt sich philosophisch bedenken, warum wir auf das Gebäude in bestimmter Weise reagieren, es können allgemeine Typen von Gebäuden beschrieben werden oder die gewonnenen Qualitätsurteile können als Maßstab für kommende Gebäude formuliert werden. Was ist nun der Denkstil, also die philosophische Methode der Architekturphilosophie bei ihrem Vorgehen? Bezüglich der Wahrnehmung des Gebäudes wird es auf das genaue Hinsehen, also einen geschulten Blick ankommen, um die Fülle der Erscheinungen intelligibel zu machen, Details wahrzunehmen und Wichtiges von Unwichtigem, Typisches von Nebensächlichem zu unterscheiden. Insofern die Phänomenologie versucht hat, einen solchen Blick zu schulen, dürfte sie für die Methode inspirierend sein41 (selbst wenn man feststellen muss, dass manche Phänomenologen mehr in ihre Gegenstände hinein statt herausgelesen haben). Aber auch von Architekturtheoretikern und Kunstgeschichtlern ist hier zu lernen, die oft eine besondere Sorgfalt im Wahrnehmen ihrer Objekte entwickelt haben (Hans Sedlmayrs Untersuchungen der gotischen Kathedrale scheinen mir ein Beispiel wirklich gelungener Architekturbeobachtung; aus jüngerer Zeit sind beispielsweise die Arbeiten von Ray, etwa zu Aalto, vorbildlich.)42 In einer Buchkritik hat Harries einmal in prägnanter Weise Kriterien der Beobachtung skizziert, die als ausgezeichnete Charakterisierung der Methode dienen können. Bei dem zweiten und dritten Schritt wird vor allem argumentative Kraft und innere Schlüssigkeit gefragt sein. Nur so kann eine Architekturphilosophie zu intersubjektiv kontrollierbaren Ergebnissen gelangen – denn allgemein überzeugen können eben nur gute Begründungen. Deswegen sind offenbarungsartig vorgetragene Annahmen (wie vor allem beim späten Heidegger), Verweise auf Intuitionen (wie beim späten Christopher Alex-

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ander) oder die Berufung auf Gefühle (wie bei Gernot Böhme) kein guter Weg der Architekturphilosophie. Der architekturphilosophische Denkstil sollte den Forderungen nach Klarheit genügen, also auch für jeden nachvollziehbare Begründungen suchen (oder, um nichts Utopisches zu fordern, wenigstens für alle nachvollziehbar, die überhaupt bereit und in der Lage sind, sich auf Argumente einzulassen). Dazu gehört auch, dass die Architekturphilosophie ihre Grundbegriffe und Kategorien so präzise wie möglich reflektiert und fundiert (was deswegen auch in diesem Beitrag versucht wurde). Bei einem solchen Vorgehen ist vor allem von der analytischen Philosophie zu lernen. (Dabei sollte man freilich nicht die einseitige Fokussierung auf Sprachanalyse übernehmen, weil für die Architekturphilosophie Gebäude und nicht unser Sprechen über sie im Zentrum stehen.) Bei den notorisch schwierigen Begründungsfragen, die sich für jede normative Philosophie stellen, kann die Architekturphilo­sophie weitgehend die Einsichten der Ethik beziehungsweise Ästhetik allgemein übernehmen; es ist kaum Aufgabe einer Bereichsphilosophie, derart grundlegende Probleme zu lösen. Einzig wenn es spezifische Kriterien gelungener Architektur oder besondere moralische Forderungen an Gebäude geben sollte, die noch nicht von der allgemeinen Ethik oder Ästhetik behandelt werden, wird sich die Begründungsfrage als eigene Aufgabe der Architekturphilosophie stellen. Methodisch scheint mir bei solchen Fragen dann die Transzendentalphilosophie am vielversprechendsten, da sie ohne dogmatische Ausgangspunkte auszukommen versucht.43 (Denn sie fragt nach Voraussetzungen, die die Vernunft selbst hat, um „vernünftig“ zu sein, und kommt so zu Prinzipien, die nicht mehr ohne einen Selbstwiderspruch der Vernunft bestritten werden können und deren Gültigkeit deswegen vernünftigerweise anzunehmen ist.) Diesen wenigen Bemerkungen zum Denkstil der Architekturphilosophie wird man vorwerfen können, dass sie nur den zu überzeugen vermögen, der bereits einen stark vernunftorientierten Begriff der Philosophie voraussetzt. Das ist in der Tat so: Selbstverständlich ergibt sich der angemessene Denkstil aus dem Philosophieverständnis; denn mit einer Methode soll ja jeweils ein bestimmter Typ von Einsichten erreicht werden. Und doch ist die hier gemachte Voraussetzung eines Ideals der Philosophie, das auf Begründungen und Argumenten ruht, nicht willkürlich sondern letztlich alternativlos. Denn wollte man stattdessen einen

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anderen Begriff der Philosophie stark machen, der auf Intuitionen, phänomeno­logischer Wesensschau oder genealogischem Vorgehen beruht und nicht alles dem Begündungsideal unterstellt, so müsste man ohne Selbstwiderspruch (!) zeigen können, warum dieser andere Begriff vernünftiger, also besser begründet ist als der hier vorgeschlagene. Womit man sich aber eben doch, indem man dies argumentativ zeigen will, dem Ideal der Begründung verschrieben hat. Es bietet sich an, hier programmatisch vom cartesischen Philosophieverständnis und dem „Denkstil Descartes“ zu sprechen, um der Methode einen Namen zu geben. Denn Descartes steht paradigmatisch für eine Philosophie, die höchste Begründungsansprüche stellt44 und sich dabei ganz auf unser Vermögen zum vernünftigen Denken und Schlußfolgern stützen will. Und hinter die Anerkennung dieses entscheidenden Vermögens können wir nicht ohne Selbstwiderspruch zurück: „[…] the point is that Descartes reveals that there are some thoughts which we cannot get outside of.“45 Klarheit und Schönheit als Ideal des Ausdrucks Wir hatten oben

zwischen dem Denkstil und dem Ausdrucksstil der Architekturphilosophie unterschieden, so dass sich nun die Frage nach der angemessenen Weise anschließt, wie sich die Architekturphilo­sophie präsentieren sollte. Und in enger Verbindung damit steht die zweite Frage: An wen richtet sie sich? (Als selbstreflexives Denken muss sich die Architekturphilosophie stets bewusst sein, an wen sie sich wendet und wie sie dies tun sollte.) Diese zweite Frage ist die Basis, auf der die erste beantwortet werden kann: Zu wem wir sprechen ist entscheidend dafür, wie wir uns ausdrücken müssen. Nun wird man nach den obigen Überlegungen zum Sinn und Ziel der Architekturphilosophie zwei recht unterschiedliche Adressatenkreise benennen können, je nachdem ob das Erfassen oder Bewerten der Architektur im Zentrum steht. Wenn es nur darum zu tun ist, das Phänomen Gebäude philosophisch zu begreifen und etwa als Ausdruck einer Zeit unter anderen Artefakten einzuordnen, so richten sich architekturphilosophische Texte an Philosophen. Da ‚Philosoph‘ glücklicherweise keine gesetzlich geschützte Berufsbezeichnung ist, schließt dieser Adressatenkreis jeden ein, der sich für ein tieferes Verstehen der Wirklichkeit ernsthaft interessiert und gewisse Grundkenntnisse besitzt. Für diesen Adressatenkreis dürfen Texte anspruchsvoll und dicht geschrieben sein,

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auch wenn die Verständlichkeit und Klarheit der Gedankenführung natürlich auch hier die höchste Tugend des Schreibens sein sollte. Percy Brand Blanshard hat in einem schönen Essay zum Stil in der Philosophie bemerkt, dass der Leser eines philosophischen Textes erwarten dürfe, diesen zu verstehen, gerade weil die Philosophie Themen behandle, die für ihn von größter Relevanz sind.46 Steht aber das Bewerten im starken Sinne im Zentrum, versucht die Architekturphilosophie nicht nur zu Urteilen darüber zu kommen, was gute Architektur ist, sondern sogar wie (in Zukunft) gebaut werden sollte, so muss sie sich an die dafür Verantwort­ lichen richten: An Architekten, Bauherren, Politiker, Stadtplaner oder andere, die am umfangreichen Werden eines Gebäudes beteiligt sind. Denn eine Aufforderung, ein moralischer oder ästhetischer Imperativ, ist nur dann vernünftig, wenn er auch die anspricht, die ihn umsetzen können. (Etwas zugleich vorzuschreiben ohne dafür Sorge zu tragen, dass es überhaupt verstanden werden kann, würde einem kafkaesken Gesetz gleichen, das in tiefer Sinnlosigkeit etwas befiehlt, ohne zu sagen, was dessen Inhalt ist.) Sind die beim Bau Beteiligten die Adressaten, dann muss es daher ein hohes Selbstgebot der Architekturphilosophie sein, einen auch für Laien verständlichen Stil des Ausdruck zu finden. Das heißt: Verständlichkeit und Klarheit sind in diesem Falle nicht nur Tugenden (wie bei Texten, die sich an Philosophen oder an Philosophie­ interessierte richten), sondern werden zur Pflicht der Philosophie gegen sich selbst. Was jedoch nicht, wie Stefan Koller argwöhnt, der Architekturphilosophie nahelegt, hemmungslos populistisch zu werden und „alle rhetorischen Register zu ziehen“ um ihre normativen Ideale bei den Verantwortlichen durchzusetzen.47 Denn als Philosophie bleibt die Architekturphilosophie grundsätzlich dem Ideal der Argumente und zugleich den vernunftethischen Geboten im Umgang mit anderen verpflichtet – wozu eben ein respektvoller, die Freiheit des Anderen achtender Umgang gehört. (Was nicht ausschließt, dass der Architekturphilosoph als Bürger in politischen Debatten mit den Regeln politischer Rede für seine bau­ lichen Anliegen eintritt, so wie etwa Scruton in seinen aktuellen Beiträgen zur Gegenwartsarchitektur.) Die Architekturphilosophie kann sich so beim Ausdrucksstil vielleicht am Stil gelungener Bauwerke orientieren. Ein gutes Gebäude vermag es, eine ausgezeichnete Funktionalität mit einer ansprechenden ästhetischen Form zu verbinden. Die schöne Gestalt

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ist dann nicht nur Dekor, sondern selbst Ausdruck der Funktion und trägt zu dieser Funktion sinnvoll bei.48 Eine gute Architekturphilosophie verbindet auf ihre andere, sprachliche Weise ihre Funktion als Text (nämlich richtige Einsichten zu vermitteln) mit der Schönheit des Ausdrucks. So trägt der Ausdrucksstil auch hier zur Funktion bei, indem er die Einsichten verständlich und anziehend macht. An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen Es mag seltsam anmuten, dass dieser architekturphilosophische Beitrag, in dem für konkrete Gebäude als zentraler Gegenstand der Architekturphilosophie plädiert wird, selbst ganz ohne Gebäude auskommt. Ist der Text also an seinen eigenen Maßstäben gescheitert? Nein, denn sein Gegenstand war die Architekturphilosophie selbst, nicht Gebäude – er ist damit Ausdruck jener besonderen Aufgabe allen Philo­ sophierens, immer auch über das eigene Tun nachzudenken. Es ist also eine architekturphilosophische Selbstreflexion, in der für einen bestimmten Denkstil argumentiert wurde – so wenigstens der Anspruch. Kann das Ergebnis überzeugen? Aus dem Gesagten ergibt sich, dass wir zweierlei Maßstäbe haben, um über den angemessenen Stil der Architekturphilosophie zu urteilen. Erstens muss die Architekturphilosophie sich als Teilgebiet der Philosophie erweisen, also im Einklang mit dem stehen, was die Philosophie sonst tut, mit ihren Zielen und Methoden. Zu erkunden, was das genau heißt und was es für die Architekturphilosophie bedeutet, war zentrales Anliegen meines Beitrags – es ging mir darum zu zeigen, dass die Architekturphilosophie das rationale Erklärungsideal der Philo­ sophie im Stile Descartes auf den besonderen Gegenstand Gebäude anwenden sollte. Zweitens muss die Architekturphilosophie unter Beweis stellen, dass ihr die Erklärung von konkreten Gebäuden auch tatsächlich gelingt. Für diese zweite Tauglichkeitsprüfung habe ich argumentiert, sie aber hier noch nicht geleistet. Sie wäre die sich anschließende Aufgabe. Oben wurde argumentiert, dass man bei dem Anlegen des ersten Maßstabes (Ist der vorgeschlagene Typ von Architekturphilosophie im Einklang mit der Philosophie allgemein?) vor dem Problem steht, dass sich jedes Philosophieverständnis seine eigene Architekturphilosophie wählen dürfte, so dass man sich schnell im Kreis bewegt. Ein Abwägen zwischen dem rechten Verständnis der Philosophie berührt außerdem so grundsätzliche Fragen, dass

Christian Illies – In welchem Style sollen wir philosophieren

wir hier kaum auf eine Einigung unter Philo­sophinnen und Philosophen hoffen können (Mit Kant bleibt wohl nur, auf das letzte Lachen zu warten.). Aber der zweite Maßstab (nämlich: Taugt der vorgeschlagene Typ von Architekturphilo­sophie für das überzeugende Erklären von Gebäuden?) könnte vielleicht bei der Suche nach der rechten Architekturphilosophie von Nutzen sein. Denkbar wäre, auf diese Weise die Erklärungskraft rivalisierender Typen von Architekturphilosophie zu erkunden. Statt also über theore­ tische Konzepte zu streiten, ließe sich ein Wettstreit der philo­ sophischen Deutungen und Beurteilungen eines Bauwerks vorstellen. Vor allem, wenn man dieselben Gebäude mit unterschiedlichen Denkstilen betrachtete, könnte man die unterschiedlichen Ergebnisse nebeneinander stellen. Welchem philo­sophischen Herangehen gelingt es, überzeugender über das Gebäude etwas zu sagen, an ihm etwas zu erkennen? Als Modell könnte die legendäre Kontroverse dienen, die Emil Staiger und Martin Heidegger über die rechte Deutung eines Gedichtes vom Eduard Mörike führten, genauer: Über die letzte Zeile dieses Gedichtes.49 In ähnlicher Weise wäre denkbar, einen Wettstreit der Philosophieauffassungen über die rechte Deutung eines Hauses durchzuführen. Es müsste dann verglichen werden, welcher Denkstil überzeugender für seine Ergebnisse argumentieren kann und welche Texte sich im Wettstreit der kritischen Lektüre und Auseinandersetzung als langfristig robust und weiterführend erweisen. Auch die Integrationskraft der Denkstile sollte dabei auf dem Prüfstein stehen: Ein Denkstil, der grundsätzlich in der Lage ist, die (guten) Einsichten und Ergebnisse eines anderen Stils zu würdigen und mit den eigenen sinnvoll zu vermitteln oder zu integrieren, dürfte vielversprechender sein als eine Herangehensweise, die Gebäude nur aus einer Perspektive erfasst und andere Dimensionen ausblendet. Mit anderen Worten: Die Architekturphilosophie blüht, aber wir sollten ihre Früchte abwarten.

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Petra Lohmann

Konzepte des Selbstbewusstseins in Architekturtheorie und Philosophie. Die Fichte-Rezeption des frühen Schinkel Karl Friedrich Schinkel ist Zeit seines Lebens ein philo­ sophisch höchst ambitionierter Architekt gewesen. Davon zeugen die theoretischen Fragmente seines unveröffentlicht gebliebenen Architektonischen Lehrbuchs. Das Spektrum der darin enthaltenen und vornehmlich der Aufklärung, dem Deutschen Idealismus und der Romantik entlehnten Reminiszenzen an die Philosophie ist zwar groß, da aber Schinkel in seinen Fragmenten keine Quellen angibt, muss man Paul Ortwin Rave zufolge schon ein guter „Kenner der Philosophiegeschichte“1 sein, um diese zu entschlüsseln. Mit dem entsprechenden philosophiegeschichtlichen Hintergrundwissen lassen sich insbesondere beim frühen Schinkel Gedanken Immanuel Kants, Johann Gottfried von Herders, Friedrich Wilhelm Joseph Schellings, Friedrich Schillers, Karl Wilhelm Ferdinand Solgers und Johann Gottlieb Fichtes erkennen. Von diesen Philosophen nimmt Fichte für Schinkel eine Sonderstellung ein. Mit Fichte bezieht er sich auf einen der prominentesten zeitgenössischen Philosophen, der nach dem sogenannten Atheismusstreit2 1799 nach Berlin kam und dessen öffentliche Vorlesungen laut Schelling von epochaler Wirkung waren.3 Den frühen Schinkel interessiert an Fichte vor allem dessen Bestimmung des Selbstbewusstseins. Damit widmet er sich einem „philosophische[n] Problem“, das nach Manfred Frank „seine Bedeutung nicht unter Beweis zu stellen hat“, denn René Descartes’ Satz „ego cogito“, in dem dieses Problem erstmals formuliert wurde, „drück[t] eine unerschütterliche [...] fundamentale erkenntnistheoretische und ontologische Wahrheit aus, auf die sich alle weiteren Wissensansprüche gründen lassen. In dieser IntuI.

Petra Lohmann – Konzepte des Selbstbewusstseins

ition sind ihm Leibniz, Wolff, Kant, Reinhold“ und in ganz besonderer Weise „Fichte [...] gefolgt.“4 Die Zeitgenossen beeindruckte an Fichte vor allem die „von keinen Zweifeln gebrochene Radikalität“5 seines philosophischen Denkens, mit dem er in der „Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre“6 (1794) seine Theorie des Selbstbewusstseins entwickelte. Dessen „Grundkonstitution ist, dies war Fichtes geniale Einsicht, ineins eine solche des Seins und der Freiheit“. Kant ausgenommen, hatten Reinhard Lauth zufolge „alle Philosophen vor“ Fichte „das Ich als ein [gegebenes] Seiendes angesehen.“ Erst Fichte „erkannte, dass die Vernunft nur im freien Vollzuge ihrer selbst [ist ...], wodurch sie sich erst ein Sein gibt“ und „daß sie nur in Lösung [eben dieser] Aufgabe ist. Das Faktum, daß alles Sein nur [als] im Wissen vermittelt erreicht wird, hatte“ schon „Descartes [...] gesehen. [...] Daß dieser geistige Akt jedoch wesensmäßig als Vollzug einer Aufgabe“, – was bei Kant nur als Postulat der prak­ tischen Vernunft gesetzt wird – das heißt „als freie Antwort auf eine Sollensforderung da ist, hat zuerst Fichte eingesehen und dadurch die Freiheit zum Schlußstein“7 der Theorie des Selbstbewusstseins erhoben. Der Nachweis des Einflusses von Fichtes solchermaßen bestimmtem Selbstbewusstseinsbegriff auf Schinkel ist an dem „Grundthema“8 seines Frühwerks, das ist das Verhältnis von Architektur und Natur, das er ursprünglich in seinen Studien zum „Landhaus eines Engländers“ entwickelt hat, darzulegen. Diese Studien fertigte Schinkel auf seiner ersten Italienreise (1803–1805) an und fügte ihnen theoretische Erläuterungen bei. Deren Theoriestatus ist zwar problematisch, weil sie undatiert, eklektisch und fragmentarisch sind, aber in Bezug auf Fichte sind es nahezu wortwörtliche Anleihen, exakte methodische Adaptionen seiner Dialektik sowie eindeutige inhaltliche Übernahmen seiner Theoreme, aus denen hervorgeht, dass sich Schinkel in ausgezeichneter Weise unmittelbar oder vermittelt über die populärphilosophische Bestimmung des Menschen (1800) mit Fichtes Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre und den Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters (1806) auseinandergesetzt hat. Bei seinem praktischen Werk, das ist die Studie, handelt es sich zwar nur um einen Entwurf und nicht um einen realisierten Bau, der Vorteil des Entwurfes liegt allerdings darin, dass er als Ideenarchitektur die philosophische Sub­stanz seiner Theorien besonders gut verdeutlicht.

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Die These, die der Erörterung der Fichte-Rezeption des frühen Schinkel zugrunde liegt, lautet: Schinkels architektonische Bestimmung des Verhältnisses von Architektur und Natur spiegelt seinen Begriff des Individuums und dieser kann als ästhetische Präfiguration von Fichtes Konzeption des Verhältnisses von Vernunft und Sinnenwelt aus der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre verstanden werden, durch das wiederum sein Selbstbewusstseinsbegriff bestimmt ist. Dies soll in zwei Abschnitten und einer Schlussbetrachtung dargestellt werden. Im ersten Abschnitt wird in Rücksicht auf Schinkels Begriff des Individuums die bei ihm im Idealfall kreisförmig zu denkende Verbindung von Architektur und Philosophie rekonstruiert. Den Anfang macht der unmittelbar gegebene „Wahrnehmungsinhalt“ des „Landhauses eines Engländers“, der eine „Aufforderung […] zur ästhetischen Betrachtung“ enthält und „zugleich eine ideelle Aufgabe“9 stellt. Deren Realisierung setzt mit der Analyse der formalen kompositorischen Voraussetzungen dieses Gebäudes hinsichtlich Architektur und Natur an und geht dann dazu über, die Art und Weise, wie Gebäude und Rezipient „zu einer Wertung zusammenwirken“ zu erklären. Voraussetzung ist, dass im Gebäude „etwas Objektives, Ideelles vorhanden“ ist, das den Rezipienten an etwas „Objektives, allgemein Menschliches“10 erinnert. Die solchermaßen angestrebte Einheit zwischen Gebäude und Rezipient verlangt dann nach einer ideellen Wertung durch den Künstlerphilosophen in den genannten Fragmenten, wobei die von ihm anvisierte Idee des Gebäudes ihrerseits in ihrer Rückwirkung auf den Rezipienten von diesem in seiner Lebenswirklichkeit praktisch umzusetzen ist. Im Zustand der ästhetischen Anschauung dient das Gebäude so dem Rezipienten präbewusst als Impuls und Motiv der Selbstbildung gemäß Fichtes Selbstbewusstseinsbegriff. Im zweiten Abschnitt wird die abstrakte Grundlage des fichteschen Selbstbewusstseinsbegriffs skizziert. Dabei geht es um lo­gische Grundsätze der Identität, der Negation und der Limitation, um die Konstruktionsfigur der Selbstbegrenzung, um zentrale Bestimmungsstücke wie Ich und Nicht-Ich sowie um den Vollzug des Selbstbewusstseins, der in der Kultivierung der Selbstbegrenzung nach Vernunftgesetzen besteht. In der Schlussbetrachtung erfolgt eine Zusammenfassung der Analogien und Differenzen zwischen Schinkel und Fichte und ein Ausblick darauf, wie eigenständig

Petra Lohmann – Konzepte des Selbstbewusstseins

Schinkel mit der Philosophie überhaupt und insbesondere mit der Philosophie Fichtes umgeht. II. Am Beispiel der Studien zum Landhaus eines Engländers

lässt sich zeigen, dass Schinkels ästhetischer Visualisierung seines Begriffs vom Individuum zugrunde liegende komposito­ rische Bestimmung des Verhältnisses von Architektur und Natur in Rücksicht dieser beiden Aspekte integrativ ausgerichtet ist. Deutlich wird dies an Hand der Gegenüberstellung von asymmetrischer und symmetrischer Interpretation des genannten Verhältnisses. In ideeller Hinsicht ist in diesem Kontext Schinkels Auffassung von der Architektur als „Symbol des Lebens“11 relevant, mit der er die Funktion der Architektur als Instrument der Kultivierung des Individuums zu einem vernunftgeleiteten Selbstverhältnis verbindet. Bildlich setzt er diese Auffassung mittels eines hierarchisch geprägten Dualismus von Architektur und Natur an. Das philosophische Pendant dazu ist der bei Fichte ganz ähnlich anzusetzende Dualismus von Vernunft und Sinnlichkeit beziehungsweise intelligibler Welt und empirischer Welt. Daran lässt sich, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, eine Analogie zwischen Schinkels Begriff des Individuums und Fichtes transzendentalem Begriff des Selbstbewusstseins aufzeigen. Studien wie die zum Landhaus eines Engländers machen Alfons Uhl zufolge deutlich, dass für Schinkel „die gleichzeitige Wahrnehmung der umgebenden Natur [...] keine geringere Rolle als die Architektur selbst“12 spielt. Schinkels Wertschätzung der Natur wird in einem Brief an den Berliner Verleger Johann Friedrich Unger deutlich: „Auf einer Reise durch das feste Land Italiens und seine Inseln fand ich [...] eine Menge interessanter Werke der Architektur“, die „durch die vorteilhafte Benutzung der Umgebungen der Natur ohne alle Rücksicht der aufgestellten Kunstregeln der Palladio pp characteristischer [sind], als der größte Theil dessen was bei uns produciert wird.“13 Nicht die palladianische Abgrenzung, sondern die wechselseitige Durchdringung von Architektur und Natur stellt für Schinkel die notwendige Voraussetzung eines „begünstigt[en]“ und „paradiesisch[en]“14 Lebens dar. So führt er in den entsprechenden Fragmenten zu den Studien „des einzelnen Mannes bessrer Sinn [an,] der den Genuß häußlichen Glücks unter [...] mannigfaltiger Einwirkung der Schätze seines herrlichen Landes mit dem einkeh-

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renden Kreis jenes Lebens zu vereinigen weiß und erkennt wie viel Vorzug ihm die natur verlieh.“15 Für ihn ist Natur eine wesentliche Voraussetzung eines harmonischen Lebens, weil sie die Grundlage und das Material dafür bereitstellt. Das heißt, er setzt auf die Einheit von Individuum und Natur im Sinne einer Einheit von Architektur und Natur. Diese Einheit entspricht seiner oben zitierten Rede vom Charakteristischen insofern, als dass sich individuelles Leben innerhalb einer Wechselbeziehung von Geist und Körper als Teil der Natur entfaltet, und sich gelungenes Leben durch Architektur nur insofern zu realisieren vermag, als dass diese die sowohl sinnliche wie vernünftige Voraussetzungen erfüllt, die das Individuum durch sich selbst hat. Für die Interpretation des von Schinkel detailliert entwickelten Ineinandergehens von Architektur und Natur ist das Einfließen von Natur in die Architektur einerseits und die Eigenständigkeit der Architektur gegenüber der Natur andererseits zu berücksichtigen. Im ersten Sinn thematisiert er den Eigenwert der Natur, die der Architektur gleichberechtigt gegenübersteht, indem sie ihr die Möglichkeit zur Entfaltung bietet (vergleiche den architekto­ nischen Rekurs auf Wasserfall, Felshang und Grotte). In letzterem Sinn wird dem Rezipienten ein Betrachterstandpunkt angeboten, der ihm sowohl eine wechselseitige Einheit zwischen Architektur und Natur präsentiert, die zwar deutlich macht, dass es ein harmonisches Leben nur in Einheit mit der Natur geben kann (vergleiche Verschachtelung von Architektur und Natur durch Terrassen und Gärten), als aber auch eine Perspektive eröffnet, von der aus sein Blick über die Natur schweift und ihm ein Bewusstsein von der Unterordnung der Natur unter die Architektur und damit mittelbar unter die Vernunft entsteht (vergleiche das hochgelegene, die Gesamtsituation dominierende Wohnhaus als Manifestation einer Vernunftleistung). Vor diesem Hintergrund ist die an der Aussage, die Subordination der Teile deute auf ein vollkom­ meneres 16 Geschöpf, orientierte Integration der Natur in Architektur als vom Künstler gesetzte Einheit Unterschiedener, in der Entgegengesetztes sich wechselseitig durchdringt, so zu verstehen, dass die Architektur, d. h. das Menschenwerk, und damit die Vernunft, zwar Vorrang vor der Natur hat, aber diese Vorrangstellung eben nicht durch sich selbst, sondern nur in und mit der Natur hat. Schinkel formuliert dies als Diktum: „Die höhere Herrschaft über die natur, wodurch der widerstrebenden das majestätische Gepräge

Petra Lohmann – Konzepte des Selbstbewusstseins

der Menschheit als Gattung, das der Idee aufgedrückt wird, diese Herrschaft ist das eigentliche Wesen der schönen Kunst. Sie ist das Werkzeug der Ewigkeit der Ideen“.17 „Die schöne Kunst drückt der widerstrebenden natur das Gepräge der Menschheit als Gattung auf“.18 Die „Nachforschungen“19 zum integrativen Verhältnis von Architektur und Natur münden bei Schinkel in Fragmente Werkchen über das Ideal und die Prinzipien der Baukunst und Vollendung eines Kunstwerks. Diese handeln unter anderem explizit vom Individuum, dessen existentielle Voraussetzungen schon in seiner Beschreibung des geglückten Lebens als Sein in und mit der Natur implizit zum Ausdruck kamen. Architektonische Voraussetzung ist dafür der Gedanke der Einheit, die sich nicht im abstrakten Formprinzip der Symmetrie als reine Identität, sondern im konkreten Formprinzip der Asymmetrie als harmonische Übereinstimmung Entgegengesetzter darstellt. Während die palladianisch-symmetrische Einheit auf die Allgemeinheit bezogen ist, gilt dies für die asymmetrische Ordnung hinsichtlich der Individualität. Denn diese Ordnung garantiert die Einzigartigkeit eines Gegenstandes, indem sie die „größer[e] oder geringer[e] Selbständigkeit von Teilen“20 desselben bedingt. Demnach ist „das relative die individuelle Charakteristik [eines asymmetrisch gestalteten] Gegenstandes“.21 Bei der asymme­ trischen Ordnung sind die „einzelnen Theile einer Bau=Anlage“,22 durch „größer[e] oder geringer[e] Selbständigkeit“23 in Bezug auf das Ganze bestimmt. Durch dieses Verhältnis der Subordination ist das Individuum als empirisches Wesen definiert. Daher drücken für Schinkel „Bauwerke dieser Art das Individuelle einzelner menschlicher Verhältnisse“24 aus. Fichtes Selbstbewusstseinsbegriff hat nichts mit dem durch sozio-kulturelle Variablen normierten faktischen Selbstwertgefühl von Personen zu tun, sondern er hebt vielmehr auf die Bedingung der Möglichkeit von Bewusstsein überhaupt ab.25 Fichte setzt dafür auf der transzendentalen Ebene an. Das heißt Selbstbewusstsein wird nicht aus den empirischen Gegebenheiten abgeleitet, sondern in der Weise der Selbstbegründung entwickelt. Das Prinzip des Selbstbewusstseins ist absolut und unbedingt, das heißt frei von allen kausalen Verhältnissen und deren Notwendigkeiten. Sein Charakter ist Autonomie im Sinne der freiwilligen Unterwerfung unter das Sittengesetz. Erst diese paradoxe Art der transzen-

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dentalen Selbstbegründung ermöglicht es, dass sich Selbstbewusstsein in der Erfahrungswirklichkeit frei von kausalen Zwängen der Empirie selbstbestimmt, das heißt verantwortungsbewusst und aus Pflicht, dem höchsten Gesetz in sich zu gehorchen, entfalten kann. Alle anderen Erklärungsmöglichkeiten disqualifiziert Fichte als deterministisch und fatalistisch. Die Rekonstruktion eines solchermaßen bestimmten Prinzips des Selbstbewusstseins und seiner lebenspraktischen Ausgestaltungen hebt bei Fichte in der dreigliedrigen Grundsatzphilosophie der „Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre“ mit der „Thathandlung“26 des sich selbst konstituierenden absoluten Ich an. Der Sachverhalt der Tathandlung ist im ersten Grundsatz formuliert. Das ist der Satz der Identität: Das Ich setzt sich. Dieses absolute Ich bestimmt Fichte als „Quelle aller Realität“,27 in der alle je möglichen Äußerungen und Qualitäten des Bewusstseins ihren Ursprung haben. Es ist der Real-Grund des Wissens.28 In der Identitätsaussage der Tathandlung fallen Subjekt-Ich und Objekt-Ich ursprünglich zusammen. Soll die Tathandlung jedoch mehr als bloß bewusstseinslose Spontaneität sein, das heißt, soll das Selbstbewusstsein sich auch als solches wissen können, so muss es in sich eine Relation besitzen, die ermöglicht, dass es die mit dem Akt der Tathandlung gegebene Spontaneität als seine Tätigkeit erfahren kann. Letzteres setzt voraus, dass sich das Bewusstsein von ihm äußeren Phänomenen abgrenzt, zu denen es dann in einer Relation steht. Das Aufsuchen der Relation wiederum bedingt zwei Folgesätze. Der erste Folgesatz, das ist der Satz der Negation, besagt, dass dem Ich schlechthin ein Nicht-Ich entgegengesetzt wird.29 Die daraus resultierende Konkurrenz zum ersten Grundsatz ist nur lösbar, wenn über die Entgegensetzung hinaus das Bewusstsein in sich selbst den Widerstreit der Handlungen des ersten und des zweiten Grundsatzes lösen und das heißt für Fichte unter die Einheit des „Ich gleich Ich“ bringen kann. Dafür führt er den zweiten Folgesatz an, in dem das absolute Ich im Ich dem teilbaren Ich ein teilbares Nicht-Ich entgegensetzt.30 Entsprechend diesem Folgesatz ist die Realität als unaufhebbares Miteinander von Subjektivität und Objektivität zu begreifen, wodurch nichts anderes als das empirische Ich markiert ist, das allein über reales Selbstbewusstsein verfügen kann und dessen Aufgabe darin besteht, seine subjektiven und objektiven Konstitutiva in unend­licher Annäherung an das Absolute anzugleichen, wodurch sich das Subjekt in

Petra Lohmann – Konzepte des Selbstbewusstseins

der empirischen Welt qua Kultivierung der äußeren und inneren Natur, das sind Neigungen und Begierden, entsprechend dem Sittengesetz bildet. Eines der Instrumente der Kultivierung ist für Fichte den Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters zufolge die Modifikation der Natur nach Vernunftgesetzen. Dort heißt es: „Der äußere Zweck jener Herrschaft der Gattung über die Natur ist […] ein doppelter: entweder nemlich soll die Natur bloß dem Zwecke unsrer sinnlichen, leichtern, und angenehmern Subsistenz unterworfen werden, – welches die mechanische Kunst giebt; oder sie soll dem höhern geistigen Bedürfnisse des Menschen unterworfen, und ihr das majestätische Gepräge der Idee aufgedrückt werden, – welches die schöne Kunst giebt“.31 Die Ausführungen zeigen, dass Fichte und Schinkel in ihren Bestimmungen des Selbstbewusstseins und des Individuums, insbesondere im Hinblick auf inhaltliche Ausrichtungen und Kon­ struktionsvoraussetzungen weitgehend übereinstimmen. Schinkel entlehnt und „übersetzt“ mit Vernunft und Natur nicht nur grundlegende Begriffe der fichteschen Philosophie, wie Ich und Nicht-Ich, sondern setzt sie entsprechend dem Modifikationstheorem auch in gleichsinnige Konstellationen (Korrelation) zueinander: In Wirkungsverhältnisse (der Kausalität der Vernunft auf die Natur) und Rangverhältnisse (herrschender Vernunft und Freiheit gegenüber Sinnlichkeit und Sinnenwelt). Methodisch ist bei Fichte die Modifikation der Natur nach Vernunftgesetzen mittels limitativer Dialektik angestrebt. Damit verfolgt er die Strategie, die Entgegengesetzten Ich und Nicht-Ich solchermaßen zu vereinigen, dass man von einer vorgegebenen These zu einer Antithese übergeht und beide durch eine ihr übergeordnete Synthese zur Einheit bringt. Dabei folgt der „methodologische Sinn von Dialektik […] dem ontologischen“32 Sinn. Das heißt, der Prozess der Limitation ist so lange durchzuführen, bis man Opponenten erhält, die in der völligen Identität der Thesis Ich = Ich, das ist das vollendete Selbstbewusstsein, übereinstimmen. Er bildet die Grundhandlungen des Selbstbewusstseins in seiner organischen Einheit ab, deren zen­traler struktureller Aspekt die Grenze in Form der Selbstbegrenzung darstellt.33 Diesem Moment der Selbstbegrenzung hat Schinkel mittels der Kompositionsfigur der Integration und dem Kompositionsprinzip der Asymmetrie ein Bild gegeben. Damit wurde einerseits der fichtesche Gedanke anschaubar und andererseits vermag Schinkel dadurch das von ihm in seinen Fragmenten

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deskriptiv angegangene Anliegen der Kultivierung des Menschen durch Architektur normativ zu begründen. III. Neben den skizzierten Analogien zwischen Schinkel und

Fichte gibt es auch Differenzen, an denen sich Schinkels Selbstständigkeit in seiner Auseinandersetzung mit Fichtes Philosophie darlegen lässt. Die Differenz betrifft den Naturbegriff. Während für Schinkel als bildenden Künstler Natur reale Qualität ist, ist für Fichte Natur im Licht der Kritik Schellings „todt, rein todt“, weil sie „lediglich im Denkenden“34 begründet ist. Fichte geht es ausdrücklich um eine vernunftdurchdrungene Welt durch vernunftgeleitete Überwindung der Natur. Schinkel ist darin moderater. Im Unterschied zu Fichte setzt er bei einer belebten Natur an, in der und mit der sich das Ideal der Vernunft in der wirklichen Welt darstellen lässt. Somit ist Schinkel, was die Realisierung des Ideals angeht, als Künstler nicht auf die Transzendenz der geistigen Welt angewiesen, sondern er kann das Ideal durch sein Werk im Diesseits zur Anschauung bringen und für den Rezipienten unmittelbar und lebensnah wahrnehmbar machen. Darin erschließt sich seine Bestimmung der Architektur als „Symbol des Lebens“.35 An Hand dieser Differenz im Naturbegriff zeigt sich, dass Schinkels Auseinandersetzung mit Fichte kein bedingungsloses Übernehmen ist. Vielmehr hat er die Kompatibilität beider Disziplinen in Rücksicht auf die Kultivierung des Rezipienten gründlich durchdacht. So spricht er im Werkchen über das Ideal und die Prinzipien der Baukunst von „zwei verschiedene[n] Richtungen der geistigen kraft, um die Natur unter ihre Herrschaft zu bringen: einmal durch sehn, einmal durch thun. Das erste geschieht nach und nach durch Schlußfolgern, – der Weg der Wissenschaft. – Das andere wo das Leben der Natur in seinem höchsten u vollendeten Daseyn, in einem Schlag aufgefasst wird“36 – die Welt der Kunst. Die Wissenschaft, das heißt die Verstandestätigkeit, „erforscht“ lediglich die in den gegebenen Erscheinungen „a priori vorhandene Idee […], indem sie nur den Weg der Steigerung, die verschieden große Teilhabe der gegebenen Phänomene an der Idee sieht und mit Hilfe des Verstandes registriert.“ Dem graduellen und diskursiven Rekonstruieren des Begriffs des Selbstbewußtseins stellt er das unmittelbare ästhetische Erleben des Individuellen „in einem Schlage“37 gegenüber. Daraus leitet Schinkel die Vorrangstellung der Anschauung des Ideals gegenüber dem Begriff des Ideals ab.

Petra Lohmann – Konzepte des Selbstbewusstseins

Philosophie ist für ihn eine zwingende Voraussetzung, die jedoch selbst nicht hinreichend ist, die Idee vollständig zu erfassen, wozu die Einheit von Begriff und Leben notwendig wäre. Die Sphäre des reinen Begriffs alleine ist für ihn hingegen bloß die des abstrakten Denkraums. Philosophie ist nicht das Letzte, Höchste bezüglich der Idee, sondern Philosophie bedarf der Vermittlung ins Leben. Das Feld der Kunst ist für Schinkel daher ein größeres als das der Philosophie. Denn der Künstler muss das Ideal wissen, das heißt er muss einen Begriff von ihm haben und er muss die Fähigkeit besitzen, dem Begriff ein Bild zu geben, das den Rezipienten belebt. Dafür müssen der Künstler und sein Objekt jeweils eine Evidenz in sich haben. Das ist das Wahrheitsgefühl,38 das für Künstler und Rezipient als Kriterium fungiert. Damit ist er wiederum Fichte sehr nahe, der in der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre das Gefühl als Grund allen Realitätsbewusstseins und als Schlussstein der Reflexion deduziert.39 Vor dem Hintergrund der fichteschen Gefühlstheorie, die Schinkel durchaus gekannt haben dürfte, denn sie ist ein konstitutiver Bestandteil jeder Form der Wissenschaftslehre sowie ihrer populärphilo­sophischen Darstellungen, ist seine folgende Aussage zu verstehen: „Der Gegenstand“, der in der Kunst „dargestellt wird, ist durchaus er selbst und keiner anderen Ausdeutung fähig, wie es wohl derselbe Gegenstand in Worten ausgesprochen“ auf Grund des regressus ad infinitus im rein Begrifflichen nicht „fähig ist“.40 Die „Kunst [ist] das einzig sicher belehrende. Der Begriff kann nur Zugabe“41 sein. Abschließend lässt sich festhalten, dass sich in Schinkels Fichte-Rezeption in Rücksicht auf ein Grundphänomen der Subjektivität, das ist das Selbstbewusstsein, an einem erkenntnistheo­ retischen Einzelbeispiel die mögliche spekulative Qualität und Tiefe der Beziehung zwischen Architektur und Philosophie manifestieren, die in den vorliegenden Ausführungen genetisch entwickelt wurden. Darin bestanden die Möglichkeiten der Untersuchung. Ihre Grenzen bestehen darin, dass die historisch-faktischen Per­spektiven der Beziehung zwischen Schinkel und Fichte außen vor geblieben sind. Für diese Perspektiven gilt: Sie motivieren in der Schinkel-Forschung zwar die meisten Untersuchungen über das Verhältnis zwischen Schinkel und Fichte, diese konzentrieren sich aber bislang hauptsächlich auf politische Analogien zwischen dem Architekten und dem Philosophen zur Zeit der Befreiungs-

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kriege. Während diese Dimension des Faktischen daher als relativ gut erforscht gelten darf,42 verdient der Rekurs auf das kulturelle Leben in Berlin um 1800 mittels der Methoden der Konstellationsforschung Beachtung.43 In diesem Kontext wäre zu bedenken, wie und wodurch Schinkel mit Fichtes Philosophie bekannt wurde, wie er sie rezipierte und wie sein Verhältnis zur Philosophie in den zeitgenössischen Wissenschaftsdiskurs44 einzuordnen wäre und welche weiteren Modelle der Verbindung zwischen Architektur und Philosophie überhaupt bestehen und wodurch sie motiviert sind. Was Letztere angeht, so wären Bezüge beider Disziplinen aufeinander aus dem unmittelbaren Umfeld Schinkels Folgende: Neben Friedrich Gilly und Karl Heinrich Heydenreich sind das Fichte und Ludwig Friedrich Catel, Schelling und Leo von Klenze sowie Schinkel und Karl Wilhelm Ferdinand Solger und andere mehr.45 In diesem personalen Kontext reichen die Motivationen der Bezüge seitens der Architekten auf die Philosophie von den Formulierungen der Konstruktionsvoraussetzungen eines Prinzips der Architekturtheorie bis hin zur Begründung eines individuellen werkpraktischen Standpunktes innerhalb der eklektischen Strömungen im beginnenden Historismus.46 In diesem Spektrum spielen vor allem die Begründung der Architektur als Wissenschaft und die Formulierung einer ästhetischen Weltanschauung, die mit Hilfe von Architektur realisiert werden soll, eine zentrale Rolle. Innerhalb dieses Beziehungsgefüges ist Schinkels Auseinandersetzung mit Fichte vorbildhaft. Alfred Freiherr von Wolzogen zufolge wurde Fichtes Lehre Schinkel zwar zur „Richtschnur“ und „Offenbarung“ und „man [darf] ihn mit Fug und Recht als einen der prominentesten Schüler“47 des Philosophen bezeichnen, aber er war nicht nur Lernender, sondern er hat angesichts der geschilderten Einschränkungen der Philosophie auf die reine ratio mit großer Überzeugung und Eigenständigkeit an der wechselseitigen Ergänzung der beiden Disziplinen festgehalten: So wie der Künstler von Denkmodellen der Philosophie inspiriert wird und sie zur Erhellung der eigenen Weltanschauung heranziehen kann, so vermag umgekehrt der Philosoph in der ästhetisch gestalteten Welt des Künstlers die sinnlichen Voraussetzungen und Möglichkeiten der Vermittlung des eigenen Denkens erkennen.

Peter Bernhard

Neopositivismus und Neues Bauen: Zur Entdeckung einer „inneren Verwandtschaft“ Die Gemeinsamkeiten von Neopositivismus und Neuem Bauen gelten bei vielen als Musterbeispiel einer engen Beziehung zwischen Philosophie und Architektur. Stützen kann sich diese Einschätzung auf Äußerungen von unmittelbar Beteiligten und Zeitzeugen aus der Gründerzeit dieser Strömungen. So konstatierte Rudolf Carnap diesbezüglich „eine innere Verwandtschaft“1 und erklärte zusammen mit Otto Neurath und Hans Hahn, dass „der Geist wissenschaftlicher Weltauffassung in steigendem Maße die Formen […] der Baukunst durchdringt“.2 Nahezu zeitgleich wurde auch im zentralen Publikationsorgan des Neopositivismus, der Erkenntnis, verkündet: „Der wahre Ausdruck unserer Zeit […] der Sachlichkeit in Architektur und Gewerbe, der wahre Ausdruck dieser Zeit ist die wissenschaftliche Weltauffassung.“3 Auch die Kritiker des Neopositivismus vermerkten hier eine inhaltliche Affinität. So erblickte Ernst Bloch in der „,exakt‘ erscheinenden Philosophie der Neu-Machisten“ wie in der „sozialdemokratischen ,Modernität‘ à la Giedion“ die gleiche „unterernährte oder abgebrochene Vernunft“ des „großkapitalistischen Denkstils“.4 Da sich aber weder Bloch noch seine Zeitgenossen die Mühe machten, den behaupteten philosophisch-architektonischen Gleichklang im Detail zu beschreiben, blieb dieser weitgehend unbeachtet. Das sollte sich erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts ändern, als der Wissenschaftshistoriker Peter Galison unter der Überschrift Logical Positivism and Architectural Modernism den Versuch unternahm, die Beziehungen zwischen Neopositivismus und Neuem Bauen systematisch herauszuarbeiten.5 Ins Zentrum stellte Galison dabei die Verbindungen zwischen dem Wiener Kreis und dem Dessauer Bauhaus. Dieser Fokus lag aufgrund der Hinweise,

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die einzelne Wiener Kreis-Mitglieder noch in späteren Jahren gegeben hatten, nahe.6 Herbert Feigl beispielsweise erklärte in seinen Erinnerungen an die Wiener Zeit: „Neurath and Carnap felt that the Circle’s philosophy was an expression of the Neue Sachlichkeit which was part of the ideology of the Bauhaus.“7 Das von Feigl hier angeführte Gemeinschaftsgefühl fand seine Bestätigung in mehreren Gastvorträgen, zu denen er und andere Wiener KreisMitglieder ans Bauhaus eingeladen wurden, für Galison ein wichtiger Beleg dafür, dass Teile des Wiener Kreises und des Bauhauses demselben Paradigma der „transparenten Konstruktion“ anhingen. Damit bezeichnet Galison die Überzeugung, dass alles aus einfachen Elementen mit Hilfe klar formulierbarer Regeln aufgebaut sein muss. Im Wiener Kreis betrachtete man diese Grundelemente schlicht als „das Gegebene“, welches durch basale „Protokollsätze“ zu erfassen sei, die mit Hilfe der logischen Regeln zu komplexeren Sätzen erweitert werden konnten. In analoger Weise kannte man am Bauhaus bestimmte Grundfarben (rot, blau und gelb) und -formen (Quadrat, Kreis und Dreieck), aus denen mit Hilfe einfacher Gestaltungsgesetze alle komplexen Gebilde zu schaffen waren. Das Paradigma der transparenten Konstruktion impliziere demnach den Ausschluss sowohl alles Dekorativen, Mystischen und Metaphysischen als auch alles Traditionellen, Historischen und Nationalistischen. Nach Galison eigneten sich Wiener Kreis und Bauhaus somit zur wechselseitigen Legitimation des je eigenen, radikalen Programms: Einerseits machte es die spekulationsfreie, „antiphilosophische Philosophie“ des Wiener Kreises dem Bauhaus möglich, aus rein wissenschaftlichen Gründen jeglichen Stil als bloß willkürlichen Geschmack abzulehnen, andererseits zeigte die auf Intuition verzichtende, „antiästhetische Ästhetik“ des Bauhauses, dass sich die Position des Wiener Kreises nahtlos in die progressiven Strömungen der modernen Welt einreihte. Die gemeinsam verfolgte Linie der beiden Bewegungen könne damit als ein „zentraler Strang des kanonischen Hochmodernismus“8 betrachtet werden. Zu demselben Ergebnis waren zuvor schon Günter Schenk und Ulrich Vetter gelangt. Dabei wies Schenk auf die Vereinheitlichungsvision hin, die sich im Manifest des Bauhauses wie in der Programmschrift des Wiener Kreises artikuliere:9 Das Bauhaus verspreche „die Zersplitterung der Kunst aufzuheben und alle interessierten Künstler zu einer großen Aufgabe zum Nutzen der Gesellschaft wirken zu lassen“, der Wiener Kreis erstrebe „durch das

Peter Bernhard – Neopositivismus und Neues Bauen

Zusammenwirken der einzelnen Forscher die Arbeitsteilung in der Wissenschaft zu überwinden.“10 Aus beidem spreche eine „geistige Grundhaltung“, die als konstruktiv, utilitär, rationell und international zu charakterisieren sei. Im Anschluss an Schenk machte Vetter überhaupt die Vereinheitlichungstendenz alles neopositivistischen Denkens für die Parallelen von Wiener Kreis und Bauhaus verantwortlich, eine Tendenz, die in der Wissenschaft die Hoffnung auf eine durch Logik vermittelte Einheitstheorie nähre und in der Kunst die Hoffnung auf das am Generalbass ausgerichtete Einheitskunstwerk.11 Während die beiden ostdeutschen Arbeiten von Schenk und Vetter bis heute unbekannt sind, schlossen an Galison zahlreiche Autoren an. So bemühte sich Gordon Bearn unter der Überschrift The Formal Syntax of Modernism: Carnap and Le Corbusier12 darum, eine noch weiter gefasste Affinität zwischen Neopositivismus und Modernismus nachzuweisen, indem er die Philosophie Carnaps mit der Architektur Le Corbusiers verglich. Auch Lucian Krukowski zentrierte seine Untersuchung Aufbau and Bauhaus13 um den Begriff der Moderne, die als Epoche der Befreiung vorgestellt wird – vom Akademismus in der Kunst, vom Idealismus in der Philosophie – , woraus folge, dass Kunst und Philosophie in ihrer modernen Gestalt die gleichen Merkmale besäßen: (1) eine Ontologie, in der alles aus Einfachstem zusammengesetzt ist, (2) eine Methodologie, die sowohl Reduktion als auch Konstruktion ermöglicht, (3) Fortschrittsgläubigkeit und (4) ein Selbstbild, das die eigene Position als Endpunkt der Geschichte wahrnimmt. Dementsprechend hätten das Bauhausprogramm und Carnaps Aufbau als modern zu gelten, was sich anhand des Denkens von Gropius und Carnap verdeutlichen ließe. Die These, dass das Neue Bauen und der Neopositivismus zusammengehörige Strömungen der klassischen Moderne darstellen, hat sich mit Galisons Studie also weitgehend durchgesetzt.14 Angesichts dieser Tatsache erscheint es erforderlich, die darin enthaltenen Unzulänglichkeiten darzulegen, zumal sie sich größtenteils auch bei Schenk und Vetter finden. Eine detaillierte Kritik, das wird dabei deutlich, macht die These von der inneren Verwandtschaft nicht obsolet, korrigiert aber Galisons Version in wesentlichen Punkten und offenbart die Desiderate seiner Untersuchung.

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Die Unzulänglichkeiten von Galisons Studie Eine Kritik an

Galison kann an anderen Arbeiten anknüpfen, da er mit seiner Untersuchung nicht nur zustimmende, sondern auch kritische Resonanz erfuhr. Zuletzt monierten Angela Potochnik und Audrey Yap seine undifferenzierte Betrachtung des Wiener Kreises: Galison übersehe vor allem die unterschiedlichen Positionen seiner Protagonisten Carnap und Neurath und damit auch die Unterschiedlichkeit ihrer Gemeinsamkeiten mit dem Bauhaus.15 So träfe der von Galison eingeführte Begriff der transparenten Konstruktion zwar auf Carnap, nicht aber auf Neurath zu. Letzterer verbinde dagegen mit dem Bauhaus das Streben nach Vereinheitlichung, was sich bei ihm im Engagement für eine Einheitswissenschaft, am Bauhaus im Interesse an Normierungsfragen äußere. Mangelnde Differenzierung beim Gebrauch des Begriffs transparente Konstruktion wurde Galison auch von Volker Thurm-Nemeth vorgeworfen. Galison, so der Vorwurf, referiere damit pauschal auf einen avantgardistischen Konstruktivismus, der laut Thurm-Nemeth in mindestens vier verschiedene Strömungen zu unterteilen sei. Vor allem der mystisch inspirierte, von Thurm-Nemeth „utopisch“ genannte Konstruktivismus von De Stijl und Suprematismus müsse strikt von dem funktionalistischen Konstruktivismus des Bauhauses unterschieden werden, dem allerdings nur ein Teil der Schule anhing, denn Galison habe ebenso außer Acht gelassen, „daß Bauhausintern die Weltanschauungen weit auseinanderklafften.“16 Sowohl die Kritik von Potochnik und Yap als auch diejenige von Thurm-Nemeth lassen sich erweitern. So wird Galisons undifferenzierte Betrachtung des Wiener Kreises auch daran deutlich, dass er für seine These nicht nur Carnap und Neurath heranzieht, sondern auch Wittgenstein, der dem Wiener Kreis insgesamt sehr skeptisch gegenüberstand und gerade in dem hier relevanten Kontext eine gänzlich andere Auffassung vertrat: Während nämlich die Anhänger der wissenschaftlichen Weltauffassung im Einklang mit einigen Bauhäuslern die Überwindung jeglichen Stils mittels Vernunft anstrebten, war für Wittgenstein vernunft­ geleitetes Verhalten lediglich Ausdruck eines bestimmten Stils.17 Außerdem ist Galison nicht nur hinsichtlich Konstruktivismus, sondern auch hinsichtlich Neue Sachlichkeit ein ungenauer Begriffsgebrauch vorzuwerfen. Das ist insofern ein schwerwiegenderes Manko, als eine bessere Ausleuchtung dieses Begriffs keine Präzisierung, sondern eine Modifikation von Galisons These zur

Peter Bernhard – Neopositivismus und Neues Bauen

Folge hätte. Der Begriff Neue Sachlichkeit geht zurück auf den Titel einer Ausstellung, die, initiiert von dem Direktor der Mannheimer Kunsthalle Gustav Hartlaub, im Juni 1925 eröffnet wurde. Sie präsentierte das Phänomen, dass sich viele Künstler entgegen dem vorherrschenden Expressionismus (worunter man damals auch Richtungen der abstrakten Kunst fasste) wieder der gegenständlichen und figurativen Malerei zugewendet hatten.18 Schon kurz nach der Ausstellungseröffnung wurde deutlich, dass es sich hierbei lediglich um die künstlerischen Auswirkungen eines Trends handelte, der sich in allen Lebensbereichen – in der Literatur, der Musik, dem Theater, der Politik, dem Journalismus und so weiter – bemerkbar machte: Überall war die emotional aufgeladene Stimmung der unmittelbaren Nachkriegszeit einer abgeklärten, illusionslosen Nüchternheit gewichen. So avancierte Neue Sachlichkeit schnell zum charakterisierenden Schlagwort der Zeit. Auch Teile des Wiener Kreises fühlten sich dieser Entwicklung zugehörig. Daher erscheint es folgerichtig, wenn Galison die Neue Sachlichkeit als einen verbindenden Oberbegriff für das Neue Bauen und den Neopositivismus vorstellt. Allerdings wurden auch solche Positionen zur Neuen Sachlichkeit gezählt, die diesen Richtungen konträr waren. Hartlaub selbst rechnete „die Empirie der Wiener Schule (Neuraths Empirische Soziologie), […] Schlick, […] Reichenbachs ,Empirische Philosophie‘“ ebenso dazu wie Ludwig Klages und „Spenglers resigniert-sachlichste, illusionsfreie Schicksalsphilosophie“.19 Diese Zusammenstellung ist insofern bemerkenswert, als Neurath erst wenige Jahre zuvor einen Anti-Spengler verfasst hatte20 und Klages sich selbst als entschieden antipositivistisch begriff. Angesichts dessen ist es fraglich, ob man sich im Wiener Kreis oder am Bauhaus Hartlaubs Sichtweise anschloss. Ise Gropius bemerkte jedenfalls in ihrem Tagebuch: „abends vortrag von hartlaub. viel guter wille, die ,neue sachlichkeit‘ aufzuzeigen, aber das ergebnis recht schief,“21 was eine, wenn auch nicht näher spezifizierte Meinungsdifferenz anzeigt. Dagegen ist allerdings festzuhalten, dass den Theorien von Spengler und Klages am Bauhaus große Bedeutung zukam, bei den Architekten ebenso wie bei den Malern. So gestand Oskar Schlemmer: „Ich glaube, daß Spengler in der Tat recht hat, daß die Maler Ingenieure werden sollen“22 und empfahl dessen Lektüre für den philo­sophischen Teil seines obligatorischen Bauhaus-Kurses Der Mensch, während seine Literaturliste zu dem zugehörigen psychologischen Teil nahezu alle

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Schriften von Klages enthielt.23 Auch Hannes Meyer, der während seines Bauhausdirektorats die intensivsten Kontakte zum Neopositivismus pflegte, orientierte sich in seiner Architekturtheorie an Klages und verkündete: „die neue baulehre … muss seelenkunde vermitteln, und auf der grundlage der leib-seele-einheit (carus – nietzsche – klages – prinzhorn) psychologische unterlage zur erkenntnis vorbauen [sic].“24 Vor diesem Hintergrund muss es als verfehlt angesehen werden, wenn Hans-Joachim Dahms Galisons These dadurch zu fundieren sucht, dass er den Begriff der Neuen Sachlichkeit ins Zentrum rückt.25 Auch Dahms’ damit einhergehende Bemühungen, den bereits von Galison genannten Kunsthistoriker Franz Roh als Schlüsselfigur vorzustellen, kann nicht überzeugen. Zwar ist richtig, dass Roh mit Carnap befreundet war und zum Bauhaus gute Kontakte pflegte, aber ihn, gegenüber Hartlaub, als den vermittelnden Theoretiker der Neuen Sachlichkeit anzusehen, erscheint überzogen angesichts der zahlreichen Vorträge, die Hartlaub damals zu diesem Thema hielt. In den dazu erhaltenen Manuskripten wird auch die von Dahms aufgeworfene Frage „wen oder was kann man nun als Repräsentanten der Neuen Sachlichkeit in der Philosophie ansprechen?“26 detailliert beantwortet, so dass man nicht auf die wenigen, sehr allgemein gehaltenen Hinweise in Rohs Buch Nachexpressionismus angewiesen ist.27 Als Hartlaub im März 1926 in Dessau über die Neue Sachlichkeit sprach, war Meyer noch nicht am Bauhaus. Die zitierte Position zur neuen Baulehre hatte er sich vermutlich durch die Vorträge angeeignet, die Hans Prinzhorn am Bauhaus gehalten hatte. Der Klagesanhänger sprach dort im März 1929 unter anderem über die „Leib-Seele-Einheit“.28 Wenig später referierten dann Neurath und Feigl, woraus ersichtlich wird, dass sich das Vortragsprogramm des Bauhauses in der Ära Meyer keineswegs auf die Neopositivisten beschränkte. Es lässt sich noch nicht einmal eine besondere Präferenz für diese Richtung ausmachen. So war Carnaps Empfang am Bauhaus äußerst verhalten, wie seinem Tagebuch zu entnehmen ist. Vom Ankunftstag berichtet er: „10–11 nach Dessau, Bauhaus. Hannes Meyer ist leider noch verreist, Kandinsky krank. Zierath [ein Bauhaus-Student, Anm. des Verf.] zeigt mir nachmittags die Werkstätten und die Arbeiten des Einführungskurses (Diskussion, ob nur die ,ästhetischen‘ Eigenschaften der Materialien durchforscht werden). Kenne noch keine Lehrer, führe mich

Peter Bernhard – Neopositivismus und Neues Bauen

beim Vortrag selbst ein. 8 1/2 Vortrag ,Wissenschaft und Leben‘, 1/2 Stunde. Anfangs sehr wenig Leute, später mehr. Man will heute noch nicht diskutieren.“29 Dass die Diskussionen an den darauffolgenden Tagen dann immer so anregend verliefen, wie Galison unterstellt, darf bezweifelt werden angesichts der Tatsache, dass die anwesende Lucia Moholy-Nagy Carnap am dritten Vortragstag riet, für die Bauhäusler „noch leichter verständlich“30 zu sprechen. Ob ihm das gelang, ist nicht überliefert; jedenfalls berichtet er über den fünften und letzten Abend: „1/2 9 Vortrag ,Mißbrauch der Sprache‘; nur wenig Zuhörer, obwohl viele vorher sich gerade hierauf gespitzt hatten“.31 Im Vergleich zu Carnap war Neurath mit seinen Bauhaus-Vorträgen sicherlich verständlicher, was aber kein allgemeines Verständnis seitens des Bauhauses zur Folge hatte. So ereiferte sich die kommunistische Studentenfraktion über die „demagogischen, widerspruchsvollen ausführungen“ Neuraths und monierte, dass dessen Wissenschaftsverständnis dem eines Arztes gleiche, „der zwar bei seinen patienten die tuberkulose feststellt, ihn aber im übrigen seinem schicksal überlässt.“32 Aus anderen Gründen standen auch Professoren des Bauhauses in Opposition zum Neopositivismus. Galison vermutet diesbezüglich ganz richtig, dass „Carnap sicher von Kandinskys mystischen Anschauungen Abstand genommen hätte“,33 bringt der Philosoph doch in seiner lakonischen Art sein Entsetzen über den Künstler zum Ausdruck, wenn er in seinem Tagebuch festhält: Kandinsky „meint, die Orientalen, Ägypter, Griechen hätten eine Metaphysik und eine Technik (z. B. der Wasserleitung usw.) gehabt, gegen die wir Kinder wären!“34 Nun war das spannungsreiche Verhältnis zwischen Malern und Architekten des Bauhauses schon damals bekannt; so klagte Neurath in einem Artikel Mitte der 1920er Jahre: „Der den Malern überlassene Erziehungseinfluß ist übermäßig groß“.35 Bezeichnend für die am Bauhaus bestehenden Differenzen waren die unterschiedlichen Reaktionen auf die Gastvorträge von Wilhelm Ostwald. Der Begründer des positivistischen „Energetismus“ hatte auch eine eigene Farbenlehre entwickelt, über die er am Bauhaus in einer Vortragswoche im Juni 1927 referierte. Im Anschluss daran konzipierte Joost Schmidt für die ihm unterstehende Reklameabteilung einen Farbunterricht auf der Grundlage von Ostwalds Theorie,36 während sein Kollege Kandinsky sich beeilte, in seinem Unterricht die »korrekturen zu [den] vorträgen von ostwald«37 zu besprechen. Vor diesem Hintergrund überrascht,

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dass ausgerechnet Kandinsky vielen als bestes Beispiel für die Geistesverwandtschaft von neopositivistischer Philosophie und moderner Kunst gilt,38 zumal er auch maßgeblich an der Entlassung Meyers beteiligt war,39 unter dessen Ägide das Bauhaus die engsten Kontakte zum Neopositivismus unterhielt. Allerdings lehnte der mit Carnap befreundete László Moholy-Nagy Meyers Kurs ebenfalls ab, weshalb er bei dessen Amtsantritt das Bauhaus verließ. Als Carnap, Neurath und Feigl ihre Gastvorträge am Bauhaus hielten, gehörte er längst nicht mehr zum Lehrkörper der Schule, so dass es als unstatthaft angesehen werden muss, wenn Galison Carnaps spätere Gastvorträge an Moholy-Nagys new bauhaus in Chicago als eine Wiederaufnahme der Zusammenarbeit bezeichnet (der Titel new bauhaus für Moholy-Nagys Chicagoer Institut leistet dieser Verwirrung freilich Vorschub). Dahms’ Vermutung, dass Moholy-Nagy sich von seiner nach Dessau angereisten Frau Lucia über Carnaps Vorträge berichten ließ, kann aus zweierlei Gründen nicht überzeugen: Erstens erfährt man aus Carnaps Tagebuch, dass die Ehe der Moholys vor dem Aus stand, zweitens kam MoholyNagy auch nicht zu dem Vortrag, den Carnap im Anschluss an seinen Dessauaufenthalt im Seminar von Hans Reichenbach in Berlin hielt, wo Moholy-Nagy ja lebte (und zu dem Lucia ebenfalls gekommen war).40 Carnaps Tagebucheintrag über sein Referat im Reichenbachseminar ist auch deshalb bemerkenswert, weil Galison behauptet, Carnap berichte, dass er nach Abschluss seiner Bauhausvorträge am Dessauer Bahnhof noch Reichenbach getroffen habe, der ihn in der Vortragsfolge über Wissenschaftliche Weltauffassung unmittelbar ablöste.41 Im Tagebuch (das keineswegs mit diesem Tag endet, wie Galison angibt) ist dagegen zu lesen, dass Carnap von Dessau aus weiter nach Berlin fuhr, um dort Reichenbach zu treffen. Reichenbach referierte auch zu keinem späteren Zeitpunkt am Bauhaus,42 stattdessen arrangierte Carnap in Berlin kurzfristig einen Bau­hausvortrag für Walter Dubislav, der auf Meyers Wunsch aber nicht die Wissenschaftliche Weltauffassung vertiefen, sondern den Kant’schen Kritizismus vorstellen sollte, was er im darauffolgenden Monat auch tat.43 Daran zeigt sich einmal mehr die am Bauhaus bestehende Offenheit bezüglich Theoriefragen. Angesichts dessen erscheint Galisons Ansatz verfehlt, eine bestimmte Philosophie als die am Bauhaus vorherrschende identifizieren zu wollen. Galison betrachtet hierfür die Gastvorträge als

Peter Bernhard – Neopositivismus und Neues Bauen

maßgeblichen Indikator. Eine großzügig gefasste Liste aller von Neo­positivisten gehaltenen Bauhausvorträge, das heißt, eine Liste, die auch den Astrophysiker Erwin Finlay-Freundlich (aufgrund seiner Mitgliedschaft in der Gesellschaft für wissenschaftliche Philosophie), Neuraths Referat über Bildstatistik und Dubislavs Vortrag über Kantianismus berücksichtigt, ergibt folgendes Bild: 1) 23.11.1927: Erwin Finlay-Freundlich (Entstehung und Alter der Welt) 2) 27.5.1929: Otto Neurath (Bildstatistik und Gegenwart) 3) 3.7.–8.7.1929: Herbert Feigl (Die neue wissenschaftliche Weltauffassung, Physikalische Theorien und Wirklichkeit, Naturgesetz und Willensfreiheit, Zufall und Gesetz, Leib und Seele, Raum und Zeit) 4) 15.10.–19.10.1929: Rudolf Carnap (Wissenschaft und Leben, Aufgabe und Gehalt der Wissenschaft, Der logische Aufbau der Welt, Die vierdimensionale Welt der modernen Physik, Der Mißbrauch der Sprache) 5) 26.11.1929: Walter Dubislav (Hauptthesen des Kant’schen Kritizismus) 6) 19. und 20.5.1930: Otto Neurath (Geschichte und Wirtschaft, Voraussage und Tat) 7) 7.2.–9.2.1931: Philipp Frank (Welche Erschütterungen haben die hergebrachten Vorstellungen von Raum und Materie durch die moderne Physik erfahren) 8) 2.5.1931: Erwin Finlay-Freundlich (Die Endlichkeit des Weltraums als naturwissenschaftliches Problem) Dieser Liste kann allerdings das folgende Verzeichnis aller Vorträge und Lehrveranstaltungen von Vertretern der sogenannten Leipziger Schule gegenüber gestellt werden: 1) WiSe 1928/29–SoSe 1932: Johannes Riedel (PsychotechnikKurs)44 2) 12.2.1929: Johannes Riedel (Einzelvortrag aus dem Psychotechnik-Kurs)45 3) SoSe 1930–WiSe 1931/32: Karlfried Graf Dürckheim (Psychologie-Kurs) 4) 2.10.1930: Johannes Rudert (Charakterologie) 5) 18.3.1931: Felix Krueger (Seelische Strukturen) 6) 19. und 21.10.1931: Karlfried Graf Dürckheim (Grundpro­ bleme der Ästhetik, Vom Wesen des Schönen)

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7) 25.11.1931: Hans Freyer46 (Der Mensch und die gesellschaftliche Wirklichkeit) 8) 25. (nachmittags) und 26.11.1931: Johannes Riedel (Einführung in die allgemeine Gestaltungslehre, Wirtschaft und Psychologie) 9) 16.12.1931: Felix Krueger (Die menschliche Arbeit) 10) vermutlich 1932: Otto Klemm (Eigengesetzlichkeiten körperlichen Tuns) Die Leipziger Schule war ähnlich interdisziplinär wie der Wiener Kreis oder die Berliner Gruppe, jedoch loser organisiert, ihr gehörten vor allem Philosophen, Psychologen, Arbeitswissenschaftler und Soziologen an. Als die beiden führenden Köpfe sind der Professor für Philosophie und Psychologie Felix Krueger (Vorsitzender der Deutschen Philosophischen Gesellschaft und ab 1934 außerdem Präsident der Deutschen Gesellschaft für Psychologie) und der Soziologe Hans Freyer anzusehen.47 Was die Leipziger Schule einte, war ein holistisches Paradigma, was sie in der Wahrnehmungspsychologie von der Gestalt, in der Soziologie von der Gemeinschaft als dem Primären ausgehen ließ. Mit dieser Präferenz von Ganzheiten stand sie in Opposition zum Neo­positivismus und lieferte rechtskonservativen Weltanschauungen einen theoretischen Unterbau. Vergleicht man die Bauhauspräsenz der Leipziger Schule mit derjenigen der Neopositivisten, so muss man zu dem Schluss gelangen, dass nicht die Neopositivisten, sondern deren Kontrahenten für das Bauhaus am wichtigsten waren. Eine differenziertere Position nimmt Dahms ein, wenn er behauptet, dass Meyer (Direktor von Sommersemester 1928 bis Sommersemester 1930) die Zusammenarbeit mit den Neopositivisten, sein Nachfolger Ludwig Mies van der Rohe dagegen die Zusammenarbeit mit der Leipziger Schule suchte.48 Diese These, die dem weit verbreiteten Klischee vom linken Meyer-Bauhaus und dem rechten MiesBauhaus entspricht, erweist sich aber bei näherem Hinsehen als nicht haltbar. Meyer hatte nämlich nicht nur Riedel und Dürckheim angestellt, sondern vor seiner unerwarteten Entlassung bereits eine intensivere Zusammenarbeit „mit dem ganzen kreis um den von mir so hochverehrten professor felix krüger“49 geplant und dabei schon konkrete Vereinbarungen getroffen, namentlich für die Vorträge von Rudert und Klemm50, die dann in der Ära Mies van der Rohe auch stattfanden.51 Außerdem ist Dahms’ Behaup-

Peter Bernhard – Neopositivismus und Neues Bauen

tung falsch, dass es „in der Phase Mies’ keine Vortragstätigkeit von Mitgliedern des Berliner und Wiener Kreises mehr gegeben“52 hat. Wie der obigen Liste zu entnehmen ist, war der unverfängliche Weltraumvortrag von Finlay-Freundlich53 (der 1927 auch schon in Gropius’ Bauhaus gesprochen hatte) keine „Ausnahme“, wie Dahms behauptet. Vielmehr referierte auch noch der für seine linke Position bekannte Frank54 an drei aufeinanderfolgenden Tagen. Es ist also am Bauhaus zu allen Zeiten eine grundsätzliche weltanschauliche Offenheit festzustellen. Ist Galisons These von der engen Beziehung zwischen Bauhaus und Wiener Kreis damit widerlegt und büßt die allgemeinere These von der engen Beziehung zwischen Neopositivismus und Neuem Bauen dadurch nicht einen Großteil ihre Plausibilität ein? Die Antwort hängt von der Perspektive ab. Gemeinsame Merkmale von Philosophie und Architektur Alle

Neopositivisten, die über diese Frage nachdachten, betrachteten das Neue Bauen als diejenige Architektur, die ihrer Philosophie am meisten entsprach. Das Umgekehrte gilt allerdings nicht, denn diejenigen modernen Architekten, die eine theoretische Fundierung ihrer Arbeit anstrebten, fanden diese in ganz unterschiedlichen, zum Teil konträren philosophischen Positionen. Der mit Carnap befreundete Bauhausarchitekt Ludwig Hilberseimer favorisierte diesbezüglich zum Beispiel Friedrich Nietzsche,55 während die Modernen im skandinavischen Raum den Neukantianismus adaptierten.56 Auf philosophischer Seite waren es nicht nur die Neopositivisten, die sich mit dem Neuen Bauen innerlich verwandt fühlten. So betrachtete Helmuth Plessner die offene Form, die er als das grundlegende Gestaltungsparadigma des Neuen Bauens identifizierte, als einen Ausdruck für die Weltoffenheit, welche die Philosophische Anthropologie als das Wesensmerkmal des Menschen beschrieb.57 Um am Bauhaus darüber zu referieren, wurde er im Februar 1932 eingeladen. Hans Prinzhorn dagegen brachte das Neue Bauen in Verbindung mit der Lebensphilosophie Klages’scher Provenienz. Auch diese Sichtweise fand am Bauhaus Anhänger. Neben Hannes Meyer war es vor allem Ernst Kállai, der in der hauseigenen Zeitschrift bauhaus verkündete: „nur das bild des vernunftgemäß-sachlichen bauens läßt sich mit dem prinzhornschen bilde des neuen menschen vergleichen, […] ein bauen, das sich keine fassaden vormacht, sondern sein innerstes ohne ressen-

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timents für überlebte pracht nach außen kehrt.“58 Dieses Zitat wäre auch geeignet, eine Verbindung zwischen dem Neuen Bauen und der Psychoanalyse herzustellen, wie es jüngst Volker Welter getan hat.59 Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass das Neue Bauen tatsächlich mit ganz unterschiedlichen philosophischen Richtungen Gemeinsamkeiten aufweist, und es ist davon auszugehen, dass es sich mit anderen architektonischen Strömungen nicht anders verhält. Die Frage nach den Affinitäten bestimmter Philosophien zu bestimmten Architekturstilen lässt sich also stets nur mit einem Mehr-oder-weniger beantworten, wenn man – wie die meisten Autoren – davon ausgeht, dass das Herausarbeiten eines Katalogs gemeinsamer Merkmale die beste Möglichkeit darstellt, den Begriff der Affinität in diesem Zusammenhang sinnvoll zu gebrauchen.60 Ob sich diese Gemeinsamkeiten zu einem kohärenten Ganzen zusammenfassen lassen, wie das Galison mit dem Begriff der transparenten Konstruktion versucht, ist dann eine zweite Frage. Welche gemeinsamen Merkmale lassen sich nun für den Neopositivismus und das Neues Bauen finden? Da diese Frage auch im Kreis der Neopositivisten diskutiert wurde, erscheint es naheliegend, deren Antworten zu betrachten. So sprach zum Beispiel Carnap im Februar 1928 mit dem Kunsthistoriker Sigfried Giedion über die „Parallelität unsrer Philosophie mit der neuen Architektur“ und nannte dabei als Gemeinsamkeiten: „Zurückgehen auf die Elemente, Betonen des Handwerksmäßigen, Objektivität, Solidität“.61 Eine detailliertere Aufzählung gab Feigl. Noch unter dem Eindruck seiner Bauhausvorträge stehend schrieb er an Moritz Schlick: „Der Kampf gegen die überflüssigen Wesenheiten (sentimental-kitschige Zieraten), die Nüchternheit, Sachlichkeit, Geradlinigkeit, Zweckangepasstheit des neuen Bauens ist ja ausge­sprochen positivistisch. […] Auch will man dort [am Bauhaus, Anm. d. Verf.] den Künstler-individualismus zugunsten der Kollektiv-arbeit am sozial-Notwendigen nach Möglichkeit weitgehend überwinden. (So wie es auch in unserem philosophischen Kreis Kollektivarbeit gibt!) Und so wie bei uns jeder eine Einzelwissenschaft beherrscht, muss dort jeder Architekt ein Handwerk können.“62 Eine Philosophie der Architektur kann sich freilich nicht in der Zusammenstellung solcher Merkmalskataloge erschöpfen, zumal

Peter Bernhard – Neopositivismus und Neues Bauen

die Bestimmung solcher Merkmale bereits wesentlich philo­ so­ phische Reflexion voraussetzt. Klärungsbedürftig ist hier vor allem die Frage, welche Art Begriffe sich zur Charakterisierung sowohl einer Philosophie als auch einer Architektur eignen, beziehungsweise welcher Art der Gebrauch solcher Begriffe sein muss, um das zu leisten. Hier steht die junge Disziplin der Architekturphilosophie meines Erachtens erst am Anfang. Einen ersten Eindruck von der dazu notwendigen, bis an die Grenze des Metaphorischen heranreichenden Ausdeutung der Begriffe, vermitteln ebenfalls die Neo­positivisten, namentlich Hans Hahn, der zu Feigls angesprochenem „Kampf gegen die überflüssigen Wesenheiten“ bemerkte: „Es ist gewiß kein Zufall, daß es dasselbe Volk [die Briten, Anm. d. Verf.] war, das der Welt die Demokratie und die Wiedergeburt der weltzugewandten Philosophie [den Empirismus, Anm. d. Verf.] schenkte, und es ist kein Zufall, daß in dem Lande, in dem die Metaphysik hingerichtet wurde, auch ein Königshaupt fiel. Denn alle die hinterweltlichen Wesenheiten der Metaphysik: Die Ideen Platos, und das Eine der Eleaten, die reine Form und der erste Beweger des Aristoteles, und die Götter und Dämonen der Religionen, und die Könige und Fürsten auf Erden, sie alle bilden eine Schicksalgemeinschaft – und wenn der Purpur fällt, muß auch der Herzog nach.“63

Perspektiven

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Hannes Böhringer

Das Geländer Rauf und runter Ich brauche Boden unter den Füßen. Denn ich kann nicht fliegen. Im Wasser gehe ich nach einiger Zeit unter. Ich brauche den Boden, um mich auszuruhen, auch wenn er unter mir schwankt. Wir leben mit der Erdenschwere. Darum ist das Hüpfen und Springen so schön. Die kleinen Kinder strampeln mit Händen und Füßen, drehen, wälzen sich, beginnen auf allen Vieren zu kriechen, richten sich auf, halten sich dabei mit den Händen fest und lernen zu gehen. Früher oder später laufen sie den Eltern davon. Gehen, laufen, rennen heißt Schritte machen, die Beine längs spreizen, das Gewicht von einem Bein auf das andere verlagern, nach vorn fallen, sich auffangen und dadurch vorankommen. Mit jedem Schritt überquere ich ein Stück Boden und kann über Stock und Stein gehen. Der Wagen rollt nur auf Wegen, auf denen Hindernisse beiseite geräumt sind. Das Gelände ist voller Hindernisse, Gewächse, Steine, Gewässer, uneben und holprig. Es geht rauf und runter, Hügel, Mulden, Berge, Täler. Das Gehen ist ein Hoch- und Hinuntersteigen. Doch das Auf und Ab verläuft nicht gleichmäßig. Das Ziel ist nicht oben und nicht unten. Aber um ans Ziel zu kommen, muss man Höhen und Tiefen passieren. Kein Aufstieg ohne zwischenzeitliche Abstiege, kein Abstieg ohne Aufstiege unterwegs. Ich brauche festen Boden unter den Füßen. Sonst kann ich nicht gehen. Ich versinke sonst. Wenn ich müde bin, möchte ich ausruhen, sitzen oder liegen auf dem Boden oder auf einem Gestell, Bett, Liege, Sessel oder Stuhl. Sie stehen auf dem Boden in Wohnungen, Häusern oder im Freien. Die Möbel brauchen einen ebenen Boden, sonst wackeln sie. Auch auf Schiffen und in Flug-

Hannes Böhringer – Das Geländer

zeugen kann man liegen, sitzen, stehen und gehen. Früher oder später aber laufen sie einen Hafen an und landen auf dem Boden. Die künstlich veränderten oder hergestellten Böden sind ebenmäßig. Das Auf und Ab soll so weit wie möglich verringert und eingeebnet werden. Die Möbel sollen nicht wackeln oder rutschen, die Wägen nicht springen, die Fußgänger nicht stolpern. Die Stockwerke der Häuser sind waagerecht. Die Höhenunterschiede werden mit Treppen überwunden. Ihre Stufen sind gleich hoch. Aufzüge fahren senkrecht nach oben und unten. Für Kinderwägen und Rollstühle gibt es flache Rampen, abgeflachte Bordsteine, um für Räder schwer überwindliche Stufen zu vermeiden. Die Menschen schreiten. Auch wenn sie rennen, machen sie Schritte. Es macht ihnen darum nichts aus, alles, was sie angehen, nicht sofort auf einen Schlag zu erreichen, sondern beharrlich Schritt für Schritt. Gehen und Schlucken unterteilen ein Ganzes in kleine Portionen. Das Ganze auf einmal ist zu viel. Aber in Etappen, eins nach dem anderen, kann es geschafft werden. Der Preis für die Klugheit der kleinen Schritte: Das Ganze ist immer ein Stückwerk. Doch vor den Einzelschritten muss der große Sprung gleich ans Ziel in einem Satz und ohne Anlauf da gewesen sein. Denn der erst setzt die Schritte der Verwirklichung in Gang, begleitet sie und verändert sich jederzeit im Nu mit ihnen. Alles nach und nach anzugehen, bewährt sich vor allem im Hoch- und Hinuntersteigen. Im Steilen und Abschüssigen suchen die Füße von selbst einen sicheren Tritt, eine Stufe im Schrägen, die Hände tasten nach Halt an der Wand oder am Boden. So geht es Schritt für Schritt weiter, bis das Gelände wieder flacher und leichter zu begehen ist. Stufen machen aus der Schräge eine Treppe, eine Stiege, die Höhenunterschiede überquert. Wand und Geländer sichern meistens die Seiten der Treppe. Wie viel Raum gibt man ihr in der Ökonomie des Gebäudes? Ist sie Hilfsmittel für den Notfall, wenn die Aufzüge ausfallen, oder ein großzügiges, repräsentatives Gebilde? Längst sind Treppenstufen in Länge, Höhe und Tiefe normiert. Das Bild der Treppe lädt geradezu ein zur Normierung und Hie­ rarchisierung, ein Sinnbild wie die Leiter für Aufstieg und Abstieg. Alle wollen nach oben. Doch die Kunst ist das Herunterkommen, das Wiederaufstehen nach dem Fall, das Weitermachen im Auf und Ab des Lebens.

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Halt, los Ist die Nabelschnur durchschnitten, ist das kleine Kind lose, ein lebendiges Paket, das dahin oder dorthin abgelegt werden kann, bis es sich fortbewegt und sich selbstständig macht. Es will loskommen von zu Hause. Doch das Lose braucht Halt. Den aber empfindet es als Hindernis, das es zu überwinden gilt. Die Menschen sind nicht nur körperlich, sondern auch geistig beweglich. Das macht sie in besonderem Maße lose. Sie haben Meinungen und können sie wechseln. Sie lernen dazu, haben einschneidende Erlebnisse und ändern ihr Leben. Dann machen sie wieder neue Erfahrungen und so weiter. Oft können sie sich nicht entscheiden und schwanken zwischen ja und nein. Sie brauchen Anerkennung und geben diesem und jenem Recht. Sie passen sich an und wollen zugleich ein eigenes Urteil, eine eigene Meinung haben, unabhängig sein. Wenn nicht schwerer Zwang herrscht, handeln die Menschen freiwillig. Die Bindung an Personen oder Überzeugungen, die sie eingehen, sind Selbstverpflichtungen. Sie können sich von ihnen lösen. Das lose Wesen verdankt der Mensch seiner Freiheit. Es macht ihn aber auch unzuverlässig. Die Menschen selbst fürchten ihr loses Wesen und versuchen, sich festzubinden, damit sie nicht auf abschüssigem Gelände hinunterkollern. Sie versuchen, sich zu halten. Halt finden sie außen und innen. Halt heißt: Bis hier und nicht weiter! Ein Ende, eine Grenze ist erreicht. Ich muss anhalten, stehen bleiben oder umkehren. Das Halten kann von außen erzwungen oder freiwillig sein: Es geht nicht mehr weiter, oder ich gehe nicht mehr weiter. Ich stehe vor einer Wand, einem Abgrund. Ich kann weitergehen und hinunterstürzen. Es steht mir frei, vor die Wand zu rennen. Auch der äußere Halt muss akzeptiert werden. Halt finden die Menschen nicht in der Mitte – die Mitte schwankt und hat kein Geländer – , sondern an den Rändern. Grenzen geben eine Form. Formen geben Halt: Üblichkeiten, Konventionen, Sitten, Regeln, Gesetze, Grundsätze. Der Halt wird ebenso verinnerlicht wie veräußerlicht. Der äußere entlastet das eigene Innere, muss aber dort wirksam verankert sein. Die Menschen halten sich. So gewinnen sie Haltung. Die hält sie zusammen, hält sie bedeckt, verschlossen und verrät doch einiges über ihren Inhalt. Sich halten heißt sich erhalten, sich behalten, sich nicht verloren gehen, sich im Auge, im Gedächtnis

Hannes Böhringer – Das Geländer

behalten, sich bewahren und erinnern. Ich bin der Behälter meiner selbst, er enthält, woran ich festhalte und festgehalten werde. Ich bin ein Behälter, der einen äußeren Behälter braucht, wo er sich aufhalten kann bei dem, was ihn festhält, eine Bleibe, eine Wohnung, eine Gemeinschaft. Ich brauche Halt für mein loses Wesen. Aber der Halt hält mich auch fest und zwängt mich ein. Ich will loskommen von ihm. Ich will frei sein. Ich brauche eine Lösung für diese Schwierigkeit, einen Halt, der eingrenzt und befreit, der haltbar und beweglich ist, fest und flüssig zugleich. Stop Ich muß anhalten. Es geht nicht weiter: Ein Hindernis. Ich räume es aus dem Weg oder umgehe es. So mache ich Umwege über Umwege und verliere darüber mein Ziel aus dem Auge. Halt! Wohin, worauf hinaus will ich überhaupt? Erst wenn ich mich auf etwas ausrichte, auf etwas zugehe, weil ich in einem Satz schon darauf zugesprungen war, können Hindernisse auftauchen und dazwischenkommen, Schwierigkeiten. Umstände werden zu Widerständen. Der Halt von vorn kommt mir in die Quere. Was tue ich nun? Auf alle Fälle brauche ich mehr Zeit, um die Schwierigkeit aufzulösen, das Hindernis zu übersteigen, beiseite zu räumen oder zu umgehen. Der Halt von vorn zwingt mich zum Halten und Nachdenken. Ich muss längere Wege gehen, Umwege, Auswege suchen. Ich brauche Geduld, ich muss beharrlich, aber auch beweglich sein, wenn nötig ein Stück zurückgehen, um Anlauf zu nehmen, das Hindernis zu überspringen, eine Lösung in mehreren Schritten zu finden, eine Leiter zu bauen, mit der ich das Hindernis übersteigen kann, Werkzeuge zu beschaffen oder überhaupt erst zu schaffen, mit denen ich wiederum die Hilfsmittel zur Überwindung oder Lösung der Schwierigkeiten herstellen kann. Weil ich die Wand nicht senkrecht hoch- oder herunterkomme, setze ich eine Rampe davor, eine schräge Ebene und säge Stufen aus, eine Treppe. Die kann ich Schritt für Schritt empor- oder herabsteigen. Ich kann dabei auch, wenn ich will, zwei Stufen auf einmal nehmen. Für Wägen und ihre Räder, die keine Stufen überqueren können, müssen die Wege noch flacher sein, also länger sein. Der Halt von vorn kann von Umständen, Ereignissen erzwungen werden oder von Mächten, die gebieten und verbieten

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können. Ihr Halt reizt zur Übertretung, sich über das Verbot hinwegzusetzen. Doch hört es damit nicht auf, Einhalt zu gebieten. Gebote und Verbote stützen eine Gesellschaft und das Leben des Einzelnen von außen, zäunen das Verbotene ein und lassen einen Freiraum des Erlaubten. Sie regeln den Verkehr und ermöglichen in Grenzen Bewegungsfreiheit. Die Zäune um das Verbotene sind verschieden hoch und verschieden durchsichtig. Doch auf Einsicht kann sich der Halt nicht verlassen. Wir lehnen uns an die Brüstung einer Aussichtsterrasse, schauen ins Land und freuen uns, dass wir von der Brüstung gehalten werden und nicht in die Tiefe stürzen. Der Zaun, die Einfriedung kann man gut aushalten, wenn man sie öffnen und weggehen kann. Rückhalt Weiß ich, was mich bewegt? Ich bin losgegangen. Ich war

lose. Da hat mich ein Ziel angezogen. Ich wollte loskommen von hier. Weiß ich, ob ich nicht hinterrücks auf das Ziel zugetrieben werde, das mich anzuziehen scheint? Was mich von hinten antreibt, hält mich fest an dem, wovon ich mich befreien wollte. Ich steuere meine Bewegungen. Ich bewege mich. Doch ihren Antrieb kenne ich nur indirekt. Er ist in meinem Rücken. Wie ich mich auch drehe und winde, reflektiere, ich kann das, was mich treibt, nur aus meinen Bewegungen erschließen. Ich gehe vorwärts. Ich bin nach vorn ausgerichtet. Ich muss mich umdrehen, um nach hinten zu schauen. Dann sehe ich aber nicht, was vorne vorgeht. Was in meinem Rücken geschieht, ist darum Anlass ständiger Besorgnis. Denn von hinten kommen die bösen Überraschungen. Die Vorsicht sieht voraus. Ich brauche deshalb Rückendeckung vom Gelände oder von anderen, die mich nach hinten absichern und auf die ich mich verlassen kann. Der Rücken ist anfällig und muss viel aushalten. Es ist anstrengend, aufrecht und aufrichtig zu sein, sich nicht zu verbiegen und zu ducken. Rückschläge müssen verkraftet, Widerstände gebrochen und Verantwortung getragen werden. Der Rücken hat einiges zu schultern. Darüber wird er krumm. Er braucht Rückhalt. Rückhalt ist der stützende Halt von hinten, den ich nicht sehe, auf den ich mich aber verlasse: Vertrauen. So traue ich mich loszugehen und mich nicht ständig umzudrehen. Ich vertraue darauf, dass der Stuhl, auf dem ich sitze, eine Rücklehne hat, die hält, wenn ich mich zurücklehne. Sie hält den Rücken. Ob ich mich

Hannes Böhringer – Das Geländer

vornüber gegen die Brüstung lehne, seitwärts oder rückwärts gegen eine Wand, ich vertraue dem Halt, den ich suche. Das Lehnen neigt sich dem erwarteten Halt zu und ist erschreckt, wenn er über­ raschend ausbleibt. Rückhalt erwartet man von dem, welchem man zugeneigt ist. Die Neigung ist die Schräge, die angelehnte Leiter, mit deren Hilfe man Hindernisse überwinden kann. Der Rückhalt ist die Rückenlehne des Stuhls, in den ich mich fallen lasse. Ich vertraue darauf, dass er mich auffängt. Der Rückhalt ist affektiv. In Vertrauen und Neigung eingepackt und noch tiefer versteckt sind die Antriebe, die Herkunft und Zukunft verbinden, der Proviant im Rucksack, wenn man losgeht. Geländer Ich brauche Halt. Denn ich bin lose. Ich muss mich irgendwo festhalten können, wo ich gehalten werde: Familie, Freunde, Vereine, Glaubensgemeinschaften, Meditation, Philo­ sophie, Gartenarbeit, Sport, Tanzen. Der Halt ist eine Stütze im Alltag des Lebens und zugleich eine Unterbrechung, ein Innehalten. Ich brauche Pausen. Ich kann nicht einfach immer weiter gehen und machen. Immer wieder muss ich mich ausruhen, hinlegen, dösen, schlafen, mich ablenken, an etwas anderes denken, an nichts denken, innehalten. Wie kann man die Funktion des Halts, Unterstützung und Erholung, in das Auf und Ab des Alltags integrieren? Als Geländer am Rande, an der Seite. Man sieht es aus den Augenwinkeln. Es ist da und bei Bedarf zur Hand. Als schlanke, elegante Linie führt es mich durch die Windungen des Auf- und Abstiegs. Doch die Führung ist unaufdringlich. Sie hält sich zurück und gibt sich als Begleitung, Unterstützung der Bewegungsrichtung und Entlastung im Rauf und Runter. Geländer heißt meist Brüstung mit Handlauf. Wenn schon ein Zaun zur Sicherheit angebracht werden muss, damit niemand aus Versehen in die Tiefe fällt, versehen wir ihn doch gleich mit einem Handlauf! Das Geländer ist ein Halt zur Seite hin, zur offenen Flanke. Dieser Halt zwingt nicht zum Anhalten, er begleitet mich im Weitergehen. Er treibt mich nicht an wie der unsichtbare Rückhalt. Doch die Linie des Handlaufs verflüssigt meinen Schritt. Wer auf Geländer angewiesen ist, prüft sie auf ihre Handhabbarkeit. Häufiger nimmt man sie nur nebenbei wahr, wenn man die Treppen hoch- oder hinuntereilt. Manchmal jedoch bleibt man stehen und bewundert sie. Da gibt es den Handlauf, der anfängt

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und aufhört, Stückwerk an jeder Wand im Treppenhaus, aber auch die unendliche Linie, die den Winkeln und Kurven der Treppe nach oben folgt und oben über eine Brüstung weitergeführt wird und am unteren Ende der Treppe andeutungsweise im Boden oder in der Seitenwand verschwindet, als ob sie dort weiterginge, oder sich an ihren Enden in sich selbst zurückwindet. Ich bin lose, ich brauche Halt, aber er darf mich nicht aufhalten, weiterzukommen in meinem Auf- und Abstieg. Der Halt soll mich begleiten. Ich halte mich an das, was mich hält. Ich greife nach dem, was mich ergreift. Nicht alles, was ich begreifen will, kann ich ergreifen. Es entgleitet mir, ich rutsche ab. Es hält mich nicht fest, ich gehe, rutsche, stürze weiter, bis ich wieder etwas greifen und für eine Weile festhalten kann. Der Antrieb im Rücken treibt mich vor sich her. Ich versuche, den Trieb zu steuern. Er gibt den schwerfälligen Schritten Schwung. Beschwingt gehe ich wie auf einem Laufband. Die Menschen können nicht fliegen und halten sich nur begrenzte Zeit im Wasser. Aber sie können vom Fliegen, Segeln, Schwimmen für ihr Vorgehen lernen, Widerstand und Kraft zu verringern, Strömungen, Gefälle für die eigenen Fortbewegungen auszunützen, das Fahrzeug rollen zu lassen, weniger Schritte machen als vielmehr zu schlindern, zu schliddern, zu gleiten. Man muss sich dabei nur im Gleichgewicht halten, sonst rutscht man aus und schlägt hin. Gleiten ist das Gegenteil von Schreiten. Der Schritt braucht Halt. Er darf nicht rutschen. Das Gleiten übersteigt nicht die Schwierigkeiten, es springt mit Schwung über sie hinweg oder umkurvt sie. Es darf nur nicht anhalten und Fahrt verlieren. Das Gleiten kann es sich nicht leisten, stehen zu bleiben und nachzudenken, wohin es will. Es will einfach nur weitergleiten. Es gelingt nur im Kontinuum. Deshalb läuft es immer Gefahr, abzugleiten und zu schweifen. Wie kann das Gleiten gehalten, davon abgehalten werden zu entgleiten? Auch das Gleiten braucht Richtung und Halt und am Ende einen Auslauf. Ich gleite und greife. Der Begriff gibt Halt, die Aufmerksamkeit aber muss fließen. Sonst entgeht ihr zu viel. Das Geländer muss beides ermöglichen: Gleiten und greifen. Die freie Hand sucht das Treppengeländer zur leichten Unterstützung des Gleichgewichts und rutscht, während die Füße die einzelnen Stufen nehmen müssen, herauf oder hinunter, muss aber jederzeit zupacken können, wenn es nötig wird. Ein gutes Geländer ist rutschig

Hannes Böhringer – Das Geländer

und griffig zugleich. Die Rolltreppe überträgt das Gleiten der Hand auf den ganzen Körper. Ihre Stufen müssen nicht mehr gestiegen werden. Man bleibt auf ihnen einfach stehen und gleitet nach oben oder unten. Die Hand gleitet, die Füße machen Schritte. Beides zugleich ist die Kunst: Sich aufrecht und im Gleichgewicht zu halten mit widerständigem Halt und ohne ihn, das Ganze in Stufen, Stücke, Portionen zu teilen und dabei eine große Linie zu ziehen, Ecken und Kanten mit Kurven zu verbinden, das Kontinuum mit dem Diskreten. Wege führen durch das Gelände. Navigationshilfen führen uns durch das Gewirr der Wege. Sie lassen uns durch Schwierigkeiten gleiten, Begleiter, die uns führen. So werden Staus umkurvt, Termine verschoben, Probleme gewälzt, Nachrichten ausgetauscht, Langeweile vertrieben. Der Halt von der Seite ist unaufdring­licher als der von vorn. Der stößt uns vor den Kopf. Der Halt von der Seite nimmt mich freundlich an die Hand, wenn ich ihn in die Hand nehme. Der Halt von der Seite ist verführerisch. Stets zur Hand wird der instrumentelle Begleiter immer mehr zum Führer der losen Wesen. Das festgeschraubte Geländer kommt noch aus einer Zeit des freihändigen Lebens. Das Geländer gehört zu den Sicherheitsvorkehrungen im alltäglichen Leben. Es hält mich nebenbei, zur Seite hin, von der Seite her. Wie viel Halt brauchen wir? Sicherheitshalber immer mehr. Die Geländer verlängern sich überallhin. Die starre Stange, von unzähligen Händen angefasst, wird ergänzt von zahllosen unsichtbaren Leinen, die mich halten, indem ich sie wie in einem Knoten in der Hand halte oder in der Tasche mit mir herumtrage. Der innerste Antrieb unserer Zeit scheint nicht der Aufenthalt, das Bleiben und Wohnen zu sein, sondern das Gleiten mit dem Knoten, dem kleinen Behälter in der Tasche, der fast alles enthält, was mir wichtig ist, kein Manuale mit Grundsätzen, sondern ein Geländer, an dem ich überallhin gleiten kann. Das Greifen und Begreifen ist dabei immer nur vorübergehend. Das Geländer ist der führende Halt geworden.

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Sabine Ammon

Perspektiven architekturphilosophischer Entwurfsforschung Der Prozess des Entwerfens nimmt zwar in der Selbstdefinition von Architektinnen und Architekten eine herausgehobene Stellung ein. Doch wenig ist in der Architekturforschung und der philosophischen Forschung getan worden, um ein tieferes Verständnis dieses zentralen Vorgangs zu befördern. Trotz dieser Parallelen zwischen der Architektur und der Philosophie liegen unterschiedliche Gründe für die Leerstelle vor. Die Aufarbeitung des Entwerfens seitens der Architektur schwankt zwischen Verklärung und Entzauberung. Auf der einen Seite wird versucht, die Entwurfshandlung der wissenschaftlichen Analyse zu entziehen mit dem Verweis, es handele sich hierbei um einen unzugänglichen, intuitiven und spontanen Akt. Ein gern bedientes Klischee in diesem Zusammenhang ist die Serviettenskizze, die mit schnellem Strich einen plötzlichen Einfall festhält, der alle wesentlichen Elemente des späteren Entwurfes erfasst. Verschwiegen wird dabei in der Regel, welche komplexen Überlegungen ihr vorausgingen und welche schwierigen Aushandlungsprozesse im Finden einer funktionierenden Lösung ihr nachfolgten.1 Auf der anderen Seite wird sich darum bemüht, das Entwerfen einem standardisierten wissenschaftlichen Verfahren anzunähern, um komplexe Problemanalysen zu unterstützen und die Lösungssuche anhand objektivierender Kriterien zu beschleunigen. In dieser Ausprägung der Entwurfsforschung stehen normativ-orientierte Verbesserungen und ihre Werkzeuge im Vordergrund, um durch Methodologisierung und Systematisierung eine Optimierung der Prozesse zu erreichen.2 In der Konsequenz stehen beide Haltungen einem tieferen Verständnis tatsächlicher Praktiken des Entwerfens entgegen.

Sabine Ammon – Perspektiven architekturphilosophischer Entwurfsforschung

Auch seitens der Philosophie behindern weitverbreitete Einschätzungen die wissenschaftliche Aufarbeitung von Entwurfsprozessen. Noch immer wird häufig die Meinung vertreten, das Ingenieurwesen, in dessen Spektrum auch die Architektur fällt, sei dem Bereich der angewandten Naturwissenschaften zuzurechnen. Eine erkenntnis- und wissenschaftstheoretische Aufarbeitung wird damit als überflüssig erachtet, da hier vermeintlich nur aus anderen Bereichen zur Verfügung gestelltes Wissen verarbeitet werde, ohne selbst ein genuines Wissen zu erzeugen. Selbst wenn diese Haltung durch aktuelle Positionen der Technikphilosophie zunehmend in Frage gestellt wird,3 besteht noch ein weiteres Hindernis. Es liegt in der historisch verankerten Trennung in Entdeckungs- und Begründungszusammenhang als Aufgabenteilung zwischen Wissenschaftssoziologie (sowie der Psychologie) und Wissenschaftsphilo­ sophie. Im Zuge der disziplinären Ausdifferenzierung im frühen 20. Jahrhundert wurde die Untersuchung von Erkenntnisprozessen als Aufgabe den sozialwissenschaftlichen Fächer und die Begründung der Erkenntnisse als Aufgabe der Philosophie zugeschlagen.4 Die Betrachtung von Fragen der Wissensgenese, wie sie sich im Zusammenhang mit Entwurfsprozessen stellt, scheidet in dieser traditionellen Lesart als philosophisches Untersuchungs­gebiet aus. Auf den folgenden Seiten möchte ich dafür plädieren, dass ein vertiefendes Verständnis des Entwerfens zu unrecht als Forschungsgebiet keine Beachtung gefunden hat. Sondern es, im Gegenteil, wertvolle Einsichten für Architektur und Philosophie bereithält, wenn an die Betrachtung von Entwurfsprozessen architekturphilo­ sophische Fragen gestellt werden.5 Dies wird nicht nur durch die Konturierung neuer Fragestellungen ermöglicht, was ich im ersten Abschnitt exemplarisch an der von mir derzeit bearbeiteten Fragestellung nach der Epistemologie des Entwerfens skizzieren möchte. Sondern es erhalten auch die bestehenden Disziplinen der Architektur und der Philosophie wichtige Anregungen, die zu ihrer jeweiligen Weiterentwicklungen führen können, worauf ich im zweiten Abschnitt eingehen möchte. In diesem Zusammenhang ist es mir wichtig, darauf hinzuweisen, dass sich meine Überlegungen an der wissenschaftlichen Problemstellung orientieren. Beide Bereiche, sowohl die Philosophie als auch die Architektur, zeichnet aus, dass sie nicht allein wissenschaftliche Disziplinen darstellen. Wer über ihren wissenschaftlichen Zuschnitt spricht, greift immer nur einen Teilbereich auf. Vor diesem Hintergrund blicke ich zunächst aus der

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Perspektive der Philosophie auf den Gegenstandsbereich der Architektur. Doch wie ich gegen Ende des Beitrags aufzeigen möchte, geht es im Folgenden weniger um disziplinäre Zuordnungen als vielmehr um die Eröffnung eines übergreifenden Untersuchungsfeldes, das über gängige Disziplingrenzen hinaus wichtige Impulse vermitteln kann. Forschungsprojekt: Entwerfen als epistemische Praxis Wer nach

dem Entwerfen fragt, thematisiert etwas sehr Grundsätzliches. Die zentrale Frage, die dahinter steht, ist: Was heißt es eigentlich, dass etwas Neues entsteht? Etwas, das zuvor nicht existiert hat – also von uns hervorgebracht wird? Das Entwerfen ist dem Poiëtischen zuzurechen, nach dem griechischen poiëtikos, „zum Machen, Schaffen gehörig“. Platon dient entsprechend die Architektur als Beispiel der poiëtischen Wissenschaft, die ein Herstellen von etwas beinhaltet und die er von der praktischen (als ausübende) und der theoretischen (als betrachtende) abgrenzt.6 Eine vorsichtige Charakterisierung des Entwerfens könnte daher lauten: Entwerfen ist ein Vorgang, der einem neuen Artefakt vorausgeht. Entwerfen fände also statt, wenn wir ein neues Artefakt konzipieren, vorwegnehmen, planen, erfinden – ohne damit suggerieren zu wollen, dass Entwerfen aus dem Nichts beginnt, denn Entwerfen greift vielmehr immer schon auf Gegebenes zurück und entwickelt es weiter. Der Entwurf wäre also das, was wir brauchen, um ein neues Artefakt wirklich werden zu lassen und es als physisch greifbaren Gegenstand ins Leben zu rufen. Damit scheinen der Entwurfsbegriff und der Artefakt­ begriff eng zusammenzuhängen – doch bedingen sie sich nicht gegenseitig. Das wird deutlicher, wenn wir danach fragen, wann Entwerfen auftritt. Zunächst ist festzuhalten, dass nicht jeder Akt der Hervorbringung eines Artefakts zugleich ein Entwurfsprozess ist. Denn zur Entstehung von Artefakten bedarf es nicht notwendigerweise eines Entwurfsprozesses, Artefakte können auch ohne Letzteren entstehen. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn eine Sachlage wenig Komplexität aufweist und einfach zu überschauen ist, so dass unmittelbar eine Lösung ausgeführt werden kann. Im Alltag finden sich viele Umsetzungen, deren Überlegungen im Vorfeld nicht mit Entwurfshandlungen gleichzusetzen wären. Wenn beispielsweise an einem Sommertag, um der hohen Sonneneinstrahlung zu entgehen, schnell an den Ecken eines Bettlakens

Sabine Ammon – Perspektiven architekturphilosophischer Entwurfsforschung

jeweils eine Schnur geknotet wird und das entstandene Objekt zwischen Bäumen gespannt wird, um großflächig Schatten zu spenden, ist zwar ein neues Sonnensegel entstanden – ohne dass jedoch diesem Vorgang nennenswerte Entwurfsüberlegungen vorausgegangen sind. Anders sieht die Situation aus, wenn im Rahmen eines Bauvorhabens ein fest installiertes Sonnensegel entwickelt werden soll. Dann müssen eine Reihe von Faktoren zusammengeführt werden, sei es die Lage und Form des Textils, um eine gute Schattenwirkung bei wechselnden Sonneneinstrahlungen zu erreichen, statische Berechnungen, um Standfestigkeit und Verankerung im Erdreich auch bei Unwetter zu gewährleisten, eine sorgfältige Materialwahl, die eine langfristige Benutzung erlaubt ohne den Finanzrahmen zu missachten. Dafür müssen Szenarien durchgespielt, Abhängigkeiten geprüft und widerstreitende Ansprüche gegeneinander abgewogen werden. Schon dieses einfache Beispiel macht deutlich, dass Entwerfen durch eine hohe Komplexität der Einflussfaktoren und Zielvorstellungen geprägt ist, die häufig in ihren Abhängigkeiten nur schwer zu durchschauen sind. Da meist nicht alle Anforderungen gemeinsam erfüllt werden können, beginnt ein aufwändiger Abwägungsprozess, bei dem Konsequenzen von Setzungen überprüft, Präferenzen expliziert und Gewichtungen vorgenommen werden, in die wiederum unterschiedliche Wertvorstellungen einfließen. Das Entwerfen zeigt sich demnach als eine bestimmte Art der Hervorbringung; nicht jede Hervorbringung neuer Artefakte geht auf Entwurfsprozesse zurück. So sprechen wir nicht vom Entwerfen, wenn Schaffensvorgänge durch starke Routine geprägt sind und sie keinen signifikanten Aspekt der Neuheit aufweisen. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn immer wieder das gleiche Produkt entsteht, sei es in einer Töpferei, in der eine Vase geformt wird, die auf die gleiche Weise schon vielfach hergestellt wurde oder ein Fahrrad aus verschiedenen Teilstücken zusammengefügt wird, welches auf diese Weise schon oft gefertigt wurde. Zugleich macht die Rede vom Entwerfen wenig Sinn, wenn Schaffensakte vorliegen, die durchgehend von Spontaneität und Intuition geprägt sind, wie es beispielsweise in einigen künstlerischen Verfahren der Fall ist. Um also von einem poiëtischen Vorgang als Entwurfshandlung zu sprechen, müssen einige Kennzeichen hinzutreten: Sei es ein bestimmter Aspekt von Neuheit, von Komplexität, aber auch

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von planender Vorwegnahme, die die Anstrengung des Entwurfsvorgangs notwendig machen. Somit ist deutlich geworden, dass das Entwerfen keine notwendige Voraussetzung ist, damit ein Artefakt entsteht. Denn es gibt eine Reihe von Artefakten, die ohne Entwurfsvorgang hervorgebracht werden. Zugleich ist aber das Entwerfen auch keine hinreichende Voraussetzung, dass ein Artefakt entsteht. Denn es gibt eine Reihe von Entwurfsvorgängen, die nicht in die Genese eines Artefakts münden. Um aus einem Entwurfsvorgang tatsächlich ein Artefakt hervorzubringen, müssen noch weitere Faktoren hinzukommen. So muss in einem Wettbewerbsverfahren der Entwurf nicht nur eingereicht, sondern auch gewonnen werden, um Chancen auf eine Umsetzung zu haben; eine Einigung mit den Auftrag­ gebenden muss stattfinden, ebenso wie die Finanzierung sichergestellt werden muss. Denn nicht jeder Entwurfsvorgang führt am Ende zu einem Artefakt: Groß ist die Zahl an Entwürfen, die nie umgesetzt und ausgeführt wurden – obwohl sie in sich stimmig sind und funktionieren – und damit ausführbar gewesen wären. Die Analyse zeigt, dass der Entwurfsvorgang weder eine hinreichende noch eine notwendige Bedingung für die Hervorbringung von Artefakten darstellt. Auch wenn es auf den ersten Blick naheliegend scheint, das Entwerfen aus seinem Bedingungsverhältnis zu Artefakten erklären zu wollen, führt dieser Schritt zu keiner eindeutigen Charakterisierung. Der fehlende zwingende Zusammenhang ist vielmehr ein wichtiges Indiz dafür, dass der Entwurfsvorgang weniger vom späteren Ergebnis aus betrachtet werden sollte, als vielmehr aus sich selbst heraus, um mehr über seine spezifischen Eigenarten zu erfahren. Wie diese Betrachtung aussehen könnte, wird deutlicher, wenn danach gefragt wird, wo das Entwerfen auftritt. Auffällig ist, in wie vielen Bereichen Entwurfshandlungen anzutreffen sind, sei es in der Architektur, im Design oder im Ingenieurwesen; doch auch außerhalb dieser „klassischen“ Entwurfsdisziplinen finden sich Entwurfshandlungen überall dort, wo umfassende planende und konzipierende Handlungen notwendig werden wie beispielsweise im Umfeld von Experimentalaufbauten. Damit wird deutlich, dass dem Entwerfen aus disziplinärer Sicht eine konstituierende Bedeutung zukommt, die beispielsweise dem Experimentieren in den Naturwissenschaften in nichts nachsteht. Insbesondere der Vergleich mit dem Experimentieren ist aufschlussreich. Denn

Sabine Ammon – Perspektiven architekturphilosophischer Entwurfsforschung

Experimentieren und Entwerfen können beide als grundlegende Akte menschlicher Weltaneignung gelten. Das eine legt offen, das andere fügt hinzu, beide gemeinsam erschließen und gestalten Welt. Dass aber zwischen beiden Tätigkeiten eine klare begriffliche Trennung vorliegt, ist eine Entwicklung der Neuzeit. „Entdecken“ und „entwerfen“ sind im lateinischen invenire noch als Doppel­be­ deutung vereint und im Deutschen erst seit dem 18. Jahrhundert sprachlich klar geschieden.7 Diese Nähe, die durch die Dominanz naturwissenschaftlicher Verfahren in der wissenschaftsphilosophischen Aufarbeitung heute kaum noch wahrgenommen wird, gibt wiederum einen wichtigen Hinweis für eine mögliche philosophische Untersuchung des Entwerfens. Es ist der Blick auf die Praktiken, der plausibel machen kann, inwiefern ein künstlerisch-kreativer Akt auch ein Akt der Erkenntnis sein kann und damit in erkenntnistheoretischer Sicht das Entwerfen zu einem ebenso lohnenswerten Forschungsgegenstand wie das Experimentieren macht. Vor über achtzig Jahren hat John Dewey diesen Gedankengang vorweg genommen. Er betonte, dass jedes Wissen aus einer Praxis hervorgeht. Mit Blick auf die Naturwissenschaften, insbesondere die Physik, stellte er fest, dass sich die Verfahren, die etwa im Ingenieurwesen oder in der Medizin angewendet würden, um Probleme der Bestimmung einzelner Fälle zu lösen, sich nicht grundsätzlich von jenen unterschieden, die beispielsweise bei der Feststellung von Verallgemeinerungen angewandt würden.8 Dewey lenkte damit den Blick auf die erkenntnisgenerierenden Praktiken unterschiedlicher Diszi­plinen, die deutliche Parallelen aufweisen – und wovon die großen Unterschiede in den Ergebnissen der Prozesse häufig ablenken. Wo zwischen abstrakten Formeln, langen Texten und Häusern scheinbar eine unüberbrückbare Kluft zu Tage tritt, zeigt der Blick auf vorausgehende Praktiken des Experimentierens und Berechnens, des Interpretierens und Schlussfolgerns – oder eben des Entwerfens – erstaunliche Ähnlichkeiten in ihrem erkenntnisgenerierenden Potential.9 Damit lässt sich aus erkenntnistheoretischer und wissenschaftsphilosophischer Perspektive ein Forschungszugang skizzieren, der der Erkenntnisgenese im Entwurfsvorgang nachgeht und den ich unter dem Stichwort „Entwerfen als epistemische Praxis“ fassen möchte. Der Ausdruck „epistemische Praxis“ soll dabei für dreier­lei stehen: Für eine erkenntnistheoretische These,

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für ein methodisches Vorgehen und für eine Forschungsperspektive. Als erkenntnistheoretische These impliziert der Ausdruck, dass ein genuines Wissen des Entwerfens nicht nur aus einer Praxis hervorgeht. Sondern sie behauptet, dass die Praxis selbst epistemisch ist. In ihr zeigen sich Weisen des Erkennens und Strategien der Erkenntnisaneignung, die erst in ihrer eigentlichen Hervorbringung gänzlich erfassbar werden. Als erkenntnistheoretische Methode steht der Ausdruck für die Behauptung, dass sich der Nachweis eines genuinen Wissens effektiv nur durchführen lässt, wenn eine prozessuale Begründung stattfindet, also eine Begründung, die unmittelbar aus der Genese entwickelt wird. Dieses Vorgehen ist im Gegensatz zu rekonstruierenden Begründungen zu verstehen, die in Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie weit verbreitet sind. Bei rekonstruierenden Verfahren setzt die methodische Rechtfertigung erst ein, wenn die Ergebnisse der Genese bereits gegeben sind. Die Erklärungsabsicht geht von den Ergebnissen aus: Geprüft wird, ob ein bestimmter Wissensanwärter (in der Regel eine Aussage) tatsächlich Wissen ist. Übersehen wird dadurch in der Regel nicht nur der Einfluss der Darstellungsformen, sondern unterschätzt wird auch die epistemische Dimension der Praxis, da sie von vornherein aus der Betrachtung ausgeschlossen ist. Dadurch bedingt sich zugleich die Bedeutung des Begriffs der epistemischen Praxis als Forschungsperspektive. Als Forschungsperspektive sollen die konkreten Praktiken der Hervorbringung untersucht werden, um zu beobachten, wie sich nach und nach ein Ergebnis herauskristallisiert. Verschoben wird damit der Fokus der Untersuchung von einer Ergebnisorientierung zu einer Prozessorientierung. Ziel ist es, hierbei spezifische epistemische Strategien und Verfahren der Überprüfung zu identifizieren. Einen Schwerpunkt der Analyse muss daher die genaue Charakterisierung der eingesetzten Praktiken und Techniken, Materialien und Werkzeuge, Medien und Notationen, Kommunikationsformen und Handlungen darstellen. Die genauere Bestimmung ihrer episte­mischen Rolle kann auf dieser Grundlage schließlich herausarbeiten, wie mit der Hervorbringung eines Artefakts zugleich Wissen erzeugt wird.10 Was also kann oder sollte eine architekturphilosophische Forschung leisten? Wer diese Frage stellt, sieht sich dem Vorwurf ausgesetzt, mit einer postulierten Architekturphilosophie ein hochspezia­ Chancen

einer

architekturphilosophischen

Forschung

Sabine Ammon – Perspektiven architekturphilosophischer Entwurfsforschung

lisiertes Archipel in der Wissenschaftslandschaft zu beschreiben, das dem derzeitigen Trend zur Zerklüftung und Diversifizierung in immer feingliedrigere Subdisziplinen folgt. Zu klären wäre dann nur noch, in welches Hoheitsgebiet diese neueste Verästelung des Wissenschaftssystems fällt, auf die sowohl Architektur als auch Philo­sophie Anspruch erheben. Doch das Gegenteil ist der Fall, wie es das Beispiel der architekturphilosophischen Entwurfsforschung gezeigt hat: Architekturphilosophie eröffnet vielmehr ein transdiziplinäres Forschungsfeld, das Impulse beider Disziplinen aufgreift und zugleich über sie hinausgeht, um neuen Fragestellungen und Bearbeitungsformen Raum zu geben. Von dort kann sie auf die etablierten Bereiche der Architektur und Philosophie zurückwirken, um wiederum disziplinäre Weiterentwicklungen mit Gewinn anzustoßen. Wie dies aussehen könnte, möchte ich jeweils für das Gebiet der Philosophie und der Architektur kurz schildern. Aus Sicht der Philosophie erscheint die Architekturphilo­ sophie als Bereichsphilosophie, die philosophische Fragestellungen in enger Auseinandersetzung mit einem Objektbereich entwickelt. Durch die Fokussierung auf einen Gegenstand wird es möglich, Zusammenhänge zwischen philosophischen Teilgebieten herzustellen, die häufig unverbunden nebeneinander bestehen. Am Gegenstand der Architektur können etwa Fragestellungen aus der Wissenschaftsphilosophie, Ethik, Ästhetik, Sozialphilo­sophie und Technikphilosophie in einen fruchtbaren Dialog gebracht werden. So lassen sich beispielsweise durch die Untersuchung von Entwurfsprozessen die Wechselwirkungen zwischen ethischen und ästhetischen Fragestellungen erkunden, die zugleich eine erkenntnistheoretische und sozialphilosophische Relevanz entfalten – und Vergleichbares gilt auch für die Untersuchung von Gebäuden als gestaltete Lebenswelt. Als unmittelbare Folge werden durch die sichtbar werdenden Verknüpfungen und wechselseitigen Abhängigkeiten neue Themenfelder generiert, die andernfalls durch die große Ausdifferenzierung und die gängigen Einteilungen verstellt blieben, wie es beispielsweise auch für die im ersten Abschnitt geschilderten Entwurfs- und Herstellungsprozesse gilt. Ergebnisse können dann wieder auf die unterschiedlichen Zweige der Philosophie zurückwirken und deren Weiterentwicklung anregen, beispielsweise durch die Ergänzung der Ästhetik um eine Produktionsästhetik, der Erkenntnistheorie um eine prozessuale Erkenntnistheorie, der Ethik um eine Ethik der Architektur und Gestaltung

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oder der Wissenschaftsphilosophie um eine Wissenschaftsphilo­ sophie der Architektur und Ingenieurwissenschaften. Für die Philosophie lassen sich aber durch die direkte Arbeit am Gegenstand noch weitere Effekte erwarten. So kann eine größere Offenheit gegenüber Schulen und Methoden die Folge sein, da durch die Konzentration auf den Gegenstand Unterschiede abgeschwächt werden. Fruchtbare Anregungen können leichter aufgegriffen und integriert werden, wie es beispielsweise in Teilbereichen der Technikphilosophie zu beobachten ist. Schließlich ist noch auf einen wichtigen weiteren Effekt hinzuweisen. Um Philosophie in direkter Auseinandersetzung mit einem konkreten Fachgebiet wie dem der Architektur zu betreiben, wird ein großes Fachwissen über diesen Gegenstandsbereich vorausgesetzt. Das macht das Philosophieren einerseits anspruchsvoll und voraussetzungsreich, andererseits entsteht eine Überprüfungsinstanz durch die Anwendung abstrakter philosophischer Überlegungen auf einen konkreten Gegenstandsbereich. Zugleich eröffnet dieser Anwendungsbezug eine Vermittlungsfunktion und die Möglichkeit einer stärkeren Anbindung philosophischer Reflexion an die Öffentlichkeit. Aus der Sicht der Architektur wird die Architekturphilo­sophie vor allem als Reflexionsdisziplin wirksam. Zwischen Architektur und Philosophie gab und gibt es immer wieder einflussreiche Wechselwirkungen, sei es zwischen dem Bauhaus und dem Wiener Kreis, im Rahmen der Debatte um die Postmoderne, der Austausch von Peter Eisenman und Jaques Derrida – um nur einige Beispiele aus dem 20. Jahrhundert zu nennen.11 Darüber hinaus haben immer wieder einzelne philosophische Schriften anregend auf Gestaltungsdebatten gewirkt, wie etwa der Aufsatz Bauen Wohnen Denken von Martin Heidegger oder Die Falte von Gilles Deleuze. Eine wichtige Funktion, die daher der Philosophie zukommt, ist ihr Einsatz als Inspirationsquelle und Vehikel der Auseinandersetzung für grundlegende entwurfliche Fragen. Eine historische Aufarbeitung kann hier Formen der Rückversicherung aufdecken wie auch die Rolle theoretischer Schriften in der Ideenfindung und der Klärung von Aufgaben in der Architektur, insbesondere in den Prozessen ihrer Entwicklung. Doch während diese Funktion der Philosophie besser bekannt ist, wurde das reflexive Potential der Philosophie für ein besseres Verstehen von Architektur bislang kaum beachtet. Wird Architektur

Sabine Ammon – Perspektiven architekturphilosophischer Entwurfsforschung

in einem umfassenden Sinn begriffen, der Entstehung, die gebaute Strukturen und den Kontext ihrer Nutzung einschließt ebenso wie die kulturelle und gesellschaftliche Einbettung wie auch historische Veränderungen, kann ein architekturphilosophischer Fokus einen wichtigen Beitrag dazu leisten, diese Zusammenhänge zu hinterfragen, zu strukturieren und aufzuklären. Dazu möchte ich noch einmal auf das im letzten Abschnitt skizzierte Beispiel architekturphilosophischer Entwurfsforschung zurückgreifen. Eine genauere systematische Untersuchung, die auf Begriffsklärungen und Argumentationsanalysen ebenso wie auf exemplifizierende Fallbeispiele zurückgreift, kann dazu beitragen, hemmende Klischees und hartnäckige Vorurteile zu beseitigen. Ein besseres Verständnis des eigenen Tuns kann nicht nur Vorgänge in der Praxis erleichtern und die Entwicklung unterstützender neuer Werkzeuge befördern, sondern auch wichtige Hilfestellungen für die Ausbildung bieten. Denn nicht zuletzt ist hier das Bedürfnis nach Reflexion und ein besseres Verständnis des eigenen Tuns besonders hoch – sowohl auf der Seite der Lernenden wie auch auf der Seite der Lehrenden. Dieser Zusammenhang sollte auch Anlass sein, die Reflexionskompetenz von Architektinnen und Architekten gezielt zu verstärken. Durch das Gebaute wird die Umwelt zu einer gestalteten Umwelt, die im hohem Maße auf unsere Lebenswelt Einfluss nimmt und die Lebensform der Nutzerinnen und Nutzer entscheidend prägt. Daraus resultiert eine hohe ethische Verantwortung, die selten als solche bewußt wahrgenommen wird. Diese Einflussnahme teilt die Architektur mit anderen technischen Artefakten, wenn auch dieser Zusammenhang selten hergestellt wird. Denn die Einflussnahme der Architektur ist subtil und umfassend, da sie alle Bereiche unseres alltäglichen Lebens berührt, die so selbstverständlich geworden sind, dass sie als solche kaum noch wahrgenommen wird. Damit ist ein wichtiger Problemkomplex benannt, der als Ethik der Gestaltung verstanden werden kann. Dabei geht es um grundlegende Fragestellungen im Zusammenhang mit dem Entwerfen von Architektur, mit der Gestaltung gebauter Lebenswelt und der Architektur als Gestaltung von Lebenswelt. Dies wirft einerseits Fragen nach dem Handeln der Architektinnen und Architekten, der Verantwortung ihres Tuns und dessen Konsequenzen auf.12 Sie können sich in Ethik-Kodizes spiegeln, die für die Architektur allerdings nur in Ansätzen vorliegen. Zum anderen sind damit Fragen angesprochen, die sich aus den normativen Struk-

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turen der gebauten Umwelt selbst ergeben und ihrer Festschreibung im Entwurf. Sie aufzudecken, bewusst zu machen und zu einem verantwortlichen Umgang zu führen, kann die Architekturphilo­ sophie übernehmen und damit eine wichtige Funktion in der Architektur und insbesondere in der Architekturausbildung übernehmen. Es gibt also gute Gründe, warum erneuernde Impulse aus einem übergreifenden Feld der Architekturphilosophie wünschenswert sind. Doch mit der Architekturphilosophie zeichnet sich, wie exemplarisch aufgezeigt wurde, nicht nur ein Gewinn für die bestehenden Disziplinen ab, sondern auch in der Konturierung neuer Fragestellungen. Für die historisch ausgerichtete Architekturtheo­rie und -geschichte kann die systematisch orientierte Architekturphilosophie eine wichtige Ergänzung darstellen. Neben ihrem anderen methodischen Zugriff, der sich an Begründungsmustern und Begriffsklärungen ausrichtet, werden zusätzliche Quellen erschlossen, die über Zeugnisse von Architektinnen und Architekten (und deren Umfeld) hinausgehen, um umfassendere ideengeschichtliche und argumentationsgeschichtliche Zusammenhänge herauszuarbeiten. Empirische Beispiele haben illustrierenden Charakter, die informierend und exemplifizierend angewandt werden. Statt einer Theorie des Entwerfens kann im Rahmen einer Architekturphilosophie damit beispielsweise eine Philosophie des Entwerfens entwickelt werden, der es weniger um konkrete Gestaltungsrichtlinien und methodische Anweisungen geht, als vielmehr um die Beantwortung grundsätzlicher Fragen nach der Verschränkung epistemischer, ethischer und ästhetischer Belange in der Entstehung von Architektur – die durch diese Erweiterung der Perspektiven nur gewinnen kann.

Christian Kremer

Grundrisse einer Architekturontologie Die Architektur und die Philosophie blicken auf eine lange gemeinsame Geschichte und Entwicklung zurück. Die Verknüpfung der Architektur mit der Philosophie stellt eine alte Denkart dar, deren Wurzeln bis in die griechische Antike zurückverfolgbar sind. Viele architektonisch relevante Fragestellungen bezüglich des Konzeptes oder des Entwurfes wurden immer schon in einem architekturphilo­ sophischen Rahmen behandelt. Die Architektur bedient sich seit jeher philosophischer Ideen und Impulse, ähnlich intensiv wie die Philosophie sich mit der Architektur auseinandersetzt. So haben sich praktisch alle bedeutenden Philosophen (von Platon bis Peter Sloterdijk) und Architekturtheoretiker (von Marcus Vitruvius Pollio bis Peter Eisenmann) ausgiebig mit architekturphilo­ sophischen Thematiken und Aspekten auseinandergesetzt und wichtige Impulse für ein architekturphilosophisches Verständnis geschaffen. Jedoch verfolgten diese in ihren Arbeiten und Abhandlungen nicht primär den Anspruch einer architekturphilosophischen Abhandlung, und nur sehr wenige sahen die Architekturphilosophie unter dem Aspekt einer eigenen Wissenschaftsdisziplin. Die bisherige Diskrepanz zwischen bloßem Ansatz und kompletter Ausarbeitung einer architekturphilosophischen Wissenschaftsdisziplin zeigt sich darin, dass erst in den letzten 30 Jahren zwar wenige, aber dafür umso wertvollere grundlegende architekturphilosophische Beiträge und Arbeiten veröffentlicht wurden. Jedoch, um es mit den Worten von Christian Illies zu formulieren, steckt die Architekturphilosophie noch immer in den Kinderschuhen, und es bedarf sicherlich noch viel Forschung und Arbeit, um die vielfältigen Ansätze und Verständnisformen

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zu einem grundlegenden architekturphilosophischen Verständnis auszubauen.1 Mit Hilfe meiner bisherigen architekturphilosophischen Forschungen und meiner Dissertation versuche ich einen solchen Beitrag zu leisten, um der Architekturphilosophie aus den Kinderschuhen zu helfen und sie zu einer integralen Architekturphilosophie auszubauen. Meine Promotionsarbeit trägt den Titel Realitäten Schaffen – eine Ontologie der Architektur. In dieser beschäftige ich mich mit der Erforschung einer Ontologie der Architektur und untersuche das Potential der Architektur, Ideen in unser alltägliches Leben und unsere Wirklichkeit zu transferieren und zu manifestieren. Kurz gesagt, ich untersuche, inwieweit die Architektur unsere erfahrbaren Realitäten mitkonstituiert und produziert. Unter dem Kerngedanken „Realitäten schaffen“ möchte ich den architekturphilosophischen Diskurs um eine ontologische Ebene erweitern und untersuchen, was man unter einer Ontologie der Architektur verstehen kann, und analysieren, inwieweit die bisherigen architekturphilosophischen Zugänge und Verständnisformen in einem solchen architekturontologischen Verständnis münden. Meine Dissertation baut auf den eruierten Erkenntnissen aus meinem Buch Architekturphilosophie: Eine Einführung in ein architekturphilosophisches Verständnis auf, und stellt eine konsequente Weiterentwicklung dieser Arbeit dar.2 Der Versuch einer Kategorisierung und Auflistung der bisherigen architekturphilosophischen Arbeiten ist hierbei von besonderer Bedeutung. Schaut man sich diese genauer an, so erkennt man, dass man die Architektur unter einer Vielzahl von philo­ sophischen Betrachtungsmöglichkeiten und Forschungsschwerpunkten untersuchen und in folgende Ansätze und Verständnisformen einteilen kann. Der sprachanalytische und medientheoretische Zugang Bevor man versucht, die Architektur zu definieren, sollte man ihre (ursprüngliche) Bedeutung analysieren. Dieser erste architekturphilosophische Zugang steht daher in einem sprachanalytischen Kontext und deckt zwei Aspekte der Architektur ab. Der erste Aspekt betrifft das architektonische Sprachspiel mit seinen vielseitigen Begrifflichkeiten. So untersucht zum Beispiel Indra Kagis McEwen in ihrem Buch Socrates’ Ancestor, An Essay on Architec-

Christian Kremer – Grundrisse einer Architekturontologie

tural Beginnings den metaphysischen Begriff der Arché, und deckt dessen philosophische Wurzeln auf. Neben der etymologischen Analyse der Begriffe stellt die medientheoretische Betrachtung der Architektur einen weiteren Ansatz innerhalb des sprachanalytischen Zugangs dar. Dieser architekturphilosophische Zugang untersucht jedoch nicht die Begriffe innerhalb eines Sprachspiels, sondern versteht die Architektur selbst als eine Form der Sprache, als ein Sprachsystem, das durch eine Symbolsprache mit dem Menschen kommuniziert. So beschreibt beispielsweise Nelson Goodman in seinem Buch Wie Bauwerke bedeuten, dass die Architektur nicht nur im Kontext einer Zeichenlehre steht, sondern selbst ein Medium darstellt. In dieser medialen Rolle übernimmt die Architektur sowohl die Aufgabe des Trägers als auch die des Vermittlers von Informatio­nen. Christoph Baumberger hat in Anlehnung an diese Theorien 2009 eine komplette Symboltheorie der Architektur verfasst und unter anderem aufgezeigt, wie diese sich auch auf die Wahrnehmung auswirken. Der ästhetische und kunstphilosophische Zugang Der Aspekt der Ästhetik und Kunst spielt sowohl in der Architektur als auch in der Philosophie eine bedeutende Rolle. Die Ästhetik stellt eine wichtige Disziplin der Philosophie dar und blickt in der Baugeschichte wie in der Architekturtheorie auf eine lange Tradition zurück. Ihr Begriff und ihre Bedeutung haben sich innerhalb der Geschichte genealogisch weiterentwickelt und verändert. In vielen Architekturdiskursen werden der philosophische Anspruch und die damit verbundene Tiefgründigkeit der Ästhetik jedoch völlig verkannt. Wie zu Zeiten Vitruvs wird so der Begriff der Ästhetik immer noch allgemein auf Fragen der Schönheit (venustas) reduziert. Der ästhetische Zugang der Architekturphilosophie arbeitet mit einem komplexen und tiefgründigen Begriff der Ästhetik im Sinne der eigentlichen Aisthesis (der Sinneswahrnehmung) und bezieht ihre einzelnen Entwicklungsphasen und Verständnisformen in die Analyse mit ein. Der ästhetisch-architekturphilosophische Zugang analysiert die Architektur nicht nur nach Parametern der Schönheit, sondern auch des Konzeptes. So untersucht beispielsweise Roger Scruton in seinem Buch The Aesthetics of Architecture nicht nur die eigentliche Erscheinung der Architektur, sondern vielmehr ihre Wirkung auf den Menschen und das Potential, eine

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soziale Ordnung vorzugeben. Die Kombination von funktionalen und künstlerischen Elementen spielt in dieser Betrachtungsweise eine wichtige Rolle. Die Architektur wird hinsichtlich der Ästhetik in einer vielfältigen Weise ausgelegt. Sie wird als eine Kunst des Ensembles betrachtet, die Teil eines Umweltensembles ist und das Potential der Vermittlung von Kompetenzen besitzt. Der raumtheoretische und phänomenologische Zugang Dieser architekturphilosophische Zugang setzt sich mit der komplexen Thematik des Raums und den unterschiedlichen erkenntnistheo­ retischen und epistemologischen Ansätzen auseinander. Die einzelnen Raumkonzepte mit ihren mannigfaltigen Auslegungen von Raumverständnissen sowie die Raumstrukturen mit ihren unterschiedlichen Wahrnehmungsmustern werden innerhalb dieses Ansatzes analysiert und miteinander verglichen. Fragen wie beispielsweise: „Was ist Raum?“, „Was versteht man unter Raum?“, „Wie kann man Raum definieren oder auslegen?“ und „Wie wird Raum wahrgenommen?“ stellen wichtige Ansätze dar, um ein sowohl architektonisches wie auch philosophisches Verständnis zu generieren. Die architekturphilo­ sophische Auseinandersetzung mit den vielfältigen Phänomenen des Raums hilft dabei, ihn besser zu verstehen. Diese eruierte Kenntnis von Raum ermöglicht einen Impuls für neue, innovative Raumkonzepte. Das moderne Verständnis von Architektur definiert und differenziert sich durch die unterschiedlichen Raumkonzepte. Repräsentativ für ein möglichst vielfältiges architekturphiloso­ phisches Verständnis des Phänomens Raum kann man beispielsweise den phänomenologischen Zugang Martin Heideggers sowie Michel Foucaults Heterotopien anführen. Der kulturanthropologische Zugang Dieser architekturphilo­

sophische Zugang beschäftigt sich mit der Relation zwischen der Entwicklung des Menschen in Bezug auf seine Kultur und sein gebautes Umfeld in Form der Architektur. Richard Sennett mit seinem Buch Fleisch und Stein, Der Körper und die Stadt in der westlichen Zivilisation und vor allem Peter Sloterdijks Sphären Trilogie stehen repräsentativ für diesen architekturphilosophischen Zugang. In Bezug auf die Architektur ist besonders der dritte Teil, Schäume, von großer Bedeutung. So sieht Sloterdijk zum Beispiel in den Gebäudetypologien des Apartments und des Stadions reprä-

Christian Kremer – Grundrisse einer Architekturontologie

sentative, kohärente Zeit- und Kulturumsetzungen. Anhand einer langen Entwicklungsgeschichte erläutert er, wie sie eine immer größere Bedeutung bekommen und in welchem gesellschaftlichen und politischen Kontext sie entstanden sind und sich etablieren konnten. Der politische Zugang Die Politik ist, ähnlich der Architektur,

keine eigene abgeschlossene oder abgeschirmte Disziplin. Poli­ tische Systeme und Strukturen stehen in einem sozialen, interdisziplinären Kommunikations- und Wirkungskontext mit anderen Disziplinen und Medien. Die Architektur stellte schon immer ein wichtiges Instrumentarium dar, um politische Grundsätze und Gedanken im städtischen Raum zu manifestieren. Die politische Ebene der Architektur vermittelt über das Erscheinungsbild und den Wahrnehmungscharakter ein soziales und politisches Selbstverständnis von Mensch und Raum. So besitzt sie beispielsweise das Potential, eine diktatorische Ideologie innerhalb einer Architektur der Macht zu unterstützen, eine Politik der reinen Machtausübung und Unterdrückung in den Raum und in das Stadtbild zu transferieren und dort zu materialisieren; oder aber innerhalb des Verständnisses der Architektur des Ermöglichens einen Raum der Offenheit zu generieren, einen freien, sozialen Handlungsraum zu schaffen, in dem die Menschen sich wohlfühlen und frei miteinander interagieren können. Diese und weitere Zwischenkonzepte werden mithilfe des architekturphilosophischen Zugangs zur Architektur ergründet. Dieser Zugang und die darin enthaltenen Ausführungen stehen im Lichte der Überlegungen von Henri Lefebvre, Michel Foucault und Ludger Schwarte und knüpfen an diese an. Die Gegenüberstellung der Architektur der Macht und der Architektur des Ermög­ lichens steht repräsentativ für ein kontradiktorisches und weit auslegbares Verständnis der Relationen zwischen Politik und Architektur. Der ethische Zugang Dieser architekturphilosophische Zugang

beschäftigt sich mit den ethischen und soziologischen Aspekten der Architektur. Die ethische Dimension der Architektur ergibt sich aus der Erkenntnis, dass öffentliche Räume soziale Handlungsräume darstellen, in denen verschiedene Menschen verweilen und agieren. Der ethische Zugang stellt somit ein konsequentes Weiterdenken

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eines politischen und sozialen Verständnisses von Architektur dar. Jedes menschliche Handeln und Verhalten ist Teil eines ethischen Kontexts. Als Beispiel für einen solchen ethischen Zugang kann man Karsten Harries Buch The Ethical Function of Architecture anführen, oder aber die 2011 erschiene Promotionsarbeit von Martin Düchs Architektur für ein gutes Leben, in der er sich mit Fragen der Verantwortung, der Ethik und der Moral dem Architekten gegenüber auseinandersetzt. Diese sechs substanziellen Ansätze und Zugänge lassen sich durch weitere Verständnisebenen und Erschließungsfelder konsequent weiterführen und ergänzen. Zum Beispiel durch die Arbeiten von Elizabeth Grosz, insbesondere durch ihr Buch Architecture from the Outside, in dem sie eine feministische Ebene und Dimension in den architekturphilosophischen Diskurs einbringt und sich für die Einführung eines organischen, körperlichen Architekturverständnisses ausspricht. Anstatt diese Ansätze disziplinär zu unterscheiden, könnte man den architekturphilosophischen Diskurs auch nach unterschiedlichen Untersuchungsfeldern und Schwerpunktthematiken einteilen, wie beispielsweise in die Themenbereiche der Arché, also des Anfangens und des Gründens, oder aber in die Thematiken des Planens und des Repräsentierens. Ebenso könnte man die vielfältigen Wirkungsbereiche der Architektur im Hinblick darauf untersuchen, wie es ihr gelingt Leben zu formen, Gesellschaft zu stabilisieren und zu lenken, Handlungen zu ermöglichen, oder gar die Welt zu verändern. Das architekturphilosophische Verständnis Dieses Sammel­

surium an unterschiedlichen Zugängen, Ansätzen und Verständnisformen, sowie die jeweiligen untersuchten Thematiken, Aspekte und Wirkungsfelder verweisen eindrucksvoll auf die philo­ sophische Vielschichtigkeit und Komplexität, die von der Architektur ausgeht. Sie decken ein breites Themenspektrum (von der Sprachanalytik bis zur Ethik) ab und erforschen die Architektur in einem weit vielfältigeren, komplexeren und wissenschaft­ licheren Kontext, als es beispielsweise bei der Architekturtheo­rie je möglich sein könnte. Beide Disziplinen werden oft fälschlicherweise miteinander verwechselt oder aber als Teilgebiete der jeweils anderen Disziplin gesehen. So wird nur allzu oft übersehen, dass viele Architekturtheorien Teile der architektonischen Kanonisierung darstellen und dazu verleiten, die Architektur nach strin-

Christian Kremer – Grundrisse einer Architekturontologie

genten Ansprüchen zu definieren. Architekturtheorien stehen dabei meist in einem engen Zusammenhang mit Planungsideologien, die innerhalb eines ökonomischen Kontexts angesiedelt sind, und dem Diktat einer Umsetzung und Realisierung eines Plans folgen.3 Neben der Architekturtheorie hat sich in den letzten Jahren vor allem die Soziologie intensiver mit der Architektur auseinandergesetzt und die offensichtliche Bedeutung der Architektur für eine Gesellschaft erforscht. So sieht die Architektursoziologie in der Architektur nicht länger einen bloß passiven Ausdruck einer Gesellschaft, sondern vielmehr ein konstitutives und transitives gesellschaftliches Moment, das eine effektive, soziale Notwendigkeit darstellt. Die Architektursoziologie untersucht in der Architektur die Voraussetzungen und die Phänomene des gesellschaft­ lichen Miteinanders:4 Jedoch legt auch sie ihre Forschungsprioritäten auf das Gebaute und geht von einem klar vorgebenden Architekturverständnis aus.5 Die Architekturphilosophie (wie die Philosophie überhaupt) bewegt sich dagegen außerhalb dieses indoktrinierten Kanons und begegnet der Architektur viel freier und unverbindlicher. Das architekturphilosophische Verständnis erlaubt uns, anders als die Architekturtheorie und die Architektursoziologie, die Architektur frei von stringenten Planungs- und Umsetzungsideo­ logien zu erforschen und ein besseres und vor allem vollständigeres Verständnis und Bild darüber zu bekommen, was Architektur ist, und welch bedeutende Rolle ihr zukommt. Betrachtet man die bisherigen architekturphilosophischen Zugänge und Ansätze sowohl im Einzelnen als auch in der Gesamtheit ihrer vielfältigen Verständnisformen, so erkennt man, dass sie in ihrer Struktur offen sind und von den Thematiken her inhaltlich stark zusammenhängen. Die vorliegenden Ansätze konzentrieren sich zwar zumeist auf bestimmte Schwerpunktthematiken und stellen immer nur gewisse Themenbereiche und bestimmte Aspekte in den Vordergrund, ohne sich wirklich mit anderen Architekturphilosophien auseinanderzusetzen. Sie stehen jedoch alle in einer engen Verständnisrelation zueinander und stellen für sich genommen immer nur eine Ebene, eine Verständnisform dessen dar, was man unter der Architekturphilosophie verstehen kann. Nelson Goodmans und Christoph Baumbergers architektursemio­ tische Arbeiten versteht man beispielsweise erst dann adäquat, wenn man unter anderem die ästhetische Ebene und Dimension der Architektur in die Analyse miteinbezieht. Das ästhetische

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Verständnis selbst hingegen, und somit die Wahrnehmung von Architektur mit ihren unterschiedlichen Konzepten, ist wiederum sehr stark mit den jeweiligen Raumtheorien und Raumverständnisse verbunden. Die Bedeutung der Politik in der Architektur lässt sich erst dann vollends verstehen und untersuchen, wenn man sich bewusst wird, welche wichtigen Rollen symboltheoretische, ästhetische und raumtheoretische Aspekte in diesem Wirkungs- und Wahrnehmungsprozess spielen. Die einzelnen Verständnisformen hängen nicht nur inhaltlich eng miteinander zusammen, sondern bedingen sich teilweise auch gegenseitig. So lässt sich beispielsweise von einem architekturpolitischen Verständnis eine eigene Architekturethik ableiten. Diese Verständnisbrücken und Analogiemomente lassen sich innerhalb des architekturphilosophischen Diskurses beliebig fortführen. Obwohl einige Philosophen sich in manchen Punkten widersprechen und teils differierende Ansichten vertreten, hängen die jeweiligen Theorien und Ansätze doch eng zusammen und lassen sich untereinander ergänzen. Sie ergeben erst in ihrer Gesamtheit ein adäquateres und besseres Bild davon, was man unter Architektur verstehen kann. Die ontologische Ebene im architekturphilosophischen Diskurs

Die vielfältigen Ansätze und Verständnisformen stehen nicht nur in einer engen Verständnis- und Inhaltsrelation zueinander, sondern beschäftigen sich darüber hinaus auch mit fundamental wichtigen Themen. Jeder dieser Zugänge und jede der Verständnisformen beschäftigt sich mit für uns Menschen und unser Leben essenziellen Fragenstellungen und Thematiken und untersucht Auszüge dessen, was wir als unsere alltägliche Realität und Wirklichkeit verstehen. Schaut man sich die einzelnen untersuchten architektur­ philosophischen Verständnisbereiche genauer an, wie beispielsweise die Untersuchungsfelder der Semiotik, der Ästhetik, der Raumtheo­rie, der Kultur, der Politik, der Soziologie und der Ethik und so weiter, so erkennt man, welch vielfältige substanzielle Themengebiete von der Architektur abgedeckt werden. Jeder dieser essenziellen Bereiche und Untersuchungsfelder stellt einen oder mehrere Ausschnitte unserer Wirklichkeit, unseres Seins dar. Alle bisherigen architekturphilosophischen Ansätze und Zugänge besitzen implizite ontologische Verständnismomente, insoweit sie sich mit den architektonischen Grundstrukturen

Christian Kremer – Grundrisse einer Architekturontologie

unserer Wirklichkeit und Rahmenbedingungen unseres Seins beschäftigen. Die einzelnen Verständnisformen besitzen dabei nicht nur ontologische Züge und Ansätze, sondern verweisen in einem breiteren Verständnis auf weitere architekturontologische Fragestellungen und Betrachtungsmöglichkeiten. Alle zusammen betrachtet verweisen auf den fundamentalen, konstituierenden, realitätsschaffenden Charakter der Architektur in Bezug auf die Organisierung unseres Alltags, die Strukturierung unserer Lebenswelt sowie unser Existenz- und Seinsverständnis. Sie verweisen in ihrer Summe auf ein architekturontologisches Verständnis und können daher als Grundrisse einer möglichen Architekturontologie verstanden werden. Interessanterweise existiert bereits eine Vielzahl von architekturphilosophischen Arbeiten, die die Bedeutung eines architekturontologischen Verständnisses erkannt haben. Die Arbeiten von Martin Heidegger, Michael Foucault, Uwe Bernhard, Benoît Goetz, Ludger Schwarte und anderen gehen entweder von einem architekturontologischen Grundverständnis aus, oder untersuchen und thematisieren die Architektur im Kontext einer Ontologie. Neben diesen Ansätzen existieren auch Abhandlungen, Aufsätze, die sich primär mit einer Architekturontologie beschäftigen und die Architektur unter architekturontologischen Aspekten unter­ suchen. Die Arbeiten von Peter Auer stellen beispielsweise in dieser Hinsicht einen interessanten Impuls dar. In seinem Text an_ arch, Skizzen zu/r Architektur-Ontologie/n untersucht er die Bedeutung „des In-der-Architektur-seins“ und interpretiert die Arbeiten von Alain Badiou, August Schmarsow, Martin Heidegger, HansGeorg Gadamer im Kontext von architekturontologischen Abhandlungen. In Anlehnung an Friedrich Kieslers Installation Raumstadt aus dem Jahre 1925 gibt er zu verstehen:6 „Architektur hat Teil an der Aufteilung der Welt in zweifacher Hinsicht: Als konkrete terri­toriale Grenzziehung und als ästhetisch-sensorisches Regime. Beide Weisen gemeinsam sind Lokalisierungen und Materialisierung von Grenzen. Insofern ist Architektur je schon politisch. Die ontologische Bedeutung liegt im Präsentieren des Aufteilens als Gestell, als eingeräumte Stätte. Dieses Statthaben ist, sobald es sich präsentiert, in seiner Welt, daher immer schon ein In-sein. Öffentlich oder privat sind graduelle Intensitäten dieses In-seins.“7

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Architekturontologie? Die Ontologie, oder wie Aristoteles sie

nannte, die erste Philosophie bedeutet bekanntlich die Lehre des Seins, und stellt somit die bedeutendste und schwierigste Disziplin der Metaphysik dar. Anders als jedoch zu Zeiten Aristoteles’ beschäftigt sich das heutige ontologische Verständnis weniger mit Fragen, ob wir überhaupt existieren, oder, wie noch Rudolf Goclenius, mit der Existenzfrage, ob es Engel und Hexen gibt. Das architekturontologische Verständnis knüpft eher an Christian Wolffs Metaphysica generalis, oder die allgemeine Wissenschaft des Seienden an und beschäftigt sich mit der Gesamtheit des Seins, oder genauer mit den grundsätzlichen architektonischen Existenz- und Entwicklungsbedingungen. Die Architektur spielt in dieser Hinsicht eine fundamentale Rolle und wirkt sich dramatisch auf unsere alltägliche Realität aus, indem sie beispielsweise die zu beschreitenden Bewegungswege vorgibt und determiniert, wie schnell und in welcher Dichte wir diese beschreiten. Sie ermöglicht uns die Orientierung oder aber lockt uns mit so genannten Attraktoren zu den Geschäftszentren und bestimmt so unser Konsumverhalten. Sie definiert privat und öffentlich und macht uns die Klassen- und Gesellschaftsunterschiede sichtbar. „Die Architektur ist die unentrinnbare, stets vor Augen stehende, nicht wegzustoßende, dauerhafte und überdimensionale Gestalt der Gesellschaft.“8 Sie passt sich unseren Bedürfnissen an, oder gibt vor, wie wir zu leben haben. Sie spiegelt dabei stets das kulturelle, politische, techno­logische, ökonomische und ökologische Selbstverständnis unserer Zeit wider. Wird man sich erst diesen und weiteren vielfältigen Einflussfaktoren bewusst, so erkennt man, dass keine Kunst, keine Technik, keine Wissenschaft, kein von menschlicher Hand gefertigtes Artefakt existiert, das unser Leben, unseren Alltag, unsere Existenz, unsere Realität oder kurz unser „Sein“ so beeinflusst und ermöglicht wie die Architektur, und dass es von essenzieller Bedeutung ist, die Architektur unter ontologischen Gesichtspunkten zu erforschen. Architekturontologie könnte in diesem Sinne die Frage untersuchen und in den Raum werfen, in welch einer Beziehung unser Sein mit der Architektur steht oder aber unser Sein durch die Architektur geprägt und geformt wird. Architekturontologische Forschung kann dabei helfen, eine gemeinsame wissenschaftliche Basis für bestehende und bereits vorhandene architekturphilo­

Christian Kremer – Grundrisse einer Architekturontologie

sophische Verständnisformen zu bilden und eine Brücke zu architekturtheoretischen und architektursoziologischen Untersuchungsfeldern zu schlagen. Das architekturontologische Verständnis bezieht alle anderen Verständnisformen und Untersuchungsfelder in die Analyse mit ein und versucht einen komplexeren und vielfältigeren Begriff von Architektur zu eruieren und eine Antwort auf die Frage nach der Essenz und Bedeutung der Architektur zu geben. Das architekturontologische Verständnis geht dabei, anders als bei der Architekturtheorie und der Architektursoziologie, von einem emergenten Begriff von Architektur aus. In der Architektur­ ontologie geht es um die Frage, wie die Grundstrukturen unserer Wirklichkeit aufgebaut sind und welche Rolle der Architektur hier zukommt. Es geht hier primär darum, zu verstehen und zu erforschen was Architektur ist, und was Architektur kann. Das architekturontologische Verständnis wird als erste Verständnisform der Vielfalt und Komplexität des Architekturbegriffs wirklich gerecht, und besitzt das Potential, aus allen bisherigen architekturphilo­ sophischen Ansätzen und Verständnisformen eine integrale Architekturphilosophie zu generieren. Indem die Architekturontologie nicht nur die Analogien, Verknüpfungen und Verständnisbrücken zwischen den einzelnen architekturphilosophischen Ansätzen und Zugängen aufzeigt, sondern alle bisherige Verständnisformen in einem grundlegenden, gesamtheitlichen, ontologischen Verständnis zusammenführt, hilft sie dabei, die fundamentale Bedeutung und Essenz der Architektur offenzulegen, indem Sie uns verständlich macht, wie die Architektur unsere Realitäten schafft.

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Remei Capdevila-Werning

Palimpseste in der Architektur. Ein symboltheoretischer Zugang Als Palimpseste bezeichnet man diejenigen Manuskripte, die beschrieben, ausgelöscht und dann neu beschrieben wurden, so dass später eine Originalschrift unter einer neueren Schrift zu entdecken und der ursprüngliche Text noch lesbar ist. Im übertragenen Sinne gilt der Begriff Palimpsest als eine Metapher für die Überlagerungen von Bedeutungen und Sinnstrukturen, die durch jüngere Einflüsse und neue Bedeutungen unsichtbar werden. In der Architektur, besonders in Archäologie und Denkmalpflege, wird Palimpsest als eine Art Geistererscheinung verstanden, als eine Spur von etwas, was nicht mehr da ist, wie zum Beispiel die Markierungen von ehemaligen Treppen in abgerissenen Häusern, die Informatio­nen über die Baugeschichte eines Ortes liefern. Man kann aber Palimpseste in der Architektur nicht nur als phy­sische Spuren von ehemaligen Bauten verstehen, sondern auch als komplexe Überlagerungen von Bedeutungen, also im übertragenen Sinne. Es gibt dann nicht nur eine Schrift unter einer neueren Schrift, sondern mehrere aufeinanderliegende Schichten. Im spezifischen Sinn ist die konzeptuelle Überlagerung von Bedeutungen durch jene phy­sischen Spuren erkennbar. Diese doppelte Bedeutung der Palimpseste in der Architektur kann man von einer symboltheoretischen Perspektive aus analysieren. Hier soll in spezifischer Weise der Begriff Palimpsest im Rahmen von Nelson Goodmans Philosophie als ein komplexes Symbol interpretiert werden, das in verschiedenen Symbolsystemen wirkt und deswegen verschiedene Bedeutungen erzeugt. Das wird durch die Erörterung des Restaurations- und Rekon­ struktionsprozesses des 2009 wiedereröffneten Neuen Museums in Berlin gezeigt, für den der britische Architekt David Chipper-

Remei Capdevila-Werning – Palimpseste in der Architektur

field und der Denkmalpfleger Julian Harrap verantwortlich waren. Dieses Gebäude ist ein besonders gutes Beispiel für Palimpseste in der Architektur, da das Hauptkonzept der Wiederherstellung des Museums war, so viele Materialschichten wie möglich zu erhalten und dadurch die Geschichte des Gebäudes deutlich zu machen. Die Erläuterung des Konzeptes des Palimpsests in der Architektur von einer symboltheoretischen Perspektive aus geht auf epistemologische Fragen ein, da der Prozess der Aufdeckung von Materialien auch Sinnbezüge offenlegt; letztlich geht es dabei um nichts weniger als die Wahrhaftigkeit der Interventionen in der Denkmalpflege. Da der Begriff Palimpsest als Überlagerung von Sinnstrukturen ursprünglich und hauptsächlich in der Literaturwissenschaft vorkommt, ist es hilfreich, zu beschreiben, wie er dort angewendet wird, um die Übertragung auf die Architektur besser zu verstehen. Hier wird diese Überlagerung als Intertextualität verstanden, jeder Text ist also ein Hypertext, der auf andere Texte verweist, sie modifiziert, neu schreibt und umschreibt. Texte haben dann einen palimp­sestischen Charakter,1 wenn sie mehr oder weniger klare Spuren anderer Werke enthalten. Das ist genau das, was Gérard Genette wörtlich im Titel eines seiner Bücher sagt: Texte sind Palimpseste und werden als Die Literatur auf zweiter Stufe erörtert, das heißt, dass Texte auf einem anderen, nicht wortwörtlichen Niveau interpretiert werden müssen.2 Dieser literaturtheoretische Gebrauch des Begriffs kann aber nur teilweise auf die Architektur angewendet werden, weil die Überlagerung von Bedeutungen in einem Gebäude sich nicht (oder nicht nur) auf andere Gebäude bezieht – wie es in der Literatur passiert – sondern auch auf die Geschichte des Gebäudes selbst und, indirekt oder auf zweiter Stufe, auf die Geschichte, die soziale und kulturelle Umgebung überhaupt. Das heißt: Während die palimpsestischen Untersuchungen der Literaturwissenschaften sich auf sich selbst beziehen oder intrinsisch sind, sind Palimpseste in der Architektur sowohl intrinsisch als auch extrinsisch. Dass es Palimpseste in der Architektur gibt, bringt also mit sich, dass Gebäude zu einem gewissen Grad als Texte interpretiert werden können. Das heißt aber nicht, dass Gebäude einfach und nur Texte sind. Man muss Palimpsest eher als eine metaphorische Übertragung verstehen, die erlaubt, Architektur aus einer neuen Per­ spektive zu untersuchen. Diese Metapher ermöglicht,

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wie Andreas Huyssen behauptet, die Einführung der Zeitlichkeit und damit der Vergänglichkeit in die tektonischen Künste oder Media – normalerweise die stabilsten und unveränderlichsten, also Architektur, Skulptur oder sogar ganze Städte.3 Raum übernimmt dadurch eine zeitliche und historische Dimension; die Überlagerung von Bedeutungen ist nicht mehr synchron sondern eher diachron. Vielleicht kommt deswegen die Metapher des Palimpsests öfter in der jüngsten Theorie der Denkmalpflege vor, da es einer der aktuellen Konservierungstrends ist, möglichst viele Spuren der Geschichte des Gebäudes zu erhalten. Statt totaler Rekonstruk­ tionen, die nicht mehr erhaltene Strukturen makellos zurückbringen, wird heute versucht, das Vergehen der Zeit und die verschiedenen Phasen, die ein Gebäude erlebt hat, sichtbar zu machen.4 Diesem Denkmalpflegeprinzip liegt die Voraussetzung zugrunde, dass solche Interventionen wahrhaftiger und daher wertvoller sind als Rekonstruktionen, die ein Gebäude zu einem bestimmten Zeitpunkt seiner Geschichte gewissermaßen festfrieren. Dieses Verfahren entspricht genau dem Artikel 11 der Charta von Venedig, der im Jahre 1964 international anerkannten und gebilligten Richtlinie, die die zentralen Werte und Vorgehensweisen bei der Konservierung und Restaurierung von Denkmalen festlegt: „Die Beiträge aller Epochen zu einem Denkmal müssen respektiert werden: Stileinheit ist kein Restaurierungsziel. Wenn ein Werk verschiedene sich überlagernde Zustände aufweist, ist eine Aufdeckung verdeckter Zustände nur dann gerechtfertigt, wenn das zu Entfernende von geringer Bedeutung ist, wenn der aufzudeckende Bestand von hervorragendem historischen, wissenschaftlichen oder ästhetischen Wert ist und wenn sein Erhaltungszustand die Maßnahme rechtfertigt.“5 Die zugrundeliegenden Voraussetzungen dieses Artikels haben mit dem Sinnwert eines Gebäudes oder einiger seiner Teile zu tun. Wie es in der Präambel der Charta steht, „vermitteln die Denkmale in der Gegenwart eine geistige Botschaft der Vergangenheit“ und deren Bedeutung soll bewahrt werden. Restaurierungsprozesse haben dann epistemologische Konsequenzen, da das, was diese Prozesse zeigen oder verbergen und wie sie es zeigen oder verbergen, entscheidend dafür wird, wie man die Vergangenheit versteht und interpretiert. Eine philosophische Untersuchung dieser Voraussetzungen kann durch die Untersuchung des Umfangs und

Remei Capdevila-Werning – Palimpseste in der Architektur

der Bedeutung der Palimpseste in der Architektur unternommen werden, da die Überlagerungen von Bedeutungen, die vom Gebäude erlebte Geschichte, durch physische Spuren sichtbar wird und ästhetisch zu erfahren ist. Ein Palimpsest in der Architektur als ein komplexes Symbol in Goodmans Sinne zu verstehen, berücksichtigt sowohl epistemologische als auch ästhetische Wertigkeitsaspekte. Laut Goodman ist ein Gebäude ein Symbol, wenn es auf etwas Bezug nimmt, also wenn es nicht nur eine praktische Funktion erfüllt, sondern auch Bedeutungen in sich trägt. Symbole stehen nicht allein, sie gehören zu Symbolsystemen mit bestimmten Eigenschaften. Um zu wissen, worauf sich ein Symbol bezieht, muss man das Symbol innerhalb eines Symbolsystems interpretieren. Eine Kirche symbolisiert das Christentum, ein Moschee den Islam und eine Synagoge das Judentum in einem System, das Gebäudetypologien auf Religionen bezieht. Dies ist aber nicht das einzige Symbolsystem, zu dem die Kirche gehören kann. Dieselbe Kirche symbolisiert etwa das Gotische in einem System, das Gebäude und architektonische Stile in Verbindung bringt, und Heiligkeit und Erhabenheit in einem weiteren System, das Gebäude mit spirituellen Qualitäten verbindet. Symbole können dann eine Vielzahl von Bedeutungen haben, je nach den Systemen, zu denen sie gehören, und Interpretation ist nötig, um ihre Bedeutungen zu eruieren. Gebäude, die als Symbole wirken, bedeuten nicht nur in einer Hinsicht, sondern ihre Symbolisierung kann vielfach sein. Goodman unterscheidet zwischen mehrfacher Bedeutung (multireferentiality) und Mehrdeutigkeit (ambiguity). Ein Symbol hat mehrere Beziehungen innerhalb desselben Systems, wie zum Beispiel ein Musterhaus, das sich auf Größe und Raumverteilung in einem einzigen System bezieht. Ein Symbol ist mehrdeutig, wenn es verschiedene Interpretationen innerhalb verschiedener Systeme hat, wie es am Beispiel der Kirche zu sehen ist.6 Mehrdeutigkeit kann sich auch ergeben, weil es nicht möglich ist, die Charakteristiken des Symbolsystems zu bestimmen, so dass das Symbol nicht voll interpretierbar ist.7 Je mehr man weiß, desto gründlicher lässt sich ein Gebäude interpretieren. Das obengenannte Beispiel ist relativ einfach. Die verschiedenen Bedeutungen einer Kirche werden durch ihre Zugehörigkeit zu verschiedenen Symbolsystemen erklärt oder durch die Bezugnahme innerhalb desselben Systems. Wie soll man aber ein

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palimpsestisches Gebäude als Symbol interpretieren? Man könnte sagen, dass es sich – so wie die Kirche – um ein Symbol mit mehrfachen Bezugnahmen handelt, um ein Symbol, dessen Bedeutungen von verschiedenen Symbolsystemen abhängen. Dies erklärt jedoch weder den diachronischen Aspekt des Palimpsests, noch ob es Unterschiede zwischen restaurierten und nicht-restaurierten Gebäuden gibt. Vielleicht kann man sagen, dass jede phy­sische Spur, die einen Teil des Palimpsests ausmacht, ein Symbol innerhalb des Gebäudes ist, so dass jede Spur ein anderes Symbol ausmacht und das Gebäude sozusagen mehrere Symbole beinhaltet. Diese Interpretation berücksichtigt jedoch nicht, dass es sich um dasselbe Gebäude handelt, und dass die verschiedenen Teile eine Einheit bilden. Eine andere Erklärung, die diese Aspekte berücksichtigt, ist also nötig. Eine Diskussion über die Wiederherstellung des Neuen Museums in Berlin kann eine solche Deutung liefern. Das Neue Museum wurde ursprünglich zwischen 1843 und 1855 vom Schinkelschüler Friedrich August Stüler gebaut. Es handelte sich um ein spät-klassizistisches Gebäude mit einer eklektischen Innendekoration für jeden Raum, die sich an die jeweiligen Inhalte anpasste. Während des Zweiten Weltkriegs wurde es stark bombardiert, und danach lag es für fast fünfzig Jahre als Ruine in der Mitte von Ost-Berlin, da der weiche Sandboden es sehr schwer machte, die Fundamente des Museums zu festigen. Dank größerer Erhaltungsarbeiten (in den 1980er Jahren durchgeführt) stürzte das Museum nicht ein; eine originalgetreue Rekonstruktion sollte im Herbst 1989 beginnen, aber dieses Vorhaben fand nach der Wiedervereinigung nicht statt. Im Jahre 1997 wurden David Chipperfield und Julian Harrap mit dem Wiederaufbau des Neuen Museums beauftragt, und im Oktober 2009 öffnete das Museum seine Türen wieder, mit denselben Sammlungen wie vor dem Krieg.8 Laut Chipperfield war der Leitsatz für die Wiederherstellung folgender: „Ein neues Gebäude aus den Resten des Alten zu schaffen, ein neues Gebäude, das seine Geschichte weder feiert noch versteckt, sondern das sie aufnimmt. Ein neues Gebäude, aus Fragmenten oder Teilen des Alten gemacht, aber nochmals zur Vollständigkeit zusammengebracht.“9 Dieses Prinzip wurde praktisch so umgesetzt, dass kein einheitliches Vorgehen stattfand, sondern eine Raum-für-Raum-Methode, durch die die Fragmente dokumentiert wurden und Lösungen von Fall zu Fall vorgeschlagen wurden.10 Es wurde jeweils entschieden,

Remei Capdevila-Werning – Palimpseste in der Architektur

welche Bauteile zu erhalten, restaurieren, ergänzen oder ersetzen seien, so dass die materiellen Schichten die „Ge-schichten“ des Gebäudes sichtbar und spürbar machen. Das macht die palimpsestische Natur des Neuen Museums aus.11 Symboltheoretisch kann man dieses denkmalpflegerische Prinzip wie folgt interpretieren: Das Vorhaben, dass man ein einziges und vollständiges Gebäude schaffen möchte, führt dazu, dass das ganze Museum als ein einziges Symbol zu interpretieren ist und nicht als ein Behälter vieler verschiedener Symbole, zumindest was den palimpsestischen Charakter des Museums betrifft. Das Museum ist dann als ein mehrdeutiges Symbol und nicht als ein Symbol mit mehrfacher Referenz zu verstehen, was nicht heißt, dass das Museum nicht auch das Letztere ist. Wenn das Neue Museum als Beispiel für Chipperfields jüngere Werke gilt, als Exemplifizierung der Eisenkonstruktion des 19. Jahrhunderts oder als eine der herausragendsten Antikensammlungen der Welt, dann funktioniert das Gebäude in verschiedenen Symbolsystemen. Ohne auf die semantischen und syntaktischen Eigenschaften des Symbolsystems12 gründlich einzugehen, ist schon klar, dass diese Eigenschaften festlegen sollten, dass die Überlagerungen von Schichten und Bedeutungen als Palimpsest verstanden werden müssen. Das heißt, als Abdrucke von etwas, was nicht mehr da ist, als Spuren der Geschichte, da nicht alle Spuren notwendigerweise bedeutungsvoll sein müssen: Ein Fleck an der Wand kann einfach nur ein Fleck sein, der durch Feuchtigkeit aufgetaucht ist und muss sich nicht unbedingt auf etwas anderes beziehen. Das Symbolsystem soll festlegen, dass man versteht, wenn man zum Beispiel die Decke des Römischen Saals betrachtet, dass die blauen Flächen die äußeren sind, und dass die grauen die zweite oder dritte Schicht darstellen, auch wenn diese graue Schicht später im Konservierungsprozess aufgebracht wurde und nicht original ist. Man muss dann auch imstande sein, zu interpretieren, dass eigentlich vorher alles blau war, und das Faktum, dass es heute nicht so ist, soll zu der Idee führen, dass das Gebäude zerstört wurde.13 Dadurch werden sowohl die Wahrhaftigkeit der Bedeutungen des Gebäudes als auch die Spuren der Geschichte bewahrt. Oder zumindest ist es das, was man vermutet, weil in einigen Fällen Restaurierungsverfahren angewendet wurden, die mehr zeigen, als je zu sehen war. Auf diese Weise werden Schichten in das Palimpsest eingeführt,

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die nicht auf die Geschichte des Gebäudes deuten, sondern auf das Restaurierungsverfahren selbst. Das ist der Fall bei den roten Ziegelsteinen, die im Originalbau benutzt wurden. Diese werden gezeigt, da sie auf das „Trauma der Bombardierung und die der anschließenden Verwüstungen des Wetters“ deuten.14 Da aber der Zustand einiger dieser Ziegelsteine so schlecht war, wurden mehrere tausend anderer Ziegelsteine aus abgerissenen Gebäuden derselben Epoche nach Berlin transportiert, und wieder andere wurden nach Originalmethoden wiederhergestellt, so dass sie sich ununterscheidbar mit den übriggebliebenen Teilen verflechten. Da die originale rote Farbe außerdem zu strahlend war, wurden die Ziegel verblasst, so dass man heute einen „verputzten Ziegelbau“ hat. Das, was man sieht, ist dann nicht das, was es war und so, wie es war. Diese Beispiele zeigen, dass die Restaurierungsprozesse epistemologische Konsequenzen haben, und dass das Leitprinzip, die Geschichte des Gebäudes getreu aufzunehmen, nicht wortwörtlich zu verstehen ist. Das ist in der Tat einer der Kritikpunkte gegen die Wiederherstellung des Museums. Wie Harrap sagt: „Manche haben argumentiert, dass dieses Entfernen [von Elementen aus DDR-Zeiten] sich nicht in Übereinstimmung mit der allgemeinen Philosophie des Schemas befand, da die zu DDR-Zeiten durchgeführten Maßnahmen als Teil der Geschichte des Gebäudes hätten aufbewahrt werden sollen. Das bedeutet, den Unterschied zwischen einer archäologischen und einer architektonischen Annäherung misszuverstehen.“15 Dieses Textfragment widerspricht teilweise dem obengenannten denkmalpflegerischen Prinzip, da die Geschichte des Gebäudes nicht vollständig aufgenommen wird, sondern eine Selektion aus anderen Gründen stattgefunden hat.16 Diese Gründe sind laut Harrap durch den architektonischen und nicht-archäo­ logischen Ansatz seiner Arbeit bedingt. Was ein architektonischer Ansatz ist, wird nicht explizit definiert, man kann aber annehmen, dass dieser weniger rigoros und wahrhaftig als ein archäo­logischer ist oder sein darf, und dass neben epistemologischen auch andere Aspekte stehen, die man als ästhetisch bezeichnen kann. Diese Gründe scheinen im Falle des Neuen Museums die epistemo­ logischen zu überlagern, was man auch aus Chipperfields Absichten folgern kann, besonders wenn er sagt: „Hier sollte weder imitiert noch entwertet werden, was vom stark beschädigten Gebäude übrig geblieben war – ein Piranesi’sches Gebilde aus Ziegelmauern und

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architektonischen Fragmenten.“17 Auch Harrap spricht von einer „Ruine, durchdrungen von der pittoresken Romantik eines Arkadien des 19. Jahrhunderts“18 und von einer piranesischen Ruine als ein Objekt, das restauriert werden muss. Er sagt: „Der fehlende Boden des Ethnographischen Saals bot eine wirklich piranesische Vision einer zerstörten Struktur. Die Herausforderung bestand darin, den ursprünglichen Charakter dieses verfallenen Gewebes zu erfassen.“19 Der ursprüngliche Charakter ist dann nicht mehr das originale Gebäude, sondern der durch fast fünf Jahrzehnte Nachlässigkeit entstandene ruinöse Zustand, den die Architekten vor Ort antrafen. Diese romantische Konzeption der Ruine prägt die ganze Intervention, es ist sozusagen das ästhetische Leitbild, das teilweise die denkmalpflegerischen Entscheidungen begründet. Statt die fehlenden Teile aus grauem Beton zu bauen, wie zum Beispiel in Veronas Castelvecchio, wurden Ziegelsteine derselben Farbe benutzt, um den ruinösen Charakter zu bekräftigen. Und statt mit verputztem Blau oder etwas dem „tratteggio“ Ähnlichem die Decken zu bemalen, wurde eine Schicht, die nicht die oberste ist, erhalten. Wie Ira Mazzoni sagt: „Ganz selbstverständlich erfährt die Ruine eine neue Wertschätzung als Teil der Geschichte. Mehr noch, der ‚Status der Ruine soll Teil der Zukunft des Museums‘ werden.“20 Die Ruine wird nicht nur Teil der Geschichte, als eine Schicht des Palimpsests, die die Zerstörung des Zweiten Weltkriegs und die Nachlässigkeit symbolisiert und in diesem Sinne epistemologisch wirkt. Die Berücksichtigung der Zerstörung als etwas Wertvolles und als das, was durch Denkmalpflege erhalten werden muss, ist gewiss eine von Chipperfields besten Leistungen. Viel eher aber ist es die romantische Wahrnehmung der Ruine, was die Einheit des Gebäudes ausmacht und die ästhetische Erfahrung der Besucher prägt. Bislang wurde von dem Gebäude als Symbol aus der Per­spektive des Entwerfenden gesprochen. Geht man von Goodmans Philosophie aus, sind Architekten Symbolerzeuger und dementsprechend Welterzeuger: Durch Symbole und Symbolsysteme entsteht Wissen, das ist die epistemologische Sicht, und gleichzeitig bilden diese Symbole und Systeme Welten oder Weltversionen, das ist die ontologische Sicht, denn für Goodman gibt es keine Welt oder „die“ Welt, die als letzter Bezugspunkt gilt, sondern eine Pluralität von Symbolsystemen, die die Welten

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ausmachen.21 In diesem Kontext sind Architekten auch Palimpsesterzeuger, sie sind diejenigen, die das Palimpsest sichtbar und die Fragmente lesbar machen, was selbstverständlich schon eine Selektion und Interpretation mit sich bringt. Das Gebäude als Symbol ist ein Konstrukt, eine gebaute Interpretation des Neuen Museums als ein Palimpsest, das seine eigene Geschichte als aus der Ruine gerettet präsentiert. Aber dieses Symbol wird seinerseits von den Besuchern erfahren und interpretiert. Wenn man Gebäude als Symbole, die interpretiert werden müssen, versteht, dann ist die ästhetische Erfahrung, durch die die Bedeutungen eines Gebäudes ans Licht gebracht werden, ein Schlüsselelement des symbolischen Zugangs. Sie ist auch ein zentraler Punkt, da durch Interpretation Weltversio­nen entstehen. Von dieser Perspektive aus bekommt die folgende Beschreibung eine neue Relevanz: „Chipperfields Neues Museum, mit seiner Schichtung von Vergangenheit und Gegenwart, macht dem Besucher bewusst, dass Geschichte nicht statisch, sondern immer in erster Linie eine Neuinterpretation durch zeitgenössische Augen ist, die von aktuellen Agenden geleitet und bestimmt ist. Die ausgestellten Kunstwerke, Stülers Programm und die Spuren der Zerstörung und des Wiederaufbaus sind eine ständige Erinnerung daran, und sie bringen die Vergangenheit näher und verwandeln den Besucher in einen aktiven Teilnehmer der [Vergangenheit des Museums].“22 Denn der Besucher ist nicht nur der aktive Teilnehmer an der Verfassung des Museums, sondern von Weltversionen überhaupt. Auch wenn der Architekt das Symbol entwirft, seine Interpretation ist immer offen, die Leser des Palimpsests sind diejenigen, die die Geschichte letztendlich schreiben. Und deswegen ist es so wichtig, die Kriterien der Restaurierung zu kennen, damit man nicht getäuscht wird. Wie gesagt, erlaubt die Metapher des Palimpsests die Einführung von Zeitlichkeit in die Architektur. Das beinhaltet Vergangenheit und Zukunft. Irgendwann wird die heutige Überlagerung von Bedeutungen neuere Sinngebungen erfahren, die Patina der Zeit wird das architektonische Symbol beeinflussen und vielleicht kommt es sogar dazu, dass es wieder restauriert werden muss, und nochmals Entscheidungen über das, was bleiben soll und was nicht, getroffen werden müssen. Eine neue Schicht wird in den Palimp­ sest eingeführt, oder vielleicht werden die Konservierungstrends so sein, dass die heutige Intervention als Beispiel der Denkmal-

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pflege zu Anfang des 21. Jahrhunderts erhalten wird, auch wenn die Konzeptionen sich in jener Zeit geändert haben werden. Es könnte sein, dass Ruinen nicht mehr ästhetische Faszination wecken. Gebäude und denkmalpflegerische Interventionen sind vergänglich, und das heißt auch, dass deren Bedeutungen und unsere Erfahrung der Denkmale sich verändern. Sowohl Gegenstände unserer Interpretationen als auch die Interpretationen selber sind zeitlich und kontextuell bedingt. In derselben Weise, wie Chipperfields Wiederaufbau stark von den heutigen Trends in der Denkmalpflege beeinflusst ist, ist dieser Versuch, Palimpseste in der Architektur symboltheoretisch zu erörtern, ebenso bedingt. Man hat gesagt, dass Stüler Georg Wilhelm Friedrich Hegels Dreiteilung der Kunst als symbolische, klas­sische und romantische folgte, als er die Räume im Neuen Museum organisierte. Das heißt nicht, dass Stüler Hegels Vorlesungen besuchte, sondern dass deren Themen zu dieser Zeit bekannte Ideen waren.23 Allerdings, wie Joseph Rykwert sagt: „Geschichte als Historie, als grand narrative, wie sie ursprünglich das Neue Museum geformt hat […] entspricht nicht mehr der Weise, wie wir unsere Vergangenheit ordnen: sie ist vielmehr fragmentarisch, sie befasst sich vielmehr mit dem Besonderen, mit Mikrogeschichten, mit Streit und Konflikt, anstatt mit einer epischen Darstellung der Progression von einer Epoche zu einer anderen.“24 Wahrscheinlich beschäftigt sich Chipperfield deswegen auch mit den übriggebliebenen Fragmenten, weil das postmoderne Verständnis der Geschichte und Vergangenheit es nicht mehr erlaubt, vollständige Rekonstruktio­nen als wahrhaftig und aufrichtig zu betrachten. Philosophisch wendet man sich von Hegels symbolischer Architektur zum architektonischen Symbol, von Eindeutigkeit zur Mehrdeutigkeit, vom singulären zum mehrfachen Sinn und vielfacher Bezugnahme. Es war Hegels Philosophie, die Stülers Projekt zu Anfang antrieb, Hegels Satz „die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug“25 mag es auch sein, was diese Reflektion anregt. Denn es gibt keine Philosophie der Architektur ohne Architektur; ohne Gebäude und alles andere, was die Architektur ausmacht, wäre die Reflektion nicht möglich. Das ist die theoretische Begründung dafür, dass dieser Aufsatz anhand eines Beispiels entwickelt ist. Man darf aber nicht vergessen, dass laut Goodman Interpretationen auch ein Gebäude ausmachen: „Mehr als jede andere Kunst macht die Architektur uns bewusst, daß sich Inter-

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pretation nicht so ohne Weiteres von dem Werk unterscheiden läßt. […] Ein Abstreifen oder Herausreißen aller Konstrukte (das heißt, jegliche Interpretation und Konstruktion) hinterlässt nicht das von jeder Verkrustung gereinigte Werk, sondern vernichtet es.“26 Die hier versuchte Erörterung der Palimpseste in der Architektur kann zu einem konstitutiven Teil des Neuen Museums als Symbol werden, denn sie zeigt, dass es, auch wenn Wahrhaftigkeit eines der Ziele der Denkmalpflege ist, andere Kriterien gibt, die diese Absicht übertrumpfen. Die ästhetischen Eigenschaften des Gebäudes prägen seine Bedeutungen und die Weise ihrer Erfahrung. Diese Interpretation ist selbstverständlich nicht die einzige. Aber hoffentlich leistet sie einen Beitrag zum Fortschritt des Wissens und zu den offenen und endlosen Prozessen der Deutung und Konstruktion der Architektur.27

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Improvisation in der Architektur. Einige philosophische Überlegungen 1. Welche Stellung hat die Architektur, als Kunst der Organisation und des Baus von Raum, insbesondere für das menschliche Wohnen und Leben, im Bereich der Künste? Welcher ist der spezifisch ästhetische Charakter von Architektur? Wie ist Architektur ästhetisch erfahrbar bzw. welche Art ästhetischer Erfahrung kann man mit architektonischen Werken machen? Ist Architektur (nur) eine visuelle Kunst? Welche ästhetischen, ethischen, ökologischen und politischen Aspekte ergeben sich aus der Beziehung zwischen architektonischer Kreativität und öffentlichem Raum? Mehr noch: Wie ist Architektur zu denken? Welche theoretischen Anregungen lassen sich für die Philosophie und nicht nur für die Ästhetik durch die Auseinandersetzung mit Architektur gewinnen? Dieses sind nur einige der Fragen, denen Architekturphilo­ sophen und Architekturtheoretiker sich traditionell widmen. In der Debatte über Philosophie und Architektur der letzten fünfzig Jahre wurden unterschiedliche Positionen bezogen: Fragen unterschiedlicher Art wurden gestellt; verschiedene Antworten gegeben. Architektur galt zum Beispiel nach Hans-Georg Gadamer als diejenige Kunst, die die „ästhetische Differenzierung“ in die Krise führt, da architektonische Werke nur in der Beziehung zu ihrer Umgebung erfahrbar sind.1 Theodor W. Adorno hingegen forderte den Architekten auf, die ästhetische Dimension von Architektur nicht zu vernachlässigen, da die Überflüssigkeit des Ornaments ihm zufolge eine Modalität des „negativen“ Charakters ist, der authentische Kunst auszeichnet.2 Roger Scruton verteidigte seinerseits die These, dass ästhetische Erfahrung und praktische Vernunft nicht notwendig getrennt sind. Dies wird exemplarisch von Architektur

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gezeigt, deren Erfahrung imaginative, expressive und kreative Grundbestandteile hat.3 Während Scrutons Geschmack etwa klassizistisch geprägt ist und seine ethisch-ästhetische Positionierung in der architektur­ philosophischen Debatte eher konservativen Charakter hat, widmeten sich Henri Lefebvres neo-marxistische und Fredric Jamesons postmoderne Philosophie der Architektur einer Reflexion, deren Ausgangspunkt die (gerechtfertigte) Überzeugung ist, dass die neue Transformation der ästhetischen Produktion und deren theo­ retische Folgen gerade in der Architektur eindeutig sichtbar werden. Nämlich dort, wo sie in Form einer Veränderung des gebauten Raums auftreten. Laut Jameson hängt dies auch mit der Entwicklung eines neuen Sensoriums bzw. neuer perzeptiver Fähigkeiten zusammen, deren Erforschung den Weg der Atopie des Virtuellen eröffnet.4 Lefebvre hatte Architektur bereits einige Jahre zuvor als materielle und konzeptuelle Produktionsmodalität von Raum definiert und als soziale Praxis in Beziehung zu anderen sozialen Praktiken theoretisiert.5 Indem er die dialektische Beziehung zwischen architektionischer Einbildungskraft und anderen gesellschaftlichen Akteuren als notwendiges Moment eines korrekten und fruchtbaren Verständnisses von Architektur begriff, hat Lefebvre die Bedeutung der Dimension des Performativen in der philosophischen Reflexion der Architektur herausgestellt – was gegenwärtig auch Ludger Schwarte mit seiner historisch und theoretisch umfassend angelegten Philosophie der Architektur gemacht hat.6 Mit diesen kurzen einleitenden Erwägungen kann selbstverständlich keine vollständige Zusammenfassung der Architektur­ philosophie der letzten fünfzig Jahre gelingen (zu viele weitere wichtige Denker hätten verdient, hier erwähnt zu werden), noch kann eine Zusammenfassung der Hauptthemen der Architekturästhetik geliefert werden.7 Es sollte vielmehr ein Rahmen meiner eigenen Überlegungen zur Ästhetik der Architektur skizziert werden. Im Folgenden werde ich versuchen, auf explorative und tentative Art zu zeigen, ob und wie der, vor allem aus dem Bereich der aufführenden Künste entnommene Begriff der „Improvisation“ auf das Denken von Architektur angewendet werden kann. Ich werde mich also besonders auf die Seite der Produktion stellen und auf diese Weise versuchen, einen (bewußt bescheidenen und einführenden) Beitrag für die Forschung über die performative

Alessandro Bertinetto – Improvisation in der Architektur

Dimension der Architektur, hinsichtlich ihrer Bedeutung als soziale Praxis, aber auch hinsichtlich ihres konstitutiven Moments der ästhetischen Erfahrung, zu liefern. Die ästhetische Erfahrung ist im Fall von Architektur nämlich nicht kontemplativ, sondern partizipatorisch, denn sie kann auf die Bauwerke in performativer und transformatorischer Weise wirken. Der Nutzen der Anwendung des Improvisationsbegriffs auf die Ästhetik der Architektur kann deshalb auf folgende Weise zusammengefasst werden: Die Architekturpraxis und die Architekturerfahrung werden so unter der Perspektive des Performativen betrachtet, was einem Verständnis von Architektur als Kunstpraxis entspricht, die eine genuin soziale Praxis ist, soziale Auswirkungen hat.8 Einerseits kann man auf Grund der spontanen, situativen und transformativen Qualität der Improvisation die Dimension der Kreativität in der Praxis der Architektur auf unterschiedliche Weisen ausloten. Andererseits kann man aufgrund des interaktiven Charakters der Improvisation ein theoretisch wirkmächtiges Instrument für das Verständnis der Verbindung der ästhetischen und der sozialen Dimension von Architektur gewinnen. 2. Die Frage, die ich in diesem Aufsatz kurz diskutieren möchte,

betrifft also die Möglichkeit und die Fruchtbarkeit der Anwendung des Begriffs der Improvisation auf die Architektur. Es mag natürlich naheliegend sein, ein Gebäude als improvisiert zu charakterisieren, falls man diese Bezeichnung bloß in der pejorativen Bedeutung versteht, das heißt dass etwas, das in improvisierender Weise hergestellt wird, „ohne Aufmerksamkeit“, ohne „Vorbereitung“, „ohne die angemessenen Mittel“, „ohne die entsprechende Technik“ produziert wird. Viele unansehnliche Gebäude könnten ohne Weiteres in diesem Sinn als improvisiert bezeichnet werden.9 Schwieriger scheint es hingegen, einen möglichen fruchtbaren Zusammenhang zwischen Architektur und Improvisation herauszustellen: Falls man den Begriff der Improvisation nämlich in seinem ästhetisch relevanten Sinne verwendet, wie er in den performativen Künsten wie Musik, Theater und Tanz gebraucht wird. Ästhetisch „relevant“ ist die Bedeutung von Improvisation hier, weil eine Aufführung, die improvisiert ist, ästhetisch erfolgreich sein kann – genauso wie eine Aufführung, die auf einem komponierten Werk basiert. (Und dies gilt, obwohl sich die Kriterien für den Erfolg von Improvisationen von den Kriterien für den Erfolg von Auffüh-

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rungen komponierter Werke unterscheiden können).10 Natürlich kann zum Beispiel eine improvisierte musikalische Aufführung misslingen. Das Scheitern der Improvisation hängt aber nicht per se von der Tatsache ab, dass die Aufführung improvisiert wurde – selbstverständlich können sehr gute Improvisationen aufgeführt werden, die gerade als Improvisationen ästhetisch wirksam sind. Das Scheitern einer Improvisation hängt vielmehr damit zusammen, dass einfach schlecht improvisiert wurde (und dass schlecht improvisiert wurde, hängt wieder mit einer Reihe weiterer möglicher Gründe zusammen). Nun scheint es so, als würde in der Architektur üblicherweise nicht improvisiert. Eine Handlung oder eine Tätigkeit ist dann improvisiert, wenn kein Unterschied zwischen Plan und Aufführung besteht, wenn beide zusammenfallen. In den verschiedenen performativen Künsten (insbesondere Tanz, Musik und Theater) finden also improvisatorische Performances statt, wenn – auf verschiedene Weise und auch in verschiedenem Maße (je nach Kunstpraxis, Kunstgenre, ästhetischem Stil und dergleichen) – die erfinderische Kreativität direkt auf der Bühne ausgeführt wird. So besteht ein elementarer Teil des Werts der Aufführung gerade darin, dass die Art und Weise, wie Künstler ihre Kreativität in Interaktion mit der spezifischen Situation ausüben, direkt gezeigt wird. Mit anderen Worten: In einer improvisierten Aufführung fallen Prozess und Produkt zusammen und das Publikum erlebt die künstlerischen Inventionen der Performer in Echtzeit. Architektur ist normalerweise kein monophasiges Unternehmen wie die Improvisation, sondern ein zweiphasiges, wie im Fall von künstlerischen Praktiken, wo die Phase der Komposition sich von der Phase der Ausführung zeitlich und auch „ontologisch“ unterscheidet: Üblicherweise ähnelt Architektur also den performativen Künsten, wenn nicht improvisiert wird, denn Architekten entwerfen normalerweise Projekte, die erst im Anschluß durch andere „Performer“ (Maurer und andere Bauarbeiter) in der Realität umgesetzt werden. Projektherstellung und konkreter Aufbau sind zwei verschiedene Tätigkeiten, die normalerweise auch in verschiedenen raumzeitlichen Umständen und von unterschiedlichen Subjekten durchgeführt werden. Schon deswegen scheint es unangemessen, von Improvisation in der Architektur zu sprechen.

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Außerdem gibt es noch einen weiteren Grund für die vermeintliche Unanwendbarkeit des Begriffs Improvisation auf die Architektur. In improvisierten Aufführungen im Rahmen der sogenannten performing arts erlebt das Publikum den Prozess der Kunstproduktion direkt, wenn die Performance vollgezogen wird: Der Prozess wird als Produkt erlebt.11 Auch wenn ein Gebäude im Sinne der ästhetisch relevanten Koinzidenz von Plan und Ausführung improvisiert wäre, wäre eine Wertschätzung des Prozesses als ästhetisch relevant nicht unbedingt gegeben. Obwohl der Prozess per se zwar ästhetisch relevant sein kann (man könnte die Art und Weise genießen, wie ein Gebäude aufgebaut wird), ist die ästhetische Erfahrung des Prozesses nicht Voraussetzung für die ästhetische Erfahrung seines Resultats, des architektonischen Werks. Denn in der Architektur, genau wie zum Beispiel in der Malerei und der Bildhauerei, ist das Produkt vom Prozess ontologisch getrennt: Der Prozess ist nicht das Produkt und das Produkt verschwindet nicht mit dem Ende des Prozesses. Das Produkt bleibt existent und Gegenstand der ästhetischen Erfahrung auch nach dem Ende des Produktionsprozesses. Dies würde auch dann gelten, wenn die Produktion improvisiert wäre und zwar im ästhetisch relevanten Sinne. Und dass das Bauwerk auch nach dem Ende des Aufbauprozesses vorhanden bleibt, ist natürlich erforderlich für den Erfolg der Architektur als solche. Mit anderen Worten: In den performativen Künsten ist Improvisation vergänglich. Zwar können audiovisuelle Aufnahmen das Ergebnis einer Improvisation bewahren, das, was bewahrt wird, ist aber keine Improvisation mehr, im Sinne einer Koinzidenz von Prozess und Produkt, obwohl es Musik, Tanz, oder Theater ist.12 Wäre Architektur im Gegenteil so vergänglich wie eine Improvisation in Musik, Theater oder Tanz, dann könnte man zwar von einer Performance sprechen, die auf die Praxis der Architektur bezogen ist, aber nicht mehr von Architektur im eigentlichen Sinne. Denn es scheint sinnlos, eine Praxis als Architektur zu bezeichnen, wenn das Ergebnis der vermeintlichen architektonischen Produktion (ein Haus, eine Brücke, ein Wolkenkratzer, eine Kirche, etc.) nach dem Ende des Produktionsprozesses wie ein Feuerwerk vergehen würde. Und dies auch dann, wenn das Ereignis in einer audiovisuellen Aufnahme aufbewahrt würde. Architektur ähnelt in dieser Hinsicht anderen Kunstpraktiken wie Photographie und Malerei.13

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Wie kann man also den Begriff Improvisation auf die Praxis der Architektur vernünftig und produktiv anwenden? Im Folgenden werde ich versuchen, zu zeigen, dass es den oben erklärten Schwierigkeiten zum Trotz mögliche und beachtliche Wege gibt, um den Begriff der Improvisation im Bereich der Architektur zu gebrauchen. 3. Es gibt tatsächlich eine Reihe denkbarer Fälle, in denen die

Beziehung von Architektur und Improvisation in interessanter und relevanter Weise thematisiert werden kann. Man kann zum einen an Architektur als „Rahmenbedingung“ für improvisatorische Tanz-, Musik-, und Theater-Performances denken. Architektonische Bauwerke unterschiedlicher Art können als Räume für die Ausübung improvisatorischer Performances verwendet werden. Entsprechend kann man auch auf die Idee kommen, die Praxis der Improvisation in den performing arts als ein Muster für die Praxis der Architektur zu sehen. David P. Brown hat einige Fallbeispiele möglicher Beziehungen von Architektur und Improvisation in den performing arts in seinem Buch Noise Orders. Jazz, Improvisation, and Architecture diskutiert.14 Er hat gezeigt, dass diejenigen Kunstpraktiken im 20. Jahrhundert, die aus der Improvisation gespeist werden (unter anderem Happenings, Performance Art, Free Jazz, Action Painting), auch die Orte für die Aufführungspraxis in situativen und unvorhersehbaren Arten und Weisen umgedeutet und neu verwendet haben. Die Praxis der Improvisation bringt nämlich manchmal die kreative Inanspruchnahme von Gebäuden mit sich, deren alte Funktionen absichtlich umgedacht und umgestaltet werden. Die kollektive und „spontane“ Aneignung von Räumen wird oft als Voraussetzung für die Realisierung einer improvisato­rischen Aufführung oder als ein Teil dieser Realisierung verstanden. Kirchen und Schulen werden also zum Beispiel als Räume für Konzerte von improvisierter Avantgardemusik, Wolkenkratzer als Orte für unerwartete ImproTheater-Performances verwendet. Gerade in diesem Sinne suchte die 1965 in Chicago entstandene Association for the Advancement of Creative Musicians (AACM), die auf experimentelle Weise neue Kodierungen für die Entwicklung von kreativer Improvisationsmusik erarbeitete, auch alternative Standorte für die frei improvisierten und kollektiven Aufführungen, und „in seeking these settings, this collective

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extended the interactions of improvised music play to the social and urban situations of Chicago’s South Side.“15 Improvisation wird damit zu einem Mittel, um durch die Stadt zu „surfen“ und an der Stadt gemeinschaftlichen Anteil zu haben. Die Architektur kann also der Kunstimprovisation dienen. Die Frage ist, welche Architektur für einen solchen Dienst besser geeignet ist. Browns These ist nicht nur, dass Architektur für die Ausübung der künstlerischen Improvisation verwendet werden kann, sondern auch, dass sie ausdrücklich für dies Ziel gedacht werden kann und sogar soll. Denn – so lautet Browns These – eine Architektur, die für die Ausübung von improvisatorischen Kunstpraktiken angemessen ist, ist auch besser geeignet, um die Bedürfnisse des Menschen als eines vergleichbar spontanen Wesens zu befriedigen, das mit der jeweiligen Umwelt interagieren muß. Demzufolge kann das Design der Praxis der Improvisation helfen und umgekehrt auch die Kunstimprovisation als Muster der De­signpraxis gedacht werden.16 Die Absicht ist, eine Architekturform zu entwerfen, die sowohl zu den Praktiken der Improvisation im Kunstbereich als auch (und vor allem) zum modernen Leben passt.17 Gerade die Praxis der Improvisation in der Musik kann laut Brown Richtlinien für diese möglicherweise fruchtbare Entwicklung der Architektur anbieten. Denn die Praxis der Musikimprovisation verdeutlicht auf exemplarische Weise die Tatsache, dass die verschiedenen Aufführungen einer Komposition nicht nur das Werk wiedergeben und verwirklichen, sondern auch auf die Komposition rückwirken. Erfolgreiche Aufführungen entdecken nicht nur neue und unerwartete Bedeutungen des Werkes, sondern sie bedingen auch diese Bedeutungen.18 Das Muster der Improvisation auf die Architektur anzuwenden bedeutet also Folgendes: Die Architekturpraxis, genau wie die Musikpraxis, ist nicht exklusiv als eine Tätigkeit zu verstehen, die sich notwendigerweise in zwei streng getrennten Phasen artikuliert: Der Vorbereitung von Projekten und der Verwirklichung dieser Projekte. Auch in der Architektur geht es vielmehr um die Interaktion zwischen einem Projekt und den besonderen Verwirklichungen des Projektes,19 die auf das Projekt rückwirken und es auch verändern (können), indem sie es auf eine bestimmte und unwiederholbare Situation anwenden.20 Die Architektur, die Brown im Blick hat, ist eine Architektur, die den dynamischen Charakter des physischen und sozi-

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alen Raums markiert und die die Form frei macht, indem sie sie in unvorhersehbaren Weisen organisiert. Browns Ziel ist es, „to contribute to an architecture of inclusion that encourages original and creative actions, when coupled with greater understanding of the various organizers that work upon the metropolitan field, and to operate in an environment that unfolds by default rather than by design. By incorporating conceptions and processes that facilitate improvisation, design can contribute to areas in this field in which improvisation and the agency that it provides have greater potential to occur.“21 Sowohl die Improvisation in den Künsten und im Alltag als auch das architektonische Schaffen sind „interactive formmaking processes.“22 Die Improvisation in den performing arts kann deswegen als Muster für eine Art spontaner Organisation verstanden werden, in der die Interaktion von Akteuren und Situationen als Gelegenheit für das Ins-Werk-Setzen von kreativen Prozessen gilt.23 Bezüglich Browns Auffassung der Beziehung von Improvisation und Architektur kann man sich allerdings fragen, ob von „Spontaneität“ der Architektur die Rede sein kann, wenn Architektur unabhängig vom Bezug zur Kunstimprovisation in den performing arts gesehen wird. Denn es scheint, dass die Betonung der Beziehung zwischen Architektur und den performing arts hier nur das Mittel ist, um einen Aspekt der architektonischen Praxis herauszustellen, der gewiss auch unabhängig von diesem Bezug bedeutend ist. Mit anderen Worten: Man kann den Begriff Improvisation auf Architektur auch dann anwenden, wenn Architektur nicht für die Ausübung von musikalischen, theatralen oder tänzerischen improvisierten Aufführungen gedacht oder verwendet wird und auch dann, wenn Improvisation in Musik, Theater oder Tanz nicht explizit als Gestaltungsmodell für Architektur verstanden wird. 4.a Erstens kann man sagen, dass die Umgestaltung von

Funktio­nen von alten Gebäuden als ein spezifischer improvisatorischer Zug von Architektur begriffen werden kann. Gebäude ändern ihre Funktionen mit der Zeit.24 Sie werden an neue Situationen angepasst. Deswegen kann man sagen, dass hier die Improvisation in der Phase des Gebäudegebrauchs im Spiel ist. Diese Art improvisatorischer Praxis wird nicht nur von Architekten geleistet, die

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alte Gebäude für neue Funktionen renovieren, sondern auch von neuen potentiellen Benutzern, die alte Gebäude für neue, vorher unvorhersehbare Funktionen re-aktualisieren (und diese Funktionen erschöpfen sich natürlich nicht in der Umgestaltung von Räumen, die für improvisierte Performances passend sind). Man könnte also diese Operation in Analogie zu solchen interpretatorischen Ausführungen verstehen, die auf das Werk zurückwirken, indem sie neue Bedeutungen und Funktionen des Werkes erfinden und, dank dieses unerwarteten, ja unvorhersehbaren Ertrags einen improvisato­rischen Zug aufweisen.25 4.b Um Zusammenhänge zwischen Improvisation und Architektur

zu finden, kann man zweitens an den ungeplanten Aufbau von Gebäuden und sogar Städten denken. Vor dem geplanten Aufbau von Städten hat die Menschheit bekanntlich Siedlungen gebaut, die, obwohl nicht ohne spontane Organisation, doch ohne Planung entstanden sind. Es handelt sich hier um Konstruktionen, mit denen die Menschheit auf die Umstände der natürlichen und sozia­len Umwelt reagiert hat. Damit hat die Menschheit versucht, sich sowohl nach ihrer Umgebung zu richten als auch die Umgebung an die eigenen Bedürfnisse anzupassen. Diese Prozesse sind übrigens nicht nur (Vor- oder Ur-)Geschichte. Die ungeplanten, „spontanen“ Entwicklungen der modernen Peripherien sind Fälle von orga­ nischem, ja „autopoietischem“ Wachstum,26 welches das Ergebnis einer Art kollektiver improvisatorischer Kreativität zu sein scheint. In der Anstrengung, auf die natürlichen und sozialen Situationen auf eine wirksame Weise zu antworten, zeigt sich die menschliche Arbeit beinahe als Fortsetzung natürlicher Kräfte. Selbstverständlich ist es manchmal schwierig, solche Ansiedlungen als gelungene Formen von Architektur (als Kunstpraxis) zu verstehen: Dies passiert eben, wenn das ästhetische Ergebnis unzureichend ist. Und wie solch eklatante Fälle wie die Favelas in Rio de Janeiro und viele ähnliche Fälle zeigen, geht das ästhetische Scheitern (oft) mit dem funktionalen Scheitern einher.27 Doch in den Fällen, wo solche scheinbar ungeregelte Produktivität ästhetisch gelingt, ist es oft so, dass dies das symptomatische Zeichen des funktionalen Gelingens kollektiver menschlicher Arbeit ist.28 Man kann diesbezüglich Immanuel Kant paraphrasieren, indem man sagt, dass solche glücklichen Fälle als Ausdruck eines kollektiven Genies erscheinen, wo „die Natur der Kunst die Regel gibt.“29

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Dies wird besonders in der einheimischen oder vernakulären Architektur deutlich. Beispiele davon gibt es eine Menge: Die Zelte der Nomaden, die keltischen Gräber, Bogengänge als Dispositiv für die Organisation einer Stadt und so weiter.30 Es geht um Werke, die keinem besonderen individuierbaren Planer oder Urheber zuzuschreiben sind. Sie zeigen jedoch die gelungene Harmonie von Klima, Materie und Form. Diese Architektur ist also nicht nur improvisatorisch, weil sie nicht nach dem Plan eines Architekten ausgeführt wird, da die Entwerfenden und die Ausführenden oft dieselben Individuen sind, sondern auch weil die Baumaterialien improvisiert sind: Man benutzt als Baumaterial das, was aus der Umgebung gewonnen werden kann, genau wie man in einigen Formen von freier Musikimprovisation Dinge verschiedener Art, die in der Situation der Performance verfügbar sind, als Instrumente für die Produktion von Musik verwendet. Man beachtet also die Spezifizität der Situation und passt sich ihr an. Improvisatorisch ist eine solche Architektur nicht nur deshalb, weil sie ohne Architekten beziehungsweise ohne Projektplanung auskommt, sondern auch deshalb, weil sie situativ ist. Die besondere Weisheit dieser Architektur hängt von der großen Aufmerksamkeit und dem besonderen Respekt für die spezifischen Umstände, für den spezifischen Ort und für die spezifische Zeit ihrer Ausübung ab. 5. Die positiven Auswirkungen der Neugestaltung der Funktionen eines Gebäudes und der Erfolg der vernakulären Architektur – kulturelle Praktiken, die nicht als künstlerisch gedacht sind (obwohl sie selbstverständlich auch sehr beachtenswerte ästhetische Ergebnisse aufweisen können) – lehren, dass es nicht nur für das ästhetische, sondern auch für das funktionale Gelingen der Architektur wichtig ist, dass man berücksichtigt, dass die Gebäude als Teil ihrer natürlichen und menschlichen Umgebung angesehen werden. Dies gilt selbstverständlich auch im Bezug auf die Architektur als künstlerische Praxis. Peter Zumthor bemerkt diesbezüglich richtigerweise, dass die Gebäude „mit der Gestalt und der Geschichte ihres Ortes“31 verwachsen. Auch in der Phase der Planung neuer Gebäude sollte man die spezifische Situation und den besonderen Standort, an dem das neue Gebäude errichtet werden soll, nicht ignorieren. Denn das neue Gebäude „interagiert“ mit seinem Standort und seiner Umgebung. Zumthor schreibt: „Mit jedem neuen Bauwerk wird in eine bestimmte historische Situation

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eingegriffen. Für die Qualität dieses Eingriffes ist es entscheidend, ob es gelingt, das Neue mit Eigenschaften auszustatten, die in ein sinnstiftendes Spannungsverhältnis mit dem schon Dagewesenen treten. Denn damit das neue seinen Platz finden kann, muss es uns erst dazu anregen, das Bestehende neu zu sehen.“32 Die „unerwartete Wahrheit“33 eines Gebäudes, sein architektonischer Erfolg, ist also verbunden mit der spezifischen Situation der Umgebung und der Zeit seiner Entstehung. „Architektur ist im Moment ihrer Entstehung auf eine besondere Weise mit der Gegenwart verbunden.“34 Mit dem Aufbau eines Gebäudes greift man in ein Gebiet, in eine Landschaft, in eine Umgebung ein. Und die Beziehung zu der Umgebung, dem Gebiet, der Landschaft ist zentral für den architektonischen Erfolg des neuen Gebäudes. Entwerfen ist Erfinden, und das Erfinden nährt sich aus dem, was man vor Ort findet. „Sich mit den Eigengesetzlichkeiten von konkreten Dingen wie Berg, Stein, Wasser auf dem Hintergrund einer Bauaufgabe zu befassen, birgt die Möglichkeit in sich, etwas vom ursprünglichen und gleichsam ‚zivilisatorisch unschuldigen‘ Wesen dieser Elemente zu fassen, zum Ausdruck zu bringen und eine Architektur zu entwickeln, die von den Dingen ausgeht und zu den Dingen zurückkehrt.“35 „Nur zwischen der Wirklichkeit der Dinge, von denen ein Bauwerk handelt, und der Imagination zündet der Funke des geglückten Bauwerks.“36 Zumthor verteidigt also eine für das Thema, das hier diskutiert wird, sehr interessante These: Architekten müssen das „spezifische Gewicht des Lokalen“37 berücksichtigen, weil „der Sinn, den es im Stofflichen zu stiften gilt, […] jenseits kompositorischer Regeln [liegt] […]: Sinn entsteht dann, wenn es gelingt, im architekto­ nischen Gegenstand spezifische Bedeutungen bestimmter Baumaterialien hervorzubringen, die nur in diesem einen Objekt auf diese Weise spürbar werden.“38 Die architektonischen Regeln ergeben Sinn, das heißt sie funktionieren richtig, wenn ihre Anwendung auf die unwiederholbare Spezifizität der Situation aufmerksam macht. Gebäude sind nicht einfach Verwirklichungen von abstrakten kompositorischen Prinzipien. Die besondere Situation (der Ort, die Materialien und die historische und soziale Lage) beeinflusst und prägt die Errichtung von Gebäuden: Regeln müssen immer wieder, in jeder neuen Situation, neu „interpretiert“ werden. Das heißt: Jedes architek-

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tonische Werk gestaltet, wenn es gelingt, die spezifischen Regeln seiner eigenen Produktion. Ich werde am Ende des Aufsatzes auf diesen Punkt zurückkommen, indem ich die spezifische Bedeutung von Improvisation für die künstlerische Dimension der Architektur näher erläutern werde. 6. Jetzt will ich noch auf die Idee eingehen, dass die bewusste

Interaktion mit der Situation zweifellos ein Zug architektonischer Praxis ist, der eine bedeutende Analogie zu der Praxis der Improvisation aufweist. Die Praxis der Architektur erlaubt aber verschiedene Formen von Interaktion. Der Architekt, der ein Bauwerk entwirft, kann nicht nur mit der Geschichte und der Geographie eines Ortes, mit den Gebäuden der Umgebung und mit der Umwelt kreativ interagieren, sondern auch mit den direkt Betroffenen, das heißt mit den zukünftigen Nutzern des Bauwerkes. Diesbezüglich kann man die These vertreten, dass individuelle und kollektive Improvisationsprozesse während der Anfertigung von Entwürfen und Konstruktionsplänen möglich sind. Damit wird ein anderer Aspekt der Idee in Betracht gezogen: Dass Improvisation Design beeinflusst und umgekehrt Design Improvisation beeinflusst. Genau wie im Fall der Komposition von offenen musika­ lischen Werken, die für improvisierte Realisierungen gedacht sind (zum Beispiel die Werke von Cornelius Cardew und Anthony Braxton), gibt es auch in der Praxis der Architektur Fälle von „offenen“ Bauprogrammen,39 die durch die kollektive Teilnahme der Einwohner realisiert worden sind. Alexandros Kleidonas erwähnt diesbezüglich den Fall der medizinischen Fakultät in Brüssel, Belgien. Ich zitiere ihn in voller Länge: „In 1969 the students of Louvain University of Brussels invited architect Lucien Kroll to design the new buildings of the Medical Faculty, which comprised of a series of facilities, students accommodations, as well as the outdoor space. It was a great challenge for the architect, as it assumed direct collaboration with the students, but at the same time ‚it imposed on me a responsibility precisely opposite to that of the true Maître de L’ Ouvrage Habitant (the traditional architect)‘. Extensive collaboration between architect and future users determined therefore the method of proceeding with the building program and its final formation. The program ‚was precise about intentions and vague about performance: it could accommodate therefore all unforeseen, spontaneous elements and the initiatives of

Alessandro Bertinetto – Improvisation in der Architektur

all those concerned much better than if it had been fixed in its quantities, its obligatory relationships, its functions and its workings‘. In order to attain the best possible results in this collaborative process, they formulated work groups with the architect and his associates as coordinators. Each group concentrated on a different subject and in order for the students to equally participate in the resolve of all matters, they constantly re-arranged the groups and the members moved from one group to another. The users’ actual participation in the design process was carried out with the use of scale models, on which they practically illustrated their intentions. The designs were mainly developed from direct sketching of those interventions on paper. The formation of the final plan facilitated the users’ direct participation in the construction of the building and in its further expansion.“40 Der Architekt weist also in diesem Fall die autoritäre Idee zurück, dass der Architekt „es am besten wüsste“.41 Diese Haltung ähnelt der Art und Weise, wie Komponisten von offenen beziehungsweise (mehr oder weniger) unbestimmten Werken arbeiten, die (wie zum Beispiel beim Jazz oder der Avantgarde, aber auch im Fall von barocker Kirchenmusik) den Aufführenden einen relativ großen Raum für Entscheidungen lassen, die also bei der Aufführung des Stücks zur Improvisation aufgefordert sind. Solche Komponisten komponieren mit der Absicht, einen Begegnungsraum für Performer zu schaffen und/oder produzieren Werke für besondere Gelegenheiten und für besondere Interpreten und haben nicht die Absicht, ewige und unveränderliche Werke zu gestalten. Sowohl die Praxis der Komposition als Sprungbett für Improvisation beziehungsweise als Herstellung von Werken, die nur bei besonderen Gelegenheiten (und Funktionen) aufgeführt werden sollen, als auch die Praxis der kooperativen Architektur, legen großen Wert auf die Aufmerksamkeit und auf die Achtsamkeit für die spezi­fische Situation, worauf auch das Wissen des Komponisten beziehungsweise des Architekten gerichtet ist. Der Architekt respektiert hier den genius loci durch die Art und Weise, wie die unmittelbaren Benutzer des Werkes in die Designarbeit einbezogen sind. Alexander Kleidonas berichtet jedoch, dass Krolls Projekt kritisiert wurde, weil er zwar die unmittelbaren Nutzer, aber eben nicht die zukünftigen Nutzer berücksichtigte. Hier zeigt sich nochmals auf interessante Weise der auffälligste ontologische

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Unterschied zwischen einer solchen Anwendung der Improvisationspraxis in der Architektur und der Improvisation in den performativen Künsten. Während die improvisatorische Tätigkeit in den performing arts nicht notwendigerweise andauernde Produkte erzielt, gilt das Gegenteil im Fall der Architektur. Schon früher wurde erwähnt, dass Gebäude Produkte sind, die (normalerweise) nach dem Ende der Produktionsprozesses (dauerhaft) bleiben: Sie verändern auf Dauer den Ort, an dem sie gebaut worden sind. Deshalb ist der Architekt zwar für die zeitgenössischen Nutzer und Betroffenen verantwortlich, mit denen er direkt interagieren kann. In dieser Interaktion soll aber auch an mögliche zukünftige Nutzer und Betroffene gedacht werden. 7. Zum Schluss ist jedoch die folgende Frage berechtigt: Die bis

jetzt diskutierten Fälle betreffen nicht im Speziellen den Kunststatus von Architektur. Man kann zwar sagen, dass Architektur die spezifische Situation eines Ortes, die besonderen Materialien einer Umgebung, die Interaktion mit zeitgenössischen und zukünftigen Nutzern und Betroffenen und so weiter respektieren soll, und dass die Architektur auf diese Weise einige Züge improvisatorischer Praxis aufnimmt und fruchtbar macht. Dies ist aber nicht spezifisch mit dem Kunststatus von Architektur verbunden. Gibt es Möglichkeiten, die Beziehung von Architektur und Improvisation zu erörtern, die auch für den Kunstcharakter von Architektur relevant sind? Ich denke, dass dies der Fall ist. Wenn man an Gebäude denkt, die hinsichtlich ihrer künstle­ rischen Qualität besonders beachtenswert sind, berücksichtigt man a) die einmalige Spezifizität des Gebäudes, welches auf unerwartete, überraschende und unvorhersehbare Weise auf den Besucher wirkt und b) die Art und Weise, wie das Gebäude sich nicht nur an einen Ort anpasst, indem es die Tradition, die Umwelt und die Umgebung respektiert, sondern auch all dies kreativ prägt, uminterpretiert und auf unerwartete Weise verändert. Was den ersten Aspekt betrift, gehen Zumthors Überlegungen genau in die richtige Richtung. Er sagt, dass der Sinn, den Architektur stiften soll, „jenseits kompositorischer Regeln“42 liegt. „Sinn entsteht dann, wenn es gelingt, im architektonischen Gegenstand spezifische Bedeutungen bestimmter Baumaterialien hervorzubringen, die nur in diesem einen Objekt auf diese Weise spürbar werden.“43

Alessandro Bertinetto – Improvisation in der Architektur

„Architektonische Qualität, das kann sich bei mir nur darum handeln, daß ich von einem Bauwerk berührt bin.“44 Und das Bauwerk berührt jemanden wegen der besonderen Atmosphäre, die es hervorruft. „Atmosphäre“ ist die emotionale Wahrnehmung, die jenseits des „linearen Denkens“ in Sekundenbruchteilen ein Gefühl entstehen lässt, wodurch wir sofort unter anderem ästhe­ tische Qualität verstehen und evaluieren.45 Wie es in der Musik und insbesondere in der frei improvisierten Musik der Fall ist. Zwar vergleicht Zumthor die Arbeit der Hervorbringung von Atmosphäre in der Architektur mit der Arbeit des Komponisten in der Musik,46 damit betont er aber nicht den Aspekt des Regelbefolgens, sondern eher die persönliche Art und Weise, wie jeder einzelne Komponist und Architekt arbeitet, indem er bestimmte Materialien in einer spezifischen Weise zusammenbringt. „In dieser Materialkomposition“, so Zumthor „entsteht etwas Einmaliges“.47 Dies hängt damit zusammen, dass die spezifischen körperlichen Qualitäten der einzelnen Materialien (Holz, Stein, Stahl, und so weiter) verschiedene funktionale und ästhetische Qualitäten in jeder einzelnen Situation haben, weil sie auf unterschiedliche, vorher unvorhersehbare und unerwartete Weise mit anderen Mate­rialien interagieren. Deswegen muss der Architekt seine technischen und stilistischen Ideen jeweils in Abhängigkeit von der spezifischen und unwiederholbaren Situation immer wieder umgestalten. Die Anwendung von technischen und ästhetischen Normen und Prinzipien verändert (potentiell) diese selben Normen und Prinzipien. Die Konsequenz ist, dass auch der Architekt vom Ergebnis seiner Arbeit überrascht ist: „Und ich glaube, wenn die Arbeit geglückt ist, haben die [Dinge] eine Form angenommen, von der ich dann häufig nach langer Arbeit überrascht bin.“48 Wie in anderen Kunstpraktiken, ist es auch in der Architektur ein Zeichen dafür, dass das Kunstwerk gelungen ist, wenn der Künstler selbst von den Ergebnissen seiner Arbeit überrascht ist, genau wie Improvisatoren von einer unvorhersehbaren Performance überrascht werden.49 Dieser Aspekt ist also nicht für Architektur als Kunstform spezifisch. Meine (schon in einem anderen Aufsatz verteidigte)50 These lautet: Allgemein gilt für Kunst, dass die Kreativität hier improvisatorische Züge hat. Improvisatorisch ist die Kreativität in der Kunst, weil kein voretablierter Produktionsplan und keine geschlossene Menge von voretablierten Normen versichern

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können, dass das Kunstwerk gelingen wird. Jedes Kunstwerk kann nur auf Basis der Kriterien beurteilt werden, die es selbst etabliert. Die Anwendung von ästhetischen Kriterien auf die Produktion und für die Evaluation von Kunstwerken muss die unwiederholbare Spezifizität des Werkes respektieren: Jede Norm wird durch jedes neue Werk (wenigstens potentiell) verändert.51 Der zweite Aspekt ist aber spezifisch für die Architektur (wenngleich er auch für andere Künste, wie die Plastik, relevant sein kann). Ein Gebäude ist ein architektonisches Kunstwerk, wenn es uns bedeutende ästhetische Erfahrungen machen lässt, die alle unsere Sinne betreffen. Ein Gebäude ist außerdem ein architektonisches Kunstwerk, wenn es die Umgebung, die Tradition und die Umwelt auf Grund seiner ästhetischen und künstlerischen Eigenschaften positiv beeinflusst, wenn seine Entstehung mit anderen Worten eine Situation nicht so belässt, wie sie vorher war. Notwendige, wenn auch nicht ausreichende Bedingung für den Kunstcharakter eines Gebäudes ist, dass es ein Dorf, eine Stadt oder eine Landschaft mit seiner Gestalt auf solche Weise prägt, dass das Dorf, die Stadt oder die Landschaft ohne dieses Gebäude ästhetisch ‚ärmer‘ wären, weil sie des einzigartigen Wertes der besonderen ästhetischen Qualität, die ihnen das Gebäude schenkt, beraubt würden. Zumthor hat noch einmal die richtigen Worte, um dies auszudrücken: „Und welche Referenz zeige ich mit meinem Gebäude, mache ich an die Öffentlichkeit? Gebäude sagen ja immer etwas zur Straße oder zum Platz. Sie können zum Platz sagen: Ich freue mich, an diesem Platz zu stehen. Oder die können sagen: Ich bin hier das schönste Gebäude, ihr alle seid wirklich schlecht. Ich bin wie eine Diva. Gebäude können das alles sagen“.52 Nach seiner kategorialen Unterscheidung zwischen autographischen und allographischen Künsten hat Nelson Goodman sowohl die Musik als auch die Architektur als allographische Künste betrachtet.53 Als solche bestehen sie, so Goodman, aus symbolisch notierten Projekten und Partituren, deren konkrete Verwirklichungen vielfältig reproduzierbar sind. Die Identität des Werkes wird nicht durch die Reproduktion in Frage gestellt, falls das fixe Verhältnis von Notation und Ausführung rigide beibehalten wird und falls – wie es nach Goodman zum Beispiel im Fall der Musik sein sollte – , jede aufgeschriebene Note einem bestimmten identifizierbar klingendem Ton akustisch entspricht.

Alessandro Bertinetto – Improvisation in der Architektur

Goodmans nominalistische These über den ontologischen Status des musikalischen Werkes wurde jedoch stark kritisiert: Sie entspricht nicht unseren musikalischen Praktiken und kann einige musikalische Phänomene, wie auch das der Improvisation, gar nicht erklären. Was die Architektur betrifft, hat Goodman selbst Zweifel bezüglich ihres allographischen Kunst-Status ausgedrückt. Wenn Architektur als Kunst betrachtet wird, ist die Möglichkeit der vielfältigen Realisierung von Projekten fraglich. Es scheint nämlich der Fall zu sein, dass das architektonische Werk, sowohl wegen der besonderen Qualitäten der Baumaterialien und deren Zusammenhänge als auch der besonderen Situation, wo das Bauwerk, in Interaktion mit anderen Gebäuden und mit der natürlichen Umgebung, entsteht, eher als einzelnes, unwiederholbares, obgleich ästhetisch exemplarisches Werk erfahren und genossen wird. Mit dem zweistelligen Modell von Notation/Ausführung kann die Ontologie der Architektur – gerade wenn Architektur als Kunst zu verstehen ist, und zwar als eine Kunst, deren Hauptproblem in der Beziehung zwischen Form und Funktion besteht – auf befriedigende Weise kaum erklärt werden. Deswegen ist der Begriff der Improvisation, wo Planung und Ausführung zusammenfallen und wo die Performance an eine unwiederholbare raumzeitliche Situa­ tion gebunden ist, besser geeignet, um den ontologischen Status von Architektur als Kunst zu verstehen. Genau wie die Ontologie der Musik heute zunehmend als eine Ontologie des Performativen begriffen wird,54 gilt dies – so meine letzte These – auch für die Architektur, deren Kunstwerke als einzigartige Werke produziert und rezipiert werden, die, genau wie die Improvisation in der Musik, im Theater und im Tanz, eng an die zeitlich-räumlich spezifische Situation ihres Entstehens gebunden sind. Ich bin deshalb mit folgender These von Kleidonas nicht einverstanden: Er sagt: „[…] improvisation corresponds to Barthes’ ‚death of the author‘ and, accordingly, architectural improvisation corresponds to the death of the architect, as far as his acclaimed“.55 Wie wir vorher gesehen haben, kann der Begriff Improvisation selbstverständlich für die Architektur deswegen produktiv sein, weil in der Improvisation bestimmte Formen von Interaktionen zwischen verschiedenen Akteuren im Spiel sind und der Rezipient das Bauwerk nicht nur passiv, als schon fertig und ‚da‘ erfährt. Wenn alte Bauwerke neue, vorher ungeahnte Funktionen erhalten, so handelt es sich dabei nicht immer um eine neue Interpreta-

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tion durch professionelle Architekten. In einigen Fällen können auch aus Nutzern sozusagen Architekten werden, die am Bauprozess teilhaben, wobei das Kollektive derjenigen, die am Bauprozess teilhaben, Vorrang über die spezifischen Kompetenzen der einzelnen Individuen hat. Dennoch ist diese nur eine der möglichen Formen des Einflusses der Improvisationspraxis auf die Architektur. Während eine Art Improvisation die Interaktion der Gruppe, beziehungsweise des „Schwarms“,56 über die Individualität von einzelnen Akteuren stellt, bevorzugen andere Improvisationsarten das Individuum als künstlerisches Genie,57 beziehungsweise als Künstler, das heißt als Autor von Bauwerken, die als Kunstwerke anerkannt und erfahren werden. Dies bedeutet, dass Improvisation nicht die Aufgabe des Kunst- und des Künstlerbegriffs verlangt. Sie erfordert vielmehr ein dynamisches Verständnis des Kunstprozesses, denn die künstlerische Praxis der Architektur besteht im Aufbau von Bauwerken, die als unwiederholbare Kunstwerke gelten, auch wenn der Plan dem wirklichen Aufbau vorangeht. Obwohl der Plan theoretisch mehrmals realisiert werden könnte, ist die Abhängigkeit des Bauwerks von der spezifischen Situation seiner Entstehung so stark, dass jede Anwendung den Plan verändert. Genauer gesagt: Dies sollte der Fall sein, wenn Architektur als Kunst rezipiert werden soll. Es folgt also, dass die These berechtigt ist, dass einige Züge der Improvisation und improvisatorischer Kreativität für das Verständnis einiger wichtiger ästhetischer Qualitäten von Architektur als Kunstpraxis von besonderer Relevanz sein können.

Anmerkungen

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Anmerkungen Jörg H. Gleiter, Ludger Schwarte 1 Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1141b, S. 20–25. 2

Immanuel Kant, „Architektonik der reinen Vernunft“, in: Kant, Kritik der reinen Vernunft, Bd. II, hrsg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt/M. 1996, S. 695.

3

Friedrich Nietzsche, „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermorali­ schen Sinne“, in: Nietzsche, Sämtliche Werke, Kritische Studien­ ausgabe, 15 Bde., Bd. I, hrsg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München 1999, S. 882.

4

Nietzsche, „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne“ (Anm. 3), S. 882.

5

Nietzsche, „Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne“ (Anm. 3), S. 886.

6

Vgl. dazu Jörg H. Gleiter, Der philosophische Flaneur. Nietzsche und die Architektur, Würzburg 2009.

7

Christian Norberg-Schulz, Intentions in Architecture, Oslo 1963; Christopher Alexander, Notes on the Synthesis of Form, Cambridge/ Mass. 1967; Manfredo Tafuri, Teorie e storia dell’architettura, Bari 1968; Charles Jencks, The Language of Post-modern Architecture, London 1977; Roger Scruton, The Aesthetics of Architecture, London 1979.

8

Heike Delitz, Architektursoziologie, Bielefeld 2009; Joachim Fischer u. Heike Delitz (Hg.), Die Architektur der Gesellschaft. Theorien für die Architektursoziologie, Bielefeld 2009; Martina Löw, Raumsoziologie, Frankfurt/M. 2001.

9

Uwe Wirth, „Symbol, Symptom, Signal. Einige Überlegungen zur Konfiguration architektonischer Zeichen“, in: Jörg H. Gleiter (Hg.), Symptom Design. Vom Zeigen und Sich-Zeigen der Dinge, Biele­ feld 2014, S. 115–147; Sigrid Weigel, „Text und Topographie der Stadt“, in: Weigel, Literatur als Voraussetzung der Kulturgeschichte, München 2004, S. 248–284; Stephan Günzel (Hg.), Topologie. Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften, Bielefeld 2007.

10 Edmund Husserl, „Analyse der Wahrnehmung“, in: Thomas Fried­ rich u. Jörg H. Gleiter (Hg.), Einfühlung und phänomenologische Reduktion. Grundlagentexte zu Architektur, Kunst und Design, Münster 2007, S. 165–182. 11 Vgl. dazu Thomas Friedrich u. Jörg H. Gleiter, „Einleitung“, in: Friedrich u. Gleiter (Hg.), Einfühlung und phänomenologische Reduktion (Anm. 10), S. 7–33. 12 Ernst Bloch, „Grundrisse einer besseren Welt“, in: Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Werkausgabe, Bd. V, Frankfurt/M. 1985.

Anmerkungen

13 Karlfried Graf von Dürckheim, Untersuchungen zum gelebten Raum, Frankfurt/M. 2005. 14 Helmuth Plessner, Anthropologie der Sinne, in: Plessner, Gesammelte Schriften, Bd. III, Frankfurt/M. 1980. 15 Friedrich Bollnow, Mensch und Raum, in: Bollnow, Schriften, Bd. VI, Würzburg 2011. 16 Erwin Straus, „Die Formen des Räumlichen. Ihre Bedeutung für die Motorik und die Wahrnehmung“, in: Straus, Pyschologie der menschlichen Welt. Gesammelte Schriften, Berlin u. a. 1960. 17 Friedrich Nietzsche, Brief vom 20. April 1888, in: Nietzsche, Sämtliche Briefe, Kritische Studienausgabe, 8 Bde., Bd. VIII, München 1986, S. 302. 18 Nietzsche, Brief vom 16. Dezember 1888, in: Nietzsche, Sämtliche Briefe (Anm. 17), S. 529. 19 Vgl. dazu Roger Scruton, The Aesthetics of Architecture (Anm. 7); Heinz Paetzold, Profile der Ästhetik. Der Status von Kunst und Architektur in der Postmoderne, Wien 1990; Uwe Bernhard, Der Bruch mit der Innerlichkeit, Köln 2004; Bernard Waldenfels, Ortsverschiebungen, Zeitverschiebungen. Modi leibhafter Erfahrung, Frankfurt/M. 2009; Hannes Böhringer, Enger Spielraum. Über Bauen und Vorbauen, München 2010. 20 Vgl. dazu Christian Cay Lorenz Hirschfeld, Theorie der Gartenkunst, 5 Bde., Leipzig 1779–85; Gottfried Semper, Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten, oder praktische Ästhetik, München 1860/63; Hermann Sörgel, Architektur-Ästhetik. Theorie der Baukunst [1921], Reprint, Berlin 1998. 21 Gottfried Semper, Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten, oder praktische Ästhetik (Anm. 20) und Semper, Die vier Elemente der Baukunst, Braunschweig 1851. 22 Alexander Gottlieb Baumgarten, Aesthetica, Prolegomena, §1. 23 Vgl. dazu Martin Düchs, Architektur für ein gutes Leben. Über Verantwortung, Ethik und Moral des Architekten, Münster 2011; Karsten Harries, The Ethical Function of Architecture, Cambridge 1997. 24 Vgl. dazu Jörg H. Gleiter, „Architektursemiotik. Ein- und Ausblicke“, in: Gleiter (Hg.), Symptom Design. Vom Zeigen und Sich-Zeigen der Dinge (Anm. 9), S. 7–20. 25 Vgl. dazu Jörg H. Gleiter, „Die Präsenz der Zeichen. Vorüberle­ gungen zu einer phänomenologischen Zeichentheorie der Archi­ tektur“, in: Gleiter (Hg.), Symptom Design. Vom Zeigen und SichZeigen der Dinge (Anm. 9), S. 148–181. 26 Sabine Ammon, „Language of Architecture, An Approach to Nelson Goodman’s Theory of Symbols“, in: From Logic to Art. Themes from

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Nelson Goodman, hrsg. v. G. Ernst, J. Steinbrenner u. O. R. Scholz, Frankfurt/M. 2009, S. 321–328. 27 Heinrich Wölfflin, Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur, München 1866; Alois Riegl, Die spätrömische Kunstindustrie, Wien 1901; August Schmarsow, Das Wesen der architektonischen Schöpfung, Leipzig 1894; siehe hierzu auch Christoph Feldtkeller, Der architektonische Raum: eine Fiktion. Annäherung an eine funktionale Betrachtung, Braunschweig 1989. 28 August Schmarsow, „Raumgestaltung als Wesen der architekto­ nischen Schöpfung“, in: Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft 9, 1914, S. 72 und Paul Klopfer, „Das räumliche Sehen, in: Friedrich u. Gleiter (Hg.), Einfühlung und phänomenologische Reduktion (Anm. 10), S. 149–161. 29 Frank Lloyd Wright, Schriften und Bauten, München 1963, S. 43; Walter Gropius, Architektur, Frankfurt/M. 1956, S. 35; Otto Ernst Schweizer, Die architektonische Großform, Ge­bautes und Gedachtes, Karlsruhe 1957, S. 11; vgl. hierzu: Dirk Baecker, „Die Dekonstruktion der Schachtel: Innen und Außen in der Archi­ tektur“, in: Dirk Baecker, Frederick D. Bunsen, Niklas Luhmann, Unbeobachtbare Welt. Über Kunst und Architektur, Bielefeld 1990, S. 71 ff. 30 Sigfried Giedion, Raum, Zeit, Architektur, Ravensburg 1965, S. 33. 31 Elizabeth Grosz, Architecture from the Outside, Essays on Virtual and Real Space, Cambridge 2001. 32 Henri Lefebvre, La Production de l’espace, Paris 1974, S. 121; vgl. auch Lefebvre, Le Droit à la ville, Espace et Politique, Paris 1968, S. 85 ff. 33 Lefebvre, La Production de l’espace (Anm. 32), S. 42 f.; vgl. dazu auch Heike Delitz, Die gebaute Gesellschaft. Architektur als Medium des Sozialen, Frankfurt/M. 2010; Wolfgang Scheppe, Migropolis, Venice, Atlas of a Global Situation, Ostfildern 2009. 34 Michel Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft, Frankfurt/M. 1973; Foucault, Überwachen und Strafen, Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt/M. 1979; Foucault, Geburt der Klinik, Frankfurt/M. 1988. 35 Ludger Schwarte, Philosophie der Architektur, München 2009. 36 Christian Kremer, Architekturphilosophie. Eine Einführung in ein architekturphilosophisches Verständnis, Saarbrücken 2011. 37 Klaus Sachs-Hombach (Hg.), Wege zur Bildwissenschaft. Interviews, Köln 2004; Hans Belting, Bild-Anthropologie, München 2001; Lambert Wiesing, Die Sichtbarkeit des Bildes. Geschichte und Per­spektiven der formalen Ästhetik, Reinbek bei Hamburg 1997; W.J.T. Mitchell, Iconology. Image, Text, Ideology, Chicago/London 1987; Gottfried Boehm (Hg.), Was ist ein Bild, München 1994.

Anmerkungen

38 Christa Maar u. Hubert Burda (Hg.), Iconic Turn. Die neue Macht der Bilder, Köln 2004. 39 Kirsten Wagner, Datenräume, Informationslandschaften, Wissensstädte. Zur Verräumlichung des Wissens und Denkens in der Computermoderne, Freiburg i. Br./Berlin 2006. 40 Vgl. dazu Günter Abel u. James Conant (Hg.), Rethinking Epistemology, Vol. 1, Berlin/Boston 2012, S. 2 f. 41 Günter Abel, „Epistemische Objekte – Was sind sie und was macht sie so wertvoll?“, in: Pragmata, Festschrift für Klaus Oehler zum 80. Geburtstag, hrsg. v. Kai-Michael Hingst u. Maria Liatsi, Tübingen 2008, S. 285. 42 Vgl. dazu Jörg H. Gleiter, „Columns and Trusses. Epistemic Objects and Their Transformation“, in: Mario Rinke u. Joseph Schwartz (Hg.), Before Steel. The Introduction of Structural Iron and its Consequences, Sulgen/Zürich 2010, S. 87–94. 43 Günter Abel, „Epistemische Objekte – Was sind sie und was macht sie so wertvoll“ (Anm. 41), S. 290. 44 Philippe Boudon (Hg.), De l’architecture à l’épistémologie, Paris 1991; Jean Attali, Le plan et le detail. Une philosophie de l’architecture et de la ville, Nîmes 2001. 45 Hans-Jörg Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge, Frankfurt/M. 2006; Ludger Schwarte, „Anatomische Theater als experimentelle Räume“, in: Kunstkammer, Laboratorium, Bühne. Schauplätze des Wissens im 17. Jahrhundert, hrsg. v. Helmar Schramm, Ludger Schwarte u. Jan Lazardzig, Berlin 2003, S. 75–102.

Anmerkungen Ludger Schwarte 1

Arthur Schopenhauer, „Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde“, in: Schopenhauer, Kleinere Schriften, Zürich 1988, S. 161.

2

Schopenhauer, „Ueber die vierfache Wurzel des Satzes vom zurei­ chenden Grunde“ (Anm. 1), S. 162. Schopenhauer fährt in seiner unnachahmlichen Art fort: „Ich darf nicht müde werden, dies zu wiederholen, wegen der Ignoranten und Dummköpfe, welche die einhellige Belehrung so vieler großen Geister für nichts achtend, noch immer, zu Gunsten ihrer Rockenphilosophie, das Gegentheil zu behaupten dreist genug sind. Bin ich doch kein Philosophiepro­ fessor, der nöthig hätte, vor dem Unverstande des andern Bücklinge zu machen.“

3

Martin Heidegger, „Vom Wesen des Grundes“, in: Heidegger, Gesamtausgabe, Bd. IX: Wegmarken, S. 164–165.

4

Siehe Heidegger, „Vom Wesen des Grundes“ (Anm. 3), S. 165–168.

241

5 6

Heidegger, „Vom Wesen des Grundes“ (Anm. 3), S. 168–170. Siehe zu dieser Unterscheidung von prima facie, secunda facie und effektiven Gründen: Dirk Setton, Unvermögen. Die Potentialität der praktischen Vernunft, Zürich 2012, S. 177–178.

7

Siehe D’Arcy Thompson, On Growth and Form [1966], dt. Über Wachstum und Form, Frankfurt/M. 1974, S. 74.

8

Helmut Plessner, Anthropologie der Sinne [1970], Gesammelte Schriften, Bd. III, Frankfurt/M. 1980, S. 325–326.

9

„All interactions that effect stability and order in the whirling flux of change are rhythms.“ John Dewey, Art as Experience [1934], Col­lected Works, Vol. 10, Carbondale/Il 1987, S. 22. Alle Überset­ zungen: L. S.

10 „[…] a comprehensive and enclosed scene within which are ordered the mulitplicity of doings and undergoings in which man engages.“ John Dewey, Art as Experience (Anm. 9), S. 23. 11 „[…] a treasury of storied memories and monumental registering of cherished expectancies for the future.“„Because of its inherent power to endure, architecture records and celebrates more than any other art the generic features of our common human life.“ Dewey, Art as Experience (Anm. 9), S. 222 u. S. 230. 12 Dewey, Art as Experience (Anm. 9), S. 51–52. 13 John Dewey, Experience and Nature [1925], La Salle/Il 1958, S. 290, S. 306–307, S. 314. 14 „It marks a change by which physical events exhibiting properties of mechanical energy, connected by relations of push and pull, hitting, rebounding, splitting and consolidating, realize charac­ ters, meanings and relations of meanings hitherto not possessed by them. Architecture does not add to stone and wood something which does not belong to them, but it does add to them proper­ ties and efficacies which they did not posess in their earlier state. It adds them by means of engaging them in new modes of inter­ action, having a new order of consequences.“ Dewey, Experience and Nature (Anm. 13), S. 309. 15 „Art is prefigured in the very processes of living. A bird builds its nest and a beaver its dam when internal organic pressures coope­ rate with external material so that the former are fulfilled and the latter are transformed in a satisfying culmination.“ Dewey, Art as Experience (Anm. 9), S. 30. 16 „Knowledge or science, as a work of art, like any other work of art, confers upon things traits and potentialities which did not pre­viously belong to them. Objection from the side of alleged realism to this statement springs form a confusion of tenses. Knowledge is not a distortion or perversion which confers upon its subject-matter traits which do not belong to it, but is an act which

Anmerkungen

confers upon non-cognitive material traits which did not belong to it. It marks a change by which physical events exhibiting proper­ ties of mechanical energy, connected by relations of push and pull, hitting, rebounding, splitting and consolidating, realize charac­ ters, meanings and relations of meanings hitherto not possessed by them. Architecture does not add to stone and wood something which does not belong to them, but it does add to them proper­ ties and efficacies which they did not posess in their earlier state. It adds them by means of engaging them in new modes of inter­ action, having a new order of consequences.“ Dewey, Experience and Nature (Anm. 13), S. 309. 17 Siehe Dewey, Experience and Nature (Anm. 13), S. 315. 18 Landschaften sind Konstruktionen, dazu angetan, das Visuelle zu privilegieren, kritisiert Francis E. Sparshott, „Figuring the ground: Notes on some theoretical problems of the aesthetic environment“, in: Journal of Aesthetic Education, 6/3, 1972, S. 11–23. Carlson hält dafür, dass „to consider something environmentally is primarily to consider it in regard to the relation of ‚self to setting‘, rather than ‚subject to object‘ or ‚traveler to scene‘.“ Allen Carlson, „Apprecia­ tion and the natural environment“, in: Journal of Aesthetics and Art Criticism, 37/3, 1979, S. 271. 19 Vgl. Peter Sloterdijk, Globen, Makrosphärologie, Sphären, Bd. II, Frankfurt/M. 1999, S. 251–252.; Sloterdijk, Schäume, Plurale Sphärologie, Sphären Bd. III, Frankfurt/M. 2004, S. 501–502. 20 Martin Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, in: Heidegger, Holzwege, Frankfurt/M. 1950, S. 28. 21 Siehe Plinius, Naturalis Historia XVIII; S. 76–7. Vgl. Joseph Rykwert, The Idea of a Town, The Anthropology of Urban Form in Rome, Italy and the Ancient World, Princeton/NJ 1976, S. 48 ff. 22 Roger Scruton, The Aesthetics of Architecture, Princeton/NJ 1979, S. 249–250. Diesem dubiosen Ansatz folgen: Richard Hill, Designs and Their Consequences, Aesthetics and Architecture, New Haven/ CT 1999 und Edward Winters, Aesthetics and Architecture, London 2007. Vgl. Roger Scruton, „Public Space and the Classical Verna­ cular“, in: Nathan Glazer u. Mark Lilla (Hg.), The Public Face of Architecture, Civic Culture and Public Spaces, New York/NY/London 1987. 23 „To build well is to find the appropriate form, and that means the form which answers to what endures, not what expires.“ „The appropriate form ministers, as I have argued, not just to present purposes and desire. And if the appropriate form is the one that looks right a man must, if he is to be able to reason fully about practical matters, acquire the sense of visual validity.“ Scruton, The Aesthetics of Architecture (Anm. 22), S. 240.

243

24 „As an example, consider the street. Our aesthetic understan­ ding of the street embraces a relation beween interior and exte­ rior, between content and façade [...]. In all cases the street must reflect the desire for a common public order, the façade being a recognition of that order [...]. For the public order which we have described is not given: it is an achievement, an achievement which depends on being recognized. There is no public order until men can see it. But this recognition [...] will necessitate something like the repeatable vocabulary, recognizable forms, interesting detail [...]. Of course no one doubts that the aesthetic understanding requires a special kind of freedom; but freedom has sense given to it in the apt words of Spinoza: the ‚consciousness of necessity.‘ The architect must be constrained by a rule of obedience.“ Scruton, The Aesthetics of Architecture (Anm. 22), S. 249–250. 25 „Works of architecture can be understood as public figures on the ground of comparatively private buildings.“ Karsten Harries, The Ethical Function of Architecture, Cambridge/Mass. 1997, S. 365. 26 „The ethical function of architecture is inevitably also a public func­ tion. Sacred and public architecture provides the community with a center or centers. Individuals gain their sense of place in a history, in a community, by relating their dwelling to the center.“ Harries, The Ethical Function of Architecture (Anm. 25), S. 287. 27 Harries, The Ethical Function of Architecture (Anm. 25), S. 288. 28 „Architecture is needed to recall the human being to the whole self: to the animal and to the ratio, to nature and spirit.“ Harries, The Ethical Function of Architecture (Anm. 25), S. 362. 29 „[…] precarious conjectures about an ideal dwelling.“ Harries, The Ethical Function of Architecture (Anm. 25), S. 264. 30 Siehe Harries, The Ethical Function of Architecture (Anm. 25), S. 365. 31 Siehe hierzu: Oliver Marchart, Das unmögliche Objekt. Eine postfundamentalistische Theorie der Gesellschaft, Berlin 2013.

Anmerkungen Jörg H. Gleiter 1

Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Bd. II, hrsg. v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt/M. 1996, S. 701.

2 Kant, Kritik der reinen Vernunft (Anm. 1), S. 698. 3 Kant, Kritik der reinen Vernunft (Anm. 1), S. 695. 4 Kant, Kritik der reinen Vernunft (Anm. 1), S. 695. 5 Kant, Kritik der reinen Vernunft (Anm. 1), S. 696. 6 Kant, Kritik der reinen Vernunft (Anm. 1), S. 696. 7 Kant, Kritik der reinen Vernunft (Anm. 1), S. 697. 8 Kant, Kritik der reinen Vernunft (Anm. 1), S. 696.

Anmerkungen

9 Kant, Kritik der reinen Vernunft (Anm. 1), S. 696. 10 Kant, Kritik der reinen Vernunft (Anm. 1), S. 696. 11 Kant, Kritik der reinen Vernunft (Anm. 1), S. 696. 12 Kant, Kritik der reinen Vernunft (Anm. 1), S. 699. 13 Kant, Kritik der reinen Vernunft (Anm. 1), S. 699. 14 Marcus Vitruvius Pollio, De Architectura libri decem. Zehn Bücher über Architektur, Buch IV, Kap. 1.9 u. 1.10, übersetzt v. Dr. Franz Reber [1908], Wiesbaden 2004. 15 S. h. dazu Günter Abel, „Knowledge Research: Extending and Revi­ sing Epistemology“, in: Günter Abel u. James Conant (Hg.), Rethinking Epistemology, Bd. I, Berlin Studies in Knowledge Research, Berlin/Boston 2012, S. 1–54. 16 Max Horkheimer, „Traditionelle und Kritische Theorie“ [1937], in: http://lesekreis.blogsport.de/images/MaxHorkheimerTraditionel­ leundkritischeTheorie.pdf [7. September 2014], S. 15. 17 Abel, „Knowledge Research: Extending and Revising Epistemology“ (Anm. 15), S. 3. 18 Leon Battista Alberti, Zehn Bücher über die Baukunst, hrsg. v. Max Theuer, Darmstadt 1975, Buch IV, Kap. 1.1, S. 175. 19 Alberti, Zehn Bücher über die Baukunst (Anm. 18), S. 10. 20 Vitruv, De Architectura libri decem. Zehn Bücher über Architektur (Anm. 14), Buch II, Kap. 1.2. 21 Thomas Morus, Utopia, in: Der utopische Staat, hrsg. v. Klaus J. Heinisch, Rheinbek bei Hamburg 1960, S. 48. 22 S. h. Claude Perrault, Ordonnance des cinq espèces de colonnes selon la méthode des anciens [1683], in: Fritz Neumeyer (Hg.), Quellentexte zur Architekturtheorie, München u. a. 2002, S. 136–155. 23 Jean-Nicoloas-Louis Durand, Précis des leçons d’architecture données à l’École Royale Polytechnique [1809], Nördlingen 1985. 24 S. h. Jörg Trempler, Schinkels Motive, Berlin 2007. 25 S. h. Gottfried Semper, Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten, oder praktische Ästhetik, Bd. I, Frankfurt/M. 1860. 26 Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit, 3. Fassung, in: Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. I.2, Frankfurt/M. 1997, S. 477. 27 Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit (Anm. 26), S. 477. 28 Antonio Sant’Elia u. Fillipo Tomaso Marinetti, „Futuristische Archi­ tektur“, in: Programme und Manifeste zur Architektur des 20. Jahrhunderts, hrsg. v. Ulrich Conrads, Braunschweig u. a. 1981, S. 32. 29 Hermann Sörgel, Architektur-Ästhetik. Theorie der Baukunst [1921], Reprint, Berlin 1998, S. 200. 30 Sörgel, Architektur-Ästhetik (Anm. 29), S. 200.

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31 Adolf Behne, „Die Zukunft unserer Architektur“ [1921], in: trotzdem modern. Die wichtigsten Texte zur Architektur in Deutschland 1919–1933, hrsg. v. Kristiana Hartmann, Braunschweig u. a. 1994, S. 92. 32 Behne, „Die Zukunft unserer Architektur“ (Anm. 31), S. 40. 33 S. h. August Schmarsow, Das Wesen der architektonischen Schöpfung, Leipzig 1894. 34 Walter Gropius, „Grundsätze der Bauhausproduktion“ [1926], in: Programme und Manifeste zur Architektur des 20. Jahrhunderts (Anm. 28), S. 90. 35 Gropius, „Grundsätze der Bauhausproduktion“ (Anm. 34), S. 90. 36 Gropius, „Grundsätze der Bauhausproduktion“ (Anm. 34), S. 90. 37 Gropius, „Grundsätze der Bauhausproduktion“ (Anm. 34), S. 90. 38 Horkheimer, „Traditionelle und Kritische Theorie“ (Anm. 16), S. 13. 39 Horkheimer, „Traditionelle und Kritische Theorie“ (Anm. 16), S. 13. 40 Manfredo Tafuri, Theories and History in Architecture [1968], London u. a. 1979, S. 41. 41 Max Horkheimer u. Theodor W. Adorno, „Vorrede“, in: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt/M. 1988, S. 1. 42 Herbert Schnädelbach, „Plädoyer für eine kritische Kulturphiloso­ phie“, in: Kulturphilosophie, hrsg. v. Ralf Konersmann, Leipzig 1996, S. 313–314. 43 Schnädelbach, „Plädoyer für eine kritische Kulturphilosophie“ (Anm. 42), S. 307. 44 S. h. dazu Jörg H. Gleiter (Hg.), Ornament Today. Digital, Material, Structural, Bozen 2012 u. Gleiter, Rückkehr des Verdrängten. Zur kritischen Theorie des Ornaments in der architektonischen Moderne, Weimar 2002. 45 Manfredo Tafuri, Architecture and Utopia. Design and Capitalist Development, Cambridge/Mass. 1976, S. X. 46 Charles Jencks, The Language of Post-modern Architecture, London 1977. 47 Vgl. dazu Jacques Derrida, Grammatologie, Frankfurt/M. 1983, S. 459. 48 Hans-Ulrich Gumbrecht, „Das Denken muss nun auch den Daten folgen“, in: FAZ vom 12. März 2014. 49 Gumbrecht, „Das Denken muss nun auch den Daten folgen“ (Anm. 48). 50 Susanne Hauser et al. (Hg.), Architekturwissen. Grundlagentexte aus den Kulturwissenschaften. Zur Ästhetik des sozialen Raums, Bielefeld 2011, S. 9. 51 S. h. Netzwerk Architekturwissenschaften, unter: http://www.archi­ tekturwissenschaft.net/

Anmerkungen

52 S. h. Gerd de Bruyn u. Wolf Reuter, Das Wissen der Architektur, Bielefeld 2011, S. 65 u. Gerd de Bruyn, Die enzyklopädische Architektur, Bielefeld 2008. 53 Die Anmerkung bezieht sich auf den Versuch einer Philosophie als Karikatur von Karsten Harries in diesem Band. Karikaturen sind, wie die Aufklärer das genannt hatten, eine Form des niederen Erkennt­ nisvermögens. Die Motivation dahinter oftmals ebenso. Der Leser ist mündig genug, sich ein eigenes Urteil zu erlauben, das heißt zu erlesen. 54 Gumbrecht, „Das Denken muss nun auch den Daten folgen“ (Anm. 48).

Anmerkungen Christoph Baumberger 1

John Haldane, „Form, Meaning and Value. A History of the Philo­ sophy of Architecture“, in: The Journal of Architecture 4, 1999, S. 9–20; Jörg H. Gleiter, Architekturtheorie heute, Bielefeld 2008; Christian Illies u. Nicholas Ray, „Philosophy of Architecture“, in: Anthonie Meijers (Hg.), Philosophy of Technology and Engineering Sciences, Bd. IX, Amsterdam 2009, S. 1199–1256; Ludger Schwarte, Philosophie der Architektur, München 2009. Eine erste Anthologie ist Christoph Baumberger (Hg.), Architekturphilosophie. Grundlagentexte, Münster 2013; der vorliegende Beitrag überschneidet sich teilweise mit deren Einleitung.

2

Beispielsweise Vittorio Magnago Lampugnani, Ruth Hanisch, Ulrich Maximilian Schumann u. Wolfang Sonne (Hg.), Architekturtheorie im 20. Jahrhundert. Positionen, Programme, Manifeste, Ostfildern 2004.

3

Vgl. Eduard Führ, „Zur Theorie der Architektur als Wissenschafts­ theorie und Wissenschaftspraxis“, in: Wolkenkuckucksheim 9/2, 2005, unter: http://www.cloud-cuckoo.net/openarchive/wolke/deu/ Themen/042/Fuehr/fuehr.htm [17. Dezember 2014].

4

Vgl. Führ, „Zur Theorie der Architektur als Wissenschaftstheorie und Wissenschaftspraxis“ (Anm. 3).

5 Gleiter, Architekturtheorie heute (Anm.1), S. 8. 6 7

Achim Hahn, Architekturtheorie, Konstanz 2008, S. 41. Roger Scruton, The Aesthetics of Architecture, Princeton/NJ 1979, S. 1–5.

8

Edward Winters, Aesthetics and Architecture, New York/NY 2007, S. 15.

9 Schwarte, Philosophie der Architektur (Anm. 1), S. 22. Um die Gestaltung der Lebenswelt durch Architektur begreifen zu können, muss die Architekturphilosophie nach Schwarte zudem, wie er an

247

derselben Stelle fortfährt, „die Grundlagen des Bauenkönnens und der Interaktion“ sowie „die Negation des Bauens, wenn nicht gar negative Architektur in den Blick nehmen“. 10 Scruton, The Aesthetics of Architecture (Anm. 7), S. 4. 11 Allen Carlson, „Die ästhetische Wertschätzung alltäglicher Archi­ tektur“ [1999], in: Baumberger, Architekturphilosophie (Anm. 1), S. 107–123. 12 Saul Fisher, „How to Think about the Ethics of Architecture“, in: Warwick Fox (Hg.), Ethics and the Built Environment, London 2000, S. 170–183; Warwick Fox, „Architecture Ethics“, in: Jan Kyrre Berg Olsen, Stig Andur Pedersen u. Vincent F. Hendricks (Hg.), Companion to the Philosophy of Technology, Malden 2009, S. 387–391; Illies u. Ray, „Philosophy of Architecture“ (Anm. 1); Martin Düchs, Architektur für ein gutes Leben. Über Verantwortung, Ethik und Moral des Architekten, Münster 2011. 13 Gordon Graham, „Architecture“, in: Jerrold Levinson (Hg.), The Oxford Handbook of Aesthetics, Oxford 2003, S. 555–571; Edward Winters, „Architecture“, in: Berys Gaut u. Dominic McIver Lopes (Hg.), The Routledge Companion to Aesthetics, London 2005, S. 655–667; Edward Winters, „Architecture“, in: Stephen Davies, Kathleen Marie Higgins, Robert Hopkins u. Robert Stecker (Hg.), A Companion to Aesthetics. Second Edition, Malden 2009, S. 74–76. 14 Michael H. Mitias, „The Aesthetic Experience of the Architectural Work“, in: Journal of Aesthetic Education 33, 1999, S. 61–77, hier S. 64. 15 Nelson Goodman, „Wie Bauwerke bedeuten“ [1988], in: Baum­ berger, Architekturphilosophie (Anm. 1), S. 124–136, hier S. 125–126. 16 Stephen Davies, „Ist die Architektur eine Kunst?“ [1994], in: Baum­ berger, Architekturphilosophie (Anm. 1), S. 29–47, hier S. 37–40. 17 Robert Stecker, „Reflexionen über Architektur. Bauwerke als Umge­ bungen, als ästhetische Objekte und als Kunstwerke“ [1999], in: Baumberger, Architekturphilosophie (Anm. 1), S. 49–65, hier S. 49–52. 18 Vgl. Davies, „Ist die Architektur eine Kunst?“ (Anm. 16), S. 40–47. 19 Mitias, „The Aesthetic Experience of the Architectural Work“ (Anm. 14). 20 Christoph Baumberger, Gebaute Zeichen. Eine Symboltheorie der Architektur, Frankfurt/M. 2010, Kap. 6. 21 Scruton, The Aesthetics of Architecture (Anm. 7), Kap. 4. 22 Winters, Aesthetics and Architecture (Anm. 8), Kap. 13. 23 Gernot Böhme, Architektur und Atmosphäre, München 2006. 24 Ed Rush, On Architecture, New York/NY 2009.

Anmerkungen

25 Carlson, „Die ästhetische Wertschätzung alltäglicher Architektur“ (Anm. 11). 26 Goodman, „Wie Bauwerke bedeuten“ (Anm. 15); Baumberger, Gebaute Zeichen (Anm. 20); Remei Capdevila-Werning, „Can Buil­ dings Quote?“, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 69, 2011, S. 115–124; Remei Capdevila-Werning, Goodman for Architects, London/New York 2014. 27 Scruton, The Aesthetics of Architecture (Anm. 7); Winters, Aesthetics and Architecture (Anm. 8). 28 Dagegen mag man einwenden, eine interesselose Einstellung verlange nicht, dass man von funktionalen Aspekten absieht, sondern bloß, dass man sich für einen Gegenstand nur um seiner selbst willen interessiert, was auch bei funktionalen Artefakten wie Bauwerken möglich ist. Das mag zwar richtig sein, aber man kann ein Bauwerk selbst dann ästhetisch erfahren, wenn man sich für es zugleich als Mittel zur Befriedigung bestimmter Bedürfnisse interessiert. Verlangt eine interesselose Einstellung jedoch nur, dass man sich auf einen Gegenstand auch um seiner selbst willen richtet, ist sie zumindest keine spezifisch ästhetische Einstellung mehr, da wir dies beispielsweise auch in der Philosophie und in den Wissen­ schaften tun. 29 Zum Beispiel bei Rush, On Architecture (Anm. 24), Kap. 1. 30 Vgl. Glenn Parsons u. Allen Carlson, Functional Beauty, Oxford 2008, S. 91–100. 31 Maurice Lagueux, „Ethik und Ästhetik in der Architektur“ [2004], in: Baumberger, Architekturphilosophie (Anm. 1), S. 176–195, hier S. 176–183. 32 Fisher, „How to Think about the Ethics of Architecture“ (Anm. 12), S. 170–171; Fox, „Architecture Ethics“ (Anm. 12), S. 390; Illies u. Ray, „Philosophy of Architecture“ (Anm. 1), S. 1228. 33 Illies u. Ray, „Philosophy of Architecture“ (Anm. 1), S. 1219–1226; vgl. Fox, „Architecture Ethics“ (Anm. 12), S. 388–389. 34 Craig Delancy, „Architecture Can Save the World. Building and Envi­ ronmental Ethics“, in: The Philosophical Forum 23, 2004, S. 147–159, hier S. 152–155; Düchs, Architektur für ein gutes Leben (Anm. 12), S. 180–197. 35 Düchs, Architektur für ein gutes Leben (Anm. 12), S. 173–180. 36 Düchs, Architektur für ein gutes Leben (Anm. 12), S. 158–162. 37 Nigel Taylor, „Ethical Arguments about the Aesthetics of Architec­ ture“, in: Warwick Fox (Hg.), Ethics and the Built Environment, London 2000, S. 193–206, hier S. 201–205. 38 Thomas Potthast, „Umweltethik“, in: Marcus Düwell, Christoph Hübenthal u. Micha H. Werner (Hg.), Handbuch Ethik, Stuttgart 2006, S. 292–296, hier S. 292.

249

39 Illies u. Ray, „Philosophy of Architecture“ (Anm. 1), S. 1228. 40 Scruton, The Aesthetics of Architecture (Anm. 7), Kap. 10; Winters, Aesthetics and Architecture (Anm. 8), Kap. 9. 41 Berys Gaut, „Art and Ethics“, in: Berys Gaut u. Dominic McIver Lopes (Hg.), The Routledge Companion to Aesthetics, London 2001, S. 341–352, hier S. 348–351. 42 Fisher, „How to Think about the Ethics of Architecture“ (Anm. 12), S. 170–171; Fox, „Architecture Ethics“ (Anm. 12), S. 390; Illies u. Ray, „Philosophy of Architecture“ (Anm. 1), 1228.

Anmerkungen Kirsten Wagner 1

Michel Foucault, Les mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines, Paris 1988, S. 398.

2

Michel Foucault, „La naissance d’un monde“, in: Foucault, Dits et écrits, tome 1, 1954–1969, Paris 1994, S. 786–789, hier S. 788.

3

Zu den linguistischen Analogien bei Eisenman vgl. Mario Gandel­ sonas, „From Structure to Subject: The Formation of an Architec­ tural Language“ [1978], in: K. Michael Hays (Hg.), Oppositions Reader: Selected Readings from a Journal for Ideas and Criticism in Architecture 1973–1984, New York/NY 1998, S. 200–223.

4

Peter Eisenman, „Cardboard Architecture. House I and House II“ [1972], in: Eisenman, Inside Out. Selected Writings 1963–1988, New Haven/London 2004, S. 28–39, hier S. 32.

5

Von den Houses wurden u.a. realisiert: 1967–68 House I in Princeton/ New Jersey; 1969–70 House II in Hardwick, Vermont; 1969–1971 House III in Salisbury, Connecticut; 1972–75 House VI in Cornwall, Connecticut.

6

Vgl. hierzu Ullrich Schwarz, „Another look – anOther gaze. Zur Architekturtheorie Peter Eisenmans“, in: Peter Eisenman, Aura und Exzeß. Zur Überwindung der Metaphysik der Architektur. Essays und Gespräche 1976–1994, hrsg. v. Ullrich Schwarz u. Martina Kögl, Wien 1995, S. 11–34, sowie Gavin Macrae-Gibson, The Secret Life of Buildings. An American Mythology for Modern Architecture, Cambridge/Mass./London 1989, S. 30–40.

7

Peter Eisenman, „Post-Functionalism“ [1976], in: Eisenman, Inside Out (Anm. 4), S. 84–87.

8

Vgl. hierzu Christopher Hight, Architectural principles in the age of cybernetics, New York/London 2008, S. 44–53.

9

Peter Eisenman, „The End of the Classical. The End of the Begin­ ning, the End of the End“ [1984], in: Eisenman, Inside Out (Anm. 4), S. 153–168, hier S. 155.

Anmerkungen

10 Günther Feuerstein, Biomorphic Architecture. Menschen- und Tiergestalten in der Architektur. Human and Animal Forms in Architecture, Stuttgart/London 2002. 11 Vgl. John Onians, Neuroarthistory. From Aristotle and Pliny to Baxandall and Zeki, London/New Haven/CT 2007; Harry Francis Mall­ grave, The architect’s brain. Neuroscience, creativity, and architecture, Chichester u. a. 2010. 12 Vgl. hierzu Joseph Rykwert, „Körper und Bauwerk. Body and Buil­ ding“, in: Daidalos 45, 1992, S. 100–109; Marco Bussagli, L’uomo nello spazio, Mailand 2005. 13 Vitruv, De architectura libri decem. Zehn Bücher über Architektur, lat.-dt., übers. und mit Anmerkungen versehen v. Curt Fensterbusch, 5. Aufl., Darmstadt 1996. 14 Vitruv, De architectura (Anm. 13), S. 37–38. Zu den unterschied­ lichen Auslegungen dieser drei Begriffe, von denen insbeson­ dere die Symmetrie in der Frühen Neuzeit einen entscheidenden Bedeutungswandel im Sinne einer spiegelbildlichen Entspre­ chung erfahren hat, vgl. u. a. Erwin Panofsky, „Die Entwicklung der Proportionslehre als Abbild der Stilentwicklung“, in: Monatshefte für Kunstwissenschaft 14, 1921, S.188–219, insb. S. 196; Frank Zöllner, Vitruvs Proportionsfigur. Quellenkritische Studien zur Kunstliteratur im 15. und 16. Jahrhundert, Worms 1987, S. 39–40; Indra Kagis McEwen, Vitruvius. Writing the Body of Architecture, Cambridge/Mass./London 2003, S. 39–40, 65–66, 195–198. 15 Vitruv, De architectura (Anm. 13), S. 39. 16 Vitruv, De architectura (Anm. 13), S. 137–143. 17 Weitere Angaben sind: Gesicht = Handlänge = 1/10 Körperhöhe; Kopf vom Kinn bis zum Scheitel = 1/8 Körperhöhe; Brust bzw. Nacken bis Haaransatz = 1/6 Körperhöhe; Mitte der Brust bis Scheitel = 1/4 Körperhöhe; Kinn bis Nase unten, Nase unten bis Augenbrauen, Augenbrauen bis Haaransatz = jeweils 1/3 Gesichts­ höhe; Vorderarm = 1/4 Körperhöhe; Brust = 1/4 Körperhöhe. Vgl. Vitruv, De architectura (Anm. 13), S. 137. Zur Adaptation der grie­ chischen Metrologie und Kanones durch Vitruv, vgl. Zöllner, Vitruvs Proportionsfigur (Anm. 14), S. 24–43; McEwen, Vitruvius (Anm. 14), S. 264–275. 18 McEwen, Vitruvius (Anm. 14), S. 39–54. 19 Vgl. hierzu Friedrich Hiller, „Maß und Freiheit – Anthropometrie in der griechisch-römischen Antike“, in: Sigrid Braunfels et al., Der „vermessene“ Mensch. Anthropometrie in Kunst und Wissenschaft, München 1973, S. 33–42. 20 Rudolf Wittkower, Architectural Principles in the Age of Humanism, London 1949.

251

21 Vgl. hierzu Zöllner, Vitruvs Proportionsfigur (Anm. 14), sowie Frank Zöllner, „Anthropomorphismus. Das Maß des Menschen in der Architektur von Vitruv bis Le Corbusier“, in: Otto Neumaier (Hg.), Ist der Mensch das Maß aller Dinge? Beiträge zur Aktualität des Protagoras, Möhnesee 2004, S. 306–344; McEwen, Vitruvius (Anm. 14). 22 Zöllner, Vitruvs Proportionsfigur (Anm. 14); Zöllner, „Anthropomor­ phismus“ (Anm. 21). 23 McEwen, Vitruvius (Anm. 14), S. 181. 24 Vgl. hierzu Bruno Reudenbach, „Die Gemeinschaft als Körper und Gebäude. Francesco di Giorgios Stadttheorie und die Visualisie­ rung von Sozialmetaphern im Mittelalter“, in: Klaus Schreiner u. Norbert Schnitzler (Hg.), Gepeinigt, begehrt, vergessen. Symbolik und Sozialbezug des Körpers im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit, München 1992, S. 171–198; Bruno Reudenbach, „In mensuram humani corporis. Zur Herkunft der Auslegung und Illustration von Vitruv III 1 im 15. und 16. Jahrhundert“, in: Christel Meier u. Uwe Ruberg (Hg.), Text und Bild. Aspekte des Zusammenwirkens zweier Künste in Mittelalter und früher Neuzeit, Wies­ baden 1980, S. 651–688. 25 Vgl. hierzu Joseph Rykwert, The Dancing Column. On Order in Architecture, Cambridge/Mass./London 1996. 26 Vgl. etwa Alberto Pérez-Gómez, Architecture and the Crisis of Modern Science, Cambridge/Mass./London 1983; vgl. hierzu kritisch Hight, Architectural principles (Anm. 8), S. 17–31. 27 Vitruv, De architectura (Anm. 13), S. 167–175. 28 Zu dieser Unterscheidung vgl. schon Reudenbach, „Die Gemein­ schaft als Körper und Gebäude“ (Anm. 24). 29 Zur Geschichte der künstlerischen Anatomie vgl. im Überblick Boris Röhrl, History and Bibliography of Artistic Anatomy. Didactics for Depicting the Human Figure, Hildesheim u. a. 2000. 30 Zur besonderen Geschichte und Konjunktur einer physiogno­ mischen Auslegung von Architektur im 19. Jahrhundert vgl. Laurent Baridon u. Martial Guédron, Corps et arts. Physionomies et physiologies dans les arts visuels, Paris 1999, S. 188–228. 31 Vgl. Claire Barbillon, Les canons du corps humain au XIXe siècle. L’art et la règle, Paris 2004. 32 Zur Aktualität der entsprechenden Maßkonzepte und Messinstru­ mente in der Kunst des 20. Jahrhunderts vgl. Eckhard Leuschner (Hg.), Figura Umana. Normkonzepte der Menschendarstellung in der italienischen Kunst 1919–1939, Petersberg 2012. 33 Vgl. hierzu den Katalog anthropologischer Instrumente im Dictionnaire des sciences anthropologiques, anatomie, crâniologie, archéologie, préhistorique, éthnographie (mœurs, arts, industries), démo-

Anmerkungen

graphie, langues, religions, Paris 1889, S. 617–620; sowie zu ihrer historischen Verbindung mit der anatomischen und künstlerischen Anatomie: Barbillon, Les canons du corps humain au XIXe siècle (Anm. 31), S. 105–122. 34 Frorieps Quellen umfassen Anatomie, Physiognomik, Anthropo­ logie, Biomechanik und Proportionslehre. Darunter finden sich auch Arbeiten der Brüder Wilhelm und Eduard Weber, von Wilhelm Henke, Johann Caspar Lavater, Peter Camper oder Charles Darwin. August Froriep, Anatomie für Künstler. Kurzgefasste Anatomie, Mechanik und Proportionslehre des menschlichen Körpers, Leipzig 1880. 35 Johann Gottfried Schadow, Polyclet oder Von den Maassen des Menschen nach dem Geschlechte und Alter, mit Angabe der wirklichen Naturgrösse nach dem rheinländischen Zollstocke und Abhandlung von dem Unterschiede der Gesichtszüge und Kopfbildung der Völker des Erdboden, als Fortsetzung des hierüber von Peter Camper Ausgegangenen, Berlin 1834. Zu Schadows Propor­ tionsatlas und seinen Bezügen zur physischen Anthropologie vgl. Barbillon, Les canons du corps humain au XIXe siècle (Anm. 31), S. 145–152; Michele Cometa, „Von den Maßen des Körpers. Kunst und Rasse bei Johann Gottfried Schadow“, in: Elena Agazzi u. Eva Koczisky (Hg.), Der fragile Körper. Zwischen Fragmentierung und Ganzheitsanspruch, Göttingen 2005, S. 225–242. 36 Wilhelm u. Eduard Weber, Mechanik der menschlichen Gehwerkzeuge. Eine anatomisch-physiologische Untersuchung, Göttingen 1836. 37 Der auch einen Beitrag liefert über „Die aufrechte Haltung des Menschen im Stehen und Gehen“, in: Wilhelm Henke, Vorträge über Plastik, Mimik und Drama, Rostock 1892, S. 1–27. In späteren Ausgaben des Froriep wird diese Schrift ebenfalls aufgeführt. 38 Vgl. hierzu mit Bezug auf die Entwicklung von Fotografie und Film Andreas Mayer, „Faire marcher les hommes et les images“, in: Terrain. Revue d’éthnologie de l’Europe 46/1, 2006, S. 33–48. 39 Vgl. hierzu u. a. Mitchell W. Schwarzer, „The Emergence of Architectural Space: August Schmarsow’s Theory of ‚Raumge­ staltung‘“, in: Assemblage 15, 1991, S. 48–61; Andrea Pinotti, „Il ritmo del corpo architettonico. August Schmarsow tra empatia e pura visibilità“, in: Materiali di estetica 2, 2000, S. 179–198; Jasper Cepl, „August Schmarsows Barock und Rokoko – ein Beitrag zur ästhetischen Erziehung des modernen Architekten“, in: August Schmarsow, Barock und Rokoko. Eine kritische Auseinandersetzung über das Malerische in der Architektur [1897], Neuausgabe mit einem Nachwort von Jasper Cepl, Berlin 2001; Cornelia Jöchner, „Wie kommt Bewegung in die Architekturtheorie? Zur Raum-

253

Debatte am Beginn der Moderne“, in: Wolkenkuckucksheim 9/1, 2004; Beatrix Zug, Die Anthropologie des Raumes in der Architekturtheorie des frühen 20. Jahrhunderts, Tübingen/Berlin 2006. 40 Von diesen wesentlich durch Semper, Bötticher und Wölfflin geprägten Zuordnungen der Architektur grenzt sich Schmarsow ab. 41 Zug, Die Anthropologie des Raumes (Anm. 39). 42 Wobei in den vorkritischen Schriften Kants bereits der axiale Leib für die Orientierung im Raum relevant wird. Vgl. hierzu Anm. 54. 43 Vgl. Jonathan Crary, Techniques of the Observer. On Vision and Modernity in the 19th Century, Cambridge/Mass. u. a. 1990. 44 Zur Einfühlungstheorie und ihrer Rezeption in der Architektur vgl. Harry Francis Mallgrave u. Eleftherios Ikonomou (Hg.), Empathy, form, and space. Problems in German aesthetics 1873–1893, Santa Monica/CA 1994. 45 August Schmarsow, Das Wesen der architektonischen Schöpfung, Leipzig 1894. 46 August Schmarsow, Grundbegriffe der Kunstwissenschaft. Am Übergang vom Altertum zum Mittelalter, kritisch erörtert und in systematischem Zusammenhange dargestellt, Leipzig/Berlin 1905, S. 45. 47 Schmarsow, Das Wesen der architektonischen Schöpfung (Anm. 45), S. 11. 48 „In dem Axensystem der Koordinaten ist das natürliche Bildungsge­ setz aller räumlichen Produktion des Menschen wie in einer zwin­ genden Formel vorgezeichnet.“ Schmarsow, Das Wesen der architektonischen Schöpfung (Anm. 45), S. 14. 49 Schmarsow, Das Wesen der architektonischen Schöpfung (Anm. 45), S. 15. 50 Schmarsow, Das Wesen der architektonischen Schöpfung (Anm. 45), S. 15, 17. 51 Vgl. hierzu ferner August Schmarsow, „Ueber den Werth der Dimensionen im menschlichen Raumgebilde“, in: Berichte über die Verhandlungen der königlich sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften zu Leipzig. Philologisch-historische Classe, Bd. XLVIII, Leipzig 1896, S. 44–61; Schmarsow, Unser Verhältnis zu den bildenden Künsten. Sechs Vorträge über Kunst und Erziehung, Leipzig 1903; Schmarsow, „Raumgestaltung als Wesen der architek­ tonischen Schöpfung“, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 9, 1914, S. 66–95; Schmarsow, „Zur Bedeutung des Tiefenerlebnisses im Raumgebilde“, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 15, 1921, S. 104–109. 52 Gottfried Semper, Der Stil in den tektonischen Künsten, oder Prak­ tische Aesthetik. Ein Handbuch für Techniker, Künstler und Kunstfreunde, 2 Bde., Frankfurt/M. 1860–63, S. XXIV–XLIII. Die Zuordnung von Symmetrie und Proportion zur horizontalen und vertikalen

Anmerkungen

Richtung des menschlichen Körpers lässt sich ihrerseits auf Adolf Zeisings Neue Lehre von den Proportionen des menschlichen Körpers aus dem Jahr 1854 zurückverfolgen, mit der sich Semper hinsichtlich der Rückführung des „Proportionalgesetzes“ auf den goldenen Schnitt kritisch auseinander gesetzt hat. 53 Harry Francis Mallgrave, Gottfried Semper. Architect of the Nineteenth Century. A Personal and Intellectual Biography, New Haven/ London 1996, S. 290, 368–375; Cepl, „August Schmarsows Barock und Rokoko“ (Anm. 39); Jöchner, „Wie kommt Bewegung in die Architekturtheorie?“ (Anm. 39). Noch aus einem anderen Zusam­ menhang heraus bot sich im 19. Jahrhundert die Erklärung des dreidimensionalen Raumes aus der Axialität des menschlichen Körpers an. Hatte doch Kant in seiner vorkritischen Schrift „Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raum“ [1768], in: Kant, Vorkritische Schriften bis 1768. Werke, Bd. II, hrsg. v. Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1981, S. 993–1000, ausgeführt, dass der Körper mit seiner rechten und linken Seite, seinem Oben und Unten, Hinten und Vorne das grundlegende Bezugs- und Orientierungssystem ist, auf das die Richtungen sowie die Lage­ verhältnisse von Körpern im Raum verwiesen sind. In seiner Schrift Über den psychologischen Ursprung der Raumvorstellung [1873], Nachdruck, Amsterdam 1965, wird das axiale Körpermodell von Carl Stumpf aufgegriffen, und bereits Mallgrave u. Ikonomou, Empathy, form, and space (Anm. 44) haben darin eine mögliche Quelle für Schmarsow gesehen. 54 Semper, Der Stil in den tektonischen Künsten, oder Praktische Aesthetik (Anm. 52), S. XXXVII. Es muss an dieser Stelle jedoch hinzuge­ fügt werden, dass Sempers Verknüpfung der Koordinatenachsen mit den angeführten Gestaltungsmomenten in zweierlei Hinsicht einer anthropomorphen Konzeption von Architektur verbunden bleibt. Zum einen entwickelt er Symmetrie, Proportionalität und Richtung als formale Bedingungen von Harmonie in Auseinander­ setzung mit den entsprechenden Begriffen sowohl der formalen Ästhetik als auch Vitruvs, zum anderen entfaltet er diese Gestal­ tungsmomente, bevor sie im Stil auf die Formen der belebten und unbelebten Natur bezogen werden, am geschmückten Körper. Paarige Behänge, „proportionalischer Ringschmuck“ sowie unbe­ weglicher und flatternder „Richtungsschmuck“ drücken das „gesetzliche Ebenmass und den Charakter der Form nach allen Seiten“ aus, stellen also die im menschlichen Körper wie in der Natur wirkenden Prinzipien von Symmetrie, Proportion und Bewe­ gung symbolisch dar. Und es ist dieser geschmückte Körper, von dem wiederum die Baukunst ihre Symbole bezieht. Vgl. hierzu

255

Semper, Über die formelle Gesetzmässigkeit des Schmuckes und dessen Bedeutung als Kunstsymbol, Zürich 1856. 55 Theodor Lipps, Raumästhetik und geometrisch-optische Täuschungen, Leipzig 1897. 56 Semper, Der Stil in den tektonischen Künsten, oder Praktische Aesthetik (Anm. 52), S. XLIII. 57 Vgl. Schmarsow, „Raumgestaltung als Wesen der architektonischen Schöpfung“ (Anm. 51). 58 Inwieweit pflanzenmorphologische Überlegungen für Begriffe der Richtung und der Lebenskraft bei Semper geltend gemacht werden können, muss an dieser Stelle offen bleiben. Für Zeisings Ästhetik spielen sie eine Rolle. 59 Gottfried Semper, Ueber die bleiernen Schleudergeschosse der Alten und über zweckmäßige Gestaltung der Wurfkörper im Allgemeinen. Ein Versuch die dynamische Entstehung gewisser Formen in der Natur und in der Kunst nachzuweisen, Frankfurt/M. 1859. Auf deren Bedeutung Mallgrave in Gottfried Semper (Anm. 53), S. 225, auch hinweist, sie jedoch vor allem darin sieht, dass Semper sich mit dieser Studie an Böttichers Tektonik abarbeitet. 60 Semper, Ueber die bleiernen Schleudergeschosse (Anm. 59). 61 Schmarsow, Grundbegriffe der Kunstwissenschaft (Anm. 46), S. 35. 62 Aus seinen Studien über die Kompositionsgesetze in der Kunst des Mittelalters, Bd. II: „Darstellende Künste“, Bonn/Leipzig 1922, geht hervor, dass Schmarsow Frorieps Anatomie für Künstler tatsächlich konsultiert hat, in der genannten Schrift in Zusammenhang mit Mimik und Gebärdensprache. 63 Vgl. hierzu Frank Zöllner, „Anthropomorphism: From Vitruvius to Neufert, from Human Measurement to the Module of Fascism“, in: Kirsten Wagner u. Jasper Cepl (Hg.), Images of the Body in Architecture. Anthropology and Built Space, Tübingen 2014, S. 47–75 64 Vgl. Zeising, Neue Lehre von den Proportionen (Anm. 52). 65 Vgl. Baridon und Guédron, Corps et arts (Anm. 30). 66 Vgl. Fritz Neumeyer: „Erst die ,Einfühlungstheorie‘ des 19. Jahr­ hunderts bringt für die unausrottbare Verhaltensweise des Menschen (Anthropomorphismus) ein tieferes Verständnis auf, wenn sie diesen vermeintlichen Defekt erkenntnistheoretisch als eine notwendigen psychischen Vorgang der Übertragung innerer Anschauungsformen auf die äußere gegebene Realität anerkennt und die Kunsttätigkeit des Menschen überhaupt als ein Phänomen der Selbstobjektvierung betrachtet. Damit wird das metaphysisch begründete Proportionskonzept der Antike in ein psychologisch begründetes Projektionskonzept wissenschaftlich umgedeutet.“ Fritz Neumeyer, „Nachdenken über Architektur“, in: Neumeyer

Anmerkungen

(Hg.), Quellentexte zur Architekturtheorie, München u.a. 2002, S. 9–79, hier S. 17. 67 Vgl. hierzu Klaus Heinrich, anthropomorphe. Zum Problem des Anthropomorphismus in der Religionsphilosophie, Basel/ Frankfurt/M. 1986, S. 26. 68 Vgl. Pierer’s Universal-Lexikon der Vergangenheit und Gegenwart oder Neuestes encyclopädisches Wörterbuch der Wissenschaften, Künste und Gewerbe, Bd. I, 4. Aufl., Altenburg 1857, S. 554–555. Demgegenüber kennt die Enzyklopädie von Diderot u. d’Alembert aus der Mitte des 18. Jahrhunderts nur die Anthropographie als anatomische Beschreibung des Menschen, die Anthropologie, unter die neben der Lehre des Menschen die Bedeutung des Anthropo­ morphismus fällt, die Anthropopathie ebenfalls im Sinne des Anth­ ropomorphismus sowie die Anthropometrie als Vermessung des Menschen (Proportionslehren). 79 Ludwig Feuerbach, Das Wesen des Christenthums, Leipzig 1841. 70 Zu diesem Bedeutungswandel des Begriffs Anthropomorphismus, insbesondere auch bei Ersch u. Gruber, Allgemeine Encyclopädie (Anm. 71), vgl. bereits Ralf Becker, „Anthropomorphismus“, in: Archiv für Begriffsgeschichte 49, 2007, S. 69–98; 50, 2008, S. 153–185. 71 Johann Samuel Ersch u. Johann Gottfried Gruber (Hg.), Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste, 4. Teil, Leipzig 1818– 1819 (Nachdruck Graz 1969), S. 287. Für ihre Recherchen und den Hinweis auf Ersch u. Gruber danke ich Andrea Grützner. 72 Vgl. Friedrich Theodor Vischer, Aesthetik oder Wissenschaft des Schönen, erster Theil: „Die Metaphysik des Schönen“, Reutlingen/ Leipzig 1846, S. 74. 73 Alfred Biese, Das Associationsprincip und der Anthropomorphismus in der Aesthetik. Ein Beitrag zur Aesthetik des Naturschönen, Kiel 1890. 74 Alois Riegl: „Die Kulturvölker des Altertums erblickten in den Außendingen nach Analogie der ihnen (vermeintlich) bekannten eigenen menschlichen Natur (Anthropismus) stoffliche Individuen, zwar von verschiedener Größe, aber jedes aus fest zusammenhän­ genden Teilen zu einer untrennbaren Einheit abgeschlossen.“ Alois Riegl, Spätrömische Kunstindustrie [1901], mit einem Nachwort von Wolfgang Kemp, Berlin 2000, S. 26. Wölfflin spricht in Zusammen­ hang mit der Symboltheorie bzw. der Einfühlungstheorie Johannes Volkelts insgesamt von einem „anthropomorphe[n] Auffassen der räumlichen Gebilde […]“. Heinrich Wölfflin, Prolegomena zu einer Psychologie der Architektur [1886], mit einem Nachwort zur Neuausgabe von Jasper Cepl, Berlin 1999, S. 11.

257

75 Diese Ansicht vertritt in kritischer Auseinandersetzung mit Karl Böttichers Schriften zum Hellenischen Baumkultus Johannes Overbeck, „Das Cultusobject bei den Griechen in seinen ältesten Gestaltungen“, in: Berichte über die Verhandlungen der KöniglichSächsischen Gesellschaft der Wissenschaften zu Leipzig, Philolo­ gisch-Historische Classe, Bd. II, Leipzig 1864, S. 121–172. 76 Vgl. Heinrich, anthropomorphe (Anm. 67). 77 Overbeck, „Das Cultusobject bei den Griechen“ (Anm. 75). 78 Beatrix Zug-Rosenblatt, „Architecture as Enclosure of Man. August Schmarsow’s Attempt at a Scientific Grounding of the Hegelian Principle“, in: Wagner u. Cepl (Hg.), Images of the Body in Architecture (Anm. 63), S. 189–206. 79 Tatsächlich erweisen sie sich in Schmarsows Antrittsvorlesung als austauschbar. 80 Friedrich Theodor Vischer, „Das Symbol“, in: Vischer, Kritische Gänge [1861–66], Bd. IV, 2. Aufl., hrsg. v. Robert Vischer, München 1922, S. 420–456. 81 Vgl. Schmarsow, Grundbegriffe der Kunstwissenschaft (Anm. 46), S. 45.

Anmerkungen Jan Bovelet 1

Vgl. René Descartes, Discours de la méthode, Hamburg 1997, S. 15 u. S. 23.

2

Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz, Monadologie und andere metaphysische Schriften, Hamburg 2002, S. 113.

3

Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Stuttgart 1966, B 860 u. A 832.

4

Vgl. Susanne Hauser, „Architektur, Forschung, Wissenschaft(en)“, in: Wolkenkuckucksheim 13/2, 2009.

5

Christian Posthofen, Theorie und Praxis, hrsg. v. Arno Brandlhuber u. a42.org / AdbK Nürnberg, Disko 5, Nürnberg 2007, S. 9.

6

Siehe Frederik Stjernfelt u. Peer Bundgaard, „Logic and Cognition“, in: Paul Cobley (Hg.), The Routledge Companion to Semiotics, New York/NY 2010, S. 68–69.

7

Siehe Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus. Logischphilosophische Abhandlung, Frankfurt/M. 1963.

8

Siehe Ludwig Wittgenstein, „Philosophische Untersuchungen“, in: Werkausgabe, Vol. 1 Frankfurt/M. 1984, § 243 ff.

9

Hilary Putnam, „The Meaning of ‚Meaning‘“, in: Mind, Language and Reality. Philosophical Papers 2, New York/NY 1975, S. 227.

Anmerkungen

10 Siehe Willard Van Orman Quine, „Two Dogmas of Empiricism“, in: From a Logical Point of View, London/Cambridge/Mass. 1953, S. 20–46. 11 Siehe z. B. Lorraine Daston, Things That Talk: Object Lessons from Art and Science, New York 2007, Einleitung; Hans-Jörg Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge, Frankfurt/M. 2006. 12 Siehe Hans-Jörg Rheinberger, Historische Epistemologie zur Einführung, Hamburg 2007. 13 Siehe für einen Überblick z. B. Hartmut Rosa, Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt/M. 2005. 14 Siehe Hans-Jörg Rheinberger, „Sichtbar machen. Visualisierung in den Naturwissenschaften“, in: Klaus Sachs-Hombach (Hg.), Bildtheorien, Frankfurt/M. 2009, S. 127–145. 15 Herbert Simon, The Sciences of the Artificial, Cambridge/Mass. 1969, S. 4. Diese Feststellung verweist natürlich zugleich auf die Notwendigkeit einer Ethik der Architekturphilosophie und auf die Frage, wie Erkenntnistheorie und Ethik in einer Architekturphiloso­ phie zusammenhängen. 16 Siehe Charles Sanders Peirce, Collected Papers of Charles Sanders Peirce, hrsg. v. Charles Hartshorne, Paul Weiss u. Arthur W. Burke, Cambridge/Mass. 1931, § 5.414.

Anmerkungen Karsten Harries 1

Martin Heidegger, „Die Zeit des Weltbildes“, in: Gesamtausgabe, Bd. V: Holzwege, Frankfurt/M. 1977, S. 75–113.

2

Nikolaus Pevsner, An Outline of European Architecture, Harmonds­ worth 1958, S. 23.

3

Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, A205 u. B208.

4

Heidegger, „Die Zeit des Weltbildes“ (Anm. 1), S. 69.

5

Jörg H. Gleiter, Rückkehr des Verdrängten. Zur Kritischen Theorie des Ornaments in der architektonischen Moderne, Weimar 2002, S. 386.

6

Friedrich Nietzsche, „Aus dem Nachlass der achtziger Jahre“, in: Werke, 3 Bde., Bd. III, hrsg. v. Karl Schlechta, Darmstadt 1966, S. 822.

7 8

Heidegger, „Die Zeit des Weltbildes“ (Anm. 1), S. 81. Meister Eckart, „Adolescens, tibi dico: surge!“, in: Meister Eckarts Predigten, Bd. II, hrsg. v. Josef Quint, Stuttgart 1976, S. 305. Vgl. Karsten Harries, Infinity and Perspective, Cambridge/Mass. 2001, S. 160–183.

9

Jörg H. Gleiter, Rückkehr des Verdrängten (Anm. 5), S.17.

259

10 Friedrich Ohly, Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung, Darmstadt 1977, S. 15, S. 35–37. 11 Ludwig Wittgenstein, Tractatus Logico-Philosophicus, übers. v. Charles Kay Ogden, London 1958, S. 151. 12 Heidegger, „Die Zeit des Weltbildes“ (Anm. 1), S. 89. 13 René Descartes, Dicours de la Méthode, übers. u. hrsg. v. Lüder Gäbe, Hamburg 1960, S. 101. 14 Friedrich Nietzsche, Nachlass 1888. Kritische Studienausgabe, Bd. XIII, München/Berlin/New York 1980, S. 500. 15 Mario Carpo, Alphabet und Algorithmus. Wie das Digitale die Architektur herausfordert, übers. v. Jan Bovelet u. Jörg H. Gleiter, hrsg. v. Gleiter, Bielefeld 2012. 16 Gleiter, Rückkehr des Verdrängten (Anm. 5), S. 17. 17 Jörg H. Gleiter, „Zur Rekonzeptualisierung des architektonischen Raumes im Zeitalter seiner Virtualisierung“, in: Gebaute Räume. Zur kulturellen Formung von Architektur und Stadt, Wolkenkuckucksheim 9/1, 2004, unter: http://www.tu-cottbus.de/theoriederarchi­ tektur/Wolke/deu/Themen/041/Gleiter/gleiter.htm. 18 Jörg H. Gleiter, „Eine neue [digitale] Werkgesinnung“, in: Werk, Bauen und Wohnen 98/65, Nr. 5, 2011, S. 20–25. 19 Gleiter, „Zur Rekonzeptualisierung des architektonischen Raumes im Zeitalter seiner Virtualisierung“ (Anm. 17). 20 Carpo, Alphabet und Algorithmus (Anm. 15). 21 Jean Baudrillard u. Jean Nouvel, The Singular Objects of Architecture, übers. v. Robert Bononno, Minneapolis/MN 2002, S. 19. 22 Baudrillard u. Nouvel, The Singular Objects of Architecture (Anm. 21), S. 20–21. 23 Ludger Schwarte, Philosophie der Architektur, München 2009, S. 166–167, S. 165. 24 Schwarte, Philosophie der Architektur (Anm. 23), S. 338. 25 Martin Heideger, Sein und Zeit, in: Gesamtausgabe, Bd. II, Frankfurt/M. 1976, S. 149. 26 Schwarte, Philosophie der Architektur (Anm. 23), S. 29. 27 Schwarte, Philosophie der Architektur (Anm. 23), S. 13. 28 Ludger Schwarte, Der öffentliche Raum. Studien zur Philosophie der Architektur, Berlin 2007, S. 357. 29 Schwarte, Der öffentliche Raum (Anm. 28), S. 357. 30 Siehe: Karsten Harries, Wahrheit: Die Architektur der Welt, Pader­ born 2012, S. 51–64.

Anmerkungen

Anmerkungen Christian Illies 1

Ich danke besonders Martin Düchs, Stefan Koller und Ludger Schwarte für sehr hilfreiche Kommentare zu diesem Text, aber auch den Teilnehmern des Gesprächs in der Villa Vigoni. Die Schrift In welchem Style sollen wir bauen?, Karlsruhe 1828, von Heinrich Hübsch steht an einem Wendepunkt der Architektur, nämlich dem historisch vorbildlosen Moment, an dem es nicht mehr einen allgemein akzeptierten Baustil gibt, sondern Architekten zwischen verschiedenen wählen können und darum müssen. Dies wiederholt sich in der Philosophie des 20. Jahrhunderts, der sich auch erstmals die Frage nach einer angemessenen Methode stellt.

2

Martin Heidegger, „Bauen Wohnen Denken“, in: Otto Bartning (Hg.), Mensch und Raum. 2. Darmstädter Gespräch 1951, Darmstadt 1952, S. 72–84, S. 38–48, hier S. 48.

3

Wie die damals dokumentierten Reaktionen zeigen, verstanden sie Heideggers Bemerkungen nicht philosophisch, sondern vor allem als Bauempfehlungen. Vgl. Eduard Führ, „Einleitung: Zur Rezeption von ,Bauen Wohnen Denken‘ in der Architektur“, in: Führ (Hg.), Martin Heideggers Grundlegung einer Phänomenologie der Architektur, Münster/New York/NY 2000.

4

Siehe etwa: Christoph Baumberger (Hg.), Architekturphilosophie. Grundlagentexte, Münster 2013, S. 9–13.

5

Einige Autoren (vor allem Architekten und Architekturtheoretiker) gebrauchen dagegen „Architekturtheorie“ als Oberbegriff für jegliche theoretische Beschäftigung mit der Architektur, die dann Architekturphilosophie, Architektursoziologie, Architekturpsy­ chologie oder Kulturtheorie der Architektur einschließt. Vgl. auch hierzu Baumberger, „Architekturphilosophie. Eine Einleitung“, in: Baumberger (Hg.), Architekturphilosophie (Anm. 4), S. 9.

6

So in ihrem Manifest von 1980, das keine argumentativen Ansprüche stellt. Und weiter heißt es dort: „Wie beschissen die 70er Jahre waren, kann man auch aus den verklemmten Architekturpro­ jekten lesen. Die Umfrage und Gefälligkeitsdemokratie lebt hinter Biedermeierfassaden. Wir aber haben keine Lust, Biedermeier zu bauen. Nicht jetzt und zu keiner anderen Zeit. Wir haben es satt Palladio und andere historische Masken zu sehen. Weil wir in der Architektur nicht alles das ausschließen wollen, was unruhig macht. Wir wollen Architektur, die mehr hat. Architektur, die blutet, die erschöpft, die dreht und meinetwegen bricht. Architektur, die leuchtet, die sticht, die fetzt und unter Dehnung reißt. Architektur muß schluchtig, feurig, glatt, hart, eckig, brutal, rund, zärtlich, farbig, obszön, geil, träumend, vernähernd, verfernend, naß, trocken und herzschlagend sein. Lebend oder tot. Wenn sie kalt ist,

261

dann kalt wie ein Eisblock. Wenn sie heiß ist, dann so heiß wie ein Flammenflügel. Architektur muß brennen.“ In: Willi Erzgräber u. Hans-Martin Gauger (Hg.), Stilfragen, Tübingen 1992, S. 261. 7

Siehe dazu etwa Christian Illies u. Nick Ray, Philosophy of Architecture. A Short Introduction. Cambridge 2014.

8

Wilhelm Windelband, Einleitung in die Philosophie, Tübingen 1923, S. 6.

9

Siehe in diesem Sinne auch die klare Definition bei Brand Blans­ hard, On Philosophical Style, Manchester 1964, S. 6: „Philosophizing proper is a purely intellectual enterprise. Its business is to analyse fundamental concepts, such as self, matter, mind, good, truth; to examine fundamental assumptions, such as that all events have causes; and to fit the conclusions together into a coherent view of nature and man’s place in it.“

10 Siehe ausführlicher dazu Christian Illies, „Der Mensch und die Evolu­ tion“, in: Michael Hofer (Hg.), Über uns Menschen. Philo­sophische Selbstvergewisserungen, Bielefeld 2010, S. 9–32. 11 Jean-François Lyotard, La condition postmoderne: rapport sur le savoir, Paris 1979. 12 Siehe etwa Bernd Göbel u. Fernando Suarez Müller (Hg.), Kritik der postmodernen Vernunft, Darmstadt 2007. 13 Siehe etwa Blanshard, On Philosophical Style (Anm. 9), oder Russell. 14 Siehe etwa Karsten Harries, The Ethical Function of Architecture, Cambridge/Mass. 1997. 15 Eine entsprechende Frage lässt sich freilich auch für die „Archi­ tektur“ stellen. Nikolaus Pevsner etwa unterscheidet streng zwischen banalen Bauwerken und Architektur (An Outline of European Architecture, Harmondsworth 1958, S. 23), während Allen Carlson jede Art von gebauter Umwelt zur Architektur zählt, selbst Straßen („The Aesthetic Appreciation of Everyday Architecture“, in: Michael H. Mitias (Hg.), Architecture and Civilisation, Amsterdam 1999, S. 107–121). 16 Ludger Schwarte, Philosophie der Architektur, München 2009, S. 22. 17 Tom Spector, The Ethical Architect: The Dilemma of Contemporary Practice, Princeton 2001. 18 Gernot Böhme, Architektur und Atmosphäre. München 2006; Fred L. Rush, On Architecture, London 2007. 19 Stephen Davies, „Ist die Architektur eine Kunst?“, in: Baumberger (Hg.), Architekturphilosophie (Anm. 4), S. 30–49. 20 Siehe hierzu Baumberger (Hg.), Architekturphilosophie (Anm. 4), S. 16. 21 Heike Delitz, Gebaute Gesellschaft. Architektur als Medium des Sozialen. Frankfurt/M. 2010; und „Zur Ästhesiologie und Philo­ sophischen Anthropologie der Architektur“, in: Bruno Accarino u.

Anmerkungen

Matthias Schloßberger (Hg.), Expressivität und Stil. Helmuth Plessners Sinnes- und Ausdrucksphilosophie, Berlin 2008, S. 65–83. 22 Lewis Mumford,The City in History. Its Origins, Its Transformations, and Its Prospects, New York/NY 1961. 23 Falls die ethische und die ästhetische Frage überhaupt voneinander zu trennen sind, was etwa Berys Gaut bestreitet. 24 Richard Kraut, Artworld Metaphysics, Oxford 2010. 25 Siehe etwa die aufschlussreiche Debatte zwischen Christopher Alexander und Peter Eisenman über Fragen wie die, ob das Spitz­ dach metaphysisch verlogen oder eine legitime Form ist, um dem Menschen baulich Sicherheit und Heimat zu geben. Lotus International 40, 1983, S. 60–68; online unter: http://www.katarxis3.com/ Alexander_Eisenman_Debate.htm. 26 Womit deutlich wird, warum die Frage nach dem Gegenstand der Architekturphilosophie selbst bereits eine philosophische ist. Denn es ist nicht unumstritten, ob es so etwas wie feste Charakteristika von abgrenzbaren Phänomenbereichen überhaupt geben könne oder ob hier nicht bereits der von vielen abgelehnte Essentialismus drohe. Da Denken nun einmal Kategorien benötigt, wird es schwer­ lich auf die begriffliche Unterscheidung und inhaltliche Identi­ fikation von Phänomenen verzichten können. (Selbst die Kritik benötigt sie, wenn sie (wie bei Foucault) alle Kategorien angreift und eigentlich verwerfen will. Wenn wir aber ohnehin Kategorien benötigen, scheint es besser, in der Sache begründete als unbe­ gründete Kategorien zu wählen. Zu den Selbstwidersprüchen in Foucaults Antiessentialismus siehe Fernando Suarez Müller, Skepsis und Geschichte, Würzburg 2004.) 27 Es ist eine eigene Frage, welche Autorität hinter einem solchen „Sollen“ steht. Die Forderung kann ästhetisch, aber auch ethisch sein: Es verletzt manchmal das Auge, aber oft auch die Achtung vor vorgefundenen Traditionen, wenn ohne Rücksicht auf den Kontext fremde Baumwerke sich in ein harmonisches Ensemble drängen. 28 Siehe dazu ausführlich Christian Illies, „Architektur als Kunst“, Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 50/1, 2005, S. 57–76. 29 Vgl. Roger Scruton, The Aesthetics of Architecture, Princeton/NJ 1979, S. 5–19. Er nennt als Merkmale utility, technique (beide bei mir als Komplexität zusammengefasst), localized quality, public object und continuity with the decorative arts. 30 „A bicycle shed is a building; Lincoln Cathedral is a piece of architecture. Nearly everything that encloses space on a scale sufficient for a human being to move in is a building; the term architecture applies only to buildings designed with a view to

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aes­thetic appeal.“ Nikolaus Pevsner, An Outline of European Architecture, Hammondsworth 1958, S. 23. 31 Giancarlo De Carlo, „Die Öffentlichkeit der Architektur“ [1970], in: Susanne Hauser, Christa Kamleithner u. Roland Meyer (Hg.), Architekturwissen. Grundlagentexte aus den Kulturwissenschaften, Bd. II, Bielefeld 2013, S. 410–422, hier S. 410. 32 Martin Düchs, Architektur für ein gutes Leben, Münster 2011, S. 58. 33 Gelegentlich wurde eingewandt, dass normative Fragen nicht zur Architekturphilosophie gehören; Christoph Baumberger plädiert etwa dafür, sie als „typischerweise neutral“ zu sehen (Baumberger (Hg.), Architekturphilosophie (Anm. 4), S.11), „da sie nicht für oder gegen die Architektur einzelner Architekten, Richtungen oder Stile Partei ergreift und keine konkreten Regeln oder Maximen formu­ liert.“ Hier scheinen mir jedoch zwei unterschiedliche Momente zu eng verbunden, nämlich Allgemeinheit und Normativität. Die Forderung nach Allgemeinheit überzeugt: Philosophische Einsichten sind allgemeiner als etwa architekturtheoretische. Aber die Zurückweisung des zweiten scheint problematisch – warum sollte die Architekturphilosophie nicht bewerten, so wie etwa Scruton in The Aesthetics of Architecture (Anm. 29)? (Vielleicht ist Baumbergers Neutralitätsforderung auch nicht so streng zu lesen, fügt er doch selbst hinzu: „Dies heißt jedoch nicht, dass sie nicht normativ wäre. Ihr Normen sind aber viel allgemeinerer Art als die der Architekturtheorie.“ (Baumberger (Hg.), Architekturphilosophie (Anm. 4), S.11). Grundsätzlich ist es zwar umstritten, ob es überhaupt philosophisch begründete Werturteile geben kann (etwa von Nelson Goodman oder Hans Albert) – aber diesen Disput kann man für die Architekturphilosophie nicht dadurch entscheiden, dass man Wertungen definitorisch von der Architekturphilosophie ausschließt. 34 Siehe Christian Illies, „The Built Environment“ (Section Technology & Environment), in: Jan Kyrre Berg Olsen, Stig Andur Pedersen u. Vincent Hendricks (Hg.), A Companion to Philosophy of Technology, Oxford 2009, S. 289–294. 35 Warwick Fox, A Theory of General Ethics. Human Relationships, Nature, and the Built Environment, Cambridge 2009. 36 Eine lediglich pragmatisch orientierte Zusammenführung der Einsichten ist zumindest für die nach einer „Grand Philosophical Theory of Buildings“ oder, in Anlehnung an die Physik, Grand unified theory (oder philosophy) strebende Architekturphilosophie ebenfalls unbefriedigend, auch wenn sie deswegen naheliegend sein könnte, weil sie durch ihre Nähe zur moralischen Erfahrungs­ welt für die praktisch an der Entstehung von Architektur Betei­ ligten attraktiv ist. Denn der Pragmatismus erreicht die Vermittlung

Anmerkungen

seiner Antworten einerseits durch eine theoretische Unbestimmt­ heit und Vagheit zentraler Begriffe, andererseits mittels eines letzt­ lich willkürlichen (und damit dogmatischen) Abbrechens der philo­ sophischen Fragen und Begründungen. Er setzt die Gültigkeit von seinen handlungsleitenden Prinzipien voraus. Man denke etwa an die Prinzipien mittlerer Reichweite, durch die sich die so genannte Prinzipienethik auszeichnet. (Vgl. Tom L. Beauchamp u. James F. Childress, Principles of Biomedical Ethics, 6. Aufl., New York/NY 2009). 37 Immanuel Kant, „Metaphysik der Sitten“, in: Kants Werke. Akademie-Textausgabe, Bd. VI, Berlin 1968, S. 209 38 So in seiner Kritik des Buches Aesthetics and Architecture von Edward Winters. Siehe: https://ndpr.nd.edu/news/23356-aestheticsand-architecture/ [23. März 2014]. Den Hinweis verdanke ich Stefan Koller. 39 Roger S. Ulrich, „View through a window may influence recovery from surgery“, Science 224,1984, S. 420–421. 40 Nicholas Ray (Hg.), Architecture and Its Ethical Dilemmas, London 2005. 41 Methodisch unbefriedigend ist dagegen der Versuch der Phänome­ nologie, aus der Erscheinung selbst bereits normative Schlüsse zu ziehen. 42 Hans Sedlmayr, Die Entstehung der Kathedrale, Zürich 1950; Nicholas Ray, Alvar Aalto, Yale 2005. 43 Bei der Transzendentalphilosophie handelt es sich um eine Methode, die versucht Einsichten dadurch argumentativ abzu­ sichern, dass sie sich als unbestreitbare Voraussetzungen des eigenen Vorgehens erweisen. Vor allem im Anschluss an Kant wurde so gezeigt, dass es gewisse Prinzipien gibt, die man vernünf­ tigerweise akzeptierten muss, weil sie konstitutiv für die Vernünf­ tigkeit selbst sind. Zum Beispiel lässt sich die Möglichkeit wahrer Erkenntnis nicht ohne Widerspruch bestreiten, weil selbst dieser Akt des Bestreitens bereits wieder einen Wahrheitsanspruch (um sinnvoll zu sein) und damit implizit die bestrittene Möglichkeit anerkannt wird (die expressis verbis gerade bestritten wird). Dass es Wahrheitserkenntnis grundsätzlich geben kann, ist daher ein solches transzendental abgesichertes Prinzip vernünftigen Philo­ sophierens. Siehe dazu Christian Illies, The Grounds of Right and Wrong, Oxford 2003. 44 Siehe etwa Bernard Williams, Descartes. The Project of Pure Enquiry, Atlantic Highlands/NJ 1978. 45 Thomas Nagel, The Last Word, New York/NY 1997. 46 Siehe Blanshard, On Philosophical Style (Anm. 9). 47 So sein schriftlicher Kommentar zu meinen Überlegungen.

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48 Wie ich versucht habe zu zeigen in „Architektur als Kunst“ (Anm. 28). 49 Siehe dazu den Briefwechsel zwischen beiden, der in Die Kunst der Interpretation. Studien zur deutschen Literaturgeschichte, München 1972, zu finden ist. Allerdings handelt es sich bei der Kontroverse nicht um zwei gänzlich unterschiedliche Typen von Philosophie; Staiger stand Heideggers Ansatz und seiner Hermeneutik durchaus nahe.

Anmerkungen Petra Lohmann 1

Paul Ortwin Rave, Genius der Baukunst. Eine klassisch-romantische Bilderfolge an der Berliner Bauakademie von Karl Friedrich Schinkel, Berlin 2001, S. 8.

2

Vgl. Walter Jaeschke (Hg.), Transzendentalphilosophie und Spekulation. Der Streit um die Gestalt einer Ersten Philosophie (1799–1807), Hamburg 1993, S. VII.

3

Reinhard Lauth, „Fichtes entscheidende Leistung innerhalb der Geschichte der Philosophie“, in: Reinhold Breil u. Stephan Nachts­ heim (Hg.), Vernunft und Anschauung. Philosophie – Literatur – Kunst. Festschrift für Gerd Wolandt zum 65. Geburtstag, Bonn 1993, S. 141–153, hier S. 143.

4

Manfred Frank, Selbstbewusstsein und Selbsterkenntnis. Über einige Schwierigkeiten bei der Reduktion von Subjektivität, unter: http://www.jp.philo.at/texte/FrankM1.pdf [12. November 2012].

5

Stefan Reiß, „Fichte in Berlin. Öffentliches Engagement und Arbeit am System“, in: Ursula Baumann (Hg.), Fichte in Berlin. Spekulative Ansätze einer Philosophie der Praxis, Hannover 2006, S. 42.

6

Johann Gottlieb Fichte, „Die Grundlage der gesamten Wissen­ schaftslehre“, in: Reinhard Lauth et al. (Hg.), J. G. Fichte. Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hier: Werke, Bd. II, Stuttgart/Bad Cannstatt 1962–2012, S.173–451.

7 Lauth, Fichtes entscheidende Leistung innerhalb der Geschichte der Philosophie (Anm. 3), S. 143. 8

Ulrike Harten, Die Bühnenentwürfe, Helmut Börsch-Supan u. Gott­ fried Riemann (Hg.), Schinkel-Lebenswerk, Bd. XVII, Berlin 2000, S. 13.

9

Herman Sörgel, Architektur – Ästhetik. Theorie der Baukunst [1921], hrsg. v. Jochen Meyer, Berlin 1998, S. 123.

10 Sörgel, Architektur – Ästhetik (Anm. 9), S. 119. 11 Hans Mackowsky, Karl Friedrich Schinkel. Briefe, Tagebücher, Gedanken, Berlin 1922, S. 192.

Anmerkungen

12 Karl Friedrich Schinkel, Sammlung Architektonischer Entwürfe, hrsg. v. Alfons Uhl, Nördlingen 2005, S. 13. 13 Goerd Peschken, Das Architektonische Lehrbuch, in: Helmut BörschSupran u. Gottfried Riemann (Hg.), Schinkel-Lebenswerk, Bd. XIV, München/Berlin 1979 u. 2001. 14 Peschken, Das Architektonische Lehrbuch (Anm. 13), S. 13. 15 Peschken, Das Architektonische Lehrbuch (Anm. 13), S. 13. 16 Peschken, Das Architektonische Lehrbuch (Anm. 13), vgl. S. 119. 17 Peschken, Das Architektonische Lehrbuch (Anm. 13), S. 19. 18 Peschken, Das Architektonische Lehrbuch (Anm. 13), S. 31. 19 Gottfried Riemann, Reisen nach Italien. Tagebücher, Zeichnungen, Aquarelle, 2 Bde., Bd. I, Berlin/Weimar 1996, S. 220. 20 Vgl. Peschken, Das Architektonische Lehrbuch (Anm. 13), S. 20. 21 Peschken, Das Architektonische Lehrbuch (Anm. 13), S. 119. 22 Peschken, Das Architektonische Lehrbuch (Anm. 13), S. 118. 23 Vgl. Peschken, Das Architektonische Lehrbuch (Anm. 13), S. 20. 24 Peschken, Das Architektonische Lehrbuch (Anm. 13), S. 118. 25 Wolfgang H. Schrader, Empirisches und absolutes Ich. Zur Geschichte des Begriffs Leben in der Philosophie J. G. Fichtes, Stutt­ gart/Bad Cannstatt 1972, S. 15. 26 Fichte, „Die Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre“ (Anm. 6), S. 255. 27 Fichte, „Die Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre“ (Anm. 6), S. 259. 28 Fichte, „Die Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre“ (Anm. 6), vgl. S. 368. 29 Fichte, „Die Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre“ (Anm. 6), vgl. S. 264. 30 Fichte, „Die Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre“ (Anm. 6), vgl. S. 267. 31 Fichte, „Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters“ (Anm. 6), Werke, Bd. VIII, S. 141–396, hier S. 324. 32 Wolfgang Janke, Historische Dialektik. Destruktion dialektischer Grundformen von Kant bis Marx, Berlin/New York 1977, S. 100. 33 Fichte, „Die Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre“ (Anm. 6), vgl. S. 276. 34 Fichte, „Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters“ (Anm. 6), Werke, Bd. VIII, S. 179. 35 Mackowsky, Karl Friedrich Schinkel. Briefe, Tagebücher, Gedanken, (Anm. 11), S. 192. 36 Peschken, Das Architektonische Lehrbuch (Anm. 13), S. 26. 37 Peschken, Das Architektonische Lehrbuch (Anm. 13), S. 26. 38 Peschken, Das Architektonische Lehrbuch (Anm. 13), vgl. S. 34.

267

39 Fichte, „Die Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre“ (Anm. 6), vgl. S. 406. 40 Peschken, Das Architektonische Lehrbuch (Anm. 13), S. 114. 41 Peschken, Das Architektonische Lehrbuch (Anm. 13), S. 57. 42 Vgl. Felix Saure, Karl Friedrich Schinkel. Ein Idealist zwischen ‚Klassik‘ und ‚Gotik‘, Hannover 2010. 43 Dieter Henrich, Konstellationen. Probleme und Debatten am Ursprung der idealistischen Philosophie (1789–1795), Stuttgart 1986. 44 Peter Burke, Um 1800: Die Neuordnung der Wissensarten, hrsg. v. Maria Isabel Peña Aguado, Schellingiana, Bd. I, Berlin/München, 2008, S. 29. 45 Zu den philosophischen Ambitionen von Schinkels architektoni­ schem Gegenpart von Klenze vgl. Petra Lohmann, „Influences of German Idealism on nineteenth-century architectural theory: Schel­ ling and Leo von Klenze“, in: Christoph Jamme (Hg.), Impact of Idealism (Principal Investigator Nicholas Boyle), Aesthetics and Literature 3, Cambridge 2013, S. 224–244. 46 Michael Brix u. Monika Steinhauser (Hg.), Geschichte ist allein zeitgemäß. Historismus in Deutschland, Lahn/Gießen 1987. 47 Zit. nach Mario Alexander Zadow, Karl Friedrich Schinkel, ein Sohn der Spätaufklärung. Die Grundlagen seiner Erziehung und Bildung, Stuttgart 2001, S. 13.

Anmerkungen Peter Bernhard 1

Rudolf Carnap, Der logische Aufbau der Welt, Hamburg 1998, S. XV–XVI.

2

Verein Ernst Mach (Hg.), „Wissenschaftliche Weltauffassung. Der Wiener Kreis“, in: Otto Neurath, Gesammelte philosophische und methodologische Schriften, Bd. I, Wien 1981, S. 299–336, hier: S. 315. Die Programmschrift war zunächst von Neurath verfasst und anschließend von Carnap und Hahn bearbeitet worden.

3

Hans Hahn, Die Bedeutung der wissenschaftlichen Weltauffassung, insbesondere für Mathematik und Physik, in: Erkenntnis 1, 1930, S. 96–105, hier: S. 105.

4

Ernst Bloch, Erbschaft dieser Zeit, Zürich 1935; erw. Ausgabe: Frankfurt/M. 1962, S. 216–221; vgl. Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt/M. 1959, S. 858–863.

5

Vgl. Peter Galison, „Aufbau/ Bauhaus: Logical Positivism and Architectural Modernism“, in: Critical Inquiry 16, 1990, S. 709–752; in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Aufbau/ Bauhaus:

Anmerkungen

Lo­gischer Positivismus und architektonischer Modernismus“ wieder­ abgedruckt in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 43, 1995, S. 653–685 sowie (leicht gekürzt) in: Arch+ Nr. 156, 2001, S. 66–79 (alle drei Artikel mit teilweise unterschiedlichen Abbildungen); vgl. Galison, „The Cultural Meaning of Aufbau“, in: Friedrich Stadler (Hg.), Scientific Philosophy: Origins and Developments, Dordrecht 1993, S. 75–93, als erweiterte Fassung unter dem Titel „Constructing Modernism: The Cultural Location of Aufbau“, in: Ronald Giere u. Alan Richardson (Hg.), Origins of Logical Empiricism, Minneapolis/ MN 1996, S. 17–44. 6

Auf Verbindungen zwischen Wiener Kreis und Bauhaus wurde vereinzelt schon vor Galison hingewiesen; vgl. z. B. Ansgar Becker­ mann, „Logischer Positivismus und radikale Gesellschaftsreform“, in: Analyse und Kritik 1, 1979, S. 30–46.

7

Herbert Feigl, „The Wiener Kreis in America“, in: Donald Fleming u. Bernard Bailyn (Hg.), The Intellectual Migration. Europe and America, 1930–1960, Cambridge/Mass. 1969, S. 630–673, hier: S. 637.

8

Galison, „Aufbau/Bauhaus: Logischer Positivismus und architekto­ nischer Modernismus“ (Anm. 5), S. 655.

9

Die Arbeit von Schenk untersucht breiter angelegt „das Menschen­ bild des Neopositivismus“, der Vergleich von Wiener Kreis und Bauhaus bildet in diesem Rahmen nur ein Kapitel; vgl. Günter Schenk, „Das Menschenbild des Neopositivismus“, in: Dieter Bergner (Hg.), Der Mensch. Neue Wortmeldungen zu einem alten Thema, Berlin (Ost) 1982, S. 271–324.

10 Schenk, „Das Menschenbild des Positivismus“ (Anm. 9), S. 296. 11 Vgl. Ulrich Vetter, „Einheitstheorie und Einheitskunstwerk – Die Schaffung intersubjektiver Ausdrucksformen im Neopositivismus als Versuch zur Überwindung der entfremdeten Daseinsform von Wissenschaftlern und Künstlern“, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe 33, Heft 3, 1984, S. 57–62. 12 Diese Arbeit erschien in: British Journal of Aesthetics 32, Heft 3, 1992, S. 227–241. 13 Vgl. Lucian Krukowski, „Aufbau and Bauhaus: A Cross-realm Comparison“, in: The Journal of Aesthetics and Art Criticism 50, Heft 3, 1992, S. 197–209. Trotz des offensichtlich auf Galison verwei­ senden Titels nennt Krukowski dessen Arbeit nicht als Referenz. 14 Diese Sicht gilt sowohl für die Philosophie als auch für die Architek­ turtheorie; vgl. z. B. John Rajchman, „Pragmatismus und Archi­ tektur. Eine Einführung“, in: Arch+ Nr. 156, 2001, S. 30–36; Achim Hahn, Architekturtheorie. Wohnen, Entwerfen, Bauen, Konstanz 2008, S. 261–267.

269

15 Vgl. Angela Potochnik u. Audrey Yap, „Revisiting Galison’s ‚Aufbau/ Bauhaus‘ in light of Neurath’s philosophical projects“, in: Studies in History and Philosophy of Science 37, 2006, S. 469–488. 16 Volker Thurm-Nemeth, „Die Konstruktion des modernen Lebens – Ein Fragment. Wiener Kreis und Architektur“, in: Volker ThurmNemeth (Hg.), Konstruktion zwischen Werkbund und Bauhaus. Wissenschaft – Architektur – Wiener Kreis, Wien 1998, S. 9–78, hier: S. 55. 17 Vgl. Peter Bernhard, „Der Geschmack der Vernunft. Eine Spuren­ suche“, in: Eckart Liebau u. Jörg Zirfas (Hg.), Die Bildung des Geschmacks. Über die Kunst der sinnlichen Unterscheidung, Bielefeld 2011, S. 91–114. Diese Einstellung Wittgensteins ist stark geprägt von Nietzsche, der auch für viele der neusachlichen Bauhäusler eine wichtige Rolle spielte; vgl. Peter Bernhard, „IchÜberwindung muß der Gestaltung vorangehen. Zur NietzscheRezeption des Bauhauses“, in: Andreas Urs Sommer (Hg.), Nietzsche – Philosoph der Kultur(en)?, Berlin 2008, S. 273–282. 18 Vgl. Hans-Jürgen Buderer, Neue Sachlichkeit. Bilder auf der Suche nach der Wirklichkeit: Figurative Malerei der zwanziger Jahre, hrsg. u. mit einem Vorwort versehen v. Manfred Fath, München 1994. 19 Vgl. Gustav Hartlaub, Sinn und Unsinn der „Neuen Sachlichkeit“ (2 Vorträge Dez. 1931), Manuskript, Germanisches Nationalmuseum, Deutsches Kunstarchiv, Nachlass Hartlaub, Gustav Friedrich, I, B-43. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass Hartlaub die bereits vor dem Ersten Weltkrieg entstandene Phänomenologie Husserls – deren Parole „zu den Sachen!“ ja schon eine assoziative Nähe erzeugt – ausdrücklich nicht zur Neuen Sachlichkeit zählen möchte. Darin sind ihm allerdings schon damals nicht alle gefolgt; vgl. z. B. Justus Bier, „Betrachtungen über die neueste Malerei“, in: Der Kunstwart 41, 1928, S. 356–363, wo erklärt wird, die Kunst der Neuen Sachlichkeit gehe auf „Wesensvertiefung“ und habe deshalb einen „inneren Zusammenhang“ mit der Phänomenologie, aber auch mit dem Neuen Bauen, das die Konstruktion freilege. Insgesamt muss festgehalten werden, dass der Begriff der Neuen Sachlichkeit bis heute einen inkohärenten Interpretationsspielraum besitzt; vgl. Michael Großheim, „‚Zu den Sachen selbst!‘ Die neue Sachlichkeit der Phänomenologen“, in: Moritz Baßler u. Ewout van der Knaap (Hg.), Die (k)alte Sachlichkeit. Herkunft und Wirkungen eines Konzeptes, Würzburg 2004, S. 145–159. 20 Vgl. Otto Neurath, Anti-Spengler, München 1921; wiederabge­ druckt in: Neurath, Gesammelte philosophische und methodolo­ gische Schriften, Bd. I, Wien 1981, S. 139–196.

Anmerkungen

21 Ise Gropius, Tagebuch, Eintrag vom 29.3.1926, Bauhaus-Archiv Berlin, Nachlass Gropius, Inv.-Nr. 1998/55 [Kleinschreibung im Original]. 22 Oskar Schlemmer, Tagebucheintrag Dezember 1920, in: Schlemmer, Idealist der Form. Briefe, Tagebücher, Schriften, Leipzig 1989, S. 68. Spengler wurde in den ersten Bauhausjahren auch von den Studenten ausgiebig diskutiert (vgl. Winfried Nerdinger, „Von der Stilschule zum Creative Design – Walter Gropius als Lehrer“, in: Rainer Wick (Hg.), Ist die Bauhaus-Pädagogik aktuell?, Köln 1985, S. 28–41, hier: S. 39. 23 Das von Schlemmer geleitete Unterrichtsfach Der Mensch exis­ tierte am Bauhaus vom Sommersemester 1928 bis zum Winter­ semester 1929; es bestand aus einem formalen (hauptsächlich zeichnerischen), einem biologischen und einem philosophischen Teil (worunter auch Psychologie fiel); vgl. Oskar Schlemmer, Der Mensch. Unterricht am Bauhaus, nachgelassene Aufzeichnungen, Mainz 1969. 24 Hannes Meyer, „Vorträge in Wien und Basel 1929“, in: Meyer, Bauen und Gesellschaft. Schriften, Briefe, Projekte. Dresden 1980, S. 62 [Kleinschreibung im Original]. 25 Vgl. Hans-Joachim Dahms, „Neue Sachlichkeit in der Architektur und Philosophie der zwanziger Jahre“, in: Arch+ Nr. 156, 2001, S. 82–87. 26 Dahms, „Neue Sachlichkeit in der Architektur und Philosophie der zwanziger Jahre“ (Anm. 25), S. 83. 27 Vgl. Hartlaub, Sinn und Unsinn der „Neuen Sachlichkeit“ (Anm. 19). Dahms unterschätzt auch Hartlaubs theoretischen Unterbau zur Ausstellungskonzeption. Hartlaub hatte die neue Zeitströmung bereits Anfang der 1920er Jahre thematisiert und wenig später mit „Neue Sachlichkeit“ betitelt (vgl. Hartlaubs Brief an Alfred Barr jr. vom Juli 1929, abgedruckt in Thurm-Nemeth, „Die Konstruktion des modernen Lebens“ (Anm. 16), S. 55; Dahms’ Vermutung, das große N von „Neue Sachlichkeit“ verdanke sich dem Umstand, dass die Plakate zur Ausstellung in Großbuchstaben gedruckt wurden, ist also falsch). Sein erster Ausstellungsplan von 1923 scheiterte an der Inflation. Bei der Realisierung 1925 hatte Hartlaub auch keines­ falls die „Kölner Progressiven“ übersehen. Vielmehr konnte diese Gruppe wegen der Ruhrgebietsbesetzung durch die Franzosen keine Bilder nach Mannheim senden. 28 Vgl. Peter Bernhard, „Die Gastvorträge am Bauhaus – Einblicke in den ‚zweiten Lehrkörper‘“, in: Anja Baumhoff u. Magdalena Droste (Hg.), Mythos Bauhaus. Zwischen Selbsterfindung und Enthistorisierung, Berlin 2009, S. 90–111, hier: S. 108–111.

271

29 Rudolf Carnap, Tagebuch, Eintrag vom 15. Oktober 1929, Univer­ sity of Pittsburgh Libraries, Special Collections Department, Rudolf Carnap Papers, RC 025–73–03. 30 Carnap, Tagebuch (Anm. 29), Eintrag vom 17. Oktober 1929. Eine kurze Zusammenfassung von zwei Bauhausvorträgen Carnaps – „Der logische Aufbau der Welt“ und „Aufgabe und Gehalt der Wissenschaft“ – findet sich in: André Carus, Carnap and TwentiethCentury Thought. Explication as Enlightenment, Cambridge 2007, S. 218–220. 31 Carnap, Tagebuch (Anm. 29), Eintrag vom 19. Oktober 1929. 32 Anonym, „der austromarxismus und neurath“, in: bauhaus. organ der kommunistischen studierenden am bauhaus. monatsschrift für alle bauhausfragen, Nr. 2, Jg. 1, Juni 1930, o. S., Bauhaus-Archiv Berlin, Inv.-Nr. 12142/5–6 [Kleinschreibung im Original]. Die von der „Kostufra“ (Kommunistische Studentenfraktion) in Umlauf gebrachte Zeitschrift bauhaus hatte denselben und gleich gestal­ teten Obertitel wie die offizielle, vom Bauhaus herausgegebene Zeitschrift. 33 Galison, „Aufbau/ Bauhaus: Logischer Positivismus und architekto­ nischer Modernismus“ (Anm. 5), S. 674. 34 Carnap, Tagebuch (Anm. 29), Eintrag vom 20. Oktober 1929. 35 Otto Neurath, „Das neue Bauhaus in Dessau“, in: Der Aufbau. Österreichische Monatshefte für Siedlung und Städtebau 1, 1926, S. 209–211, hier: S. 210. 36 Vgl. Peter Bernhard, „Die Bauhaus-Vorträge als Medium interner und externer Kommunikation“, in: Patrick Rössler (Hg.), bauhauskommunikation. Innovative Strategien im Umgang mit Medien, interner und externer Öffentlichkeit, Berlin 2009, S. 171–183, hier: S. 176–179. 37 Wassily Kandinsky, korrekturen zu vorträgen von ostwald, Manu­ skript, The Getty Research Institute, Research Library, Special Col­lections and Visual Resources, Wassily Kandinsky Papers, Series I.A., Accession no. 850910, Box 1, Folder 7, S. 72. 38 Vgl. die genannten Arbeiten von Schenk, Vetter, Bearn und Krukowski. 39 Vgl. Ludwig Grotes Korrespondenz mit Josef Albers und mit Fritz Hesse, in: Germanisches Nationalmuseum, Deutsches Kunstarchiv, Nachlass Grote, Ludwig, I, B-220. Meyer hatte nicht gekündigt, wie Galison fälschlich behauptet. 40 Zwei Tage später besuchte Carnap Moholy-Nagy, der ihm die Korrekturbögen zu seinem Bauhausbuch von material zu architektur zeigte, in dem Carnaps Dissertationsschrift Der Raum sowie der „Aufbau“ erwähnt sind. Dem Tagebuch Carnaps nach zu urteilen, durften sich Moholys Hinweise nicht – wie Ulrich Winko

Anmerkungen

es vermutet – einem tieferen Verständnis verdanken; vgl. Ulrich Winko, „Von der Kunst zur Wissenschaft. Avantgardistische Kunstund Architekturtheorie im Kontext der Wissenschaftlichen Weltauf­ fassung“, in: Thurm-Nemeth (Hg.), Konstruktion zwischen Werkbund und Bauhaus (Anm. 16), S. 157–184, hier: S. 178. 41 Vgl. Galison, „Aufbau/ Bauhaus: Logical Positivism and Architectural Modernism“ (Anm. 5), S. 740. 42 Reichenbach hätte sich als Bauhausreferent zweifellos gut geeignet. Erst wenige Monate vor Carnaps Bauhausvorträgen hatte er Neopo­ sitivismus und Neues Bauen unmittelbar miteinander verglichen und erklärt: „wie heute schon Architektur und bildende Kunst von der reinen Sachlichkeit der Technik neue Formen entlehnen, so ist auch eine neue Philosophie im Werden, die selbst nicht mehr Natur­ wissenschaft ist, wenn sie auch von dieser eine Fülle von Problemen und begrifflichen Mitteln übernommen hat“ (Hans Reichenbach, „Neue Wege der Wissenschaft“, in: Vossische Zeitung Nr. 138 vom 16. Juni 1929, Beilage „Das Unterhaltungsblatt“). 43 Zu Meyers Informationsbedürfnis im Hinblick auf den Neukantia­ nismus vgl. Bernhard, „Die Gastvorträge am Bauhaus“ (Anm. 28), S. 96–97. 44 Psychotechnik sowie Arbeitswissenschaft waren in den 1920er Jahren synonyme Ausdrücke für die noch junge Disziplin der Betriebswissenschaft, die sich damals mit den Bedingungen der maschinellen Produktionsweise in ihrer ganzen Breite befasste (das heißt sowohl bezüglich der körperlichen und geistigen Beanspru­ chungen als auch bezüglich der betrieblichen Organisation); für den Stellenwert dieser Disziplin am Bauhaus vgl. Bernhard, „Die Gastvorträge am Bauhaus“ (Anm. 28), S. 100–108. 45 Verschiedentlich wurden Gastdozenten des Bauhauses gebeten, neben ihren Kursen auch einzelne Vorträge zu halten. 46 Freyer gehörte mit Carnap bis Anfang der 1920er Jahre dem jugendbewegten Sera-Kreis an. Dass beide ein Jahrzehnt später zu den Gastreferenten des Bauhauses zählten, zeigt dieses Institut im Spannungsfeld der ausklingenden Jugendbewegung, die sich nach dem Ersten Weltkrieg in einen rechten und einen linken Flügel gespalten hatte. 47 Vgl. Elfriede Üner, Soziologie als „geistige Bewegung“. Hans Freyers System der Soziologie und die „Leipziger Schule“, Wein­ heim 1992; sowie Eberhard Loosch, Otto Klemm (1884–1939) und das Psychologische Institut in Leipzig, Berlin/Münster 2008. 48 Vgl. Hans-Joachim Dahms, „Mies van der Rohe und die Philosophie um 1930“, in: Arch+ Nr. 161, 2002, Internetausgabe, o. S. 49 Hannes Meyer, Brief an Graf Dürckheim vom 24. August 1930, in: Meyer, Bauen und Gesellschaft (Anm. 24), S. 75 [Kleinschreibung

273

im Original]; vgl. den öffentlichen Brief von Meyer „Mein Hinaus­ wurf aus dem Bauhaus“ an den Dessauer Oberbürgermeister Fritz Hesse anlässlich seiner Entlassung, in: Das Tagebuch 11, 1930, S. 1307–1312, wiederabgedruckt in: Meyer, Bauen und Gesellschaft (Anm. 24), S. 67–73. Meyer hatte darin auch eine Aufzählung aller während seines Direktorats stattgefundenen Gastvorträge gegeben; die Namen der Neopositivisten sind dabei nicht hervorge­ hoben, wie Galison behauptet. 50 Vgl. Hannes Meyer, Brief an den Reichskunstwart Edwin Redslob vom 20. August 1930, in: Magdalena Droste u. Werner Kleine­ rüschkamp (Hg.), Hannes Meyer. 1889–1954: Architekt, Urbanist, Lehrer. Berlin 1989, S. 176–178. Die genannten Briefe von Meyer an Redslob, Hesse und Dürckheim sind Dahms bekannt, umso mehr überrascht seine These. 51 Auch nach dem Zweiten Weltkrieg stellte Meyer fest, dass er während seiner Bauhauszeit sowohl mit Neurath als auch mit Dürckheim zusammenarbeitete; vgl. Hannes Meyer, Brief an Charles Kuhn vom 16. April 1949, Archiv der Stiftung Bauhaus Dessau, Nachlass Hannes Meyer, Inv.-Nr. I 19167 D. 52 Dahms, „Mies van der Rohe und die Philosophie um 1930“ (Anm. 48). 53 Wie einem Zeitungsbericht zu entnehmen ist, war Finlay-Freund­ lichs Bauhausvortrag in weiten Teilen identisch mit einem Referat, das der Astronom im Mai 1930 in der Gesellschaft für empirische Philosophie in Berlin gehalten hatte; vgl. Erwin Finlay-Freundlich, „Die Frage nach der Endlichkeit des Weltraums, als astronomisches Problem behandelt“, in: Erkenntnis 2, 1931, S. 42–60; sowie FinlayFreundlich, „Die Endlichkeit des Weltraums“, in: Anhalter Anzeiger Nr. 103 vom 4. Mai 1931. 54 Franks Vortragsmanuskript ist bisher nicht aufgefunden. Anhand von Texten Franks mit ähnlichen Titeln aus dieser Zeit ist aber davon auszugehen, dass er klare Position für die wissenschaftliche Weltauffassung bezog; vgl. z. B. Philipp Frank, „Was bedeuten die gegenwärtigen physikalischen Theorien für die allgemeine Erkennt­ nislehre?“ , in: Die Naturwissenschaften 17, 1929, S. 97–1977 u. S. 987–994; sowie Philipp Frank, „Der Charakter der heutigen physika­ lischen Theorien“ , in: Scientia. Internationale Zeitschrift für wissenschaftliche Synthese, Ser. III, Bd. XLIX, 1931, S. 183–196. Frank war nicht nur zur damaligen Zeit sehr politisch, sondern auch in den späteren Jahren des amerikanischen Exils. Er widerlegt damit nicht nur Dahms’ These vom rechten Mies-Bauhaus, sondern auch die von ihm und Galison vertretene These des unpolitischen Exilverhal­ tens der Wiener Kreis-Mitglieder; vgl. Elisabeth Nemeth, „Wissen­ schaftsphilosophie als kulturelle Aufgabe. Überlegungen zu Philipp

Anmerkungen

Frank und Ernst Cassirer“, in: Anne Siegetsleitner (Hg.), Logischer Empirismus, Werte und Moral. Eine Neubewertung, Wien 2010, S. 219–247. 55 Vgl. Bernhard, „Ich-Überwindung muß der Gestaltung vorangehen“ (Anm. 17). Wenn allerdings Alexander Grau gegen Galison anführt, dass Gropius nicht Mach, sondern Nietzsche gelesen habe, so trifft er nicht den Punkt, da Galison sich auf das Bauhaus unter Meyer bezieht (vgl. Alexander Grau, „Erkenntnislehre vom Dasein. Der logische Aufbau der Welt: Übereinstimmungen zwischen Bauhaus und Wiener Kreis“, in: FAZ vom 2. Februar 2005, N3). 56 Vgl. Bernhard, „Die Gastvorträge am Bauhaus“ (Anm. 28), S. 96–97. 57 Vgl. Peter Bernhard, „Plessners Konzept der offenen Form im Kontext der Avantgarde der 1920er Jahre“, in: ARHE. Cˇasopis za filozofiju 4/7, 2007, S. 237–252. 58 Ernst Kállai, „bauen und leben“, in: bauhaus 3, Heft 1, 1929, S. 12 [Kleinschreibung im Original]. 59 Vgl. Volker Welter u. Ernst L. Freud. The Case of the Bourgeois Home, New York 2011. 60 Bereits Schenk hatte so angesetzt und sich dabei am Manifest des Bauhauses orientieren wollen, verwechselte dieses aber mit dem Manifest der sogenannten KURI-Gruppe, einem Zusammenschluss einiger Bauhausstudenten, die gegen den damaligen Kurs der Schule protestierten. Dementsprechend nahm Schenk deren Parole – konstruktiv, utilitär, rationell und international – als Ausgangs­ punkt seiner Analyse (vgl. Schenk, „Das Menschenbild des Neoposi­ tivismus“ (Anm. 9), S. 298). 61 Vgl. Carnap, Tagebuch (Anm. 29), Eintrag vom 24. Februar 1928, RC 025-73-02. Dieser Tagebucheintrag ist auch abgedruckt bei Fried­ rich Stadler, „Wissenschaftliche Weltauffassung und Kunst. Zur werttheo­retischen Dimension im Wiener Kreis“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 43, 1995, S. 635–651, hier: S. 648, allerdings gibt Stadler mit 1927 das falsche Jahr an und schreibt in dem Zitat „G.“ statt „SG“ (Carnaps Abkürzung für Sigfried Giedion). 62 Herbert Feigl, Brief an Moritz Schlick vom 21. Juli 1929, Rijksar­ chief in Noord-Holland, Wiener Kreis Stichting (Amsterdam). Die entscheidenden Passagen des Briefes sind auch abgedruckt in Dahms, „Neue Sachlichkeit in der Architektur und Philosophie der zwanziger Jahre“ (Anm. 25), S. 85, und – in englischer Übersetzung – in: Hans-Joachim Dahms, „Neue Sachlichkeit in the Architecture and Philosophy of the 1920s“, in: Steve Awodey u. Carsten Klein (Hg.), Carnap brought Home. The View from Jena, Chicago/IL 2004, S. 357–375, hier: S. 366–367.

275

63 Hans Hahn, Überflüssige Wesenheiten (Occams Rasiermesser), Wien 1930, S. 6–7; wiederabgedruckt in: Hubert Schleichert (Hg.), Lo­gischer Empirismus – der Wiener Kreis, München 1975, S. 95–116.

Anmerkungen Sabine Ammon 1

Eine spielerische Bearbeitung der Legende, die sich um die Gattung der Serviettenskizze rankt, findet sich in Winfried Nerdinger (Hg.), Dinner for architects: Serviettenskizzen von berühmten Architekten, München 2003. Selbst wenn die besagten Skizzen tatsächlich als Arbeitszeichnungen entstanden sind (und nicht, wie häufig auch als Präsentationszeichnungen im Nachhinein), stellt sich das Problem der retrospektiven Deutung, bei der, ausgehend vom erreichten Ergebnis, Zwischenprodukten eine bestimmte Rolle zugesprochen wird, die sie nicht zwangsläufig im Entwurfsverlauf gehabt haben müssen.

2

Eine wichtige Strömung dieser Denkart stellte in den 1960er Jahren das „Design Methods Movement“ dar. Einen Überblick der Bewe­ gung geben Jesko Fezer, „A non-sentimental argument – Die Krisen des Design Methods Movement 1962–1972“, in: Daniel Gethmann u. Susanne Hauser (Hg.), Kulturtechnik Entwerfen – Praktiken, Konzepte und Medien in Architektur und Design Science, Bielefeld 2009, S. 287–304, für die Architektur und Claudia Mareis, Design als Wissenskultur – Interferenzen zwischen Design- und Wissensdiskursen seit 1960, Bielefeld 2011, insb. S. 24–78, allgemeiner für die Designgeschichte. Der Entwurfsforscher Nigel Cross spricht von wiederholt auftretenden Phasen, in denen sich um eine „Verwis­ senschaftlichung“ des Entwerfens bemüht wurde (vgl. dazu Nigel Cross, Designerly ways of knowing, London 2006, S. 95 ff.); zu historischen Vorläufern auch Gernot Weckherlin, „Vom Betriebscha­ rakter des Entwerfens. Konjunkturen der Verwissenschaftlichung in der Architektur“, in: Sabine Ammon u. Eva Maria Froschauer (Hg.), Wissenschaft Entwerfen. Vom forschenden Entwerfen zur Entwurfsforschung der Architektur, München 2013, S. 171–203.

3

Vgl. dazu beispielsweise Hans Poser, „Bedingungen und Grenzen des wissenschaftlichen Wissens. Das Beispiel Natur- und Technikwis­ senschaften“, in: Sabine Ammon, Corinna Heineke u. Kirsten Selb­ mann (Hg.), Wissen in Bewegung. Vielfalt und Hegemonie in der Wissensgesellschaft, Weilerswist 2007, S. 41–58; Klaus Kornwachs (Hg.), Technologisches Wissen: Entstehung, Methoden, Strukturen, Berlin u. a. 2010; Sandro L. S. Gaycken, Technisches Wissen: Denken im Dienste des Handelns, Berlin 2010; Klaus Kornwachs, Strukturen

Anmerkungen

technologischen Wissens. Analytische Studien zu einer Wissenschaftstheorie der Technik, Berlin 2012. 4

Einflussreich wurde Hans Reichenbach, Erfahrung und Prognose. Eine Analyse der Grundlagen und der Struktur der Erkenntnis [1938], mit Erläuterungen von Alberto Coffa, Braunschweig u. a. 1983, der die bis heute verbreite Terminologie von „Entdeckungs­ zusammenhang“ und „Rechtfertigungszusammenhang“ einführt (Reichenbach, Erfahrung und Prognose, S. 4). Vgl. dazu auch Alan Richardson, „Freedom in a Scientific Society: Reading the Context of Reichenbach’s Contexts“, in: Jutta Schickore u. Friedrich Steinle (Hg.), Revisiting Discovery and Justification. Historical and Philo­ sophical Perspectives On the Context Distinction, Archimedes, Bd. XIV, Dordrecht 2006, S. 41–54.

5

Jüngst zur Begriffsbestimmung der Architekturphilosophie (aus Sicht der Philosophie) vgl. die umfassende Monographie von Ludger Schwarte, Philosophie der Architektur, München 2009 sowie die „Einführung“ von Christoph Baumberger in die Textsammlung Architekturphilosophie, Münster 2013, S. 7–29.

6

Plato nach Diogenes Laertius III, 84. Eine vergleichbare Einteilung findet sich bei Aristoteles, Metaphysik IV 1, 1025 b 25.

7

Hans Poser, „Ars inveniendi heute. Perspektiven einer Entwurfswis­ senschaft der Architektur“, in: Ammon u. Froschauer (Hg.), Wissenschaft Entwerfen (Anm. 2), S. 137–138.

8

John Dewey, Logik. Die Theorie der Forschung [1938], Frankfurt/M. 2008, S. 504.

9

Philosophiegeschichtlich ist wiederholt auf die enge Verbindung von Kunst und Erkenntnis aufmerksam gemacht worden, wie etwa im 20. Jahrhundert Fiedler, Cassirer, Heidegger, Gadamer, Dewey oder Langer. In jüngerer Zeit dürfen Feyerabend oder Goodman als wichtige Vordenker einer epistemischen Aufwertung von Schaf­ fensvorgängen gelten – ohne jedoch die Rolle der Praxis mit dieser Deutlichkeit herausgearbeitet zu haben.

10 Eine genauere Ausarbeitung dieser Überlegungen findet sich in Sabine Ammon, „Entwerfen – Eine epistemische Praxis“, in: Claudia Mareis u. Christoph Windgätter (Hg.), Long Lost Friends. Zu den Wechselbeziehungen zwischen Design-, Medien- und Wissenschaftsforschung, Zürich u. a. 2013, S. 133–155; sowie Ammon, „Wie Archi­ tektur entsteht. Entwerfen als epistemische Praxis“, in: Ammon u. Froschauer (Hg.), Wissenschaft Entwerfen (Anm. 2), S. 337–361. 11 Vgl. Peter Galison, „Aufbau/Bauhaus. Logical Positivism and Architectural Modernism“, in: Critical Inquiry 16/4, 1990, S. 709–752; Galison, „Constructing Modernism: The Cultural Location of Aufbau“, in: Ronald N. Giere u. Alan W. Richardson, Origins of Logical Empiricism. Minnesota Studies in the Philosophy of Science,

277

Bd. XVI, Minneapolis/MN u. a. 1996, S. 17–44; zum weiteren Umfeld des „zweiten Lehrkörpers“ des Bauhauses vgl. auch den Beitrag von Peter Bernhard in diesem Band, zum Verhältnis von Schinkel und Fichte den Beitrag von Petra Lohmann in diesem Band. 12 Eine Ausarbeitung dieser Überlegung findet sich bei Martin Düchs, Architektur für ein gutes Leben. Über Verantwortung, Ethik und Moral des Architekten, Münster u. a. 2011.

Anmerkungen Christian Kremer 1

Christian Illies, „Architektur als Philosophie – Philosophie der Archi­ tektur“, unter: http://www.bpb.de/apuz/31932/architektur-als-philo­ sophie-philosophie-der-architektur-essay [20. November 2012].

2 Vgl. Christian Kremer, Architekturphilosophie. Eine Einführung in ein architekturphilosophisches Verständnis, Saarbrücken 2011. 3

Vgl. Ludger Schwarte, Philosophie der Architektur, München 2009, S. 22.

4

Vgl. Heike Delitz, „Architektursoziologie“, unter: http://www.heikedelitz.de/Index%20archsoz.html [20. November 2012].

5

Vgl. Heike Delitz, Architektur der Gesellschaft. Architektur + Soziologie = Architektursoziologie, Bielefeld 2009, S. 12.

6

Vgl. Peter G. Auer, „an_arch. Skizzen zu/r Architektur-Ontologie/n“, unter: http://www.tat-ort.net/wp-content/uploads/2008/12/an_arch_ auer.pdf, [20. November 2012].

7

Auer, „an_arch“ (Anm. 6).

8 Delitz, Architektur der Gesellschaft (Anm. 5), S. 11.

Anmerkungen Remei Capdevila-Werning 1

Dieser Begriff wurde von Philippe Lejeune geprägt. Siehe: Gerald Prince, „Foreword“, in: Gérard Genette, Palimpsests. Literature in the Second Degree, Lincoln/NE 1997, S. ix.

2 Genette, Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, Frankfurt/M. 1993. 3

Andreas Huyssen, Present Pasts: Urban Palimpsests And the Politics of Memory, Stanford/CA 2003.

4

Für eine ausführliche Geschichte der Theorie der Denkmalpflege und der heutigen Trends siehe: Nicholas Stanley Price, M. Kirby Talley Jr. u. Alessandra Melucco Vaccaro (Hg.), Historical and Philosophical Issues in the Conservation of Cultural Heritage, Los Angeles/CA 1996; John H. Stubbs, Time Honored: A Global View of Architectural Conservation, Hoboken/NJ 2009.

Anmerkungen

5

Zitiert nach der von den nationalen Ausschüssen Deutschlands, Österreichs und der Schweiz des ICOMOS benutzten deutschen Übersetzung der Charta von Venedig, unter: http://www.internati­ onal.icomos.org/venicecharter2004/german.pdf [22. August 2012].

6

Nelson Goodman, Vom Denken und anderen Dingen, Frankfurt/M. 1987, S. 59; Catherine Z. Elgin, With Reference to Reference, India­ napolis/IN 1983, S. 80.

7

Für eine Auseinandersetzung mit der Mehrdeutigkeit in Goodmans Sinne, siehe: Israel Scheffler, Beyond the Letter: A Philosophical Inquiry into Ambiguity, Vagueness, and Metaphor in Language, London 1979; Christoph Baumberger, Gebaute Zeichen. Eine Symboltheorie der Architektur, Frankfurt/M. 2009, S. 107–123, S. 228–243.

8

Für eine ausführliche Geschichte des Neuen Museums und seines Wiederaufbaus siehe: Bundesbaudirektion Berlin (Hg.), Museumsinsel Berlin: Wettbewerb zum Neuen Museum = Competition for the Neues Museum, Stuttgart 1994; David Chipperfield Architects, Heinz Tesar, Hilmer & Sattler u. Oswald Mathias Ungers, Wege zum Masterplan: Planungsgruppe Museumsinsel Berlin, Berlin 2000; Elke Blauert, Neues Museum: Architektur, Sammlung, Geschichte, Berlin 2009; Friederike von Rauch u. David Chipperfield, Neues Museum, Ostfildern 2009; Staatliche Museen zu Berlin (Hg.), The Neues Museum Berlin: conserving, restoring, rebuilding within the World Heritage, Leipzig 2009; Carola Wedel (Hg.), Das neue Museum: Eine Ruine wird zum Juwel, Berlin 2009.

9

David Chipperfield Architects u. Julian Harrap, Neues Museum Berlin, Köln 2009, S. 11.

10 Bernhard Schulz, „Makellos: Neues Museum in Berlin von David Chipperfield“, in: Baumeister 106/4, 2009, S. 12. 11 Diese wird in vielen Texten angesprochen: Jerzy Kierkuc-Bielinski, „Come on, feel the Neues [Neues Museum, Berlin]“, in: Architect’s Journal 227/24, 2008, S. 26; Hugh Pearman, „From Prussia with love: Neues Museum“, in: RIBA Journal 115/7, 2008, S. 35; Johnathan Keates, „The Art of Survival“, in: Chipperfield u. Harrap, Neues Museum Berlin (Anm. 9), S. 50–51; Kenneth Frampton, „Museum as Palimpsest“, in: Chipperfield u. Harrap, Neues Museum Berlin (Anm. 9), S. 99; Suzanne Stephens, „Renewal: David Chipperfield Architects with Julian Harrap brings Berlin’s Neues Museum to life“, in: Architectural Record 198/3, 2010, S. 58–65; Fulvio Irace, „Il restauro del Neues Museum di David Chipperfield = The Neues Museum restoration by David Chipperfield“, in: Lotus International 144, 2010, S. 94. 12 Diese kann man in Goodmans und Elgins Werken finden: Nelson Goodman, Sprachen der Kunst. Entwurf einer Symboltheorie,

279

Frankfurt/M. 1995; Goodman, Vom Denken und anderen Dingen (Anm.6); Elgin, With Reference to Reference (Anm. 6). Siehe auch: Remei Capdevila-Werning, Goodman for Architects, London 2014. 13 Die meisten Publikationen zeigen Fotos vor, während und nach dem Prozess. Bilder des Römischen Saals findet man zum Beispiel in Georg Mörsch, „Wider die Chimäre der Wiederholbarkeit“, in: Bauwelt 100/13, 2009, S. 34. 14 Keates, „The Art of Survival“ in: Chipperfield u. Harrap, Neues Museum Berlin (Anm. 9), S. 51. 15 Julian Harrap, „Freezing the Ruin“ in: Chipperfield u. Harrap, Neues Museum Berlin (Anm. 9), S. 126. 16 Die Idee, dass Chipperfield die Geschichte nicht fälscht, ist dann nicht wahr. „Chipperfield has taken the principle that you do not fake history to an extraordinary new level“ (Flavio Albanese u. Deyan Sudjic, „Neues Museum, Berlin – design: David Chipperfield Architects“, in: Domus 926, 2009, S. 16). 17 David Chipperfield, „Das Neue Museum. Das architektonische Konzept“, in: Blauert, Neues Museum: Architektur, Sammlung, Geschichte (Anm. 8), S. 15. 18 Harrap, „Freezing the Ruin“, in: Chipperfield u. Harrap, Neues Museum Berlin (Anm. 9), S. 121. 19 Julian Harrap, „The Neues Museum. The Restoration Concept“, in: Staatliche Museen zu Berlin (Hg.), The Neues Museum Berlin: Conserving, Restoring, Rebuilding Within the World Heritage, (Anm. 8), S. 61. 20 Ira Mazzoni, „Ästhetik und Ethik der Reparatur: Wiederaufbau des Neuen Museums in Berlin, David Chipperfield Architects mit Julian Harrap Architects“, in: Deutsche Bauzeitung 139/12, 2005, S. 31. 21 Siehe besonders Nelson Goodman, Weisen der Welterzeugung, Frankfurt/M. 1984. Siehe auch: Remei Capdevila-Werning, „Const­ ruir símbolos y hacer mundos: las funciones epistemológica y onto­ lógica de la arquitectura“, in: Enrahonar 49, 2012, S. 107–120. 22 Karsten Schubert, „Contra-Amnesia: David Chipperfield’s Neues Museum Berlin“, in: Chipperfield u. Harrap, Neues Museum Berlin (Anm. 9), S. 83. 23 Joseph Rykwert, „The Museum Rejuvenated“, in: Chipperfield u. Harrap, Neues Museum Berlin (Anm. 9), S. 25–35. 24 Rykwert, „The Museum Rejuvenated“ (Anm. 23), S. 31. 25 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts [1820], Frankfurt/M. 1972, S. 14. 26 Nelson Goodman u. Catherine Z. Elgin, Revisionen. Philosophie und andere Künste und Wissenschaften, Frankfurt/M. 1989, S. 65–66. 27 Für kritische Kommentare danke ich den Organisatoren und Teil­ nehmern der Tagung „Architektur und Philosophie“ (Villa Vigoni,

Anmerkungen

Herbst 2012). Besonders danke ich Sigrid Werning für ihre Hilfe und ihre kritische Lektüre, und Meret Kupczyk und Ludger Schwarte für die Textbearbeitungen. Die Forschungsarbeit für diesen Artikel hat die Unterstützung des Sekretariats für Universitäten und Forschung der Katalanischen Regierung und ist Teil des Forschungsprojektes „Experiencia Estética e investigación artística: aspectos cognitivos del arte contempráneo“, FFI2012-32614.

Anmerkungen Alessandro Bertinetto 1

Hans-Georg Gadamer, „Über das Wesen von Bauten und Bildern“ [1979], in: Gadamer, Gesammelte Schriften, Bd. VIII, Tübingen 1985– 1995, S. 331–338.

2

Theodor W. Adorno, „Funktionalismus heute“, in: Adorno, Ohne Leitbild. Parva Aesthetica, Frankfurt/M. 1967, S. 104–127.

3 4

Roger Scruton, The Aesthetics of Architecture, London 1979. Fredric Jameson, Postmodernism, Or, The Cultural Logic of Late Capitalism, Durham 1991.

5

Henri Lefebvre, La production de I’espace, Paris 1974.

6

Ludger Schwarte, Philosophie der Architektur, München 2009.

7

Dazu Roberto Masiero, Estetica dell’architettura, Bologna 1999; Edward Winters, Aesthetics and Architecture, London 2007; Ettore Rocca, Estetica e architettura, Bologna 2008.

8

Zum Begriff des Performativen in Beziehung auf die Kunst vgl. Erika Fischer-Lichte, Ästhetik des Performativen, Frankfurt/M. 2004; David Davies, Art as Performance, Oxford 2004.

9

Zu den verschiedenen Bedeutungen von „Improvisation“ vgl. Davide Sparti, „Il potere di sorprendere. Sui presupposti dell’agire generativo nel jazz e nel surrealismo“, in: Giuliana Ferreccio u. Davide Racca (Hg.), L’improvvisazione in musica e letteratura, Torino 2007, S. 77–91.

10 Vgl. Philip Alperson, „On Musical Improvisation“, in: Journal of Aesthetics and Art Criticism 43, 1984, S. 17–29. 11 Vgl. z. B. im Bezug auf Jazz Lee B. Brown, „‚Feeling My Way‘. Jazz Improvisation and Its Vicissitudes – A Plea for Imperfection“, in: Journal of Aesthetics and Art Criticism 58, 2000, S. 113–123. 12 Dazu Alessandro Bertinetto, „Paganini Does Not Repeat. Impro­ visation And The Type/Token Ontology“, in: Teorema 31/3, 2012, S. 105–126; Lee B. Brown, „Phonography, Repetition and Sponta­ neity“, in: Philosophy and Literature 2/1, 2000, S. 111–125. 13 Vgl. Alessandro Bertinetto, „Immagine e Improvvisazione, in: Tropos 1, 2014 (in Erscheinung).

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14 David P. Brown, Noise Orders. Jazz, Improvisation, and Architecture, Minneapolis/MN 2006. 15 Brown, Noise Orders (Anm. 14), S. XXX. Vgl. http://aacmchicago. org/. 16 Dazu auch Suguru Ishizaki, Improvisational Design, Cambridge/ Mass. 2003. 17 In diesem Sinne hatte John Cage z. B. Mies van der Rohe’s Crown Hall als idealen Raum für „indeterminate music“ bezeichnet (Brown, Noise Orders (Anm. 14), S. 55). 18 Vgl. diesbezüglich Bruce Ellis Benson, The Improvisation of Musical Dialogue, Cambridge 2003. 19 Brown, Noise Orders (Anm. 14), S. XVII. 20 Das Modell für das Verständnis der Logik der Interaktion zwischen Projekt und Realisierung kann aus Gadamers hermeneutischen Theorien der Beziehung von Interpretation und Anwendung und der Beziehung von Frage und Antwort herausgeholt werden. Vgl. Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 1960. S. 290–323 u. S. 344–360. 21 Brown, Noise Orders (Anm. 14), S. XXXII. 22 Brown, Noise Orders (Anm. 14), S. 60. 23 Dazu Christopher Dell, Die improvisierende Organisation. Management nach dem Ende der Planbarkeit, Bielefeld 2012. 24 Vgl. Glenn Parsons, „Fact and Function in Architectural Criticism“, in: Journal of Aesthetics and Art Criticism 69, 2011, S. 21–29. 25 Dazu Alexandros Kleidonas, „Lessons in Architectural Impro­ visation“, unter: http://icaud.epoka.edu.al/res/1_ICAUD_ Papers/1ICAUD2012_Alexandros_Kleidonas.pdf [21. April 2014]. Ästhetische Züge können der Funktionalität überlegen sein oder die Funktionalität anders verstehen lassen. Eine unmittelbare AntiFunktionalität kann außerdem die Voraussetzung dafür sein, dass die Gebäude für eine zweite und mehr bewusste Funktionalität besser geeignet sind (ein berühmtes Beispiel dafür ist das Jüdische Museum von Daniel Libeskind in Berlin). Dazu Parsons, „Fact and Function“ (Anm. 24). 26 Zum Begriff Autopoiesis vgl. Humberto Maturana u. Francisco Varela, Autopoiesis and Cognition: The Realization of the Living [1973], Dordrecht 1980. 27 Darüber vgl. David Goldblatt, „Urban Shanties: Improvisation and Vernacular Architecture“, in: Evental Aesthetics 1/3, 2012, S .90–112. Das Paper ist interessant, einige hier vertretene Thesen sind aber m. E. falsch. Die vernakuläre Architektur der Favelas kann man laut Goldblatt (S. 101) als ästhetisch „unvollkommen“ bezeichnen sowie man einen improvisierten Jazz als „unvollkommene Kunst“ bezeichnet hat (vgl. Ted Gioia, The Imperfect Art. Reflections

Anmerkungen

on Jazz and Modern Culture, Oxford 1988). Ich bin von diesem Vergleich aus zwei Gründen nicht überzeugt. Erstens, bin ich nicht davon überzeugt, dass man Jazz als unvollkommen im relevanten ästhetischen Sinne bezeichnet kann. Nur gegen intellektualis­tischformalistische Kriterien, die aber m. E. in der Kunst per se falsch und unanwendbar sind, können manchmal einige Arten von Jazz als unvollkommen bezeichnet werden (vgl. darüber: Alessandro Bertinetto, „Improvvisazione e formatività“, in: Annuario filosofico 25, 2009, S. 145–174; Bertinetto, „Jazz als gelungene Performance – Ästhetische Normativität und Improvisation“, in: Zeitschrift für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 59/1, 2014). Zweitens, bin ich nicht überzeugt, dass die Bezeichnung „unvollkommen“ zur „improvisierten“ Architektur im kunstästhetischen Sinne anwendbar wäre, weil in der Konstruktion von Favelas die Funktion Vorrang vor den ästhetischen Aspekten hat, während dies beim Jazz nicht der Fall ist. Denn, wie es auch Goldblatt richtig bemerkt (S. 104), „in the shanty, the immediacy stems not from something like instantaneous self-expression but rather from an urgency to stay out of the weather, to be unhomeless as quickly as possible.“ 28 Goldblatt („Urban Shanties“ (Anm. 27), S. 96) behauptet, dass „the shantytowns do not share the improvisational nature of the shanty although, like the shanty, they are unplanned. Unlike the shanty, there is no single builder at work for the town. So that while the shanty approaches an improvised architecture, the shantytown lies outside the category of being improvised or not, given its long-term emergence by many individuals independently, so that, while one can argue that there is an improvised element to the town as well as the shanty, it would be odd, at least to my ear, to say a town, generally speaking, is improvised.“ Goldblatts These vernachlässigt jedoch einen der wichtigsten Züge der Praxis der Improvisation: Die Gruppeninteraktion. In einigen Performances verschwindet die Individualität der einzelnen Performer und ein kollektives Subjekt taucht auf, das als ein Schwarm handelt. (Vgl. David Borgo, Sync or Swarm, Improvising Music in a Complex Age, New York/ NY 2005). Eine Stadt, besonders wenn sie ein unprogrammiertes Resultat von „vernakulärer Architektur“ ist, kann manchmal als sich entwickelndes Ergebnis einer Gruppenimprovisation und sogar als „lebendiges“ kollektives Subjekt verstanden werden, das spontan als ein Schwarm handelt. Damit meine ich aber nicht, dass Improvi­ sation (auch in ihrer Anwendung in der Architektur) per se auf das Verschwinden des Individuums bezogen ist. Weiter unten werde ich auf den Zusammenhang von Interaktion, Improvisation und Archi­ tektur zurückkommen.

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29 Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft [1790], in: Kant, Gesammelte Schriften, Bd. V, hrsg. v. der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 1902–1938, S. 235. 30 Bernard Rudofsky, Architecture without Architects, New York/NY 1964. 31 Peter Zumthor, Architektur Denken, Basel 2006, S. 17. 32 Zumthor, Architektur Denken (Anm. 31), S. 17–18. 33 Zumthor, Architektur Denken (Anm. 31), S. 19. 34 Zumthor, Architektur Denken (Anm. 31), S. 22. 35 Zumthor, Architektur Denken (Anm. 31), S. 31. 36 Zumthor, Architektur Denken (Anm. 31), S. 36. 37 Zumthor, Architektur Denken (Anm. 31), S. 10. 38 Zumthor, Architektur Denken (Anm. 31), S. 10. 39 Ich beziehe mich hier zwischen den Zeilen natürlich auf Umberto Eco, Das offene Kunstwerk, Frankfurt/M. 1973. 40 Alexandros Kleidonas, „Composition and improvisation as correla­ tion fields of architecture and music. An interdisciplinary research for ‚open‘ and flexible work-production processes“, unter: http:// www.academia.edu/1038421/Composition_and_improvisation_as_ correlation_fields_of_architecture_and_music_An_interdisciplinary_ research_for_open_and_flexible_work-production_processes [21. April 2015], S. 4–5. 41 Kleidonas, „Composition and improvisation“ (Anm. 40), S. 5. 42 Zumthor, Architektur Denken (Anm. 31), S. 10. 43 Zumthor, Architektur Denken (Anm. 31), S. 10. 44 Peter Zumthor, Atmosphären: Architektonische Umgebungen – die Dinge um uns herum, Berlin 2004, S. 10. 45 Zum Atmosphäre-Begriff vgl. Gernot Böhme, Atmosphäre, Frankfurt/M. 1995. Über das schnelle und nicht-lineare Denken vgl. Malcolm Gladwell, Blink. The Power of Thinking Without Thinking, New York/NY 2007. 46 Zumthor, Atmosphären (Anm. 44), S. 20. 47 Zumthor, Atmosphären (Anm. 44), S. 24. 48 Zumthor, Atmosphären (Anm. 44), S. 70. 49 Dazu Erkki Huovinen, „On Attributing Artistic Creativity“, in: Trópos. Rivista di ermeneutica e critica filosofica 4/2, 2011, S. 65–86. 50 Alessandro Bertinetto, „Performing the Unexpected. Improvisation and Artistic Creativity“, in: Daimon 57, 2012, S. 61–79. 51 Vgl. auch George E. Yoos, „A Work of Art as a Standard of Itself“, in: Journal of Aesthetics and Art Criticism 26, 1967, S. 81–89. 52 Zumthor, Atmosphären (Anm. 44), S. 48. 53 Nelson Goodman, Sprachen der Kunst, Frankfurt/M. 1995.

Anmerkungen

54 Vgl. Chistopher Bartels, „Music Without Metaphysics?“, in: Journal of Aesthetics and Art Criticism 51, 2011, S. 383–398. 55 Kleidonas, „Lessons in Architectural Improvisation“ (Anm. 25), S. 3. 56 Vgl. Borgo, Sync or Swarm (Anm. 28). 57 Der Unterschied zwischen beiden Formen von Improvisationspraxis in den Künsten wird bei Edgar Landgraf (Improvisation as Art, London 2011) deutlich erklärt.

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Autoren Sabine Ammon (Dr. phil., Dipl.-Ing.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der TU Darmstadt und der Brandenburgischen TU Cottbus-Senftenberg. Sie studierte Architektur und Philosophie an der TU Berlin; Studien- und Forschungsaufenthalte führten sie an die University of London, Harvard University, ETH Zürich, Universität Basel, sowie an das Forschungsinstitut für Philosophie Hannover. Darüber hinaus war sie freiberuflich in der Gebäudeplanung tätig. Ihre Dissertation, die sie 2008 an der TU Berlin abschloss, entwickelte die erkenntnistheore­ tische Grundlage für einen prozessualen und pluralen Wissensbegriff. In einem aktuellen Forschungsvorhaben untersucht Sabine Ammon die epistemische und ethische Dimension von Entwurfsprozessen. Christoph Baumberger (Dr. phil.) ist Senior Research Fellow

am Institut für Umweltentscheidungen der ETH Zürich. Er lehrte an der Hochschule für Gestaltung Zürich und der Universität Zürich. Publikationen: Gebaute Zeichen. Eine Symboltheorie der Architek­tur (Lancaster/Frankfurt/M. 2010); Architekturphilosophie. Grund­lagentexte (Hg., Münster 2013). Peter Bernhard (PD Dr. phil.) studierte in Frankfurt/M. und

Erlangen; 2000 Promotion in Philosophie, 2006 Habili­ tation; wissenschaftlicher Assistent in Erlangen; kommissarischer Leiter des Lehrstuhls für theoretische Philosophie ebendort; derzeit Vertretungsprofessur für Logik und Wissenschaftstheorie an der Universität Jena; Veröffentlichungen u. a. zur Architekturphilo­ sophie, Logikgeschichte und den philosophischen Hintergründen des Bauhauses. Alessandro Bertinetto (Prof. Dr. phil.) ist seit 2009 Assistenzpro-

fessor für Ästhetik an der Universität Udine. 2000 Promotion an der Universität Padua, 2000/2001 Diplom DAAD an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 2001–2002 Post-Doc an der Universität Padua, Forschungsstipendien des Istituto Italiano per gli Studi Filosofici (2001), CNR, der Universitäten Padua und Udine, Auslandsstipendien in Madrid (Universidad Autónoma; Universidad Complutense), Heidelberg, Wien, München, Murcia (2007, 2008, 2009). 2009, 2010 invited Professor beim Master/Mundus

Europhilosophie. Seit 2012 Mitglied des Vorstandes der European Society for Aesthetics und des Scientific Board of the International Philosophy Colloquia Evian. Seit Juni 2011 bis Januar 2013 Stipendiat der Alexander von Humboldt Stiftung an der FU Berlin. Jüngste Bücher: La forza dell'immagine. Argomentazione trascendentale e ricorsività nella filosofia di J.G. Fichte (Milano 2010); Il pensiero dei suoni. Temi di filosofia della musica, (Milano 2012). Hannes Böhringer (Prof. Dr. phil. habil. em.) war bis 2012 Professor für Philosophie an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. Jan Bovelet (Dipl.-Ing. Mag. phil.) hat Architektur und Philosophie studiert. Während seiner Studienzeit war er wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt Shrinking Cities und am Bauhaus Dessau. Nach dem Studium Tätigkeit als Architekt und Innenarchitekt, als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Libera Università di Bolzano, der TU Berlin und als Dozent an der Fachhochschule Potsdam. Er ist Mitglied der Architektur- und Planungsgruppe urbikon. com (Berlin/Leipzig) und des Netzwerks Architekturwissenschaft. Veröffentlichung von Zeitschriften- und Ausstellungsbeiträgen, Essays und Lexikoneinträgen in verschiedenen Sprachen. Außerdem ist er als Künstler und Kurator tätig. Remei Capdevila-Werning (PhD) ist Adjunct Professor für Philosophie an der Fairfield University. 2009–11 Postdoctoral Visiting Scholar an der Columbia University und 2011–13 Beatriu de Pinós Postdoctoral Researcher an der Universitat Autònoma de Barcelona. Publikationen: Goodman for Architects (London 2013); From Buildings to Architecture, in: Ritu Bhatt (Hg.), Re-thinking Aesthetics. The Role of Body in Design (London 2013). Jörg H. Gleiter (Prof. Dr.-Ing. habil. M. S.) ist Architekt und

Inhaber des Lehrstuhls für Architekturtheorie am Institut für Architektur (IfA) der TU Berlin; 2002 Promotion, 2007 Habilitation (venia legendi in Philosophie der Architektur). Publikationen: Ornament Today. Digital, Material, Structural (Bozen 2012); Der philosophische Flaneur. Nietzsche und die Architektur (Würzburg 2009); Architekturtheorie heute (Bielefeld 2008); Rückkehr des

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Verdrängten. Zur kritischen Theorie des Ornaments in der Architekturmoderne (Weimar 2003). Karsten Harries (Prof. Dr. phil.) lehrt als Howard H. Newman Professor of Philosophy an der Yale University, New Haven. Zahlreiche Veröffentlichungen zu Heidegger, zur Philosophie der Renaissance und zur Ästhetik, besonders zur Philosophie der Architektur. Zuletzt erschienen The Ethical Function of Architecture (Cambridge/Mass., 1997), Infinity and Perspective (Cambridge/ Mass. 2001), Art Matters: A Critical Commentary on Heidegger’s The Origin of the Work of Art (New York/NY 2009); Die Bayerische Rokokokirche. Das Irrationale und das Sakrale (Dorfen 2009); Between Nihilism and Faith: A Commentary on Either/Or (Berlin/New York/NY 2010); Wahrheit: Die Architektur der Welt (Paderborn 2012). Christian Illies (Prof. Dr.) studierte in Heidelberg und Konstanz Biologie (Diplom), Philosophie und Kunstgeschichte. Nach der Promotion (Oxford 1995) war er Hochschulassistent (Universität Essen) und habilitierte sich 2002 (RWTH Aachen). Verschiedene Gastprofessuren, ab 2002 Universitätsdozent an der Technischen Universität Eindhoven, 2006 KIVI-NIRIA Professor für Philosophie der Kultur und Technik, besonders der gebauten Welt an der Technischen Universität Delft, seit 2008 Lehrstuhl für praktische Philosophie an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg. Arbeitsschwerpunkte sind Ethik, Philosophie der Biologie, philosophische Anthropologie und Philosophie der Architektur. Christian Kremer (Arch. Dipl.-Ing. Mag. phil.) studierte Architektur und Philosophie an der Universität Innsbruck, schloss 2010 seinen Magister der Philosophie mit Auszeichnung ab und veröffentlichte 2011 das erste Einführungsbuch über die Architekturphilosophie. Seit 2011 Doktorand der Philosophie an der Kunstakademie Düsseldorf bei Prof. Dr. Ludger Schwarte im Bereich der Architekturphilosophie. Forschungsmitglied beim Netzwerk Architekturwissenschaft, bei der internationalen Gesellschaft für Architektur und Philosophie und der International Society for the Philosophy of Architecture. Die Forschungsschwerpunkte liegen in der Generierung und Vermittlung von interdisziplinären Verständnis-

formen über die Architektur und der Erforschung einer Ontologie der Architektur. Petra Lohmann (PD Dr. phil. habil.) ist apl. Professorin im Fach

Architekturtheorie, Dep. Architektur, Universität Siegen. Studium der Philosophie, Psychologie und Kunstgeschichte. Forschungsschwerpunkte: Deutscher Idealismus und ästhetische Theorie um 1800. Promotion im Fach Philosophie; Habilitation im Fach Architekturtheorie. Publikationsauswahl: Der Begriff des Gefühls in der Philosophie Johann Gottlieb Fichtes (1780 – 1801), Fichte-Studien – Supplementa Bd. XVIII , Amsterdam/New York/NY 2001; Architektur als ‚Symbol des Lebens‘. Zur Wirkung der Philosophie Johann Gottlieb Fichtes auf die Architekturtheorie Karl Friedrich Schinkels (1803 – 1815) (München/Berlin 2010); „Einflüsse der Philo­ sophie des deutschen Idealismus auf die zeitgenössische Architekturtheorie am Beispiel der Schelling-Rezeption Leo von Klenzes“, in: Christoph Jamme u. Ian Cooper (Hg.), Impact of Idealism, Aesthetics and Literature 3, (Cambridge 2013), S. 224–244. Ludger Schwarte (Prof. Dr. phil. habil.) ist Professor für Philoso-

phie an der Kunstakademie Düsseldorf (seit August 2009). Studium in Münster, Berlin und Paris. Promotion im Fach Philosophie an der FU Berlin 1997. Habilitation für Philosophie an der FU Berlin 2007. Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der FU Berlin von 2000 bis 2006, Assistenzprofessor an der Uni Basel von 2006 bis 2009. Dozentur für Theorie des Ästhetischen an der Zürcher Hochschule der Künste 2009. Forschungsaufenthalte und Gastdozenturen an der Universität Paris 8 und am GACVS (Washington), an der Maison des Sciences de l‘Homme (Paris), an der Universität Abidjan, an der Columbia University (New York), an der EHESS (Paris) und am IKKM (Weimar). Arbeitsschwerpunkte: Ästhetik, politische Philosophie, Kulturphilosophie, Wissenschaftsgeschichte. Veröffentlichungen u. a.: Monographien: Gêne – Mären (Berlin 1998); Die Regeln der Intuition. Kunstphilosophie nach Adorno, Heidegger und Wittgenstein (München 2000); Philosophie der Architektur (München 2009); Vom Urteilen (Berlin 2012); Pikturale Evidenz. Zur Wahrheitsfähigkeit der Bilder (München 2014).

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Kirsten Wagner (Prof. Dr.) ist Professorin für Kulturwissenschaft

und Kommunikationswissenschaft am Fachbereich Gestaltung der Fachhochschule Bielefeld; seit 2013 Sprecherin des Forschungsschwerpunktes „Fotografie und Medien“ ebendort; 2002–2010 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Kulturwissenschaftlichen Institut der Humboldt-Universität zu Berlin und im Sonderforschungsbereich 447 „Kulturen des Performativen“; 2004 Promotion ebendort mit einer Arbeit zu Formen räumlicher Wissensorganisation in der Computermoderne; 1998–2002 Promotionsstipendien im Rahmen des Graduiertenkollegs „Politische Ikonographie“ der Universität Hamburg und der Wissenschaftsförderung des Landes Schleswig-Holstein; Publikationen zu Körperbildern in der Architektur, zur Raumwahrnehmung und -theorie, zur Ästhetik des 19. und 20. Jahrhunderts sowie zu Bild und Begriff der Struktur in den grafischen Künsten und in der Fotografie.

291

Architektur Denken 1

Architekturtheorie heute. Jörg H. Gleiter, 2008 ISBN 978-3-89942-879-7

2

Die enzyklopädische Architektur. Gerd de Bruyn, 2008 ISBN 978-3-89942-984-8

3

Welten und Gegenwelten. Arata Isozaki, 2011 Übersetzt und herausgegeben von Yoco Fukuda, Jörg H. Gleiter und Jörg R. Noennig ISBN 978-3-8376-1116-8

4

Urgeschichte der Moderne. Jörg H. Gleiter, 2010 ISBN 978-3-8376-1534-0

5

Das Wissen der Architektur. Gerd de Bruyn, Wolf Reuter, 2011 ISBN 978-3-8376-1553-1

6

Alphabet und Algorithmus. Mario Carpo, 2012 Herausgegeben von Jörg H. Gleiter, aus dem Englischen übersetzt von Jan Bovelet und Jörg H. Gleiter ISBN 978-3-8376-1355-1

7

Symptom Design. Herausgegeben von Jörg H. Gleiter, 2014 ISBN 978-3-8376-2268-3

8

Architektur und Philosophie. Herausgegeben von Jörg H. Gleiter und Ludger Schwarte, 2015 ISBN 978-3-8376-2464-9

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